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BLUNTSCHLTS

ALLGEMEINES

STATSRECHT.

ERSTER BAND.

ALLGEMEINES

STATSEECHT.

VON

BLUNTSCHLL

V 1 E K T E A D F LAG E.

ERSTER BAND.

MÜNCHEN. L IT ERARISCH- ARTISTISCHE ANSTALT

DER J. Cr. COTTA'SCTIEN BUCHHANDLUNG.

1868.

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Inhalt.

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Einleitung.

Seite

Statsrecht und Politik 1

Der Gegensatz des Statsrechts und des Privatrechts . 3

Fernere Abgrenzung des statsrechtlichcn Gebietes . . 7

Allgemeines und besonderes Statsrecht 10

Quellen des Statsrechtes.

A. Das Gesetz 12

B. Statlicher Vertrag ... 14

C. Herkommen und Gewohnheit IG

D. Die Wissenschaft 18

Rechtsordnung und thatsächliche Ordnung (Besitz) . 22

Methoden der Behandlung 28

Erstes Buch.

Der Begriff des Stats.

Cap. I. Historischer Statsbegritf 36

Cap. II. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich 43

Cap. III. Entwicklungsgeschichte der Statsidee.

I. Die antike Welt 54

Cap. IV. II. Das Mittelalter 59

Cap. V. III. Die moderne Staatsidee 64

Zweites Buch.

Volk und Land. Cap. I. I. Die Menschheit, die Menschenrassen uud die

Völkerfamilien 77

Cap.

I.

Cap.

II.

Cap.

III.

Cap.

IV.

Cap.

V.

Cap.

VI.

Cap.

VII.

Cap.

VIII.

Cap.

IX.

Cap.

X.

VI Inhalt.

Mli

Cap. II. II. Die Nation und das Volk 83

Gap. III. Nationale Rechte 8G

Cap. IV. Volkstümlichkeit der Verfassung ... 91

Cap. V. III. Die Stamme

Cap. VI. IV. Weitere Unterschiede. Die Kasten .... 96

Cap. VII. V. Die Stände 102

Cap. VIII. 1) Der Klerus 106

2) Der Adel 113

Cap. IX. A. Der römische Adel US

Cap. X. B. ©6r französische Adel 117

aap. äXU t ' C. Der englische Adel 128

Cap. XII. D. Der deutsche Adel . . . . . . . L37

Cap. XIII. 3) Die Freien und das Bürgerthum . . . 1 i 7 Cap. XIV. ^^ £kw dritte Stand in unserer Zeit. Die

^W gebildeten Mittelclassen l'.i,

Cap. XV. 4) Die hörigen Leute und der Bauerstand . 160 Cap. XVI. Der sogenannte vierte Stand. Die Volks-

classen 165

Cap. XVII. 5) Die Sclaven | ;.;

Cap. XVIII. VI. Die Classen 180

Cap. XIX. VII. Verhältnisz des States zur Familie.

1) Gcschlechtcrstat Patriarchalische Ehe

Cap. XX. 2) Die Frauen |')i,

Cap. XXL VIII. Verhältnisz des States tu den Individuen.

1) Volksgeno.-^en und Fremde 200

Cap. XXII. 2) Die Statsbürger im engem Sinne . .

Cap. XXIII. Das Land 216

Cap. XXIV. Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigenthum i 219

Cap. XXV. Einthcilung des Landes

Cap. XXVI. Verhältnisz dea Stats zum Privateigentum» ...

Drittes Buch.

Von der Entstehung und dem Untergang def statos.

Cap. I. Einleitung

Cap. II. Ursprüngliche Entstehnngsformen ... ... 239

Cap. III. Abgeleitete Entstehungs formen

Cap. IV. Untergang der Stuten

Cap. V. Speculativc Theorien.

I. Der sogenannte Natuntand 259

Cap. VI. II. Der Stat als göttliche Institution ......

Cap. VII. III. Die Theorie der Gewalt

Cap, VIII. IV. Die Vertragstheorie .

Cap. IX. V. Der organische Statstrieh

Inhalt.

VII

(Jap.

I

Cup.

II.

Cap.

III.

Cap.

IV.

Cap.

V.

Cap.

VI,

Cap.

VII.

Cap.

VIII.

Cap.

IX.

(Jap.

X.

Cap. M.

Cap. XII.

Cap. XIII.

Gap, \iv.

Caj>.

\\.

Cap. \ V I

Cap. XVII.

Cap. XVIII.

Cap. XIX.

Cap. XX.

Cap. XXL

Cap. XXII. Cap. XXTTI. Cap. XXIV.

Viertes Buch.

Die Statsformen.

Seilt

Die Einteilung des Aristoteles ....... 278

Der sogonannte gemischte Stat 281

Neuere Fortbildung der Theorie . 285

Das Princip der vier Grundformen 28^

Das Princip der vier Nebenformen 291

I. Die Ideokratie. (Theokratie) 291

II. Demokratische Statsformen.

A. Die unmittelbare (antike) Demokratie . . 307 Beurtheiluug der unmittelbaren Demokratie . 313

B. Die repräsentative (moderne) Demokratie . 319 Betrachtungen Abel die Ueprä^ntativdonio- kratie 326

III. Die Aristokratie.

A. Hellenisohe Form. Sparta 33?

B. Die römische Aristokratie .

Bemerkungen über die Aristokratie . . 346

IV. Monarohische Statsformen. Die Hauptarten der Monarchie

A. Hellenisches und altgermanisohes Ciesehlechts- königthum 359

B. Altrömisohes Volkskönigthum 365

C. Das römische Kaiserthum . 3i"

D. Fränkisches Königthum . 176

B. Die Lehensmonarohie 383

F. Die neuere absolute Monarchie . . 392

G. Die constitutionelle Monarchie.

1) Die Entstellung und Verbr< i an der oon- stitutionellcn Monarchie 100

2) Falsche Vorstellungen von der eonstitu- tionellen Monarehie . 436

3) Das monarchische Princip und der Be- griff der constitutionellen Monarchie . . 440

Zusammengesetzte Statsformen ........ 449

Fünftes Buch.

Der gesetzgebende Körper und das Gesetz. Die Sonderung der Gewalten.

Cap. I.

I. Antike Zustände 454

Cap. II. II, Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten . 457

VIII Inhalt.

Cap. III. Die Entwicklungsgeschichte der Reprasentatirrerfasenng,

I. Die fränkischen Reichstage und das englische

Parlament

Cap. IV. II. Ständische Entwicklung in andern Staten . . Cap. V. Der Unterschied der ständischen and der repräsentativen

Verfassung

Cap. VI. Die Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers .

Cap. VII. Von der Bildung der Volkskammer

Cap. VIII. Von der Bildung des Senats oder des Oberhauses '»U

Cap. IX. Befugnisse.

A. Des gesummten GesetEgebungskSrpers

Cap. X. B. Befugnisse aller einmeinen Bestandteile ... Cap. XI. C. Besondere Befugnisse.

I. Des Königs

Cap. XII. II. Der beiden Hinsei ...

Cap. XIII. Von den Gesetzen.

I. Arten der Gesetze

Cap. XIV. II. Form der Erzeugung der G Cap. XV. Grenzen der Giltigkeit der Gtesetsc

(Einlfttmuj.

Erstes Capitel.

Stntsrechi and Politik.

Die alten Griechen nannten die ganze Wissenschaft vom State (noiiteCa) Politik. Wir Neoern dagegen betrachten Statsrecht and Politik als zwei verschiedene Wissen- schaften.

Wie erklärt es Bich, dasz was in dem wirklichen Stat verbunden erscheint, ?on der Wissenschaft getrennt wird? Statsrecht und Politik sind beide Statsl ehren , aber jede von beiden betrachtel den stat von einem andern Standpunkte aus und nach anderer Richtung, l'm den Stat grundlicher zu erkennen, zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiteil sein«-.- Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, damit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissen- schaftlichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, »las .Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit, wenn sie in ihrer Eigentümlichkeit geschaut und erwogen wird.

Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. 1. \

Erstes Capitel. Statsrecht und Politik.

die Notwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats- recht.

Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie erwägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu erlangen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Ge- sammtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen zu heben sind. Das Statsleben, das öffentliche Le- ben im weitem Sinn, das ist die Politik.

Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich mannigfaltig ausspricht.

Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt- licher Gehalt, Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie sind Statswissenschaften.

Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein- ander trennen. Der wirkliche Stat lebt: d. h. er ist Ver- bindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte; und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall,

Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts. 3

wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter- schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts- geschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der poli- tischen Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen, diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt, und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver- fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik ist die practische Leitung des States selbst (die Kegierung). Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er- starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer- störungswuth untergehen.

Zweites Capitel.

Der Gegensatz des Statsrechts und des Privatrechts.

Es ist das Verdienst der Römer, zuerst den Unterschied erkannt zu haben zwischen dem öffentlichen Recht, das, wie

1*

4 Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrecl

sie sagten, dem römischen State dient, und dem Privat recht, welches den einzelnen Individuen dient.1 Die Hellenen hatten noch beides verbunden. Auch den Germanen war der wich- tige Unterschied nicht klar geworden, und als sie im Mittel- alter zur Herrschaft gelangten, begünstigten sie wieder die Mischung der beiden Rechtskörper. Das öffentliche Recht des Mittelalters wird groszentheils privatrechtlich behandelt; so- gar die Landesherrschaft wird wie Privateigenthum und die öffentlichen Aemter werden wie Familiengüter betrachtet. Das Privatrecht hinwieder wird zu öffentlichem Rechte gesteigert: mit dem Grundbesitz wird die Gerichtsbarkeit verbunden, an den Lehenbesitz lehnt sich die ritterliche Kriegspflieht an.

Es ist eines der charakteristischen Kennzeichen der mo- dernen Rechtsbildung, <la<z sie wieder jenen Unterschied erkannt hat, und in Folge dessen die beiden Gebiete sondert. Wir sind vorzüglich seit einem Jahrhundert in einem unauf- haltsam fortschreitenden Scheidungsprocesse begriffen des öffentlichen Rechts von der froheren Mischung mit dem Privatrecht. Dieser Scheidungsnroce-s. «1er Bich in allen euro- päischen Staten zeigt, ist noch nicht völlig, aber gröszten- theils zum Abschlusz gekommen. Das öffentliche und das Privatrecht gewinnen dabei. Jenr> wird energischer und gref artiger, indem es sich nicht mehr ron «1er Selbstsucht der Individuen und Familien behindern und verderben, sondern durchaus von dem öffentlichen Geist des Ganzen erfüllen UM und demselben dient, und das Privatrecht wird freier, indem es von der statlichen Gebundenheit sich losmacht.

Das Statsrecht geht grundsätzlich vom State, das Privat- recht von den einzelnen Individuen, den Privatperso- nen aus. Jenes behandelt die rechtlichen Verhältnisse des. States, dieses die Rechte der Privaten.

1 Vgl. L. 1. 2. §. D. de Justitia et Iure {Ulpianus~): „Publicum jus est quod ad statura rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorura utilitatem. Sunt enim quaedam publice utilia, quaedam privatim. u

Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts. 5

Allerdings gibt es auch Uebergänge aus dem einen Ge- biete in das andere. So gehören die E echte des Fiscus dem Privatrechte an, weil der Stat, insofern er ein ausschlieszliches Vermögen hat, einer Privatperson gleich und als Fiscus selber eine Privatperson ist. So haben die politischen Rechte der einzelnen Menschen (z. B. das Petitionsrecht, die Preszfreiheit) ihren Platz nicht im Privat-, sondern im Statsrecht, weil die- selben auf dem Verhältnisse der Individuen zum State be- ruhen, somit der öffentliche, »tätliche Gesichtspunkt in ihnen vorherrscht.

Das Statsrecht wird daher auch seinem Inhalte nach von dem State bestimmt, und ist der Willkür der Privatpersonen entrückt. Das Privatrecht dagegen erhält seinen Inhalt grösz- tentheils im allgemeines von der Natur und den Zuständen der Privatpersonen und im besondern von ihrem AVillen. In dem Statsrecht herrscht derGeisl <h's Ganzen, im Privat- recht waltet der Geist der Einzelnen. Den Individuen steht es demnach nicht zu, durch Verträge öffentliches Kecht abzu- ändern oder aufzuheben, während sie in der Kegel das Privat- recht unter sich durch Vertrag« beliebig gestalten können; und je mehr bei einzelnen Kegeln des Privatrechts öffentliche Statsinteressen betheiligt sind, desto weniger dürfen Privat- verträge willkürlich auch von jenen abweichen.2

Für das Statsrecht gilt es ferner als Kegel: Oeffent- liches Kecht ist zugleich öffentliche Pflicht. Der Berechtigte ist verpflichtet sein Kecht auszuüben. Der Kegent ist nicht blosz berechtigt, er ist gleichmäszig auch verpflichtet zu regieren, ebenso der Kichter zu richten. Im Privatrecht hingegen gilt die entgegengesetzte Kegel. Es steht in der Willkür des Berechtigten, ob er sein Kecht ausüben wolle

2 Vgl. L. 38. D. de Pactis (Papinianus): „Jus publicum privatorum pactis mutari non potest." Code Civil. 6.: „On ne peut deroger par des Conventions particulieres, aux loix qui Interessent Tordre public et les bonnes moeurs,"

6 Zweites Capitel. Der Gegensatz des Stats- und des Privatrechts.

oder nicht.3 Der Grund dieses Unterschiedes ist wieder darin zu finden, dasz das Privatrecht dem Einzelnen zugehört und meistens nur für diesen besteht, das öffentliche Recht aber dem Ganzen zukommt und im Interesse der Gesammtheit be- steht. Der Stat selbst kann daher wohl sein Recht aufgeben oder auf die Ausübung desselben verzichten, nicht aber dürfen das die einzelnen Organe und Glieder des States.

Beide Kegeln haben übrigens zahlreiche Ausnahmen, die sich aus dem Princip jener von selbst ergeben. Einige Bei- spiele mögen diesz klar machen:

1) Der einzelne Statsbärger kann beliebig von seinem Rechte zu Petitionen, oder von seinem Kechte an politischen Vereinen Theil zu nehmen, Gebrauch machen oder nicht. Es sind diesz eben öffentliche Rechte, die dem Einzelnen ein- geräumt sind, mehr im Interesse Beiner individuellen Freiheit als des Statswohls.

2) Ob der Einzelne auch Bein Wahlrecht als Wähler aus- zuüben habe, hängt schon nicht mehr ohne weiteres FOU seiner Willkür ab. Ist das Wahlrecht auf grosze Massen von Indi- viduen vertheilt, oder tritt nach der besonder!] Bedeutung des Wahlrechts die Rücksicht auf die Befugnisz der Wähler in den Vordergrund, die auf das Bedürfnis* des States zurück, so kann wohl die Benutzung desselben der Willkür des ein- zelnen Wählers anheimfallen: im entgegengesetzten Falle wird auch hier eine Xöthigung öfter eintreten und sich rechtfertigen.

3) Auch im Privatrecht ist die Ausübung der Yormund- schaftsrechte Pflicht des Berechtigten, weil dieselben nicht oder nicht ausschlieszlich allein zu Gunsten des Vormundes, sondern auch im Interesse des Bevormundeten bestehen.

Die Verbindung von Recht und Pflicht in derselben IVr- son ist nicht etwa ein Mangel des öffentlichen Rechts, sondern

3 c. un. C. ut nemo invitus (Imp. Diodetianus): „Invitus agere rel aecusare nemo cogitur." Privatreclitliches Sprichwort: „Iure suo uti nemo cogitur,"

Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsrechtl. Gebiets. 7

der Vorzug desselben. Der edlere sittliche Charakter des öffentlichen wird darin offenbar im Gegensatze zu dem egoisti- schen Zuge des Vermögensrechts. Je höher die Kegierungs- rechte sind, um so unauflöslicher sind daher die Pflichten zu ihrer Ausübung damit verbunden. Es ist eine Entwürdigung des Statsrechts, wenn das Kecht des Landesfürsten wie ein Eigentimm betrachtet wird, das er nach Willkür ausüben oder ruhen lassen könne: und man darf nie vergessen, dasz kein Kronrecht dem Fürsten für sich zugehört, sondern alle Kron- rechte zugleich Kronpflichten sind; Pflichten gegen den Stat (das Volk).

Der Gegensatz des öffentlichen und des Privatrechts (jus publicum et privatum) ist erschöpfend und es gibt wohl Ueber- gangsinstitute , die ans dein einen Gebiete in das andere füh- ren; wie z. 13. die Gemeinde und die höheren Formen der Genossen- und Körperschaften. Aber es gibt kein drittes selbständiges Gebiet zwischen jenen beiden. Was man Gesell- schaftsrecht heiszt, ist entweder Privatrecht oder öffentliches Recht, oder aus beiden gemischt.4

Drittes Capitel.

Fernere Abgrenzung des statsrechtlichen Gebiets.

1. Das Völkerrecht greift über die Grenzen des ein- zelnen States hinaus, indem es die verschiedenen Staten, die neben einander bestehen, durch eine gemeinsame Ordnung

4 Eine abweichende Meinung hat Bob. v. Muhl ausgeführt (Geschichte und Literatur der Statswissenschaften Bd. I). Vgl. Bluntschli über die neuen Begründungen der Gesellschaft und des Gesellschaftsrechts in der kritischen Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissen- schaft. Bd. III. und H. v. Treitschke« Die Gesellschaftswissenschaft, ein kritischer Versuch. Leipzig 1859.

3 Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsreehtl. liebiet*.

verbindet. Es ist keineswegs eine eigentümliche Ausdehnung und Anwendung des Privatrechts auf die mehreren Statsindivi- duen; seine Einrichtungen und Rechtsnormen haben vielmehr eine öffentlich-rechtliche Natur in eminentem Sinne, indem sie der umfassendsten Gemeinschaft angehören. Es beruht auf der Einheit des Menschengeschlecktes, welches in ver- schiedene Völker getheilt erscheint. Ware die Menschheit für die gemeinsamen menschlichen Dinge prganisirt zu einem wohl- geordneten Ganzen mit einer ihr eigenen Gesetzgebung und Eechtspflege , so würde das Völkerrecht in der höheren Form eines Weltrechts erscheinen. Der Mangel jener Organisation ist die Schwäche des Völkerrechts.

Einstweilen wird diese »vollkommene Weltordnnng , die wir Völkerrecht heiszen, ron der vollkommeneren Statsordnung geschieden. Die Wissenschaft tsrechte betrachtet daher

den Stat als eine öffentliche Person für Bich und überläszt die Darstellung der Verhältnisse mehrerer Staten zu einander der besonderen Wissenschaft des Völkerrechts.

2. Eine andere Ausscheidung des Stoffes bezieht Bich auf das Kirchen rec h t.

In dem ganzen Alterthum war der G '/ ron Stai

und Kirche zwar wohl schon im Keime vorhanden und sicht- bar, aber nicht zu klarn- Sondern ebildet Den Römern noch galt das jus Bacnim als ein Bestandteil des jus pu- blicum.

Erst seitdem das Christenthum in die Well gekommen, ist die Kirche als die religiöse Gemeinschaft der Mem dem State als der politischen Gemeinschaft selbständig mr Seite getreten. Und wie die Kirche eine eigene [dee und einen nicht auf Btatlichem Boden gepflanzten, nicht im Stats- gebiet grosz gewachsenen Leib und ein besonderes Dasein hat. so erfordert auch das (christliche) Kirchenrechi eine von dem neuern Statsrechte getrennte Behandlung. Es beruht wesent- lich auf der Autonomie der Kirche, nicht auf Statsgesetxe&

Drittes Capitel. Fernere Abgrenzung des statsrechtl. Gebiets. 9

Sein Inhalt hat einen andern Grundcharakter, als alles andere Eecht. Es steht den höhern religiösen und sittlichen Grund- sätzen näher, mit denen es verbunden und gemischt erscheint, und es entbehrt mehr des äuszeren Zwangs als das weltliche Recht, dessen Schutz es in manchen Fällen anzurufen genöthigt ist, wenn die eigenen Nothigungsmittel nicht ausreichen. Wird ah er nicht das Recht der Kirche von dein ihr zugehörigen eigenen Standpunkte ans. Bondem wird nur das Verhält- nisz des Staics zur Kirche und den kirchlichen In- stitutionen von dein Standpunkte des States aus betrachtet, so gehört diese Betrachtung allerdings vollständig in das Gebiet des Statsrechtes.

3. Der Civilprocesz ferner groszentheils und das ganze Strafrecht, den Strafprocesz inbegriffen, werden mit Grund auch zum öffentlichen Rechte gerechnet. In dem Pro- cesz gewähr! der Stat als solcher den Privatpersonen seinen Rechtsschutz gegen Verletzung und Beeinträchtigung ihrer Rechtssphäre, und in dem Strafrechte in seiner neuern Ent- wicklung äuszert sich wieder die Gerechtigkeit des States, welche nicht blosz den Verletzten schützt und die Verletzung aufhebt, sondern öberdem den verbrecherischen Angriff auf die gemeinsame Rechtsordnung bestraft.

Dessenungeachtet aber werden der Civilprocesz und das Strafrecht aus dem eigentlichen Statsrechte hinwieder ausge- schieden und besser als besondere Disciplirien behandelt, theils um ihrer enge]] Beziehung willen auch zu dem Privatrechte, mit welchem sie innerlich verwoben sind und dessen Sicher- heit der Civilprocesz ganz, das Strafrecht zu groszem Theile dient, theils weil sie an sich umfangreich und wichtig genug sind, um eine besondere Behandlung zu erlangen.

10 Viertes Capitel. Allgemeines und besonderes Statsrecht.

Viertes Capitel.

Allgemeines und besonderes Statsreoht.

Das besondere Staatsrecht setzt einen einzelnen, bestimm- ten Stat voraus, dem es angehört. So ist von dem besondern Statsrechte der römischen Bepublik, oder des englischen States oder des deutschen Reiches die Bede.

Das all gerne i n e Statsreclit dagegen beruht auf uni- verseller Auffassung nicht eines einzelnen, sondern des States. Das besondere Statsrechl geht somit von einem be- stimmten Volke aus, das allgemeine sieht voraus auf die menschliche Natur und geht ?on der Menschheit aus.1

Man faszt das allgemeine Statsrechl Behr oft als das Product idealer Speculation auf und versucht dasselbe aus einer speculativen Weltanschauung durch einfache Logische Schluszfolgerung herzuleiten. Ea Bind bo mancherlei Systeme entstanden eines sogenannten philosophischen oder natür- lichen Statsrechtes, welches Bodann dem sogenannten posi- tiven und historischen S hte entgi etzt wurde.

Ich verstehe den Gegensatz anders. Der Stat musz bo- wohl philosophisch begriffen als historisch erkannt werden: und das allgemeine Statsreoht kann bo wenig als das beson- dere dieser zweiseitigen Arbeit entbehren.

Das besondere Statsreoht Betzl das allgemeine voraus, wie die besondere Volksart die gemeinsame Menschennatur voraussetzt, Die Wissenschaft des allgemeinen Statsrechtes stellt die Grundbegriffe dar, welche in den besonderen S1

* Derselbe Gedanke ]i«uri der r B m i - c heu Anschauungsweise zu Grunde. L 9. (Gaju<) 1>. de Justiti* e( iure! „Oames populi, qui legi- bus et moribus reguntur, partim suo proprio partim oommtmi ommuM hominum jure utuntur. Nam <|",,,1 quisque populus ipse sibi jus oonsti- tuit, id ipsius proprium «ivitati- est, rocaturque jus <;,■,!<■. quod rero naturalis ratio inter omnes hominea constituit, i<l apud omnei peraeque custoditur, rocaturque jus gentium, quasi quo jure omnes gen tes utuntur."

Viertes Capitel. Allgemeines und besonderes Statsrecht. H

rechten zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Die Ge- schichte, die es beachtet, ist die Weltgeschichte, nicht die enge Landesgeschichte, welche das besondere Stats- recht erklärt. Tn der Weltgeschichte linden wir die Probe der philosophischen Gedanken; und in ihr entdecken wir eine Fülle positiven Gehaltes, welche bo oft der blosz speculativen Betrachtung fehlt. Die Weltgeschichte zeigt uns die verschie- denen Entwicklungsstufen, welche die Menschheit seit ihrer Kindheit durchlebt hat . und auf jede]- linden wir eigentüm- liche Anschauungen vom State und verschiedene Statenbildungen, Sic [ehrt uns das Verhältnis verstehen, in welchem die man- cherlei Nationen an der gemeinsamen Anfgabe der Menschheit Theil genommen haben.

Aber nicht alle Perioden der Weltgeschichte und nicht alle Völker haben dieselbe Bedeutung für unsere Wissenschaft. Das allgemeine Statsrecht der Gegenwart zu erkennen, ist vornehmlich ihre Aufgabe. Die antiken und mittelalterlichen Statenbildungen kommen nur als Vorstufen in Betraoht und um durch den Gegensatz gegen den beut igen Stat diesen besser in's Licht zu setzen. Den Werth der verschiedenen Völker für das allgemeine Statsrecht bestimmen wir je nach ihrem Antheil an den Fortschritten der politischen Civilisation, d. h. eines menschlich geordneten und menschlich freien Gemein- wesens. Die arische Völkerfamilie (Tndo-Germanen) ist vor- zugsweise für den Stat, wie die sein Mische für die Iveligion welthistorisch bestimmend geworden: aber erst in Europa haben es auch die arischen Völker zu einer bewuszteren und edleren Statenbildung gebracht. Sind unter ihnen hinwieder im Alterthum die Hellenen und die Körner, im Mittelalter die Germanen voran gegangen, so beruht unsere heutige Statscultur vornehmlich auf der Mischung der helleno- romanischen und germanischen Elemente uud haben die Eng- länder, in denen diese Mischung auch in der Volksrasse am stärksten vollzogen worden ist und nächst ihnen wohl die

12 Fünftes Capitel. Die Quellen des Statsreehts. Das Gesetz.

Franzosen bisher den bedeutendsten Antheil daran. Das amerikanische Statsleben ist von dem europäischen ab- geleitet, aber hat besonders in Nordamerika doch eigenthüm- liche Fortschritte gemacht.

Die Wissenschaft des allgemeinen Statsrechts. wie wir dieselbe verstehen, soll also das gemeinsame s tat liehe Bewusztsein der heutigen civilisirten Menschheit und die Grundbegriffe und wesentlich gemeinsamen Ein- richtungen darstellen, welche in den besonderen State* zu mannigfaltiger Erscheinung kommen. Auch das allgemeine Statsrecht ist keine blosse Lehre, es h;it eine positive Wirk- samkeit, aber diese Geltung ist nicht eine unmittelbare, da es keinen allgemeinen Stat gibl . n eine durch die be-

sonderen Staten vermittelte. Ba bat nicht blosz eine ideale, es hat auch eine reale Wahrheil . Ais/ als die Mensch-

heit und die Weltgeschichte keine bloszeo Gedankendinge, sondern reale Wahrheiten sind.

Anmerkung. I' bei Aristoteles (Rbetor. I. 10.13.)

zwischen vöuog CJiof (besonderes Eteebt) und w6fios xoivos (gemeines Recht) hat doch nooh einen andern sinn. Unter jenem versteht er <la- Recht, welches ein bestimmter Btai ffii siofa hervorgebracht hat, sei ea nun geschrieben oder nicht, anter dir». 'in das ron Natur gerechte | j xqlvov dixcaov) ohne Rüoksiohl auf statliohe Gtemeinsohaft.

Fünftes Capitel.

Die Quellt n des Bi

\. Dai

Die höchste und Btatlichste Form, in welcher das Rechl erkennbar und klar zu Tage tritt, isi das Gesetz. In dem Gesetze findet das Hecht seinen bewnsztesten und reinsten Ausdruck. In dem Gesetze sprich! sien der Sta1 selbst in

seiner Gesamratheit aus, und setzt das Recht fest. Er rüstet

Fünftes Capitel. Die Quellen des Statsrechts. Das Gesetz. 13

in dem Gesetz und durch dasselbe seinen Bechtsausspruch mit der obersten Autorität und der höchsten Macht aus. Das Gesetz ist das volle Wort des Hechtes.

Das eigentliche Gesetz ist daher nur das von dem State selbst erlassene. Aber in analoger Weise kann auch von Ge- setzen die Rede sein, welche engere und kleinere Gemein- schaften und Organismen innerhalb des States Kraft ihrer Autonomie für ihre besondem Kreise ertheilen und mit ihrer beschränkten Autorität ausrüsten: so die Familien- und Hau sge setze der Dynastien, die Statuten und Ord- nungen der Städte und Gemeinden. Auch das Gebiet der statlichen Verordnungen las/t sich hier anführen.

Daß Verhältnis/ der Gesetzgebung zum Statsrecht ist übrigens dem Verhültnisz derselben zum Privatrecht nicht völlig gleich. Der Sial als Gesetzgeber hat mit Bezug auf jenes viel freiere Hand als mit Rücksicht auf dieses; denn indem er statsreehtliehe Einrichtungen und Rechtsverhältnisse festsetzt, handelt er in seiner eigenen Sache, wenn er dagegen privatrechtliche Gesetze erläszt, so ordnet er nicht seine eigenen, sondern die Verhältnisse der Privatpersonen, die weder sein Werk, noch völlig von ihm abhängig sind. So wenig die Individuen erst durch den Stat zu Individuen werden, so wenig wird das Recht der Individuen erst durch den Stat zum Recht. Dasselbe kann zwar seine höchste Aus- bildung und seinen kräftigsten Schutz erst in dem State und durch den Stat empfangen, aber es wurzelt nicht in diesem, und die Aufgabe des States ist hier vornehmlich, dem Privat- rechte, wie es aus den natürlichen Zuständen und der ge- schichtlichen Entwicklung der Einzelnen hervorgegangen ist, zur Anerkennung zu verhelfen, nicht aber dasselbe willkürlich zu bestimmen.

Die wichtigen practischen Folgen dieses Gegensatzes wer- den später näher dargelegt werden.

14 Sechstes Capitel. Statlicher Vertrag.

Sechstes Capitel.

B. Statlicher Vertrag.

Auch durch Vertrag wird öfter bestehendes Statsrecht anerkannt, näher normirt oder abgeändert. Sowohl die eigent- lichen Statsver träge, welche zwischen verschiedenen Ste- ten abgeschlossen werden und insofern eine völkerrechtliche Begründung haben, als die Verträge zwischen verschiede- nen politischen Körperschaften oder Gliedern Eines States, wie die alten Richtungen der römischen Patricier und der Plebes, oder im Mittelalter die Verträge zwischen den verschiedenen Ständen des Landes mit den Fürsten kom- men hier in Betracht.

Verwandt sind die Stats vertrage mit den Gesetzen insofern, als sie wie diese den Keehtsgedanken in bestimmten Worten und zugleich mit Öffentlicher Autorität aussprechen. Aber da- durch unterscheidet sich die Fertragsform ?on der Gesetxes- form, dasz in dieser die Einheit des States sich ftuszert, in jener eine Mehrheit von zunächst selbständigen politischen Körpern durch Uebereinkunfl den gemeinsamen Willen fest- stellt. Innerhalb eines States Isl daher die Form des Ge- setzes jedenfalls die höhere, eben weil in ihr der Stet als ein in sich harmonisches nnd einheitliches Wesen seine Gesinnung kundgibt. Wo aber mehrere Staten zugleich betheiligt sind, da ist die Form des Vertrages anrermeidlich , weil es für diese Mehrheit von unabhängigen Staten an einem gemein- samen Organe der Gesetzgebung fehlt.

Auch da wo innerhalb eines States die Gesetzgebung nicht etwa einem Fürsten oder einem Käthe ausschlieszlich zusteht, sondern auf einem Zusammenwirken verschiedener Glieder eines zusammengesetzten gesetzgebenden Körpers be- ruht, wie z. B. in England auf der Uebereinstimmung des Königs, des Ober- und des Unterhauses, tritt doch nach der

Sechstes Capitel. Statlicher Vertrag. 15

ausgebildeteren Verfassung die Idee des Vertrages ganz zurück, und würde man dieses Zusammenwirken nur sehr un- eigentlich als Uebereinkunft bezeichnen. Das von dem Parla- mente beschlossene Gesetz ist nicht ein Vertrag verschiedener politischer Mächte, die jede in sich selbständig und berechtigt wäre, für sich einen rechtsverbindlichen Willen zu äuszern. Die einzelnen Bestandteile des Parlamentes haben, getrennt von den andern Gliedern desselben, keine rechtbildende Auto- rität noch Gewalt. Nur in ihrer Verbindung zur Einheit, nur als ein untrennbarer, einheitlicher Statskörper haben sie das Recht der Gesetzgebung, und das Gesetz ist auch hier der reine und einfache Ausdruck dieser Einheit.

Das Unvollkommene der Vertragsform für die Erzeugung des Statsrechts in einem State liegt darin, dasz nach ihr die Einheit des Stats aufgehoben, und der Stut selbst gewisser- maszen aufgelöst wird in seine Bestandteile , dasz der Form nach das Recht des Stats gebunden wird an den AVillen der einzelnen losgerissenen Theile, mit Einem Wort, dasz im Princip das Ganze den Theilen untergeordnet wird. Die Geschichte aller germanischen S taten gibt uns zahlreiche Belege an die Hand, welche diese Unvollkommenheit die Unbehülflichkeit und Schwerfälligkeit in der Bewegung sowohl als die mangelhafte Berücksichtigung der öffentlichen Inter- essen und der gemeinsamen Statswohlfahrt die mit der Vertragsform unvermeidlich verbunden ist, in's rechte Licht stellt ; zugleich zeigt sie uns, wie die höhere Entwicklung des States überall die frühere Vertragsform durch die Gesetzes- form theils verdrängt, theils in engere Schranken verwiesen hat.

Anmerkung. Die Ewigkeit der Statsverträge ist nicht min- der im Widerspruch mit der Veränderlichkeit aller menschlichen Dinge, und so auch des States, als die Ewigkeit der Gesetze. So weit das Recht die obersten und festen Principien der göttlichen Weltordnung in einfacher und reiner Form ausspricht, so weit kann sein Inhalt als ewig gelten, gleich jener. Aber sowie das Recht die wechselnden und der Umgestaltung ausgesetzten menschlichen Verhältnisse ordnet, so ist es

\Q Siebentes Capitel. Herkommen und Gewohnheit.

genöthigt diesen Wechsel und diese Umwandlung zu berücksichtigen und unterliegt so selber den Naturgesetzen der Veränderung. Die Form der Aussprache durch Gesetz oder Vertrag kann das nicht ändern.

Siebentes Capitel.

C. Herkommen und Gewohnln i'.

In den politischen Acten und Uebungen BOwobJ der State- gewalt als des Y äuszeri Bich das vorhandene Rechts- bewusztsein vielfältig, auch ohne dasz es in der Form des Gesetzes ausgesprochen wird. Hai der darin kundgegebene Geist eine bestimmte feste I rtenz erlangt, ist er durch das Herkommen gewissermatten geheiligt, durch offene Uebung bekräftigt, so ist ihm so das Gepräge der Rechtmässig- keit aufgedrückt, es hat Bich als nationales Rech! ma- nifestirt.

in dem Statsrechte der Römer beruhten die wichti Institutionen und RechtsgrundsätM nicht auf einem geschrie« benen Gesetze noch aul \ a ►ndern auf Bolcher dem

Bechtsgefühle und den Rechtsanschaoungen des Volkes ent- sprechender guter Gewohnheit, Das Statsrechi des Mittel- alters ist vorzugsweise auf Herkommen und Uebung gegründet. Auch das englische Statsrechi isi zumTheil auf diesem Boden erwachsen, und ähnliche Bestandteile des öffentlichen Rechtes finden wir allerwä

Das Gewohnheitsrecht aber Bteht, obwohl es eine reich- haltige und lebendige Rechtsquelle Ist, dem urkundlichen Ge- setzesrechl an Klarheit und Schärfe des Ausdrucks regelnd nach. Das unbewuszte Gefühl des Nothwendigen gibt sieh in der Gewohnheit kund, der bewuszte Wille <\r< Richtigen aberf vorzugsweise in dem Gesetz. Auf der andern Seite ist das Gewohnheitsrecht aber weniger Btarr als das Gesetz, und lehnt

Siebentes Capitel. Herkommen und Gewohnheit. 17

sich leichter an die bestehenden Verhältnisse und deren stille Umgestaltung an.

Die sogenannte Natur der Sache, insofern sie als Recht bildend angesehen wird, ist nichts anderes als die Macht der vorhandenen realen Verhältnisse (physischer und psychischer), verbunden mit dem Gefühle des Volks, dasz die- selben als sittlich-normal anerkannt werden müssen, und somit rechtlichen Einfluss, rechtliche Geltung haben. Die Natur der Sache wirkt von Anfang an, die Gewohnheit da- gegen wirkt erst in beharrlicher Folge.

Das Recht komnri nichl von auszen her als ein Fremdes an die hinge heran, es wird anch nicht von den Dingen ab- gelöst und gleichsam ausgestoszen. In Wahrheil ist (las Recht eine bestimmte Form und Richtung der Existenz Belbst. Der Stat, wie er Ist, ist das Stil -recht.

Anmerkungen I. Dai Qewohnheitareoht wurde von jeher überall anerkannt. Cicero de [nvent. II. 22. Consuetudinis autem jus

putatur id, quod voluntate omnium sine lege vetustas comprobavit." Praefatio legis Baiuwartorumi „Longa consuetudo pro lege habetur. Lex est oonstitutio scripta, mos est retuatate probata oonauetudo, siye lex Hon Bcripta." Schwabenspiegel U): BSwa guot gewanheii ist, diu is roltt. Guotiu gewanheit nnde rehtiu gewanheii daz ist din wider geistlich reht nih( eniat nnde wider gotes hulde noch wider raanliohen 6ren, noch wider menschliches gewizen noch wider menschlichen triuwen noch wider die selikeit der seien. Guot gewanheii is< als guot als ge- schriben reht.41 Puchta Qewohnheitareoht II. v: ..Auch für das Yolk, aus dessen Rechtsansichtcn sie hervorgeht, dient die Uebung gleichsam als der Spiegel, in welchem ea sein eigenes Selbst erkennt."

2. Nach Montesquieu Esprit des Lois J. L,2. ist das Recht im wei- testen Sinn nichts anderes als die von der Natur der Dinge abgeleite- ten nothwendigen Y er h alt nissc. „Les lois Bont les rapjpoHs neces- saires qui derivent de la nature des choses, et dang ce senstousles etres ont leur lois." Das Recht setzt allerdings die ursprüngliche Schöpfung, d. h. das Dasein verschiedener Existenzen voraus, deren naturgemäsze Verhältnisse es erkennt und aufrecht erhält, deren Ordnung es ist. Wenn Schmidthenner XII Bücher vom State I. 8.241 sagt: Montes- quieu hätte wohl besser geschrieben rqui constituent" la nature des choses, so kehrt er den wirklichen Gedanken des französischen Rechts- Bluntschli, allgemeines Stutsrecht. I. 2

lg Achtes Capitel. Die Wissenschaft.

gelehrten um. Thiers {de la propriete Ch. 2.) drückt die Meinung Montesquieu's nur in einer andern Fassung aus. indem er denselben ver- bessern will, wenn er sagt: ^Les lois sont la permonence des olioi

Achtes Capitel.

D. Die Wissenschaft,

Die Bestimmung der Rechtswissenschaft ist zunächst kei- neswegs die, neues Recht herroi zu bilden, Bondern vielmehr die, das bereits vorhandene Recht iu erkennen. In- sofern geholt dieselbe ihrer wesentlichen Thätigkeit nach nicht zu den Rechtsquellen, sondern Bie begnügt sich, aus dea bis- her genannten Rechtsquellei /u schöpfen,

Auszerdem hat aber die Wissenschaft auch eine pro- ductive Bedeutung, um deren willen sie allerdings selber auch zu einer Rechtsquelle wird, und /war in zwiefacher Beziehung.

Fürs erste verhall neb die Wissenschaft mit Bezug auf die übrigen Rechtsquellen nicht blosi receptiv. Sie sammelt nicht blosz den Rechtsstoff, sie verarbeitet denselben, und eben durch diese Verarbeitung erweitert Bie zuweilen das vorhandene Recht Sie rieht i. B. ans den Gesetzen Folgerungen, an welche der Gesetzgeber Belber vielleicht nicht -dacht hat, und die dennoch nicht bloss Logisch consequenl Bind, Bondern zugleich zu drin ganzen Rechtssystem passen, und sowohl innerlich begründet sein als zu der äussern Rechtsordnung gehören können. Oder Bie bringl nicht blosz einzelne Rechts- vorschriften des Gewohnheitsrechts zu höherer Klarheit, Bon- dern wirkt auch hier ergänzend ein, indem sie die Ueberg von diesem zu dem geschriebenen Rechte vermittelt.

Wichtiger noch ist eine zweite schöpferische Thätigkeil der Wissenschaft, ivelche sich aus der Natur der Rechtsideen erklärt. Die Rechtsideen ah Bolche nehmlicfa sind keine.—

Achtes Capitol. Die Wissenschaft. 19

wegs wirkliches Hecht; ihre Erkenntnisz an und für sich ist daher zunächst nur eine freie Thätigkeit der Wissenschaft, ohne unmittelbaren Einrlusz auf die Rechtsordnung. Zu Recht aber werden die Rechtsideen, wenn sie gewissermaszen Leib gewinnen, d. h. wenn sie in dem State als feste Re- geln anerkannt werden und positive Geltung erlangen. Aus bloszen philosophischen Gedanken oder moralischen Vor- schriften werden sie dadurch in Hechtssätze umgewandelt, dasz sie von dem Volksbewusztsein als bestimmend und ver- bindend aufgenommen und im State gehandhabl werden. Diese Erweiterung des bestehenden Rechtes wird sehr oft statt durch die Gesetzgebung durch die Wissenschaft vermittelt, und insofern reihi sich diese den übrigen Rechtsquellen an,,

Die Wissenschaft Ut hier nur niebt mit der Gelehrsam- keil zu verwechseln, noch darf man die wissenschaftliche Thätigkeil auf schriftstellerische Abhandlungen beschränken. Der Statsmann, welcher in einer öffentlichen Debatte durch seine Rede das Princip rar Klarheil bringt, und das allge- mein.' Citlicil luv dessen Anerkennung bestimmt; der Feld- herr, welcher in einem Tagesbefehl die Grundsätze kundgibt, für welche er mit -einer Armee einzustehen sich für ver- pflichtet hält, und dadurch die Zweifel löst und die Gemüther zur Huldigung lenkt; der Richter, welcher durch die Entschei- dungsgründe -eines Ortheils den streit über das Princip in einer Weise hebt, welche allgemeine Billigung rindet; der Journalist, der durch seinen leitenden Artikel der öffentlichen Meinung die Richtung gibt, und den Stat bestimmt, einen Satz als Hecht gelten zu lassen . der bisher noch nicht zur Klarheit erhoben, noch nicht in die Rechtspraxis eingetreten war, sie alle vergröszern auf wissenschaftlichem Wege das vorhandene Capital des bestehenden Rechts. Ganz vorzugs- weise aber geziemt diese wissenschaftliche Thätigkeit den Statsmännern, und von jeher haben sich auch wahre Stats- männer dadurch ausgezeichnet, dasz sie nicht immer in

2*

20 Achtes Capitel. Die Wissenschaft.

der Form der Gesetzgebung und nicht immer unter dem Siegel der obrigkeitlichen Autorität, sondern oft in der freien Form wissenschaftlicher Aeuszerung das Recht ihres Volkes be- reichert haben.

Das wissenschaftliche Recht ist mit dem Gewohn- heitsrechte verwandt. Wie dieses unterscheidet es sich von dem Gesetzes- und dem Vertragsrechte durch den Mangel einer äuszernForm, welche als solche ><li<»n mit der höchsten staatlichen Autorität ausgerüstet i>t. Wie dieses hat es nicht einen ofriciellen Charakter, Bändern beruht auf freien Aensze- rungen des Volksleben-. Es i-t daher auch wie dieses beweglicher, veränderlicher, dem Zweifel ausgesetzter, aber auch wie dieses iebensfrisch. Es unterscheidet sich aber von dem Gewohnheitsrecht hinwieder darin, dasz dieses vornehm- lich auf dem Recht sgeffrfele des V-dks beruht, welches sich in Sitten und Hebungen, in ein/. dum Handlungen und Symbolen kundgibt, jenes aber in dem durch geistige Er- leuchtung erweckten Reehtsbewusztseins des Volkes seinen Grund hat. [nsofern verhalt ßich das Gewohnheitsrecht zu dem wissenschaftlichen Rechte wieder ähnlich wie m dem Gesetzesrechte.

Der Streit aber die I Gültigkeit des sogenannten Natur- oder Vernunftrechtes läszt sieh ron da ans Leicht ent- scheiden. So lange dasselbe nur da- Erzeugnisz individuel- ler Speculation ist. wir /.. B. dir Platonische Republik mit ihren Wächtern, so lange hat dasselbe sicherlich keinerlei Anspruch auf wirkliche Geltung. Auch der Nachweis, dan einzelne abstracte Meinungen, die als naturrechtliche begründet werden, zweckmäszig Beien, i>t noch Dicht genügend, im deren Kechtmäszigkei t herzustellen. Di«' Theorie ihr sich allein schafft überall noch kein Recht. Wenn aber die Empfänglichkeit des Volkes dir Anerkennung naturrecht- licher Sätze zugleich vorhanden ist, und wenn der Rechts» gedanke zugleich von dem Bewusztsein des Volkes aufgenommen

Achtes Capitel. Die Wissenschaft. 21

und durch dieses mit verbindlicher Kraft ausgerüstet wird, dann ist derselbe zu Recht geworden, und es ist nicht zu läugnen, dasz das Kecht erzeugen de Moment allerdings in der Wissenschaft lag, welches durch die Reception des Volksbewusztseins fruchtbar wurde.

Selbst in dem römischen Privatrechte ist ein bedeutender Theil auf solchem wissenschaftlichen Wege entstanden, ein- zelne wichtige Lehren sogar geradezu aus naturrechtlichen Gedanken, welche zur Geltung gelangten. Die ganze Lehre von der Fahrlässigkeit (culpa) z. B. verdankt ihre Entstehung dieser Thätigkeit der Wissenschaft, welche aus der Beobach- tung der gemeinsamen menschlichen Natur ihre Sätze schöpfte, und deren Anerkennung durchsetzte. Im Statsrecht ist diese Form der Rechtsbildung um so beachtenswerter, je leichter der Natur des States gem&sz das Bewusztsein von sittlicher Nothwendigkeil und von der Angemessenheit im State in das Bewusztsein, dasz das auch Recht Bei, überzugehen pflegt, und je mehr es in der Bestimmung des States liegt, der erkann- fi'ii Rechtsidee äuszere Geltung zu verschaffen. Grosze Stats- männer lassen sich daher, so weit ihnen die Verhältnisse freien Spielraum gestatten, regelmäszig durch ihren Glauben oder ihr Wissen von dem natürlichen Kecht e bestimmen.

Anmerkungen. 1. Von dem natürlichen Rechte sagt Paulus in dem Römerbricfo II, i:> 1.">: ,.l>«- ( i.-ct/.c- Werk sei in den Herzen der Heiden geschrieben, und werde von ihrem Gewissen bezeugt." Und Melanchthon ( Philos. mor.) nennt das positive Recht die nähere Be- stimmung (determinatio) des natürlichen Rechtes. Diese Bestimmung des natürlichen Statsrechtes kann geschehen durch Gesetze, durch Stats- verträge, durch die Gewohnheit, durch die Wissenschaft.

2. Den Moment der Rechtserzeugung zu erkennen und die mancherlei zusammenwirkenden Ursachen derselben zu beurtheilen, ist freilich in einzelnen Fällen sehr schwierig. Es ist damit ähnlich wie mit der natür- lichen Erzeugung. Aber wenn einmal das Recht als positive Frucht des statlichen Lebens zu Tage gefördert ist, so läszt es sich doch jeder Zeit erkennen, insofern man nur mit klaren Augen sieht und mit unbefange- nem Sinne erwägt.

22 Neuntes Capitel. Bechtsordnung u. thatsächl. Ordnung (Besitz!.

Neuntes Capitel

Rechtsordnung und tratsächliche Ordnung (Besitz).

Aehnlich wie wir im Privatrecht Eigentliuni und Besitz zu unterscheiden gewohnt sind, läszt sich auch von stattlichem Besitz reden im Gegensatz zum »tätlichen Kecht und kommt der allgemeinere Unterschied der that sächlichen und der rechtlichen Ordnung in Betracht Her Gegensatz einer Kegierung de facto und de jure ist der wichtigste aber nicht der einzige Fall dieses Unterschieds, in welchem zu- gleich die Analogie des privatrechtlichen Besitzes und Eigen- thums besonders deutlich hervortritt, aber mehr nicht als die Analogie, denn immer mnsa man sich bewuszt bleiben, dasz die Kegierung kein Eigenthum einer Person und kein Besitz von Sachen ist.

In zwei Richtungen findet der Btatliche Besitz auch eine statsreehtliehc Beachtung, Fürs erst»', indem der thatsäch- liche Bestand (Status, quo res Bunt), abgesehen von Beiner rechtlichen Begründung, einen Anspruch gewährt auf provi- sorischen Rechtsschutz gegen unbefugte und gewaltsame Störung. Auch hier darf man im Grundgedanken an die Ana- logie des [nterdictenschutzes zu Gunsten des Sachenbesitzes erinnern, aber muss man sich vor der unzulässigen Anwendung der privatrechtlichen Doctrin hüthen.

Sodann geht der fchatsächliche Zustand anter gewisse!] Voraussetzungen in Folge der Zeit in den entsprechenden Rechtszustand über, ähnlich wie der Sachenbesitz durch Ver- jährung gesichert und zu Eigenthum wird. Insofern läszt sich wohl von einer Btatsrechtlichen Verjährung1 reden,

1 Der Ausdruck Verjährung bedeutet in der deutschen Sprach« nicht eine bestimmte gesetzliche Institution, sondern überhaupt das allmähliche Wach stimm eines befestigten Rechtsaastandes aus der Fort- dauer der thatsächlichen Zustände, welche von derZeil geheilig! werden.

Wenn &, Brie in seiner trefflichen Schrift: Die Legitimation einer usur-

Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thatsäehl. Ordnung (Besitz). 23

die freilich wieder von anderer Art und Wirkung ist als die privatrechtliche Verjährung.

Der Besitz hat für das öffentliche Recht eine gröszere Bedeutung noch als für das Privatrecht. Er geht weit leichter in jenem als in diesem in wirkliches Recht über, und wirkt dort in höherem Masze Recht bildend als hier. Dieser Unterschied beruht keineswegs blosz auf dem äuszerlichen Nothstande, dasz es im State häufig an einer höhern Gewalt fehlt, welche die unberechtigte auf öffentliche Verhältnisse sich erstreckende Besitzergreifung verhindert oder aufhebt, während der in seinem Privatrechte beeinträchtigte und aus seinem Besitze ohne Recht verdrängte Inhaber regelmäszig bei den Gerichten Schutz findet gegen die ihm angethane Ver- letzung, sondern es findet derselbe seine innere Begründung in der verschiedenen Natur des Stats- und des Privatrechts.

Zwar genügt die blosze faetische Ausübung eines Rechtes für sich allein dort so wenig als hier dazu, um dem Ausüben- den das ausgeübte Recht zuzuerkennen. Der blosze fae- tische Zustand ist auch im Statsreehte nicht ohne weiteres als Recht aufzufassen. Es musz auch für das Statsrecht, damit es aus dem Besitze hervorgehe, ein geistig- sitt- liches Rechtselement hinzutreten. Aber während im Privatrechte, abgesehen von der Besitzergreifung herrenloser Sachen, die dann auch sofortiges Eigenthum bewirkt, das In-

pirten Statsgewult, den Ausdruck für diese statsrechtliche Wandlung nicht billigt, so denkt er zu sehr an die privatreclitliche Verjährung. "Wird für diese bona fides gefordert bei dem Besitzerwerb, so paszt die- ses Erfordernisz, insofern es Nichtwissen des Eigenthums eines Andern bedeutet, schon deszhalb nicht in's Statsrecht, weil es sich liier nicht um persönliche Rechte handelt, sondern um öffentliche Rechtszustände. Eine bona fides in ganz anderm Sinn, nämlich der Glaube an das Bedürfnisz oder die Notwendigkeit der Aenderung wird aber meistens bei denen vorhanden sein, welche die Umgestaltung durchsetzen. Aber selbst wenn dieser Glaube anfänglich nicht da wäre, so kann er später sich bilden und das ist für die öffentlich-rechtliche Verjährung aus- reichend.

24 Neuntes CapiteL Rechtsordnung u. thatsächl. Ordnung ( Besitz).

divicluum, welches an einer ihm bisher fremden Sache eigen- mächtig Besitz ergreift, jederzeit einem andern berechtigten Individuum gegenüber tritt, und so in den besondern Kreis von Rechten dieses Andern übergreift, der als Privatperson neben ihm auf gleicher Linie steht, so äussert sieh dagegen in der verschiedenen offenen Besitzesergreifung öffentlicher Rechte sehr häufig die Macht der wen auch neuen natür- lichen Verhältnisse im State, und in dem Mangel eines Widerspruchs zu gleich e i n e G e w B hm n g und A n e r ken- nung von Seite des States, in dessen eigenem Körper die Veränderung vor Bich gegangen ist In der gesicherten Fort- dauer der tatsächlichen Zustande offenbart rieh die fortwir- kende Notwendigkeit der öffentlichen Verhalt* nisse, and diese ist öffentliches Recht

Diese Rechtsansicht wird noch klarer werden, wenn wir die beiden extremen Meinungen, die ibr \<>n i gesetzten

Seiten her entgegentreten, mit ibr vergleichen und an ihr prüfen.

I. Die Theorie der »genannten faits aecomplis. si»> schmiegt sich bequem an jede factische Veränderung an. Sie erklärt jede ftuszerlich erscheinende Mach! ,il- Recht. Sir weis/, von keinem andern Recht, als dem des momentanen Sieges, von keinem Unrecht als dem «In- Niederlage. Jede Empörung ist in ihren Augen strafbar, wenn sie miszglfickt, und voll- ber echtigt , wenn sie gelingt. Jede Usurpation wird von ihr verdammt, wenn sie im Versuch erstirbt, und Boforl anerkannt, wenn sie Erfolg hat Die äussere weh -rinde Erschei- nung ist ihr einziger bfaszstab auch für das Recht. Sie folgt allen Wogen des Geschickes mit niederträchtiger GefQg- samkeit, und wechseK ihre Farbe und ihre Meinung mii jeder neuen Bewegung, die sie verspürt Sie gibt vor, den bestehen- den Zustand zu schützen, und untergr&bl ihn: sie rflhml sich, die lebendige Portbildung der Dinge zu berücksichtigen, und huldigt doch immer nur der jeweiligen Gegenwart. Sir. hui

Neuntes Capitel. Rechtsordnung u thatsächl. Ordnung (Besitz). 25

keinen Glauben an den sittlichen Gehalt und keine Einsicht in die geistige Natur des Kechts.

Zum Unglück für die allgemeine Rechtssicherheit ist seit der französischen Revolution diese charakterlose Doctrin der fait.s accomplis auf dem europäischen Continent häufig practisch geworden, und sie hat oft bei den entgegengesetzten Parteien Beifall gefunden.

Wohl verdient die ^tatsächliche Umwandlung der Dinge auch die Beachtung des Rechts, aber der Grundfehler jener Lehre liegt in der Einseitigkeit, womit sie auf die äuszere Erscheinung allen Nachdruck legt, und das ganze sittliche und geistige Elemenl des Rechts übersieh! und misz- achtet. Nur wo das Rechtsbewusztsein des Volkes die Veränderung [rntheiszt, wo jenes sich in den neuen Lebens- erscheinungen offenbart, nur da kann Bich auf solchem Wege neues wirkliches Rechl entwickeln. Die Erkenntnisz, ob dieses Rechtsbewusztsein da Bei oder nicht, ist freilich In manchen Fällen Bchwierig, aber die-«' Schwierigkeit heb! die hohe Be- deutung <\r> zu erkennenden Momentes selber nicht auf. Als Anhaltspunkte für diese Erkenntnisz und demnach als Beding- ungen der statsrechtlichen Verjährung dienen folgende Bücksichten .

a) So lange in dem State noch offener Kampf ge- führt wird um die Aenderung, so lange ist jedenfalls das Bewusztsein von der Etechtmäszigkeil <\ii^ neuen Zustandes noch nicht durchgedrungen, wenn schon die Partei, welche für den- selben streitet, die mächtigere ist.

b) Ist innerhalb des States zwar die Aenderung für den Augenblick siegreich durchgefochten, aber sind die Verhält- nisse und Stimmungen von der Art, dasz die Erneuerung des Kampfes noch in drohender Aussicht steht, so ist auch in diesem Falle der Besitz noch nicht zu festem Recht ge- worden.

c) Yon besonderer Bedeutung ist entweder die still-

26 Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thaisftchi Ordnung (Besitz).

schweigende Zulassung oder gar die ausdrückliche Anerkennung des veränderten Zustande- von Seite der Or- gane des States, welche das Kecht und die Pflicht haben, ober diese Zustände und deren Ordnung zu wachen, besonder« aber von Seite der obersten Statsgewalten, oder von Seite dea Volks, welches durch die Aenderung betroffen wird.

d) Endlich ist entscheidend die v 8 Ik erreohtl iche A n- erkennung der Mächte, welche berufen sind, den allge- meinen Frieden und die gemeinsame Weltordnung zu schützen.

Wenn diese Voraussetzungen alle vorhanden sind, so Ist die neue Rechtsbildung vollzogen and die anfängliche Usur- pation ist von der Zeit geheiligt zu wirklichem &echt geworden.

II. Die legitimistische Theorie stellt sieb an. als vertrete sie vorzuglich das geistig-sittliche Klemmt im Recht, im Gegensatze zu den thats&chlichen Erscheinungen, das feste Kecht im Gegensatze zu den unstäten Schwankungen der äuszeren Ereignisse. Und in der Thal liat sie der Lehre von den faits aecomplis gegenüber ein gewisses Verdienst. Aber in ihrer nur entgegengesetzten Einseitigkeil gerfttb sie nicht minder als diese in Widerspruch mit dem Wesen des Rechts.

Verstellt man unter der Legitimität, wie das Wort w zuläszt, die Rechtmässigkeit der wirklichen Verhalt» dann verdient sie unsere volle Verehrung. Wird aber unter Legitimität die blosse hergebrachte Rechtsform verstan- den, auch nachdem der Geist aus Ihr gewichen ist, oder die blosze vor Zeiten erschienene Rechtsidee, welche von der Kealität abgelöst die Möglichkeil der Verwirklichung verloren hat, dann ist sie eine leere Formel ohne [nhalt, eine Phrase

ohne Wahrheit. Die legitimistische Tl rie \ erfallt in diesen

Fehler: und es kommt ihr nicht ra, rieh als Verfechter des geistlich -sittlichen Principe /n gebahren; denn der Geist Ist lebendig und sie will den fcodten Buchstaben erhalten. Sie meint das Leben fortzusetzen, indem sie die Mumie aufbewahrt,

Neuntes Capitel. Rechtsordnung u. thatsächl. Ordnung (Besitz ). 27

Die Entwicklung der Geschichte, das lebendige Wort des Kechts, das sich in der wachsenden und sinkenden Macht der Verhältnisse und in dem Schicksal der Völker kund gibt, bleibt ihr unverständlich. Den Blick ausschließlich der Ver- gangenheit zuwendend, sieht sie nicht das Walten der Alles wandelnden Zeit, Beschränkten Sinnes ist sie gebannt in die urkundliche Formel des alten Gesetzes. Ladern sie die natür- liche Macht der Verhältnisse zu gering schätzt, artet sie leicht aus in ohnmächtige Rechthaberei, und indem sie sich Ton dem Leben abschlieszt und sich dem Leben entfremdet, erstarrt sie selbst zu leeren Sätzen. Sie darf sich nicht beklagen, dasz die Weltgeschichte, unbekümmert um ihre fruchtlosen Proteste über sie wegschreitet. Von ihr gill das Wort Christi : .Lasset die Todten ihre Todten begraben.4

Es gibt keinen einzigen Stat, der mit dies*']- legitimistischen Ansicht bestehen könnte. Die ganze Weltordnung /.engl wider sie und das Gericht der Weltgeschichte ha! sie längst ver- worfen. Und trotzdem hal man in unserm Jahrhundert die Verwegenheit gehabt, das Gespenst dieser leblosen Legitimität neuerdings zu beschwören, damit die Geister zu verwirren und die Praxis zu eiteln und schädlichen Handlungen zu verführen.

Anmerkungen. 1. Niebuhr Geschichte der Revolution I. 8. 212:

„Uniäugbar gilt für das Statsreclit eine Verjährung der Usurpation, wie im Privatreeht Verjährung des Besitzes."

2. Ein wichtiges und vollbewusztes Zeugnisz gegen die falsche Le- gitimität haben der Papst Zacharias und die fränkische Nation um die Mitte des achten Jahrhunderts vor der Welt abgelegt, jener in- dem er es für Recht erklärt hat, dasz der den Namen des Königs er- halte, welcher die Pflichten und die festbegründete Macht des Königs selbständig übe, diese indem sie diesem Ausspruch gemäsz die herzog- liche Dynastie der Karolinger zur königlichen erhoben und den Mero- wingern, die seit langer Zeit nur noch den Schein, nicht mehr die Wahrheit des Königthums besaszen, den königlichen Titel entzogen hat.

3. Kaiser Joseph II. von Oesterreich vindicirt in seinem berühm- ten naiven Briefe an König Friedrich II. von Preuszen die legiti- mistische Ansicht für die Könige in einem Sinne, welcher sich dem System der faits aecomplis sehr nähert: „Euer Majestät ist Monarch, und

2g Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.

in dieser Eigenschaft sind Ihr die Rechte des Künigthums nicht un- bekannt. Mein Unternehmen gegen die Osmanen ist oichts ander« ein legitimer Versuch, Provinzen wieder in Besitz zu nehmen, welche im Laufe der Zeiten und in Folge unglücklicher Ereignisse von meiner Krone losgerissen worden sind. Die Türken, und ich denke Bie lind nicht die Einzigen, haben die ßtatsmarime zu gelegener Zeit wie- der zu nehmen, was sie in unglücklichen Zeiten verloren."

4. Der engere Begriff der Legitimität, der zur Zeit der Restaura- tion von 1814 durch den Fürsten TalFeyrand in Umlauf gesetzt werden ist, bedeutet vorzugsweise das fürstlichi Gtblütsrechi der alten Dynastien im Gegensatz zu revolutionärer Entsetzung oder asurpatorischen Ver- drängung derselben, und i>t bus religiösen, familienrechtlichen und patri- monialen Elementen gemischt. Der ganze Begriff gehört daher eher dem mittelalterlichen ah dem modernen Btatsrecht an. VgL den Artikel Legitimität im deutschen Btatswörterbuch,

Zehntes Capitel.

\\> tbodt n d< r Behandlung,

Die vrissenschaftliche Lahr« des Statsrechts kann in »tr- schiedener Weise behandell werden. Insbesondere ktssen sich zwei innerlich begründete Arten nn<l ebenso zwei krankhafte Abarten der Behandlung unterscheiden. Wir können als jene Arten die philosophische und die historische Methode der Behandlung bezeichnen. Die Abarten entstehen ans dar extremen üebertreibung je der einen vorherrschenden Seite jener erstem Methoden; ans der philosophischen ist bo die blosz abstract-ideologische, ans der historischen die ein- seiti g-o in i rische wie ans -lern Urbild das Zerrbild durch Verderbnis/ hervorgegangen.

Der Gegensatz der Methoden Bchlieszl Bich an theils an die Eigenschaften dee Rechtes Belbst, theilfl an die Verschie- denheil der geistigen Anlagen «lerer, welche in dieser Wissen- schaft gearbeitet haben.

Alles Recht nämlich bat eine ideale Seite, einen ajft-

Zehnte3 Capitel. Methoden der Behandlung. 29

liehen und geistigen Gehalt in sich, aber als Recht ruht es zugleich auf einem realen Boden, und hat auch eine leib- liche Gestalt und Geltung. Die letztere Seite im Recht ist von der abstracten Ideologie verkannt und übersehen worden. Sie pHegt sich ein abgezogenes Statsprincip auszu- denken, und daraus eine Reihe Logischer Folgerungen zu ziehen, ohne Rücksicht auf den wirklichen Stat und dessen reale Ver- hältnisse. Selbst Pia ton ist in seiner Republik in diesen Fehler verfallen und dabei- zu Sätzen gekommen, welche der Natur und den Bedürfnissen der Menschen geradezu wider- sprechen. Indessen war Piaton doch durch den Reichthum seines Geistes und seinen Sinn füi- die Schönheit der Form vor der armseligen Lehre ausgedörrter Formeln bewahrt geblieben, welche im- in den Statsrechtslehren der Neuern so häufig be- gegnen. Der Stat als ein sittlich organisches Wesen ist nicht ein Producl der bloszeu kalten Logik, und das Recht des States Lsi uichl eine Sammlung speculativer Sätze.

Diese Methode führt, wenn sie als wissenschaftliche Unter- suchung betrieben wird, Leichi zu anfruchtbaren Resultaten; wenn sie aber in die Praxis übertritt, zu der gefährlichsten Geltendmachung fixer tdeen und zur Auflösung and Zerstörung <h'^ bestehenden Rechts. In Zeiten der Revolution, wo die Losgebundenen Leidenschaften Bich um so lieber solcher ab- stracten Lehren bemächtigen, je mehr sie mit deren Hülfe die Schranken (\r^ Gesetzes zu durchbrechen Hoffnung haben, erhalten derlei ideologische Sätze leicht eine ungeheure Macht, und werfen, unfähig einen neuen Organismus hervorzubringen, mit dämonischer Gewalt Alles vor sich nieder. Die franzö- sische Revolution in ihren leidenschaftlichen Phasen hat der Welt entsetzliche Belege für die Wahrheit dieser Beobachtung vor die Augen geführt: und Napoleon hatte nicht Unrecht zu sagen: „Die Metaph ysiker, die Ideologen haben Frank- reich zu Grunde gerichtet." Die ideologische Auffassung der Freiheit und Gleichheit" hat Frankreich mit Buinen gefüllt

30 Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.

und mit Blut getränkt, die doctrinäre Ausbeutung des , monarchischen Princips- hat die politische Freiheit Deutsch- lands niedergedrückt und seine Machtentwicklung gehemmt, und die abstracte Durchführung des Nationalitätengrundsatzes hat den Frieden von ganz Europa bedroht. Die fruchtbarsten und wahrsten Ideen werden verderblich, wenn sie ideologisch erfaszt und dann mit dem Fanatismus der Bornirtheit verwirk- licht werden.

Der entgegengesetzten Einseitigkeit macht rieb die blosz empirische Methode schuldig, indem rie sieb blosi an die vorhandene äuszerliche Form, an den Buchstabe! des Gesetzes oder an die thatsächlichen Erscheinungen hält Diese Methode, welche in der Wissenschaft höchstens durch ihre Sammerwerke einen Werth hat, in denen de grossen Stoff anhäuft, findet in dem Statsleben häufig, zumal unter bureaukratiscb gebildeten Beamten, zahlreichen Anhang. Sie gefährdet dann /.war selten unmittelbar die ganze Statsordnung, wie die Ideologischen Gegenfüszler. aber sie setzt rieb wie ein Rost an das blank** Schwert der Gerechtigkeit an, umstrick! die Öffentliche Wohlfahrt mit Hemmnissen aller Art. verursacht eine Menge kleiner Schä- den, entnervt die sittliche Kraft und schwächt die Gesundheit des States dergestalt, dasa am ihretwillen in kritischen Zeiten seine Bettung überaus erschwert, zuweilen unmöglich gemacht wird. Führt die blosz ideologische Methode, wenn sie prac- tisch wird, den Stat eher in fieberhafte Stimmungen und Krisen hinein, so hat diese blosz empirische Methode unter derselben Voraussetzung eher chronische üebel zur Folge.

Die historische Methode unterscheidet rieb ron der letztern vorteilhaft dadurch, dasz sie nicht blosz «las gerade vorhandene Gesetz oder die vorhandenen Thatsachen gedanken- los und knechtisch verehrt, sondernden innern Zusammen- hang zwischen Vergangenheil und Gegenwart, die orga- nische Entwicklung d»>> Volkslebens und die in der Geschichte offenbar gewordene sittliche Idee geistig

Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung. 31

durchdringt und beleuchtet. Sie geht zwar auch zu- nächst von der realen Erscheinung aus, aber sie faszt diese als eine lebendige auf, nicht als eine todte.

Verwandt mit ihr ist die wahrhaft philosophische Methode, welche nicht blosz abstract specuiirt, sondern concret denkt und eben darum Idee und Realität verbindet. Wäh- rend jene ihrer Betrachtung die geschichtliche Erscheinung und Entwicklung zu Grunde legt, geht diese zunächst von der Er- kenntnisz der menschlichen Seele aus, und betrachtet von da aus die in der Geschichte geoffenbarten Aeuszerungen des menschlichen Geistes.

Nur wenigen Individuen war es vergönnt, diese beiderlei Betrachtungsweisen zugleich in sich zu vereinigen. Die mei- sten, die Bich auf einen böhera wissenschaftlichen Standpunkt erhoben haben, wurden durch ihre natürlichen Anlagen ent- weder der einen oder der andern Richtung vorzugsweise zu- geleitet. Unter jenen Erstem verdient Aristoteles voraus unsere Bewunderung, dessen Statslehre, obwohl in jener jugend- lichen Periode der Geschichte der Menschheit geschrieben, welche der reiferen Statenbildung vorausging, dennoch auf Jahrtausende nach ihm eine der reinsten Quellen statlicher Weisheit geblieben ist. Der Kölner Cicero ahmte zwar in der Form der Begründung und Darstellung die philosophische Weise der darin reicher begabten Griechen nach, den besten Theil des Inhaltes aber schöpfte er mit Becht aus der Fülle practisch-römiseher Politik. Unter den Neuern sind der Fran- zose Bodin, der Italiener Yico und der Engländer Baco de Verulam als frühe Repräsentanten der philosophisch-histo- rischen Methode zu nennen. Cicero ähnlich an hinreiszender, schwunghafter Beredsamkeit hat der Engländer Burke die Lehren der englischen Statswissenschaft ebenso aus der Ge- schichte und dem Leben seines Volkes gegriffen und in geist- reicher und philosophischer Form verherrlicht. Der Italiener Macchiavelli, der in seinen Werken die reiche und schwere

32 Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung.

Lebenserfahrung eines tiefen und klugen Menschenkenners nie- dergelegt hat, und der Franzose Montesquieu, welcher mit freiem und heiterm Blicke die Welt anschaut und reich ist an feinen Bemerkungen und treffenden Beobachtungen, wech- seln in ihren Schriften in der Methode; doch ist jener mehr der historischen, dieser mehr der philosophischen ergeben. Der welsche Schweizer Rousseau und dw Engländer 1 > * * 1 1 tham dagegen halten sich , gleich den meisten Deutschen, mehr an die philosophische Methode, verfallen alter häufiger als ihr grösseres Vorbild Piaton in die einseitigen Yerirr- ungen der bloszen Ideologie.

Es ist somit klar : die beiden Methoden, die historische und die philosophische] bestreiten Bich nicht Sie ergänzen sich vielmehr und corrigiren aich. Der Isi sicherlich ein bor- nirter Historiker, der meint, mit ihm Bei die Geschichte ab- geschlossen, and es werde kein neues Etechi mehr geboren, und der ein eitler und thönchter Philosoph, der meint, er sei der Anfang und das Ende aller Wahrheit Der echte Histo- riker ist als solcher genöthigi den Werth auch der Philosophie anzuerkennen, und der wahre Philosoph isi ebenso darauf hin- gewiesen auch die Geschichte zu Käthe zu ziehen.

Wohl aber hat jede der beiden Methoden ihre eigentüm- lichen Vorzüge und hinwieder ihr«' besondern Schwachen und Gefahren. Der Hauptvorzug <\rv historischen isi der Reich- tlium und die Positivit&t ihrer Resultate; denn die Oe- schichte ist voll lebendiger Mannichfaltigkeil und zugleich durch und durch positiv. Was der fruchtbarste Denker in seinem Kopfe auszudenken vermag, wird dock immer, ver- glichen mit den in der Geschichte der Menschheit geoffen- barten Gedanken, nur ein ärmliches Stückwerk sein, und ge- wöhnlich nur eine unsichere und nebelhafte Gestali erlangen. Aber daneben besteht allerdings die Gefahr, dasz man, den histo- rischen Bahnen folgend, leicht aber der reichen Mannichfaltigkeil der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, das/ man von der

Zehntes Capitel. Methoden der Behandlung. 33

Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von der Massenhaf- tigkeit der geschichtlichen Erfahrungen überwältigt wird, dasz man insbesondere, von der Vergangenheit angezogen und ge- fesselt, den frischen Blick in das Leben der Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind das keineswegs nothwendige Folgen der historischen Methode, aber die Ge- schichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die sich ihr lei- denschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege sich verirren. Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind: Keinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strehens nach Ver- vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor- zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugsweise ideales (iepräge. Und wieder dmin-n ihr eigentümliche Gefahren, insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem Einen ofl als einlach gedachten Ziele die innere Mannich- faltigkeil der Natur und den reichen [nhall des realen Daseins übersehen, dasz sie, dem raschen Fluge der freien Gedanken fol- gend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken, leere For- meln ohne Gehalt, Blasen ohne Kein finden, und dem Spiele mit diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Entwicklung verken- nend, unreife Früchte pflücken, wurzellose Bäume in die Erde stecken und in ideologisehen Irrwahn versinken. Nur wenige» philosophischen Geistern ist es geglückt, sich reu diesen Ver- i rrnngen frei zu erhalten.

Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1811 in der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen" in ihrer Beziehung auf die deutsche "Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris- prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit der Philosophie die nüthige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht.

OhTtes önd?.

Der Begriff des Stats.

Erstes Capitel.

Historischer Btatsl egriff.

Wenn wir die grosse Ajizahl von Staten überblicken, welche nns die Geschieht.- ror die Augen führt, so werden wir einzelne gemeinsame Merkmale aller Staten sofort gewahr, andere aber stellen Bich erst bei näherer Prüfung heraas.

Vorerst \>i es klar, dasa in jedem State eine Mi von Menschen verbunden ist, v" sehr verschieden auch die Volkszalil der einzelnen State* Bein kann, indem die einen nur wenige Tausend«', andere dagegen viele Millionen Menschen umfassen, so steht doch das fest, dasz von Stai ersl dann die Kede ist, wenn der Kreis einer bloszen Fiitn il Ie über- schritten ist, und sich eine Menge von Menschen (beziehungs- weise von Familien, Männer, Weiber und Kinder) vereinig! finden. Eine Familie, ein Gesehlechl wie das Baus des .indi- schen Erzvaters Jakob kann der Kern werden, um den m.1i mit der Zeit eine grössere Menge Menschen ansammelt, aber, erst wenn das geschehen ist, erst wenn die einzelne Familie sich in eine fteihe von Familien aufgelöst hat, und die Ver- wandtschaft zur Völkerschaft erweitert ist, isi sine

Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 35

wirkliche Statenbildung möglich. Die Horde ist noch nicht Völkerschaft. Ohne Völkerschaft kein Stat.

Eine Normalzahl für die Grösze des Volks im Stat gibt es nicht, am wenigsten eine so geringe, wie Kousseau ge- meint hat, von nur 10,000 Mann. Im Mittelalter konnten wohl so kleine Staten sicher und würdig bestehen. Die neuere Zeit treibt zu gröszerer Statenbildung an, theils weil die poli- tischen Aufgaben des modernen Stats einer reicheren Fülle von Volkskräften bedürfen, theils weil die gesteigerte Macht der Groststaten für die Unabhängigkeit und Freiheit der Klein- staten leicht gefährlich und bedrohlich wird.

2. Sodann zeigt sich eine dauernde Beziehung des Volkes zum Boden als nothwendig für die Portdauer des Stats. Der Stat verlangt ein Statsgebiet, zum Volke gehört das Land.

Nomadenvölker, obwohl Häuptlinge an ihrer Spitze stehen, und obwohl sie unter sich das Etechl handhaben, be- wegen sieli doch nur in dein Vorhole des States. Erst die feste Niederlassung derselben bedingt das Statwerden. Moses hat das jüdische Volk zum Stat erzogen, aber Josua erst hat den jüdischen Stat in Palästina gegründet. Als in den Zeiten der groszen Völkerwanderung die Völker ihre Wohnsitze ver- lieszen und neue zu erobern unternahmen, befanden sie sich in einem unsicheren Cebergangszustande. Der frühere Stat, den sie gebildet hatten, bestand nicht mehr, der neue noch nicht. Der persönliche Verband dauerte noch eine Weile fort, der Zusammenhang mit dem Lande war gelöst. Nur wrenn es ihnen gelang, von neuem festen Boden zu gewinnen, so glückte es ihnen eben deszhalb, einen neuen Stat herzustellen; die Völker aber, welchen das nicht gelang, gingen unter. So ret- teten die Athener unter Themistokles auf ihren Schiffen den Stat Athen, weil sie nach dem Siege die Stadt wieder ein- nahmen; aber die Cimbern und Teutonen gingen unter, weil sie die alte Heimat verlassen hatten und keine neue erwarben.

3*

35 Erstes Buch. Der Begriff des State.

Sogar der römische Stat wäre untergegangen, wenn sich die Kömer nach dem Brande der Stadt nach Veji übergesiedelt 'hätten.

3. In dem State stellt sich die Einheit des Ganzen, die Zusammengehörigkeit des Volkes dar. Im Innern sind zwar verschiedene Gliederungen möglich mit groszer und eigentümlicher Selbständigkeit, wie in Koni der Populus der Patricier und daneben die Plebes, wie im altern ger- manischen Mittelalter die Volks verf aas u n g neben der L e - hens Verfassung. Der Stat kann auch aus mehreren Theileo zusammengesetzt sein, die in sieh Belber wieder Staten bilden, wie in den Staten b finden dar alten Hellenen und der Eidgenossen, und in den Du id esst a t en Nordamerikas und der Schweiz. Aber wenn die Gemeinschaft nicht, es in ihrem innern Organismus, einen einheitlichen Zusammen- hang besitzt, sei es im Verhältnis! zu den auswärtigen Staten sich als ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, in ist kein Stat da.

3. In allen staten tritt der Gegensatz zwisehen Begie- renden und Regierten, oder am uns eines alten, zuweilen miszverstandenen und auch wohl tniszbrauchten ausdrucke /u bedienen, der aber an und Für sich weder gehässig noch un- frei ist, zwischen Obri-k ei t und (' nt e r t hauen , zwar in den mannichfaltigsten Formen, aber immerhin als nothwendig hervor. Selbst in der ausgebildetsten Demokratie, in welcher dieser Gegensatz zu verschwinden scheint, ist derselbe den- noch vorhanden. Die Volksgemeinde der athenischen Borger war die Obrigkeit, und die einzelnen Athener waren im \n- hältnisz zu jener Unterthanen.

Wo es keine Obrigkeit mehr gibt, «reiche die Autorität besitzt, wo die Regierten den politischen Gehorsam gekfindigi haben, und Jeder thut wozu ihn die Lust treibt, wo Anar- chie ist, da hat der Stat aufgehört. Die Anarchie kann aber, wie alle Negation, so wenig dauern, dasz sieh aus ihr sofort

Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 37

wieder, wenn auch in roher und oft grausamer despotischer Form, unter jedem lebendigen Volke eine Art von neuer Obrigkeit aufwirft, welche sich Gehorsam erzwingt, und so jenen unentbehrlichen Gegensatz herstellt. Die Communisten verneinen zwar denselben in ihren Theorien, aber damit ver- neinen sie den Stat selbst. Auch ist es ihnen noch unter keinem Volke gelungen, mit Vernichtung des States ihren blosz gesellschaftlichen Verband einzuführen, und würde es ihnen je gelingen, vorübergehend die Massen für sich und ihre Plane einzunehmen, so wäre, nach dem Vorbilde der religiösen Communisten des XVI. Jahrhunderts, der Wieder- täufer, und nach der innern Consequenz der Dinge, mit Sicher- heit darauf zu rechnen, dasz auch sie wieder eine Herrschaft, und zwar die härteste-, die es je gegeben, aufrichten würden.

Bei den Slawischen Völkern finden wir die alte Idee, •las/ nur die Einstimmigkeil aller Gemeindeglieder den Gemeinwillen hervorbringe und nicht dir Mehrheit noch eine höhere Stimme entscheide. Das kann aber höchstens als Ge- meindeprineip und auch nur bei einer Nation gelten, in der sich Alle leicht und rasch zusammen schlieszen, nicht aber als Statsprincip, denn der Stat musz den Widerspruch Einzelner unvermeidlich überwältigen.

5. Eine gründliche Prüfung der statliehen Erscheinungen läszt uns ferner in demselben ein organisches Wesen er- kennen, und in der That ist mit dieser Einsicht in die orga- nische Natur des States sehr viel gewonnen auch für die practische Behandlung der statliehen Fragen.

In jedem State nämlich werden wir für die verschiedenen öffentlichen Thätigkeiten auch verschiedene Würden, Aemter, Behörden, Versammlungen gewahr, welche eigens geartet und bestimmt sind, um als Organe des States zur Erfüllung jener Thätigkeiten zu dienen. Das Individuum, welches in das öffent- liche Amt eintritt, hört insofern auf eine blosze Privat- person zu sein, die zunächst für sich lebt, es wird, so weit

3g Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

das Amt solches erheischt, zur öffentlichen Person. Das Amt selbst, welches von ihm bekleidet wird, verhält sich zu dem State als einem Ganzen genau so, wie das Glied zum Körper. Es ist nicht etwa nur wie ein Theil einer Maschine, es hat nicht etwa blosz mechanische Thätigkeiten auszuüben, die sich immer gleich bleiben, wie die Bäder uud die Spindeln einer Fabrik, sondern seine Functionen haben einen geistigen Charakter und ändern sich im Einzelnen je nach den Be- dürfnissen des öffentlichen Lebens, zu deren Befrie- digung sie bestimmt sind. Dem Leben dienend sind sie in sich selber lebendig. Wo daher das Leben in dem Amte er- stirbt, wo dieses in einen gedankenlosen Formalismus versinkt und sich der Natur einer Maschine annähert, welche ohne Un- terscheidung, ohne Berücksichtigung der eigenthümliehen und wandelbaren Verhältnisse, die vorliegen, nach festen äuszern Gesetzen in regelmäsziger mechanischer Bewegung fortarbeitet, da ist das Amt selbst dem Verderben verfallen, und der in eine Maschine verkommene Stat geht sicher eben deszhalb zu Grunde.

Nicht allein der Mensch , welcher in dem Amte wirkt, das Amt selbst hat in sich eine psychische Bedeutung, es lebt in ihm ein seelisches Princip. Es gibt einen Cha- rakter, einen Geist des Amtes, der hinwieder auf die Person, welche, wie in dem Körper das Individuum, in dem Amte waltet, einen Einflusz übt. In dem römischen Consu- late lag eine würdevolle Hoheit und Machtfülle, welche auch einen nicht bedeutenden Mann, der zum Consul erwählt wor- den war, emporhob, und seine natürlichen Kräfte steigerte. Das Kichteramt ist ein so heiliges, der Gerechtigkeit ge- weihtes, dasz diese erhabenen Eigenschaften auch die Seele eines schwächeren Mannes, welcher zum Richter bestellt wird, erfüllen und in ihm den Muth, für das Recht einzustehen, wecken können. Der Geist des Amtes vermag zwar nicht die Natur des Beamten umzuändern, er ist nicht mächtig genug

Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 39

diesen so zu durchdringen, dasz jederzeit die persönliche Er- füllung des Amtes der Bedeutung desselben vollkommen ent- spricht; aber der Beamte verspürt doch jederzeit eine psy- chische Einwirkung des Amtes auf seinen individuellen Geist und sein Gemüth, und wenn er einen offenen Sinn hat, kann es ihm nicht entgehen , dasz in dem Amte selbst eine Seele lebt, welche zwar nun mit seiner Individualität in eine enge Beziehung und in unmittelbare Verbindung getreten ist, aber immerhin von jener verschieden ist und seine Per- sönlichkeit überdauert.

Wie aber die sämmtlichen öffentlichen Aemter und Wür- den zum State gehören als dessen Glieder, so ist dieser selbst wieder ein organisches Ganzes, welches als Einheit die Mannichfaltigkeit jener zusammenhält und zu innerer Harmonie vereinigt. Das Ganze und seine Theile , der Stat und seine Aemter haben daher auch als organische Bildungen eine Ent- wicklungsgeschichte. Es verhält sich damit im Wesent- lichen nicht anders als mit allen übrigen organischen Wesen auf der Erde. Sie alle laufen innere Umgestaltungen und verschiedene Phasen des jugendlich-frischen Wachsthums , der Reife und des alternden Hinwelkens durch. Die Geschichte der Staten und der einzelnen statlichen Institutionen, welche länger dauern als das Einzelleben des Menschen , und deren Entwicklung oft durch mehrere Jahrhunderte hindurch geht, läszt darüber keinen Zweifel übrig.

Allerdings besteht aber neben dieser Verwandtschaft mit der Entwicklung der organischen Wesen, welche wir in der Schöpfung Gottes in der Natur erkennen, auch ein beachtens- werther Gegensatz. Während nämlich das Leben der Pflanze, des Thieres und des Menschen in regelmäszigen Perioden und Stufen auf- und hinwieder absteigt, so ist der Entwicklungs- gang der Staten und der statlichen Institutionen nicht immer ebenso regelmäszig. Die Einwirkungen der menschlichen Frei- heit oder äuszerer Schicksale bringen öfter bedeutende Ab-

40 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

weichungen hervor, und unterbrechen bald oder fördern plötz- lich die normale Stufenfolge oder wandeln sie zuweilen um, je nachdem grosze und gewaltige Männer oder wilde Leiden- schaften auch des Volkes in dieselben eingreifen. Diese Ab- weichungen sind zwar weder so zahlreich noch gewöhnlich so grosz, dasz die Regel selbst um derselben willen bedeutungs- los würde. Im Gegentheil sie sind viel seltener, und meistens auch geringfügiger, als die wähnen, welche sich in ihren Mein- ungen von den unmittelbaren Eindrücken der jeweiligen Gegen- wart bestimmen lassen. Aber sie sind doch wichtig genug, um den Beweis zu führen, dasz der Gedanke einer bloszen Naturwüchsigkeit des States einseitig und unbefriedigend sei, und um der freien individuellen That auch in dieser Hinsicht ihr Recht widerfahren zu lassen.

6. Indem die Geschichte uns Aufschlusz gibt über die organische Natur des States, läszt sie uns zugleich erkennen, dasz der Stat nicht mit den niedern Organismen der Pflanzen und der Thiere auf Einer Stufe stehe, sondern von höherer Art sei. Sie stellt ihn als einen sittlich -geistigen Organis- mus dar, als einen groszen Körper, der fähig ist die Gefühle und Gedanken der Völker in sich aufzunehmen und als Gesetz auszusprechen, als That zu verwirklichen. Sie berichtet uns von moralischen Eigenschaften, von dem Charakter der einzelnen Staten. Sie schreibt dem State eine Persönlich- keit zu, die mit Geist und Körper begabt ihren eigenen Willen hat und kundgibt.

Der Ruhm und die Ehre des States haben von jeher auch das Herz seiner Söhne gehoben und zu Opfern begeistert. Für die Freiheit und Selbständigkeit, für das Recht des States haben in allen Zeiten und unter allen Völkern je die Edelsten und Besten ihr Gut und Blut eingesetzt. Das Ansehen und die Macht des States zu erweitern, die Wohlfahrt und das Glück desselben zu fördern, ist überall als eine der ehren- vollsten Aufgaben der begabten Männer angesehen worden.

Erstes Capitel. Historischer Statsbegriff. 41

An den Freuden und Leiden des States haben jederzeit alle Bürger desselben Antheil genommen. Die ganze grosze Idee des Vaterlandes und die Liebe zum Vaterlande wäre undenk- bar, wenn dem State nicht diese hohe sittlich-persönliche Natur zukäme.

Die Anerkennung der Persönlichkeit des States ist denn auch für das Statsrecht nicht weniger unerläszlich als für das Völkerrecht.

Person im rechtlichen Sinn ist ein Wesen, dem wir einen Eechtswillen zuschreiben, welches Kechte erwerben, schaffen, haben kann. Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts ist dieser Begriff ebenso bedeutsam, wie auf dem Gebiete des Privatrechts. Doch ist der Stat die öffentlich-rechtliche Person im höchsten Sinne. Die ganze Statsverfassung ist dazu eingerichtet, dasz die Person des Stats ihren Stats- willen, der verschieden ist von dem Individualwillen aller Einzelnen und etwas anderes ist als die Summe der Einzelwillen, einheitlich gestalten und bethätigen kann.

Fassen wir das Resultat dieser historischen Betrachtung zusammen, so läszt sich der Begriff des States so bestimmen: Der Stat ist eine Gesammtheit von Menschen, in der Form von Regierung und Regierten auf einem bestimmten Gebiete verbunden zu einer sittlich- organischen Persönlichkeit. Oder kürzer ausgedrückt: Der Stat ist die politisch organi- sirte Volksperson eines bestimmten Landes.

Anmerkung. Es ist nicht ohne Interesse nachzusehen, wie die verschiedenen Völker den Stat benannt haben. Die Griechen noch bezeichneten Stadt und Stat mit dem nämlichen Wort (n6Xtg~)1 zum Zeichen, dasz ihr Begriff vom Stat auf die Stadt gegründet und durch den städtischen Gesichtskreis auch beschränkt war. Auch der römische Ausdruck civitas weist noch auf die Bürgerschaft einer Stadt hin, als den Kern des States, aber ist persönlicher gehalten als das griechi- sche "Wort, und eher geeignet, gröszere Yolksmassen in sich aufzu- nehmen. Auch spricht es für die hohe sittliche Bedeutung des States, dasz der Ausdruck Civilisation von dem Namen des Stats abgeleitet

42 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

ist, und practisch mit der Ausbreitung und Verwirklichung des States zusammenfällt.

In gewissem Betracht steht der andere römische Name res publica noch höher, insofern nämlich als demselben die Beziehung nicht blosz auf eine (städtische) Bürgerschaft, sondern ein Volk zu Grunde liegt (res populi), und die Rücksicht auf Volks Wohlfahrt darin enthalten ist. Im Sinne der Alten schlieszt der Ausdruck Republik die Monarchie nicht aus, paszt aber nicht auf despotisch geartete Staten.

In den modernen Sprachen hat nicht blosz unter den Romanen, son- dern eben so unter den Germanen der Ausdruck Stat (stato, etat, State) überhand genommen. An sich völlig indifferent (er bezeichnet ursprüng- lich jeden Zustand, und offenbar ergänzte man anfänglich Status rei publicae, um eine nähere Beziehung zu dem State zu erlangen) ist die- ser Ausdruck mit der Zeit zu der allgemeinsten und durch keinerlei Nebenbegriffe beschränkten, noch durch schillernden Doppelsinn zweifel- haften Bezeichnung des States geworden. Obwohl darin das Feste, was steht, hervorgehoben ist, so ist doch auch dieser Zusammenhang in Ver- gessenheit gerathen, und bezeichnet das Wort nicht etwa die bestehende Statsordnung und Statsverfassung (jtoXneia)) sondern den Stat, welcher auch eine völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann.

Alle andern modernen Ausdrücke haben nur eine beschränkte Gel- tung; so das stolze Wort Reich, welches nur auf grosze Staten paszt, die überdem monarchisch organisirt, auch wohl aus mehreren beziehungs- weise wieder selbständigen Ländern zusammengesetzt sind, ähnlich dem romanischen Worte Imperium, empire, in welchem zugleich auf die kai- serliche Herrschaft angespielt wird. Enger ist der Sinn des Wortes Land, welches zunächst das äuszere, und zwar ein zusammenhängendes Statsgebiet, dann aber auch den auf diesem Gebiete ruhenden Stat be- zeichnet. Es bildet übrigens dieser Ausdruck den natürlichen Gegensatz zu der griechischen nöXig , indem er auf die Landschaft zunächst den Stat gründet, wie dieses ihn aus der Stadt erwachsen läszt. Noch enger um der Beziehung auf das Individuum willen aber zugleich durch die persönliche Hinweisung auf den Zusammenhang und die Vererbung der Blutsverwandtschaft im Lande gehobener und vergeistigter ist das schöne Wort Vaterland, in welchem die ganze volle Liebe und Pietät des einzelnen Statsbürgers zu dem groszen und lebendigen Ganzen, dem er mit seinem Leibe angehört, mit dessen Dasein auch sein Dasein ver- wachsen ist, dem sich zu opfern die höchste Ehre des Mannes ist, sich so verständlich und gemüthlich ausprägt. 1

1 Euripides in den Phönicierinnen:

Zum Vaterland fühlt Jeder sich gezogen. Wer anders redet, Mutter, spielt mit Worten, Und nach der Heimat stehen die Gedanken.

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 43

Zweites Capitel.

Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.

Genügt der Statsbegriff, wie ihn die historische Betrach- tung der verschiedenen Staten nachzuweisen vermag, dem menschlichen Geiste? Die historische Schule fühlt sich wohl befriedigt in der Annahme, dasz der Stat der Körper sei der V o 1 k s g e m e i n s c h a f t. Sie leitet ihn her aus der Natur und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation.

Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tie- fem Grund der Staten aufsucht, findet sie in der mensch- lichen Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen. „Der Mensch ist ein von Natur statliches Wesen" ((pvöEi noXiTixdv £wov). Nicht die nationale Eigentümlich- keit macht ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Organismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein ge- meinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlossener, er weist mit innerer Notwendigkeit auf die höhere Einheit der Mensch- heit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen, ohne Bücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste beseelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?

44 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

Die national beschränkten Staten haben daher nur eine relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die Person: und in einem nicht - menschlich organisirten Körper kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats- körper musz daher dem menschlichen Körper nachge- bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper- lich sichtbaren Menschheit gleich. Der Weltstat oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden Menschheit.

Der einzelne Mensch als Individuum, und die Menschheit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden Gegen- sätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das ge- meinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein- heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk- lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi- sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis- herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden, und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe Ziel fester ins Auge.

Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff- nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 45

fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich- keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christ- liche Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allge- meine zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des universellen Weltreichs.

Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin, welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist, als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen versucht hat.

Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer Weise gewagt.

Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa- rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt l ein Bild seiner Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe" die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich-mensch- liches Eeich erfülle und in demselben ihre Befriedigung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt: und der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachsthum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht blosz dem ver- hängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre wegraffte, be- vor er noch die einheitlichen Institutionen befestigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte, dasz dieser

1 „Rex terrarum omnium ac mundi." Justin. XII, 16. Laurent hist. du Droit des Gens II. 5. 262.

46 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen, keinen Be- stand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst war unklar.

Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver- wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State liesz sich nicht mit der religiösen Betrachtung der Perser von dem göttlichen Königthum vereinigen. Die makedonische Monarchie konnte nicht zugleich asiatische Theokratie sein. Die Orientalen glaubten willig, dasz Alexander der Sohn des höchsten Gottes sei, die Europäer wurden von der Zumuthung angewidert, dem menschlichen Herrscher göttliche Ehre zu erweisen.

Und die Völker wurden verwirrt. Die hellenische Wissen- schaft und Cultur befreite wohl die orientalische Welt aus den strengen Banden der religiös -politischen Beschränkung, aber ihre Wirkung war mehr Auflösung der alten, nicht Schöpfung einer neuen Welt. Die Vergöttlichung des Men- schen verdrängte die Ehrfurcht vor den alten Göttern: und die liederlich gewordene Cultur der Europäer half mit, den Orient vollends zu entnerven.

Einen dauerhafteren und nachhaltigeren Erfolg hat der Versuch der Köm er gehabt, die Weltherrschaft zu er- obern. Das römische Keich war ein Weltreich. Das ganze römische Volk fühlte sich berufen, seine Statsidee über die Erde zu verbreiten, und alle Völker der römischen Hoheit zu unterwerfen. Die männliche Kraft und die eherne Gewalt des römischen Charakters überwand die zahlreichen Nationen, die sich ihrem Siegeszug über den Erdkreis entgegenzusetzen wagten: und schon war der römische Stat mit seinen Rechts- institutionen von Granit in drei Welttheilen auf festen Grund- lagen aufgebaut. Der gröszte Kömer Julius Cäsar hat der Nachwelt die Kaiseridee als Erbgut hinterlassen und in ihr

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 47

eine Autorität begründet, welche über die nationalen Schranken hinaus die Welt umspannt.

Aber auch das Streben der Kömer ist von der Welt- geschichte gerichtet. Es war nicht, wie das Alexanders auf die Mischung der Völker, sondern auf die höhere Natur Eines Volkes gegründet, welches der Menschheit seinen Volkscharakter einprägen, die Welt romanisiren wollte. Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge- nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Na- tionen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand der jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem Andrang erlegen.

Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie mehr untergegangen. Das romanisch -germanische Mittelalter hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen versucht, zu- erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem rö- misch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren Ver- hältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich hergestellt wer- den, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens gleichmäszig beherrsche. Der grosze für die Menschheit so folgenreiche Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen durch das Christenthum offenbar geworden. Der Stat verzichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu beherrschen. Er erkannte an, dasz es neben ihm auch eine religiöse Gemein- schaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herrschaft zu üben. Er war genöthigt, das religiöse Leben der Leitung der Kirche

48 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

zu tiberlassen. Er gelangte über sein Verhältnisz zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christenthums war nicht von ihm abhängig.

Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern allen Völkern Frieden und Eecht gewähren. Der mittelalter- liche römische Kaiser galt nicht als absoluter Herr über alle Völker, sondern als gerechter Schirmer ihres Kechts und ihrer Freiheit. Die Kaiseridee, für welche sich ein Statsmann wie Friedrich IL2 und ein Denker wie Dante3 begeistert hatte, war so gereinigt. Das mittelalterliche Keich umfaszte eine grosze Anzahl wesentlich selbständiger Staten, welche zu einer Gesammtordnung zwar verbunden und formell dem Kaiser untergeordnet, aber in allen wesentlichen Bezie- hungen unabhängig waren und für sich lebten nach eigenem Willen. Die Mannichfaltigkeit auch des Volks- und Stammes- lebens wurde im Mittelalter mit Vorliebe geschützt und ge- pflegt. Aber was an sich ein Fortschritt war in der Entwick- lung des Weltstates, führte, weil zu einseitig verfolgt, zu dessen Auflösung. Der Trieb zur Sonderung wurde stärker als der Drang nach Einheit. Die Spaltung der Nationalitäten, der Gegensatz der Sprachen, hat Frankreich und Deutschland getrennt, und die fränkische Weltmonarchie in zwei Theile zerrissen. Der Erhebung der Fürsten und Landesherrn ver- mochte das karg ausgestattete deutsche König- und römische Kaiserthum nicht zu begegnen. Die deutsche Centralinstitution

2 Friderici Constit. Kegni Siculi I. 30.: „Oportet Caesarera fore justitiae patrem et filium, dominum et ministrum; patrem et dominum in edendo justitiam et editam conservando: sie et in venerando justi- tiam sit filius et in ipsius copiam ministrando minister."

3 Seine Schrift de monarchia verherrlicht das Kaiserthum; und in seiner göttlichen Komödie verehrt er in dem Kaiser die Spitze der gött- lichen Weltordnung. Vgl. Wegele Dante's Leben und Werke. Jenal852.

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das "Weltreich. 49

hatte keine centrale Unterlage, daher erhielt die Peripherie die Oberhand, und das Reich ging aus den Fugen. Wieder siüd die Versuche verunglückt, aber wieder haben sie den nachfolgenden Geschlechtern beachtenswerthe Lehren hinter- lassen.

In unserem Jahrhundert hat der Kaiser Napoleon I. den Gedanken, der eine Zeit lang im Dunkel geblieben, wie- der zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende Centralgewalt ; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf die Bahn zurück, welche die Kömer zuvor begangen hatten, wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt- stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen, wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver- mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver- zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen, der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten in wiederholten Kriegen die französische ITebermacht zu be- kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats- manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand Englands, in dem ,ein groszes historisches Nationalgefühl mit germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo-

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 4

50 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Bussen wichen besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht. Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als" sich das verbundene Europa wider sie wandte."" Der Napoleonische Ge- danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung, wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich be- droht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und befrie- digt von der neuen Weltordnung: und das französische Volk war nicht mächtig genug, jene sich dauernd unterzuordnen.

Inzwischen arbeitet die unbesiegbare Zeit selbst unablässig fort, die Völker einander näher zu bringen, und das allge- meine Bewusztsein der menschlichen Gemeinschaft zu wecken. Das ist aber die natürliche Vorbereitung einer gemeinsamen Weltordnung. Es ist nicht zufällig, dasz die modernen Ent- deckungen und die zahlreichen neuen Verbindungsmittel durch- weg diesem Ziele dienen, dasz die gesammte Wissenschaft der neueren Zeit diesem Impulse folgt und voraus der Menschheit erst in untergeordneter Beziehung den einzelnen Nationen angehört, dasz eine Menge Hindernisse und Schranken, die zwischen den Völkern lagen, wegfallen. Heute schon verspürt die gesammte europäische Menschheit jede Störung, die einem einzelnen State widerfährt, als ein Uebel, an dem sie mitzu- leiden hat, und was an den äuszersten Grenzen des europäischen Körpers begegnet, findet sofort allgemeines Interesse auch in dem Innern desselben. Der europäische Geist wendet bereits seine Blicke auf den Erdkreis und die arische Kasse fühlt sich berufen, die Welt zu ordnen.

Wir sind noch nicht so weit. Es fehlt aber gegenwärtig schon weniger an dem Willen und an der Macht als an der geistigen Keife. Die Glieder der europäischen Völkerfamilie kennen ihre Ueberlegenheit über die andern Völker gut genug, aber sie sind unter sich und über sich selbst noch nicht" in's Klare gekommen. Ein endlicher Erfolg ist erst möglich, wenn das lichtende Wort der Erkenntnis/ darüber und über das

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 51

Wesen der Menschheit ausgesprochen sein wird, und die Völ- ker bereit sind, es zu hören.

Bis dahin wird das Weltreich eine Idee sein, welcher Viele nachstreben, welche keiner zu erfüllen im Stande ist. Aber als Idee der Zukunft darf die Wissenschaft des allge- meinen Statsrechtes sie nicht übersehen. Erst in dem Welt- reiche wird der wahre Stat offenbar, in ihm auch das Völkerrecht seine Vollendung und in höherer Gestalt ein gesichertes Dasein finden. Zu dem Weltreich verhalten sich die Einzelstaten, wie sich die Völker zur Menschheit verhalten. Die Einzelstaten sind Glieder des Weltreiches und erlangen in ihm ihre Ergänzung und ihre volle Befriedigung, wie die Glieder im Körper. Das Weltreich hat nicht die Aufgabe, die Einzelstaten aufzulösen und die Völker zu unter- drücken, sondern den Frieden jener und die Freiheit dieser besser zu schützen.

Der höchste zur Zeit noch nicht realisirte Statsbegriff ist also: Der Stat ist die organisirte Menschheit, aber die Menschheit in ihrer männlichen Erscheinung, nicht in der weiblichen Gestaltung. Der Stat ist der Mann.

Anmerkungen. 1. Der Stat ist männlich, die Kirche weib- lich. Daher läszt sich in prägnantem Sinne vom State sagen: IJetat c'est Vhomme. Näher ausgeführt habe ich das in meinen psychologischen Studien über Stat und Kirche. Erste und zweite Studie.

2. Einer der geistreichsten und wahrheitsliebendsten Männer, der Waadtländer Yinet (l'individualisme et le socialisme), erhob das Be- denken gegen die Idee des humanen States, dasz durch denselben alles menschliche Leben absorbirt, die individuelle Freiheit im Princip auf- gehoben, und über die Gewissen der Einzelnen wie über die Wissen- schaft eine ungebührliche weltliche Herrschaft geübt würde. Dieser Einwurf nöthigt in der That zu einer genauem Begrenzung jener Idee.

Vorerst ist anzuerkennen, dasz der Stat nicht die einzige humane Gemeinschaft, nicht die einzige leibliche Darstellung der Menschheit ist. Die Kirche ist in ihrer irdisch -sichtbaren Erscheinung auch eine Ge- meinschaft, auch ein Leib der Menschheit. Damit ist aber zugleich an- erkannt, dasz die politische Herrschaft des States nicht das religiöse

4*

52 Erstes Buch. Der Begriff des State.

Leben der Menschen bestimmt, und dasz die Freiheit der Gewissen und der Glaube des Individuums nicht durch den Stat gefährdet wird.

Sodann folgt aus der menschlichen Natur des States keineswegs, dasz der Stat eine vollkommene Herrschaft über das Individuum habe. In jedem einzelnen Menschen können wir vielmehr zwei Naturen unterscheiden, die individuelle und die gemeinsam-menschl iche. Das Individuum mit seinem Leben gehört nicht ausschlieszlich, nicht ganz weder der Gemeinschaft mit andern Individuen noch der Erde an, somit auch nicht dem State, als einer irdischen Lebensgemeinschaft. Der Stat beruht auf der menschlichen Natur nicht insofern als sie sich in Millionen von Individuen mannichfaltig offenbart, sondern insofern als sie die gemeinsame Natur der Menschheit in Einem Wesen erscheint, und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander- bestehen und Zusammenleben der Menschen es erfordert. Der Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft aucli hier durchzusetzen; denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die Seele des Individuum- kann er nicht tödten,

3. Neuestens hat sieh auch Laurent gegen die Idee des Weltstats erklärt (histoire du Droit des Gens I. S. 30 f.). Seine Gründe sind fol- gende :

a) Der Weltstat wäre Uniyersalmonarohie und diese unverträg- lich mit der Souveränetät der Btaten,

b) Die Individuen als natürliche und die "Völker als künstliche Per- sonen sind verschieden. Jene sind in -ich mangelhaft und werden von bösen Leidenschaften bewegt, diese Bind vollkommene und moralisohe "Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort- dauernde Wirksamkeit der Btatsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht oder nur ausnahmsweise.

c) Das Individuum ist schwach und muss sieb der Statsgewalt unter- werfen; die Staten aber sind stark und werden -ich daher nicht unter eine höhere Gewalt beugen lassen.

d) Wäre der Weltstat so mächtig, um auch die Staten wider ihren Willen zu beugen, so würde diese Uebermaoht das Reohl und die Frei- heit unterdrücken, denn wo Widerstand anmöglich ist, da kann die Freiheit nicht bestehen.

e) DerVolksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des WVH- states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.

Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht überzeugt. D&gegen ist zu erinnern:

Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze (Kaiserthum) , aber auch in republikanischer Form denken, sei es ah

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. 53

Directorium (Pentarchie) oder als ConfÖderation sämmtlicher Staten. Keinenfalls aber braucht man sich eine absolute Macht der Weltregie- rung zu denken; und der Fortbestand der Yolksstaten macht geradezu eine Ausscheidung der Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich nothwendig. Es ist kein Grund den Bereich des letztern über die ge- meinsamen Weltangelegenheiten auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, über- haupt des Gebietes, da3 wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des Bundesstates, in welchem für die gemeinsamen Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege bestellt, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso die Souveränetät des Einzelstates anerkannt bleibt, kann hier als Yorbild dienen.

Zu b) Die Yölker haben ihre Mängel und ihre Leidenschaften ähn- lich den Individuen, und gäbe es kein Völkerrecht, so würden die schwachen und hülflosen Völker die bequeme Beute der starken und herrschsüchtigen Völker. Derselbe Grund , auf dem das Völkerrecht ruht, ist auch die Grundlage des Weltreichs.

Zu c) Die Stärke der Volks.staten auch dem Weltreich gegen- über — ist die beste Garantie dafür, dasz jene niclit durch dieses unter- drückt werden; aber so stark ist auch der gröszte Volksstat nicht, um für sich allein, wenn er im Unrecht ist, den Kampf mit der Welt auf- zunehmen. Nur wenn Gruppen von Staten oder Parteien einander feind- lich entgegen treten, wird dann noch ein Krieg möglich sein. In allen andern Fällen wird sich derselbe in Execution der Weltrechtspflege ver- wandeln. Da wir durch die beszte Statseinrichtung doch nicht völlig gegen den Bürgerkrieg gesichert sind, so werden wir auch zufrieden sein müssen, wenn die stärkere Ordnung des Völkerrechts den Staten- krieg seltener macht. Die Vervollkommnung des Rechtes nähert sich im beszten Falle dem Ideal; sie erreicht es nie.

Zu d) Das Weltreich ist im Vcrhältnisz zu den Volksstaten unter allen Umständen weniger übermächtig, als der Volksstat im Verhältnisz zu den Bürgern ; dennoch wird die Freiheit der Bürger nicht bedroht, sondern geschützt durch die Statsordnung.

Zu e) Nicht alle individuellen Bedürfnisse werden durch den Stat befriedigt; es gibt auch kosmopolitische Interessen, sowohl geistige als materielle (Weltwissenschaft, Weltliteratur , Welthandel), die eine volle Befriedigung nur in dem Weltreich finden können ; wie wenig aber heute noch die Rechte ganzer Völker gesichert sind, beweiszt die euro- päische und amerikanische Völkergeschichte.

Laurent gründet das Völkerrecht auf die Einheit des Menschen- geschlechts, und ein anderer Grund ist nirgends zu finden. Aber wenn er diese Einheit nur als eine innere erkennt, so fordern meines Erachtens Logik und Psychologie zugleich, dasz die innere Kraft sich auch äuszerlich darstelle. Wenn die Menschheit innerlich Ein Wesen

54 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

ist, so musz sie sich auch in ihrer vollen EntwickluDg als Eine Person offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstat.

Ich weisz, dasz die Meisten der Mitlebenden diese Idee für einen Traum halten; aber das darf mich nicht abhalten, meine Ueberzeugung auszusprechen und zu begründen. Die späteren Geschlechter, vielleicht erst nach Jahrhunderten, werden über die Streitfrage endgültig ent- scheiden.

Drittes Capitel.

Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.

A. Die hellenische Statsidee.

Die eigentliche Statswissenschaft beginnt zuerst unter den Hellenen. In Hellas gelangte das menschliche Selbstbewuszt- sein wie zu künstlerischer so auch zu politischer Entfaltung.

So klein das Gebiet der hellenischen Staten und so be- schränkt ihre Macht noch war, so breit und umfassend war die Grundlage, auf der sich der hellenische Statsgedanke erhob, und so hoch und edel ist die Statsidee, welche die griechischen Denker aussprechen. Sie gründen den Stat auf die Menschennatur, und sind der Meinung, nur im State könne der Mensch seine Vollkommenheit erreichen und die wahre Befriedigung linden. Der Stat ist ihnen die sittliche Welt- ordnung, in welcher die Menschennatur ihre Bestimmung erfüllt.

Piaton (Kep.V.) spricht das grosze Wort aus: „Je mehr sich der Stat in seiner Organisation dem Menschen nähert, desto besser ist es. Leidet ein Theil des Statskörpers , oder befindet er sich wohl, so wird der ganze Statskörper diese Empfindung als die seinige ansehen, und mitleiden oder sich dessen erfreuen." Er hat somit die organische und zwar die menschlich-organische Natur des States bereits erkannt, obwohl

Drittes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. I. Die antike Welt. 55

diesen fruchtbaren Gedanken noch nicht in seinen Consequenzen verfolgt.

Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung steigt je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten, erklärt den Stat als die Gemeinschaft von Geschlechtern und Ortschaften (Volk und Land) zu einem vollkommenen und in sich befriedigenden Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein von Natur politisches Wesen, und den Stat somit ein Product der menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur Sicherheit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Ver- folg zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens.2

Es begegnen sich in dieser Statsidee und mischen sich alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen- schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand- werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts- wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus- geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver- stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen- würdigen Zustand.

Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über- mächtig, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem : der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist. Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter- than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei- heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten,

1 Aristot. Polit. III. 5-, 14. „nöltg de rj yevüv xal xcofiMov xotvcovlcc Cooyg Telsiag xdcl ctvTäQxovg." Vgl. III. 1. 8-

2 Aristot. Polit. I. 1., 8. 9. V nöXtg yivo^hvij {xev ovv tov Cqv 'dvsxevj ovgcc de tov ev Cv^'

55 Erstes Buch. Der Begriff de* Etata.

und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die ehelich« Treue sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats; noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger. In alle Dinge mischt Bich der Stat, er weisz von keinen sitt- lichen und von keinen rechtlichen Schranken Beiner Macht Er verfügt über die Körper und BOgar aber die Talente Beiner Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst. Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann erst kann es durch den Stat wieder zu freie« und edlem Leben gewissermaszen aeu geboren werden. Die absolute Ge- walt des States wird abgesehen Ton der Maoni der alten Sitte fast nur dadurch gemässigt, theilfi 'las/ die Bürger Belbsl einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und ans Besorgnisz, die Despotie des Demos könnte auch ihnen Bch&dlicfa werden, die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismnfl ver- meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden- schaften nur Mittel finden, Aber die Bie verfügen können, und genöthigi Bind, auch die Nachbarn zu berücksich- tigen. Die hellenischen Staten Bind doch nur ans Bruch- stücken der hellenischen Nation, ans Stämmen und Stammes- bheilen gebildet Sie erheben sich nur wenig über blosze Stadt gerne i n '1 eu. Die hohe [dee gewinn! daher nur eine niedere Gestalt; obwohl auf die Menschheit bezogen, kann sie nur in dem engen Umkreis eines Oebirgsthals oder eines Küstensaumes /u kindlicher Erscheinung an.

Die Oeberspannung der Statsidee zur Allmacht und die Ohnmacht in der realen Gestaltung Bind also dicht beisammen; es sind das die beiden Hauptmängel des im übrigen höchst würdigen und in anderer Hinsieht menschlich - wahren und fruchtbaren hellenischen Statsbegriffs.

B. Die römische Statsidee.

Die Römer waren das genialste Rechts- und Stats- volk des classischen Alterthums ; und sie waren das mehr noch

Drittem Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. I. Die antike Welt. 57

durch ihren Charakter als ihren Geist. Sie übten daher auch eine gröszere Wirkung auf die Welt aus als die Hellenen.

Zunächst freilich ist die römische Statsidee mit der grie- chischen nahe verwandt. Cicero hat in seinen Werken über den Stat beständig die Athenischen Vorbilder vor Augen; und wenn die römischen Juristen das Hecht und den Stat im all- gemeinen erklären, so folgen sie den griechischen Philo- sophen nach.

So erklärt Cicero den Stat für die höchste Schöpfung der menschlichen Kraft (virtus) und erhebt es preisend, ,,dasz in Nichts mehr der Mensch Bich dem Willen der Götter nähere, als in der Begründung und Erhaltung der Staten."3 Auch er rergleicht gelegentlich den Stat mit «lein Menschen und das Statshaupt mit dem Geiste, der den Leib beherrsche.4

Aber in einigen wesentlichen Beziehungen unterscheidet sich doch der römische Statsbegriff von der hellenischen Idee:

1) Ind. 'in die Römer zuerst das Recht von der Moral ausscheiden und in bestimmter Form darstellen, prägen sie die Rechtsnatur des States viel entschiedener aus. Sic be- schränken dadurch den Stat und sie befestigen und bekräftigen ihn. Kr ist ihnen nicht mehr die gesammte ethische Welt- ordnung, sondern zunächst die gemeinsame Rechtsord- nung. Die Römer überlassen sehr Vieles der freien Sitte, der Keligiosität der Menschen. Die römische Familie ist freier dem State gegenüber; das Privatvermögen und «las Privatrecht überhaupt wird besser geschützt, auch gegen die Willkür der öffentlichen Gewalten. Zwar ist auch ihnen das Statswohl das oberste Gesetz. Vom State aus ordnen sie auch die Götter- verehrung. Niemand kann dem State widerstehen, wenn dieser

3 Cicero de Rep. I. 7. : „Xeque est ulla res, in qua propius ad Deo- rum numen virtus accedat humana, quam civitates aut condere novas aut conservare jam conditas.a

4 Cicero de Rep. III. 25 : „Sic regum, sie imperatorum, sie magi- stratuum, sie patrura, sie populorum imperia ciyibus soeiisque praesunt, ut corporibus animus.*

58 Erstes Buch. Der Begriff des State.

seinen Willen ausspricht. Aber der römische Stat beschränkt sich selber; er bestimmt selber die Grenzen seines Macht- bereichs und seiner Einwirkung.

2) Ferner erkennen die Kölner den Volksbegriff und bringen die Stats Verfassung in einen organischen Zusammen- hang mit dem Volk. Sie erklären den Stat als „die Gestal- tung des Volks" und bezeichnen den Willen des Volks als die Quelle alles Kechts. 5 Der römische Stat ist doch nicht eine blosze Gemeinde, er erhebt sich zum Volks stat (res publica).

3) Der Römerstat ist überdem darauf angelegt, sich zum Weltstat zu erweitern« Durch die ganze römische Ge- schichte geht dieser Zug zur Weltherrschaft: An den natio- nalen Kern des jus civile Bchlosz sich die menschlichere Bil- dung des jus gentium an. Die ewige Stadt, die Qrbs winde zur Hauptstadt des Orbis, das Imperium der römischen Magi- strate zum Imperium mundi, «1er römische Senat zum Senat aller Nationen und ihrer Könige. In der Majestät des Kaiser- tums gipfelte die Majestät des römischen Volks. Die Ge- schichte Borna wurde nach dem stolzen Ausdrucke von Plorus zur Geschichte <\r\- Menschheit Dieses Streben gab der römischen Statsidee einen kühnen Schwung, dem die grie- chischen Staten nicht zu folgen vermochten, und eine Grösze, vor der sich diese beugen muszten. Es war <\a> nicht ein eitles Spiel der Phantasie, Bonden eine Leibhafte Wirklichkeit, welche die antike Welt beherrschte, gegen die im Occidenl nur noch die Germanen, im Orient die Perser anzukämpfen den Muth und die Kraft hatten.

5 Cicero de Rep. I. 2."».: „Est igitur, inqnit (Soipio) Aärioanus, publica res populi; popohu autem dod omnia Dominum ooetafl quoquo modo congregatus, Bed coetua mtütitadinia juris conaensu <t utilitatis communione sociatu<.u I. 26.: „Civitaa est constitutio populi." Gßjus

Inst. I. §. 1.: „Nam quod quisque populus ipsc sibi jus constituit, id ipsius proprium civitatis est, vocaturque jus civile. a

Viertes Cup. Entwicklungsgesch. der Statsidee. II. Das Mittelalter. 59

Viertes Capitel.

II. Das Mittelalter.

Die beiden neuen Mächte, welche den römischen Weltstat theils umgebildet, theils zerstört haben, sind das Christen- tlium und die Germanen.

A. Das Christentum.

Im Widerspruch mit der Autorität sowohl des jüdischen States als des römischen Kaiserreichs breitete die christliche Religion ihre Macht über die Gemüther aus. Ihr Stifter war kein Fürst dieser Welt. Der alte Stat verfolgte ihn und seine Jünger bis zum Tode. Die ersten Christen waren, wenn nicht geradezu atatsfeindlich gesinnt, doch für andere Dinge als für die Statsordnung und die Statsinteressen begeistert. Als die christliche Weli ihren Frieden schlosz mit dem antiken helle- nisch-römischen Stat, war doch bereits die religiöse Gemein- schaft als Kirche ihrer geistigen Eigentümlichkeit bewuszt, sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike Statsidee mnszte sieh gefallen lassen, dasz das ganze religiöse Gern einleben zwar nicht ganz der stat liehen Sorge und dem statlichen lanllnsx entzogen, aber wesentlich von dem State unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche, die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent- lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu- gleich die Gemeinschaft der Religion und des Cultus.

Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht ganz gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu er-

60 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

niedrigen und das Eine römisch - geistliche Weltreich aufzu- richten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich selber mit der Sonne , und den Stat mit dem Monde ver- gleichen; hinter dem „geistigen" Eeiche muszte das leibliche bescheiden zurückstehen. ' Aber die Zweiheit von Stat und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Hauptsache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet, als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2

So weit die kirchliche Lehre einwirkte , war freilich nun die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet, die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward die geistige Bedeutung des Stats übersehen und verkannt, und da alles Geistesleben von der Kirche geleitet werden sollte, der blosz leiblich geachtete Stat in eine untergeordnete Stellung nieder gedrückt. Der Trost gegen diese Uebel, wel- cher in der Erhebung der Statsidee über die enge Nationalität lag, war doch unzureichend. Weniger die Menschheit, als die Christenheit sollte er in äuszerlichen Dingen ordnen und leiten. Das römische Eeich ward so gut es ging , in mittel- alterlichen Formen erneuert, aber die angesehenere Darstellung desselben war die römische Kirche, die mindere das heilige römische Keich deutscher Nation.

B. Die Germanen.

Das alt - römische Weltreich konnte sich auf die Dauer nicht mehr behaupten gegen die germanischen Völker. Bald mit Gewalt entrissen diese kriegerischen Völkerschaften eine Provinz nach der andern der römischen Herrschaft, bald wur-

1 Darüber mehr im IX. Buche.

2 Rincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter mundus hie regitur: auetoritas Sacra Pontificum et Regalis potestas." Sachsensp. 1. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen- heit. Deme pavese is gesät dat geistlike, deme kaisere dat wertlike."

Viertes Cap. Entwicklungsgesetz der Statsidee. II. Das Mittelalter. 61

den die germanischen Fürsten mit ihren Volksheeren von den romanischen Provincialen oder den Kaisern selber zum Schutz herbeigerufen und übernahmen dann in friedlicher Weise die Landeshoheit. Während des Mittelalters herrschten überall in dem Abendlande die Germanen. Sie kamen unter die christ- liche Erziehung der römischen Kirche und gerietheii unter den nachwirkenden Einflusz der römischen Cultur. Aber sie be- haupteten sich auf den Thronen der Fürsten und in den Burgen der Aristokratie. Das Scepter und das Schwert waren vor- nämlich in ihren Händen.

Die Germanen sind nicht in dem eminenten Sinne eine statliche Nation, wie die Römer. Nur widerwillig ordnen sie sich dem groszen Ganzen unter. Ihr starkes, trotziges und eigenwilliges Selbstgefühl tritt dem Gesammtbewusztsein hin- dernd in den Weg und lähmt dessen Macht. Sie bedurften daher erst der romanischen Erziehung für denStat. Aber trotz alle dem hat die weltgeschichtliche Entwicklung des States ihnen sehr viel zu verdanken. Die Germanen voraus haben den Absolutismus des Römerstates gebrochen und sie haben die spätere Statenbildung mit dem Geiste der persönlichen, genossenschaftlichen und ständischen Freiheit er- füllt. Montesquieu hat ein wahres Wort gesprochen, dasz in den deutschen Wäldern unter den alten noch uneivilisirten Germanen die Keime der spätem parlamentarischen Verfassung zu finden seien. In den uralten Formen des Zusammenwirkens der germanischen Volkskönige, mit den Gaufürsten und den andern Häuptlingen einerseits, und mit der groszen Gemeinde der freien Männer andrerseits , wie Tacitus uns das schildert, erkennen wir deutlich die noch rohen Anfänge des freien Re- präsentativstates, den die spätem Jahrhunderte hervorgebracht haben. Der Germane leitet das Recht nicht ab, wenigstens zunächst nicht ab von dem Willen des Volks. Er nimmt für sich ein angeborenes Recht in Anspruch, welches der Stat wohl zu schützen berufen ist, aber nicht schafft: und er ver-

62 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

ficht sein natürliches Eecht wider alle Welt, selbst gegen die Obrigkeit. Den antiken Gedanken, dasz der Stat alles in allein sei, verwirft er mit Eifer. Das ganze Verhältnisz wird um- gedreht. Dem Germanen ist die individuelle Freiheit das Höchste ; dann erst hinterdrein läszt er sich herbei, einen Theil derselben dem State zu opfern , um das Uebrige desto sicherer zu wahren.

Eine nothwendige Folge dieses Charakters ist es, dasz die germanische Statsidee viel entschiedener als die römische die Selbständigkeit des Privatrechts achten musz. Die Freiheit der Person, der Familie, der genossenschaftlichen Ver- bände ist damit gesicherter und ausgedehnter als in dem alten Kömerreich. Das Statsrecht musz sich die Beschränkung auch durch das Privatrecht gefallen lassen.

Eine zweite öffentlich-rechtliche Folge ist, dasz die ger- manischen Völker überhaupt keine absolute Statsgewalt, auch nicht in den gemeinsamen Angelegenheiten kennen und dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd. Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben. Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen : sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten, welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt, theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein- wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die relative Selbständigkeit der Glieder stark.

Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis

Viertes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. IL Das Mittelalter. 63

als in der Theorie. Eine germanische Statslelire gab es über- haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von der Kirche beherrscht, später durch die Ueb erlief erung der römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be- stimmt. Schon in den alten Volks gesetzen finden sich der- artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B. wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats- körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. '* Aber das war nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung. Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.

In einigen andern Beziehungen hatte die Statsidee auch Rückschritte gemacht , und nicht blosz , weil der kirchliche Glaube sie entwürdigte.

Man konnte auch den mittelalterlichen Stat einen Rechts- stat nennen; aber in einem andern als in dem Sinne der Römer. Er war nicht die reine Ordnung des öffentlichen Rechts. Vielmehr wurden alle seine Institutionen mit privat- rechtlichen Elementen versetzt und gemischt. Wie ein Familiengut, wie ein Stammeseigenthum wurde die Landes- herrschaft betrachtet, und die öffentlichen Pflichten wurden wie Reallasten behandelt. Das ganze Lehens recht und alle Er- scheinungen des Patrimonialstates leiden an dieser Misch- ung. Das Statsrecht der Römer war nur eine Grundlage, von der aus die öffentliche Wohlfahrt erstrebt wurde. Das mittel- alterliche Recht schien auch das wesentliche Ziel des mittel- alterlichen States zu sein. Die Volkswohlfahrt wurde darob vernachlässigt.

Der Gedanke des Volksstats war nicht mehr lebendig.

3 Lex Wisigothor. IL 1. §. 4. „Bene Deus conditor rerum disponens humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam. Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum Salus competens prospicitur Kegum, fida valentibus teneatur salvatio populorum."

64 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

Die Spaltung und Zerbröckelung der Volks- und Statseinheit durch das Lehenswesen, durch den Gegensatz der Territorien, der Stände, der Dynastien hatte ihn zerstört, und was endlich von dem alten römischen Weltstat noch übrig geblieben -war, das war mehr eine ideale völkerrechtliche als eine stats- rechtliche Verbindung der abendländischen Christenländer, welche mehr noch durch die Autorität des Papstes und den römischen Klerus als durch das Kaiserthum zusammengehalten wurden.

Im Groszen und Ganzen waren die Saaten zu einer freieren und richtigeren Statsentwicklung ausgestreut worden, aber die Statsidee selbst hatte im Mittelalter viel von der römischen Klarheit und Energie verloren.

Fünftes Capitel.

III. Die moderne Statsidee.

In unkritischer naiver Weise hatte das Mittelalter unver- einbare Dinge durcheinander gemischt. Als diese Weltperiode ihrer Neige zuging, entstand eine allgemeine Gährung dieser mancherlei Elemente , und die Auflösung der mittelalterlichen Einheit hatte auch die Scheidung jener Mischung zur Folge. Es bereitete sich der moderne Stat vor.

Man kann diese Entwicklung in dem Einen Satz zusammen- fassen: der Stat wird seiner Natur und seiner Aufgabe klarer und vollständiger bewuszt.

In Folge dieses steigenden Selbstbewusztseins des States lehnt er vorerst jede Ueberordnung und Vormundschaft der Kirche ab. Er hört auf, wesentlich Religionsgemein- schaft zu sein und wird nun entschiedener als je in einer früheren Weltperiode zur Rechts- und politischen Ge- meinschaft. Er erkennt die Zweiheit von Stat und Kirche

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 65

an, aber er nimmt seine statliche Selbständigkeit und Hoheit voll in Anspruch und weisz sich unabhängig auch von der Autorität der religiösen Offenbarung und der kirchlichen Lehre.

Was noch theokratisches in der mittelalterlichen Stats- ordnung war, wird nun allmäblig ausgestoszen, und die Völker lernen den Stat menschlich begründen, undmenschlich beschränken. Wiederum wird wie im Alterthum die Einheit des Stats und die Machtfülle der Statsgewalt gefordert. Die Spaltung des Lehenswesens wird nicht mehr geduldet und die ständische Absonderung durchbrochen. Das allgemeine Recht breitet sich aus über alles Volk. Es geht nun die Scheidung des öffentlichen und des Privatrechts vor sich. Das öffentliche Recht wird wieder öffentliche Pflicht; mit individueller Freiheit wird das Privatrecht ausgeübt.

In gewissem Sinne kommt die antike Statsidee wieder zu Ehren; aber die Zwischenzeit des Mittelalters geht doch auch nicht verloren. Wenn auch in den letzten Zeiten des unter- gehenden Mittelalters bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein es den Anschein hat, als werde der Absolutismus der altrömi- schen Kaiser in dem absoluten Königthum der europäischen Staten erneuert, so erinnern sich doch die Völker wieder an die natürliche Freiheit. Die grosze Wahrheit, dasz die Menschen nicht blosz für den Stat geschaffen sind, wirkt fort und wird tiefer erkannt. Das natürliche Recht der Personen und die persönliche Freiheit wird auch gegen den Stat be- hauptet. Das gesammte Privatrecht bleibt so als eine in sich selbständige Rechtsordnung anerkannt, durch welche wieder die Statsgewalt beschränkt wird. Auch der Kampf für die politische Volksfreiheit wird wider den Absolutismus der Regierungen aufgenommen. Der Stat wird wiederum ein Volksstat, aber nun in edleren Culturformen, als im Alter- thum. Die ständische Verfassung des Mittelalters dient zur Vorstufe des modernen Repräsentativstats, in welchem

Bliints chli , allgemeines Statsreclit. I. 5

QQ Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

sich das ganze Volk wie in einem veredelten Auszüge dar- stellt. '

An dieser Umgestaltung der Statsidee und der wirklichen Staten hat auch die Statswissenschaft2 einen sehr be- deutenden Antheil. Oft ging die moderne Statstheorie der modernen Statspraxis voraus , regelmäszig begleitete sie die Wandlungen dieser, zuweilen folgte sie ihr nach.

Es sind hauptsächlich folgende Phasen der Entwicklung in der Wissenschaft hervorzuheben :

1. Der Statsbegriff von Bodin und fiugo Grotius ist mit dem römischen, wie ihn Cicero ausgesprochen hat, noch nahe verwandt. Bodin sieht in dem Stat „eine Kechtsordnung einer Mehrzahl von Familien und ihrer gemeinsamen Güter in Form der souveränen Gewalt.3 Ihm ist der Stat vornämlich auf die Familie, das Gemeingut und die Souveränetät gegrün- det und er tadelt es an dem antiken Statsgedanken , dasz auf das Glück und Wohlergehen zu viel gesehen werde. Bei Hugo Grotius rinden wir die Sonderung der kirchlichen von der statlichen Gemeinschaft ausgesprochen und eine nachdrückliche Betonung der Freiheit. Der Stat ist nach ihm ,,die vollkom- mene Vereinigung freier Menschen, verbunden zum Genüsse der Eechte und zum Zwecke gemeiner Wohlfahrt." 4 Es ver- steht sich, dasz er den Stat auf die menschliche Natur gründet, aber er denkt dabei weniger an Familien oder ganze Nationen, als vornämlich an einzelne Individuen und sein Satz: „hominis

1 Vgl. Bluntschli Artikel: mittelalterliche und moderne Statsidee im Deutschen Statswörterbueh. Bd. VI.

2 Näher dargestellt ist diese Entwicklung der Statswissenschaft in dem Werke : Bluntschli Geschichte der allgemeinen Statsrechte und der Politik. München 1864.

3 De la Republique. I. 1. „Republique est un droit gouvernement de plusieurs mesnages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine.u

4 Hugo Grotius de J. B. I. I. §. 14. „Est civitas coetus perfectua liberorum hominum, juris fruendi et communis ntilitatis causa sociatus." I. 3. §.7. Prolegom. §.16. Vgl. Leo, Weltgeschichte IV. S. I Ü).

Fünftes Cap. Entwickhmgsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 67

proprium sociale" ist keine glückliche Uebertragung des Ari- stotelischen 6 av&QooTtog £wov TioXtTLxov. Aber sie ist charak- teristisch dafür, dasz der moderne Geist nicht wie der antike erst den Stat, und dann das Individuum sondern vorerst an die Einzelnen und dann an ihre Verbindung denkt. Die Per- sönlichkeit des States war ihm nicht unbekannt, aber sie be- herrscht nicht seine Statslehre und indem er auf den Consens der Menschen als die Hauptquelle auch des öffentlichen Eechts hinweist, gibt er den Anstosz zu der späteren Vertragstheorie. 2. Von dieser Grundlage aus bildete sich nun die mo- derne speculative und n a tu r rechtliche Statslehre weiter aus, und zwar selbständig, auch von der antiken scharf ge- trennt. Die Gegensätze der philosophischen Schulen und der politischen Parteien brachten freilich auch hier eine grosze und lebhafte Meinungsverschiedenheit hervor; und fast niemals stimmte der eine mit dem andern völlig zusammen. Aber bis in unser Jahrhundert hinein herrschte in den vielerlei Dar- stellungen des Naturrechts und des allgemeinen Statsbegriffs der Grundgedanke vor, dasz der Stat wesentlich eine Gesell- schaft von Einzelnen und daher ein freies Werk der in- dividuellen Willkür sei. Der absolutistische Hobbes,5 der die Statsgewalt des Monarchen zu dem Alles verschlingenden Leviathan macht, ist darin mit dem radicalen Kousseau6 einig, dessen Volkssouveränetät den Fortbestand der ganzen Statsordnung jeden Augenblick in Frage stellt. Der geistreiche

5 Hobbes de Cive S. 87. „Civitas ergo est persona una(?), cujus voluntas ex pactis planum hominum pro voluntate habenda est ipsorum hominum; ut singulorum viribus et facultatibus uti possit ad pacem et defensionem communem. u

6 Rousseau, Contract Social, c. 6.: „Eine Form der gesellschaft- lichen Verbindung (Association ) zu finden, welche mit aller gemeinsamer Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Gesellschafters ver- theidige und schirme, und durch welche jeder Einzelne sich mit allen vereinigend doch nur sich selber gehorche und eben so frei bleibe als zuvor? das ist das tiefe Problem, das in dem Gesellschaftsvertrag seine Lösung findet. "

5*

(3g Erstes Buch, Der Begriff des Stats.

Samuel Puffendorf7 bezeichnet zwar den Stat als eine ,, sittliche Person," aber der Statswille ist auch für ihn nur aus den Individualwillen Aller zusammengesetzt und er bildet die Theorie des Gesellschaftsvertrags, aus dem der Stat erklärt wird, mit Vorliebe aus. John Locke vertheidigt ebenso die Vertragslehre mit Eifer gegen die Angriffe der Frömmler und sieht in ihr eine Garantie der englischen Bürger fr eiheit. Auch Kant kommt nicht darüber hinaus, obwohl er schon den Fusz erhebt, um über die Schranken der Vertragslehre wegzukom- men;8 und selbst Fichte in seinen früheren Schriften ist noch in jener Ansicht befangen.

Der Stat der ganzen naturrechtlichen Philosophie ist wesent- lich Vertrags- und Gesellschaftsstat. Hatten die alten Philosophen über dem Einen Stat die Reckte der Individuen nicht hinreichend gewürdigt, so begingen die neuern Philosophen nun den entgegengesetzten Fehler, indem sie über der Rücksicht auf die Einzelmenschen die Bedeutung des States verkannten.

3. Offenbar war es zunächst eine Verengung dieses State- begriffs, wenn Kant und Wilhelm von Humboldt den Stat für einen Recht ss tat in dem Sinne erklärten, dasz seine einzige Aufgabe die Gewährung der Recktssickerkeit für Jeder- mann sei. Zwar durckbrack Fichte diese engen Grenzen, indem er den Stat zugleich als Wirthschaftstat sckilderte und ikm hier eine übermächtige Gewalt einräumte und gegen das Ende seines Lebens von der nationalen Erhebung für deutsche Freiheit begeistert, dem Stat noch kökere geistige Lebens-

7 De jure Naturali et gentium VII. 2. 13. „Unde civitatis liaec commodissima videtur definitio, quod sit persona moralis composita, cujus voluntas ex plurium pactis implicita et unita pro voluntatc omnium habe- tur, ut singulorum viribus et facultatibus ad pacem et securitatcm com- munem uti possit.

s Werke VII. 197: „Verbindung Vieler zu irgend einem Zwecke ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist, ist nur in einer Gesellschaft, BOferne sie oin gemeinsames Wesen ausmacht, anzutreffen."

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 69

aufgaben zuwies. Aber die meisten deutschen Philosophen und Juristen der nächsten Generation hielten sich doch in der Theorie an den kantischen Begriff.

Wir begreifen es , dasz der Gedanke bei Vielen Beifall fand, welche gegen die Yielregiererei der Zeit und gegen die Polizei- und Militärwillkür Schutz suchten. Aber wenn man oft den „Rechtsstat" dem ,, Polizeistat" entgegengesetzt und es als die Aufgabe der neuen Zeit bezeichnet hat, diesen durch jenen zu verdrängen und zu ersetzen, so war man dabei der reichen Natur des Stats nicht klar bewuszt. Der Stat darf eben so wenig zum bloszen Rechtsstat werden, als er ein bloszer Polizeistat sein darf. Die Aasbildung des „Rechtsstats" einseitig verfolgt, würde zuletzt den Stat zu einer bloszen An- stalt für Rechtspflege verkrüppeln, in welcher die gesetzgebende Gewalt das Recht im allgemeinen festsetzen, das Gericht das- selbe im einzelnen Falle zur Anerkennung bringen und schützen würde, und der Regierung fast keine andere Thätigkeit als die eines Gerichtsdieners oder der Gendarmerie übrig bliebe. Die nationalen Interessen der Wirtschaft," der Bildung, der Machtentfaltung würden verkümmern und von einer groszen Politik könnte nicht mehr die Rede sein. Umgekehrt würde eine einseitige Ausbildung des „Polizeistates" am Ende jede individuelle Rechtssicherheit und Freiheit der ausschlieszlichen Rücksicht auf das , was dem Ganzen nützlich scheint , zum Opfer bringen und eine unerträgliche Bevormundung freier Männer herbeiführen.

Versteht man daher unter Rechtsstat

1) den Gedanken, dasz der Stat nur eine Anstalt sei, um die Rechte der Individuen zu schützen, so wird offenbar das ganze Statsrecht zu einem bloszen Mittel für das Privatrecht, und der Stat zum bloszen Diener der Privatpersonen erniedrigt.

Versteht man ferner unter ,, Rechtsstat"

2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge- meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der

70 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

individuellen Kechte zu sorgen habe, so ist das zwar ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks, übersehen wird ;

3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Notwendig- keit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken zwar schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum klar, dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher be- stimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner- halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines- wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen wird.

Versteht man unter dem Wort Kechtsstat

4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be- schränkung, oder

5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und auch des Patrimonial stats, der sich mit der Polizeiwill- kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behaupt- ung, dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffent- lichen Bechten;

so werden zwar damit charakteristische Merkmale des modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück- lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er Verfassungsstat genannt.

Wie es zwei Seiten gibt des statlichen Wesens, Ruhe und Bewegung, Bestand und Entwicklung, Körper und Geist, und wie es diesem innern organisch verbundenen Gegensatz ent- sprechend zwei Statswissenschaften gibt, Statsrecht und Politik, so gibt es auch zwei grosze Statsprincipien, welche wie zwei leuchtende Gestirne das Leben des States erhellen

Fünftes Cap. Entwicklungsgesetz d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 71

und befruchten, welche beide die Form und den Inhalt des States bedingen: die Gerechtigkeit (justitia) und die öffent- liche Wohlfahrt (salus publica). Statsmänner werden vor- zugsweise die letztere, Juristen eher die erste vor Augen haben. Die Idee des Kechts bestimmt vorzugsweise das Statsrecht. Die Idee der Wohlfahrt leitet vornämlich die Politik.

Die Sorge der Kegierung wird sich mehr noch auf die öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen Körner gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt haben;9 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf- rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge- meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu einem bloszen „Rechtsstate" werden.

4. Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den organischen Charakter des States von neuem ins Bewuszt- sein gebracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten zwar ein lebendiges Verständnisz des organischen States be- wahrt. Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach in seinem Antimacchiavell (c. 9.) es deutlich aus: „Wie die Menschen geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich aus Krankheit oder Alter sterben , so bilden sich auch die Staten, gedeihen einige Jahrhunderte und gehen endlich wieder unter.'1 Aber die Wissenschaft hatte diese Einsicht so sehr vernachläszigt , dasz die Erneuerung derselben von Seite der historischen Schule wie eine neue Entdeckung wirkte, und die Fortbildung der Wissenschaft doch nun eine ganz andere und

9 Cicero, de Legibus III. c. 3. von den Consuln: „Ollis Salus Populi Suprema Lex Esto.w

72 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

fruchtbarere Kichtung nahm. Indessen war die historische Schule geneigt, den Begriff des States zu sehr als einen blosz nationalen aufzufassen, und die höhere menschliche Be- deutung desselben zu übersehen, oder geradezu zu bestreiten. So erklärte Savigny den Stat als „die leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft," als „die organische Erscheinung des Volks."10 Der geniale Engländer Edm. Burke aber brachte den historischen Stat, indem er die revolutionäre Theorie bekämpfte, wieder in den Lichtkreis der göttlichen Weltord- nung in jener berühmten Stelle seiner Betrachtungen über die französische Bevolution: „Der Stat ist nicht eine Genossenschaft in Dingen, welche nur dem rohen leiblichen Dasein einer kurze Zeit währenden und vergänglichen Natur frohnden. Er ist eine Genossenschaft in aller Wissenschaft , in aller Kunst , in jeder Tugend und in jeder Vollkommenheit. Da eine derartige Genossenschaft ihr Ziel nicht in einigen Generationen erreichen kann, so wird sie zu einer Genossenschaft, welche nicht allein die Lebenden verbindet, sondern auch die, welche bereits ge- storben sind und die, welche noch geboren werden. Jeder be- sondere Statsvertrag ist nur eine Klausel in dem grossen Ur- vertrage der ewigen Weltordnung, welcher die niedem Wesen mit den höhern verkettet, die sichtbare und die unsichtbare Welt verbindet und zu einem festen Rechtsverhftltnisz zu- sammenstimmt, das durch den unverletzbaren Eid geheiligt wird, welcher alle physischen und moralischen Naturen jede an ihrem angewiesenen Platze festhält."11

10 Savigny, Syst. des röm. Rechts. I. S. 22.

11 Edm. Burke, Reflect. on the revol. in Franco. Vgl. auch Leo, Weltgeschichte VI. S. 759, der die Gedanken Burke's weiter ausführt. Jene glänzende Aeuszerung des Statsmannes erinnert an die nicht min- der erhebenden Worte Shakespeare's Troilus und Cress. III. 3.:

„Ein tief Geheimnisz wohnt (dem die Geschichte Stets fremd geblieben) in des States Seele: Desz Wirksamkeit so göttlicher Natur, Dasz Sprache nicht noch Feder sie kann deuten/ Vgl. auch Shakespeare's König Heinrich V. 1. 2.:

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 73

Vor einer so hohen geistigen Erfassung des States konnte die mittelalterliche Lehre, dasz der Stat zur Kirche sich ver- halte wie der Leib zum Geiste, unmöglich bestehen.

Die historische Schule nahm aber den Stat an wie er ge- worden war; und der auf die Vergangenheit gewendete Blick wurde von den Bildern des untergegangenen Lebens so mächtig angezogen, dasz viele Anhänger dieser Richtung darüber das Verständnisz der Gegenwart und die Neigung an der Vervoll- kommnung der öffentlichen Zustände mitzuwirken einbüszten. Konnte man einem groszen Theil der naturrech tlichen Schule vorwerfen, dasz ihre Statsidee ein Spielball der individuellen Will- kür sei, so war auch die historische Schule nicht von dem Vorwurf freizusprechen, dasz ihr Statsbegriff noch festgebunden sei an die herkömmlichen Autoritäten und an die überlieferten Vorurtheile.

5. Die neuere Philosophie hat wiederholt Versuche ge- macht, die Statsidee tiefer zu fassen.

Unter den Deutschen hat Hegel insbesondere zwar die sittliche Bedeutung des States wiederum kräftig betont und den Stat im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen, das? er ein notwendiges Uebel sei, als die höchste und herrlichste Verwirklichung der l\echtsidee gepriesen. Aber sein Stat ist doch nur eine logische Abstraction, ohne wirk- liches Leben und ohne Körper, ein dialektisches Gedankenspiel, eine Eedefigur, kein Wesen. 12

Exeter: „Dein Regiment, zwar hoch und tief und tiefer

Verthcilt an Glieder, hält den Einklang doch Und stimmt zu einem vollen reinen Schlusz, So wie Musik." Canterbury: „Sehr wahr! Drum theilt der Himmel

Der Menschen Stand in mancherlei Beruf, Und setzt Bestrebung in beständ'gen Gang, Dem als zum Ziel Gehorsam ist gestellt." 12 Hegel, Rechtsphilosophie §. 57: „Der Stat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut- liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er weisz und insofern er es weisz, vollführt." Vgl. Werke IX. §.44.

74 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

6. Fr. J. Stahl hat die geschichtlichen Neigungen in die Eechtsphilosophie übertragen, aber zugleich die religiös- politische Speculation erneuert. In vielen Beziehungen hat Stahl durch seine dialektische und kritische Gewandtheit neue Gesichtspunkte zu finden, und durch den Scharfblick, mit dem er manche dunkle Stelle beleuchtete, die Statswissenschaft sehr gefördert; in anderer Hinsicht aber hat sein Mangel an gründ- licher historischer Bildung und seine diensteifrige Sophistik, welche den romantischen Liebhabereien groszer und kleiner Herren moderne Formeln zur Verfügung stellte, auch in der Wissenschaft groszen Schaden angerichtet. Stahl bezeichnet den Stat als ein , , sittlich-int eile ctuelle s Reich," als ,,die Einig- ung der Menge zu Einer geordneten Gemeinexistenz, die Auf- richtung einer sittlichen Autorität und Macht mit ihrer Er- habenheit und Majestät und der Hingebung der Unterthanen." Seine Statsidee ist lebendiger als die Hegels, er erkennt auch an, dasz die Herrschaft des States „beschränkt sei auf den Gemeinzustand" und hütet sich so vor der Ueberspannung des antiken Stats. Aber durch seine ganze Statslehre geht wie ein rother Faden ein Zug der alttestamentlichen Theokratie durch, welcher dieselbe für die moderne europäische Welt doch ungenieszbar macht. Die göttliche oder übermenschlich gedachte Majestät der Statsgewalt kann mit der menschlich bürgerlichen Freiheit keinen Frieden schlieszen.

7. Noch immer ist das Yerständnisz des organischen, oder höher ausgedrückt des psychologisch-mensch- lichen Wesens des States gering und nur Wenige wagen es, die notwendigen Folgen dieser Grundgedanken wissen- schaftlich anzuerkennen. Uniäugbar aber hat die Wissen- schaft der neuern Zeit in dieser Richtung manche Fortschritte gemacht.

Fr. Schmitthenne r erklärt den Stat als einen ethischen Organismus, bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des äuszern Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch, d. Statsidee. III. Die mod. Statsidee. 75

zu vertreten. Er war einer der ersten, welche der neuen Kichtung der Wissenschaft Bahn gebrochen haben.

Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht, die Statslehre auf die Psychologie der Völker zu gründen. 13 Das Werk gibt sich selbst als „ersten Versuch" und ist als solcher ehrenwerth. Aber dasselbe ist doch nicht geeignet, die psychologische Methode zu Ehren zu bringen. Weder be- friedigt die Darstellung der menschlichen Seelenkräfte, noch die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und der an- gesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und mannigfaltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu wenig kritisch verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phan- tasiebildern gemischt, so dasz auch das Gefühl der realen Sicherheit nicht aufkommt.

Ahrens,14 dem Philosophen Krause folgend, hat es unternommen, eine „organische Statslehre" zu schreiben. Aber er versteht unter dem Organismus des Stats nicht so wohl ein lebendiges persönliches Gemeinwesen, als vielmehr eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft.

Waitz ,5 endlich sagt vom Stat: „Der Stat ist nichts willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der Stat erwächst organisch als ein Organismus, aber nicht nach den Gesetzen und für die Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren sittlichen Anlagen der Menschen, in ihren wahren sittlichen Ideen; es ist kein natürlicher, ein ethischer Organismus. Der Stat ist die Organisation des Volks." Der Stat ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen Lebens überhaupt.

13 Erster Versuch einer wissenschaftlichen Begründung, sowohl der allgemeinen Ethnologie durch die Anthropologie wie auch der Stats- und Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität der Völker. III Theile. 1851—1853.

14 H. Ahrens, die organische Statslehre. Bd. I. Wien 1850.

15 Politik. 1862. I. 1.

76 Erstes Buch. Der Begriff des Stats.

Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sittlichen Ideen bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn die menschliche Gesammt-Natur der Völker und der Menschheit psychologisch verstanden wird, ist eine unter- scheidende und erklärende Grundlage gewonnen für den Stats- Begriff.

Anmerkung. In meinen „Psychologischen Studien über Stat und Kirche," Zürich 1844, ist der erste Versuch gemacht, den Stat aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich setzte dabei irriger Weise einiges Verständnisz für diese in der „Lehre von den Parteien" zu Tag getretene Wissenschaft voraus, machte aber die Erfahrung, dasz nicht allein jenes nicht vorhanden, sondern dasz jedes psychologische Denken über den Stat der heutigen Schulbildung abhanden gekommen sei und fremdartig erscheine. Die Studien wurden von den Mitlebenden wie eine „unbegreifliche Narrheit eines sonst doch verständigen Mannes" verworfen. Die Früchte jener Studien aber, wie sie später in diesem Werke herangereift sind, werden ziemlich allgemein mit Gunst und Dank angenommen. Inzwischen ist die Zeit näher gerückt, in der auch der Weg, den jene Studien eingeschlagen haben, nicht mehr als abenteuer- lich erscheinen und die organisch-psychologische Erkenntnisz des Stats mit Vorliebe gepflegt werden wird. Dann wird auch der Werth oder Unwerth jener „Studien" richtig beurtheilt werden können.

Mtittz Itatij*

Volk und Land

Erstes Capitel.

I. Die Menschheit, die Menschenrassen und die Völkerfamilien.

Die Menschheit hat ihre Gesammtorganisation in dem Weltreiche noch nicht gefunden. Vorerst kennt die Geschichte nur einzelne Eeiche und Staten, welche auf Bruchtheile der Menschheit beschränkt sind. Das allgemeine Statsrecht unserer Zeit musz daher voraus jene Theile beachten, und das Ver- hältnisz der Völker zur Menschheit und zum State bestimmen.

Der Glaube an die Einheit des Menschengeschlechts ist dem gereinigten religiösen Gefühl unentbehrlich. Das Christen- thum hat alle Menschen zur Kindschaft Gottes berufen. Der civilisirte Stat setzt diese Einheit ebenfalls voraus und achtet auch in den niedern Kassen und Stämmen doch die gemein- same Menschennatur. Für den Stat und das Statsrecht aber ist neben jener Einheit der Menschheit die Verschieden- heit der Rassen von höchster Bedeutung; denn im State erscheinen die Menschen geordnet und Ordnung ist nicht denk« bar, ohne Unterscheidung.

Die Wissenschaft hat bis jetzt den Schleier, welcher den geheimniszvollen Ursprung der verschiedenen Hauptrassen

78 Zweites Buch. Volk und Land.

der Menschheit deckt, nicht zu heben vermocht. Beruhen die Eassen auf verschiedenen Schöpfungsacten und sind die einen Eassen früher die andern später erschaffen worden? Oder haben sich die verschiedenen Eassen aus der ursprünglichen Einen Urrasse losgetrennt und kraft welcher Naturgewalten? Wir wissen es noch nicht. Die Verschiedenheit der Haupt- rassen aber sowohl in ihrem Körperbau und in ihrer Farbe, als in ihrer geistigen Anlage ist schon da in den ersten An- fängen der bekannten Entwicklungsgeschichte der Menschheit und sie ist bis auf heute wesentlich dieselbe geblieben. Es hat sich wohl keine derselben ganz rein erhalten und mancherlei Mischungen der Geschichte haben grosze Bestandteile der Urrassen zum Theil losgerissen von der Gemeinschaft mit den übrigen Massen, zum Theil zu neuen Völkern umgewan- delt. Aber immerfort sind die Gegensätze der weiszen, der schwarzen, der gelben und wohl auch der rothen Eassen erkennbar und wirksam und mehr noch in der Entwicklungs- geschichte als in ihren zuweilen trügerischen Farben. Es gibt wohl manche selbst sehr geistreiche Männer, welche die geistige Ungleichheit dieser Eassen in der Theorie läugnen, aber schwer- lich einen, der dieselbe im praktischen Leben und Verkehr nicht fortwährend beachtet. Die ganze Weltgeschichte zeugt von Jahrhundert zu Jahrhundert für die verschiedene Begab- ung der Eassen, und selbst für die ungleiche Fähigkeit der einzelnen Völker, die aus ihnen erwachsen sind.

1. Es ist wahrscheinlich, dasz die schwarze äthiopi- sche Easse, die Nachtvölker, wie Carus sie nennt, in der Vorzeit nicht blosz Afrika, den vornehmlich für sie bestimmten Welttheil, sondern ebenso die südlichen Länder von Asien über- deckt und sogar in den südlichen Ausläufern des europäischen Festlandes Wohnsitze gehabt habe. Ueber das hohe Alter dieser vielleicht erstgebornen Easse kann kein Zweifel sein. Aber nie und nirgends hat es diese Easse von sich aus zu einer auch nur einigermaszen civilisirten Eechts- und Staten-

Erstes Cap. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien. 79

bildung gebracht. Sie hat keine wahre Geschichte. In jedem Zusammentreffen mit Individuen oder Stämmen der weiszen Kasse ist sie sofort unter deren Herrschaft gerathen. So aus- schweifend ihre Phantasie und so reizbar ihre Sinnlichkeit ist, so mangelhaft ist ihr Verstand ausgestattet und so schwach ihr Wille. Von Natur kindisch ist sie auf die Erziehung und Beherrschung durch höhere Völker angewiesen.

2. Einen ältlichen Ausdruck dagegen hat die röthliche Easse der Amerikanischen Stämme, der Indianer. Für den Stat haben aber auch sie nur eine geringe Begabung. Zwar gab es in Amerika, vor der Colonisation durch die Euro- päer, gröszere Staten, mit einer ansehnlichen und ehrwürdigen Civilisation. Aber es scheint, dasz die theokratischen Reiche von Peru und Mexiko nicht das Werk der einheimischen Easse, sondern von Einwanderern aus Ost- und Südasien ge- gründet waren. Die Bezeichnung der Inkas in Peru, oder „weiszer Sonnenkinder" weist unverkennbar auf arischen Ur- sprung hin.

Wo die Indianer sich selbst überlassen blieben, da ver- wilderten sie wieder als Jäger und zerfielen sie in kleine Gruppen. Ihre Stammesrepubliken haben keinen festen Boden und keine gesicherten Institutionen. Die einzelnen Männer leben wohl in eigenwilliger und trotziger Freiheit, aber der Verband des Ganzen ist roh und ungefüge. Dem Fortschritte der weiszen Colonisation vermögen sie keinen Widerstand zu leisten. Sie werden verdrängt und aufgezehrt.

3. Bedeutender für die statliche Entwicklung ist die so- genannte gelbliche Easse, deren Heimat Asien geblieben ist, mit ihren beiden Hauptstämmen, dem bräunlicheren Typus derMalajen und dem helleren der finisch-mon- golischen Völker. Besonders die letztere Völkerfamilie hat viele grosze Fürsten, Heerführer und Statsmänner hervor- gebracht. Ein Theil freilich dieser Stämme blieb fortwährend und bis auf den heutigen Tag in nomadischem Zustand,

80 Zweites Buch. Volk und Land.

als Hirten, Jäger und Käuber, vorzüglich in Mittelasien. Aber andere Völker von dieser Kasse haben grosze Keiche gegründet. Sie sind durchweg roher im Westen geblieben und humaner im Osten geworden. Die ganze Easse steht der kaukasischen näher als die der Neger und der Indianer, und hat sich früh- zeitig, zumal in den oberen Classen, mit Weiszen gemischt. Zu einer höheren Civilisation als die Hunnen und die Tür- ken haben es die Culturvölker von China und Japan ge- bracht. Sogar eine feine Statsphilosophie ist ihr Werk: und die Ideale der Humanität im Gegensatz zur Barbarei und des persönlichen Verdienstes im Gegensatz zu dem Bang der Ge- burt sind bei ihnen früher noch zur Geltung gelangt als unter den arischen Europäern. Für die Landwirthschaft, die Gewerbe, für die Schulen und die Polizei haben sie Bedeutendes ge- leistet. Aber ihre Kechtsideen blieben gemischt mit den moralischen Vorschriften und sind gebunden durch die Rück- sichten auf das Familienleben und die Zucht der Unmündigen. Ihr Regiment hat einen wohlwollenden, aber oft auch einen despotischen Charakter. Das Ehrgefühl ist unempfindlich und die Volksfreiheit bei ihnen nicht entwickelt.

4, Ueber alle diese Rassen erhebt sich aber die weisze Rasse der sogenannten kaukasischen oder iranischen Völker, die Carus im Gegensatze zu den Nacht- und Dämmerungs- (Morgen- und Abend-) Völkern als Tagvölker bezeichnet, die Kinder der Sonne und des Himmels, wie das Alterthuin sie benannt hat. Sie sind vorzugsweise die historischen Völker. Sie bestimmen die Geschicke der Welt. Alle höheren Reli- gionen, welche den Menschen mit Gott verbinden , sind zuerst durch Männer von ihrem Stamme geoffenbart worden, fast alle Philosophie ist aus den Arbeiten ihres Geistes hervorgegangen. Im Zusammenstosz mit den andern Rassen sind diese zuletzt immer von ihnen besiegt und ihnen unterthan worden. Alle höhere Statenbildung gehört ihrem Impuls an und ist ihr Werk. Die höchste Civilisation und die Verallkommnuilg der

Erstes Cap. Die Menschheit, die Menschenrassen u. die Völkerfamilien. 8l

geistigen Zustände der Menschen verdanken wir nächst Gott ihrem Verstände und der Energie ihres Willens.

Diese Tagvölker theilen sich aber in zwei grosze Völker- familien, die Semitischen und die Arischen (indo- ger- manischen) Völker. Die Semiten haben vorzugsweise eine religiöse Mission für die Welt. Das Judenthum, das Christen- thum und der Islam, alle diese Religionen sind zuerst unter Semitischen Völkern im Orient verkündet worden. Für den Stat aber sind sie weniger begabt. Dagegen nimmt für die politische Geschichte und die Rechtsbildung hinwieder die arische Völkerfamilie, deren Sprache auch die formen- und gedankenreichste ist, den obersten Rang ein, und diese hat voraus in Europa ihre wahre Heimat gefunden und da ihren männlichen Statsgeist zur Reife entfaltet. Darauf ist das Recht dieser europäisch -arischen Völker begründet, die übrigen Völker der Erde mit ihren Ideen und ihren Institutionen politisch zu leiten und so die Organisirung der Menschheit zu vollziehen.

Wir betrachten so die Verschiedenheit der Menschenrassen als ein Werk der schöpferisch erregten Natur, nicht als ein Werk unserer menschlichen Geschichte, und erkennen in ihnen natürliche Varietäten der Menschheit. Dagegen die Völker, in welche die Rassen sich theilen, oder welche aus der Mischung verschiedener Rassen entstanden sind, sind offen- bar das Erzeugnisz unserer Geschichte. Die Völker sind historische Glieder der Menschheit und ihrer Rassen. Zwar kennen wir auch Ur Völker, d. h. die uns schon in den ersten Zeiten begegnen, über welche uns historische Kunde zu- gekommen ist, oder deren Ursprung sich in ein dunkles Alter- thum verliert. Aber wir kennen eine sehr grosze Zahl Völker, deren Entstehung in den Bereich unserer historischen Kennt- nisz fällt und haben Gründe genug für die Annahme, dasz auch jene Urvölker in ähnlicher Weise entstanden seien. Die Geschichte durch ihre Trennungen und Vermischungen, wie

B 1 u u t s c h 1 i , allgemeines Statsrecht. I. Q

82 Zweites Buch. Volk und Land.

durch ihre Wandlungen und Entwicklungen hat im Laufe der Zeit die Völker gesondert und neue Völker hervorgebracht, Die Eigenthümlichkeit der Völker zeigt sich daher weniger noch in ihrer physischen Erscheinung als in ihrem Geist und in ihrem Charakter d. h. in der Sprache und im Eecht.

Anmerkungen. 1. Prichard hat in seinem "Werke: Natur- geschichte des Menschengeschlechtes (in deutscher Uebersetzuug von E.Wagner, Leipzig 1840, 4 Thle.) vorzüglich die physiologischen und sprachlichen Unterschiede und Verwandtschaften der wesentlichen Rassen behandelt; A. de Gobineau dagegen in seinem Essai sur l'inegalite des races humaines, Paris 1852 55, mehr die politischen Gegensätze darzustellen gesucht. So anregend und interessant diese Untersuchungen sind, so ist in beiderlei Hinsicht noch sehr viel zu thun, um sichere wissenschaftliche Resultate zu erreichen. Das neueste und vielseitige Werk ist von Tb. Waitz, Anthropologie der Naturvölker.

2. Man hat die Bedeutung der Rasse für Recht und Stat lange in der Wissenschaft übersehen und miszachtet. Das Werk von Gobineau sucht diesem Mangel abzuhelfen, verirrt sich aber nicht selten in den entgegengesetzten Fehler, Alles aus der Anlage der Rasse erklären zu wollen. Er faszt die Rasse überdem zu sehr als Geburtsrasse auf und betont die Einwirkung der Abstammung und des Geblüts zu aus- schlieszlich. Es gibt aber nicht blosz eine angeborene Rasse allerdings die ursprüngliche und natürliche Bedeutung der Rasse es gibt auch eine anerzogene Rasse, die wir sowohl in den Familien als in den Völkern deutlich wahrnehmen, und die obwohl secundär und in höherm Grade von menschlicher Freiheit bestimmt, doch einen ge- waltigen Einflusz auf die Rechtsbildung übt. Man denke nur an die römische Kirche in dem modernen Europa, um sich die Macht der aner- zogenen Rasse zu vergegenwärtigen. Von der Rasse ist das Indi- viduum zu unterscheiden, und die individuelle Einwirkung nicht minder zu beachten. Die Weltgeschichte ist fast mehr noch von den Individuen als von den Rassen bestimmt worden. Die wichtigen Aufschlüsse, welche über diese Gegensätze in Fried r. Rohmers Lehre von den politischen Parteien (dargestellt durch Theodor R ohmer, Zürich 1844) gegeben werden, sind noch nicht so beachtet und gewürdigt worden, wie das Werk es verdient.

Zweites Capitel. Die Nation und das Volk. 83

Zweites Capitel.

IT. Die Nation und das Yolk.

Eine willkürlich zusammen gerottete oder geworbene Menge Menschen bildet noch keine Nation. Auch auf dem Wege der Uebereinkunft einer Anzahl Individuen ist so wenig je ein Volk entstanden, als ein Stat.

Die Familienverbindung ferner für sich allein er- zeugt weder eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleier- machers: 1 „Wenn eine Masse von Familien unter sich ver- bunden und von andern ausgeschlossen ist durch Connubium, so stellt sich die Volkseinheit dar," wird in zwiefacher Be- ziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patri- cier waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer ebenso. Aber weder jene noch diese waren für sich allein das römische Yolk; und beide waren in älterer Zeit nicht durch Connubium mit einander verbunden, und doch bestand das römische Volk aus ihrer Vereinigung. Die germanischen Völker waren aus Ständen verbunden, von welchen jeder nur in seinem Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft zuliesz. In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne dasz daraus eine neue Nation entsteht.

Die Entstehung einer Nation setzt eine neue Spaltung innerhalb der bisherigen Kassen oder einer alten gröszeren Nation voraus und eine Abzweigung des Theiles, der für sich eine eigentümliche Bedeutung gewinnt oder durch Mischung mit andern Bestandtheilen von andern Kassen oder Nationen eine neue Gestalt annimmt. Auf die Bildung einer Nation hat aber der Geist den mächtigsten Einflusz. Im alten Orient und theilweise wieder im Mittelalter war es zuweilen der Geist der Religion, der die Glaubensgenossen zu einer neuen Nation

1 Ethik. §. 2G7.

6*

g4 Zweites Buch. Volk und Land.

verband und von den Andersgläubigen trennte. Stärker aber noch und durchgreifender trennt und verbindet die Nationen der Geist der Sprache. Die Sprachgemeinschaft ist das sicherste Zeichen der nationalen Gemeinschaft. Sie bedeutet Einheit der Geistescultur. Erst in zweiter Linie schlieszt sich die Gemeinschaft der Sitte und des Kechts an. Aber nur all- mählich wächst die Nation zu einer solchen Einheit zusammen, welche sich über die Individuen und über die Familien erhebt und Alle verbindet. Dann tritt auch die besondere Art sicht- bar hervor in der Physionomie der Nation, in der Haltung, Kleidung, Wohnung derselben, in hundert kleinen Zügen, die leicht zu erkennen, schwer zu beschreiben sind. Erst wenn die Nation ihre Eigenart schon durch mehrere Generationen hindurch fortgepflanzt hat, zeigt sich so die nationale Kasse mit ihren Vorzügen und ihren Schwächen , im Geist und Charakter wie in den Körpereigenschaften.

Die Nation ist ein Cultur begriff. Das Volk aber ist ein statsrechtlicher Begriff. Erst im State und durch den Stat wird die Nation zum Volk. Die S tat s gern e in- Schaft bildet die Volkseinheit.

Auch das Volk im eigentlichen Sinne die Ausdrücke Nation und Volk werden nicht immer auseinander gehalten bedarf, damit es zu einer wahren Einheit wird, eines dauernden Zusammenseins und Zusammenlebens. Dann bildet sich ein bestimmter Volksgeist aus und ein bestimmter Volks- charakter, die verschieden sind von dem individuellen Geist und Charakter und fortgepflanzt werden in der Masse der Volksgenossen. Es gibt daher auch eine Volksrasse, wie es eine nationale Kasse gibt und beide treffen nicht immer zusammen.

Die Nation kann nur im natürlichen, nicht im juristischen Sinne eine Person genannt werden, weil sie in der Sprache die Einheit ihres Geistes äuszert. Aber ihre Gemeinschaft ist nicht zu einem Kechtswesen abgeschlossen. Sie ist keine stats-

Zweites Capitel. Die Nation und das Volk. 85

rechtliche Person. Das Volk dagegen, welches im State einen Gesammtkörper gefunden hat, ist zugleich eine Kechtsperson geworden.

Auch die Völker sind organische Wesen; und desz- halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes, seine Vorstellungen , seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie für den einzelnen Menschen , so ist auch für das Volk die mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch- sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be- messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern nicht verliehen zu sein.

Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu- tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam hervorgehoben zu haben.

2. Ich habe früher, dem französischen Sprach gebrauche folgend, das Naturvolk „Volk" (peuple) und das Statsvolk „Nation" genannt. Die Etymologie begründet aber den umgekehrten Sprachgebrauch, indem natio von nasci auf die Geburt und die Rasse, Volk (populus, nohig) auf die Stadt und den Stat hindeutet, und das deutsche Sprachgefühl folgt dieser Deutung. Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zu- gleich eine Nation und ein Volk, in den letzten Jahrhunderten nur eine Nation, kein Volk mehr, und sind heute wieder auf gutem Wege auch ein Volk zu werden. Die Schweizer, obwohl aus verschiedenen Nationa- litäten zusammengesetzt, sind ein Volk.

g(3 Zweites Buch. Yolk und Land.

Drittes Capitel.

Nationale Rechte.

Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen, von nationalen Kechten zu sprechen und Achtung für dieselben zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses sind , so sollen sie auch in ihrem Bestände beachtet und ge- schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist allezeit die menschliche Existenz. Welche menschliche Existenz aber hätte ein besseres Recht von Natur als die des nationalen Gemeingeistes? Sie ist ja zugleich die Unterlage auch der individuellen Existenz und eine Grundbedingung der Entwick- lung der Menschheit.

Aber nur allmählich wird es gelingen, dieses zunächst blosz sittliche Gebot in die entsprechende Eechtsformel zu fassen. Die Hauptbedeutung des Nationalitätsprincips liegt vorerst noch in der Politik, nicht im Statsrecht.

Als nationale Rechtsgrundsätze aber lassen sich folgende anführen, die daher von den Genossen derselben Nation geltend gemacht werden dürfen:

1. Das Recht auf die nationale Sprache.

Die Sprache ist das eigenste Gut jeder Nation, in der Sprache vorzüglich gibt sich die Eigenart derselben kund, sie ist das stärkste Band, welches die Genossen der Nation zu einer Culturgemeinschaft verbindet.

Daher darf der Stat nicht der Nation ihre Sprache ver- bieten , noch die Ausbildung derselben und ihre Litteratur untersagen. Es ist im Gegentheil Statspliicht, die Cultur der Sprache frei gewähren zu lassen und so weit die allgemeinen Bildungsinteressen nicht dadurch verletzt werden, wohlwollend zu fördern. l Die Unterdrückung der einheimischen Sprachen

1 Oesterreich. Statsverfassung v. 1849, §. 5: „Alle Volksstämme

Drittes Capitel. Nationale Rechte.' 87

der Provinzialen durch die Eömer war ein furchtbarer Misz- brauch der Statsgewalt, und das Verbot der wendischen Volks- sprache in dem Gebiete des deutschen Ordens unter Androh- ung der Todesstrafe war eine widerrechtliche Barbarei.

Aus diesem Princip folgt aber nicht, dasz es in den Stats- angelegenheiten nicht eine bevorzugte Statssprache geben dürfe mit Ausschlusz aller übrigen Volkssprachen. So weit es sich nicht um das blosze Nationalleben, sondern um das Statsleben handelt, da kann das Interesse des gesammten Stats- volkes die Einheit der Sprache erfordern. So wird im eng- lischen Parlamente mit Eecht nur englisch, nicht auch irisch noch gälisch gesprochen, in den französischen Centralbehörden nur französisch, nicht auch deutsch noch keltisch. Sorgfältiger aber achtet die Schweiz die verschiedenen Nationalitäten , aus denen sie zusammengesetzt ist, indem sie die deutsche mit der französischen Statssprache verbindet, und nach Bedürfnisz auch die italienische respectirt.

Ebenso wenig ist der Stat gehindert, dafür zu sorgen, dasz in den Schulen die höhere Cultursprache gepflegt und die Kinder einer noch ungebildeten Nation an der Errungenschaft und Erbschaft einer veredelten Litteratur einen Antheil erhal- ten. Dagegen wird es von einer civilisirten Nation als ein bitteres Unrecht empfunden, wenn ihre Sprache aus der Schule und der Kirche zu Gunsten einer fremden Sprache verdrängt wird.

2. Die Nation hat ferner ein Eecht, ihre nationale Sitte zu üben, so weit dieselbe nicht dem höhern mensch- lichen Sittengesetze widerstreitet, oder die Eechte des States verletzt. Die herrschenden Engländer sind berechtigt, nicht länger zu dulden, dasz die indischen Frauen zur Todtenfeier ihrer Männer sich ebenfalls dem Tode opfern: die Untersagung aber unschädlicher Volksspiele ist eine nicht zu rechtfertigende Anmaszung des States. \

sind gleichberechtigt (?) und jeder Yolksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache."

gg Zweites Buch. Volk und Land.

3. Auf dem Gebiete der eigentlichen Bechtsinsti- tutionen ist die Berechtigung der bloszen Nation auf stat- liche Anerkennung und Schutz geringer, weil hier theils die Einheit und Harmonie des States, theils die Interessen des statlichen Culturvolkes einen naturgemäszen höhern Einflusz äuszern. Eine die Gesammtbevölkerung umfassende, und die einzelnen Volksrechte umbildende oder aufhebende Gesetzgebung ist ein Bedürfnisz d§s entwickelten States. Man darf es den Kömern nicht verargen, dasz sie das römische Becht überall in ihrem Beiche einzuführen suchten. Bücksichtsloses Unmasz aber verdient Tadel. Einen der ärgsten Misz griffe der Art hat das englische Parlament begangen, als es 1773 in Bengalen die Formen des englischen Gerichtsverfahrens und des eng- lischen Bechts den dafür unreifen Indiern aufnöthigen wollte. In den deutschen Staten aber verfuhr man gleichzeitig in der Aufrechthaltung eines wahren Wustes von hergebrachten Statu- tarrechten für kleine Yolksparcellen überängstlich, und in der Einführung eines fremden gemeinen Bechtes für die Nation über die Maszen kühn und eingreifend.

Mit Bezug auf die Fortbildung des Bechts gewinnt daher das Volk die Oberhand über die Nation und vor der Einheit des Gesetzes und der Bechtspflege müssen sich die nationalen Verschiedenheiten beugen, die Bechtsgleichheit der Statsbürger erhält den Vorzug vor der Mannigfaltigkeit der nationalen Uebungen. Es ist den Kömern doch sehr viel leichter gewor- den, die unterthänigen Nationen im Becht zu romanisiren als in der Sprache zu latinisiren, und wir nehmen keinen Anstosz daran, dasz die Franzosen ihren Code Napoleon auch auf das deutsche Elsasz und auf die alt-gallische Bretagne anwenden. Wir tadeln es nicht, wenn die englische Gesetzgebung auch das Becht der Iren und der Walliser gleichmäszig ordnet. Aber wir erinnern uns doch auch, dasz der Versuch der Römer, die noch rohen Germanen der römischen Rechtspflege zu unter- werfen, den groszen germanischen Freiheitskampf entzündet

Drittes Capitel. Nationale Rechte. 89

hat und es während Jahrhunderten ein Princip der germani- schen Rechtsüberzeugung war , man müsse jede Nation bei ihrem Rechte lassen und jeden nach seinem angebornen (d. h. nationalen) Rechte schützen. Die altrömische Maxime einseitig durchgeführt, hätte alle nationale Freiheit mit dem nationalen Recht zerstört, die alt-germanische Weise zähe bewahrt, hätte alle höhere Stats- und Rechtscultur unmöglich gemacht. Es war ein Glück für die Freiheit der Nationen und für die fort- schreitende Civilisation , dasz Römer und Germanen feindlich aufeinander trafen und keines der beiden Principien zu alleiniger Herrschaft gelangte.

4. Wird eine Nation in ihrer sittlichen und geistigen Existenz von der Statsgewalt angegriffen, so sind ihre Ge- nossen zum zähesten Widerstand dagegen veranlaszt. Es gibt keine gerechtere Ursache zur Auflehnung wider die Tyrannei, als die Verteidigung der Nationalität. 2 Die Le- galität kann dabei Schaden leiden, das Recht wird nicht verletzt.

5. Zwischen der Nation und dem Volk besteht eine natür- liche Wechselwirkung. Politisch begabte Nationen können zu voller Entfaltung ihrer Natur gelangen, wenn sie Völker werden, und Völker, die aus mancherlei nationalen Elementen gemischt sind, haben hinwieder das Streben, zu besondern Nationen zu werden. Die Politik beachtet diese Wand- lungen und sucht sie zu fördern oder zu hindern. Aber auch die tiefsten Rechtsfragen werden hier angeregt.

Versuchen wir's, einige Rechtssätze auszusprechen: a) Nicht jede Nation ist berechtigt, sich als Volk zu constituiren. Sie ist es nicht, wenn sie nicht die geistige und

2 Niebuhr (Preussens Recht gegen den Sächsischen Hof): „Die Ge- meinschaft der Nationalität ist höher als die Statsverhältnisse, welche die verschiedenen Yölker eines Stammes vereinigen oder trennen. Durch Grammatik, Sprache, Sitten, Tradition und Literatur entsteht eine Ver- brüderung zwischen ihnen, die sie von fremden Stämmen scheidet, und die Absonderung, die sich mit dem Auslande gegen den eignen Stamm verbindet, zur Ruchlosigkeit macht."

90 Zweites Buch, Volk und Land.

sittliche Fähigkeit hat, sich selbst zu regieren. Nicht alle Nationen sind von Natur Statsvölker. Den einen fehlt es an einer ihnen eigenthümlichen Statsidee, den andern an der Kraft, dieselbe selbständig zu verwirklichen. Ohne Fähigkeit aber kein Eecht. Solche Nationen sind daher von Gott und der Geschichte darauf angewiesen, sich der Leitung oder Erziehung- begabterer und kräftigerer Völker unterzuordnen.

b) Jede Nation, welche eine eigenthümliche Stats- idee und zugleich die Kraft und das Bedürfnisz hat, dieselbe zu verwirklichen, ist berechtigt, einen nationalen Stat zu bilden; aber sie ist bei diesem Streben verpflichtet, die historische Rechtsordnung insoweit zu respectiren, als dieselbe nicht ihre naturgemäsze Entwicklung widerrechtlich hindert.

c) Die Herstellung eines nationalen States erfordert keines- wegs die Vereinigung aller nationalen Bestandtheile zu Einem Statsganzen, sondern nur ein so starkes Zusammenwirken natio- naler Elemente , clasz das der Nation eigene Statenbild zu sicherer und ausreichender Erscheinung gelangt.

d) Eine Nation, die Volk geworden oder im Begriff ist, Volk zu werden , ist wohl berechtigt , die zerstreuten Glieder, deren sie zu ihrem Körper bedarf, an sich zu ziehen, aber nicht berechtigt, solche nationale Bestandtheile, die in einem andern Statsverbancle ihre Befriedigung finden, gegen ihren Wil- len aus demselben loszureiszen, wenn sie ihrer entbehren kann.

e) Die höchste Statenbildung beschränkt sich nicht auf eine einzelne Nationalität, sondern verbindet verschiedene nationale Elemente zu einer gemeinsamen menschlichen Ordnung.

f) Wenn ein Stat aus verschiedenen Nationalitäten besteht, die zusammen Ein Volk bilden, so dürfen die politischen Rechte nicht nach Nationalitäten vertheilt werden, sondern es ist die politische Gemeinschaft und Gleichberechtigung ohne Unter- schied der Nationalitäten zu bewahren. 3

3 Eötvös, Die Nationalitätsfrage. Wien 1865.

Viertes Capitel Volkstümlichkeit der Verfassung. 91

Ueber jene Fähigkeit und Würdigkeit entscheidet freilich bei dem unvollkommenen Zustande des Völkerrechts kein mensch- liches, sondern nur das Gottesgericht, welches in der Welt- geschichte sich offenbart. Nur in groszen Kämpfen durch seine Leiden und seine Thaten bewährt das Volk gewöhnlich seine Berechtigung.

Viertes Capitel.

Volkstümlichkeit der Verfassung.

Höher berechtigt im State als das blosze Naturvolk (die Nation) ist das Statsvolk. Es ist die lebendige Gesammt- individualität, welche in dem Statskörper wohnt.

Es ist keineswegs nothwendig, dasz das Statsvolk nur aus Einem Naturvolke bestehe: und sogar zuträglich, dasz es verschiedene nationale Bestandtheile in sich habe. Diese Vereinigung zweier oder mehrerer Nationalitäten in Einem Volke kann dazu dienen, dasz die Mängel derselben ergänzt und die Vorzüge derselben gesteigert werden. Zugleich dient diese Mischung dazu, das Bewusztsein wach zu erhalten, dasz die Bestimmung des States nicht eine blosz volksmäszige, son- dern eine menschliche sei.

Dagegen ist es der Einheit des States allerdings sehr förderlich, wenn das Statsvolk wesentlich auf eine bestimmte Hauptnation sich stützen kann und die übrigen Volks- elemente nur in einem numerisch untergeordneten Ver- hältnisse zu demselben stehen, wie die Deutschen in Frankreich und Kuszland, die slavischen Stämme in Preuszen, die Juden in Deutschland, die Franzosen in Nordamerika. Viel schwieriger ist die Einheit des Statsvolkes zu begründen und zu bewahren, wenn dieselbe aus mehreren Nationen besteht, welche an Macht und Bedeutung mit einander wetteifern. Diese Schwierig-

92 Zweites Buch. Volk und Land.

keit hatte England zu überwinden, indem es erst die Sachsen und die Normannen, dann die Engländer und Schotten, zuletzt diese zusammen und die Iren einigte, und ihr zu erliegen ist für 0 esterreich eine noch nicht überwundene Gefahr.

Soll der Stat als Leib des Volks seine Bestimmung er- füllen, so ist es klar, dasz seine Einrichtungen und Gesetze auf die Eigenschaften und die Bedürfnisse desselben Eücksicht nehmen, mit einem Worte, dasz der Stat volksthümlich sein musz. Eine Statsverfassung , welche zu dem Charakter des Volks nicht paszt, seine Eigenthümlichkeit nicht beachtet, seinem Geiste und seiner Sinnesweise nicht gemäsz ist, ist ein unnatürlicher und ein untauglicher Körper. Wird dieselbe durch fremde Gewalt einer Nation aufgedrungen, oder wie wir das auch schon in Zeiten groszer politischen Fieber gesehen haben, von dem miszleiteten und kranken Volke selbst gewählt, so stürzt sie immer wieder zusammen, sobald jene Gewalt nachläszt, oder das Volk seine Besonnenheit wieder findet. In beiden Fällen ist aber das Gebrechen in dem stat- lichen Organismus so grosz, dasz dasselbe auch den Untergang des Volkes zur Folge haben kann und jedenfalls seine volle Gesundheit auf lange Zeit hin verhindert.

Jede grosze Nation, die geeignet ist zum Statsvolk zu werden, hat auch eine eigenthümliche politische Lebensansicht, und eine besondere statliche Mission. Das Volk erfüllt diese Bestimmung, indem es dem State dasGepräge seines Wesens verleiht. Das ist das natürliche ^Recht des Volkes auf eine volksthümliche Verfassung. Die Verschieden- heit der Völker entspricht so der Verschiedenheit der Nationen, und die Mannichfaltigkeit der statlichen Formen beurkundet die Mannichfaltigkeit, welche Gott in die Natur der Nationen gelegt hat.

Die Eigenthümlichkeit des Volkes spiegelt sich aber nicht etwa ein für allemal in dem State ab. Das Volk durchlebt verschiedene Phasen seiner Entwicklung, und es ändern sich,

Viertes Capitel. Volks thümlichkeit der Verfassung. 93

obwohl es wesentlich dasselbe bleibt, doch seine Bedürfnisse und seine Ansichten, je nach der Lebensperiode, in welcher es gerade steht. Der nationale und volksthümliche Stat begleitet das Volk auch in dieser Entwicklung, und macht auch in seinem Organismus ähnliche Wandlungen und Umge- staltungen durch, ohne deszhalb völlig ein anderer zu werden. Wie sehr verschieden war die äuszere Erschein- ung des römischen States in den verschiedenen Perioden seiner Geschichte, und dennoch wie klar stellt sich fortwährend der national-römische Charakter derselben dar. Die königliche, die republikanische, die kaiserliche Statsform entsprechen den ver- schiedenen Lebensaltern des römischen Volks , in allen aber wird das specifisch-römische Gepräge sichtbar. Die englische Monarchie unter den Tudors unterscheidet sich von der eng- lischen Monarchie unter dem Hause Hannover, wie sich die Entwicklungsstufen des englischen Volkes im XVI. und XVIII. Jahrhundert unterscheiden. Das ist das natürliche Kecht des Volkes auf zeitgemäsze Umbildung seiner Verfassung.

Fassen wir das Gesagte in Einem Satze zusammen: Die naturgemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der Eigenthümlichkeit und der Entwicklungsperiode des Volkes, welches in dem State lebt.

Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. 11.21. „Nee tem- poris unius nee hominis est constitutio reipublicae."

2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimacchiav. 12.) : „Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les temperaments) der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer , seine Hülfs quellen."

3. De Maistre (1796): „Eine Verfassung, welche für alle Nationen gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein "Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Bäumen bestimmt, wo er allein zu finden ist" (qu'il faut adresser ä l'homme dans les espaces imaginaires il habite).

94 Zweites Buch. Volk und Land.

4. Napoleon an die Schweizer (1803): „Eine Regierungsform, die nicht das Resultat einer langen Reihe Ton Begebenheiten, Unglücks- fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Yolkes ist, kann nie- mals Wurzel fassen."

5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: „Die Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird, eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigentümlichen Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver- fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff- nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe."

6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.)' „Unsre Lehre ist, dasz ein jedes Volk seine eigene Politik habe. "Was will sie doch sagen, die National- unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie allein bedeuten, dasz kein fremder Intendant in unsern Städten sitze, und keine fremde Truppe unser Land durchziehe? Heiszt es nicht viel- mehr, dasz wir unsere geistigen Eigenschaften, ohne von Anderen ab- zuhängen, zu dem Grade von Vollkommenheit bringen, deren sie in sich selber fähig sind?"

Fünftes Capitel.

III. Die Stämme.

Wie die Eassen der Menschheit in verschiedene Nationen zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver- wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher auch in der Sprache, in den Sitten, im Eechte sichtbar. Aber die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören, verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden. Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens- gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen Na-

Fünftes Capitel. Die Stämme. 95

tionalität tritt zwar in den Stämmen auch die Besonder- heit und Verschiedenheit der Stämme entgegen und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen gehört. Aber die nationale Sprache , welcher das Ohr aller Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und der Ver- wandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie verhalten sich zur Sprache, wie die partikulären Stammesrechte zum ge- meinen Volksrecht.

Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz der Geschichte, welche die inneren Gegensätze auch massen- haft zur Entwicklung und Erscheinung treibt. Sie sind aber nur Fractionen der Nationen, d. h. sie haben keinen eigenen selbständigen National typus, sondern sind nur ein eigen- thümlich betonter und gefärbter Ausdruck des gemeinsamen Nationalgeistes. In dieser Weise pflanzen sie sich fort und erhalten sowohl ihr besonderes Dasein als die innern Gegen- sätze , welche auf die Natur der Nation einwirken. Der Mannichfaltigkeit und dem Eeichthum des nationalen Lebens ist die Besonderheit der Stämme günstig, der Einheit eines gröszeren nationalen Stateß aber ist sie oft zum Hindernisz ge- worden. Rom ist durch die innern Kämpfe seiner Parteien, welche ursprünglich sich an Stammesunterschiede anlehnten, stark und mächtig geworden; die Hellenen haben es wegen der schroffen Gegensätze der Stämme nie zu einem festen Ge- sammtstat bringen können. Auch in der neueren Statenbild- ung Europas hat der Gegensatz der Stämme stark gewirkt. Der mittelalterliche Zug zur Besonderheit fand darin eine reich- liche Nahrung, der moderne Zug zur Einheit ein starkes Hemm- nisz. Italien und Deutschland haben das erfahren. Freilich wurden in beiden Ländern die alten Stämme früher zerrissen, dort vornehmlich durch die selbständige Ausbildung der Städte, hier vorzüglich durch die Sonderung der landesherrlichen Ter- ritorien. Aber fortwährend war doch ein Stammesparticularis-

96 Zweites Buch. Volk und Land.

mus in der städtischen Eigenart wirksam und wenn auch seit der Zerschlagung der älteren Staimnesherzogthiimer die gröszern Territorien aus Bruchstücken von mehreren Stämmen gemischt wurden, so hatte doch die Eifersucht und Feindschaft der Stämme einen erheblichen Antheil an dem Verfall des deutschen Reichs und die Gegner der deutschen Einheit klammern heute noch an die Stammesvorurtheile an, um die nationale Entwick- lung zu erschweren, wenn es auch nicht mehr angeht, sie zu verhindern.

In dem Stamme ist. wie die Geschichte lehrt, auch ein Ansatz zu einer neuen Volksbildung zu erkennen. In- dem sich der Stamm abschlieszt und trennt von dem Volke, dem er von Xatur angehört, kann er mit der Zeit zu einem neuen Volke werden, leichter aber zu einem neuen freilich meistens kleinen Statsvolke , seltener zu einer neuen Nation. Die letztere Bildung gelingt ihm nur, wenn er sieh misch! und in Folge der Mischung auch die Sprache verändert, wie es dem germanischen Stamme der Longobarden in Italien ge- schehen ist, oder wenn er mit der Zeit seinen Dialekt zu einer besondern Sprache ausbildet, wie die Holländer es gethan haben.

Sechstes Capitel.

IV. Weitere Unterschiede. Die Kasten.

Innerhalb der Nationen, Völker und Stamme, welche alle räumlich gesondert erscheinen, zeigen sich weitere, aber räum- lich verbundene Unterschiede, welche wieder eine stand- rechtliche Bedeutung haben; verschiedene feste Schichten in dem Bau der Gesellschaft oder verschiedene Richtungen des Gesammtlebens oder verschiedene Stufen der politischen Be- deutung und Bildung, d. h. Kasten oder Stände oder Classen.

Sechsteg Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 97

Die Kastenordnung hat ihre wichtigste Anwendung in Indien gefunden, ist aber auch in Aegypten und Persien von Einflusz geworden. Sie gehört vorzugsweise dem alt- asiatisch-arischen Wesen an. In Europa ist sie niemals hei- misch geworden. Aber in Amerika hat sie in dem Gegensatze der weiszen und der farbigen Kassen eine neue Anwendung gefunden. Die St an de Ordnung zeigt sich unter sehr vielen alten und neuen Völkern, ihre reichste Ausbildung aber hat sie während des Mittelalters in Europa unter den germanischen Völkern erhalten. Die C 1 a s s e n 0 r d n u n g endlich setzt einen rational eingerichteten Stat voraus, wie in Asien China, und in Europa Athen oder Rom und manche moderne Staten.

Die Kasten werden betrachtet als ein Werk der Natur, oder als eine unveränderliche Schöpfung Gottes, die Stände erscheinen als ein Erzeugnisz der Völkerge schichte und des Lebensberufs, die Classen endlich sind eine Institution des Stats. In den Kasten offenbart sich die Autorität des Glaubens, in den Ständen die Macht des socialen Lebens, der wirtschaftlichen und Culturverhältnisse, in den Classen die organisatorische Stats politik. Die Kasten sind not- wendig erblich und unveränderlich, den festen, über einander gelagerten Schichten des Gesteins vergleichbar. Die Stände haben ein Wachsthum, wie die Pflanzen, und eine or- ganische Entwicklung, wie die Nationen und die Staten. Das Erbrecht wird bei ihnen durch die freie Wahl des Berufs geändert oder verdrängt. Die älteren Stände sind noch als Erbstände den Kasten verwandt, die Stände der entwickelteren Civilisation nähern sich als freie Berufsstände den Classen an. Die Classen sind je nach den verschiedenen Zwecken des Stats veränderlich wie künstlerische Zeichnungen.

Die indische Kastenordnung, die wir als Typus der Kasteneinrichtung überhaupt betrachten können, wird in dem Gesetzbuche Manu's als eine Schöpfung Brahma's dar- gestellt. Dieser Glaube, den Plato seinem idealen Stat durch

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 7

98 Zweites Buch. Volk und Land.

künstliche Mittel einzupflanzen gewünscht hat, ist bei den In- diern zu voller Wirksamkeit gelangt.

Die oberste Kaste der Brahmanen, in welcher das arische Blut am reinsten, obwohl auch da nicht völlig unver- mischt mit andern Bestandtheilen erhalten blieb, ging nach dem indischen Mythus aus dem Munde Gottes hervor. Sie sind daher auch gleichsam das lebendige Wort Gottes, der reinste und vollste Ausdruck des göttlichen Wesens. Ihnen gebührt die Pflege der Wissenschaft und der Eeligion. Ihrer Kunde und Sorge ist vornehmlich das Kecht anvertraut. Der geringste Brahmane ist als solcher höher zu achten als der König. Sie sind vorzugsweise von göttlicher Natur, und wenn ihnen auch nicht untersagt ist, sich mit weltlichen Aemtern zu befassen und in irdische Geschäfte sich zu mischen, so erhöht doch die Enthaltsamkeit von jedem materiellen Genusz ihre Reinheit. 1 Wer einen Brahmanen mit einem Grashalm schlägt, verfällt der Yerdammnisz der Hölle.

Die zweite Kaste, die Kshat^as, aus denen der König hervorgeht, sind von dem Arme Gottes geschaffen. In Ihnen ist die Kraft und die äuszere Macht verleiblicht. Sie sind die geborne Krieger- und Adelskaste. Handel zu treiben sind sie zwar nicht verhindert, aber die Waffenübung ist doch ihrer würdiger.

Die dritte Kaste, die Visas oder Vais}^as, sind aus den Schenkeln Gottes geboren. Ihnen kommen die edlern bürger- lichen Gewerbe zu. Sie sind berufen, Viehzucht, Ackerbau und Handel zu betreiben.

Die vierte dunkelste Kaste endlich, die Sudras, stam- men aus den Füszen Gottes. Sie sind die dienende Bevöl- kerung. Den materiellen Bedürfnissen des Lebens geweiht, sind sie nicht würdig die heiligen Bücher zu lesen.

1 Gesetze Manu 's II. 162. (herausg. v. A, Loiseleur Deslongschamp3. Paris 1833): „Ein Brahmane soll weltliche Ehre wie Gift scheuen und sich nach Verachtung der Menschen sehnen wie nach Ambrosia."

Sechstes Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 99

Die höhere Ehe setzt Ebenbürtigkeit der Ehegatten vor- aus; indessen kann ein Mann von höherer Kaste wohl eine Frau aus einer niedern heirathen, nicht aber umgekehrt die höhere Frau den niedrigeren Mann. Aus den zahlreichen Miszheirathen sind denn aber im Laufe der Zeit arge Misz- stände und neue wieder erbliche Miszkasten der Verworfenen und Ausgestoszenen erwachsen. Der Uebergang eines Indivi- duums aus einer Kaste in die andere ist nur in äuszerst sel- tenen Fällen möglich, die starre Abgeschlossenheit durchaus die Kegel. Sogar nach dem Tode wirkt die Kastenordnung fort. Sie beherrscht ebenso das zukünftige Leben wie die Gegenwart, und nur mit viel tausendjähriger Anstrengung kann es in seltensten Fällen sogar einem Kshatrij^a gelingen, bis auf die göttlichste Stufe des Brahmanenthums sich empor- zuschwingen. Jeder Fehltritt aber stürzt leicht aus der Höhe in die Tiefe und dann ist die Wiedererhebung unsäglich schwer.

Wir wissen nun, dasz jener Glaube der Indier auf Irr- thum beruht und dasz diese Kastenbildung groszentheils ein Werk menschlicher Geschichte ist. In den Veden noch ist die Erinnerung an eine ältere Periode erhalten, in der es wohl arische Stände, aber noch nicht indische Kasten gegeben hatte. Nur der Gegensatz der drei oberen Kasten, die sämmtlich Arier heiszen, zu den Sudras läszt sich auf einen ursprüng- lichen Kassengegensatz zweier Völkermassen zurück führen, indem die weiszen Arier als Sieger das Land der dunkelfarbigen Sudras eingenommen und sich da als Herren derselben nieder- gelassen haben, ähnlich wie die weiszen europäischen Colonisten unter der rothen Urbevölkerung in Amerika. Der alte Name der Kaste „Varna" bedeutet Farbe und beurkundet so den ursprünglichen Gegensatz der Weiszen und der Farbigen. Je höher die Kaste, desto reiner erscheint die weisze Kasse, je tiefer, desto mehr ist sie gemischt mit dem Blut der ursprüng- lich schwarzen Kasse.2 Die beiden obern Kasten erheben sich

8 Vgl. über die Geschichte und das "Wesen der indischen Kasten

LofC 7*

100 Zweites Buch. Volk und Land.

über die dritte, wie die Aristokratie bei fast allen arischen Völkern über den Demos. Die zuletzt entstandene Erhebung der Brahmanen endlich über die Eitter- und Adelskaste, und sogar über die Könige erklärt sich meines Erachtens nur aus der neuen pantheistischen Brahmareligion, welche die alte Ke- ligion der mancherlei Naturgötter geistig überwand, aus dem gesteigerten Gottesbewusztsein der brahmanischen Priester, Weisen und Heiligen, und aus der Energie und Hingebung, mit welcher sie ihrem göttlichen Beruf in allen Gefahren treu blieben und den Königen die irdische Herrlichkeit willig über- lieszen. 3

Die Kastenordnung ist also nur nach und nach aus ge- schichtlichen Kämpfen und Erlebnissen entstanden. Aber dann bekam sie den festen Ausdruck der unveränderlichen Noth- wendigkeit und die religiöse Weihe der Heiligkeit. Sie wurde so sorgfältig durch die ganze Erziehung der heranwachsenden Jugend, durch die festbestimmten religiösen Pflichten, durch alle Einrichtungen des privaten wie des öffentlichen Lebens gepflegt, dasz Niemand mehr eine Abweichung für möglich hielt und die starre Ordnung durch die Jahrhunderte von Ge- schlecht zu Geschlecht überliefert wurde.

Die Kastenordnung ist nicht eine Einrichtung des Stats, nicht ein Bestandteil der Statsverfassung. Vielmehr ist der Stat in die Kastenordnung eingefügt und derselben untergeordnet. Sie ist eine allgemeine, alle Verhältnisse beherrschende, in Ewigkeit wirkende Weltordnung. Um deszwillen ist die höhere Statenbildung so lange unmöglich, als der Stat der Kastenordnung zu dienen gezwungen ist. Er kann sich nicht frei dem eigenen Lebensprincip gemäsz ent-

Lassen Indische Alterthumskunde I. S. 801 ff., Gobineau de Tinegalite des races humaines II. S. 135, Benfey Act. Indien in dem "Wörterbuch yon Guttrie u. Grey, M. Duncker Geschichte d. Alterthums II. S. 12 f. 3 Ich habe diese Ansicht näher begründet in der Schrift: Die Alt- asiatischen Gottes- und Weltideen, S. 29 f.

Sechstes Capitel. Weitere Unterschiede. Die Kasten. 101

wickeln. Wie soll sich die politische Idee verwirklichen, wenn ihr starre, unveränderliche Massen, die ein höheres Gesetz scheidet und gefangen hält, widerstreben. Was hat die Stats- autorität zu bedeuten, und wie können die statlichen Nöthigungs- mittel wirken, wenn ihnen der Glaube der Eegierten entgegen steht, dasz der Gehorsam gegen die Statsgewalt auf Tausende von Jahren Unglück und Leiden über den Folgsamen bringt?

Wohl gebührt dem Erbrecht im State eine hohe Be- deutung. Es bewahrt den innern Zusammenhang zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, es befestigt die Stätig- keit gleichsam den Knochenbau des über das Leben der einzelnen Menschen hinausreichenden Statskörpers. Aber wo es absolut und ausschlieszlich das öffentliche Recht be- herrscht, da werden die beszten Kräfte gebunden und gelähmt. Der Stat wird zuletzt zur Mumie, welche die Züge des ver- gangenen Lebens künstlich zu erhalten sucht, aber nicht den Ausdruck des Todes verbergen kann.

Die Kastenordnung verhärtet und potenzirt die Unter- schiede unter den Volksschichten. Eher noch können sich in ihr die oberen aristokratischen K sten befriedigt fühlen, welche sie mit erblichen Vorrechten reichlich ausstattet. Um so härter drückt sie die mittleren und untersten Schichten. Sie brandmarkt die Zurücksetzung und Erniedrigung derselben mit dem Mal der Verachtung und läszt dem Einzelnen keine Hoffnung, aus den Banden frei zu werden, in denen sie ihn gefangen hält. Sie steigert die Autorität der obern und sie zerstört die Freiheit der untern Classen. Eine relative Voll- kommenheit der einzelnen Berufszweige, selbst eine bewun- dernswürdige Geistesthätigkeit der obersten Kreise ist mit ihr wohl verträglich. Aber indem sie die Blutsüberlieferung und die rassenmäszige Tradition zum obersten Gesetze macht, ver- neint sie alle individuelle Freiheit, welche über die ererbten Schranken hinausstrebt. Sie hat religiöse Einsiedler, grosze Philosophen, ausgezeichnete Dichter, tapfere und groszherzige

\02 Zweites Buch. Yolk und Land.

Helden, treffliche Väter und Söhne, geschickte Arbeiter her- vorgebracht, aber niemals grosze Statsmänner, und nirgends hat sie freie Völker geduldet.

Alle ihre Institutionen sind auf die Erhaltung der Lebensordnung berechnet, keine haben den Fortschritt des Lebens zum Zwecke. Die Euhe ist ihr Ideal, die Bewegung ihre Gefahr. Das Leben in ihr ist nur Wiederholung, nichts Neues, ein Kad, das sich ewig in gleicher Weise und an der- selben Stelle um dieselbe Achse dreht. Das Leben selbst hat so wenig Werth; und wir begreifen es, wie zuletzt die bud- dhistische Sehnsucht nach der Endigung dieses ewigen Einer- leis, die Lehre von der Selbstauflösung in das Nichts, als der wahren Befreiung aufkommen und zahlreiche Anhänger finden konnte. Die indische Civilisation ist die Blüthe und die Frucht der indischen Kastenordnung. Aber so fest diese begründet war, sie vermochte jene Civilisation doch nicht auf die Dauer vor dem innern Verfall zu bewahren, und die indische Selb- ständigkeit nicht vor feindlicher Eroberung und Unterwerfung zu schützen.

Der heutige indische Stat erträgt die noch vorhandenen Beste der Kastenordnung nur wie ein ererbtes Leiden ; er setzt dieselbe nicht mehr als die wahre Weltordnung voraus und erbaut, von dem englischen Geiste bestimmt, seine Einrich- tungen auf ein anderes Fundament.

Siebentes Capitel.

V. Die Stände.

Ueberall unter den europäischen Völkern finden wir statt der Kasten Stände. Wie jene sind auch diese eine organische Gliederung und Ordnung der verschiedenen Bestandtheile eines Volkes. Aber die Stände unterscheiden sich von den Kasten

Siebentes Capitel. Die Stände. 103

dadurch, dasz sie sich der Bewegung der Geschichte hingeben und eine Entwicklung haben. In Europa vorzüglich sinj die Kasten zu Ständen geworden und haben eine reiche Geschichte und mannichfaltige Gestaltungen und Umwandlungen erlebt.

Die älteste Form der Stände erinnert noch sehr an die Kasten. In der ersten Zeit waren die Stände noch regelmäszig Erbstände, und die Eigenschaften, welche den Ständen zu- geschrieben wurden, deuten auf eine innere Verwandtschaft mit dem indischen Kastensysteme. Selbst die mythischen Vorstell- ungen von der göttlichen Erzeugung der Stände sind ganz ähnlich. Nach der Edda erzeugte der Gott Rigr auf seinen Wanderungen zuerst den Thräl, den Stammvater der dienen- den Bevölkerung, dann in besserem Hause den Freien Karl, den Stammvater der freien Bauern, zuletzt den Edeln Jarl, den er die Spiesze werfen und die Lanzen schwingen lehrte und dem er das heilige Geheimnisz der Runen vertraute. Auch diese Stände waren in Farbe und Körperbau verschieden, am glänzendsten weisz, mit hellem Haar und leuchtenden Wangen die Edeln, von häszlichem Gesicht und knotigen Gelenken die Knechte.

1. Mit der Kaste der Brahmanen läszt sich der gallische Stand der Druiden, welchen ebenfalls das Priesterthum, die Wissenschaft und die Rechtskunde zukommt, vergleichen, ! ob- wohl auch sie, mehr aber noch die vorchristlichen Priester der Germanen ihr Name Godi ist ebenso von Gott abgeleitet, wie die Bezeichnung der Brahmanen von Brahma mit dem nationalen Geschlechtsadel näher verwandt bleiben» Eine gröszere Aehnlichkeit mit der Brahmanenkaste hat die mittelalterliche Erhebung eines besondern christlichen Priesterstandes, des Klerus.

1 Caesar de Bello Gall. VI, 13: „Uli rebus divinis intersunt, sacri- ficia publica ac privata procurant, religiones interpretantur. Ad hos magnus adolescentium numerus disciplinae causa concurrit, magnoque ii sunt a*pud eos honore. Nam fere de omnibus controversiis publicis pri- vatisque constituunt."

104 Zweites Buch. Yolk und Land.

2. Der alte Adel aber, den wir in der frühesten Geschichte überall in Europa finden, ist durchgehends Erbadel und hat gewöhnlich die wichtigsten Functionen der beiden obersten Kasten in sich vereinigt. Die Erblichkeit des Uradels wird gewöhnlich schon durch die Sprache bezeugt. Die griechischen Eupatriden und die römischen Patricier sind schon um ihrer Abstammung willen von edeln Vätern so benannt, die germanischen Adalinge haben ihren Namen von dem Ge- schlechte (adal) , von dem sie ihr Blut erbten. 2 Auch die Lucumonen der Etrurier und die gallischen Eitter waren Erbadel. Die obersten Adelsgeschlechter, die fürstlichen Fami- lien suchte die alte Sage überdem mit besonderer Vorliebe von unmittelbarer Erzeugung der Götter oder der Heroen abzuleiten und durch die Annahme göttlichen Blutes zu ehren. Diesem Uradel kommt gewöhnlich das Priesterthum und die Wissen- schaft von den göttlichen Dingen, ihm auch die Kunde und Pflege des Eechtes zu. Die höhern obrigkeitlichen Aemter werden aus ihm vorzugsweise bestellt: und in der Kriegsver- fassung nehmen die Edeln durchweg einen hohen Kang ein. Dagegen sind ihnen die bürgerlichen Gewerbe meistens ver- schlossen. Gewöhnlich haben sie hörige Leute in ihrem Schutze und in ihrem Dienste, und sind auch im Privatrecht durch ihre Gutsherrschaft ausgezeichnet. Sie lieben es auf Bergen zu wohnen, und suchen auch in den Städten die Höhen aus.

Diese charakteristischen Züge finden sich mit geringen Abweichungen in der historischen Jugendzeit der europäischen Völker wieder. Je weiter wir in die Vorzeit hinauf steigen, desto ähnlicher erscheint diese religiös-politische Institution.

3. Die Gemeinfreien bilden bei Griechen, Römern und Germanen den eigentlichen Kern des Demos und des Volkes. Ihnen gebührt das Volks- und Landrecht in vollem Masze. Auf ihnen vornehmlich beruht die Kraft des States. Der Adel

2 Sehr gut darüber Schmitt henner Statsrecht. S. 31. u. 103.

Siebentes CapiteL Die Stände. 105

hebt sich über sie empor, aber nicht wie die höhere indische Kaste über die niedere als ein grundverschiedenes Wesen, son- dern als ein wesentlich in demselben Volksrechte wurzelnder und mit den Freien verbundener, wenn auch hervorragender und ausgezeichneter Stand.

Die Gemeinfreien sind in der ältesten Zeit regelmäszig Grundeigentümer und Ackerbauer. Als solche zeigen sich die Geomoren in der athenischen Verfassung zu Theseus Zeit, die gewöhnlichen Spart iaten, die römischen Plebejer, die Freien aller germanischen Stämme, bei denen freie Ge- burt und freies Gut einer besondern Achtung in dem Rechts- organismus genieszen. Auch mit dem Handel, obwohl anfangs weniger gerne, beschäftigen sich die Freien. Ihre Lebensweise ist somit der der Visas wohl zu vergleichen. Aber durch die Waffenfähigkeit sie voraus bilden die Massen des Fuszvolks werden sie in öffentlicher Ehre höher als diese gehoben, und in der Gemeinde üben sie auch je nach der besondern Verfassung politische Eechte aus.

Als Freie sind sie zwar der Obrigkeit unterthan, aber nicht einem besondern Herrn zugehörig. Schutzherrschaft kommt ihnen anfangs wohl nicht zu, aber Eigene können sie besitzen. Auch ihr Stand ist ein Erbstand. In der Eegel wird man als Freier (ingenuus) geboren.

4. Endlich werden wir mancherlei Spuren eines freilich schon in diesen ersten Zeiten offenbar in der Auflösung be- griffenen und daher etwas räthselhaften Standes von hörigen Leuten gewahr, welchem wie den indischen Sudras die niedern Handthierungen des Lebens zukommen. Zuweilen besteht er ebenfalls aus unterworfenen Landbewohnern, aber durchweg nur von derselben Rasse , wie die Sieger , zuweilen kommen die armen Leute durch spätem Herrendruck und wirtschaftliche Verschuldung in die dauernde Abhängigkeit. Dahin gehören die Pelaten und Theten in Griechenland, die dienten der Römer, der Gallier, der Britten, dieLiten der Germanen.

106 Zweites Buch. Volk und Land.

Sie haben einen Mund- und Schutzherrn, bei den Griechen Prostates, bei den Eömern P a t r o n u s genannt. Sie gehören zum Volke und sind nicht den Eigenen gleich zu stellen ; aber ihre Freiheit, ihre Kechte, der Werth, der ihnen beigemessen wird, sind geringer als die des ächten Freien. Von ihnen werden auch vornehmlich die Handwerke betrieben. Frei- gelassene Knechte gelangen meist in ihren Stand.

Die Geschichte dieser Stände ist mit der Geschichte der einzelnen Staten aufs engste verwoben: die Veränderungen und Umwälzungen in den Verfassungen sind sehr häufig nur die Wirkung und der Ausdruck der vorher oft wenig bemerkten innern Umgestaltung der ständischen Verhältnisse und Begriffe. Aber fast überall haben sich die Erbstände später in Berufs- stände verwandelt. Einige der politisch wichtigsten und interessantesten Momente sind im einzelnen hervorzuheben.

Achtes Capitel.

I. Der Klerus.

Unter den mittelalterlichen Ständen nahm der Klerus die oberste Stellung ein. Nach der strengen kirchlichen Lehre freilich war der Klerus überhaupt kein Volksstand. Er war ein ordo ecclesiasticus, nicht ein ordo civilis. Der Stat wurde als eine blosze Laienordnung betrachtet ? über welche die Gott geweihte Priesterschaft erhaben war. Nicht wie die Brahmanen beriefen sich die christlichen Priester auf ihre be- sondere göttliche Abstammung, denn sie pflanzten nicht durch die Ehe ihren Stand fort, wohl aber auf eine göttliche In- stitution. Sie sind von dem heiligen Geist erfüllt und durch die Weihen der Kirche geheiligt. Der niedrigste und sogar der verdorbenste Kleriker steht dennoch in Folge seines Standes hoch über dem vornehmsten und selbst dem tugendhaftesten

Achtes Capitel. Der Klerus. 107

Laien, wie das Gold über dem Eisen, wie der Geist über dem Leib.

Die Ideale des Klerus waren den Idealen des Brahmanen- thums nahe verwandt. Nur verzichtete der christliche Klerus nicht auf die Herrschaft im State, wie die Brahmanen es ge- than hatten, und war weniger als diese geneigt, sich der Stats- ordnung zu fügen. Nach der consequenten Lehre der mittel- alterlichen Kirche haben die Statsge setze für die Geistlich- keit keine verbindliche Kraft ; es hängt von ihrer Prüfung und ihrem Urtheil ab, zu bestimmen, ob und in welchem Umfang sie denselben willfährig gehorche. Sobald die behaupteten geistlichen Vorzugsrechte oder die Interessen der Kirche ge- fährdet erschienen, so verweigerte der Klerus jede Folge, ge- stützt auf das Bibelwort, dasz man „Gott mehr als den Men- schen gehorchen müsse", und auf seine geistliche Erhabenheit, dagegen verlangte er von der weltlichen Obrigkeit , dasz sie ohne Widerrede den Kirchengesetzen folge und mit ihrer Macht dieselben durchführe.

Auch der weltlichen Gerichtsbarkeit entzog sich der christliche Klerus , sowohl in bürgerlichen Streitigkeiten als im Strafrecht. Die klerikalen Ansprüche ertragen nicht die Ueberordnung der weltlichen Kichter, ,,der Schafe über die Hirten". Zum Kriegsdienste waren die Geistlichen nicht pflich- tig, weil zu ihrem religiösen Beruf die eisernen Waffen nicht paszten. Aber auch die Steuerpflicht lehnten sie von sich ab. Bei jeder Gelegenheit beriefen sie sich auf ihre Immunitäten, um jede statliche Last von sich abzuwälzen. Als römische Geistlichkeit verachteten sie die nationale Beschränktheit. Ihr Bürgerrecht gehörte keinem besonderen Volke, keinem bestimm- ten Lande an, es bestand für sie nur der universelle Verband mit der Christenheit und mit Kom, der Hauptstadt der Welt, dem Sitz der Papste. Das kanonische Kecht war das Gesetz ihres Lebens, nur der Gerichtsbarkeit der Kirche mit ihren milden Censuren wollten sie Kechenschaft schulden.

108 Zweites Buch. Yolk und Land.

Indessen diese Ausscheidung des Klerus aus dem Stats- verband war nicht einmal in der Zeit seiner höchsten Macht durchzuführen. Theils standen ihr geschichtliche Hindernisse im Wege, theils waren damit die Interessen selbst der Geist- lichen nicht völlig zu vereinigen.

Geschichtlich war die christliche Kirche mit ihrem Klerus innerhalb des alten, alle Verhältnisse gemeinsam beherr- schenden römischen "Weltreichs entstanden und grosz ge- worden, und die römischen Statsgewalten verzichteten nicht auf ihre Autorität. Sie verlangten von allen Bewohnern des heiligen Keichs Gehorsam gegen die Gesetze, die kaiserliche Eegierung und die kaiserlichen Gerichte. Die Kleriker konnten sich höchstens von den Kaisern einzelne Privilegien erwerben. Ihre Unterthänigkeit war zweifellos.

Auch die fränkische Monarchie hielt noch fest an der Unterordnung der Bischöfe und Priester unter die Hoheit des Königs, die Eeichsgesetze und die Keichsgerichte , obwohl die Statsmacht beschränkter und die Selbständigkeit der Kirche gröszer geworden war. Nur ganz allmählich breiteten sich unter den germanischen Fürsten die kirchlichen Immunitäten aus, anfangs eher aus frommer Gunst und Gnade der Könige, als kraft des anerkannten Kirchenrechts, das nun anfing, die eigene Autorität in stolzem Aufschwung zu erheben. Nur Schritt vor Schritt und nicht ohne Widerspruch und Wider- stand wurden die kirchlichen Bechte erweitert, nicht allent- halben in gleicher Ausdehnung.

Aber auch die Interessen verbanden den Klerus aufs engste mit der Laienordnung und dem Stat. Das Oberhaupt der Kirche selbst, der römische Papst, erwarb während des Mittelalters eine statliche Herrschaft über das sogenannte Patri- monium Petri. Es entstand zum Theil durch königliche Ver- leihung zum Theil durch Vergabung anderer Fürsten, theil- weise sogar durch Eroberung ein von Geistlichen regierter Kirchenstat. Die höchste geistliche Autorität war daher in

Achtes Capitel. Der Klerus. 109

Eom und dem römischen Gebiet mit der weltlichen Souverä- netät verbunden. Die Päpste waren nicht blosz als oberste Bischöfe berufen, die Interessen der Kirche auch dem Kaiser und den Staten gegenüber zu vertreten, sondern zugleich als vornehmste italiänische Fürsten in die Interessen der italiäni- schen Politik tief verflochten. Es war das freilich, nach dem Urtheile Machiovellis, das Unglück Italiens. Nicht mächtig genug, Italien unter ihrer Statshoheit zu einigen, waren sie stark genug, die Spaltungen der Parteien zu unterhalten. Sie ver- mochten nicht, Italien vor dem Einbruch feindlicher Heere zu schützen, aber sie waren immer bereit, fremde Mächte zu ihrem Schutze herbei zu rufen, wenn ihre Politik dieser Hilfe be- durfte. Sie erhoben Kom wieder zur vornehmsten Stadt der Christenheit und schmückten Eom mit Kirchen und Kunst- werken, aber die begabten Kömer blieben unter ihrer kirch- lichen Regierung und Zucht in weltlichen Tugenden und Vor- zügen hinter den Bürgern der italiänischen Kepubliken zurück. Der Kirchenstat ward nicht zum Vorbilde, sondern zum Zerr- bilde der civilisirten Statenbildung. Die moderne Welt weisz nun, dasz das geistliche Kegiment untauglich ist für die ge- sunde Statsleitung und die Kömer selber hoffen nur von der Säcularisation des Kirchenstats Verbesserung ihrer politisch verkommenen Zustände.

Nächst Italien hat Deutschland voraus die politische Macht der geistlichen Fürsten erhoben. Schon in der fränki- schen Monarchie nahmen die Bischöfe eine hervorragende Stellung ein auf den fränkischen Reichstagen, bald in Gemein- schaft mit den weltlichen Groszen, insbesondere den Gaugrafen, als Versammlung der Majores oder Senior es, bald ohne diese in kirchlichen Versammlungen.

Die Mischung mit weltlicher Macht und Würde trat aber nirgends entschiedener zu Tage, als in der Verfassung des deutschen Keichs. Da finden wir unter den sieben Kur- fürsten drei geistliche, die Erzbischöfe von Mainz, Cöln

110 Zweites Buch. Volk und Land.

und Trier, und bei den Königswahlen geht der Kurfürst von Mainz als Erzkanzler für Deutschland voraus mit seiner Stimme. In dem Kurcollegium nehmen sie die ersten Plätze ein. Zu- gleich sind sie Landesfürsten und ihre Länder als Kurländer erlangen am frühesten beinahe souveräne Selbständigkeit.

Daneben gibt es eine grosze Anzahl von Erzbischöfen, Bischöfen und Aebten, welche in einem bestimmten Ge- biete die Kechte der Landeshoheit erworben haben und auf den Keichstagen Sitz und Stimme haben, entweder als wirkliche Keichsfürsten eine Virilstimme, wie z. B. die Erzbischöfe von Bremen, Magdeburg und Salzburg, die Bischöfe von Würz- burg, Augsburg, Basel u. s. f. oder doch an einer Curiatstimme einen Antheil haben, indem sie auf den sogenannten Prälaten- bänken, die hinwieder den Grafenbänken entsprechen, zu- sammensitzen. In der Heerschildsordnung der Kechtsbücher nehmen die geistlichen Fürsten den nächsten Kang nach dem Könige ein, dem der erste Heerschild zukommt. Die welt- lichen Fürsten, obwohl in der Keichsverfassung jenen wesent- lich gleichgestellt, haben erst den dritten Heerschild, weil sie unbedenklich Vasallen jener werden, aber es nicht schicklich wäre, dasz der geistliche Fürst zum Vasallen des weltlichen Fürsten würde. Vergeblich wurde in dem groszen Investitur- Streit zwischen den Päpsten und den sächsischen Kaisern der Vorschlag gemacht, die Kirchenfürsten sollten auf das welt- liche Fürstenthum verzichten und nur der Kirche ihr Leben widmen. Die deutschen geistlichen Fürsten wiesen diese Zu- muthung selbst des Papstes mit Unwillen zurück. Damit aber war auch in Deutschland die Verbindung der geistlichen Aemter mit den statlichen Aemtern und politischen Interessen gegeben. Es war unmöglich, den herrschenden Klerus auszer- halb des States zu stellen, wenn er im State weltliche Herr- schaft üben wollte.

Wie in der Eeichsverfassung so war es auch in der Landes- verfassung. Auch da bildeten die dem Lande angehörigen

Achtes Capitel, Der Klerus. 111

Prälaten (Bischöfe, Aebte, Stiftspröpste, geistliche Ordens- meister) einen besonderen zu den Landtagen berechtigten Stand, sei es indem sie eine eigene Prälatencurie besetzten oder ge- meinsam mit dem Adel (Herren und Kitterschaft) tagten, und besaszen auf ihren Grundherrschaften eine mehr oder weniger ausgedehnte Gerichtsbarkeit. Die grundherrliche Stellung war regelmäszig die Grundlage ihrer landständischen Kechte. Wenn sie daher auch ihre persönliche Freiheit von Kriegspflicht und Steuer behaupten konnten, für ihre Ministerialen und bäuer- lichen Hintersassen, welche durchweg Laien waren, konnten sie doch nicht dieselben Ansprüche erheben. Das Land bedurfte ihrer Steuern, und der Landesfürst als Lehensherr verlangte auch von ihnen die Stellung von reisigen Keitern.

Ein Vorzug der geistlichen Aristokratie vor der weltlichen war es, dasz sie nicht an das ererbte Geblüt gebunden war, sondern auf individueller Bildung und Wahl beruhte. Der Sohn eines Handwerkers konnte Papst, der Sohn eines Bauern Erzbischof werden. '

Mit der Zeit aber wurde der klerikale Vorrang und die aristokratische Macht der geistlichen Fürsten und Prälaten er- schüttert und zu Fall gebracht. Einen furchtbaren Stosz erlitt die verweltlichte Kirche durch die deutsche Kirchenreformation des sechszehnten Jahrhunderts. Soweit der Protestantismus sich ausbreitete, wurden die geistlichen Fürstenthümer säcula- risirt, die bischöflichen Aemter beseitigt, die Klöster aufge- hoben, die geistlichen Orden aufgelöst. Vor der Eeformation saszen auf den deutschen Keichstagen drei geistliche Kurfürsten, drei andere Erzbischöfe und einunddreiszig Bischöfe. Nach dem westphälischen Frieden ist dre Zahl vermindert auf drei Kur-

1 Papst Gregor VII., selber der Sohn eines Zimmermanns, hat das Princip klar ausgesprochen: „Rom ist grosz geworden unter den Heiden und unter den Christen, quod non tarn generis aut patriae nobilitatem, quam animi ex corporis virtutes perpendendas adjudicaverit. " Ygl, Laurent £tud. sur l'hist. VII. S. 335.

112 Zweites Buch. Volk und Land.

fürsten, einen Erzbischof (Salzburg) und zwanzig Bischöfe. Es gibt nur noch eine schwäbische und eine rheinische Prälaten- bank. Der ganze Norden und ein guter Theil des Südens hat sich der geistlichen Herrschaft entwunden.

Die Säcularisation war aber auch in den katholisch ge- bliebenen Ländern nur vertagt, nicht beseitigt, Den zweiten Stosz der Revolutionskämpfe zu Anfang unsers Jahrhunderts hielt die geistliche Herrschaft nirgends in Deutschland aus. Auch die linksrheinischen Kurfürsten wurden von dem Sturme weggeblasen und ihre Länder dem französischen State ein- verleibt. Die Länder der übrigen geistlichen Fürsten wurden zur Entschädigung verwendet für weltliche Dynastien und mit deren Ländern verbunden. Mit dem Untergang des Eeichs ver- loren die geistlichen Herren ihre reichsständische Stellung und die Prälaten konnten nur in einzelnen Ländern eine unsichere Stellung in den verkommenen Landständen behaupten. Die bischöfliche Würde wurde nun seit vielen Jahrhunderten zuerst wieder ein rein -kirchlich es Amt, ohne statliche Macht. Die grundherrliche Gerichtsbarkeit ging rasch ebenso ihrem Untergang zu, wie vorher die geistliche Landeshoheit.

Aber indem der katholische Klerus so seine weltliche Hoheit und Macht einbüszte, konnte er nicht etwa nun das Ideal des Mittelalters realisiren. Das Selbstgefühl des modernen Stats duldete keine Ueberordnung mehr der Geistlichen über die Laien, und verlangte nun umgekehrt Gehorsam gegen die Gesetze, und die verfassungsmäszigen Statsgewalten von Jeder- mann. Die Zeit der kirchlichen Immunitäten und des kirch- lichen Sonderrechts war ebenfalls vorüber. Das gleiche Landes- recht erstreckte sich ohne Unterschied über Geistliche und Laien. Sie alle wurden derselben Gerichtsbarkeit unterworfen.

Eine ähnliche Entwicklung nahm der Klerus in England und in Frankreich. In diesen Ländern hatte die Geistlich- keit niemals eine in dem Grade landesherrliche Stellung er- worben , wie in Deutschland. Das weltliche Statsgefühl war

Neuntes Capitel. Der Adel. A. Der römische Adel. H3

auch der Geistlichkeit gegenüber in dem englischen Parlamente und in dem französischen Königthum stärker vertreten. Aber eine reichsständische Stellung hatte der Klerus in beiden Län- dern ; in England saszen die Bischöfe mit den weltlichen Lords zusammen im Oberhaus ; in Frankreich bildete der Klerus einen besondern, den ersten Reichsstand. Dort wirkte die Reforma- tion, hier die Revolution entscheidend auf die Rechte des Klerus ein. Die mittelalterlichen Immunitäten verschwanden vor der gemeinen und gleichen Rechtspflicht. Als die von Ludwig XYI. berufenen Etats generaux 1789 in Paris zu- sammentraten, da gab der Klerus seine Sonderstellung freiwillig auf und trat noch vor dem Adel in die allgemeine National- versammlung ein, welche nur ein freies Bürgerthum, aber nicht mehr die mittelalterlichen Stände repräsentirte.

Damit aber war der mittelalterliche Stand des Klerus überall aufgelöst. Die grosze Scheidung des Klerus und der Laien hatte ihre Wirksamkeit verloren. Der Stat erkannte sie für seine Rechtsordnung nicht mehr an. Die Masse der Geistlichen ging in die groszen Bürgerclassen über, die wenigen hohen Würdenträger der Kirche vermischten sich mit der weltlichen Aristokratie.

Neuntes Capitel.

II. Der Adel. A. Der römische Adel.

In Griechenland verlor der Adel frühe seine politische Bedeutung. In den kleinen Statsverhältnissen, die sich selten über die Interessen einer Stadt und ihrer Umgebung erstreck- ten, fand er nicht Raum genug um seine Wurzeln auszubreiten. Die feine Bildung, die den Bürgern gemeinsam war, und die reiche Blüthe des individuellen Geistes in Kunst und Wissen-

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 8

1X4 Zweites Buch. Volk und Land.

schaft, wodurch sich. die Hellenen auszeichneten, gaben ihnen wohl das Gefühl einer adeligen Nation im Verhältnis^ zu den Barbaren, lieszen aber einen höher berechtigten Geschlechts- adel in ihrer Mitte nicht bestehen. Nicht allein in den Demo- kratien, sondern selbst in den griechischen Oligarchien büszten die edeln Geschlechter ihre hergebrachten Hechte ein, bevor dieselben zur vollen Blüthe gelangten. Aber viel groszartiger und dauernder ist die Geschichte des römischen Adels. Der aristokratische Charakter ist den Kömern von Anfang an tief eingeprägt, und so lange es eine römische Macht gab, erhielt er sich, obwohl er in verschiedenen Zeiten verschiedene For- men annahm.

Die Bedeutung des alten erblichen Patriciates war voraus eine politische. Schon seine Entstehung wird an die poli- tische Institution des Senats angeknüpft, die patricii gelten als die Nachkommen der ersten patres. l Die Jahrhunderte lang fortgesetzten Kämpfe der Patricier mit der Plebes bezogen sich wieder vornehmlich auf politische Kechte. In dem Privat- rechte dagegen war der Gegensatz der beiden Stände wenig erheblich. Schritt für Schritt muszte die durch stäte frische Zuflüsse anwachsende Plebes mit den alten Geschlechtern um Gewährung höherer politischer Kechte ringen. Nachdem das Königthum durch eine aristokratische Revolution beseitigt wor- den war, hatte die zu groszem Theile aus besiegten Stämmen nach Kom verpflanzte Plebes ihren natürlichen Schutzherrn verloren. Das herrschende Patriciat aber war nicht geneigt, sich mit den Plebejern in die Herrschaft der Kepublik zu theilen. Nur wenn durch ernste Kämpfe die Macht und der feste Entschlusz auch der Plebes bewährt worden war, und nur so weit die dringenden Bedürfnisse des States ein Nach-

1 Vgl. Rubino, Untersuchungen über röm. Statsverfassung S. "185. Die ersten Senatoren werden freilich selber schon Fürsten genannt. Cicero de Rep. II. 8. „In regium consilium delegerat principes, qui appellati sunt patres,"

Neuntes Capitel. Der Adel. A. Der römische Adel. H5

geben erforderten, lieszen sich die Patricier bestimmen, die reife Frucht der Zeit den Plebejern zuzugestehen. Eines nach dem andern erlangten endlich diese, eine eigene Organisation in den Tributcomitien und besondere Vertreter in den Tri- bunen, die Aufnahme vornehmer Plebejer in den Senat, die Befähigung dann auch zu den Statswürden, die Theilnahme an der obersten Gewalt der Magistrate (die consularische Gewalt 311, das Consulat 384, die anfangs den Patriciern vorbehaltene Prätur, bald nachher die Censur 412) und mittelbar so auch einen freiem Zutritt in den Senat. Zu Anfang des fünften Jahrhunderts der Stadt war die politische Gleichberechtigung der Patricier und Plebejer zwar nicht in Form eines abstracten Grundrechtes, wohl aber in den wichtigsten Einrichtungen des States anerkannt. Am längsten hatte das patricische Vorrecht sich mit Bezug auf die Priesterwürden erhalten; indem die Traditionen des heiligen Hechts und der religiösen Wissen- schaft durch Jahrhunderte sorgfältig in dem engen Kreise des Erbadels bewahrt und gepflegt worden waren; bis in der Mitte des fünften Jahrhunderts auch in die Collegien der Pon- tifices und Augurn Abkömmlinge von plebejischen Vorfahren Zutritt erhielten. Nur einige wenige Priesterämter verblieben gleichsam zur Erinnerung an den alten Glauben und das ursprüngliche Statsrecht den Patriciern ausschlieszlich.

Die römische Aristokratie war aber weder während dieser Kämpfe noch in Folge derselben untergegangen: sie hatte nur eine andere Gestalt angenommen. DasPrincip eines Vorrechtes der Geburt, welches indessen auch vordem schon durch die Volkswahlen sehr ermäszigt worden, war nunmehr durchbrochen und groszentheils aufgehoben. Nicht das Blut gab mehr einen ausschlieszlichen Anspruch auf politische Würde und Macht, sondern umgekehrt wem es gelang, das Vertrauen des Volkes zu erwerben und zu den hohen Aemtern der Ke- publik aufzusteigen, der gelangte eben dadurch in die hohe römische Aristokratie hinein, auch wenn plebejisches Blut in

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116 Zweites Buch. Yolk und Land.

seinen Adern flosz. Der Erbadel hatte sich so umgewandelt in einen Adel der Statswürden.

Es gab in Kom auch in den letzten Jahrhunderten der Bepublik und in der Kaiserzeit einen hohen Keichsadel von politischer Natur, die senatorischen Familien. Die alten patricischen Geschlechter, welche indessen zur Zeit von August bis auf 50 Familien ausgestorben waren und nur sehr selten einen Zuwachs erhielten die kaiserlichen Familien waren von Eechts wegen immer patricisch mochten f actisch, wenn auch nicht mehr rechtlich, noch den Kern derselben bilden, indem der alte Glanz des Namens, die herkömmliche Vertraut- heit mit den Statsgeschäften , häufig auch groszes Vermögen und ihre persönlichen Verbindungen ihnen das Ansehen ver- liehen, welchem sie die Aufnahme in den Senat verdankten. Aber auszer ihnen wurde die hohe Aristokratie stets erneuert und erfrischt durch hervorragende Männer, welche als Kriegs- führer, Statsmänner, Eedner, Rechtsgelehrte oder in anderer Weise sich auszeichneten, und denen in den Zeiten der Be- publik öffentliche Aemter, welche die Aufnahme in die Listen der Senatoren begründeten, übertragen, oder die später von den Kaisern in den Senat berufen wurden. Das politische Ver- dienst und die nationale Auszeichnung waren somit zum Princip des spätem römischen Adels erhoben worden, in welchem selbst in den Zeiten der Entartung und des Verfalls noch immer ein Rest der alten Freiheit und Würde erhalten blieb.

Die berühmte Rede vonMäcenas über den Principat ist ein vortrefflicher Ausdruck der Grundgedanken, welche römische Statsmänner von der Aristokratie in der Kaiserzeit hatten. Der Freund des Kaisers gibt demselben den Bath, den Senat, in den die Wirren der Bürgerkriege viele untaugliche Männer hineingebracht, zu reinigen und durch neue sorgfältige Er- nennungen zu ergänzen. Er empfiehlt, keinen Senator um seiner Armuth willen auszustoszen, sondern eher unvermögliche, aber taugliche Männer mit dem nöthigen Vermögen auszustatten.

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. H7

Bei der Auswahl der neuen Senatoren möge der Kaiser nicht blosz auf Italien, sondern ebenso auf die Bundesgenossen und selbst die Provincialen Bücksicht nehmen, und je die Ersten aus allen Völkern des Weltreiches, die durch Ge- schlecht, Tugend oder Beichthum als die Führer des Volkes gelten, um sich her versammeln, und ihnen die Theilnahme an der Sorge für den Stat und an der Weltherrschaft eröffnen. Je mehr angesehene Männer so in Kom zum Senate versam- melt werden, desto besser werde für das Bedürfnisz des States und die Treue der Provinzen gesorgt sein.

Als eine niedere Aristokratie bezeichnet er die vornehm- lich durch Eeichthum ausgezeichnete Kitterschaft, welche in ähnlicher Weise aus den angesehenen Männern von zweitem Bange zu bilden sei. Damit auch die Söhne der Senatoren fähig werden, den Bang der Väter später einzunehmen, fordert er eine ihres Standes würdige Erziehung in den Wissenschaften und den Waffen.2

Zehntes Capitel.

B. Der französische Adel.

Die Geschichte des französischen Adels ist sehr wechsel- reich. Wir können folgende Perioden unterscheiden, von denen jede ihren besondern Charakter hat.

1. Der Merowingischen Zeit (481 bis 752) gehört die Begründung des französischen Adels an. Auffallender Weise sind die Spuren eines alten fränkischen Geschlechts- adels nur unsicher. Dagegen bildete sich damals ein persön- licher Treuadel aus, welcher seine Entstehung vorzugsweise dem Verhältnisse zu dem Könige zu verdanken hatte. Es mochten zwar die alten Adelsgeschlechter auch hier vorzugs-

2 Dio Cass. 52.

Hg Zweites Buch. Volk und Land.

weise bedacht worden sein. Aber auszer ihnen wurden auch andere freie Franken und Germanen von dem Könige unter die A n t r u s t i o n e n aufgenommen , und selbst Komanen er- hielten als »Gäste des Königs" (convivae regis) ähnlichen Kang. Es sind sogar die Beispiele nicht ganz selten, dasz Personen von ganz niederer Geburt, vormalige Sklaven und Hörige, zu den höchsten Aemtern im Keiche und daher unter die Magnaten emporstiegen.

Dieser Adel war somit aus sehr gemischten Bestandtheilen erwachsen. Er war mindestens in seiner Mehrheit, wie Schaff- ner 1 näher nachgewiesen hat, kein Erb- sondern ein persön- licher Dienstadel, dem Könige durch den Eid der Treue verbunden. Das erhöhte Wergeid, dessen er genosz, war ein Zeichen und eine Folge der höheren Werthschätzung, die man seinen Gliedern beilegte. Im übrigen hatte er wenig privat- rechtliche Vorzüge. Politisch aber war er ausgezeichnet theils durch die Verbindung der Eigenschaft eines Antrustio mit den hohen Eeichsämtern, Hofstellen und kirchlichen Würden, theils durch die Theilnahme an dem Käthe des Königs und die her- vorragende Stellung auf den Nationalversammlungen und Keichs- tagen. Komanische und germanische Elemente sind in dieser Adelsinstitution ebenso gemischt, wie in den Personen, welche zu diesem Adel gerechnet wurden.

Indessen war der germanische Charakter doch überwiegend, und kam immer mehr zur Herrschaft. Diesem Charakter ge- hört einerseits die persönliche Treuverbindung mit dem Könige (trustis dominica) an, welche sich durch die Familiensitte und dem Familieninteresse gemäsz fortpflanzte, und sich weiter auf die Vasallen anderer Herren (Seniores) verzweigte, andrerseits die Ausstattung der Magnaten mit königlichen Beneficien, mei- stens in Grundstücken bestehend, welche der König ihnen ver- lieh. In diesen beiden Beziehungen vornehmlich wurzelt das spätere Lehenswesen.

1 Geschichte der Kechtsverfassung Frankreichs I. S. 217 fg.

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. \\Q

2. Die Periode der Karolinger (752—987).

Der Wechsel der königlichen Dynastie war groszentheils das Werk einer Adelsrevolution. Die karolingischen Haus- meier wuszten sich als Stellvertreter des Königs und Herzoge an die Spitze des mächtigen und kriegerischen Adels zu- setzen. Als Führer desselben begünstigten sie das Streben der Edeln, sich in ihrem Grundbesitze zu befestigen. Mit ihrer Hülfe verdrängten* sie dann die entarteten Scheinkönige.

Diese Bewegung hatte, worauf Guizot2 aufmerksam ge- macht, vornehmlich in dem nördlichen Theile von Frankreich, in welchem die Germanen vorherrschten, und welcher eben deszhalb im Gegensatze zu dem „romanischen Frankreich" des Südens „deutsches Frankreich" (Francia Teutonica) genannt wurde, in Austrasien nachhaltige Unterstützung gefunden. Neu- strien, wo auch der Adel stärker mit Komanen gemischt war, wurde von dem Impulse fortgerissen. Aus diesem Grunde er- hielt der französische Adel nun ein bestimmtes germanisches Gepräge.

Der Amts- und Dienstadel wurde mehr und mehr Lehens- adel der Barone, Senior es und Vasallen, von denen jeder in seinem Kreise sich als selbständigen Herrn fühlen lernte. Die Zeit der Karolinger ist die Zeit des Ueberganges aus der königlichen Beamtenhierarchie in die selbst- herrliche Herrschaft der Seigneurs, und auch die Erblichkeit des Adels kam allmählich wieder auf, in Ver- bindung mit der zugestandenen Erblichkeit der Beneficien.

3. Die höchste Ausbildung und Macht erlangte und besasz der neue Lehensadel in der dritten Periode der Kapetinger (987 bis auf Ludwig den Heiligen 1226).

Karl der Grosze hatte noch die Einheit des States auf- recht zu halten und die königliche Macht zu stärken gewuszt. Aber unter seinen Nachfolgern zerfiel die fränkische Welt-

2 Essais sur l'histoire France. S. 52 ff.

120 Zweites Buch. Volk und Land.

monarchie in mehrere von einander unabhängige Staten, und in dem französischen Reiche selbst nahm die Selbständigkeit der Aemter und der Lehen fortwährend zu. Schon Karl der Kahle war genöthigt3 die Erblichkeit der Grafenämter und der Reichslehen für die Söhne der Vasallen anzuer- kennen, und den nämlichen Grundsatz auch auf die Söhne der Aftervasallen auszudehnen. In kurzem wurde auch den Seiten- verwandten ein Erbrecht in die Lehen zugestanden.

Nur in der Kirche erhielt sich das Princip des indi- viduellen Amtsadels, im State verwandelte sich derselbe in einen feudalen Erbadel. Ueber ganz Frankreich breitete sich so in mannichfaltigen Abstufungen und Formen die Herr- schaft erblicher Seigneurs aus. Ein Theil derselben besasz die volle obrigkeitliche Gewalt in allen wesentlichen Beziehungen zu eigenem Rechte, und erkannte nur eine sehr beschränkte oberlehensherrliche Gewalt des Königs über sich an. Diese Seigneurs können als der hohe Adel bezeichnet werden. Zu ihnen gehören die Herzoge , die Grafen , die Vicomtes , die Barone: die meisten unter ihnen waren Kronvasallen, einige auch Vasallen der Herzoge und Grafen, nur sehr wenige Al- lodialherren ihres Gebietes. Die hohe Gerichtsbarkeit gehörte ihnen zu, sie standen an der Spitze der Militärverfassung, die nun ganz ihres früheren volksmäszigen Charakters entkleidet zu Lehen- und Ritterdienst geworden war. Was sie hinwieder dem Könige zu Kriegsdiensten zu leisten hatten, war genau begränzt . und normirt. Der König durfte nur mit ihrer Zu- stimmung Gesetze erlassen, nur so weit sie es verstatteten, Steuern erheben. In derselben Weise erlieszen sie in ihrem Gebiete Landesordnungen, und verlegten Steuern mit Zustimm- ung und Einwilligung ihrer Vasallen. Wer in ihrer Herrschaft wohnte , muszte ihnen Treue (fi des) , die Vasallen überdem Hulde (homagium) schwören (foy et hommage) ; er war ihr

3 Capit. Caroli V. a. 877. P. III. 542. c. 3.

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 121

Unter than. Die politische Statshoheit war so zerklüftet in eine grosze Anzahl mit privatrechtlichen Elementen versetzter, nur sehr lose verbundener Erbherrschaften. Der hohe Adel war nicht mehr ein hervorragender Stand des Volkes, noch war sein Wesen in der Treue und den Diensten zu erkennen, die er dem Könige schuldete. Seine Hauptbedeutung war viel- mehr die, dasz er zu beschränkten gröszeren und kleinen Lehens- fürsten und Landesherrn aufgestiegen war. Er hatte dieSou- veränetät erlangt.4

Dieselben Erscheinungen wiederholten sich in den untern Stufen des nie dem Adels. Dieser war vorzüglich aus zwei Wurzeln erwachsen, einmal aus dem ritterlichen Berufe, so- dann aus dem Hofdienste. Anfänglich war es der Beruf, wel- cher die Ehre derer hob, die sich ihm weihten, und als Bitter oder Dienstleute einem Herrn zu besonderer Treue verbunden wurden. Waren die erstem groszentheils Freie , so fanden sich dagegen unter den Ministerialen auch viele ursprünglich hörige Leute.

Aber auch dieser Berufsadel wurde mit der Zeit zu einem erblichen Lehensadel. Die Ritter bekamen Lehengüter, die sich in ihrem Geschlechte vererbten, die Dienstleute wur- den mit Hoflehen ausgestattet. Als begüterte Männer (riches oms) unterschieden sie sich von der Rotüre, als Vasal- len standen sie ihren Seigneurs nahe. Wie diese von alters- her. Tafelgenossen des Königs (convivae regis) waren, so galt es im Mittelalter als ein Grundsatz des Feudalrechts: die Ritter sind Tafelgenossen der Herren. 5 Ihre Kriegs- und Hof- dienste waren mit den Gütern verbunden, wie die Hoheitsrechte der Seigneurs mit den Grundherrschaften. Auch ihnen kam

4 Es ist das der alte Sprachgebrauch. Beaumanoir XXXIV. 41: „Qascuns barons est souverains en sa baronnie. Yoirs est que li rois est souvrains par desor tous. "

5 Loysel, Inst. Coutum. I. 1. 14: „Nul ne doit seoir a la table du Baron s'il n'est Chevalier."

122 Zweites Buch, Volk und Land.

eine zwar beschränktere Grundherrlichkeit zu, sie waren gewöhnlich hinwieder niedere Gerichtsherren über die Unter- thanen ihres Lehensherrn, welche durch sie mit demselben ver- mittelt wurden. Ihr Stand schlosz sich mehr und mehr ab. Und war derselbe ursprünglich eine Folge des Berufes , so wurde nun die ritterbürtige Herkunft und die standesmäszige Erziehung die regelmäszige Voraussetzung auch der Ritter- schaft. Mit Rücksicht auf ihr Geschlecht wurden die neuen Adeligen nun gentils hommes genannt. Die Abstammung allein freilich machte den Sohn nicht zum Ritter,6 aber wer nicht von einem rittermäszigen Vater stammte auf die Mutter wurde nicht gesehen konnte in der Regel auch nicht Ritter werden. Nur dem Könige blieb es vorbehalten, in den Adel- stand zu erheben. 7 Indessen war die Verbindung dieses Adels mit dem Besitze eines Lehens früher so enge, dasz der Rotu- rier , welcher ein Lehensgut erkaufte und darauf lebte , um seines Gutes willen zum franc-homme wurde, und sein Enkel, der ihm in demselben nachfolgte, in jeder Beziehung zu den gentils-hommes gehörte. 8 Daneben freilich entstand dann ein freies Ritterthum ohne Lehensbesitz, das durch Geburt, Erziehung und Beruf der ritterlichen Ehre theilhaftig wurde. Auch unter diesem niedern Adel gab es mancherlei Ab- stufungen, von den vavasseurs oder bas sires aufwärts zu den Vigiäers (vicarii), die besonders im Süden häufig waren, und öfters eine mittlere Gerichtsbarkeit besaszen, den Chatelains, von denen einzelne den Baronen nahe kamen, und den Yicom- tes, von denen ein Theil zu den Baronen gehörte, ein anderer Theil aber im Lehensdienste einzelner Grafen eine untergeord- nete Stellung hatten.

6 Das französische Rechtssprüchwort : „Nul ne nait Chevalier" bei Loysel, Inst. Coutum. I. 1.

7 Loysel, Inst. Coutum. I. 1. 12.: „Nul ne peut anoblir que leRoy," 13.: „Le moyen d'etre anobli sans Lettres, est d'etre fait Chevalier."

s Schaffner a. a. 0. IL S. 160.

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 123

Die Mannichfaltigkeit der verschiedenen Rangstufen und Rechte ist zwar überaus grosz und im Einzelnen verwirrend. Aber der Grundcharakter ist überall der des Lehenswesens.

4. In der vierten Periode, von Ludwig dem Heiligen (1226) bis zur französischen Revolution (1789) sehen wir eine totale Umgestaltung des Adels sich vollziehen.

In der ersten Zeit war es ein Kampf des Königthums mit dem Adel um die Herrschaft. Die Könige vertraten in dem- selben die mit neuer Stärke erwachende Nationaleinheit und das wieder belebte Statsbewusztsein. In diesem Kampfe kamen die Juristen, welche die Grundsätze des römischenRechts verfochten und neuerdings zur Anwendung brachten, den Königen zu Hülfe. In dem königlichen Gerichtshofe, dem Parlament, erhielten ihre Lehren ein mächtiges Organ. Das Volk, vor- nehmlich die Einwohner der Städte, obwohl nur selten ein- greifend, unterstützte dieselben mittelbar.

Ein neues königliches Beamtensystem, unabhängig von dem Lehens verband, wurde nach und nach eingeführt. B e- soldete königliche Truppen dienten ohne Beschränkung und Vorbehalt der königlichen Macht. Die groszen Herzog- thümer und Grafschaften wurden eine nach der andern, bald durch die Erbfolge, bald durch Vertrag, oft durch kriegerische Gewalt mit der Krone vereinigt, und so die entäuszerten Hoheitsrechte wieder concentrirt. , So wurde die selbstän- dige Herrschaft des Adels gebrochen. Durch Lud- wig XL (1461 1493) wurde dieser Sieg der königlichen Souveränetät über die der Seigneurs vollendet.

Der Adel hatte nur Bruchstücke seiner früheren Landes- hoheit in die folgenden Jahrhunderte hinüber gerettet. Nur als Gouverneure in einzelnen Provinzen, nicht mehr als Landesherren vermochten sich die Groszen zu halten. Der Adel war nun zu einem bevorzugten Stande von Unterthanen geworden. Die Auszeichnungen, deren er theilhaft war, nahmen mehr und mehr den Charakter von Privilegien an, die viel-

124 Zweites Buch. Yolk und Land.

fältig mit den neuen Begriffen und Meinungen in Confüct ge- riethen und gehässig wurden. 9> Wohl gab es auch später noch Kämpfe zwischen dem Könige und dem Adel, aber sie waren von ganz anderer Art als vordem. Es waren das nun Kämpfe der politischen und religiösen, häufig auch bloszer Hof- parteien, an deren Spitze gewöhnlich Adeligestanden. Woll- ten Adelige zu Einflusz und Macht gelangen, so war das da- mals nur im Dienste des Königs möglich. Die Theil- nahme des Adels an dem National rathe war, weil dieser selbst nicht zu fester und regelmäsziger Gestaltung kam, nicht erheblich. Der alte Lehensadel wurde so in einen bloszen Hofadel verwandelt. Sein Wesen bestand eher in äuszer- lichem Eang und Ehren, als in politischen Rechten.

Am höchsten standen die Pairs de France, anfänglich XII, sechs geistliche Herren, sechs weltliche Kronvasallen und später durch die königlichen Prinzen und eine Anzahl anderer weltlicher Groszen vermehrt. Die Pairschaft war erblich. Freier Zutritt zu dem Könige und zu dem Parlament in Paris, von dem sie allein zur Verantwortung gezogen werden durften, zeichnete sie aus. Bei der Krönung der Könige trugen sie die Insignien der königlichen Gewalt.

Auf die Pairs folgten in der Rangordnung die Herzoge, die Marquis, die Grafen, die Fürsten, Barone, Yi- comtes, Chatelains. Titel und Wappen waren die äuszern

9 Tocquevüle (l'ancien regime) hat ausgeführt, wie sehr die Auf- hebung der politischen Rechte des Adels und daneben die Fortdauer der ökonomischen Vorrechte desselben zusammenwirkten, um den allgemeinen Volkshasz gegen den Adel zu reizen. So lange die Herren und Ritter noch die Gerichtsbarkeit zu besorgen hatten und für die öffentlichen Bedürfnisse besonders thätig waren, begriff man ihre Befreiung von den Statssteuern und ihre Bezüge von Grund- und Personalgefällen. Aber seitdem die königliche Beamtung die ganze öffentliche Verwaltung und die Rechtspflege übernommen hatte, und der Adel ebenso gehorchen muszte, wie die Bürger und die Bauern, erschienen den Leuten jene ökonomischen Rechte desselben als ungerechte Privilegien.

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 125

Kennzeichen des Banges. Dann folgte der niedere Adel der Ecuyers und der einfachen Gentilshommes.

In dem alten Adel war die Geburt zunächst entschei- dend, die Verbindung mit Grundherrschaft aber daneben von Einflusz. Dem alten Adel trat nun aber ein neuer an die Seite, der vornehmlich von königlicher Verleihung abgeleitet wurde. Dahin gehörte voraus der Adel, der mit der Ernennung zu höhern Civil- und Militärämtern ver- bunden war, vorzüglich der Parlamentsadel der Eäthe an den souveränen Gerichtshöfen (noblesse de robe). Diese Stellen waren nun nicht mehr wie in der Lehensverfassung an den Boden geknüpft , noch erbliche Eamilienrechte , und es erhielt daher dieser Adel fortwährend neue individuelle Zuflüsse. Ihm verwandt war der Adel der Doctoren der Eechte (milites litterati, legales), der einzige, der nicht von der königlichen Gunst ertheilt wurde, sondern auf wissenschaftlicher Auszeich- nung beruhte.

Einen schlimmeren Bestandtheil erhielt der Adel in der groszen Zahl derer, welche durch Adelsbriefe, häufig blosz um der Taxe willen, welche dafür bezahlt werden muszte, nicht selten auch zur Belohnung für Dienste, die nicht immer ehrenvoll waren, in den erblichen Adelsstand erhoben wurden10 (noblesse par lettres).

5. Die kurze aber gewaltig eingreifende Zeit der fran- zösischen Kevolution (1789 bis 1799) zerstörte das ganze In- stitut des Adels. Sie begann mit der Fusion der früher getrennten Stände in einer allgemeinen Nationalversammlung. Dann hob sie den Adel auf als eine dem demokratischen Princip der Gleichheit (Egalite) widersprechende Auszeichnung.11

10 Vgl. über diesen Abschnitt Schaffner a. a. 0. Bd. IL

11 Gesetz v. 25. Juni 1790. Art. 1. „La noblesse hereditaire est pour toujours abolie; en consequence les titres de prince, de duc, de comte etc. ne seront pris par qui que ce soit, ni donnes ä personne. a Ver- fassung v. Sept. 1791. „La Constitution garantit comme droits naturels

126 Zweites Buch. Volk und Land.

Endlich suchte sie die Adeligen mit Hülfe der gleichmachen- den Guillotine auszurotten.

6. Als die Leidenschaften der Eevolution sich in dem Blute der hervorragenden Männer gesättigt und ihre Gleich- heitstheorie die scharfe Schneide an dem Widerstände der realen Verhältnisse abgestumpft hatte, wurden auch in Frank- reich verschiedene Versuche gemacht, den Adel in neuer Ge- stalt auf der mit Trümmern bedeckten Ebene herzustellen. Aber keiner derselben gelangte zu festem Bestand.

Am interessantesten ist der Versuch Napoleons, welcher in der Aristokratie eine unentbehrliche Stütze und zugleich eine Schranke der Monarchie erkannte. In dem Orden der Ehren- legion schuf er gewissermaszen einen modernen Kitter- adel, der jedem höhern Verdienste um den Stat im weitesten Sinne zugänglich, seinem Wesen nach aber nur eine indivi- duelle Ehrenauszeichnung war. Er hatte überdem vor, eine höhere erbliche Aristokratie zu gründen, in welcher die übrig gebliebenen Familien des alten historischen Adels mit den Nachkommen der neuen französischen Marschälle, Statsminister und anderer hohen Reichsbeamten und Würde- träger vereinigt worden wären. Man sieht, Napoleon dachte daran, die Institutionen der ersten römischen Kaiserzeit mit den Ueberlieferungen der französischen Geschichte zu combi- niren. Indessen hatte er kaum durch das Statut vom 1. März 1808 die ersten Anfänge zu dieser Erneuerung des Adels ge- legt, als sein eigener Sturz die Fortbildung unterbrach.12

et civils 1) que tous les citoyens sont admissibles aux places et emploi9, sans autre distinction que celle des vertus et des talens; 2) que toutes les contributions seront reparties entre tous les citoyens egalement, en Proportion de leurs facultas."

Y. 1795. Art. 3. „L'egalite n'admet aucune distinction de naissance, aucune heredite de pouvoirs."

12 Napoleon im Mem. de St. Hei. bei Las Cavas V. 36 ff.: „Die Aristokratie ist die Stütze und der Moderator der Monarchie, sie hebt diese empor und leistet ihr Widerstand. Der Stat ohne Aristokratie ist

Zehntes Capitel. Der Adel. B. Der französische Adel. 127

Ludwig XVIII. (1815) schlosz sich in seiner Pairie näher an das Vorbild der englischen Einrichtungen an. Aber es gelang ihm nicht, einen politischen Pairsadel zu be- festigen. Die Bestandteile der alten Pairie waren durch die Kevolution zu sehr zerstört ; der Geist der Nation war so ganz für die Principien der Eechtsgleichheit und der freien Bewe- gung auch des Eigenthums eingenommen, dasz ihm jede Er- neuerung des Adels wie ein räuberischer Eingriff in die Volks- rechte erschien; ein groszer Theil des alten Adels hatte die Waffen gegen das Vaterland getragen und die erneuerten An- sprüche desselben wurden auf die Besiegung Frankreichs durch die fremden Heere gestützt.13 Der alte Hasz fand immer wieder neue Nahrung und nirgends wurden grosze neue Ver- dienste der Aristokratie um das Volkswohl sichtbar, welche mit einer neuen politischen Erhebung derselben versöhnt hätte.

Die Julirevolution von 1830 hob mit den Majoraten die erbliche Pairie wieder auf, und die Februarstürme von 1848 stürzteo auch die darauf folgende persönliche und lebens-

ein Schiff ohne Steuer (?), ein Luftballon, von den Winden geschaukelt. Das Heilsame der Aristokratie aber, ihr Zauber liegt in ihrem Alter, in der Zeit; und gerade das ist das Einzige, was ich nicht schaffen kann. Die vernünftige Demokratie begnügt sich, für alle die Gleichheit des Strebens und die Erreichbarkeit des Zieles zu erhalten (ätousl'ega- lite pour pretendre et obtenir). Es kam nun darauf an, die Trümmer der Aristokratie mit den Formen und Intentionen der Demokratie zu versöhnen. Voraus galt es, die groszen alten Namen unserer Geschichte zu sammeln. Ich hatte in meiner Mappe einen Entwurf. Jeder Nach- komme eines gewesenen Marschalls oder Ministers wäre zu seiner Zeit fähig gewesen, indem er die erforderliche Ausstattung nachgewiesen, sich zum Herzog erklären zu lassen. Jeder Sohn eines Generals oder Statthalters einer Provinz hätte sich jeder Zeit als Graf können aner- kennen lassen und so weiter. Diese Einrichtung hätte die einen geför- dert, die Hoffnungen der andern aufrecht erhalten, den Wetteifer aller angeregt, und den Stolz niemandes verletzt." Vgl. auch V. 161 und Thiers hist. du Consul. VIII, S. 116.

13 In den hundert Tagen verfügte daher wieder ein kaiserliches Decret vom 13. März 1815: „La noblesse est abolie. Les titras feodaux 3ont supprimes."

128 Zweites Buch. Volk und Land.

längliche, von dem Könige geschaffene Pairie. Neuerdings sprach sich die Kepublik gegen alle Adelstitel und Adelsrechte aus. 14 Eine Eeorganisation hat der französische Adel noch nicht wieder erlebt. Keime einer solchen aber werden in der senatorischen Stellung sichtbar.

Seitdem ist der französische Adel nur insofern wieder hergestellt worden, als die alten Titel von neuem gestattet15 und gegen Miszbrauch gesichert worden sind. Er hat also gegenwärtig nur die Bedeutung eines Titularadels ohne eigenthümliche Rechte, und es ist das um so ungenügender, als die groszen Titel beständig daran erinnern, dasz der Inhalt derselben verschwunden und die leere Schale noch geblieben ist.

Eilftes Capitel.

C. Der englische Adel.

In den neuern europäischen Staaten hat sich fast nur in England der Adel auch in die Gegenwart als ein gesichertes und groszartiges nationales Institut hinüber gerettet. Ver- schiedene Gründe wirkten zusammen, um dieses Resultat her- vorzubringen. Die Darstellung derselben dient zugleich dazu, die Natur dieser englischen Aristokratie ins Licht zu setzen.

1. Der englische Adel des Mittelalters hatte wie der französische zwei verschiedene nationale Bestandteile in sich, einen angel-sächsischen und einen normannischen, aber das Verhältnisz dieser beiden Theile war ein ganz anderes als das der vornehmen Franken und Romanen in dem französischen Adel. Die Normannen behaupteten zwar in den

14 Franz ös. Verf. v. 1848. Art. 10: „Sont abolis ä toujours tout titre nobiliaire, toute distinction de naissance, de classe ou de caste."

15 Decret vom 24. Jan. 1852. Gesetz vom 28. Mai 1858 und Decret vom 8. Jan. 1859, durch welches eine eigene Behörde zur Controle über die Adelstitel eingesetzt ward.

Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 129

ersten Jahrhunderten nach der Eroberung des Herzogs Wilhelm von der Normandie (1066) ein factisches Uebergewicht über die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver- wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der Sachsen, der vor den gemeinfreien C eorls von altersher hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er- ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne: und auch den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von denselben anerkannten Eechte fest. Gerade die factische Zurück- setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger und kräftiger ihr Kecht zu wahren suchten, und dem gesamm- ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten, durch den England grosz geworden ist.

2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät der groszen Vasallen entstand.

Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben, auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei- nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng- land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter- suchungen als unrichtig erwiesen: auch die alten sächsischen Thane hatten groszentheils Lehenbesitz, und waren von die- sem den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver- pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft bei weitem mehr dem ganzen State einen lehenartigen Charakter und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war zur Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in England: und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen hinüber in das neuerworbene Land.

Bluntscbli, aHaeraeines Statsreeht. I. 9

130 Zweites Buch. Volk und Land.

Im Princip das Verstänclnisz der Neuerung wurde erst später allgemein, als weitere Consequenzen derselben zur Sprache kamen wurden sogar alle Privatgüter in England durch ein Gesetz Wilhelms I. als Lehensboden erklärt uud das Obereigenthum des Königs darüber behauptet. Auch die bisherigen Allodialgüter wurden so in den Lehensnexus herein- gezogen, und die bisherigen blosz lebenslänglichen Beneficien hinwieder zu erblichen Lehen erhoben. Alle freien Männer im Eeiche muszten überdem dem Kpnige den Eid der Lehens- treue schwören und sich zu Kriegsdienst verpflichten;1 und es ging dieser Eid dem Treuschwur der freien Insassen an ihren unmittelbaren Lehensherm vor. lieber 60,000 Kitter- lehne gab es unter der Kegierung Wilhelms L, die alle un- mittelbar oder zum gröszern Theile mittelbar dem Könige als oberstem Lehens- und Kriegsherrn verbunden waren. Man sieht, die Zügel der Lehensherrschaft wurden von dem Könige selbst in die Hand genommen und straffer angezogen, als da- mals in Frankreich, dessen König über den Herzog von der Normandie, welcher als solcher selbst ein französischer Vasall war, nur eine geringe, mehr formelle als reale Souveränetät besasz. Der normannische und sächsische Adel blieb somit, wenn er auch nach der Weise des Mittelalters Kechte der Gerichtsbarkeit und Polizei gewalt über seine Hintersassen be-

x Stat. Wilh. c. 52: „Statuimus, ut omnes liberi homines foedere et sacramento affirment, quod intra et extra regnum Angliae "Wilhelmo suo domino fideles esse velint, terrae et lionores illius fidelitate ubique servare cum eo, et contra inimicos ei alienigenas defendere." c. 58: „Statuimus etiam, ut omnes barones et milites et servientes et universi liberi homines totius regni nostri praedicti habeant et teneant se semper bene in armis et in equis, ut decet et oportet; et quod sint semper prompti et bene parati ad servitium suum integrum nobis explendum et peragendum, cum semper opus fuerit, secundum quod nobis de feodis debent et tenementis de jure facere, et sicut illis statuimus per com- mune concilium totius regni praedicti, et Ulis dedimus et concessimus in feodo, jure haereditario. Vgl. JReeves History of the Englisli Law I. S. 34 ff., Phillipps engl. Reichs- u. Rechtsgesch. II. S. 42, Gneist das heutige engl. Verfassungs- und Verwaltungsrecht I. u. III.

Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 131

sasz und ausübte, doch in einem wirklichen Unterthanen- verhältnisz zu dem Könige, und die Einheit des States wurde den Baronen nicht hingeopfert.

3. Wenn so der englische Adel auf der einen Seite gerin- gere Herrschaftsrechte hatte, so waren auf der andern Seite seine politisch-nationalen Rechte um so bedeutender; und hierauf vornehmlich beruht die Grösze und die bleibende Wichtigkeit des englischen Adels.

Diese politisch-nationalen Rechte machten sich auf den groszen Reichstagen geltend, die man frühe schon mit dem bescheidenen Namen des Parlaments bezeichnet hat. Das alte sächsische Witenagemot lebte in neuer veredelter Ge- stalt als Parlament wieder auf, und in ihm einten nach und nach die nämlichen Interessen und Schicksale auch die beiden Stämme. Die einen älteren Versammlungen der groszen Vasallen mochten wohl meistens nur den Zweck haben, den Glanz und die Würde der Krone an den heiligen Festen zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten zu verherrlichen. Die andern aber erhielten allmählich eine grosze politische Bedeutung, und es wurden, anfangs ohne feste Normen und scharfe Competenz- ausscheidung, auf ihnen je die wichtigsten Angelegenheiten des States behandelt und entschieden. Während des XIII. Jahrhunderts erhielten dieselben eine regelmäszigere Gestaltung. Die Magna Charta von 1215, welche dem Könige Johann ohne Land von dem siegreichen Adel, der für die Behauptung seiner Rechte die Waffen ergriffen hatte, in dem Friedens- schlüsse abgenöthigt wurde, setzte urkundlich fest, dasz „die Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, und die Grafen und groszen Barone persönlich durch königliche Briefe (singillatim per litteras nostras), die übrigen unmittelbaren Vasallen des Königs aber insgösammt durch die königlichen Beamten (in generali per vicecomites et ballivos nostros) zu dem Parlamente (com- mune consilium regni) eingeladen" werden sollen, und dasz nur mit ihrer Zustimmung neue Steuern erhoben werden dürfen.

9*

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^32 Zweites Buch. Volk und Land.

Aus den ersteren, welche vorzugsweise als geborene Käthe des Königs und Träger der obersten Hof- und Reichsämter die öffentlichen Angelegenheiten im Lande verwalteten, bildete sich im Verfolge der Zeit das Oberhaus; die letztern wurden zu einem Bestandteile des spätem Unterhauses. Beide Classen hatten anfangs ein persönliches Recht der Reichsstand- schaft. Die erstere behielt es bei. Für die letztere aber wurde es, in Verbindung mit andern Rittern des Landes Aftervasallen der groszen Kronvasallen und den Bewohnern der Städte und Burgen, später zu einem politischen Rep r äse ntations rechte. Nur die erstem, die Lords, galten fortan als hoher Adel. Dem niederen Adel der Gentvy trat die begüterte Bür- gerschaft zur Seite.

In der vollendeten Verfassung des Parlaments, welche in der Hauptsache in der zweiten Hälfte des XIII. und der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu Stande kam,2 fand der Adel seine natürliche Stellung im State. In den Zeiten Heinrichs III. gewann es den Anschein, dasz die Barone, unter der Anführung des Grafen von Leicester, die Monarchie selbst in ihrer Existenz gefährden und die Regierung des States in ihre Hand nehmen möchten. Dieser Uebergriff war aber doch nur vorübergehend, und sehr bald setzte sich von neuem das Princip fest, dasz der Aristokratie wohl ein bestimmter Einflusz auf die politischen Angelegenheiten der Nation und insbesondere die Mitwirkung in der Gesetz- gebung gebühre, nicht aber die Ausübung der eigent- lichen Herrschaft, nicht die Statsr egierung. Aber auch den untern Ständen gegenüber fand der Adel die nöthige Schranke seiner politischen Macht in der Ergänzung des Par- laments durch die Repräsentanten der Städte und Burgen und dadurch, dasz die englischen Ritter von den Freisassen (libere tenentes) zum Parlament gewählt, nicht wie auf dem Conti- nent nur von dem eigenen Stande bezeichnet wurden.

* Vgl. unten Buch V. Cap. 3,

Eilites Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 133

% Die eigentliche nobility bestand lediglich aus den Lords, und ward nie wie in Frankreich und Deutschland zu einem landesherrlichen Dynastenadel, sondern nur zu einem reichs- ständischen Adel, welcher in Unterordnung unter den König und das Gesetz in der Kriegsordnung und im Gericht, sowie über seine Aftervasallen hoheitliche Eechte ausübte.

Die Bitters chaft, d. h. die Classe der Freien, welche im Besitz von Bittergütern war, sei es Lehen des Königs, sei es Lehen anderer Groszen, nahm ebenfalls als erste Classe der Grafschaftsmiliz, in Verbindung mit andern Classen und vor- züglich als Träger des Friedensrichteramtes, mit der Polizei- gewalt und der Verwaltung der Bechtspflege betraut, eine sehr einfluszreiche Stellung ein. Aus ihr wurden die Abgeordneten der Grafschaft zum Parlament gewählt. Durch die Verbin- dung ihrer Jüngern Söhne mit den hochbürgerlichen Classen und ihre parlamentarische Gemeinschaft mit den Vertretern der Städte, den ,, Honoratioren", bildete sich im Gegensatze zu der continentalen Abschlieszung des niedern Adels der seinem Wesen nach eher moderne als mittelalterliche Begriff der Gentry aus, welche alle die Personen als Gentlemen zu- sammenfaszt, die sich durch Geburt oder Aemter, oder durch ihre Bildung und Vermögen als Honoratioren über die untern Massen erheben. Die Gentry ist nicht wie der Stand der Gentilshommes in Frankreich ein fest geschlossener Adelsstand, sondern eine flüssige Aristokratie, welche täglich neue Zuflüsse in sich aufnimmt und gelegentlich auch unwürdige Glieder wieder auswirft.3

4. Ein fernerer Charakterzug des englischen Adels, durch

3 Blackstone, Comment. 1.12, führt eine Stelle von Thom. Smith billigend an, in welcher als Gentlemen alle die erklärt werden, welche Universitätsstndien gemacht haben, liberale Berufsweisen betreiben, in Musze leben können ohne Handarbeit, und im Stande sind, sich als Gentlemen zu benehmen und zu leben. Ygl. Gneis t Gesch. des engl. Verfassungs- und Verwaltungsrechts III. S. 334 f., Tocqueville Oeuvres VIII. S. 328.

|34 Zweites Buch. Volk und Land.

den er sich sehr zu seinem Euhrne von dem französischen und zum Theil auch von dem deutschen Adel unterscheidet, ver- dient besonders hervorgehoben zu werden. Schon in der Zeit, als die Barone die einzige politische Macht im State waren, hatten sie nicht blosz sich und ihre eigenen Rechte im Auge. Sie fühlten sich frühzeitig als eine nationale Körper- schaft, welche den Beruf habe, auch im allgemein öffent- lichen Interesse die Rechte des Volkes zu schirmen und für seine Freiheit zu sorgen. Die Magna Charta enthält zahl- reiche und höchst wichtige Bestimmungen der Art. Die poli- tische Freiheit der Engländer ist zu einem guten Theile ein Werk der Aristokratie. Nachdem diese aber einmal fest begründet war, da wurde die hohe Aristokratie mehr und mehr zu einem festen Damme, welcher den Stat vor der Ueber- fluthung der demokratischen Ströme sicherte, und wie sie vor- her die Yolksfreiheit begründet hatte, übernahm sie nun die minder populäre aber nicht minder heilsame Aufgabe für die Aufrechter}) altnng des Thrones und der festen Statsord- nung einzustehen. In der Mitte stehend zwischen König und der Menge des Volkes, und weder so mächtig, dasz sie für sich allein zu herrschen vermochte, noch so abhängig in ihrer Existenz, dnsz sie allen Strömungen von unten oder jedem Ansinnen von oben folgen müszte, bewahrt sie die Freiheit und die Rechte beider vor dem Uebergriff je des andern und vor dem Miszbrauch beider. Der englische Adel ist auch fortwährend thätig geblieben in den öffentlichen Geschäf- ten, und wenn es sich um Uebung öffentlicher Pflich- ten handelte, so stand er allezeit in erster Keine. Schon die Erziehung desselben wird von dem Geiste politischer Freiheit durchdrungen, und ist auf persönliche Selbständigkeit gerichtet. Die politischen Parteien, die Betheiligung an der Polizeiver- waltung der Friedensrichter, die Mitwirkung bei den Wahlen, die Theilnahme an den Grafschaftsverbänden und an den Ge~ schwornengerichten , die Uebung zu allen gemeinnützigen

Eilftes Capitel. Der Adel. C. Der englische Adel. 135

Zwecken in Vereine zusammen zu treten , die freiwillige Selbst- besteuerung für solche Zwecke, welche zu der Tragung der Stats- und Gemeindesteuern hinzutritt, das Alles erhält die Aristokratie im Zusammenhang mit dem Volksleben und übt sie in den Pflichten der Selbstverwaltung und der patriotischen Thätigkeit. Niemand kann ihr vorwerfen, dasz sie eine Schma- rotzerpflanze sei , welche die Volkssäfte gierig aufsauge und die Fruchtbarkeit des Stammes und seiner Zweige ver- mindere. 4

5. Das Princip des Erbrechtes ist für die englischen Lords zur statsrechtlichen Regel erhoben worden, aber weder in so absoluter Form noch so ausschlieszlich als auf dem Continent.

In der ersten Zeit stand das Erbrecht und die Pairschaft in enger Beziehung zu dem Grundbesitz oder den Aemtern; die Paine selber hatte damals einen territorialen Charakter. Später aber wurde dieser Zusammenhang aufgelöst, und die Pairie ging als persönliche Würde durch das Erbrecht über. Von dieser frühern Verbindung mit einem bestimmten Land, oder Schlosz oder Amte her erhielt sich aber der wich- tige erb rechtliche Grundsatz, dasz nur Einer der Söhne oder Anverwandten des verstorbenen Lords an dessen Stelle ins Parlament trete. Nur der älteste Sohn wurde nach den Grund- sätzen der Erstgeburt wieder Lord, die später geborenen er- hielten mindern Eang und waren von den Rechten des hohen Adels ausgeschlossen. Nicht blosz die jüngeren Söhne des Lords sind vor dem Gesetze blosze Esquires, sondern selbst der älteste wird, so lange der Vater lebt, nur von der Höf- lichkeit der Gesellschaft, nicht von dem Rechte Lord genannt. Auf diese Weise blieb einerseits das Ansehen und der Reich- thum der groszen Familien fortdauernd in Einem Familien- haupte concentrirt, und gab es andererseits Uebergänge zu den

4 Vgl. die ausführliche Darstellung in dem angef. Werk von Oneist und die Charakteristik von Tocqiievüle Oeuvres Bd. VIII.

|36 Zweites Buch. Volk und Land.

übrigen Ständen, welche den Unterschied des Blutes mil- derten. 5

6. Ebenso wurde die Familiengenossenschaft auch der'Pairs nicht auf das adelige Blut beschränkt. Auch die bürgerlich geborne Frau, welche zur Gemalin eines Lords er- hoben wird, wird um deszwillen ohne Bedenken zur Lady: ein Grundsatz des natürlichen Familienrechts, dessen Beachtung die Ehre des hohen Adels keineswegs verdunkelt, sondern im Gegentheil vor gerechten Angriffen bei weitem mehr gesichert hat als das kastenartige Princip der Ebenbürtigkeit, an wel- ches der deutsche hohe Adel so ängstlich sich anklammert.

7. Endlich wurde der Stand der Pairs von Zeit zu Zeit durch neue Pair sernennungen ergänzt und erfrischt. Das Kecht, Pairs zu ernennen, wurde dem Könige vorbehalten. Er galt als ,,die Quelle aller politischen Ehren." 6 Ihm allein kam es daher zu, neue Glieder des Adels, sei es mit dem Titel eines Herzogs, Marquis, Grafen (earl), Vizgrafen (viscount) oder dem einfacheren eines Barons zu schaffen und ihnen Pairsrechte zu verleihen. Aber es lag in der Natur der Dinge, dasz zu der politisch-nationalen Würde nur Männer erhoben werden konnten, welche durch ihre Verdienste beson- ders als Feldherrn oder Statsmänner sich ausgezeichnet hatten, und zugleich ein so bedeutendes Vermögen besaszen oder er- hielten, dass sie im Stande waren,, den Ansprüchen des hohen Standes zu genügen. Die englische Aristokratie erhielt auf diese Weise einen stäten Zuflusz von wahrhaft aristokratischen

5 Macaulatj, Hist. of England I. S. 37: „Die englische Aristokratie hatte in keiner Weise den gehässigen Charakter einer Kaste. Sie nahm fortwährend neue Mitglieder aus dem Yolke in sich auf, und gab ohne Unterbruch wieder Mitglieder ab, die sich mit dem Yolke mischten. Der Freisasse war picht geneigt über die Würden zu murren, zu denen seine eigenen Kinder aufsteigen konnten. Der Magnat war nicht geneigt, eine Classe mit Verachtung zu behandeln, in welche seine Kinder herabsteigen muszten."

6 Blackstone, Commentar. on the Laws of England. I. 12.

Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 137

Kräften, und wurde vor der Gefahr in Abgeschlossenheit und Unbeweglichkeit zu versumpfen und zu faulen, glücklich be- wahrt. Den kräftigsten und begabtesten Männern des Volkes aber war die ermuthigende Aussicht eröffnet, dasz sie durch ihre Verdienste um den Stat sich und ihrer Familie den dau- ernden Zutritt zu den sonnigen Höhen des Statslebens zu er- werben vermögen. Vom Jahr 1700 bis 1800 sind so 34 Her- zöge, 29 Marquis, 109 Grafen, 85 Viscounts, 248 Barone neu creirt worden. Die Zahl der ebenfalls ernannten Baronets beträgt in dieser Periode mehr als 500. Heute noch treten, auch ohne Adelstitel, reiche Bürger, welche grosze Güter auf dem Lande kaufen, in die Londgentry über.7

Wenn man sich den Gesammteindruck dieser Eigenschaften der englischen Aristokratie vergegenwärtigt, so ist es nicht mehr räthselhaft, weszhalb der englische Adel allein seine Existenz bis auf unsere Tage unangefochten bewahrt hat und fortwährend in der Verfassung eine fruchtbare und glänzende Stellung einnimmt, während auf dem Continente der Adel überall entweder gänzlich untergegangen ist oder doch nur ein sehr bestrittenes und verkümmertes Dasein hat.

Zwölftes Capitel.

D. Der deutsche Adel.

Die Geschichte des deutschen Adels weist bei allen Stäm- men auf eine Anzahl vornehmer Geschlechter hin, welche durch Kriegsruhm, Keichthum und Führerschaft über die übrigen Freien emporragen und thatsächlich eine fürstliche Stellung behaupten. Dieser uralte oft nur aus wenigen Fami- lien bestehende Stammesadel ist die Grundlage geworden für

7 Gneist, III. S. 383. Tocqueville, VIII. 319.

138 Zweites Buch. Volk und Land.

den mittelalterlichen Dynasten- und Herrenadel. Erst während des Mittelalters aber sind dazu noch andere Classen eines ritterschaftlichen niederen Adels hinzugekommen.

I. Hoher Adel. Herrenadel. Standesherren.

Die Ausbildung dieses höchsten weltlichen Standes geschah im Mittelalter im Anschlusz an die deutsche Eeichsverfassung. Die Familien, deren Häupter zu höchster Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit im Eeiche emporgestiegen waren, galten als hoch fr ei ( sendbar frei , semperfrei). Bis gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts wurden nur die Glieder dieser Fami- lien als wirklicher Keichsadel (nobiles) bezeichnet. Aber nur die Häupter der Familien, welche im Besitz der reichsfürst- lichen oder gräflichen Stellung waren, oder reichsfreie Herr- schaften inne hatten, galten als eigentliche Herren. In den andern Gliedern der Familien war der Stand ein ruhender, sie waren nur Genossen der Fürsten und Herren und nicht selber Fürsten und Herren.

Diese reichsständische Erhebung gründete sich

a) auf das Fürstenamt, d. h. ursprünglich auf die her- zogliche Kriegsgewalt, welche mit der Fahne verliehen wurde. Neben und theilweise vor den weltlichen Fürsten (Herzogen. Mark- und Pfalzgrafen) stehen die geistlichen, mit dem Scepter beliehenen Keichsfürsten. Das weltliche Fürstenamt war erblich geworden und wurde in der Kegel nur den Ab- kommen aus hohem Adel verliehen. Das geistliche Fürsten- amt war nicht ausschlieszlich diesem Stande vorbehalten : öfter wurden auch Geistliche von blosz ritterschaftlicher Abkunft oder bürgerliche Gelehrte dazu erwählt, in seltenen Fällen so- gar Bauernsöhne auf den bischöflichen Stuhl erhoben.

b) auf das Grafenamt, das ebenso zu einem erblichen Landgrafenthum und zu erblicher Landesherrschaft befestigt wurde. Nach dem Sturze der mächtigen Stammesherzoge und der Vertheilung der herzoglichen Gebiete unter mehrere Fürsten bekamen diese gräflichen Dynastien höheres Ansehen. Der

Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 139

Form nach beruhte die Grafenwürde auf der Verleihung des Königsbanns durch den König, dem Wesen nach war sie erb- liche Landesherrschaft.

c) Daneben gab es eine Anzahl von groszen Aliodial- herrschaften, deren Herrn wieder durch Immunitäten und Verleihung von Hoheitsrechten eine den Grafen ähnliche Hoheit und Gerichtsmacht erlangt hatten, die sogenannten freien Herrn (Barone).

Die Familien des alten Stammesadels, die nicht eine der- artige Reichsstellung erwarben, konnten sich auf die Dauer nicht als Glieder des hohen Reichsadels behaupten, sondern verschwanden unter den übrigen Classen, vorzüglich des ritter- schaftlichen Adels.

Dieser Reichsadel ist in seinen Häuptern hauptsächlich durch zwei politische Rechte ausgezeichnet, 1) durch die Landeshoheit, 2) durch die Reichsstandschaft. Er ist also ein herrschender Stand im höchsten Sinn des Worts, in den eigenen Ländern alleinherrschend, im Reiche mitherrschend.

Dieser Zug nach Herrschaft ist charakteristisch für den deutschen hohen Adel. Die Geschichte des deutschen Reiches zeigt die unglücklichen Wirkungen dieses mächtigen Triebes, welcher die angesehensten Geschlechter verführte, die Hoheit des Kaiserthums den Anmaszungen des römischen Papstthums Preis zu geben, das deutsche Königthum vollständig zu ent- kräften und lahm zu legen, die nationale Einheit gänzlich auf- zulösen und deutsches Gebiet den Fremden dienstbar zu machen. Diese schwere Verschuldung gegen das Gesammtvaterland und die Weltgeschichte wird nicht aufgewogen durch die Blüthe der Höfe und der fürstlichen Residenzen und nicht gut ge- macht durch die veredelnden Werke der Cultur, welche unter dem Schutz und mit der Förderung der Dynasten glücklich gediehen.

Die Landeshoheit wurde mit der Zeit zu einer scheinbaren

140 Zweites Buch. Volk und Land.

Souveränetät gesteigert, ohne innere Kraft und ohne Sicherheit für die Zukunft. Nur einige der gröszten fürstlichen Territorien waren fähig, eine relative s tatliche Existenz zu behaupten, die meisten waren auch dazu zu schwach an Mitteln und zu beschränkt an Geist. Die Reichsstandschaft aber wurde selten so geübt, dass die Interessen der deutschen Nation gefördert, die öffentlichen Rechte ausgebildet, und die Volksfreiheit befestigt wurde, sondern vielmehr in der Rich- tung ausgebeutet, die besondere Landesherrschaft der Reichs- stände zu erweitern und die nationalen Pflichten abzulehnen. In diesem Stande war auch die Neigung sich familien- artig abzuschlieszen besonders stark vertreten. Es zeigt sich das in dem strengen Erfordernisz der Ebenbürtigkeit, in der Verwerfung der sogenannten Miszheirath und in der Ausbreitung des gleichen Standesrechts auf sämmtliche Kinder. Nur die ebenbürtige Ehe zwischen Genossen von beiderseitiger Abstammung aus hochfreien Familien galt als völlig untadel- haft. Die Ehe eines Hochfreien selbst mit einer Mittelfreien wurde in vielen dynastischen Familien schon als Miszheirath betrachtet, welche die Ebenburt der Kinder und die fürstliche Erbfolge der Söhne gefährde, /war konnte noch der König durch persönliche Standeserhebung der Frau diesen Mangel heben oder die Familie konnte kraft ihrer Autonomie auch freieren Grundsätzen über Ehegenossenschaft huldigen oder im einzelnen Fall ihre Zustimmung zur Vollwirkung einer an sich ungleichen Ehe ertheilen. Keine deutsche Dynastie hat sich ganz rein erhalten können nach den strengen Grundsätzen der Ebenburt. Aber in sehr vielen Fällen wurden von Anfang morganatische Ehen geschlossen, mit der ausdrücklichen Bestimmung, dasz die Kinder dem fürstlichen Stande des Vaters nicht folgen. Und in vielen andern Fällen wirkte die unzweifelhafte Miszheirath, besonders mit einer Frau von nie- derer Herkunft aus kleinbürgerlichem oder bäuerlichem oder gar aus hörigem Stamm ebenso und es konnten in solchen

Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 141

Fällen nach den späteren Wahlcapitulationen selbst die Könige einen solchen Flecken nicht reinigen. Zur Zeit der Bechts- spiegel noch wurden Fürsten, Grafen und Freiherrn nur die wirklichen Träger des Fürsten- und Grafenamts und die Be- sitzer einer Freiherrschaft genannt. 1 Aber später kam der verwirrende Sprachgebrauch auf, dasz auch alle Söhne der Fürsten und Grafen, unbekümmert darum, ob sie ein Fürsten- thum oder eine Grafschaft hatten, den Titel des Vaters an- nahmen und weiter verpflanzten. Diese Vervielfältigung der Titel ohne inneren Gehalt, scheinbar zur Ehre der Familien durchgeführt, diente dazu, deren Ansehen im Volk zu unter- graben und dieselben den gröszeren Landesherren gegenüber zu schwächen. Das Princip einer unbesch rankten erb- lichen Ausbreitung ward daher dem hohen Adel selbst, der es in Anspruch nahm, verderblich. Ebenso diente der festgehaltene Grundsatz der Ebenbürtigkeit dazu, die Quellen seiner eigenen Erfrischung zu verstopfen und ihn von der Zu- neigung des Volkes abzuschlieszen.

Mit der Auflösung des deutschen lieiches muszte auch dieser hohe Adel der Deutschen untergehen. Die Säculari- sation (1803) beseitigte die geistlichen Fürsten, deren Länder unter die weltlichen Fürsten vertheilt wurden, gänzlich. Ihr folgte die sogenannte Mediatisirung einer groszen Anzahl bisher selbständiger kleiner Keichsfürsten und Herren, welche nur den gröszeren Landesfürsten unterthänig gemacht wurden und von ihrer früheren Landesherrschaft nur noch eine mitt- lere und niedere Gerichtsbarkeit in verkümmerter und hin- fälliger Gestalt beibehielten. Wie ihre Landeshoheit so zerstört war, so war auch mit dem Erlöschen der Eeichstage ihre Keichsstandschaft nach und nach erloschen. Sie erhielten dafür in dem neuen Kechte der Landstandschaft vorzüglich

1 Sachsensp. III. 58. §. 2. „It n'is nen vanlen, dar die man af möge des rikes vorste wesen, he ne vntva't van deme koninge." Ssp. I. 3, §. 2. Schwabensp. 5.

142 Zweites Buch. Volk und Land.

in den Ersten Kammern einen theüweisen Ersatz. Die fürstlichen Titel waren geblieben, die fürstlichen Kechte waren untergegangen. Nur eine kleinere Zahl der früheren Fürsten, meistens die gröszeren, erwarb eine souveräne Stellung als selbständige Landesfürsten ihrer Staten und als Glieder des deutschen Bundes.

IL Eitterschaftlicher Adel. Niederer Adel.

In der Mitte zwischen dem alten Dynastenadel und den einfachen Freien standen die aus den letzteren erhobe- nen Mittelfreien, wie sie der Schwabenspiegel nennt. Im Süden von Deutschland läszt sich dieser Stand bis in die Zeit der fränkischen Monarchie hinauf verfolgen. Erst seit dem vierzehnten Jahrhundert aber kam der Sprachgebrauch auf, diese Mittelfreien ebenfalls Edelleute zu nennen, dadurch dem Adel als niederen Adel näher zu bringen und gleich- zeitig schärfer von den einfachen Freien zu trennen.

Die Hauptbestandtheile dieses Standes waren:

a) Die schöffenbar Freien, ursprünglich mit gröszern Gütern (drei Hüben oder mehr)2 ausgestattet, und als die angeseheneren und reicheren Freien zu dem Schöffenamte be- rufen, welches wie alle Aemter im Mittelalter mit der Zeit erblich ward. Sie konnten auch ihr Eigen länger als die Masse der freien Bauern frei von Lasten und im Zusammen- hange mit den Grafen din gen , im Gegensatze zu den Vogtei- gerichten erhalten. In den spätem Jahrhunderten gingen die schöffenbar Freien gewöhnlich in dem Kitter- und Grundherren- stande auf.

b) Die Vasallen des Adels, seitdem das Kitterwesen aufgekommen, Ritter mit Ritterlehen. :i

c) Zu diesen kamen dann später auch manche Ritter

2 Sachsensp. III. 81. §• 1. I. 2.

3 Sachsensp. I. 3. §.2. „de scepenbare lüde unde der vrienher- ren man (haben) den veften (Heerschild). u Schwabens p, 5. „mitel vrien, daz sin die ander vrien man sint."

Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 143

ohne Ritterlehen, groszentheils zwar Abkömmlinge der Vasallen, die eine rittermäszige Erziehung genossen hatten und in die Eitterschaft aufgenommen wurden, in der Folge aber auch andere Kriegsmänner, welche von dem Kaiser oder be- rechtigten Stellvertretern desselben zu Rittern erhoben wurden.

d) Die zahlreichen Dienstleute, Ministerialen (Edelknechte), noch im XIII. Jahrhunderte sehr scharf von den ritterbürtigen Männern geschieden, ihrer Abstammung nach groszentheils Hörige und Halbfreie, durch Hofämter und Hof- dienst, groszen Grundbesitz und vornehme Lebensart empor- gehoben, anfangs nicht des Lehensrechts, nur des Dienst- und Hofrechtes theilhaftig, allmählich den Rittern zur Seite tretend und mit ihnen in einen Stand zusammenschmelzend.

e) In manchen Reichsstädten, seltener in Landstädten, die Geschlechter, Patricier, ursprünglich meist von schöffen- bar freier oder rittermäsziger Abstammung, durch den Antheil an der städtischen Obrigkeit ausgezeichnet.

Auch unter diesen Classen des sogenannten niedern Adels verdrängte das überhandnehmende Princip der persönlichen Erblichkeit mehr und mehr die Rücksichten auf Grund- besitz, ritterliche Lebensart, Hofdienst, und erzeugte eine grosze Anzahl von Edelleuten, die keine andere edle Eigenschaft be- saszen als den Nachweis eines alten Stammbaums. Auch die Abschlieszung dieses Standes von den freien Bürgern und Bauern wurde immer schroffer, und zwar gerade in den Zeiten, als die innere Bedeutung des Gegensatzes abstarb. Im Zu- sammenhange damit erhielt die Sucht nach vornehmen Titeln reichliche Befriedigung, und auch aus diesem Stande gingen ganze Schaaren von Freiherren und sogar Grafen und Fürsten hervor, theils durch Verleihung, theils geradezu durch An- maszung solcher Titel, denen im übrigen keine Realität mehr entsprach, die keine Freiherrschaft, keine Grafschaft, kein Fürstenthum hatten.

Ein so ausgebildeter Adel der Militär- und Civilämter

144 Zweites Buch. Volk und Land.

wie in Frankreich kam in Deutschland nicht auf. Höchstens bildete der gelehrte Adel der Doctores juris eine individuelle Ergänzung des im übrigen erblichen Standes. Um so eifriger dagegen wurde der Briefadel zur Erweiterung des ohnehin übermäszigen Titula radeis den Franzosen nachgeahmt.

Dieser niedere Adel hatte weder auf Landeshoheit noch auf Keichsstandschaft Anspruch. Nur die Keichsritter- schaft erlangte eine der Landeshoheit ähnliche Selbständigkeit in ihren durch das Eeich zerstreuten Gebieten. Dagegen war er des Lehensrechts theilhaft und hatte häufig gewisse Vorrechte auf Stiftungen und Pfründen. Auch besasz ein Theil seiner Glieder, jedoch nur in Verbindung mit be- stimmten Herrschaften und Gütern, erbliche Vogt ei- und Grundherrschaft und übte die damit verbundene Gerichts- barkeit aus, im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Ausbreitung des Lehenssystems. Endlich besasz er innerhalb der einzelnen Territorien das Kecht der Landstandschaft, und umgab regelmäszig die Landesherren als Hofadel.

Wo möglich noch tiefer zerrüttet als die Keichsinstitution des hohen Adels ist die politische Institution des sogenannten niedern Adels in Deutschland. Die Auflösung des Lehens- verbandes, der Untergang der feudalen Statseinrichtungen , die Umgestaltung der Armeen, die Ausbildung eines individuellen Beamtenstandes, die Erhebung bürgerlicher Geschlechter und Personen, die Fortbildung der Kepräsentativverfassung haben die Grundlagen zerstört, auf welchen dieser Stand erwachsen ist. Die vielfältigen Neuerungen unserer Zeit haben sowohl von oben als von unten her die besonderen Adelsrechte eines nach dem andern, zuweilen auch alle zumal aufgelöst und auf- gehoben. Auch in Deutschland, wie zuvor in Frankreich, hat der dritte Stand von den Vorrechten des Adels nichts mehr wissen wollen und die ganze Existenz desselben bestritten. Durch die unbegrenzte Ausbreitung des adeligen Geschlechtes auf alle folgenden Generationen geriethen die äuszeren An-

Zwölftes Capitel. Der Adel. D. Der deutsche Adel. 145

spräche des Adels mit ihrer realen Begründung in schreienden Widerspruch und wurden die Miszverhältnisse besonders im Vergleich mit dem höheren Bärgerstand gesteigert und die Verwirrung ärger.

Nur eine Keform von Grund aus, nicht die starre Be- wahrung der gegenwärtigen Kuinen einer vormals groszartigen Institution, und noch weniger die Begünstigung der Miszbräuche und hochmüthigen Prätensionen kann hier helfen. Wir be- dürfen eine Beform, welche die Kitterschaft in Harmonie bringt mit den modernen Lebens- und Verfassungsverhältnissen, welche zwar die zahlreichen gesunden Elemente des bisherigen niedern Adels vor dem Untergang rettet und schützend erhält, aber alle andern Bestandtheile desselben, die in sich selber keine Kraft, keine Auszeichnung haben, schonungslos beseitigt, eine Erneuerung, welche jenen wahrhaften, mit aristokratischen Eigenschaften noch ausgestatteten alten, meist begüterten Bitteradel ergänzt und verstärkt durch die übrigen in der Nation vorhandenen aristokratischen Qualitäten auch von neuem Datum. Nur eine Neugestaltung des wahrhaft aus- gezeichneten Adels, welche zugleich die Schranken entfernt, die der Kastengeist auf dem Continent errichtet hat und den Adel auch in lebendigem Zusammenhang mit dem versöhnten Volke erhält, könnte wieder zur Unterlage dienen, für die höhere politische Stellung des Adels und die Ausbildung der aristokratischen Theile der Nation.

Die Erblichkeit wird indessen in einem so gereinigten aristokratischen Mittelstande schwerlich allein Geltung haben noch schrankenlos sich ausdehnen dürfen. Denn es gibt in Wahrheit auch einen Individualadel neben dem (erblichen) Kasseadel, und auch eine edle Rasse kann in folgenden Generationen und getrennt von ihren socialen Grundlagen ihren Adel verlieren.

Für diese Reformen des deutschen Adels ist indessen noch keine Aussicht vorhanden. Die Jahre, welche derselben günstig

Bl untsc j allgemeines Statarecht. I. 10

146 Zweites Buch. Volk und Land.

waren (1852 bis 1859), wurden nicht benutzt. Ein paar ver- unglückte Versuche bewiesen nur die geringe Autorität der Keformfreunde unter ihren Standesgenossen und den Wider- willen der Mehrzahl gegen jede aufrichtige und wirksame Beform. Ein groszer Theil des deutschen Adels hat sich den Ideen der neuen Zeit eher feindlich als freundlich gezeigt und lange noch in romantischen Gefühlen für mittelalterliche Zu- stände geschwärmt oder dem landesherrlichen Absolutismus willfährig als Stütze gedient. Deszhalb ist er nicht wie der englische Adel volksthümlich geblieben, sondern dem franzö- sischen Legitimistenadel ähnlich dem Volke verdächtig ge- worden, ungeachtet in allen groszen Entwicklungsmomenten immer noch die besten Männer und Führer von adelicher Her- kunft waren. Bei solcher Stimmung ist an keine Reform von Innen heraus zu denken, und von Auszen her durch blosze Gesetze und Statuten kann dieselbe nicht vollzogen werden.

Anmerkungen. 1. Riehl hat in seinem Buch „die bürgerliche Gesellschaft" (1854) die sociale Bedeutung „der deutschen Aristokratie" in lebhaften Bildern gezeichnet. Der Adel hat gegenwärtig nur noch eine sociale Geltung, die auch für sich einen "Werth hat, aber ohne politische Organisation weder auf die Dauer zu erhalten ist, noch zur rechten Wirksamkeit gelangen kann. Die Stände sind als sociale Ge- meinschaften nur eine Unterlage der organischen und dann erst wirklichen politischen Stände.

2. Di.e Ansichten, welche ich im Deutschen Statswürterbuch I. 5. 30 ff. und S. 58 ff. ausgesprochen habe, heben vornehmlich den Unter- schied hervor zwischen ruhendem (passivem) und wirklichem (activem) Adel und gründen darauf Vorschläge der Reform. Jener schon durch die Geburt verliehen, hat nur die Möglichkeit in sich, wirklich zu wer- den, aber gibt keinerlei Vorzüge ; dieser setzt auch die persönliche Aus- zeichnung voraus, durch die jene Möglichkeit erfüllt wird. Ich habe seitdem die wenig tröstliche Entdeckung gemacht, dasz schon Justus Moser auf denselben Gedanken vor zwei Menschenaltern gekommen (Patriot. Phantasien, IV. 248) und dasz derselbe in der ganzen langen Zwischenzeit gänzlich miszachtet geblieben war. Bluntschli Geschichte der Statswissenschaft S. 423.

Dreizehntes Capitei. Die Freien und der Bürgerstand. 147

Dreizehntes Capitei.

III. Die Freien und der Bürgerstand.

Waren die einfachen Freien ursprünglich fast überall vor- zugsweise freie Grundeigenthümer und Landbauern, so änderte sich das später meistentheils. Die antike Statenbildung ist regelmäszig von den Städten ausgegangen; ein groszer und der politisch einfluszreichste Theil der Freien lebte in den Städten, und wendete sich städtischer Berufs- und Lebensweise zu. In dem Bürgerrechte fand die blosze ständische Frei- heit einen höhern politischen Ausdruck.

I. Bei den Griechen erlangte der freie Bürgerstand, vor- züglich zu Athen, die höchste Ausbildung und Macht. Es gelang ihm hier, auf der einen Seite die patronymischen Ge- schlechter zu sich hernieder zu ziehen, und auf der andern Seite die dienenden Classen mit Ausschlusz der Sclaven- bevölkerung zu sich zu erheben. Alle Statsgewalt wurde von dem Bürgerthume allein, in welchem völlige Eechts- gleichheit als Grundrecht galt, in Anspruch genommen. In ihm fand die Athenische Demokratie ihre natürliche Grundlage.

IL In Born errang die Plebes zwar eine eigenthüm- liche politische Gestaltung in den Tributcomitien und in den Volkstribunen auch besondere Organe theils ihrer Meinung und ihres Willens, theils ihrer Vertretung und ihres Schutzes. Ferner sog sie den Stand der dienten, welcher vordem eine eigene Stellung gehabt hatte, in sich auf, und erkämpfte selbst die Fähigkeit für ihre Genossen, zu den höchsten Magistraturen des States aufzusteigen. Es waren ihr fast keine politischen Kechte mehr verschlossen, und der alte Gegensatz des popidus und der plebes verlor seinen Sinn.

Dennoch unterscheiden sich die Schicksale der römischen Plebes darin sehr von denen der Athenischen Bürgerfreiheit} dasz in Born die neue Aristokratie der Optimaten emporragte

10*

148 Zweites Buch. Volk und Land.

und die reale Statsmacht vorzugsweise in ihren Händen be- hielt. Die grosze Masse der römischen Bürger blieb zwar im Besitze des vollen Privatrechtes, und übte in ihrer Gesammt- heit die Kechte der Gesetzgebung und der Wahlen für die Statsämter aus. Ihre Mitglieder waren auch fähig, zu den öffentlichen Würden gewählt zu werden. Die spätere Plebes war in der politischen Rechtsfähigkeit keineswegs zurückgesetzt; aber die Natur der römischen Zustände und Einrichtungen brachte es doch mit sich, dasz die Magistraturen und der Senat gewöhnlich in der weit überwiegenden Mehrzahl der Aristokratie zukamen.

So lange die Republik dauerte, waren die Plebejer der Hauptbestandtheil der römischen Bürgerschaft, und zugleich die Quelle und Stütze der demokratischen Richtung, die auch im römischen State später überhand nahm. Als aber die La- tiner und die italischen Bundesgenossen, und unter den Kaisern sogar alle freien Provincialen zu römischen Bürgern erklärt wurden, verlor das Bürgerrecht seinen specifischen Charakter, und es entstand ein allgemeines, die gesammte freie Bevölkerung des Reiches umfassendes Statsbürger- thum, dessen politische Rechte, soweit nicht Einzelne durch Aemter und Würden eine höhere Stellung erhielten, von der übermäszigen Gewalt des Kaisers groszentheils aufgezehrt wurden.

III. Das Mittelalter war dem Stande der Gemeinfreien nicht günstig. Fast überall in Europa erlagen die freien Grundeigenthümer des Landes der um sich greifenden Herr- schaft des Lehensadels und der Vogteiherren. Die Gesetz- gebung Karls des Groszen vermochte, obwohl sie, von einem starken Könige gehandhabt, die schlimmsten Bedrückungen hemmte, doch den Fortgang des Uebels nicht aufzuhalten. Ein sehr groszer Theil der bäuerlichen Bevölkerung in der fränkischen Monarchie, welcher durch freie Geburt den echten germanischen Volksstämmen angehörte, gerieth, weil er auf königlichen oder Kirchengütern, oder in den Grundherrschaften

Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 149

des Adels sich niederliesz und Boden bebaute, der nicht in seinem Eigentimm war, oder weil er sein Eigentimm aus frommen Motiven oder auch aus Noth an die Kirchen und Klöster vergabt, und nur als Zinsgut zurück empfangen hatte, in die Höfhörigkeit, kam so den auch persönlich hörigen Bauern näher und büszte mancherlei politische Freiheitsrechte ein. Und später konnten auch die kleinern Güter, welche im Eigen- thum ihrer freien Bebauer geblieben waren, sich doch der Vogteigerichtsbarkeit und der Lasten nicht erwehren, welche die herrschende Aristokratie denselben auferlegte. Die ver- änderte Organisation der Heere, erst auf den Kitter- und Lehendienst basirt, später auf Soldtruppen, hatte zur Folge, dasz auch die freien Bauern die Kriegstüchtigkeit und Krieger- ehre verloren. Sie wurden mit Steuern in den mannichfaltig- sten Formen und aus mancherlei Vorwänden oft willkürlich belegt; und auch in den Gerichten, mehr aber noch in den politischen Körperschaften des Landes verloren sie den Besitz und die Stimme, welche die alt-germanische Verfassung ihnen gewährt hatte. Auch die freien Grundeigentümer wurden als Vogteileute nach und nach den hörigen Bauern gleich- gestellt, und beide Bestandtheile ohne dasz auf die ursprüng- liche Freiheit oder selbst das Eigenthum ein besonderer Nach- druck gelegt ward unter dem gemeinsamen Namen der Bauerschaft zusammen gefaszt. Der alte Erbstand wurde somit in einen Berufsstand umgewandelt, und die politi- schen Kechte des Bauernstandes meistens sehr verkürzt. Nur ein Theil der freien Bauern, meistens die gröszeren Grund- eigenthümer, stieg unter die neu erstandene Classe der Kitter- schaft empor.

Ausnahmsweise nur, unter günstigen Verhältnissen, gelang es einzelnen Gemeinden von Freien sowohl ihr freies Eigen als ihre höhere politische Berechtigung vor den drohenden Gefahren des Mittelalters in die neuere Zeit hinüber zu er- halten. Eines der merkwürdigsten Beispiele der Art ist die

150 Zweites Buch. Volk und Land.

Schwyzer Markgenossenschaft, welche den Impuls gegeben hat zu der nach ihr benannten schweizerischen Freiheit.

IY. Während so auf dem Lande die alte Freiheit ge- wöhnlich niedergedrückt wurde und unterging, so wurden im Gegensatze während des Mittelalters die Städte zum Sitz einer neuen Bürgerfreiheit.

Die Geschichte der Städte ist für die Entwicklung des Begriffs der modernen Freiheit und des Bürgerthums von ent- scheidendem Einflüsse geworden. Beide Begriffe waren früher städtische, bevor sie zu allgemeinen Statsbegriffen ge- worden sind. Es bedurfte jahrhundertelanger Kämpfe und Umwandlungen, bis das städtische Bürgert hu m zu voller Ausbildung gelangte, und wieder nach Jahrhunderten wurde es zum Statsbürgerthum erweitert.

Die Mannichfaltigkeit und Gesondertheit des aus romani- schen und mehr noch aus germanischen Wurzeln erwachsenen Ständelebens, welches das Mittelalter vornehmlich charakterisirt, spiegelte sich anfangs auch in den Städten wieder. Sie zeigte sich gerade in den Städten, welche eine gröszere Bevölkerung auf engem Kaume zusammenfaszten, ursprünglich in ihrer bun- testen Gestalt. Da fanden sich, von denselben Graben und Mauern umschlossen, oft beisammen:

1) geistliche Fürsten mit ihrem Hofstate und be- sondern Hoheitsrechten, Bischöfe, Aebte;

2) die niedere Geistlichkeit in mannichfaltigen Ab- stufungen und Gliederungen;

3) weltliche Grosze von hohem Adel, z. B. könig- liche Grafen oder sonst hohe Barone, in Italien Capitanei, welche meistens, insofern sie nicht Burgen daselbst besaszen, nur vorübergehend in den Städten lebten und ihren eigent- lichen Stammsitz auf dem Lande hatten;

4) ritterliche Familien, häufig auch mit Lehens- besitz auf dem Lande ausgestattet;

5) Ministerialen der geistlichen und weltlichen Herren ;

Dreizehntes Capite). Die Freien und der Bürgerstand. 151

6) Mittelfreie, in den romanischen Städten von Italien und Frankreich häufig die Nachkommen der römischen Decu- rionenfamilien, welche in der Stadt Grundeigentum besaszen, oder germanische Freie, die sich in der Stadt auf eigenem Boden niedergelassen hatten und durch Vermögen und poli- tische Stellung ausgezeichnet waren;

7) einfache Gemeinfreie, aber noch mit Grund- eigentum in der Stadt;

8) persönliche Freie, die .aber auf Herrengütern in der Stadt wohnten und um deszwillen dem Hofrechte, z. B. einer Abtei unterworfen waren;

9) eine Menge höriger Leute verschiedener Herren, und in den mannichfaltigsten Verhältnissen, die einen selb- ständig lebend, als Handwerker,

10) die andern in Familienabhängigkeit, als Dienstboten, Gesellen u. s. f.

Die Verbindung aller dieser Bruchstücke der mittelalter- lichen Stände in Einer Stadt muszte mit der Zeit die Son- derung derselben auflösen und eine neue Mischung hervorbringen. Gemeinsames Leben, gemeinsame Interessen und Schicksale, oft auch die Kämpfe der Parteien brachten die einen Bestand- teile den anderen näher, oder bewirkten neue Gegensätze, welche nicht von der Geburt bestimmt waren. Die Stadt- verfassung brachte neue Genossenschaften und Käthe hervor, in welchen die verschiedenen Stände zu einer neuen Einheit verschmolzen wurden. Der Gang dieser Umgestaltung war, obwohl in den verschiedenen Städten die Verschiedenheit der Nationalität, der Zeiten und der localen Einflüsse auch ihre Einwirkung übte, doch im Groszen überall der nämliche. Es kommen hiebei vorzüglich folgende Momente in Betracht:

1. Den eigentlichen Kern der alten städtischen Bür- gerschaft bildeten zuerst die vornehmen Geschlechter der Bitter, Ministerialen und Mittelfreien, welche in den Kä- then (als Consules) nach Selbständigkeit strebten und die

252 Zweites Buch. Yolk und Land.

Herrschaft der alten Stadtherren beschränkten. Dann erwei- terte sich dieser Kern durch die Verbindung mit den gemein- freien Elementen und es traten' neue Gegensätze zu Tage zwischen den alten aristokratischen Geschlechtern und den jungen aufstrebenden Genossenschaften freier Bürger. So hatte sich zu Mailand schon um die Mitte des eilften Jahrhunderts die ,,Mottau als politische Genossenschaft gebildet aus Dok- toren der Hechte, Aerzten, Banquiers, Groszhändlern und ein- zelnen ritterbürtigen Leuten, Junkern, welche die ritterliche Lebensweise nicht fortsetzten, später der ,,popolo grasso," Populäres genannt und trat den adelichen Capitanei und Val- vassores (Baronen und Bittern) entgegen, dann auch im zwölf- ten Jahrhundert in dem Groszen Käthe (consilium generale),1 als einem städtischen Gesammtrathe , zur Seite.

Die Erzeugung einer städtischen Obrigkeit in den Consuln war der erste entscheidende Schritt zur Einigung der höhern Stände in der Stadt, die Bildung von Groszen Käthen und die Berufung von Gemeinden gewöhnlich ein zweiter und dritter. Zuletzt kamen die Zünfte, und so um- fing von Zeit zu Zeit ein weiterer Kreis der Bürgerschaft die altern engern Genossenschaften.

Diese Entwicklung zeigt sich zuerst in der Lombardei, wo die germanische Neigung zu genossenschaftlicher Bildung und freier Selbständigkeit mit alt -romanischen Erinnerungen sich verband. Von da aus ging die Bewegung auf die Städte im südlichen Frankreich über, zum Theil noch während des zwölften, zum Theil erst im dreizehnten Jahrhunderte. Ihren Ausgang und Anhalt fand sie vornehmlich in den Besten der alten freien, in Frankreich übrigens mehr als in der Lom- bardei herabgekommenen Municipalbürgerschaft, die sich durch gewählte Prudhommes vertreten liesz.

1 Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter Bd. II. S. 108 ff. Leo, Geschichte von Italien I. S. 399. Hegel, Städtererf. in Italien.

Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 153

2. Eine entschiedener demokratische Richtung und cor- porative Gestalt hatten die eidlichen Conföderationen der Bürger in den Commnnen, welche um dieselbe Zeit im Norden von Frankreich mit ihren Stadtherren oft blutige Kämpfe bestanden. In ihnen zeigen sich schon neue Elemente des Bürgerthums, voraus die Aufnahme in die Gildgenosse n- schaft (gildonia, conjuratio, fraternitas) , 2 welche allein zum Bürger der Commune machte, und mit eidlicher Verpflichtung auf ihre Statuten verbunden war. Die bürgerliche Freiheit und das bürgerliche Kecht wurde somit theils von der bloszen Fortpflanzung der freien Kasse, theils von dem Zusammenhang mit dem Grundbesitz abgelöst, und der Nachdruck auf die corporative Verbindung gelegt. Sowohl das Lehensprincip als das Princip des alt -germanischen Ständerechtes wurden durchbrochen und ein neues persönliches Princip erzeugt.

Ferner war die Verfassung der Commune der Ausbrei- tung der Freiheit und des Bürgerrechtes auch über die tiefer stehenden Schichten der städtischen Bevölkerung günstig. Auch die Menge der Handwerker, welche sich von der Hörig- keit losgemacht hatten, fand Aufnahme in der Genossenschaft, und es wurde der Grundsatz ein- und durchgeführt, dasz der Hörige, welcher Jahr und Tag in der Stadt unangesprochen und uu verfolgt von seinem Herrn gewohnt habe, zum Freien ge- worden sei. Hunderte von Stadtrechten3 in ganz Europa bezeu- gen den'wichtigen Satz: „Die Luft der Stadt macht frei."

Die Uebertreibungen und Ausschweifungen der Demokratie in den Communen führten freilich öfter wieder zu Reactionen. Die Könige, welche geholfen hatten, dieselben von der Herr- schaft der Seigneurs zu befreien, bekamen dann Veranlassung, die Zügel des Regiments selbst durch ihre Beamten in die

2 Vgl, Thierry, Lettre XIV. sur l'histoire de France, und S chäffner, Rechtsgeschichte IL S. 554 ff.

3 Für Deutschland sind in den "Werken von Graupp und Greng- ler, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, zahlreiche Belege zu rinden.

154 Zweites Buch, Yolk und Land.

Hand zu nehmen und straffer anzuziehen. In ähnlicher Weise ging auch die Selbstregierung der lombardischen Städte zu Anfang des XIY. Jahrhunderts meistens unter, und die Gewalt fiel einzelnen Fürsten zu, nachdem im XIII. Jahrhundert die neue groszentheils aus -den niedern Elementen der Stadtbewoh- ner gebildete Bürgerschaft des Popolo unter ihren demokra- tischen Hauptleuten (Capitani) mit dem städtischen Adel den Kampf um die Herrschaft begonnen und denselben häufig unterworfen oder verdrängt hatte.

Auszer den Städten mit Consulat- und mit Communal- verfassung gab es damals freilich noch viele Städte in Frank- reich , die in gröszerer Abhängigkeit von ihren Herren ge- blieben waren und von Vögten (prevöts, Prevotalstädte) oft sehr willkürlich regiert wurden. Auch in diesen Städten wur- den indessen die Lasten der Hörigkeit aufgehoben oder sehr gemildert, und bildete sich der Begriff der Bourgeoisie als eines freien Standes aus, dessen man durch Niederlassung in der Stadt, auch wohl durch königliche Verleihung des Bür- gerrechts theilhaft werde.4

3. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Bürger bezeichnen auch in Deutschland verschiedene Stufen der Entwicklung.

Im dreizehnten Jahrhundert pflegte man noch ähnlich wie früher in Italien und Frankreich die Eitter und die Bur- ger (milites et burgenses) zu unterscheiden, und unter diesen die zu der städtischen Genossenschaft gehörigen und raths- fähigen, aber nicht als Kitter lebenden Freien zu verstehen. Die freien Häuserbesitzer in der Stadt waren der Grundstock dieser Bürgerschaft, welche in Verbindung mit den ritterbür- tigen Geschlechtern gewöhnlich die Schöffen- und die Kaths- stellen der Stadt inne hatten. Dann wurden auch wohl, beide Bestandtheile (die Ministerialen überdem den Kittern beigesellt)

* Schaffner a. e. O. S. 590,

Dreizehntes Capitel. Die Freien und der Bürgerstand. 155

in ihrer Vereinigung als die vollberechtigten Bürger der Stadt, oder als die Geschlechter bezeichnet und den Hand- werkern und übrigen Einsassen der Stadt entgegengesetzt,

Seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts scheinen die Kaufleute in den deutschen Städten, insofern sie persönlich frei waren, auch abgesehen von dem Grundbesitz, der Bürger- schaft beigezählt worden zu sein, und ebenfalls Vertretung in dem Käthe der Stadt erlangt zu haben. Dadurch wurde der Begriff der Bürgerschaft von dem Zusammenhang mit dem Boden theilweise abgelöst, und dem Berufe und der persön- lichen Verbindung mehr Bedeutung als früherhin zuge- standen.

Die nämliche Richtung wurde sehr verstärkt, als in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts gewöhnlich auch die Handwerker, in ihren Zünften, als ein neuer Bestandtheil der Bürgerschaft einverleibt wurden. Das Wort Bürger hatte somit einen umfassenderen Sinn gewonnen. Es bezeichnete von da an regelmäszig alle Genossen des städtischen Lebens und der städtischen Corporationen. Die Hörigkeit war, so weit das Städtebürgerthum reichte, aufgelöst, die Unterschiede der Geburt wesentlich modificirt und gemildert, das Lehens- recht durch das gemeinsame und persönliche Stadtrecht ver- drängt, und alle Bürger als solche in eine unmittelbare Be- ziehung zu der Stadt gesetzt worden, zu welcher sie gehörten.

Dieses bald mit mehr bald mit weniger Rechten der Selbstverwaltung und Selbstregierung ausgestattete, aber immer- hin persönlich-freie Stadtbürgerthum war indessen auf den Umkreis der städtischen Interessen beschränkt. Im ein- zelnen war daher auch je nach der sonstigen Bedeutung und Geschichte der Städte die bunteste Mannichfaltigkeit denkbar. Aber es kamen die Bürgerschaften nun als ein besonderer Theil der Bevölkerung des Reiches in Verbindung, und es bildete sich der gemeine Begriff des Bürgerstandes aus, welcher obwohl die Familien- und Erbverhältnisse fort-

156 Zweites Buch. Volk und Land.

während ihren natürlichen Einflusz behielten doch wie der Bauernstand nicht länger an das Erbrecht gekettet blieb, sondern seinem Grundcharakter nach auf städtischem Leben beruhte.

4. Diese neue Entwickelung fand endlich im State ihren Ausdruck in der Organisation der gesetzgebenden Körper. Seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts erlangten in England die Bürgerschaften der Städte eine ursprünglich von der Bitter- schaft getrennte, dann mit dieser verbundene Vertretung im Nationalparlament. 5 Aus den Kepräsentanten der Bürgerschaft bestand in Frankreich der früher schon von Zeit zu Zeit einzeln, seit dem Anfang des XIV. Jahrhunderts zu den all- gemeinen Ständeversammlungen (etats generaux) berufene dritte Stand (tiers etat) des Keiches. Auch die Bänke der Städte auf den deutschen Keichsta gen seit der Erhebung Budolfs von Habsburg zum Könige waren wenigstens theilweise eine Stellvertretung des deutschen Bürgerstandes, und auf den deutschen Landtagen erhielten die Städte neben dem Adel und der Geistlichkeit als eine ständische Genossenschaft Sitz und Stimme.

Endlich wurden die neuen Kechtsgedanken , die sich in dem Städtebürgerthum ausgeprägt fanden, auf die weiten Kreise der Gesammtbevölkerung des States übergetragen, und aus dem Stadtbürgerthum wurde die Institution des modernen Statsbürgerthums geboren.

Vierzehntes Capitel.

Der dritte Stand in unserer Zeit. Die gebildeten Mittelclassen.

Der Abt Sieyes, dessen berühmte Schrift über den dritten Stand zu einer Leuchte und zu einer Brandfackel für die erste französische Kevolution geworden ist, hat bekanntlich

5 Ueber diese Entwicklung wird unten Buch V näher gesprochen werden.

Vierzehntes Capitel. Der dritte Stand in unserer Zeit. 157

die beiden Fragen aufgeworfen: Was ist der dritte Stand? und: Was ist der dritte Stand bisher in dem politischen Organis- mus gewesen? und die erste mit: Alles, die letzte mit: Nichts beantwortet. Die Antwort auf die erste Frage so outrirt als die auf die zweite hebt, indem sie die An- sprüche des dritten Standes steigert, den Begriff des dritten Standes geradezu auf. Wenn der dritte Stand wirklich im State Alles ist, so kann es auszer ihm weder einen ersten und zweiten, noch einen vierten Stand geben. Er ist dann selber kein Stand mehr, er ist das gesammte Volk.

In der ersten französischen Revolution verlangte denn auch der dritte Stand wirklich, dasz die beiden ersten Stände Frankreichs, Geistlichkeit und Adel, sich mit ihm in Einer Nationalversammlung vereinigen. !) Als das durchgesetzt war, löste er jene Stände in sich auf, und schlug als das Eine und gleiche stän delose Volk die ganze bisherige Statsordnung in Stück. Aber damals schon reagirten trotz der gleichmachen- den Theorie die natürlichen Gegensätze in dem Volke. Der Geistlichkeit und dem Adel half es nicht, dasz die Theorie sie in den dritten Stand aufgenommen hatte. Sie wurden dennoch in ihrer Eigenschaft als Geistlichkeit und Adel, als Pfaffen und „Aristokraten" zu zwei mit blutiger Gewalt ver- folgten Ständen, sie wurden die Schlachtopfer der Revolution. In der chaotischen Masse aber, welche die Herrschaft übte, gährten bisher unbeachtete ständische Gegensätze. Da schon gab der vierte Stand in den wichtigsten Krisen den Aus- schlag, und unter der rothen Herrschaft des Conventes, welcher vornehmlich aus den Führern des fieberisch erhitzten vierten Standes gebildet war, erbleichte in der Gironde der bürger- liche Glanz des dritten Standes.

1 Schon durch die "Wahl zu den Etats generaux von 1789 war eine Ausdehnung des Begriffs practisch geworden. Im Mittelalter war der tiers etat auf die Stadtbürgerschaften beschränkt, 1789 aber wählten die Bauern mit den Städtern. Tocquevüle Oeuvres VIII. S. 139.

158 Zweites Buch. Volk und Land.

Eben indem die französische Bevolution die Wahrheit der obigen Sätze von Sieyes an den Tag legen wollte, stellte sich das Ungenügende nnd falsche derselben heraus. 2 Der dritte Stand der Gebildeten hatte sich als Stellvertreter des Volkes benommen, und sich selbst mit dem Volke identificirt. Nun muszte er erfahren, dasz es auszer ihm noch grosze Volks- massen gebe, die sich mit der allgemeinen Fusion unter seiner Leitung nicht befriedigt fühlen.

Der erste Stand, die Geistlichkeit hat in unserer Zeit meistens aufgehört im State als ein besonderer politischer Stand zu gelten. Die Schicksale und die Existenz des zweiten Standes, des Adels , sind in unsrer Zeit vielfach ungewisz ge- worden. Aber der Gegensatz zwischen dem dritten und dem vierten Stand hat sich in dem neuesten politischen Erdbeben, das Europa zum Wanken gebracht, deutlicher als je gezeigt. Er darf daher in dem Statsrechte und in der Politik nicht vernachlässigt werden.

In unserer Zeit beruhen die Stände mehr auf der Lebens- weise und dem Berufe, als auf der Geburt. Es musz daher der dritte Stand auch in diesem Sinne erklärt werden. Er steht in der Mitte zwischen der Aristokratie und dem so- genannten vierten Stande. Er ist daher seinem Wesen nach ein Mittelstand. Er unterscheidet sich von dem ersteren durch den Mangel der besonderen aristokratischen Auszeich- nung, und von dem letztern dadurch, dasz er nicht von seiner Hände Arbeit lebt, sondern einen liberalen Beruf betreibt, oder mindestens in vorzüglichem Masze auf die Thätigkeit des Kopfes angewiesen ist. Er ist das, was wir in Deutschland

2 In Robespierre ist der neidische Hasz gegen alle höher n Stände und zugleich die abgöttische Verehrung des sogenannten „Volks" personificirt. In seiner Erklärung der Rechte iät der Satz enthalten: „Toute Institution qui ne suppose le Peuple bon et le magistrat corrup- tille, est vicieuse." Vgl. L. Stein, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich. I. S. 145.

Vierzehntes Capitel. Der dritte Stand in unserer Zeit. 159

den höhern Bürgerstand und was die Engländer, freilich in etwas engerem Sinne, Gentlemen zu nennen pflegen. Wir rechnen dahin folgende Classen der Bevölkerung:

1) Die Beamten (die Officiere inbegriffen), im Gegen- satze zu den niedern Stufen der Angestellten, und zu den höhern, die Eitterschaft begründenden Stufen.

2) Die Geistlichen und die Lehrer in der Eegel.

3) Die Notare, Advocaten, Aerzte, Apotheker, Privatgelehrte, Schriftsteller.

4) Die Künstler, Ingenieure und höhern Tech- niker.

5) Die Groszhändler und Fabrikanten.

6) Höhere (künstlerische) Handwerker.

7) Die Capitalisten (Rentiers).

8) Die groszen Gutsbesitzer, die nicht zu Rittern erhoben sind.

Eine höhere Erziehung und Bildung ist für die Bestimm- ung dieses Standes ein wesentliches Moment, und eine behag- lichere Stellung im Leben, welche auch für öffentliche Ge- schäfte Musze gewährt, eine gewöhnliche Eigenschaft desselben, Die Wählbarkeit zu Statsämtern setzt regelmäszig jene Bil- dung voraus, und die erhöhte Fähigkeit der Mitglieder dieses Standes, an den Verhandlungen repräsentativer Körper Theil zu nehmen, begründet meistens, wenn nicht durch besondere Gesetze Vorsorge getroffen wird, ein Uebergewicht derselben in den Nationalversammlungen und gesetzgebenden Kammern.

In dem jetzigen Statsleben ist dieser Stand meistens der einfluszreichste und in dem gewöhnlichen Gang des öffentlichen Lebens geht er voran. Die öffentliche Meinung ist regelmäszig die Meinung dieses Standes. Er läszt sich auch, obwohl nun Bildung, Vermögen und Beruf entscheiden und die Ab- stammung von Eltern desselben Standes nicht mehr als not- wendiges Erfordernisz gilt, füglich mit dem alten Stande der Voll freien oder der mittelalterlichen Mittel freien ver-

160 Zweites Buch. Volk und Land.

gleichen. Wie dieser im alten State die Grundlage des politisch berechtigten Volkes gewesen war, so wird der dritte Stand vorzüglich bei der heutigen Organisation des Stats beachtet. In ihm ist das vielgeschäftige Leben und die fortschreitende Bewegung repräsentirt.

Wie aber ist das Verhältnisz dieses dritten Standes zu dem niedern Adel zu bestimmen? Der niedere Adel unserer Tage ist groszen Theils in der höheren Bürgerschaft aufge- gangen und mit ihr in Lebensweise, Sitte, Beruf, Denkungsart Eins geworden. Es hat sich so aus beiden Elementen ein neuer höherer Mittelstand oder genauer eine Mittel- classe gebildet, wie im Mittelalter der Bürger- und der Bauernstand auch aus ursprünglich verschiedenen Ständen zu- sammen gewachsen sind. Auch in dieser Beziehung ist der englische Stat der heutigen Entwickelung des Continents vor- angegangen, indem schon im XIV. Jahrhunderte jene Ver- bindung der Kitterschaft und der Städterepräsen- tation im Unterhaus vollzogen ward, welche eine der festesten Stützen politischer Freiheit in Verbindung mit edler Sitte .ge- worden ist.

I

Fünfzehntes Capitel.

IV. Die hörigen Leute und der Bauernstand.

Wenn das Mittelalter dem Fortbestande der alten Gemein- freiheit nicht günstig war, so beförderte es auf der andern Seite die Erhebung und Befreiung der hörigen Leute. Eben indem es jene niederdrückte, hob es diese empor, und so näherten und mischten sich beide Stände auf derselben Stufe.

Ein immerhin kleiner Theil der hörigen Leute wurde so- gar über die Freien in den Stand des niedern Adels hiriauf- gerückt, die Ministerialen, welche durch Hof dienst den Dynasten persönlich nahe traten, und durch höfische Bildung

Fünfzehntes Cap. Die hörigen Leute und der Bauernstand, \Q\

und Sitten ausgezeichnet waren, mit reicherem Grundbesitz ausgestattet und mit der Zeit den ritterlichen Vasallen an die Seite gestellt wurden.

Ein anderer und zahlreicher Theil liesz sich in den Städten nieder und gelangte hier, indem er städtische Ge- werbe trieb und auf diese Weise auch zu Vermögen kam, zu- gleich zu persönlicher und bürgerlicher Freiheit. Den italiäni- schen Städten gebührt der Euhm, zuerst im Groszen die volle Befreiung der Hörigen ihres Gebiets durchgeführt zu haben. Die Stadt Bologna, die allezeit für die Freiheit gekämpft hat, faszte im Jahr 1256 auf Antrag ihres Podesta Accursius de Sorrecina den hochherzigen Beschlusz, alle Hörigen ihres Ge- biets freizukaufen und zu erklären, dasz es in Zukunft keine Unfreiheit mehr geben dürfe. *

Auch der Beruf der Handwerker, früherhin besonders in dem germanischen Europa gering geschätzt und vorzugs- weise den hörigen Leuten überlassen, wurde durch das ent- wickeltere städtische Leben gehoben. Die Innungen, zuerst wohl in Italien, wo auch sonst ein freies Bürgerthum zu früher Blüthe gekommen, als sclwlae eingeführt, dann in Frankreich unter Einwirkung der germanischen Neigung zu corporativer Gestaltung in Form von ministeria (mestiers) und Gheuden nachgebildet, zuletzt auch nach Deutschland ver- pflanzt, stärkten das Becht der Corporationsgenossen und die Ehre der Meister. Sorgfältigere Erziehung und stufenweise Ausbildung der Handwerker, erhöhte Kunstfertigkeit, gröszerer Vermögenserwerb, die neue Waffenfähigkeit im Dienste der Stadt unter eigener Innungs- oder Zunftfahne, die dauernde Verbindung mit den Interessen und dem Gedeihen der Stadt, alles diesz weckte das Selbstgefühl und die natürlichen An- sprüche der Handwerker ; und wenn noch manche von hörigem Stamme waren, so erkauften sie nun die volle Befreiung oder

1 Laurent a. a. 0. VII. 5. 663. Florenz folgte dem schönen Bei- spiele 1288.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 11

1(32 Zweites Buch. Volk und Land.

erlangten dieselbe durch massenhafte Erhebung. Das eigent- liche Bürgerrecht der Staclt konnte ihnen nicht entzogen bleiben.

Mit gröszeren Schwierigkeiten war auf dem Lande der Weg verlegt, auf welchem die hörigen Leute zur Freiheit aufstiegen. In manchen Gegenden galt sogar der entgegen- gesetzte Grundsatz: die Luft macht hörig. Aber wenn auch die hörigen Bauern nur ausnahmsweise zu voller persön- licher und politischer Freiheit gelangten, so erreichten sie doch, freilich langsamen Schrittes, in der Eegel eine zwar mit man- cherlei Lasten beschwerte und politisch zurückgesetzte, aber durch festen Rechtsschutz gesicherte und in ihrem Inhalt im- merhin erweiterte persönliche Freiheit. Mit den ursprünglich freien Bauern wurden sie zu einem gleichberechtigten Berufs- stande.

Im einzelnen sind die Verhältnisse äuszerst mannichfaltig, und auch die Uebergangsstufen aus der Eigenschaft zur Frei- heit zahlreich. Wie die Aufhebung der Sclaverei zu groszem Theile den Einwirkungen der Kirche zu verdanken ist, so ist auch die Erhebung der hörigen Leute von jeher voraus durch die Kirche begünstigt worden. In der That, wo Kirchen und Klöster Grundherrlichkeit besaszen, gingen sie meistens voran in Ertheilung bestimmter Rechte und Gewährung wichtiger Freiheiten für ihre Hörigen, und zuerst wurden die Gottes- hausleute den freien Bauern angenähert. Dann folgten auch die Könige dem Beispiele. Schon die Karolinger handelten in dieser Richtung zu Gunsten der Fiscalineh, und Ludwig der Heilige 2 erklärte, als er den Serfs auf den königlichen Domänen

2 Ordonn. I. 583: „Comme selonc le droit de nature chacun doit naistre franc et par aucuns usages moult de personnes de nostre commun peuple soient encheües en Heu de servitudes: Nous conside- rants que Nostre Royaume est dit et nomme le Royaume de Francs, et voullant que la cliose en verite soit accordant au nom ordenons, que generaument par tout nostre Royaume de tant comme il peut appartenir ä nous telles servitudes soient ramenees ä franchises ä bonnes et

Fünfzehntes Cap. Die hörigen Leute und der Bauernstand. 163

die Freiheit schenkte (1315), seinen Beruf als König des ,, Frankenreiches" zu erfüllen.

Der nämliche Geist des Mittelalters, welcher die Hoheits- rechte zu Gunsten der groszen Barone als erbliche Lehen an den Boden knüpfte, und welcher den Vasallen ihren Lehens- herren gegenüber gesicherte und dauerhafte Rechte an den Beneficien verlieh, stärkte und befestigte auch die Rechte der hofhörigen Bauern an den verliehenen Gütern, und bildete das hofrechtliche Erbe und eine eigenthümliche patrimoniale Ge- richtsverfassung aus, an welcher auch die Bauern unter Lei- tung ihrer Maires oder Meyer (villici majores) Theil hatten. Gedrückter war wohl die Lage der französischen Serfs und Vilains, als die der deutschen Hofleute und Grundholden, wie schon die Sprache den Gegensatz andeutet, aber immerhin ähnlich, und später als in Frankreich ging in Deutschland die Entwicklung zu höherer Freiheit vor sich. Doch standen auch in Frankreich die Coutumiers und Roturiers, unter denen die Ostes (H o s p i t e s) als höhere Olassen berechtigter Bauern den Gemeinfreien ganz nahe.

Diese bäuerliche Halbfreiheit bezog sich übrigens ge- meiniglich nur auf das Privatrecht und auf die Gemeinde- und Gerichtsverfassung.

Mit den freien Bauern, die unter die erbliche Vogtei- herrschaft gerathen waren, und deren Güter nun auch man- cherlei ewige Lasten zu Gunsten der ,, Herrn" zu tragen hatten, schmolzen sie zu dem- Einen sogenannten Bauernstande zusammen.

Zu einem politischen Stande im vollen Sinn wurde der Bauernstand nur ausnahmsweise in wenig Ländern, nur

convenables eonditions de tant comme il peut toucher nous." Vgl. Schaffner, franz. R. G. I. 523. Schon vorher hatte der Graf von Ya- lois, Bruder des Königs Philipps des Schönen, die Hörigen seiner Graf- schaft im Namen der natürlichen Menschenfreiheit für frei erklärt. Laurent a. a. 0. YI. G62.

11*

164 Zweites Buch. Yolk und Land.

da, wo er, wie in dem skandinavischen Norden die alte Ge- rn ein fr eiheit und die alte Verfassung glücklieh behauptet hatte oder im Tyrol von den Landesfiirsten zu den Landtagen zu- gezogen ward, oder wo er, wie in der Schweiz, freie Bauern- republiken gründete. In den meisten Ländern ward *er nur als ein unterthäniger Stand behandelt, dem keine politische und insbesondere keine repräsentative Eechte gebühren, der aber von der Natur bestimmt sei, vornehmlich die öffentlichen Lasten zu tragen. Er war wesentlich ein wirth schaft- lich er, nicht wie die Bürgerschaft der Städte ein Cultur- stand.

Vergeblich machten die deutschen Bauern in dem groszen Bauernkrieg des XVI. Jahrhunderts eine gewaltsame Anstren- gung, die Herrschaft zu brechen, die schwer auf ihnen drückte. Wenn man heute die bekannten XII Artikel liest, welche die Bauern damals verlangten, und sich erinnert, dasz dieses Ver- langen die heftigste Entrüstung der damaligen Gebildeten so gut wie der herrschenden Aristokratie über die unerhörte An- maszung der Bauern zur Folge hatte, so bemerkt man nicht ohne Befriedigung den mächtigen Fortschritt der Zeiten, in- dem die Bauern in unserm Jahrhundert überall mehr ohne Streit als Menschen- und Bürgerrechte erhalten haben, als sie damals zu fordern gewagt hatten.

Nur allmählich fing man an, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dasz die Bauern doch nicht eine blosz unterwürfige Menschenmasse bilden, aus der man nach Willkür Soldaten rekrutiren und der man beliebig Steuern abverlangen dürfe. Die englische Verfassung, welche den Yeomen (den probi et legales homines), wenn sie ein gewisses nicht hohes Masz von Einkünften von ihren Gütern zogen, das Kecht gab, an den Grafschaftswahlen für das Unterhaus Theil zu nehmen, zeich- nete sich in der Beachtung solcher Volksfreiheit wiederum' aus.

Erst die neue Zeit aber machte die Segnung der vollen persönlichen Freiheit und damit zugleich der Fähigkeit zu den

Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Volksclassen. X65

politischen Rechten allgemein für alle Classen der Bevölkerung. Die Philosophie des XVIII. Jahrhunderts hat zu diesem groszen Fortschritte den geistigen Anstosz gegeben, indem sie den Gedanken der natürlichen Menschenrechte zu Ehren gebracht hat. In Deutschland ging König Friedrich I. von Preuszen voran, indem er auf den königlichen Domänen die Eigenschaft aufhob 1702; Friedrich IL begünstigte und. erweiterte die Befreiung auch der übrigen Eigenen durch seine Gesetze, und Kaiser Joseph IL folgte dem Beispiel für Deutschösterreich 1782, ebenso Karl Friedrich von Baden 1783. Die meisten andern deutschen Staten blieben indessen noch zurück. Erst die enthusiastische Erklärung vom 4. August 1789 und die Verkündung der Menschenrechte durch die französische Na- tionalversammlung wirkten entscheidend auf das civilisirte Europa. Die Befreiung auch der hörigen und eigenen Clas- sen wurde nun als eine allgemeine Pflicht und als eine un- widerstehliche Forderung der neuen Zeit anerkannt, und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in dem abendländischen Europa, in der zweiteu Hälfte nun auch in Osteuropa voll- zogen. Gleichzeitig oder bald nachher wurde denn auch das Statsbürgerrecht auf die Bauern wie auf die Städtebürger ausgebreitet.

Sechzehntes Capitel,

Der sogenannte vierte Stand. Die Yolksclassen.

Die Rechte der untern Yolksclassen sind niemals in der Weltgeschichte so willig und voll anerkannt worden, wie gegen- wärtig. Es gibt kein charakteristischeres Kennzeichen und keine rühmlichere Erscheinung der modernen Weltepoche, als eben diese Befreiung und Berechtigung der groszen arbeiten- den Massen.

I

1(36 Zweites Buch. Yolk und Land.

Aber diese Umgestaltung, welche von dem Principe der individuellen Freiheit Aller ausging, setzte die Zerstörung und Auflösung der alten genossenschaftlichen Verbände voraus, oder setzte dieselbe durch. Die Individuen regten sich nun, ver- einzelt, nach Willkür. An der Stelle festgeordneter und ge- schlossener Körperschaften erschienen nun zufällig zusammen- getriebene Massen; statt der organisirten Glieder des Volks- körpers leicht bewegliche atomistische Haufen. Diese Des- organisation hatte vorzüglich die Gassen des vierten Standes betroffen. Darin lag offenbar eine grosze Gefahr der neuen Zeit. Die unorganisirten Massen fühlten sich leicht unzufrieden, und waren dann ebenso leicht von den Stürmen der Volks- leidenschaft aufzuregen.

In einer in den frühern Perioden der Weltgeschichte un- erhörten Weise haben gerade die untern Schichten dieses Standes in neuester Zeit in das Schicksal der europäischen Staten eingegriffen. Sie haben im Februar 1848 zum Er- staunen von Frankreich und der Welt zu Paris den Julithron umgeworfen und die Kepublik eingeführt. Und wenige Monate nachher bedrohten sie die ganze sociale Existenz der bürger- lichen Gesellschaft, und konnten nur durch die blutige Juli- schlacht in Paris nach langem wüthendem Widerstand für den Augenblick überwältigt werden. Der europäische Stat, die Kirche, unsere ganze Cultur und Civilisation, alle unsere geistigen und moralischen Erbgüter, waren zugleich mit der Sicherheit und den Früchten des Eigenthums dem Untergange ausgesetzt. Wo wäre die Zuversicht, worauf könnte sich das Vertrauen gründen, dasz diese unermeszliche Gefahr nicht schreckhafter wiederkehren werde, dasz sie wirklich überwun- den sei?

Die Gefahr liegt keineswegs in der Existenz des vierten Standes. Man kann auch nicht sagen, dasz derselbe seiner Natur nach revolutionär und unstatlich sei. Im normalen und gesunden Zustande ist derselbe vielmehr eine sichere Unterlage

Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Yolksclassen. J67

für die Statsordnung und Volkswohlfahrt. Aus ihm sind fort- während für den Stat frische Kräfte herbeizuziehen, die modernen Heere gehen grösztentheils aus ihm hervor. Während in dem dritten Stande nicht selten durch Verbildung und Ueberbildung die männlichen Eigenschaften des Muthes und der Thatkraft aufgezehrt worden sind, und an die Stelle der politischen Tugend und Aufopferung das blosze furchtsame und grundsatzlose Interesse getreten ist, so ist dagegen in dem vierten Stande häufig mehr Sitteneinfalt, Lebensfrische und ein Schatz unverdorbener Naturkräfte zu finden. Das Volk besteht zwar nicht aus dem vierten Stande allein; aber an Zahl und an Gewicht ist er der bedeutendste Bestandtheil des Volkes und wird daher zuweilen auch das Volk im engeren Sinne genannt. Die Monarchie insbesondere findet, wie die Spitze der Pyramide in dem Boden derselben, ihre sicherste und festeste Stütze in dem vierten Stande, wenn sie es ver- steht , sich mit demselben in organischen Rapport zu setzen, 1 was grosze Monarchen meistens verstanden haben.

Ein Ueberblick über die verschiedenen Classen des vier- ten Standes zeigt, wie bedeutend er ist. Wir können dazu rechnen :

1) voraus den gesammten Bauernstand, zunächst die Bauern selbst und ihre Knechte, den zahlreichsten und kräftigsten Bestandtheil des vierten Standes, bedeutend genug, um für sich selber wieder als besonderer Stand Geltung zu finden; aber auch die Hirten, Fischer, Schiffer, Bergknappen, und überhaupt die arbeitenden Classen, deren Beruf mit dem Naturleben in fortwährendem Zusammenhang bleibt.

1 Mitten in der gröszten Gefahr des Jahres 1848 wurde dieser be- ruhigende Gedanke von Fr. Rehmer in der Schrift: „Der vierte Stand und die Monarchie" ausgesprochen, ein Gedanke, der einige Jahre später in der Erhebung Ludwig Napoleons zum Kaiser der Franzosen eine höchst merkwürdige wenn auch nicht reine organische Verwirk- lichung erhalten hat.

158 Zweites Buch. Yolk und Land.

2) Sodann den niedern Bürgerstand, wohne er nun in der Stadt oder auf dem Lande, zunächst die kleinen Handwerksmeister sammt Gesellen und die Krämer, dann auch die übrigen industriellen untern Berufsclassen, z. B. die Weber und Schnitzer umfassend.

3) Die untern Angestellten und Diener des Stats und der höheren liberalen Berufsformen , im Heere von den Unteroff] eieren an abwärts, in den Bureau's die Schreiber und Kopisten u. s. f.

4) Das sogenannte Proletariat der Dienstboten, Fabrik- Tagelöhner u. s. f.

Allen Classen gemeinsam ist die Eigenschaft, dasz sie auf einen wesentlich materiellen Lebensberuf angewiesen und durch denselben in Anspruch genommen sind. Sie sind alle leiblicher Arbeit zugewendet. Eine absolute Scheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit ist freilich undenk- bar ; denn regelmäszig bedarf es auch zu dieser der Thätigkeit des Kopfes und häufig zu jener der Mitwirkung der Hand. Aber der Gegensatz zwischen beiden hat dennoch einen guten Sinn und ist auch von jeher von den Völkern wohl begriffen worden. Wo die Thätigkeit des Kopfes, die Speculation in- begriffen, überwiegt, ist feinere Geistesbildung Erfordernisz, und die Art des Berufes und der Lebensweise gehoben. Wo die materielle Arbeit des übrigen Körpers überwiegt, da ist jenes Masz von Geistesbildung entbehrlich, und das ganze Leben bewegt sich in schlichteren und einfacheren Formen.

Gemeinsam dem vierten Stande ist überdem, sowohl dasz er die not h wendige Unterlage aller Staten, wie über- haupt des gesammten Volkslebens bildet, als dasz er in sich selbst nicht die Fähigkeit hat, den Stat zu regieren. Er bedarf dazu immer der Führer und der Stellvertreter. In der Kegel ist die dienende und passive Seite des öffentlichen Da- seins in ihm dargestellt ; aber aufgeregt und in der Leiden- schaft erhebt er sich und durchbricht mit -unwiderstehlicher

Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Yolksclassen. 1(39

Kraft die Schranken der äuszern Ordnung und setzt gewaltsam seinen Willen durch. Er ist stark genug, auch die Herrschaft im State zu wechseln , und neue Verfassungen zu erzwingen. Er wirft Throne um und gibt neuen Männern oder Dynastien die Gewalt in die Hand. Aber er kann nicht selber regieren: und wo er es eine Weile lang versucht, hat der Stat das An- sehen eines Menschen, der auf dem Kopfe steht und die Beine in die Höhe streckt.

Seitdem es eine menschliche Geschichte gibt, ist der vierte Stand noch niemals zu einer so groszen Bedeutung für das Statsleben gelangt, wie unter den europäischen Völkern unserer Zeit. Zum erstenmal in der Geschichte sind selbst die dienenden Classen im engeren Sinne zu dem Bange von Freien erhoben worden: und auch die untersten Schichten fühlen sich betheiligt bei der Wohlfahrt des States und machen Anspruch auf politische Kechte. Der heutige Statsmann wird von der Macht der Verhältnisse genöthigt, ganz besonders den Zuständen des vierten Standes seine Aufmerksamkeit und Sorge zuzuwenden. Es ist nicht mehr genügend, die öffent- liche Meinung der Gebildeten zu hören und zu erwägen. Mehr als zuvor wirken nun die Massen mit ihren Instincten und ihren Neigungen und Leidenschaften. Der moderne Stat freilich zunächst nur unter den Völkern von europäischer und daher wesentlich arischer Basse ist auch in dieser Beziehung allgemeiner menschlich geworden.

Der vierte Stand ist aber so grosz, clasz er selber wieder ganze Stände umfaszt, und beachtenswerthe Abstufungen be- greift. Die gesundesten und krankhaftesten Elemente in dem ganzen heutigen Volkskörper sind dicht neben einander in dem vierten Stande. Die Bettung und Erhaltung des States ist ohne die Hülfe jener unmöglich , die Existenz desselben von diesen fortwährend bedroht. Die gesundesten Bestandtheile sind auf dem Land in dem Bauernst ande zu finden, obwohl auch sie, ohne eine neue geistig-sittliche Belebung die in

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ihren Fundamenten schwankende Statsordmmg auf die Dauer nicht zu erhalten vermögen. Ihnen zunächst stellen die Klein- bürger. Beide sind noch in den Gemeinden organisirt. Aber für die massenhaften in den Städten angehäuften Bürger ist die Gemeindeorganisation nicht mehr genügend, und die übrigen genossenschaftlichen Verbindungen sind der Auflösung verfallen. Die organische Beziehung der Meister unter sich und zu den Gesellen ist überall durchbrochen . und was natur- gemäsz zusammen gehört, aus einander gerissen. Der Mangel an statsrechtlicher Organisation ist aber für die Existenz der Stände verderblich. Der unorganisirte Stand ist nur die An- lage zum Stand: der wirkliche Stand hat einen Körper. Die Gemeinschaft der Bildung, der Interessen, dos Geistes unter den verschiedenen Berufsclassen wird durch die Des- organisation zwar nicht völlig aufgehoben, aber in einen Zustand der Unruhe und der Gährung zurück versetzt, und der schranken- und ziellose Krieg Aller gegen Alle eröffnet. Vergeblich schreitet dann die Polizei ein. Sie vermag das Uebel nur in einzelnen Ausbrüchen zu hemmen oder zu unterdrücken, und häufig vermehrt sie es noch, indem sie da, wo Sorge und Heilung Bedürfnisz ist. Btatt dieser Miszhandlung und Plage zum Gefolge hat. Wie kann man sich wundern, wenn gerade in den untern Schichten des vierten Standes auch die Saat atheistischer Vorstellungen und communistischer Lehren einen fruchtbaren Boden gefunden hat, und fast überall in den groszen Städten und theilweise sogar auf dem Land das Unkraut üppig aufgewuchert ist, welches die edleren Pflanzungen der Ver- gangenheit zu ersticken droht?

Das Proletariat bildet die unterste Stute innerhalb des vierten Standes. Es ist aber weder dem vierten Stande gleich zu stellen, noch ist es überhaupt ein Stand. Da ist es um- gekehrt nicht die Aufgabe des Statsmannes, das Proletariat zu organisiren und zum Stand zu erheben, sondern vielmehr die. es möglichst in den übrigen Ständen oder Classen unter zu-

Sechzehntes Cap. Der sog. vierte Stand. Die Volksclassen. 171

bringen, und so sein besonderes Wachsthum zu hemmen. Das Proletariat besteht zumeist aus den Abfällen der andern Stände. Die vermögenslosen und vereinzelten Theile der Bevölkerung, die sich deszhalb auch der ständischen Glie- derung entziehen, heiszen wir das Proletariat.

Es ist eine falsche und für den Stat überaus gefährliche Vorstellung, die Bewohner lediglich mathematisch nach dem Vermögen in Besitzende undNichtbesitzende zu trennen und die letzteren gar als Proletariat zusammen zu fassen und den ersteren feindlich entgegen zu stellen. Würde diese unorga- nische Meinung, der viel zu viel Vorschub geleistet worden ist, allgemein durchdringen und leitend werden, so müszte unsere ganze Civilisation von einer neuen Barbarei überrluthet und zertreten werden, denn das wäre die practische Consequenz jener gedankenlosen Lehre. Die grosze Mehrzahl der nicht- besitzenden Bevölkerung ist aber glücklicher Weise mit den übrigen Ständen noch organisch verbunden und wird durch diese Verbindung befriedigt. Die besitzlosen Kinder sind keine Proletarier, weil sie in der Familie ihrer Eltern Pflege, Erziehung, Unterhalt finden. Sie theilen den Stand der Eltern, und selbst über die armen Waisen ergänzt und ersetzt der Organismus der Gemeinde die Familie. Die grosze Zahl der besitzlosen Bauernknechte und Mägde sind wieder keine proletarische Bevölkerung, weil sie nicht vereinzelt in der AVeit stehen, sondern auf dem Hofe und in der Familie des Bauern eine Heimat und gesicherten Theil an dem ständischen Leben finden. Als das Handwerk besser or- ganisirt war, als heut zu Tage, waren auch die Gesellen Familienglieder der Meister, und selbst in der jetzigen Auf- lösung ist in ihnen noch das Gefühl des Handwerkstandes lebendig und hebt sie hoch empor über das Proletariat. Auch die Dienstboten erhalten in der Verbindung mit der Dienst- herrschaft eine beruhigte Existenz und haben Theil als Gefolge ihrer Herrn an den ständischen Verhältnissen dieser. Den

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Soldaten endlich gibt die Einreibung in den Körper der Armee Sold und Ehre. Der Mangel einer Organisation der Fabrikarbeiter aber ist eine der krankhaftesten Seiten un- serer heutigen Stände und deszhalb ist in dieser Classe die Masse des Proletariats so unverhältniszmäszig und drohend an- gewachsen.

Die wahre Kunst des Statsmannes ist also zu bewirken, dasz so wenig als möglich Abfälle der organisirten Stände in das nothwendig unorganisirte atomistische Proletariat versinken und dahin zu arbeiten, dasz aus diesen so viel Individuen als möglieh in die organisirten Stände aufsteigen und da auch den relativen Besitz des gesicherten Lebensunterhaltes erwer- ben. Das so verminderte Proletariat bedarf dann nicht einer selbständigen Organisation, zu dem es keine Fälligkeit hat, sondern des Patronates, welches sieh Beiner Interessen an- nimmt und für dasselbe spricht nnd handelt.

Dem vierten Stande gebrichi es, «ras die Statsverfassung betrifft, durchweg an der Fähigkeit, die eigentlichen Stats- ämter zu verwalten. Di«' oberu Classen desselben aber besitzen regelmäszig die Fähigkeit, Gemeindeämter zu be- kleiden, und dürfen daher von diesen nicht ausgeschlossen werden.

An der Volksvertretung gebührt dem vierten Stande neben dem dritten ein Antheil, und der Stat Unit wohl, näher dafür zu sorgen, dasz dieser Antheil, der bei völlig gleicher Behandlung leicht ?on dein gebildeten und in freierer Musze lebenden dritten Stande ihm factisen ganz entzogen wird, ge- sichert bleibe. Indessen da die Glieder dieses Standes oft weder Musze haben, noch hinreichende Gewandtheit, in Person ihre Interessen zu vertreten, wird immerhin die Wählbar- keit auch für diesen Antheil nicht ganz auf den Stand be- schränkt werden dürfen. Das Stimmrecht endlich gebührt diesem Stande nach Verhältnis seiner groszen Bedeutung: unrichtig aber ist es, alle Individuen desselben, deren gesell-

Siebzehntes Capitel. Die Sclaven. 173

schaftliche Bedeutung und Fähigkeit so sehr verschieden ist, auf gleiche Linie zu stellen.2

Das eigentliche Proletariat insbesondere bedarf in seinem wirklichen Interesse weit eher der Patrone (Schutzherren, Mundherren) als der Kepräsentanten, die es doch nicht in seiner Mitte finden kann. Je höher dann durch Ansehen und Einflusz der Patron gestellt wäre, um so wirksamer wür- den die Interessen des Proletariats gewahrt werden.

Anmerkung. Zu den glänzendsten Partien des Riehl'schen Buches über „die bürgerliche Gesellschaft" gehört die Charakterisirung des deut- schen Bauernstandes. Aber wenn Riehl das Proletariat als Stand auf- faszt und den vierten Stand nennt, so halte ich das für einen Irrthum, vor dem ihn die Conscquenz seiner eigenen Beobachtungen und Bemer- kungen hätte bewahren sollen, und der in der zweiten Auflage nur ge- mildert aber nicht gehohen worden i>t. In Fragen von so ungeheurer poetischer Wichtigkeit darf dem freilich schon lange verbreiteten Irr- thum keine Concession gemacht werden.

Siebzehntes Capitel.

V. Die Sclaven.

Der Sclave kommt ursprünglich als ein Fremder in die Familie und in das Volk hinein, deren Gewalt er unterworfen wird. So verbreitet das Institut der Sclaverei im Alterthum war, so weisz ich doch von keinem Volke, welches dieselbe als einen nationalen Stand betrachtet hätte. Schon das ist uns ein Zeugnisz, dasz die Sclaverei nicht ein Bedürfnisz der menschlichen Natur sei.

Aristoteles (Polit. I. 2.) hat zwar mit vielem Aufwand von Scharfsinn zu beweisen versucht, dasz die einen von Natur Herren und die andern von Natur Sclaven seien. Aber soweit seine Beweisführung Wahrheit enthält, ist sie blosz geeignet,

2 Siehe unten Buch V. Cap. 5 und 6.

174 Zweites Buch. Volk und Land.

die Notwendigkeit dienender Classen der Bevölkerung zu begründen, nicht aber das Bedürfnisz der rechtlosen Sclaverei. Allerdings bedarf der höher begabte Mensch, soll er seine Bestimmung erfüllen können, auch beseelte Werkzeuge, wie Aristoteles sie nennt, zu seinem Dienste, und allerdings gibt es Menschen, welche von der Natur selbst vorzugsweise auf körperliche Thätigkeit angewiesen sind und ebenso sehr der Leitung und des Befehles eines Herrn bedürfen, um ihren Beruf richtig auszuüben, als dieser ihrer Dienstleistung. Aber daraus folgt doch nur, dasz Herrschaft und Dienstboten, Meister und Gesellen, Bauer und Knechte, Fabrikherr und Fabrikarbeiter einander gegenseitig bedürfen, keineswegs aber, dasz das Unterordnungsverhältnisz des dienenden Theiles zum herrschenden dem der Hausthiere zum Eigentliümer gleich zu achten sei; es folgt nicht daraus, dasz die Arbeiter alle indi- viduelle Freiheit und die menschliche Persönlichkeit aufgeben und zu bloszen Sachen und AVerk zeugen eines bestimm- ten Herrn, d. h. eben zu Sclaven werden müssen. Der Mensch ist von Natur Person, daher kann er nicht Sache, d. h. nicht Sclave sein.

Die römischen Juristen, welche in ihrer Rechtstheorie den absoluten Eigenthumsbegriff mit einer auch im Alterthum auffallenden Härte auf die Sclaven anwendeten, und dieselben durchweg als rechtlose Wesen, als blosze Sachen darstellten, waren sich doch bewuszt, dasz die Sclaverei wider die Natur und nur durch den gemeinen Gebrauch der Völker eingeführt worden ist. 1 Sie erklärten daher die Freilassung als Wieder- herstellung des natürlichen Hechtes.2 Die römische Juris-

1 Florcntinus L. 4. §.1. de Statu hominum: ,, Servitus est constitutio juris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subjicitur.u $.'3. J. de jure person.

2 Ulpianus L. 4. de Just, et Jure. („Manumissio) a jure gentium originem sumsit, utpote quum jure naturali omnes lihcri )ius<<r<ntttr, nee esset nota manumissio, quum servitus esset incognita; sed posteaquam jure gentium servitus invasit, secutum est beneficium manumissionis."

Siebzehntes Capitel. Die Sclaven. 175

prudeuz wuszte das, und hielt dennoch mit starrer Consequenz über ein Jahrtausend an dem gewaltsam eingeführten Eigen- thum über die Sclaven fest. Die kaiserlichen Verordnungen, dasz es den Herren nicht mehr gestattet sei, ohne Masz und ohne Grund wider ihre Sclaven zu wüthen, 3 schützten vor den Excessen roher Grausamkeit, etwa so wie neuere Gesetze gegen die Thierquälerei gegeben sind, sie änderten aber nichts an dem Grundbegriffe: und nach wie vor war der Sclave nicht nur eigentlmmslos, sondern es waren ihm selbst die Kechte der Ehe und der Blutsverwandtschaft versagt.

Ebenso war es dem deutschen Bechtsbewusztsein klar, dasz, wie der Verfasser des Sachsenspiegels4 sich energisch ausdrückt, alle Eigenschaft von Zwang, Gefangennehmung und unrechtmäsziger Gewalt ihren Anfang genommen, und dasz man später das für Recht ausgegeben hahe, was nur eine alte aber ungerechte Gewohnheit sei. Auch erkannten die ger- manischen Völker von jeher eine relative Berechtigung der Eigenen5 an. Die Vermögens- und Familienrechte der- selben waren zwar unvollkommen und hatten in der altern Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs wesent- lich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er dieselben achte oder nicht ; aber der Keim der spätem allmählichen und stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen war in den germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie in dem römi-

3 Gajus L. 1. §. 2. de bis qui sui vel alieni.

4 Sachsenspiegel III. §.3: „An minen sinnen ne kan ik is nicht upgenemen na der warheit, dat ieman des anderen sole sin, ok ne hebbe wir's nen Urkunde. §. G. Na rechter warheit so hevet egenscap begin von gedvange unde von vengnisse vnde von unrechter walt, die man von aldere in unrechte wonheit getogen hevet unde nu vore recht heben wil."

6 Die Gleichstellung der Eigenen mit Hausthieren, die auch in deut- schen Rechtsquellen gelegentlich gefunden wird, bezeichnet durchaus nicht das Wesen des altern Verhältnisses, das Tacitus mit scharfem Kennerblick mehr dem römischen Colonat als der römischen Servitus verglichen hat.

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sehen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven war nie ganz verloren gegangen, und deszhalb war auch die Perfectibi- lität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.

Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen- theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form der Hörigkeit überging. Ihre letzten Eeste aber sind mit der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts weggeräumt worden.

Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi- tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen- thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich. Mehr aber noch ist sie dem germanischen Eechts- und Freiheits- gefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität zu verdanken. 6

Eine eigentümliche Geschichte hatte die russische Leibeigenschaft. Es gab in Euszland von Alters her eine per- sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war die Masse der Bauern frei. In den weiten Bäumen bedurften die Grandherrn zahlreicher Arbeiter, und da die Bauern noch den freien Zug hatten und der alte nomadische Wandertrieb zu stätem Wechsel der Wohnsitze anreizte, so lag es im Interesse der Herrn, die Bauern durch mancherlei Vergünsti- gung auf ihren Gütern festzuhalten. Die bäuerliche Eigen- schaft entstand erst, seitdem der Stat aus Gründen der Finanzen und des Militärsystems die Bauern immer fester an die Scholle band und der Willkür der Herrn überlieferte. Das sieben- zehnte Jahrhundert hat sich auch in andern europäischen Län-

6 Vgl. unten S. 160.

Siebenzehntes Capitel. Die Sclaven. 177

dem der bäuerlichen Freiheit ungünstig erwiesen, aber wohl nirgends ungünstiger als in Kuszland. Knechte und Bauern wurden zu gemeinsamer Eigenschaft verbunden. Der Herr erhielt eine fast unbeschränkte Verfügung über ihre Personen und ihre Habe. Aber auch in Euszland brachte die neue Zeit erst Erleichterung der Lasten, und in unsern Tagen Befreiung für die Bauern. Das Emancipationswerk , welches der Kaiser Alexander IL trotz des Sträubens vieler Adelicher durchführte, (Gesetz vom 19. Febr. 1861), hat auch da eine neue Periode privatrechtlicher Freiheit eingeleitet. 7

So wurde Europa allmählich gereinigt von dem uralten Fluch der Sclaverei. Aber in der neuen Welt hatte dieselbe einen neuen Boden und eine in mancher Hinsicht noch schlim- mere Anwendung gefunden. Wie furchtbar sich dieser Frevel an dem Geiste der Humanität gerächt hat, das hat der nord- amerikanische Bürgerkrieg gezeigt (1861 1865).

Die Negersclaverei ist zwar insofern weniger verwerflich, als die antike Sclaverei der europäischen Völker, als dort die Herrschaft der weiszen Herrn nicht über ihres gleichen, wie hier, sondern über eine von Natur untergeordnete schwarze Kasse geübt wird. Aber diese Anlehnung an die natürliche Ordnung begünstigt auch die leidenschaftliche und hoch- müthige Ueberhebung der Weiszen, die weniger geneigt sind und weniger genöthigt werden, in den Schwarzen die gemein- same menschliche Natur zu ehren und die Grausamkeit der Miszhandlung wird heftiger und häufiger, als sie im Alter- thum gewesen war. Die bittere Ironie, mit welcher Montes- quieu (Esprit des Lois XV. 5.) die übermüthige Verachtung der Schwarzen von Seite ihrer weiszen Herrn geiszelt, wenn er sagt: „Man kann sich nicht vorstellen, dasz Gott, der doch ein höchst weises Wesen ist, eine Seele und vorzüglich eine

1 Vgl. den Art. Leibeigenschaft (russische) von Tschitscherin im Deutschen Statswörterbuch.

Bluntschli, allgemeines Statsreekt. I. 12

178 Zweites Buch. Yolk und Land.

gute Seele in einen ganz schwarzen Körper versetzt habe" diese Ironie schlägt nicht in den Wind.

Die amerikanische Sclaverei war daher auch viel härter als je die europäische Eigenschaft gewesen war. Die Schonung und Sorge, welche den farbigen Sclaven von ihren Herrn that- sächlich zu Theil ward, hatte keinen andern Charakter als die wirthschaftliche Schonung und Pflege, welche der Bauer seinem Ackervieh zuwendet. Die moralische und rechtliche Erniedrigung, die sich in der Bestreitung jeder Menschenwürde, in der Miszachtung der Ehe und der Familie, in dem Mangel der religiösen und sittlichen Erziehung, in der Verweigerung jedes Kechtsschutzes überhaupt, und in dem ungehemmten Handel mit Sclaven und nicht selten in empörender Grausam- keit zeigte, drückte dieselben ganz auf die Stufe der Haus- siere herab und verletzte so die göttliche und menschliche Ordnung aufs tiefste.

Es war ein Unglück für Amerika, dasz der Antrag Jeffersons, der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, welche auch die Freiheit als ein unveräuszerliches Menschen- recht verkündigt, die Beschwerde über die Zulassung und Be- günstigung der Negersclaverei von Seite der königlichen Ke- gierung beizufügen, in der Minderheit geblieben war. Die anfängliche Absicht, allmählich und stufenweise die Sclaverei zu beseitigen, fand eine weniger nachhaltige Unterstützung als das Streben der Sclavenhalter , ihren Besitz zu schützen und zu erweitern. Kaum konnte das Gleichgewicht der sclavenfreien Staten mit den sclavenhaltenden in der Bundesregierung behauptet werden. Seit einem Jahrhundert war die Masse der Sclavenbevöl- kerung von einigen Hunderttausenden zu mehreren Millionen an- gewachsen. Die rasch entwickelte Cultur der Baumwolle und des Zuckerrohrs wirkte nach dieser Seite hin sehr verderblich.

Inzwischen fing man an, die Aufhebung der Sclaverei von Europa auch nach Amerika überzupflanzen. England ging hier und mit groszen Mitteln voran. Mögen dabei auch

Siebenzehntes Capitel. Die Sclaven. 179

unreine Motive, wie es in menschlichen Dingen nie anders ist, mitlaufen, das Ziel dieses Strebens ist dennoch ein heiliges und gerechtes und der Mann, der zuerst der Sclavenbefreiung sein Leben widmete und mit erfolgreicher Energie in und auszer dem Parlament diese Sache betrieb, William Wilberforce, war auch von der Keinheit dieses Zieles erfüllt. Die Auf- hebung der Sclaverei in den englischen Colonien, die Ent- schädigung der sogenannten Eigenthümer, und die völkerrecht- lichen Verträge zur Unterdrückung des Seehandels mit Neger- sclaven sind doch trotz aller Miszgriffe im Einzelnen grosze Verdienste um die Menschheit.

Der Sieg der Union über die sclavenhaltenden Staten des Südbundes hat die Abschaffung der Negersclaverei zunächst für Nordamerika entschieden. Die Union duldet keine Sclaverei mehr in dem Bereich ihrer Statsmacht. (Verfassungsgesetz vom 1. Febr. 1865, proclamirfc 18. Dec. 1865). Damit ist die Frage mittelbar für ganz Amerika entschieden. Es werden sich die Staten in Südamerika nicht lange mehr der Aner- kennung desselben Princips entziehen können.

Freilich ist damit die schwierige Frage der politischen Stellung und Kechte der Neger noch nicht erledigt. Es ist nur die privatrechtliche Freiheit und Berechtigung auch der dunkel-farbigen Kasse anerkannt. Ob die Neigung, den Negern auch die vollen politischen Rechte einzuräumen, die gegen- wärtig im Norden Amerikas vorrherrscht, nachhaltig sei, ist zweifelhaft. Politisches Recht setzt politische Fähigkeit voraus. Dasz aber die repräsentative Demokratie, die bisher nur den politisch gebildetesten Nationen geglückt ist, die naturgemäsze Statsform sei für die Neger, wo sie massenhaft beisammen sind, und dasz diese fähig seien, die demokratische Verfassung, welche eine seltene männliche Selbstbeherrschung und Selbst- tätigkeit erfordert, würdig zu erfüllen und tapfer zu behaupten, das wird kaum ein Kenner der menschlichen Natur und der Statengeschichte zu behaupten wagen.

12*

180 Zweites Buch. Volk und Land.

Immerhin lassen sich folgende allgemeine Sätze als an- erkannte Folgerung des humanen Statsprincips aussprechen:

1) Der Stat ist berechtigt und verpflichtet, wo sich auf seinem Gebiete noch Ueberreste von persönlicher Sclaverei vorfinden, dieselben zu beseitigen. Indern er das thut, hebt er nur altes Unrecht auf.

2) Der Stat darf keine neue Begründung der Sclaverei dulden, auch dann nicht, wenn einer sich freiwillig zum Sclaven ergeben möchte.

3) Der Stat verweigert mit Eecht dem fremden Herrn seinen Rechtsschutz , wenn dieser innerhalb des Statsgebietes Eigenthum an seinen Sclaven verfolgen will.9

4) Die Sclaven, welche den Boden freier Länder betreten, werden ipso facto frei, und können den Schutz der Gerichte für ihre Freiheit anrufen.

Achtzehntes Capitel.

VII. Die Classcn.

Die mittelalterlichen Stände sind überall in der Auflösung begriffen. Der Klerus, der vormals die erste Stelle einnahm, weil er eine höhere fast göttliche Würde in Anspruch nahm,

8 Für England vgl. Blackstone Comment. I. 14. Urtlieil des Gerichtsh. v. "Westminster-Hall v. 1771. (Wheaton histoire du D. d. G-. II. 353.) Das englische Gesetz vom 28. August 1833 regulirt die Frei- lassung in den englischen Colonien und erklärt jeden Sclaven, der mit Zustimmung seines Herrn nach Groszbritannien oder Irland komme, für frei. In Frankreich schon in den Inst it. Coutum. von Loysel aus d. XVI. Jahrh. der Satz : „Toutes personnes sont franclies en ceRoi'aume: et si-tost qu'un Esclave a atteint les Marclies d'icelui, se faisant baptizer, est affranchi." Französisches Gesetz v. 1791, 28. Sept. Verfassung von 1848. 6. „L'esclavage ne peut exister sur aucune terre frangaise." Art. add. au traite de paix de Paris 1814. „Sa Majeste Träs-Chretfenne et Sa Majeste Britannique s'engage pour faire prononcer par toutes les puissances de la chretiente l'abolition de la traite des noirs."

Achtzehntes Capitel. Die Classen. 181

hat diesen Vorrang vor den Laien verloren und überhaupt auf- gehört, ein besondrer politischer Stand zu sein. Die moderne Verfassung bringt die höheren geistliehen Würdeträger, die Prälaten in der Aristokratie, die übrige Geistlichkeit in der höhern Bürgerschaft unter. Wie sehr die mittelalterliche In- stitution des Adels, sowohl des höhern als des niedern, zer- rüttet und wie wenig sie geeignet ist, eine selbständige höhere Statsstellung als ständisches Recht zu behaupten, hat die Be- trachtung der neuern Geschichte deutlich genug gezeigt. Aber auch der alte Bürgerstand hält nicht mehr in der frühern ständischen Weise zusammen. Die gebildeten Classen haben in dem modernen Repräsentativstat eine andere Bedeutung , als die mittelalterliche Bürgerschaft. Nicht einmal der ruhigste und die alten Sitten und Anschauungen gewohnheitsmäszig fest- haltende Bauernstand kann sich der Bewegung der Zeit und den neuen Bildungsmomenten in ihr entziehen, und die In- dustrie hat sich auch auf der Landschaft eingebürgert und das blosze Bauernwesen durchbrochen.

Bisher sind auch alle Versuche, die mittelalterlichen Stände zu reformiren und dann den Stat darauf zu stützen, völlig verunglückt. Der Instinct der Völker ist entschieden misztrauisch gegen denselben geblieben. Die Völker fühlen sich dem Ständestat des Mittelalters entwachsen und sie wollen keine auch nicht eine revidirte und reformirte Wiederherstellung desselben.

Dennoch begreift man, dasz die blosze Fusion aller Stände ebenso wenig ausreicht, und dasz die unläugbar vorhandenen massenhaften Gegensätze in der Bevölkerung auch ein stats- rechtliches Gewicht haben. Will man dieselben Terfassungs- mäszig ordnen, so bleibt daher kein anderer Weg mehr übrig, als die Eintheilung nach Classen, statt nach Ständen. Was wir in der neuen Sprache noch Stände heissen, das sind oft nicht wirkliche Stände, sondern Classen.

Die Classen unterscheiden sich von den Ständen dadurch,

182 Zweites Buch. Volk und Land.

dasz jene vom State aus und für den Stat geordnet sind, während die Grundlage dieser zunächst auszerhalb des States ruht. Die Classen setzen die Einheit des Volkes voraus, die Stände ignoriren die Volkseinheit. Die Classen sind eine nationale und statsrechtliche Institution zu politischen Zwecken, die Stände sind voraus eino particuläre und privat- rechtliche Gruppirung, deren Zwecke nicht ausschlieszlich und nicht vorzüglich eine politische Bedeutung haben. Der Klerus lebt voraus der Kirche, nicht dem Stat; der Adel denkt vor- erst an sich und seine besonderen socialen Interessen, der Bürger lebt dem Gewerbe, der Bauer der Landwirtschaft. Der Stat kommt nur mittelbar in Betracht. In den Ständen zeigt sich die natürliche Verbindung gleichartiger Cultur und Wirthschaft, und deszhalb sondern sich die einen Berufskreise von den andern. Die Eücksichten auf den Stat üben darauf keinen Einflusz. Die Classen dagegen sind ein rationelles Product der organisatorischen Statsweisheit. Die Stände sind naturwüchsig, die Classen eine Culturerscheinung. Daher finden wir das Classensystem nur bei civilisirten Völkern mit einem ausgebildeten statlichen Bewusztsein. So bei den Hellenen, wie besonders zu Athen nach der Solonischen Verfassung, in Rom nach der Servianischen Verfassung, der wir den Ausdruck Classen entlehnen, so auch in unsern modernen Staten Europas. Nichts hindert, bei der Classeneintheilung auch die vor- handenen Stände zu berücksichtigen, aber es ist weder nöthig noch wünschenswerth, dasz Classen und Stände zusammen treffen. Wenn sie zusammen fallen, so ist die ständische Ordnung zur Statsordnung erhoben, wie wir das zum Theil im Mittelalter finden. Damit ist aber auch die ständische Gebundenheit und die Spaltung des Stats unvermeidlich mitbegründet. Die ständischen Interessen und die ständischen Vorurtheile bekommen, weil sie zugleich politische Macht erhalten, allzu leicht das Ueber- gewicht über die allgemeinen Volksinteressen und die bessere Volkseinsicht. Wenn dagegen einzelne Classen die Stände

Achtzehntes Capitel. Die Classen. 133

durchschneiden und Bruchtheile aus verschiedenen Ständen zusammen fassen, so ist das eine schätzbare Garantie der nationalen Gemeinschaft und des höheren politischen Lebens, welches eine vielseitigere Anregung empfängt.

Sehr oft sind die Classen je nach der Grösze des Ver- mögens unterschieden worden. Es ist das die Censusver- fassung. Dadurch wird aber das Yermögen zu der wichtig- sten politischen Potenz erklärt und der Werth der Bürger für den Stat nach der Zahl der Geldstücke abgestuft, über welche sie verfügen, was doch selten der Wahrheit entspricht. Auch dieses Eintheilungsprincip ist doch wieder in erster Linie wirthschaftlich und privatrechtlich, und nur in zweiter Linie mittelbar statsrechtlich und politisch. Daher ist eine orga- nische Eintheilung, welche vorzugsweise die Fähigkeit und Tauglichkeit für den Stat, soweit dieselbe überhaupt in verschiedenen Abstufungen sichtbar wird, beachtet, jenem blos mathematischen Princip vorzuziehen. Das aber richtig zu er- kennen und zu bestimmen, ist eine schwere Aufgabe für den Statsmann.

Im Groszen lassen sich für den modernen Stat haupt- sächlich folgende vier Classen des Volks unterscheiden:

1) Die regierende Classe: Fürsten und Beamte, mit obrigkeitlicher Gewalt. Ihre Stellung überragt alle anderen Classen durch die Statsmacht, die in ihren Händen ist. Sie stehen an der Spitze des Stats.

2) Die aristokratische Classe, die als solche nicht mehr regiert, aber zwischen der regierenden Classe und den Volksclassen eine selbständige und ausgezeichnete politische Stellung einnimmt.

3) Der sogenannte dritte Stand, d. h. die Classe des ge- bildeten und freien Statsbürgerthums , ohne Rücksicht auf Stadt und Land: die eigentlichen Mittelclassen.

4) Die groszen Volksclassen, die auch unter dem Namen des vierten Standes zusammengefaszt werden, sowohl

184 Zweites Buch. Volk und Land.

die Kleinbürger in den Städten als die Bauern begreifend und die übrigen Massen der Arbeiter, soweit sie nicht schon in den andern Schichten eingereiht sind? in weiteren Kreisen umfassend. Die erste Classe ist die Krone, die letzte ist die Wurzel und der Stamm des States. Die Volksclassen sind die Basis, die regierende Classe ist das Haupt des Stats. Auf dem ge- sunden Kapport dieser beiden Classen beruht vornehmlich die Energie und die solide Kraft des Volksstats. Die beiden mittleren Classen ergänzen, controliren und beschränken die Thätigkeit der ersten Classe bald mehr in aristokratischer, bald mehr in repräsentativ-demokratischer Weise, und sie sind durch ihre höhere Bildung und ihre günstigere sociale Lebens- stellung auch vorzüglich befähigt, und durch ihr gehobenes Eechtsbewusztsein und Freiheitsgefühl veranlaszt, darüber zu wachen, dasz die Bedingungen der allgemeinen Volkswohlfahrt und die Interessen der ganzen Nation wohl gewahrt und be- achtet werden. Sie sind die natürlichen Patrone, Führer und Vertreter der letzten und gröszten Classe.

Neunzehntes CapiteL

VIII. Verhältnisz des States zur Familie. 1. Geschlechterstat. Patriarchie. Ehe.

Sehr oft schon wurde in alter und in neuer Zeit der Satz ausgesprochen: „Die Familie ist das Urbild des Sta- tes. Der Stat ist die erweiterte grosze Familie."1 Man ver-

1 Cicero de Officiis I. 17.: „Prima societas in ipso conjugio est, pro- xima in liberis, deinde una domus, communia omnia. Id autem est prin- cipium urbis et quasi seminarium reipublicae." Aber sogar Rousseau im Contrat Social, zu dessen Grundansichten über den Stat es freilich gar nicht paszt: „Die Familie ist das erste Vorbild der politischen Ge- sellschaft.'4

Neunzehntes Cap. Verhältnis d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 185

glich dann das Statsoberhaupt mit dem Vater, das Volk mit den Kindern.

Indessen jener Satz und diese Vergleichung sind nur in beschränktem Sinne wahr. Sie gelten nur mit Bezug auf die patriarchalische Statsform, nicht aber für den höheren nationalen und menschlichen Stat. Es ist daher nöthig, die durchgreifenden Gegensätze zwischen Familie und Stat zu bezeichnen :

1) Die Familie beruht auf der Ehe und ehelicher Kinderzeugung. Die Familienglieder sind entweder als Ehegatten oder durch gemeinsames Blut verbunden. Diese Grundbegriffe des Familienrechts sind aber keineswegs Grund- begriffe des Statsrechtes. Die Statsgenossen sind als solche weder durch die Ehe noch durch das Blut mit einander ver- bunden. Sie haben nicht einmal nothwendig Ehegemeinschaft unter sich, noch weniger gemeinsame Abstammung. Die Grund- rechte der Familie sind daher auch von dem State unab- hängig. 2

2) Der Stat beruht auf der Organisation des Volks und ihrer Beziehung zum Land. Diese statlichen Begriffe sind hinwieder keine Begriffe des Familienrechtes. Das Volk besteht eben so sehr und noch mehr aus Individuen, Ständen, Classen, als aus Familien, und die Beziehungen des States zu jenen werden nur ausnahmsweise durch die Familie ver- mittelt, gewöhnlich nur insofern die Kücksicht auf das Fami- lienleben, wie bei der Vormundschaft, solches erheischt. Die Familie endlich hat als solche gar keine Beziehung zu dem Boden.

3) Die Art und der Charakter des Organismus ist verschieden in dem Stat und der Familie. Als Haupt der Familie erscheint der Vater, der für sein eigen Fleisch und Blut sorgt, wenn er über die Kinder Gewalt übt ; er der reife

2 Pomponius L. 8. de Reg. Jur. : „Jura sanguinis nullo jure civilk dirimi possunt/'

186 Zweites Buch. Volk und Land.

Mann über die unmündige Nachkommenschaft. Das Wesen seiner Leitung ist Vormundschaft. Der Fürst dagegen erscheint als Haupt des Volkes, dessen Gassen selbständige Interessen haben, dessen Familien von der fürstlichen Dynastie getrennt sind und dessen Individuen weder von ihm ihr Dasein ableiten noch als unreife und unmündige Wesen ihm unter- geordnet sind. Das Princip des States ist die politische Kegierung.

Die Familie ist somit nicht das Urbild des States, son- dern höchstens einer bestimmten, der Familie ausnahms- weisenachgebildeten (der patriarchalischen 3) Statsform. Das Familienrecht ist daher auch ein Theil des Privat-, nicht des öffentlichen Hechtes.

Aber allerdings sind die Anfänge der Statenbildung, sogar der arischen Völker an die Familien und die Geschlechter ge- bunden. In dem Familien- und Geschlechtsverband fanden die ersten väterlichen Führer, Kichter, Obrigkeit noch die un- entbehrliche Stütze ihrer Autorität. Nur allmählich konnte der Stat aus diesen Verbänden zu einer politischen Ordnung herauswachsen.

Die Geschlecht er Verfassung diente zur Brücke aus dem bloszen Familienverband in den Stat. Als dieser einmal gesichert war, wurde dann jene Brücke abgetragen und weg- geräumt. Bei den meisten alten Nationen rinden sich anfäng- lich Geschlechter mit politischer Bedeutung, die später ver- schwinden. Die alt - mosaische Verfassung kennt sie so gut wie die alt-hellenische oder alt-römische Verfassung. Wie bei den alt-arabischen Stämmen die Geschlechter ihre Häuptlinge

3 Gobineau, sur l'in6galite des races humaines II. 8. 270 s führt an, dasz die arischen Völker von jeher die patriarchalische Vorstellung, welche die väterliche Gewalt als Vorbild der obrigkeitlichen Macht be- trachtet, nur mit groszer Vorsicht und unter wichtigen Beschränkungen zugelassen haben, während dieselbe der in den Hauptbestandteilen gel- ben Rasse der Chinesen dauernd genüge.

Neunzehntes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 187

wie Väter ehren, so zeigen sich die ähnlichen Verbände der Klans bei den alten Schotten. Die alten Germanischen Dörfer- namen weisen ebenso auf die Ansiedlung und den Gemeinde- verband der Geschlechter hin, wie die alte Slavische Bauern- gemeinde einen familienartigen Charakter hat.

Der Geschlechtsverband unterscheidet sich von dem Fa- milienverband durch die Ausdehnung über den Kreis Einer Sippschaft hinaus, indem das Geschlecht auch mehrere Fami- lien und Sippschaften zusammenfaszt, aber es bleibt mit diesem insofern verwandt, als er seine Ordnung nach Art der Fami- lienordnung gestaltet. Die Geschlechtshäuptlinge sind meistens hierin durch ihre erhöhte Familienstellung bezeichnet. Indessen zwingt das Bedürfniss nach Einheit dazu, um Ein Familien- haupt als Geschlechtshaupt zu ehren, und es kommt wohl vor, dasz sogar die Wahl oder vielmehr die Kur das Erbrecht er- gänzt oder ersetzt.

Der eigentliche familienartige Stat aber ist die Patri- archie. Am zähesten hält das Chinesische Keich „der Mitte" (d. h. der Vollkommenheit) seit Jahrtausenden an der Fiction fest, dasz das Statshaupt der Vater der Nation sei. Die ersten Gründer und Bildner auch dieses States waren, wie Gobineau es wahrscheinlich gemacht hat, von arischem Ge- schlecht. Ihnen schreibt er auch die erste Mittheilung der patriarchalischen Idee zu. Aber die ungeheure Masse der Bevölkerung, welche nach und nach in dem groszen Keiche zu Einer Familie vereinigt wurden, ist von malayischem Stamme, in welchem die Elemente der gelben Kasse überwiegend, wenn gleich durch die Beimischung mit schwarzen einigermaszen getrübt sind: und diese Bevölkerung, von Natur zu ruhigem materiellem Lebensgenusz geneigt, fügt sich willig dem väter- lichen Absolutismus ihrer Beherrscher und verehrt in der überlieferten Statsordnung die heilige Civilisation. Der trotzige Freiheitssinn, wie er allen arischen Völkern eingepflanzt ist, regt sie nicht auf und nach höheren Ideen sehnt sie sich

188 Zweites Buch. Volk und Land.

nicht. Die Autorität des Kaisers ist zwar in der Theorie ab- solut, in der Realität aber wird sie durch den ruheliebenden Geist sämnitlicher Yolksclassen , durch die gelehrte Schulbil- dung der Mandarinen, und vor allem durch die Macht des hergebrachten Familienbrauches vielfältig beschränkt. „Der Sohn des Himmels vermag Alles, unter der Bedingung, dasz er nur das Bekannte und Herkömmliche wolle/* (Gobineau.) Eine männlich-politische Entwicklung aber ist in dem väter- lichen State unmöglich. Die Menschen worden von ihm in dem Zustand der Kindheit zurück gehalten . in welchem die Statsform selbst verharrt.

Eine ganz andere Frage ist die nach dem Einflüsse des Familienlebens auf die Stats Wohlfahrt. Dieser meistens mittelbare aber tief greifende Einflusz kann nicht leicht zu hoch angeschlagen werden. Daher hat der Stat nicht allein, wie in dem übrigen Privatrecht, die Pflicht . das Familienrecht zu schützen und zu erhalten, sondern er hat zugleich ein hohes Interesse, so viel bei ihm steht, die Gesundheit des Familien- lebens zu fordern und zu erhalten. Es ist zwar seine Macht hier eine geringe eben weil die Familie keine Statsinsti- tution ist meistens auch nur eine mittelbar wirkende: in einigen Beziehungen aber kann und darf der Stat wohl die individuelle Willkür beschränken:

I. Mit Bezug auf die Ehe:

1. Die politisch höher gebildeten Völker legen alle einen entschiedenen Werth auf die Monogamie. Mehrere Männer verwirren sogar die Abstammung, mehrere Frauen bringen Zwietracht in die Familie. Die volle Einheit der Ehe ist nur gedenkbar in der Einigung eines Mannes und einer Frau. Die Zweiheit der Geschlechter, in welche die Menschheit ge- theilt ist, wird in der Monogamie zur Einheit verbunden. Eine Mehrheit von Ehegenossen entspricht daher weder der Natur, noch der sittlichen Idee. Daher soll der Stat sie nicht

Neunzehntes Cap. Verhältnis d. States etc. J. Geschlechterstat etc. 189

dulden. Als die gallischen Bischöfe gegen die Doppelehen der Merowingischen Könige eiferten, und nicht nachlieszen, bis dieselben auf das alte Privilegium germanischer Fürsten, mehrere Frauen zu halten, verzichteten, vertheidigten sie nicht blosz ein christliches, sondern zugleich ein s tatlich es Princip.

2. Eine würdige Auffassung des rechtlichen Ver- hältnisses der Ehegatten ist nicht minder wichtig.

In dieser Hinsicht blieb das römische Kecht hinter der römischen Idee von der Ehe zurück. Während die Körner die Ehe als eine innige und alle Verhältnisse umfassende Lebens- gemeinschaft von Mann und Frau auffaszten,4 behandelte ihr älteres Kecht die Frau ähnlich einer Tochter, und räumte dem Manne eine absolute Herrschaft über sie ein, wie dem Vater über die Kinder und dem Herrn über die Sclaven, und löste das spätere Kecht die Gemeinschaft auf in ein lockeres Neben- einandersein der beiden von einander ganz unabhängigen Per- sonen. Das Ueberhandnehmen der sogenannten freien Ehe ging mit der zunehmenden Sittenverderbnisz in den letzten Zeiten der römischen Republik Arm in Arm, und bereitete den Untergang dieser vor.

Das deutsche Kecht dagegen sowohl in seiner altern Ge- stalt, wornach Frau und Mann zwar ihr eigenes Vermögen beibehalten, aber dessen ungeachtet die eheliche Gemeinschaft und Einigung in der ehelichen Vormundschaft des Mannes ihren rechtlichen Ausdruck findet, als in der neueren Form der Gütergemeinschaft, ist in Uebereinstimmung mit der Idee, welche wir am schönsten in den uralten, und schon in den heiligen Büchern der Juden enthaltenen zwei Sätzen ausge-

4 Modestinus L. 1. de Ritu nuptiarum: „Nuptiae sunt conjunctio maris et feminae, et consortium omnis vitae, divini et humani juris com- municatio," und Justin, Inst. I. 9. §. 1. Nuptiae sive matrimonium est yiri et mulieris conjunctio, individuam vitae consuetudinem continens."

190 Zweites Buch. Volk und Land.

sprochen finden: „Mann und Weib sind nur ein Leib,"5 und: „Der Mann ist das Haupt der Ehe".6

3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist die Innigkeit und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu- ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt - römische Grundsatz ,,consensus facit nuptias" hat daher seine bedenk- liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge- nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-

5 Moses I. 2., 24. und Paulus an die Epheser Y. 31.: „Um desz- willen wird ein Mensch verlassen Yater und Mutter, und seinem Weibe anhangen, und werden zwei Ein Fleisch sein." Tacitus von den ger- manischen Frauen (Germ. 19.): „Sic unum accipiunt maritum, quo modo unum corpus, unamque vitam." Schwabenspiegel (WackG.): „Wan die (ein man unde sin wip) reht unde redelichen zer e chomen sint, da ist niht zweiunge an, sie sint wan ein lip."

6 Moses I. 3, IG. Zum "Weibe sprach er: „Dein "Wille soll deinem Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein." Paulus an die Eph. 5, 22.: „Die Weiber seien unterthan ihren Männern." Sachsen- spiegel 1.45. §.1: „AI ne si en man sime wive nicht evenburdich, he is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht, swenne se in sin bedde gat." Code Napoleon 213.: „Le mari doit pro- tection k sa femme, la femme obeissance h son mari." Oesterr. Gesetz- buchArt. 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie." Züricherisches Gesetzbuch §. 127: „Der Ehemann ist das Haupt der Ehe."

Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 191

schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger- lichen Form hervorgerufen.

4. Eine Beförderung der Ehen und der Kinderzeugung von Stats wegen ist in groszem Maszstab durch den Kaiser Augustus versucht worden. Das Bedürfnisz zu derartigen Ge- setzen setzt indessen jeder Zeit kranke Zustände einer Nation voraus, in denen der natürliche Trieb der Individuen, sich zu verbinden, entweder ausschweift oder gehemmt ist. Dieses Uebel ist besonders dem Leben in groszen Städten eigen. Die zahlreicheren Gelegenheiten, geschlechtliche Bedürfnisse auch auszer der Ehe zu befriedigen, befördern den Hang zu einem ungebundenen und liederlichen Leben, und die erhöhte Schwierigkeit, die gesteigerten Ansprüche einer städtischen Familie auf Lebensgenusz zu erfüllen, ist ein bedeutendes Hin- dernisz der Heirathen gerade unter den höhern Classen der Gesellschaft. In Eom kam die übermäszige Testirfreiheit der römischen Bürger als ein Motiv der Ehelosigkeit hinzu, indem unverheirathete Keiche sicher waren, in ihren alten Tagen von erbsüchtigen Verwandten und Freunden mit dienstgefälliger Zu- vorkommenheit gepflegt und geschmeichelt zu werden. Augustus konnte mitBecht sagen: ,, Die Stadt besteht nicht aus Häusern, Säulenhallen und leeren Märkten, sondern die Menschen bilden die Stadt. Würde die Ehelosigkeit unter den Bürgern Korns um sich greifen, so würde am Ende Eom den Griechen oder gar den Barbaren anheimfallen."

Die Mittel des States zu diesem Zwecke sind freilich be- schränkt, und selbst in der Beschränkung werden sie, wie solches auch den Gesetzen Augusts widerfahren ist, dem Volke so wenig munden, als eine bittere Arznei dem kranken Körper.

192 Zweites Buch. Volk und Land.

Ein elirecter Zwang zur Ehe ist nicht zulässig, weil die Ehe ihrem Wesen nach die eheliche Gesinnung und den freien Willen der Individuen voraussetzt. Selbst in dem Falle, wo die Statsinteressen die Ehe des Statsoberhauptes dringend wünschbar machen, ist doch eine Nöthigung desselben zur Eingehung einer Ehe ein so tiefer Eingriff in die menschliche Freiheit, dasz vor diesen natürlichen Schranken des indivi- duellen Eechtes auch der Wille des States zurücktreten musz. Die jungfräuliche Königin Elisabeth von England hat diese persönliche Freiheit auch des Monarchen, dessen Leben mehr als ein anderes mit der Wohlfahrt des States verwachsen ist, siegreich gegen die andringenden Statsrücksichten behauptet.

Der Stat kann somit nur mittelbar den Zweck fördern, indem er mit der Ehe äuszere Vortheile verbindet, und die Ehe- und Kinderlosigkeit mit äuszern Nachtheilen, nicht aber wie ein Vergehen mit eigentlicher Strafe bedroht. Diesen Weg hat denn auch die römische Gesetzgebung eingeschlagen.

5. Häufiger finden sich in den neuern Staten umgekehrt gesetzliche Beschränkungen der Ehe aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt. Dieselben setzen ebenfalls krankhafte Zustände voraus, insbesondere das sociale Uebel eigenthums- oder erwerbsloser Classen der Bevölkerung. Da können es die Interessen der Gemeinschaft nöthig machen, dasz von denen, welche durch die Ehe neue Familien begründen wollen, Garantien dafür verlangt werden, dasz sie im Stande seien, ohne Belästigung der Gemeinden oder des States, der Familie die erforderliche Nahrung und den nöthigen Unterhalt zu ver- schaffen. Ein weiteres Verbot der Ehe dagegen, insbesondere der Vorbehalt einer willkürlichen Genehmigung der Gemein- den, ist ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das natür- liche Kecht des Individuums.

6. Mit Becht enthält sich der Stat einläszlicher Vorschrif- ten über das geschlechtliche Verhältnisz der Ehegatten. 7

7 In den Gesetzen Manu's (111.46) kommen darüber folgende Be-

Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Geschlechterstat etc. 193

Sie gehören vorzugsweise dem individuellen Leben und der Sitte an. Wohl aber ist er befugt und veranlaszt, offenbare, über den Kreis des engen Familienkreises hinaus wirkende Immoralität und den Bruch der ehelichen Treue auf Klage des verletzten Ehegatten mit Strafe zu bedrohen, und so durch seine Gesetzgebung die gute Sitte und die Keinheit der Ehe zu stützen.

Die Weibergemeinschaft, wie sie Plato für die Wächter seines idealen States vorgeschlagen hat, ist eine Entwürdigung der Ehe und Zerstörung der Familie. Die Preisgebung der Frauen, wie sie unter Umständen von den Spartanern begün- stigt worden, ist eine Barbarei. Die Emancipation des Flei- sches aber, wie sie die radical-socialistische Schule in unsern Tagen als einen neuen Fortschritt der individuellen Freiheit, über seinen Körper nach Lust zu verfügen, auch für die beiden Ehegatten in Anspruch nimmt, ist die Erniedrigung der sitt- lichen Freiheit des Menschen auf die Stufe der sinnlichen Freiheit der Hunde.

7. Endlich ist der Sorge des States für die Fortdauer der Ehe und der Behinderung leichtfertiger Scheidung zu erwähnen.

Schon in der vorchristlichen Periode wird die Auflösung der Ehe nicht überall der Willkür der einzelnen Ehegatten überlassen. Manche Rechte gestatteten es zwar dem Manne, seine Frau zu entlassen, nicht aber der Frau, sich von dem Manne loszusagen. Auch für den ersten Fall war die Yer- stoszung der Frau öfter an bestimmte wichtige Ursachen ge- bunden, oder zog, wie in den altern germanischen Rechten,

Stimmungen vor: „16 Tage und 16 Nächte von der Erscheinung der Re- geln an sind die natürliche Zeit der Frauen. An den 4 ersten Nächten und ebenso an den Uten und 13ten dürfen sie nicht heimgesucht werden. Die übrigen 10 dagegen sind erlaubt, und unter diesen die geraden der Erzeugung von Söhnen, die ungeraden der von Töchtern günstig." Auch die jüdische Gesetzgebung und späterhin das canonische Recht haben darüber Bestimmungen.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 13

194 Zweites Buch. Volk und Land.

wenn sie ohne zureichende Gründe geschah, bedeutende Nach- theüe auch für den Mann nach sich. In diesen beschränkenden Bestimmungen des Eechts, welche überdem durch die Sitte verstärkt waren, äuszert sich die Ehrfurcht des States vor dem Princip der Ehe als einer das ganze Leben erfüllenden Ge- meinschaft. Es war daher schon eine Auflösung der älteren sittlichen Ordnung, wenn das spätere römische Recht, die in Athen herrschende Ansicht adoptirend, für die sogenannte freie Ehe den Ehegatten das Kecht der einseitigen freien Kündigung einräumte. Die Aufnahme dieses Grundsatzes war zu groszem Theile eine Folge des in Eom überhand nehmen- den Sittenverderbnisses , und ward hinwieder eine Quelle der Entartung.

Das Christenthum hat in dieser Präge ein neues und vollkommneres Eecht eingeleitet. Christus selbst sprach sich im Gegensatze zu dem mosaischen Eechte so nachdrücklich gegen die Scheidung aus,8 dasz seine Worte nicht ohne Wir- kung auf die spätere Eechtsbildung in den christlichen Staten sein konnten, obwohl er auch hier nicht unmittelbar das be- stehende Eecht änderte noch ein neues schuf, sondern nur auf den Geist und die moralische Gesinnung wirkte. Die katho- lische Kirche aber bildete nachher ein strenges System des Eherechts aus und gelangte, ungeachtet Christus selbst die Scheidung aus dem Grunde des Ehebruchs ausgenommen und anerkannt hatte, im Verfolge der Zeit dazu, die volle Schei- dung überall zu untersagen und nur eine äuszerliche Tren- nung (die separatio a toro et mensa), aber auch diese nur aus wichtigen und seltenen Gründen zu gestatten. Sie setzte ihre Ansicht in den christlichen Staten des Mittelalters in der Weise durch, dasz sie die Frage der ehelichen Trennung und Scheidung der Einwirkung des States ganz zu entziehen und ausschlieszlich vor die kirchliche Gerichtsbarkeit zu bringen wusste.

s Matth. 5,32. 19,8. Marc. 10, 11 und 12. Luc. IG, J8.

Neunzehntes Cap. Verhältnisz d. States etc. 1. Gesclilecliterstat etc. 195

In den letztern Jahrhunderten hat indessen der Stat auch diese Seite der Rechtsverhältnisse mit Recht wieder seiner Gesetzgebung und seiner Rechtspflege unterworfen, und die protestantische Kirche erklärte von ihrem kirchlichen Stand- punkte aus die Ehescheidung wegen Ehebruchs, öfter auch aus Gründen, welche diesem an Bedeutung gleich kommen, als zulässig. In einzelnen Ländern hat sogar die Gesetzgebung und die Praxis, modernen philosophischen Lehren zugethan, wieder durch leichte Zulassung der Scheidung die Ehe gelockert.

Regelmäszig geblieben aber und allgemein anerkannt sind zwei Grundsätze: a) dasz die Scheidung nicht weder der Will- kür der einzelnen Ehegatten noch selbst der auflösenden Willensübereinstimmung beider anheim gegeben werden darf, sondern nur unter gerichtlicher MitwirkuDg und mit gericht- licher Erlaubnisz zuläszig ist;

b) dasz diese Erlaubnisz bedeutende Gründe voraussetze. Die Kirche kann hier in höherem Masze das Princip der Un- auflösbarkeit, welches durch die Idee der Ehe gefordert wird, vertreten, insofern sie moralisch und geistig einwirkt und zu dem Gewissen spricht, während der Stat, wenn es sich um äuszeres Zwangsrecht handelt, genöfchigt ist, auch im Gegensatze zu der Reinheit der Idee die Unvollkommenheit der realen Zustände zu beachten, und daher Ehen, die inner- lich doch gebrochen und zerstört sind, auch von Rechtswegen äuszerlich zu lösen. Nur thut der Stat wohl daran, soweit die Sitten und Lebensverhältnisse des Volkes und die individuelle Entwicklung es gestatten, die Regel der Unauflösbarkeit möglichst festzuhalten und die Ausnahmen der Scheidung einer ernsten Controle zu unter- werfen.

13

196 Zweites Buch. Volk und Land.

Zwanzigstes Capitel.

2. Die Frauen.

Der Stat ist seinem Wesen nach von so entschieden männlichem Charakter, dasz die Frauen nur einen mittelbaren Antheil an ihm haben können. Die Bestimmung der Frau weist sie nicht auf das öffentliche Leben der Politik hin, und ihre natürlichen Eigenschaften befähigen sie nicht, weder im Frieden noch im Krieg,, für die schweren Aufgaben des States. Wohl umfaszt der Stat mit seiner Sorge und seiner Herrschaft auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung und schirmt auch deren Rechte; aber das Weib ist ausgeschlossen von der unmittelbaren Theilnahme an der öffentlichen politischen Thätigkeit der Männer, von den Aemtern, aus den Käthen, aus den Gemeinden.

Diese Begel ist allen Völkern und allen Ständen gemein- sam. Einzelne Philosophen zwar haben die politische Gleich- stellung der Frauen mit den Männern beantragt,1 die Völker aber und die Frauen selbst haben von jeher erkannt, dasz Statsgeschäfte nicht Sache der Frauen seien, und dasz nicht minder die Frauen an den Vorzügen und Reizen ihrer Weiblichkeit als der Stat an seiner Würde, Sicherheit und Wohlfahrt einbüszen müszten, wenn jene sich unmittelbar an den politischen Kämpfen betheiligten.

Merkwürdigerweise haben manche Völker eine wichtige Ausnahme von jener Regel zugelassen und gerade die oberste Statsgewalt, das Königthum auch den Frauen eröffnet. Den Griechen und Römern freilich war auch diese Annahme durch- aus fremd. Als ein römischer Kaiser, der weibische Helioga- balus, seine Mutter in den Senat eingeführt und so die römi- schen Sitten heftig verletzt hatte, wurde nach seiner und ihrer

1 In neuerer Zeit hat sich J. Mi 11 als Vertreter dieser Meinung hervorgethan in der Schrift: Repräsentativregierung. Vgl. auch Labou- laye hist. de TAmerique Bd. III.

Zwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. States etc. 2, Die Frauen. 197

Ermordung ein Senatusconsult beschlossen, dasz dessen Haupt den unterirdischen Göttern geweiht sei, welcher je es wieder wagen sollte, eine Frau in den Senat zu bringen. Auch die meisten germanischen Völker gehorchten nur Männern als ihren Königen.

Aber schon Aristoteles (Pol. III. 6, 16) berichtet uns, dasz viele fremde Staten unter Frauenherrschaft stehen, und Tacitus (Agricola, 16) erwähnt es als eine Eigenthümlichkeit der Britten, dasz sie auch dem weiblichen Geschlechte Herr- schaft verstatten. Von den Longobarden wissen wir, dasz die Folge in das Königthum öfter durch erbberechtigte Frauen vermittelt worden ist. In dem spätem europäischen Stats- recht ist häufig den Frauen ein Recht auf den Thron eröffnet worden, und wir haben in den letzten Jahrhunderten nicht blosz in England, sondern auch in Oesterreich, Euszland, Spanien, Portugal und anderwärts unter verschiedenen Begie- rungssystemen Frauen als Regenten gesehen.

Woher diese sonderbare Ausnahme? Wenn den Frauen politische Rechte überhaupt nicht zukommen, wie können sie denn an dem höchsten politischen Rechte Theil haben? Sollte es nicht natürlicher sein, dasz eine Frau ein untergeordnetes Statsamt verwalte, oder in dem Rathe ihre Meinung äuszere, als dasz sie Oberhaupt des States werde? Diese Ausnahme last sich nur daraus erklären, dasz die Würde und Macht des Statsoberhauptes als ein politisches Familiengut betrachtet und behandelt und der Frau die nämlichen Rechte auf die Thron- folge wie auf die Beerbung der väterlichen Liegenschaften zu- gestanden wurden. Das Land wurde wie ein Gut (Allod oder Lehensgut) angesehen, und das privatrechtliche Erbsystem auch für die statsrechtliche Folge festgehalten. Auf solche Weise ist die Fähigkeit königlicher Frauen zur Thronfolge schon im Alterthum begründet und in der neuern Zeit ausgedehnt wor- den; und es haben manche neuere Staten, welche im übrigen zwischen Stats- und Privatrecht schärfer gesondert haben und

198 Zweites Buch. Volk und Land.

der mittelalterlichen Vorstellung des Lehens- oder des Patri- monialstates entwachsen sind, dennoch diesen Eest der frühe- ren Anschauungsweise beibehalten, und auf die Blutsverbin- dung in der königlichen Familie ein gröszeres Gewicht gelegt, als auf die Natur des States und die Bestimmung der Frau.2

Sind auch die Frauen von einer regelmäszigen unmittel- baren Theilnahme an den Statsgeschäften ausgeschlossen, so ist dagegen ihre mittelbare Einwirkung auf die Wohlfahrt des States nicht gering zu achten. Aber auch da artet der Einüusz der Frauen auf das Statswohl leicht aus, wenn der- selbe von politischen Motiven geleitet wird. Kein und heilsam erweist er sich fast nur, wenn religiöse oder mo- ralische Gründe die Handlungen der Frauen bestimmen. Die berühmten politischen Frauen haben meistens den Staten und den Ihrigen Schaden gebracht. Die weibliche Klugheit und List in kleinen Dingen wird auf politischem Gebiete zu gefährlicher Intrigue. Und wenn einmal die politischen Leiden- schaften des Hasses, der Kache, des Ehrgeizes in der Brust des Weibes eingekehrt sind, werden sie leicht zu maszloser Gier entzündet und theilen sich so den Männern mit. Es gilt das nicht blosz von den Maitressen der Fürsten, es gilt das auch von manchen Ehefrauen und Müttern, die sich in der Geschichte einen Namen erworben haben. Die römische Ge- schichte ist nicht arm an Beispielen dafür, und die französische Kevolution kennt solche nicht minder als das Hofleben der französischen Könige.

Auf der andern Seite ist der Segen grosz, den Frauen in stiller, von der Geschichte nur selten berichteter Wirksamkeit auch politischen Männern bereitet haben. Wie viele haben in

2 Vgl. die Untersuchungen von Laboulaye: Recherches sur la condition civile et politique des femmes, Paris 1843. Beachtenswerth aber bleibt es, dasz manche Frauenregierungen gut ausgefallen sind, zum Theil deszhalb, weil die Kaiserinnen und Königinnen sich lieber von bedeutenden Statsmännern leiten lie.szen, als viele männliche Herrscher.

Zwanzigstes Capitel. Yerhältnisz d. States etc. 2. Die Frauen. 199

dem häuslichen Kreise wieder den Frieden gefunden, der sie für die Kämpfe und Leiden des bewegten äuszern Lebens ent- schädigte und von neuem zu ihrer Pflicht stärkte. Wie oft haben die Frauen die Rohheit und Wildheit der Männer er- mäszigt und diese vor Ausschweifung bewahrt! wie oft die- selben durch ihre kluge Vorsicht von Miszgriffen zurückgehalten, oder durch ihr lebhaftes Gefühl für Sitte und Moral an Fehl- tritten gehindert, wie oft auch in der Noth gerettet.

Vorzüglich in den Leiden des Gemeinwesens, im Unglück und bei Gefahren des States zeigt sich der Einfmsz der Frauen besonders wohlthätig. Im Dulden stärker als der Mann hilft die Frau ihm das unvermeidliche Uebel ertragen, ohne sich von demselben clemüthigen zu lassen; ihr bereiter Opfermuth regt auch in ihm den Muth auf, dem Vaterlande seine Kräfte willig zu opfern, und ihre Verehrung der männlichen Tapfer- keit, die ihr selber versagt ist, treibt den Mann, dieser Ehre würdig zu handeln und zu wagen.

Es ist daher ein schöner Zug des Statsrechtes besonders unter den germanischen Völkern, dasz die Frau auch als Ge- nossin der politischen Ehre und Würde ihres Mannes be- trachtet wird. Es liegt darin die Anerkennung der wahren mittelbaren Beziehung des Weibes zu dem Organismus des States , und ein würdiger Ersatz für die den Frauen versagte Theilnahme an den eigentlichen politischen Rechten.

Anmerkung. Eine Reihe feiner Beobachtungen hat Riehl in seiner social -politischen Studie „Die Frauen" (Deutsche Yierteljahrs- schrift 1852) und später in seinem Buch: „Die Familie" mitgetheilt, und mit Recht auf die ständischen Unterschiede in dem Greschlechtsverhält- nisz aufmerksam gemacht. VDie Bäuerin ist in Lebensart und Sitte dem Bauern näher und gleicher, als die gebildete Städterin des höhern Bürger- standes ihrem Gatten; aber jene ist einem stengeren Hausregiment unter- worfen als diese, die sich freier und selbständiger in ihrer Sphäre be- wegt. "Wenn aber Riehl der Frau auch einen politischen Parteicharakter, den „conservativen" beilegt, und sie eine Aristokratin von Natur nennt, so habe ich dagegen einzuwenden, dass alle politischen Parteien dem Leben der Männer, keine anders als mittelbar dem der Frauen

200 Zweites Buch. Yolk und Land.

angehören, mittelbar aber die Frauen wieder bei allen Parteien be- theiligt sind. AYill man aber einzelne Parteien, wie das in der Parteien- lehre Fr. R ohmers unwiderleglich erwiesen worden ist, als vorzugs- weise männlich unterscheiden, und diesen dann die andern als unmännlich (relativ weiblich) entgegensetzen, so ist es klar, dasz die liberale und die conservative männlich und nur die extremen Parteien, die radicale und absolutistische, unmännlich sind.

Einundzwanzigstes Capitel.

IX. Yerhältnisz des Stats zu den Individuen. 1. Volksgenossen und Fremde.

Endlich stehen auch die Individuen in einem unmittel- baren Yerhältnisz zu dem State, nicht blosz als Glieder der Familien, Stände, Rassen. In der modernen Statslehre und Statsverfassung ist diese Beziehung ebenso nachdrücklich hervorgehoben und zuweilen ausschlieszlich beachtet, als die mittelbaren Beziehungen in Familie und Ständen gewöhnlich vernachlässigt sind.

Es kommen hier folgende Gegensätze in Betracht:

1) der der Einheimischen, der Volksgenossen oder Stats an gehörigen und der Fremden;

2) der der Statsbür gc r und der übrigen Volks- genossen.

Die verschiedenen Abstufungen innerhalb des Stats- bürgerthums können erst bei der nähern Betrachtung der Verfassung zur Sprache kommen.

Der erste Gegensatz beruht vornehmlich auf dem Unter- schied der Volksrassen und ist zunächst ein persönliche-r. Erst in zweiter Linie kommt auch die Beziehung zu einem Ort als der Heimat in Betracht. Entscheidend ist die Ver-

Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. Stuts etc. 1. Volksgenossen etc. 201

»

bindung des Individuums mit dem Volk, von secundärem Ein- flusz der Zusammenhang mit dem Land.

Die Meinung der alten Völker, dasz den Fremden kein Kecht zu halten sei, die Fremden also relativ rechtlose1 Wesen seien, so lange sie nicht in einen besondern Schutz aufgenom- men und von demselben gedeckt werden, obwohl von Hellenen und Kömern behauptet, darf wohl als ein Stück Barbarei be- zeichnet werden, welches die antike Kultur entstellt. Humaner war der Grundsatz der Germanen: ,, Jeder nach seinem an- geborenen Volksrecht." Die neuere Rechtsbildung erkennt auch in dem Fremden den berechtigten Menschen und gewährt dem- selben ihren Schutz-.

1. Die Frage aber, wer als Einheimischer anzusehen sei und wie die Volks genossen seh aft erworben werde, hat verschiedene Antworten erfahren. Die Rücksichten auf die Abstammung und auf die Heimat lassen verschiedene Com- binationen zu. Wir können folgende Systeme unterscheiden:

a) Das System des Geburtsorts. Es entspricht vor- züglich der Anschauung des spätem Mittelalters. Seine Regel ist: Die Geburt im Lande begründet die Eigenschaft des Indigenats. Es ist das heute noch die Regel des englischen Rechts, welches zwischen natwdl-born subjeeis und aliens unterscheidet. Als in England geboren wird aber auch an- gesehen, wer auf einem englischen Schiffe oder in einer eng- lischen Gesandtschaftswohnung im Auslande geboren ward. In neuerer Zeit ist aber auch in England die Strenge dieses ört- lichen Princips dadurch ermäszigt worden, dasz die Kinder von Engländern, obwohl im Ausland geboren, dennoch das eng- lische Bürgerrecht erhalten. Ueberdem ist die Naturali-

1 Diese Ansicht, wie wir sie bei den Römern finden, ist zwar nicht Gleichstellung der Fremden mit den Sclaven, aber Schutzlosigkeit des Fremdenrechtes im römischen Stat. Vgl. Ihering, Geist des römischen Rechts I. S. 219 ff. hostis bedeutet ursprünglich den Gast, den Fremden und den Feind.

202 Zweites Buch. Yolk und Land.

sation bedeutend erleichtert worden.2 Auf ähnlichen Grund- sätzen ruht das nordamerikanische Recht.3

b) Das System des Wohnorts. Das Territorialsystem kommt noch in einer andern Form zur Anwendung, welche eher den neueren Ansichten zusagt, indem der Nachdruck nicht auf den zufälligen Ort der Geburt, sondern auf den dauernden Wohnort der Eltern, und in der Folge auf den eigenen Wohnort gelegt wird. Daneben sind immer noch bedeutende Unterschiede möglich in der Gestattung oder Erschwerung der Ansiedlung. In diesem Sinne wird Statsangehörigkeit zum Theil in Oester reich und in einzelnen deutschen Staten verstanden.4 Auch da wird aber die Wirkung des Wohnorts ergänzt durch die Formen einer persönlichen Ertheilung des Heimatsrechts.

c) Eiue eigenthümliche Zwischenstufe nimmt das schweize- rische System des Gemeinde Verbands ein, welches die Grundlage bildet des Cantonsbürgerrechts (Landrechts) und des allgemeinen Schweizerbürgerrechts. Das Ge- meindebürgerrecht ist darin weder von der Geburt noch von dem Wohnort in einer Gemeinde abhängig, sondern wird durch die Abstammung von Eltern bestimmt, welche Gemeinde- bürger sind und bleiben, auch wenn sie ausserhalb ihrer Heimatsgemeinde in einer sogenannten Niederlassungsgemeinde

2 Blackstone Comm. I. 10. Art. 7 u. 8 Victoria c. 55.

3 Jetzt noch begründet die Geburt in dem Gebiete der Vereinigten Staten nordamerikanisches Bürgerrecht. Aber die Kinder der Nord- amerikaner, die im Ausland geboren sind, haben ebenfalls das Bürger- recht durch Abstammung erworben. Die Niederlassung Fremder in den Vereinigten Staten endlich ist die Grundbedingung einer sehr zahlreichen Naturalisation. Vgl. Story Comm. zur Bundes verf. I. 8. und Rüttimann Nordam. Bundesstatsrecht I. S. 89.

4 Oesterreich. Gesetzbuch §. 29. „Fremde erwerben die öster- reichische Statsbürgerschaft durch Eintretung in den öffentlichen Dienst, durch Antretung eines Gewerbes, dessen Betreibung die ordentliche An- sässigkeit im Lande noth wendig macht, durch einen in diesen Staten vollendeten zehnjährigen ununterbrochenen "Wohnsitz,"

Einundzwanzigstes Cap. Yerhälfcnisz d. States etc. 1. Volksgenossen etc. 203

wohnen.5 Es erinnert an das alt -römische Mimicipalrecht, welches ebenfalls durch die origo aus einem bestimmten Muni- cipium begründet war.

d) Das ständische und Rassens^ystem, vorzüglich in den altern germanischen Volksrechten entwickelt, hat sich in der spanischen Verfassung erhalten, indem nur die Abkunft von weiszen spanischen Eltern das spanische Volks- recht begründet, die Abkömmlinge der Neger dagegen und auch die Mischlinge von weiszen und farbigen Eltern als Fremde gelten.6

e) Das nationale System des persönlichen Volks- verbands hat in neuerer Zeit eine allgemeine Anerkennung erhalten, und sein Einflusz wird nun auch in den Staten ver- spürt, deren Recht auf einer andern Grundlage ruht. Nach diesem System kommt es nicht hauptsächlich auf den Ort der Geburt an, auch nicht auf den Wohnort, sondern vorerst auf die Abstammung von Volksgenossen und sodann auf die ebenfalls persönliche, nicht örtliche Aufnahme in den Volksverband. Daneben kommt auch eine ergänzende Rück- sicht auf den Geburts- oder Wohnort vor.

Im Allgemeinen folgen das französische7 und das preuszische8 Recht diesem System. Der modernen Stats- anschauung, welche in dem persönlichen Volksverband den

5 Bluntschli Schweiz. Bundesrecht I. S. 529. und im Einzelnen Bluntschli Stats- u. Rechtsgesch. v. Zürich IL S. 14 ff. Cherbuliez de la Democratie en Suisse I. S. 187 f. Blumer Bundesstatsrecht I. 249f.

« Span. Verf. v. 1812. Art. 18. 19. f.

7 Code civil 10: „Tout enfant ne d'un Francais en pays etranger est Fran^ais." Consularverfassung von 1799. Art. 3: „Un etranger devient citoyen Francais, lorsqu'apres avoir atteint l'äge de 21 ans accomplis et avoir declare Fintention de se fixer en France, il y a reside pendant dix annees consecutives."

8 Gesetz vom 31. Dec. 1842. Das preuszische Bürgerrecht wird vorerst durch Abs tammung begründet, indem jedes eheliche Kind eines Preuszen durch die Geburt preuszischer Statsbürger wird, auch wenn es im Auslande geboren ist. Bei der Naturalisation aber wird vorzüglich auf den Wohnsitz geachtet, v. Rönne Statsr. I. §. 87,

204 Zweites Buch. Yolk und Land.

lebendigen Kern des Statsbegriffes erkennt, entspricht dieses System am beszten.

Uebrigens nähern die Systeme sich einander in neuerer Zeit, indem jedes seine Lücken durch Grundsätze aus dem an- dern zu ergänzen sucht. Abstammung und Geburtsort, Wohn- ort und Naturalisation, Heirath und Legitimation werden so mit einander verbunden, und wenn einer dieser Ursachen nicht eine directe Wirkung des Bürgerrechts zugeschrieben wird, so wird sie doch durchweg indirect, als Voraussetzung besonders der Naturalisation berücksichtigt.

2. Dem Erwerb der Yolksgenossenschaft entspricht der Verlust derselben. Da dieselbe in dem modernen State als ein persönliches Recht betrachtet wird, so wird sie durch den Aufenthalt, selbst durch die dauernde Niederlassung in einem fremden Lande nicht sofort aufgehoben. Vielmehr ist als die Auflösungsform, welche mit der Natur dieses "Rechts am besten harmonirt, die Verzichtleistung von Seite des berechtigten Individuums, verbunden mit der Entlassung von Seite des States anzusehen, indem in ihr sich die wechsel- seitige Lösung des persönlichen Verbandes darstellt. Die meisten neuern Staten halten es aber ihrer nicht für würdig, ein Individuum, welches sich aus dem Statsverbande lossagen will, zurückzuhalten, und haben so im Interesse der individuellen Freiheit das Princip freier Verzichtleistung anerkannt. In vielen Fällen wird geradezu aus der Handlungsweise des Individuums auf Verzichtleistung geschlossen, auch wenn keine ausdrückliche Erklärung desselben vorliegt. Ganz besonders gilt das von der Auswanderung, in welcher sich die Ab- sicht zu erkennen gibt, nicht wieder zurückzukehren.9

9 Code civil 17: „La qualite de Francais se perdra par tout etablis- sement fait en pays etranger, sans esprit de retour. Les etablissements de commerce ne pourront jamais etre consideres comrae ayant ete faits sans esprit de retour." Bayer. Edict von 1818- §. 6: „Das Indigcnat geht verloren durch Auswanderung." Oesterr. Verf. von 1849. §. 25: „Die Freiheit der Auswanderung ist von Stats wegen nur durch die

Einundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. Stats etc. 1. Volksgenossen etc. 205

Nur das englische StatsrecM, obwohl es vielleicht zu- erst unter den neuern Hechten das Hecht der freien Auswan- derung (des freien Zugs) anerkannt hat, scheint den mittel- alterlichen Gesichtspunkt, dasz der Unterthan sich von der Lehenstreue gegen den Fürsten nicht ohne dessen Zustimmung losmachen könne, länger festgehalten zu haben, so dasz auch die Auswanderung nicht die Auflösung des englischen Unter- thanenverbandes nach sich zieht.

Als Auswanderung behandelt das französische Hecht auch jede Naturalisation in einem fremden Lande und den Eintritt in auswärtige Statsdienste ohne Bewilligung der fran- zösischen Statsregierung ; n eine Ausdehnung, welche unter Umständen weiter reicht, als die wirkliche Verzichtleistung, denn es kann wohl vorkommen, dasz ein Individuum in einen andern Statsverband eintritt, ohne deszhalb seine bisherige Stats Verbindung aufgeben zu wollen. Indessen sorgt in sol- chen Fällen das französische Recht dafür, dasz dem nach Frankreich zurückkehrenden Individuum die Erneuerung des französischen Indigenats leicht wird. l2

Die Vereinigung zweier Heimatsrechte in Einer Person ist nicht unmöglich,1,3 und theilweise durch die Cultur-

Wehrpflicht begränzt " Ebenso Preusz. Verf. von 1850. §. 11: „Die Freiheit der Auswanderung kann von Stats wegen nur in Bezug auf die Wehrpflicht beschränkt werden." Das Preusz. Landrecht II. 17. §. 127 u. ff. war noch strenger.

10 Magna Charta v. 1215: „Liceat unicuiqui exire de regno iiostro et redire salvo et secure per terram et per aquam salva fide nostra, nisi tempore guerre per quod breve Jempus propter communem utilitatem regni." Blackstone, Coram. I. 10.

" Code Civ. 17,

18 Code C, 18. „Le Francais qui aura perdu sa qualite de Francais, pourra toujours la recouvrer en rentrant en France avec l'autorisation du Roi et en declarant qu'il veut s'y fixer, et qu'il renonce ä toute di- stinction contraire ä la loi frangaise."

13 Es kommt sogar vor, dasz eine Person, gleichzeitig in zwei Staten an der Landesrepräsentation Theil nimmt. Manche Standesherrn sind gleichzeitig Mitglieder der ersten Kammern in zwei und drei Staten,

206 Zweites Buch. Volk und Land.

Verhältnisse der Gegenwart veranlaszt. Wenn daraus ein wirklicher Conflict widerstreitender Pflichten sich ergibt ein immerhin seltener Fall so kann die Lösung desselben wohl schwierig werden. Nicht immer hilft der Satz aus, dasz der ältere Statsverband dem neueren vorgehe: insbesondere dann nicht, wenn das ältere Heimatsrecht ein ruhendes, und das neuere ein wirksames (actuelles) ist, wenn also der Doppelbürger wohl in der neuen Heimat wohnt, aber nicht mehr in der alten. In diesen Fällen wird z. B. die Militär- pflicht in der letzteren geleistet werden müssen.14 Deszhalb kommt auch zunächst dem State, welcher einem Ausländer die Naturalisation ertheilt, oder ihm eine Beamtung überträgt, die Befugnisz zu, entweder die vorherige Entlassung aus dem frühern Statsverbande zu verlangen, oder den Vorbehalt der Fortdauer desselben zuzugestehen. '*

3. Die Wirkungen der Volksgenossenschaft beziehen sich tlieils auf das Gebiet des Privatrechts, theila auf das Gebiet des Oeffentlichen. In dem Privatrechte war früherhin der Gegensatz einsehen Einheimischen und Fremd« viel be- deutender als gegenwärtig. Die moderne Zeit ist geneigt, die beiden Gebiete schärfer zu sondern und daher auch in dem Privatrechte dem seiner Natur nach politischen Statsverbande

in denen allen sie begütert, und denen allen Sie durch den Eid der Treue verbunden sind. Ist es ja nicht einmal undenkbar, dasz Jemand zwei verschiedene Wohnorte (Domioile) /.. r>. eines in der Stadt und einei auf dem Lande, oder eines als Kaufmann (Firma) und ein anderes als Privatmann hat! Wenn Bar (da- internationale Privat- und Strafrecht S. 8ä) alle diese Möglichkeiten bestreitet, 80 überzeugt ein Blick in die wirklichen Verhältnisse, dass diese mannigfaltiger Bind, als die enge Theorie. Die Freiheit der Auswanderung Ifird dadurch nicht beschränkt, wohl aber die Freiheit bewahrt, sein angeborenes Vaterland zu behalten und damit eine neue Statsgenossensdialt zu verbinden.

14 BlackatO)ie a. a. 0. Die eigene Lebenserfahrung hat mich ge- lehrt, dasz in diesen Dingen die actuelle Heimat entscheide,

15 Bayer. Edict. §. G. Dagegen Schweizer. Bundcsverf. von 1848. 43: „Ausländern darf kein Kanton das Bürgerrecht erthcilen, wenn sie nicht aus dem frühem Statsverband entlassen werden."

Einundzwanzigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. I.Volksgenossen etc. 207

keine besondere Bedeutung beizulegen. Regel ist daher nun- mehr, dasz Einheimische und Fremde in privatrechtlicher Hinsicht gleich behandelt, und diese wie jene zunächst des vollen Privat rechts fähig erachtet werden.16

Nur ausnahmsweise hat sich noch der früher allgemein angenommene Grundsatz erhalten, dasz Fremde kein Grund- eigenthum in dem Lande erwerben können.17 Häufiger sind dieselben in der Ausübung gewisser Gewerbe, namentlich in der s elb ständig en B et r e ibun g von Handwerken, auch etwa von Kramladen beschränkt. 18 Das Fremdlings- recht (jus albinagii) dagegen, welches dem Landesherrn die Verlassenschaft des Fremden preisgab und der Abschosz (gabella hereditaria), welcher von Verlassenschaf ten, die ins Ausland kamen, erhoben wurde, sind nun fast überall als unpassende l\este einer untergegangenen Zeit weggeräumt und die Freizügigkeit auch insofern zur Kegel erhoben worden.19

In dem öffentlichen Rechte aber ist der Gegensatz zwi- schen Einheimischen und Fremden noch vollwirksam. Nur den erstem, nicht ebenso den letztern stehen von Rechtes wegen, und ohne dasz es einer besondern Zusicherung bedarf, zu:

,c Preusz. Landr. Ein], §. 38: „Auch Unterthanen fremder Staten, welche in hiesigen Landen leben oder Geschäfte treiben, müssen nach obigen Bestimmungen beurtheilt werden." Oesterr. Ges. §. 33. „Den Fremden kommen überhaupt gleiche bürgerliche Rechte und Verbind- lichkeiten mit den Eingebornen zu, wenn nicht zu dem Genüsse dieser Rechte ausdrücklich die Eigenschaft eines Statsbürgers erfordert wird." Code Civil. 13.

17 Für England vgl. Blacks tone I. 10. Auch in einigen demokra- tischen Schweizerkantonen gilt das Verbot noch.

18 Wo die Zunftverfassung sich erhalten, versteht sich diese Be- schränkung gewöhnlich von selbst. Aber auch wo jene aufgelöst wor- den, ist dennoch häufig nur den Inländern gestattet, solche Gewerbe zu betreiben. Die französ. Verf. von 1848. A. 13: „garantit aux citoyens la liberte du travail et de Pindustrie." Die französische Praxis begün- stigt aber in dieser Hinsicht die Gewerbefreiheit auch der Ausländer.

19 Schweizer. Bundesverf. §. 52: „Gegen die auswärtigen Staten besteht Freizügigkeit unter Vorbehalt des Gegenrechtes." Deutsche Bundesakte v. 1815. 18. Deutscher Bundesbeschlusz v. 1817.

208 Zweites Buch. Volk und Land.

a) das Recht zu ständigem Aufenthalt und Wohn- sitz in dem Statsgebiete , in Folge dessen der Einheimische auch nicht an einen fremden Stat ausgeliefert noch ohne höhere Statsgiünde verbannt werden darf;

b) das Recht auf Stat »schütz, auch wenn er aus zer- halb des eigenen Stalsgebietes sieh aufhält:

c) die Vorbedingung zur Ausübung politischer Stimmrechte und zum Erwerb des eigentlichen Stats- bürgerrechts ; -1

d) ebenso die Vorbedingung zur Fähigkeit, ein öffent- liches Amt im State zu bekleiden.21

e) Zuweilen ist auch die Ausübung allgemeiner poli- tischer Rechte, wie 2. B. des Vereinsrechtes, oder des Peti- tionsrechtes, oder der freien Presse an die Eigenschaft des Einheimischen geknüpft. M

Daraus folgt nun freilich nicht , dasz den Fremden die Betheiligung bei politischen Vereinen, Petitionen, der Presse untersagt sei. sondern nur, dasz dieselben kein in ihrer Person begründetes Recht darauf haben, somit diese Theil- nahme von der Duldung dea States abhängig sei, in dem sie wohnen ohne ihm anzugehören.

?0 Schweizer. Bund. $ 57- „Dem Bunde steht das Recht in, Fremde, welche die innere oder äussere Sicherheit der Eidgen gefährden, au- dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen14.

21 Bayer. Edict v. 1818. $. 7: „Das [ndigenat ist die wesentliche Bedingung, ohne welche man zu Kronoberhofamtern, eu Civilstatsdiensten, zu obersten MilitSreteUen und zu Blirohenamtern oder Pfründen nicht gelangen kann, und ohne welche man das bayerische Statsbürgerrecht nicht ausüben kann." Fr am ÖS. Verfassung von L848. LOj -Tous les citoyens .--ont egalement admissiblei a tous tes emplou publios." Vgl. Oesterr. Verf. von \S'\{3. § 27. u. 28. Preu^z. Verf. von L850. §. 4.

81 Franz. Verf. von 1848. A. 8: nLes citoyens ont le droit de s'associer de s'assembler paisiblemcnt et Bans armes, de petitionner, da manifester leurs pensees par la voie de le presse ou autrement." Preusz. Verf. von 1850. Art. 27. 29. 30. 32, welche die*e Rechte „allen Preuszen" zugestehen.

Zweiundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 209

Zweiundzwanzigstes Capitel,

2. Die Statsbürger im engeren Sinne.

Aus der Masse der Volks- und Landesangehörigen erhebt sich die höhere Stufe der Statsbürger im eigentlichen Sinne. Die Statsbürger als solche haben Theil an den politischen Rechten, und insbesondere in der Repräsentativverfassung an dem Stimmrechte für die Wahlen der Volksvertreter. Das Statsbürgerrecht in diesem Sinne setzt die Volksgenossenschaft als Grundbedingung voraus, verbindet aber mit derselben über- dem die politische Vollberechtigung im State, und in ihm vorzüglich erhält die politische Beziehung der Individuen zum State ihren vollen Ausdruck.

In dem griechischen und in dem römischen Stat des Alter- thums war diese Eigenschaft mit dem Bürgerthum der regie- renden Stadt, in dem altern Mittelalter mit dem Stande der Vollfreiheit verbunden. In dem modernen State hat dieselbe einen weitern Umfang gewonnen und sich in manchen Ländern der Volksgenossenschaft an Ausdehnung sehr angenähert.

Als allgemein anerkannte Beschränkungen des neuern Stats- rechts sind anerkannt:

1. Ausschlieszung des weiblichen Geschlechts. Die Politik ist Sache des Mannes, die politischen Rechte stehen daher auch nur den Männern zu. Vgl. oben Capitel XX.

2. Ausschlieszung der Minderjährigen. Die selb- ständige Ausübung der politischen Rechte erfordert eine gewisse geistige Reife. Weil es ihnen daran gebricht, sind die Un- mündigen und die Minderjährigen ausgeschlossen.

In einzelnen neuern Staten wird die politische Voll- jährigkeit von der privatrechtlichen unterschieden. Eher läszt es sich rechtfertigen, wenn jene nach dieser, als wenn umgekehrt diese nach jener eintritt; denn leichter ist es in den Geschäften des täglichen Lebens zu einem klaren Urtheile zu gelangen, als da, wo es sich um politische Interessen und

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 14

210 Zweites Buch. Volk und Land»

auch wie bei Wahlen um Beurtheilung politischer Per- sonen handelt. In Frankreich, in England, in Nord- amerika beginnt die politische und bürgerliche Volljährigkeit zugleich mit der Vollendung des einundzwanzigsten Alters- jahres,1 in einigen deutschen Staten, wie in Bayern ebenso;2 in Preuszen und im norddeutschen Bunde dagegen be- ginnt das politische Stimmrecht mit dem zurückgelegten fünf- undzwanzigsten,3 in 0 est er reich mit dem vollendeten sechs- undzwanzigsten Altersjahre.4 In der Schweiz lassen einzelne Kantone das Alter der politischen Volljährigkeit sogar früher eintreten, nun fast durchweg mit der Vollendung von zwanzig Jahren, als dem Alter der bürgerlichen Majorennität. 5

3. Ausschlieszung der Personen, deren bürgerliche Ehren fähigkeit vermindert oder aufgehoben worden ist: z. B. der Sträflinge, der erklärten Verschwender, der Falliten und der Personen, welche der öffentlichen Armenunterstützung anheimfallen.

In vielen Staten treten überdem noch folgende Erforder- nisse hinzu:

4. Ein gewisses Masz von Selbständigkeit der äusze- ren Existenz des Statsangehörigen. Die Art, diese Selbständig- keit zu bestimmen, ist freilich sehr verschieden in den ver- schiedenen Staten.

Im Geiste des altern germanischen Rechts wird dieselbe vorzüglich in dem Grundbesitze oder der Haushäblich- keit („wer einen eigenen Rauch führt"), im Sinne des neuern germanischen Rechts mehr in der selbständigen Betreibung irgend eines Berufes auf eigene Rechnung und in der Auf- nahme in den Verband der activen Gemeindebürger

1 Franz. Const. v. 1848. A. 15. Blankst., Comm. I. 17.

2 Bayerisches Landrecht. I. 7. 36. Edict üb. d. Indig. §. 8.

3 Verf. v. 1850. A. 70. Wahlgesetz v. 15. Oct. 1866. Art. 2. * Oesterr. Gesetzb. §. 21. Verf. v. 1849. §. 43.

5 Z.B. Zürich, wo die bürgerliche Volljährigkeit erst mit vierund- zwanzig Jahren erreicht wird.

Zweiundzwanzigstes Cap. Verhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 211

erkannt. Die erstere Auffassung hat sich zum Theil bis auf die neueste Zeit in England und in einzelnen nordamerika- nischen Staten erhalten, die letztere ist in die neueren Stats- verfassungen deutscher Staten übergegangen.6 Es bleiben somit diejenigen Personen ausgeschlossen, welche als Bediente oder Knechte sich einer Herrschaft verdungen haben, öfter auch die Fabrikarbeiter, wenigstens der unteren Gassen, und die gröszere Zahl der Handwerksgesellen.

Dagegen haben andere Staten in neuerer Zeit, dem Kufe nach dem allgemeinen Stimmrecht folgend, dieses Erfordernisz entweder in laxerem Sinne behandelt oder ganz aufgegeben. Dahin gehören die neueren Schweizer Verfassungen seit 1830. die Verfassung der französischen Kepublik von 1848 und des französischen Kaiserreichs, und die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867. Auch die Vereinigten Staten von Nordamerika streben gegenwärtig dieselbe Aus- dehnung des Stimmrechts auf Jedermann an. Sie entspricht offenbar der demokratischen Neigung unseres Zeitalters.

5. Das Statsbürgerrecht wird üb er dem in einzelnen Staten von einem bestimmten Masze des Vermögens abhängig ge- macht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte kann das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in Betracht gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee, dasz ein Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise befähigt und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks Theil zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig unabhängig zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem Statsbürger- rechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er kein oder nicht

6 Nach der bayerischen Verfassung von 1818 wird zum Stats- bürgerrecht auszer dem Indigenat „Ansässigkeit im Königreiche, ent- weder durch den Besitz besteuerter Gründe, Renten oder Rechte, oder durch Ausübung besteuerter Gewerbe, oder durch den Eintritt in ein öffentliches Amt" erfordert. Die österr. Verf. von 1848 §. 43 und die preuszische A. 70 erkennen die Selbständigkeit in dem Gemeinde- verband.

14*

212 Zweites Buch. Volk und Land.

das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei nicht blosz das Grund- oder überhaupt das Kapitalvermögen, sondern auch das Einkommen und der Erwerb in Anschlag gebracht, und das Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für eine ganz bescheidene Existenz eines Menschen unentbehrlich ist, dann freilich ist gegen dieses Eequisit nicht viel zu haben. Dann fällt es dem Effecte nach so ziemlich mit dem vorher erörterten der Selb- ständigkeit zusammen. Es wird dann diese nach dem Ver- mögen beurtheilt. Die Bestimmung mancher Verfassungen, wie z. B. der nordamerikanischen, der bayerischen yon 1848, theilweise auch der österreichischen und der preuszischen, welche das politische Stimmrecht von der Bezahlung direkter Statssteuern abhängig machen, hat eine ähnliche Bedeutung.

6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Ee- ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul- deten Eeligion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des ganzen Mittelalters waren Eeligion und Eecht, Kirche und Stat in der engsten Verbindung und Wechselwirkung. Wer von der religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen war, wurde es auch von der politischen. Der „Ungläubige" konnte im gün- stigsten Falle auf Duldung, und selbst auf diese nur aus- nahmsweise hoffen; an politische Gleichberechtigung mit den „Gläubigen" war nicht zu denken.

Selbst innerhalb der christlichen Eeligion wurde, als die Confessionen sich schieden, auf die bestimmte Con- fession auch in dem Statsrechte grosser Werth gelegt. In vorzugsweise katholischen Ländern wurde nur den Katholiken, in protestantischen nur den Protestanten das volle Statsbürger- recht zuerkannt. Auch der westphälische Frieden sicherte für Deutschland nur die privatrechtliche, keineswegs die politische

Zweiundzwanzigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 213

Rechtsgleichheit der Katholiken und der Protestanten.7 Erst die deutsche Bundesacte von 1815 stellte die anerkannten christlichen Eeligionsparteien der Katholiken, Lutheraner und Reformirten auch in dieser Beziehung in Deutschland gleich, liesz es aber noch ungewisz, ob auch die Anhänger von an- dern Secten der nämlichen Rechte theilhaftig seien."8

Die neuere Rechtsentwicklung in manchen Staten hat nun eine entschiedene Tendenz, die Ausübung der politischen Rechte unabhängig zu erklären von irgend einem religiösen Bekenntnisz. Es wäre irrig, diese Tendenz als die Frucht des religiösen Indifferentismus zu erklären, obwohl nicht zu läugnen ist, dasz auch dieser seinen Antheil an der neuen Gestaltung hat. Als zuerst der nord amerikanische Con- gresz 1791 untersagte, „ein Gesetz zu geben, wodurch eine Religion zur herrschenden erklärt werde," war die Meinung keineswegs die, dasz es für die Wohlfahrt des States gleich- gültig sei, ob seine Bürger von der Wahrheit und Kraft der christlichen Religion beseelt seien oder nicht, noch die, den Stat an der Ausübung seiner Pflicht, die Anstalten der christ- lichen Religion zu schützen und zu fördern, irgend zu be- hindern. 9

Das neuere Princip erhält vielmehr seine tiefere Begrün- dung in der Anerkennung der Idee, dasz der religiöse Glaube und das religiöse Bekenntnisz ihrem Wesen nach von statlichem

7 Instrum. Pae. Osn. Y. §. 35: „Sive autem Catholici sive Augustanae confessionis fuerint subditi, nullibi ob religionem despicatui habeantur nee a mercatorum , opificum aut tribuum communione, haereditatibtis, legatis, hospitalibus, leprosoriis, eleemosynis, aliisve juribus aut com- mereiis, multo minus publicis coemiteriis , lionoreve sepulturae arceantur sed in his et similibus pari cum coneivibus jure habeantur, aequali justitia protectioneque tuti."

s Deutsche Bundesakte A. 16: „Die Verschiedenheit der christlichen Religionsparteien kann in den Ländern des deutschen Bundes keinen Unterschied in dem Genusz der bürgerlichen und politischen Rechte begründen." Ygl. Kl üb er Acten des Wiener Congr. II. S. 439.

* Ygl. Story a. a. 0. P. III. St. 44.

214 Zweites Buch. Yolk und Land.

Zwange frei sein und der Mahnung des Gewissens allein an- heim gegeben werden müssen, dasz daher auch keine politi- schen Nachtheile, keine Rechtsverminderung die Abweichung von dem christlichen Glauben bedrohen dürfe. Dazu kam die Neigung der Nordamerikaner, die beiden Gebiete des statlichen und des kirchlichen Lebens scharf von einander auszuscheiden, und auf dem einen den Stat, auf dem andern die Kirche mög- lichst frei gewähren zu lassen. In diesem Sinne wurden die politischen Rechte Keinem versagt, der, wenn auch einer andern Religion zugethan, doch fähig schien, die politischen Pflichten auszuüben.

Als dagegen die französische Revolution ähnliche Grundsätze adoptirte, war nicht lediglich die Sorge für die Gewissensfreiheit das bestimmende Motiv, vielmehr hatte, wie die auch an religiösen Verfolgungen reiche Geschichte jener Zeit beweist, auch der aus der früheren Frivolität zu wildem Hasse des Christenthums fortgeschrittene Geist der Verneinung einen Antheil daran. lu

Auch in Deutschland ist das nämliche Princip, nun schärfer noch ausgesprochen seit der Bewegung vom Jahr 1848, anerkannt worden. Die österreichischen Grund- rechte von 1849. §. 1. sowohl als die preuszische Ver- fassung von 1850 stimmen darin mit dem Frankfurter und dem Berliner Entwurf der Reichsverfassung überein, dasz „der Genusz der bürgerlichen und der statsbürgerlichen Rechte von dem Religionsbekenntnisse unabhängig sein" soll. Vor- sichtig aber fügen dieselben hinzu, dasz „den statsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis/, kein Abbruch ge- schehen" dürfe.

10 Das neue Princip war schon in dem ersten Artikel der Erklärung der Menschenrechte von 1791 ausgesprochen: „Les hommes naissent et demeurent libres et egaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent etre fondees quo sur l'utilite' commune." Von den späteren Verfassungen hat keine die Eigenschaften des „citoyen" an ein Glaubensbekenntniss geknüpft.

Zweiutidzwaazigstes Cap. Yerhältnisz d. States etc. 2. Statsbürger etc. 215

In Folge dieser neuerlich anerkannten Grundsätze ist denn auch die Stellung der Juden in diesen Ländern eine von Grund aus andere geworden. Waren dieselben früher von dem Genüsse des Statsbürgerrechtes in Deutschland meistens ganz ausgeschlossen, so darf nun von der jüdischen Eeligion her kein Grund mehr genommen werden, denselben jenes Recht zu versagen.

Ob das neue Princip übrigens in seinen Consequenzen mit dem europäischen Systeme, welches noch immer wenn auch weniger als früher die enge und beschränkende Verbindung von Stat und Kirche aufrecht erhält, im Gegensatze zu dem nordamerikanischen Systeme völliger Trennung, in volle Harmonie zu bringen sei, und in welcher Weise, wird erst die Zukunft lehren.

Zu allgemeiner Geltung ist dasselbe noch nicht gelangt. In den südlichen romanischen Staten im Kirchenstat, in Spanien und Portugal wie in dem südlichen Ame- rika ist dasselbe nicht anerkannt, auch in Norwegen und Ruszland nicht. In der Schweiz hat erst das Verfassungs- gesetz von 1866 die politischen Rechte für unabhängig erklärt von der christlichen Confession und selbst in England hat das moderne Princip obwohl die frühere Zurücksetzung der Dissenters und der Katholiken in diesem Jahrhunderte eben- falls aufgehoben worden ist nur unter bedeutenden Ein- schränkungen eine unvollständige Autorität erlangt.

Der moderne Stat hat jedenfalls, seiner menschlichen und nationalen Begründung getreu, die entschiedene Tendenz, die Anhänger verschiedener Glaubensbekenntnisse durch seine gemeinsamen Institutionen zu einigen und allmählich die mittel- alterliche Verflechtung des öffentlichen Rechts mit bestimmten religiösen Bedingungen oder kirchlichen Vorschriften aufzulösen.

216 Zweites Buch. Volk und Land.

Dreiundzwanzigstes Capitel

Das Land.

1. Das Volk ist die persönliche Grundlage des States. Das Land ist die dingliche Beziehung desselben. Erst wenn das Volk ein Land erworben hat, wenn ein Statsgebiet hinzu- gekommen ist, hat der Stat die erforderliche Festigkeit erlangt.

Schon die Ausdehnung, der äuszere Umfang des Statsgebietes ist für die Existenz und die Entwicklung des States von groszer Wichtigkeit. Die hellenische Verfassung, die aus dem Leben der Städte erwachsen ist, läszt sich in einem groszen Lande nicht durchführen. Die groszen Formen der modernen Bepräsentativmonarchie werden auf einem engen Gebiete zur Karikatur.

Der Theil der Erdoberfläche, welcher von dem Volke be- setzt und von dem State beherrscht wird, heiszt Land oder Statsgebiet. Die Grösze desselben wird ähnlich wie die Bil- dung des Volks durch geschichtlicheVorgänge bestimmt. Ein Stat erweitert sein Gebiet, wenn er über unwirthliche Strecken, die noch nicht einem State angehören, seine Cultur und Herrschaft erstreckt, oder wenn er durch Verträge oder in Folge freiwilligen Anschlusses fremde Gebiete erwirbt, oder auch im Krieg durch Eroberung. Die letztere Form des Er- werbs, früher vorzugsweise geachtet, musz doch von einer civi- lisirten Weltordnung als ein Act der Gewalt, wenn nicht ausnahmsweise darin eine gewaltsame Eechtsentwicklung zu erkennen ist, verworfen werden.

Die Geschichte kennt keinen ewigen unveränderlichen Umfang der Statsgebiete. Auch der Baum, den die Staten einnehmen, ist abhängig von dem Wachsthum oder der Ab- nahme der Volkskräfte in ihm. Aber das Statsgebiet hat doch einen dauernden Charakter und seine Grenzen sind nicht wie die Volkszahl einer unaufhörlichen Wandlung unterworfen. Nur von Zeit zu Zeit in Folge groszer Ereignisse wird der

Dreiundzwanzigstes Capitel. Das Land. 217

Gebietsumfang geändert. In der Eegel bleibt er in feste Grenzen eingeschlossen.

Die Grenzen scheiden entweder das eigene Statsgebiet von dem fremden ab, oder sie scheiden das Statsgebiet von den Theilen der Erdoberfläche ab, welche keinem State angehören. Im erstem Fall denkt man sich die Grenze als eine feste Linie und bezeichnet sie so gut es geht mit Grenzmarken, Pfählen, Steinen, Gräben, Wällen u. s. f. Im letztern Fall bedarf es einer solchen scharfen Linie nicht, und es kann auch je nach Umständen ohne Verwicklung mit andern Staten die Grenze vorgeschoben oder zurückgezogen werden.

Zu der ersten Classe sind zu rechnen:

a) Strom- und Fluszgrenzen, obwohl dieselben nicht in dem Masze fest und unbeweglich sind, wie die Landgrenzen. Zuweilen wird die Mitte des Flusses, zuweilen der Thal- weg desselben, d. h. die durch die Strömung bestimmte Fahrbahn, als die eigentliche Grenze der beiderseitigen Stats- hoheit betrachtet, aber weil die Mitte oder der Thalweg vor- züglich benutzt wird, mit Kücksicht auf Schifffahrt und Ver- kehr, die Benutzung des Flusses zugleich als eine gemein- schaftliche behandelt.1 Sowohl die Mitte des Flusses als der Thalweg sind aber öfteren Aenderungen unterworfen, in Folge der An- und Abspülung der Ufer und in Folge ver- änderten Wasserlaufs.

b) Die Gebirgs grenzen. Die Gebirgszüge trennen gewöhnlich Stämme und Cultur von einander. Die Bewohner sehen nicht hinüber und gelangen nur mit Anstrengung, ge- wöhnlich nur auf einzelnen Bergwegen zu einander. Kegel- mäszig wird dann der oberste Grat des Gebirges, welcher auch die Gewässer scheidet, als die natürliche Grenzlinie an- gesehen.

Zu der zweiten Classe gehören:

1 Das gilt z. B. von dem Rhein als Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Vgl. Kl üb er, öffentl. K des deutschen Bundes §§.88—90.

218 Zweites Buch. Volk und Land.

a) die Meere, seltener grosze Seen, die von Natur der Sonderherrschaft einzelner Staten entzogen sind, und der ge- meinsamen freien Benützung aller Welt offen stehen.

b) Die Wüsten und unwirthliche Steppen, zuweilen auch Wälder und wildes Gebirge. Die fortschreitende Cultur und die allmählige Aneignung auch dieser Gebiete durch den Stat macht aber solche Natur grenzen seltener.

Die nähere Bestimmung der Grenzverhältnisse ist dem Völkerrechte vorbehalten.

2. In ähnlicher Weise, wie der Charakter und der Bil- dungsgrad des Volkes, übt auch die Natur des Landes einen groszen Einflusz aus auf die Statenbildung in demselben. Ob- wohl aus der Erde geboren ist der Mensch doch nur uneigent- lich ein „Landeskind" zu nennen. Als ein geisterfülltes und freies Wesen vermag er den äuszeren Einwirkungen des Landes auch Widerstand zu leisten. Aber er wird überall von der Macht der Natur umschlossen, und kann sich den Einflüssen nicht völlig entziehen, welche der besondere Charakter und die Gestaltung seines Wohnortes auf seinen Geist und Körper täglich ergieszt. Kann schon das Individuum diese Eindrücke nicht alle zurückstoszen und abweisen, so wird das Volk, wel- ches länger lebt und Jahrhunderte hindurch den nämlichen Einwirkungen der Landesnatur ausgesetzt ist, noch mehr davon betroffen, und am Ende wird in anderem Land auch das Volk ein anderes. Es ist aber eher Aufgabe der Politik als des Statsrechts, den Einflusz der Landesnatur je nach Klima, Bodenform und Bodenart, Fruchtbarkeit u. s. f. auf das Statsleben zu würdigen.

Wie aber die Menschheit, nicht das Volk die wahre Unter- lage des vollkommenen States ist, so ist auch die Erde, nicht das Land das vollkommene Statsgebiet, die Erde, welche die Mannichfaltigkeit aller Länder in das richtige Verhältnisz bringt und harmonisch einigt, welche alle Gegensätze nicht als Mängel, sondern als Ergänzung und Keichthum empfindet.

Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 219

Für die heutige Statenbildung aber, welche dem höchsten Ziele noch ferne steht, folgt daraus der auch practisch längst be- währte Satz: am günstigsten auch für den Einzelstat ist ein mannichfaltig geartetes Land, mit Bergen und Thälern, Flüssen, Seen, Meeresküsten und Ebenen: nicht gerade der erhöhten Fruchtbarkeit wegen, denn diese Hebungen und Senk- ungen des Bodens machen einen Theil des Bodens unfähig für die Cultur; sondern weil sie die ebenfalls mannich faltigen Anlagen der Bewohner allseitig anregen und die mensch- lichen Kräfte steigern. Am ungünstigsten dagegen sind grosze unwirthliche Steppen des Binnenlandes. Diese sind daher auch der uralte Boden, auf dem die unstatlichen Nomadenvölker noch ihr Wesen treiben.

Vierundzwanzigstes Capitel.

Von der Gebietshoheit. (Sogenanntes Statseigenthuni.)

Man nennt das Hoheitsrecht des States über das ganze Statsgebiet oft Statseigenthum. Diese Be- zeichnung hatte in dem mittelalterlichen Lehensstat wie in den absoluten Staten der asiatischen Yorzeit eine relative Wahr- heit. Zu dem modernen Statsbegriffe aber paszt dieselbe in keiner Beziehung.

Das „Eigenthum" ist ein privatrechtlicher, nicht ein po- litischer Begriff. So lange daher der Stat oder dessen Ober- haupt, wie in dem alt-jüdischen State Gott, wie die ägyptischen Pharaone als alleinige Eigenthümer des Bodens betrachtet wurden, an dem den einzelnen Privaten kein Eigenthum, son- dern nur ein vorübergehendes Gebrauchs- und Nutzungsrecht zugestanden war, oder so lange wie in dem römischen Keiche wenigstens der Boden der unterworfenen Provinzen als in dem

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formellen Eigenthum des römischen Volkes oder Kaisers stehend angesehen wurde, und den Provincialen nur ein minderes, ob- wohl reales Eigenthum (in bonis) an ihren Grundstücken zukam, oder so lange wie in einzelnen mittelalterlichen Staten, z. B. in England nach der Eroberung der Normannen, der König als Obereigenthümer und Lehensherr des ganzen Landes galt und die Unterthanen nur einen lehensmäszig abgeleiteten Grundbesitz hatten, so lange bildete die Vereinigung und Ver- mischung von privatrechtlichem Eigenthum und statlicher Hoheit die natürliche Unterlage für den Begriff des Statseigenthums. Seitdem aber die Ausscheidung des Privatrechtes und des Statsrechtes vollzogen ist, ist derselbe durchaus unhaltbar ge- worden.

Das Hoheitsrecht des States über das Gebiet, die Gebietshoheit (imperium), ist somit von dem Eigenthum (dominium) des States wohl zu unterscheiden. Das letztere hat einen privatrechtlichen Inhalt, ungeachtet der Stat das Kechtssubject ist, das erstere dagegen hat einen wesentlich politischen Charakter, und kann seiner Natur nach nur dem State (beziehungsweise dem Statsoberhaupte) zustehen.1

Die Gebietshoheit hat vorerst den positiven Inhalt, dasz dem State vollkommene statliche Herrschaft über das ganze Gebiet zusteht. Soweit dasselbe sich erstreckt, ist somit der Stat berechtigt, seiner Gesetzgebung Anerkennung zu verschaffen, seine Kegierungsbeschlüsse durchzuführen, seine Gerichtsbarkeit zu üben. Der Stat hat nicht blosz Gewalt über die Personen, er hat sie auch über das Land und über die Sachen darin.

Diese Herrschaft ist aber statlich, nicht privatrechtlich.

1 Die Alten haben diese Unterscheidung wohl erkannt. Hugo Grotius, de jure belli ac pac. II. 3. führt eine Stelle von Seneca an, de benef. VII. 4: „Ad reges potestas omnium pertinet, ad singulos proprietas ;" und von Bio Chrysost. Orat.: „Das Land gehört dem Stat (v x°>VC( i^s noXstos); aber nichts desto minder ist jeder Einzelne vollkommener Herr seiner erworbenen Güter. u

Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 221

Demgemäsz ist es ein Irrthum , der aus jener falschen Vor- stellung von Statseigenthum entsprungen ist, wenn ein natür- liches Eigenthum des States an herrenlosen Sachen be- hauptet wird, die in seinem Gebiete vorhanden sind oder wenn die Fremden von der Occupation solcher Sachen aus- geschlossen sind und diese ausschlieszlich dem State selbst oder seinen Angehörigen vorbehalten wird. Die Occupation ist eine privatrechtliche Erwerbsform, nicht ein Ausflusz einer statlichen Hoheit, und der Umstand, dasz es Sachen gibt, welche nicht in privatrechtlichem Besitze oder Eigenthum und doch derselben fähig sind, ist wieder nur ein privatrechtliches, nicht ein statsrechtliches Verhältnisz.

Dem römischen Eechte ist denn auch jene irrthümliche Ansicht fremd. An den eigentlichen res nullius hatte der Stat gerade so wenig Eechte als jede andere Privatperson. Wer immer, ob Fremder, ob römischer Bürger, dieselben occupirte, wurde durch die Occupation Eigenthümer.2 In dem Mittelalter dagegen war allerdings die Vorstellung der lehens- herrlichen Oberhoheit und die des Patrimonialstates einer Aus- dehnung der Statsherrschaft auch auf Gegenstände des Privat- rechtes günstig: und in manchen neuern Kechten hat sich diese frühere Anschauung groszentheils noch erhalten.

Dahin gehören:

1. Das preuszische Landrecht, welches mit Bezug auf gewisse Arten von Sachen, insbesondere auf Liegenschaften, Erbschaften, nutzbare Landthiere, auf welche noch kein In- dividuum ein besonderes Kecht erlangt hat, oder die von ihrem

2 Gajus, in L. 3 pr. de Adquir. rer. dominio:. „Quod enim nullius est, id ratione naturali occupanti conceditur." Vgl. L. 1. pr. eod. Klüber, öffentl. Recht des deutschen Bundes, §. 337. hat die Theorie aufgestellt, dasz die sogenannten adespota, d. h. herrenlose Sachen, innerhalb des Statsgebiets nicht von Fremden occupirt werden können. "Warum aber sollte der Vogel, der einem Fremden ins Zimmer fliegt und von diesem gefangen wird, demselben weniger gehören als einem Ein- heimischen?

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frühern Eigenthümer verlassen worden, dem State ein Vorzugs - recht zur Occupation zuschreibt, in Folge dessen ein Anderer dieselben nicht ohne Einwilligung des States in Besitz nehmen darf. An andern herrenlosen Sachen dagegen erkennt auch das preuszische Landrecht die Occupationsfreiheit an.3

2. Das englische Kecht hält auch hierin die mittel- alterliche Vorstellung noch strenger fest, indem es in der Regel dem Könige das Eigenthum an herrenlosen Sachen zuschreibt.4 Nur ausnahmsweise erkennt dasselbe an einzelnen beweg- lichen Sachen ein freies Occupationsrecht an.5

3. Das französische Eecht ist dem englischen ähnlich. Es stellt ganz allgemein das Princip auf: „Die herrenlosen Sachen gehören dem State."6

4. Das österreichische Gesetz nähert sich dagegen der richtigen römischen Ansicht. Es erkennt die umgekehrte Regel an, dasz die herrenlosen Sachen (dort „freistehende Sachen" genannt) der freien „Zueignung" anheimfallen.7

Wo nun aber in den neuern Rechten ein so ausgedehntes Recht des States noch vorkommt, da ist dasselbe doch nicht mehr als eine Folge der Gebietshoheit, sondern als eine An- wendung des aus statlichen Rücksichten und privatrechtlichen Elementen gemischten Rechtes der Regalität zu behandeln.

Der negative Inhalt der Gebietshoheit besteht in dem Rechte des States, jeden andern Stat oder überhaupt jede andere Macht von jeder statlichen Herrschaft innerhalb seines Gebietes und von jedem Uebergriff in dasselbe abzuhalten. Es ist eine einfache Folge dieses Grundsatzes, wenn der moderne Stat

3 Preusz. Ldr..II. 16. §. 1. ff.

* Blackst. I. 8- führt eine Stelle von Bracton an: „Haec quae nullius in bonis sunt et olim fuerunt inventoris de jure naturali, jara efficiuntur principis de jure gentium."

* Blackst. II. 16. 26.

6 Code Civ. §. 713: „Les biens qui n'ont pas de maftre apparfcien- nent a l'ßtat. Vgl. §§. 539. 723. 768. ' §. 381 ff.

Vierundzwanzigstes Capitel. Von der Gebietshoheit. 223

nicht zugibt, dasz in seinem Lande ein fremder Stat Gerichts- barkeit oder Polizeigewalt übe, nnd wenn er auch eine privat- rechtliche Begründung solcher fremden Herrschaft nicht an- erkennt.

Die Veräuszerung endlich des Statsgebietes oder eines Theiles desselben in den Formen und nach den Begriffen des Privatrechtes, wie dieselbe im Mittelalter ganz allgemein von den Landesherren geübt wurde, welche ihre Herrschaften wie ihre Grundstücke verkauften, verpfändeten, oft auch vertheilten,8 ist hinwieder mit dem öffentlichen Charakter der Gebietshoheit nicht mehr vereinbar. Nach dem modernen Statsrechte ist vielmehr der Grundsatz der Unveräuszerlichkeit und Untheilbarkeit des Statsgebietes als Kegel9 fest zu halten. Ausnahmsweise aber ist eine Veräuszerung nur zulässig in öffentlich rechtlicher Form, auf Grundlage eines Ge- setzes oder in Folge von völkerrechtlichen Verträgen, wohin denn auch die Friedensschlüsse gehören.10

Hugo Grotius fordert überdem nach natürlichem Eechte, wenn ein Theil des Statsgebietes veräuszert werden soll, nicht blosz die Zustimmung des ganzen Statskörpers , sondern auch die der Einwohner dieses Gebietstheiles: ein gerechtes Erfordernisz , da es sich um die ganze statliche Existenz derselben handelt und sie durch die Gesetzgebung des ganzen States unmöglich in einem Momente genügend vertreten werden, in welchem diese zur Auflösung der Gemeinschaft geneigt ist. Aber die Noth der Umstände wird in den meisten

8 Aehnliches kommt auch im Alterthum, aber nur bei solchen Staten vor, deren Fürst eine absolute Gewalt über Land und Leute hatte. Vgl. die Beispiele bei Hugo Grot. I. 3, 12.

9 Franz. Verf. v. 1791. IL §. 11. „Le royaume est un et indivi- sible." Belege von deutschen Einzelstaten bei Zachariä, Deutsches Stats- und Bundesr. L §. 83.

10 Preuszische Verf. von 1850. Art. 2. „Die Grenzen dieses Stats- gebiets können nur durch ein Gesetz verändert wedren."

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Fällen der Art stärker sein, als jener Grundsatz des natür- lichen Kechts.11 #

Beschränkungen der Gebietshoheit zu Gunsten anderer Staten (statsrechtliche Dienstbarkeiten) können vor- kommen, und zwar analog den Servituten des Privatrechtes. Nur bedürfen auch diese Beschränkungen, damit das Statsrecht sie anerkenne, einer statsrechtlichen oder völkerrechtlichen Be- gründung im einzelnen Fall und eines statsrechtlichen Inhalts. Z. B. durch Statsvertrag wird dem benachbarten State die freie Benutzung einer Militärstrasze über das Stats- gebiet zugesichert; oder eine Stadt wird mit Eücksicht auf die Begehren des Nachbarstates als Freihafen erklärt; oder die Ausübung des Postregals wird an eine fremde Postver- waltung überlassen. In höherem Masze aber, als im Privat- rechte zweifelhafte Fälle zu Gunsten der Freiheit des Eigen- thums interpretirt werden und die Ausdehnung der Servituten möglichst beschränkt wird, musz im Statsrechte die Freiheit der Gebietshoheit gegenüber derartigen Beschränkungen ge- wahrt werden; denn die Harmonie und Einheit des Stats- organismus, sowie das Bedürfnisz freier Umgestaltung der statlichen Einrichtungen, je nach den Erfordernissen der öffent- lichen Wohlfahrt, werden durch dauernde Beschränkungen und Hemmungen von auszen sehr leicht in einer unerträglichen Weise gestört und verletzt.12

Anmerkungen. 1. Die Umwandlung des Titels der französischen Könige aus Boi de France in Moi des Francais in Folge der Revolution war ein Protest gegen die frühere Vorstellung, dasz Frankreich ein Patrimonium regis sei. Insofern bezeichnet sie einen Fortschritt des

11 Hugo Grot. II. 6. §. 4 ff. Vgl. Wiener Schluszakte von 1828, Art. 6. „Eine freiwillige Abtretung auf einem Bundesgebiete haftender Souveränitäts- Rechte kann ohne Zustimmung (der Gesammt- heit) nur zu Gunsten eines Mit verbündeten geschehen."

12 Schmitthenner, Statsrecht S. 409: „Blosz privates Eigenthum eines fremden States oder Souveräns in dem Gebiete des States schlieszt keine Beschränkung der Landesgewalt ein."

Fünfundzwanzigstes Capitel, Eintheilung des Landes. 225

statlichen Geistes. Aber sobald man die Gebietshoheit in ihrer wahren Bedeutung erfaszt hat, so ist kein Grund mehr, die Benennung der Könige von dem Lande oder Reiche her für bedenklicher zu halten als die von dem Volke her. Zu weit aber geht Stahl, wenn er (Statslehre IL S. 38) der letzteren Bezeichnung vorwirft, sie rufe ein „Bild der Bar- barei" hervor. Die römischen Kaiser und die deutschen Kaiser haben bekanntlich den Namen des Yolks dem des Landes in ihren Titeln vor- gezogen. Wer wollte sie deszhalb der Barbarei bezichtigen ? Die Be- nennung vomYolke her ist sogar edler als die vom Lande her, weil das Volk über dem Lande ist.

2. Blosze Grenzberichtigungen fallen nicht unter den Begriff der Veräu3zerung des Statsgebietes. Es wird durch dieselben nicht ein Theil des Statsgebietes entfremdet, sondern der Umfang des wirklichen Statsgebietes näher bestimmt. Wenn aber zum Behuf der Arrondirung eines States ganze, zumal bewohnte Gebietsstrecken, welche unzweifel- haft bisher demselben zugehörten, abgetrennt und umgetauscht werden, so ist das allerdings nicht mehr eine blosze Grenzberichtigung.

Fünfundzwanzigstes Capitel.

Eintheilung des Landes.

Das Statsgebiet ist gewöhnlich so umfassend, dasz es regelmäszig zum Behuf der politischen Beherrschung in ver- schiedene Abtheilungen getheilt werden musz. Es lassen sich hier vier Hauptarten unterscheiden:

1. Die Provinzen.

Die Provinzen des römischen Eeiches waren ursprünglich selbständige Statsgebiete, welche aber der Herrschaft des römi- schen States unterworfen worden waren. Auch die neuern Provin- zen erklären sich häufig aus früherer Besonderheit der später zu einem gröszeren Ganzen vereinigten Länder. Zuweilen sind aber neue Provinzen erst von dem State geschaffen worden, dem sie angehören, und oft sind, wie im deutschen Eeich, aus den Provinzen (Herzogthümern) neue Länder geworden.

Das Charakteristische dieser obersten Stufe der statlichen Eintheilung liegt immerhin in der relativen statlichen

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 1 5

226 Zweites Buch. Volk und Land.

Besonderheit dieser Theile. In Folge derselben haben sie eine zwar der Gesammtre gierung untergeordnete, aber immer- hin mit Kücksicht auf die eigenthümliche Bedeutung der Pro- vinz mit ausgedehnteren Vollmachten ausgerüstete relativ selb- ständige Provinzialregierung. Ueberdem haben dieselben in der Repräsentativ-Verfassung zuweilen selbst eine freilich auf die besondern Interessen der Provinz beschränkte be- sondere Provinzialgesetzgebung, Provinzialstände.

Der moderne Einheitsstat ist dieser Eintheilung nicht günstig. In Frankreich, in Spanien und in England, nun auch in Preuszen ist die gesetzgeberische Besonderheit der Provinzen aufgelöst, in Oesterreich in den sogenannten Kronländern vornehmlich auf die Interessen der Cultur und Wirthschaft be- schränkt worden. So grosz aber das Interesse des States an voller und durchgreifender Einheit im Organismus ist, so zer- stört doch eine gänzliche Beseitigung der provinziellen Freiheit viele natürliche Eigenthümlichkeiten und Bedürfnisse, und leicht verletzt eine übertriebene Uniformität gesunde und fruchtbare Theile des Volkslebens. Die germanischen Völker bedürfen mehr als die romanischen zu ihrer Befriedigung auch der pro- vinziellen Selbständigkeit.

2. Die Kreise.

Die Kreise sind noch gröszere Statsbezirke ; aber sie haben doch nur die Bedeutung von bloszen Theilen des Stats- gebietes. Sie haben nicht wie die Provinzen einen Anspruch darauf, zugleich besondere Länder zu sein. In der alten fränkischen und deutschen Reichsverfassung hatten die Herzog- thümer und Fürstentümer den Charakter von Provinzen, die Gaue den von Kreisen. Eben dahin sind die englischen und nordamerikanischen Grafschaften, die französischen Departemente, die deutschen Kreise und die preuszi sehen Regierungsbezirke zu rechnen.

Der wahre Grund dieser Eintheilung liegt nicht in der Eigenthümlichkeit eines Landes oder eines Volksstammes, son-

Fünfundz wanzigstes Capitel. Eintheilung de3 Landes. 227

dern in dem politischen Bedürfnisse der Statsverwaltung selbst, ihre Thätigkeit stufenweise zu gliedern. Sie ist daher vorzugsweise das Product des Statsorganismus, obwohl im Ein- zelnen auch auf die historische Verbindung der Bevölkerung eines Kreises und auf die natürlichen Verkehrsbeziehungen der- selben Kücksicht zu nehmen ist. Lassen sich die Provinzen mit verschiedenen Häusern vergleichen, die zu einem Schlosse gehören, so sind die Kreise eher den verschiedenen Stockwerken eines Hauses vergleichbar.

Den Kreisen kommt gewöhnlich eine besondere Concen- tration der Verwaltung und der obern Gerichtsbarkeit zu. Ueberdem zeigt sich in den modernen Staten die Neigung, die besonderen Interessen des Kreises in demselben eigen- artig zu pflegen, die Interessengemeinschaft der Be- völkerung zu organisiren, und je nach Bedürfnisz gemeinnütz- liche Kreisanstalten (Straszen, Magazine, Krankenhäuser, Schulen, Armenhäuser, Correctionshäuser) zu gründen. Es eröffnet sich hier ein fruchtbares Feld für die Selbstverwaltung oder die Kepräsentativ-Verwaltung des Kreises.1

3. Die Bezirke.

Sie bilden regelmäszig Unterabtheilungen der Kreise, und haben dann eine besondere der Kreisregierung untergeordnete Verwaltung und eine mittlere Gerichtsbarkeit. Auch diese Bezirke können als Körperschaften anerkannt sein und ein eigenes Vermögen und besondere Bezirksanstalten haben.2

Die alten Centenen(Huntari) der germanischen Ver- fassung, die Landgerichte und Oberamteien in Deutsch- land, die Cantone in Frankreich und die Kreise inPreuszen nehmen diese Stellung ein.

x Vgl. Vivien £tud. ordin. IL Cap. VI.

2 Vivien a. a. 0. IL Cap. 3. Die französischen Cantone haben ihre Hauptbedeutung auf dem Lande, indem sie mehrere Gemeinden ver- einigen und dadurch stärken. In den Städten fällt Gemeinde und Canton zusammen. Die arrondissements, welche die Cantone zusammenfassen, haben nie eine rechte Bedeutung erlangt.

15*

228 Zweites Buch. Volk und Land.

Blosze Wahlkreise zum Behuf e der Volksrepräsentation gehören nicht hieher, da sie nur für einen vorübergehenden politischen Zweck geschaffen, nicht ein organisches Glied im Statskörper sind. Der Mangel an bleibenden gemeinsamen Institutionen spricht übrigens gegen die Zweckmäszigkeit sol- cher unorganischer Kreise.

4. Die Gemeinden, sowohl die Stadt- als die Land- gemeinden mit ihrem Bann.

Sie siud die unterste Stufe der Eintheilung des Stats- gebietes, haben aber eine höchst lebensvolle Bedeutung, welche eine gewisse Analogie mit dem Statsgebiete selbst gewährt. Wie das politisch-organisirte Volk zum Land, so verhält sich die persönliche (corporative) Gemeinde zum Gemeindebezirk (Gemeindebann). Sie erfüllt es mit ihrem gemeinsamen Leben. Freilich ist dieses selbst nicht wie dort ein höheres politisches, sondern zunächst ein den gemeinen Cultur- und Wirthschafts- interessen zugewendetes. Gröszere Städte bilden zugleich Be- zirke (Cantone), die gröszten Hauptstädte haben zugleich die Bedeutung der Kreise (Departements).

Veränderungen in der politischen Eintheilung des Stats- gebietes sind Sache des Gesetzes. Der Stat hat in allen Stufen der Abtheilung auch seine Gesammtinter essen und die Harmonie seines Organismus zu wahren. Je höher aber die Stufe, um so entscheidender wirken die öffentlichen Interessen, um so freiere Hand hat der Stat in der Bestimmung der Grenzen. Die tiefste Stufe dagegen, die Gemeinde, steht ihrem Zwecke nach in so vielfältigen und engen Beziehungen zu den bestehenden Gemeindecorporationen , dasz hier der Wille auch dieser vorzüglich in Betracht kommt. Die Hauptrücksichten, welche der Stat bei seinen Anordnungen zu nehmen hat, sind a) die politische Zweckmäszigkeit der Eintheilung; b) die natürlichen Verbindungen und Gegensätze, z.B. zusammen- gehörige Fluszgebiete oder Thäler; c) die historischen Be- ziehungen der Bevölkerung; d) ihre Verkehrsbeziehung,

Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigenthum. 229

z. B. zu einer Stadt als Centralpunkt. Untergeordnet dagegen sind die blosz mathematischen Bücksichten, die sich ab- zählen oder mit dem Zirkel bemessen lassen.

Seclisundzwaiizigstes Capitel.

Yerhältnisz des Stats zum Privateigenthum.

Das Privateigenthum, d. h. die Herrschaft des In- dividuums über die Sachen, ist so alt als der Mensch. Als die ersten Menschen die Früchte pflückten, welche die Bäume ihnen zur Nahrung darboten, übten sie mit Bewusztsein Herr- schaft aus, d. h. sie nahmen dieselben zu Eigenthum. Und als sie sich eine Höhle wählten, und ein festes, wenn auch vorübergehendes Lager bereiteten, ergriffen sie auch daran Eigenthum. Als sie ihre Blösze mit Zweigen bedeckten und ein Thierfell um ihren Leib warfen, hatten sie wieder Eigen- thum erworben.

Das Eigenthum ist nicht erst durch den Stat er- zeugt worden. Es ist in seiner ersten, freilich unvollkomme- nen und noch wenig gesicherten Gestalt das Werk des indi- viduellen Lebens, gewissermaszen die Erweiterung des leiblichen Daseins der Individuen. Das Individuum ergreift Besitz von den Dingen um es her, die in den Be- reich seiner Herrschaft fallen, es macht sich dieselben dienst- bar und nutzbar, es eignet sich dieselben an. Indem zum Besitz das Bewusztsein der berechtigten Herrschaft der Person über die Sache hinzutritt, ist das Eigenthum vollendet. Auch der Nomade, der keiner festen Statsverbindung angehört, hat dennoch Eigenthum an seinen Kleidern, seinen Waffen, seinen Heer den, seinen Geräthschaften. Auch jener schiff- brüchige Robinson auf dem einsamen Eilande erweiterte sein Eigenthum,

230 Zweites Buch. Volk und Land.

Der Communismus, welcher die Kechtmäszigkeit des Privateigentums läugnet, und das Eigenthum als „Diebstahl" ! an der Gesamnitheit erklärt, ist somit im Widerspruch mil- der individuellen Natur des Menschen, wie Gott ihn geschaffen, der dem Menschen „Herrschaft verliehen hat über die Fische im Meer und über die Yögel unter dem Himmel und über das Yieh und über die ganze Erde" (1. Mose 1, 26). Er ist ebenso im Widerspruch mit der ganzen Geschichte der Mensch- heit, welche unter allen Völkern und in allen Zeiten das Eigenthum anerkennt, und in ihrer Entwicklung unverkennbar bemüht ist, das Eigenthum möglichst vollkommen auszubilden.

Die Aufhebung des Eigentimms im Sinne der Commu- nisten würde den Untergang jeglicher individuellen Freiheit, die Zerstörung der Cultur, die Auflösung der Familie, mit Einem Worte eine Barbarei zur Folge haben, wie sie selbst in den rohesten Zuständen der menschlichen Gesellschaft nie da gewesen ist. 2

Scheinbar gemäszigter und humaner ist die Lehre der Socialisten, aber ebenso verkehrt und minder noch conse- quent. Als Vertreter dieser Ansicht mag Fröbel gelten, welcher das Eigenthum nur als „Lehen der Statsgesellschaft in der Hand seines Besitzers" gelten lassen will und das Recht der Individuen nur als „eine Folge eines Gesammt- willens anerkennt von Vielen, die eine souveräne Gesellschaft bilden."3 Diese Lehre miszkennt die individuelle Natur und Freiheit des Menschen nicht minder als der Communismus; und indem sie blosz von abgeleitetem und vorübergehendem Besitze weisz, bietet sie uns das übertriebene Zerrbild des mittelalterlichen Lehenswesens als Ersatz an für das freie

1 Proudhon, „La propriete c'est le vol.u

2 Vgl. Thiers De la propriete Liv. IL, der vortrefflich in der Kritik der communistischen und socialistischen Systeme, aber nicht glücklich in der philosophischen Herleitung des Eigenthumsbegriffes (aus der Arbeit) ist.

3 Fröbel, sociale Politik II. S. 392 u. 400.

Sechsundzwanzigstes Capitel. Yerhältnisz d. Stats z, Privateigenthum. 231

Eigenthum, welches eine höhere Gesittung glücklich errungen hat. Es ist das die nämliche, nur mit demokratischen Phra- sen umhängte Theorie der Knechtschaft, welche in den dun- kelsten Zeiten der Geschichte eine niederträchtige Schmeichelei willkürlichen Despoten gelehrt hatte.

Dem State kommt somit keineswegs absolute Verfügung zu über das Privateigenthum. Vielmehr liegt dieses als Privat- recht zunächst auszerhalb der Sphäre des Statsrechtes. Der Stat schafft das Eigenthum nicht und erhält es nicht, er darf es daher auch nicht nehmen. Er schützt es, wie er überhaupt alle individuellen Kechte schützt. Die beiden Hauptgrundsätze über das Verhältnisz des States zum Privateigenthum sind demnach :

1. Der Stat gewährleistet dieFreiheit und Sicher- heit des Eigenthums.4

2. Dem State kommt keine willkürliche Dispo- sition zu über das Eigenthum.

Die Freiheit des Privateigenthums erleidet aber einige Beschränkungen unter Voraussetzungen, welche zugleich das Kecht des States erweitern:

1. Aus der Natur der Sachen selbst ergeben sich solche.

Gewisse Sachen nämlich sind um ihrer natürlichen Be- schaffenheit willen dem ausschlieszlichen Privatbesitz und Privateigenthum entrückt und dem gemeinen öffentlichen Ge- brauche hingegeben. Oeff entliche Sachen (res publicae). So die öffentlichen Flüsse, Seehäfen, Straszen.*

* Eine Reihe von Verfassungen sprechen diesen Satz ausdrücklich aus. Schon die Magna Charta König Heinrichs III. von England von 1225 enthält mehrere Einzelbestimmungen der Art. Auch die republi- kanische Verfassung von Frankreich von 1848. A. 11. enthält wie die Charte von 1814 (8) den Satz: „Toutes les proprietes sont inviolables; " ebenso die preuszische Verfassung von 1850. Art. 9: „Das Eigenthum ist unverletzlich."

5 Marcianus in L. 4. §. 1. de div. Rer.: „Flumina paene omnia et

232 Zweites Buch. Yolk und Land.

Andere Sachen sind zwar ihrer Natur nach fähig des Privateigentums , aber im Sinne des modernen Eechtes, weil sie immerhin eine nähere Beziehung auf die allgemeine Wohl- fahrt haben, oder weil ihre Ausbeutung eine über die Schran- ken des gewöhnlichen und theilbaren Privateigenthuins hinaus- reichende umfassende Wirthschaft erfordert, dem höheren Eechte des States unterworfen. Dahin gehören insbesondere Berg- werke, Salinen und ähnliche Regale.

2. In Folge der (politischen) Oberherrschaft des States über Land und Leute, und aus seiner Verpflichtung, auch das Nebeneinanderbestehen und das Nacheinander- bestehen der Individuen zu schützen. Dahin gehören die Besteuerung und die sämmtlichen polizeilichen Be- schränkungen des Privateigenthums.

3. In Folge des Rechtes der Enteignung (expropriatio). Gewöhnlich nimmt man an, das Recht der Enteignung

sei von den Römern nicht anerkannt, vielmehr die Freiheit des Eigenthums auch dann unbedingt geschützt worden, wenn der Stat der Abtretung im Interesse allgemein nützlicher Un- ternehmungen bedurft habe. Indessen steht nur so viel fest, dasz die Römer kein allgemeines Abtretungsrecht zuge- lassen haben. Ihre groszen Canäle, ihre in gerader Richtung durchgeführten Heerstraszen , ihre Wasserleitungen und Be-

portus publica sunt." Ulpianus in L. 1. §. 3, eod. „Publicum flumen esse Cassius definit, quod inrenne sit.a Enger ist der Begriff des öffent- lichen Flusses nach dem Code Napöl. §. 538: „Les chemins, routes et rues h la charge de l'J^tat, les fleuves et rivieres navigablcs ou flottablcs, les rivages, lais et relais de la mer, les ports , les havres, les rades , et generalement toutes les portions du territoire frangais qui ne sont pas susceptibles d'une propriete privee, sont consideres comme des depen- dances du domaine public." Der Sachsenspiegel II. 28. §.4 scheint ebenfalls nur stromartige Flüsse für öffentliche zu halten: „Svelk water strames vlüt, dat is gemene to varene unde to vischene inne.w Das preuszische Landrecht II. 15. §. 38,42. beschränkt den Begriff sogar auf „schiffbare14 Flüsse und weisz auch von flöszbaren Privatflüssen. Aehnlich das österr. Ges. §.407.

Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigenthum. 233

festigungswerke aber wären unerklärbar, hätte nicht der Stat im einzelnen Falle die Macht besessen, die Grundeigentümer zur Abtretung zu nöthigen. Wahrscheinlich verfuhren die Kömer, wenn solche Bedürfnisse vorlagen, ähnlich, wie bis auf die neueste Zeit die Engländer, d. h. sie erlieszen ein Spe- cialgesetz für den besondern Fall. Auch gegenwärtig noch bedarf es, wie in frühern Zeiten, in England einer Parla- mentsacte, wenn die Eigenthümer zum Bedarf einer öffent- lichen Unternehmung angehalten werden sollen, ihr Eigenthum abzutreten. 6

Auf dem Continente dagegen ist das Eecht der Enteig- nung gewöhnlich in neuerer Zeit allgemein anerkannt und regulirt worden. Viele neuere Verfassungen enthalten das Princip, dasz der Stat berechtigt sei, aus Gründen der öffent- lichen Wohlfahrt und gegen volle Entschädigung die Abtre- tung des Eigenthums zu erzwingen.7

Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge- rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privatrechte und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der Vorzug,

6 Vgl. Blacks tone, I. 1. und eine Reihe neuerer Gesetze über Canäle und Eisenbahnen. Beispiele in dem „Neuesten Expropriations- codex". Nürnberg 1837.

7 Bayerisches Landrecht von 1756 IV. 3. §. 2. Preuszisches Landrecht I. 2. §. 4. 7. Code Nap. §. 545: „Nul ne peut etre con- traint de ceder sa propriete, si se n'est pour cause d'utilite publique, et moyennant une juste et prealable indemnite." Oesterr. Gesetzb. §. 365.: „Wenn es das allgemeine Beste erheischt, musz ein Mitglied des States gegen eine angemessene Schadloshaltung selbst das vollständige Eigenthum einer Sache abtreten." Verfassung von Frankreich v. 1848. §. 11. gleichlautend mit der Charte von 1814. §. 9. und dem Code; von Belgien 1831. §. 11, von Neapel 1848. §.26. ebenso Oesterr. Verf. von 1849. §. 29, ähnlich der obigen Bestimmung des Gesetzbuchs. Preuszische Verfassung von 1850. A. 9: „Das Eigenthum ist unver- letzlich. Es kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohles gegen vor- gängige, in dringenden Fällen wenigstens vorläufig fest- zustellende Entschädigung nach Maszgabe des Gesetzes entzogen oder beschränkt werden,"

234 Zweites Buch. Volk und Land.

aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die Lösung des Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse wird durch das Kecht des States auf Abtretung, das individuelle Inter- esse durch das Eecht des Privaten auf volle Entschädigung gewahrt.

Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent- liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört ihrer Natur nach dem öffentlichen Kechte an, und ist somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern von den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun, dasz der Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordamerika, das Un- ternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Verwaltungsbehörden, wie in Deutschland gewöhnlich, diese Competenz haben. Die letztere Yerfahrungsweise ist im Princip richtiger ; denn Sache der Eegierung ist es, im einzelnen Falle das anzuordnen, was das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem Masze kommt auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszigkeit der Mittel zu beurtheilen. Nur allerdings müssen die Formen des Verfahrens Garantien dafür bieten, dasz nicht blosze Willkür und Laune einen Eingriff in das Privatrecht veranlassen.8

Das Kecht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem State, und für den engern 1\reis der öffentlichen Gemeinde- interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen. In- dessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner Unter- nehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen über- läszt, diesen einzelnen Individuen oder Gesellschaften ausnahmsweise auch die Befugnisz einräumen, für diesen beson- deren Zweck die Abtretung zu verlangen. Selbst in England und Nordamerika ist diese Uebertragung des Kechts auf Ab- tretung häufig von dem gesetzgebenden Körper an Actien-

8 Bayerisches Gesetz v. 1837. Vgl. Treichler, über die Zwangs- abtretung in der Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler, Rey- scher und Wilda. Bd XII. H. 1.

Sechsundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz d. Stats z. Privateigen thum. 235

gesellschaften, z. B. für Erbauung von Eisenbahnen, zugestan- den worden.

Viele Gesetzgebungen beschränken die Abtretungspflicht theils auf Liegenschaften, theils auf bestimmte einzeln be- nannte Zwecke. Das Princip in seiner Eeinheit aber wider- streitet diesen Beschränkungen, indem ganz die nämlichen Gründe, welche diese engere Anwendung rechtfertigen, auch auf fahrendes Gut oder andere Vermögensrechte und auf Zwecke passen, welche erst nach der gesetzlichen Aufzählung durch neue Erfindungen und erweiterte Culturbedürfnisse sich ergeben.

Die Frage dagegen, wie hoch die Entschädigung zu be- stimmen sei, welche dem Abtretungspflichtigen zukomme, ist von durchaus privatrechtlicher Natur, somit auch, wenn sie nicht durch freien Vertrag zur Erledigung gelangt, auf dem Wege des Civilprocesses zum Entscheide zu bringen. Der Stat ist immerhin zu voller Entschädigung verpflichtet. Dem Privaten darf kein Schaden zugemuthet werden, welcher ihn allein betrifft. Demgemäsz ist nicht blosz der gemeine Verkaufswerth, sondern es ist auch der besondere Mehrwerth, welchen die Sache für den zur Abtretung ge- zwungenen Eigenthümer hat, diesem zu ersetzen, nicht blosz das unmittelbare, sondern auch das mittelbare Interesse. Da- gegen ein blosz eingebildeter Mehrwerth, der über den wirklichen hinaus reicht, also insbesondere auch der blosze Affectionswerth, den der Eigenthümer der Sache beilegt oder beizulegen vorgibt, braucht nicht vergütet zu werden.

Einzelne Kechte lassen bei Berechnung zwar nicht des unmittelbaren Schadens, der jedenfalls vergütet werden musz, wohl aber des mittelbaren Schadens, den der Eigenthümer er- leidet, als Gegenwerth den mittelbaren Vortheil, den er aus dem unternehmen gewinnt, in Abzug bringen.9 Andere da-

9 Franz ös. Gesetz von 1841. Art. 51. Zürcher Gesetz von 1838. §, 7.: „Bei Berechnung des mittelbaren Schadens für das übrige Yer-

236 Zweites Buch. Volk und Land.

gegen lassen keinerlei Compensation der Vortheile zu, welche aus dem Unternehmen dem Abtretungspflichtigen erwachsen.10 In der Beschränkung, wie sie das Zürchergesetz formulirt. ist die erstere Meinung doch wohl die richtigere, weil sie den wirklichen Werth- und Sehadensverhältnissen genauer entspricht.

mögen des Betheiligten ist der allfällige Vortheü, welcher demselben auf der Unternehmung erwächst, in billige Berücksichtigung zu ziehen." Z. B Ein Garten wird durch die Strasze durchschnitten. Die eine zu- rückbleibende Seite verliert als Garten an Werth, aber gewinnt als Bau- platz mehr an AVerth, als sie in ersterer Eigenschaft verloren hat. Hier wäre es unbillig, müszte der Stat auch jenen Verlust ersetzen. 10 Bayer. Ges. v. 1837. 6.

Dritte $itdj-

Von der Entstehung und dem Untergang des

States.

Erstes Capitel.

Einleitung.

Die Wissenschaft der Geschichte hat die Erzeugung des ersten States noch nicht beobachtet und uns keinen Bericht darüber hinterlassen. Sie ist erst zu einigem Bewusztsein gelaugt, als es schon mancherlei Staten auf der Erde gab. Selbst die uralten heiligen Bücher der Juden, welche uns über die erste Entstehung des jüdischen States ein Zeugnisz geben, setzen doch den altern ägyptischen voraus, ohne uns von dessen Geburt zu berichten. Und dem ägyptischen Stat hat vielleicht der indische als Vorbild gedient, dessen erste Pflanzung auch die heiligen Schriften der Indier nicht beleuchten.

Wohl aber hat die Geschichte seither den Anfang und das Ende sehr vieler Staten beobachtet, und ertheilt uns so einen viel reichhaltigeren Aufschlusz über die Gründung und den Untergang der Staten, als die blosze Speculation, die man gewöhnlich allein zu Rathe zieht. Die Staten des Alterthums sind in Europa alle, in Asien fast alle schon seit Jahrhunderten verstorben; die Geburt der meisten gegenwärtig bestehenden

238 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.

Staten fällt in eine historisch bekannte Zeit. Manche dersel- ben sind noch von sehr jungem Alter. Die Vorbedingungen ihrer Entstehung, und die Momente, durch deren Einwirkung sie geworden, sind unserm Blicke keineswegs verborgen, wenn uns schon, wie in aller geistigen und physischen Schöpfung, die schöpferische Kraft selbst wie durch ein göttliches Geheim- nisz verhüllt bleibt.

Die Art des Ursprungs eines States ist aber nicht blosz ein Phänomen von groszem psychologischem und historischem Interesse. Sie übt auch einen fortwährenden Einflusz aus auf das ganze übrige Leben des States, und bestimmt groszen- theils auch sein Verhältnisz zu andern Staten.

Daher hat es für das Statsrecht noch mehr Interesse, die verschiedenen Entstehungsformen der Staten zu betrachten, als für das Privatrecht die mancherlei Formen des Eigen- thumserwerbs, obwohl die Neuem die erstere Lehre fast ganz vernachlässigt, die letztere aber fortwährend sorgfältig behan- delt haben. Wir können auch dort ursprüngliche (origi- näre) Entstehungsformen von abgeleiteten (derivativen) unterscheiden; je nachdem die Statenbildung in dem Volke selbst, welches zum State geeinigt und erhoben wird, ihren Ursprung nimmt, im Gegensatze zu den neuen Staten, welche ihre Existenz von einem anderen State ableiten.

Immerhin aber darf die neue Statenbildung, von welcher hier allein die Kede ist, nicht verwechselt werden mit bloszen Verfassungsänderungen eines States, ein Unter- schied auf den schon Bodin2 mit Recht aufmerksam gemacht

1 Tocqueville, de la democratie en Amerique. I. S. 46: „Les peupleg 3e ressentent toujours de leur origine. Les circonstances qui ont accom- pagne leur naissance et servi a leur developpement influent sur tout le reste de leur carriere.41

2 Bodinus, De Republica. IY. c. 1. Die letztern nennt er „conver- siones." „Conversionem civitatis appello, cum Status ipsius convertitur ac omnino mutatur; id autem fit, cum imperium populäre ad unum aut paucorum potestas ad omnes cives defertur contraque."

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 239

hat. Durch die Umgestaltung des alt-römischen Königthums in die Kepublik kam nicht ein neuer Stat ins Dasein, so wenig als durch die Abschaffung der republikanischen Statsform und die Einführung des Kaiserthums. Diese Wandlungen in der Begierungsform bezeichnen verschiedene Lebensperioden und Zustände desselben States, sie sind nicht die Anfänge ver- schiedener Staten.

Zweites Capitel.

Ursprüngliche Entstehungsformen.

I. Die originärste Statenbildung unter all den mannichfaltigen Entstehungsformen ist in der Sage von der Gründung Borns dargestellt. Alles ist hier neu, sowohl das Volk, welches sich aus mancherlei Bruchstücken verschiedener Volksstämme um gemeinsame Häuptlinge her einigt und zum römischen Volke wird, als das unwirthliche und herrenlose Land, welches in Besitz genommen und zu dem Boden der ewigen Stadt bestimmt wird. In dieser Sage liegt der Ge- danke einer von Grund aus neuen Schöpfung. Die Orga- nisation der Menschenmenge zu einem statlichen Volke geht der Festsetzung auf einem Statsgebiete nicht eine Weile vor- her, die Beziehung auf die Stadt ist ebenfalls ursprünglich. Beide Momente treffen so in Eins zusammen, und die neue Statengründung wird sofort durch die erbetene Gutheiszung der Götter geheiligt, und durch das von dem neuen Könige dem geordneten Volke gegebene und von diesem gebilligte Gesetz statsrechtlich befestigt. Der schöpferische Geist des Königs und der statliche Wille des Volks begegnen sich in dem Statsgesetz als in einem einheitlichen Constituirungsact,1

1 Leo, Weltgesch. 1.393. bezeichnet den „Vertrag" als das charak- teristische Moment der Gründung Roms, und in der That erinnert die

240 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

und der Stat ist da als das freie Werk des bewuszten Volkswillens.

Ob diese Form eines schöpferischen Statsactes, wie wir sie nennen können, jemals wirklich vorgekommen sei, mag immerhin bezweifelt werden. Jedenfalls entspricht sie der 'Statsidee, welche gewissermaszen in ihr vollendet, wie die Athene aus dem Haupte des Zeus, in das Leben übertritt, am vollkommensten.

IL Das Land ist vorher da, aber in dem Lande gelangt später erst das Volk zu dem Bewusztsein einer statlichen Zusammengehörigkeit. Hier liegt das statenbildende Moment in der Volksorganisation. Auch dafür finden wir in der alten Sage ein berühmtes Vorbild. Die Athener gelten als Kinder des attischen Landes (Autochthonen), welches sie Jahr- hunderte lang bebauten, bevor der Stat Athen gegründet wurde. Mag man nun die Entstehung dieses States von Kekrops herleiten, der zuerst unter den noch rohen Landeseingebornen die Verehrung der Götter, ein gesittetes Familienrecht , den Ackerbau und die Pflanzung des Oelbaums eingeführt, das ge- sammte Volk in kastenartige Stämme geordnet und Kegierung und Gericht eingesetzt habe, oder mag man dieselbe erst dem Könige Theseus zuschreiben, welcher die zerstreuten Gemeinden des Landes zu einem einheitlichen Gemeinwesen verbunden und die Leitung desselben in Athen concentrirt habe : 2 unter beiden Voraussetzungen liegt in der Organisation des Volks, welchem das Land gehörte, die Verwirklichung des States.

alte Form der römischen Gesetzgebung an die gewöhnliche Form der obligatorischen Verträge , an die stipulatio. Dessen ungeachtet ist da3 römische Gesetz, wenn man auf das Wesen sieht, kein Vertrag zweier selbständigen Personen, sondern ein einheitlicher Akt des römischen Volks.

2 Die Athener nannten diese Concentration der Gemeinden zum State ^vvoUitt, Vgl. darüber die lehrreiche Abhandlung von "W. Vi seh er: Ueber die Bildung von Staten und Bünden im alten Griechenland. Basel 1849.

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 241

Eine historisch genau beobachtete 3 Anwendung dieser Statenbildung durch Volksorganisation in einem bestimmten Lande ist die Gründung der Bepublik Island im Jahr 930 n. Ch. Zuvor gab es nur vereinzelte Niederlassungen der zahl- reichen Häuptlinge (Goden) auf der Insel, unverbundene Herr- schaften selbständiger Godorde mit ihren Tempeln und Ding- stätten. Damals aber wurde auf den Antrag Ulfljots mit Zu- stimmung der Goden ein für die ganze Bevölkerung der Insel gemeinsames Allding beschlossen und so für die Gesetzgebung und Kechtspflege ein Gesammtorgan geschaffen, dem alle Godorde untergeordnet waren. Damit aber hatte sich die Bevölkerung der Insel zu einem statlichen Volke constituirt.

Auch die Gründung des States Kalifornien, die vor den Augen der mit uns Lebenden vollzogen worden ist, er- scheint als freie Constituirung eines neuen Volkes auf einem den vereinigten Staten von Nordamerika zugehörigen Gebiete. Der Hunger nach Gold hatte aus aller Welt eine unverbun- dene Menge verschiedener Individuen zusammen getrieben, und diese wählten am 1. September 1849 Abgeordnete zu einem Verfassungsrathe und schon am 13. October lag die Ver- fassungsurkunde des neuen States dem neuen Volke zur Ge- nehmigung vor. Es ist schwerlich ein Beispiel in der Ge- schichte zu finden, welches leichter für die Möglichkeit einer Statenbildung durch freie Uebereinkunft der betheiligten Indi- viduen gedeutet werden kann, als dieses: und dennoch kann es einer genaueren Betrachtung dieses Falles nicht verborgen bleiben, dasz auch da nicht der Vertrag aller Individuen4, sondern der Beschlusz und Wille der Mehrheit den Entscheid gab und dasz die Einheit der Gemeinschaft als noth-

3 Vgl. Maurer Beiträge zur Rechtsgesch, des germ. Norden. 1852. Heft 1.

4 R. v. Mohl hat in der Zeitschr. v. Mittermai er für ausländ. Rechtswiss. XXVII» 5. 294. dieses Beispiel näher ausgeführt und für die Theorie des Contrat social benutzt.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I,

242 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

wendig vorausgesetzt wurde. Nicht der Einzelwille der Indi- viduen, der Gesammtwille der ganzen Bevölkerung schuf die Verfassung.

III. Weit häufiger kommt es vor, dasz die Bildung eines Volkes vorhergeht, und die Besitznahme des Landes als des zweiten zum Dasein eines States unentbehrlichen Ele- mentes nachfolgt. Wir können diese Form die Landnahme heiszen.

Sie kann zunächst als Eroberung eines bewohnten Lan- des sich darstellen. Diese Form von Statenbildung ist sehr häufig zur Anwendung gekommen. Die erste jüdische, ein bedeutender Theil der griechischen (der dorischen) und die ganze Statenbildung der germanischen Völker auf römischem Provincialboden und in slavischen Ländern tragen diesen Charakter. In ihr stellt sich die kriegerische Ueber macht eines Volkes über die Einwohner des eroberten Landes dar, und wie der Krieg nach der einen Seite hin zer- störend wirkt, so offenbart sich auf der andern Seite in ihm eine positive gewissermaszen Staten zeugende Kraft. Die statlichen Eigenschaften der Unterordnung und männlichen Herrschaft werden im Kriege gesteigert, und so das siegreiche Volk zur Gründung eines neuen States in dem unterworfenen Lande vor- züglich befähigt.

Die so entstandenen Staten haben in den ersten Zeiten ihres Daseins, abgesehen von den äuszern Verhältnissen, grosze innere Schwierigkeiten zu überwinden. Auch wenn der Kampf der Waffen nicht erneuert wird, so beginnt doch gewöhnlich ein innerer Geistes- und Culturkampf zwischen dem erobernden und dem unterworfenen Volke, und dauert fort bis die völlige politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist. Um vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewahren, hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie die Ein- wohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah verleihen werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser Gefahr

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 243

sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem die höhere Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder unterwarf.

Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Gewalt auftretend, als eine Quelle des statlichen Eechtes unter allen Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders des Groszen,5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte es annehme, gilt noch in unsern Tagen. Selbst Christus hat das Becht der Eroberung in jenem berühmten Worte: ,, Gebet dem (römischen) Kaiser was des Kaisers ist" und mehr noch durch sein Leben und sein Leiden anerkannt.

Gewisz ist der Bechtszustand noch ein unvollkommener, in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein- flusz übt auf die Begründang neuen und die Zerstörung alten Bechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne die germanischen Völker betrachteten den Krieg als einen groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers.6 In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt- sein anknüpfen, welches den Stat menschlich begreifen will. Zwar wird es sich weigern, jeden Sieg für eine Bewährung des Bechts und jede Niederlage als ein Zeichen des Unrechts

5 Curtius Eufus, Tita Alex. lib. 4. Ygl. Hugo G-rot. De jure b. a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario- vist zu Cäsar an: „Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie sie wollten, über die Besiegten gebieten." [Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl. oben Cap. 9 der Einleitung.

6 Bluntschli Studien, S. 202: „Der Krieg ist nur die bisherige und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusztsein aber, dasz das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver- fahren, fängt an zu erwachen."

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•>44 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang defl States.

anzuerkennen; es wird auch nicht die Ueberlegenheit der Kriegswaffen als einen Rechtsgrund betrachten. Aber es wird das Resultat der groszen geschichtlichen Entwick- lung, die von Zeit zu Zeit wieder die streitenden Kräfte der Nationen zur Ruhe bringt, als eine natur- und zeitgemäsze Erledigung des Volks- und Statsprocesses betrachten und ihr, da auch die sittlichen und rechtbildenden Momente darin wir- ken, die Bedeutung eines weltgeschichtlichen Urtheila zuschreiben: ,.Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.4' Die nachfolgende Anerkennung des neuen Rechtszttstandes als eines notwendigen durch die Bevölkerung heilt die rechtlichen Mängel der anfänglichen Besitznahme.

Eine andere friedlichere Form solcher Landnahme ist die Ansiedlung vmi politischen Genossenschaften in einem un- bewohnten Land oder in einem wenig rultiviilen Lande in der Absicht, da einen neuen Stat zu gründen. Manche Colonien der Europäer in fremden Welttheilen haben diesen Charakter. Nur wenn die Colonisation ron dem Mutterstate geleitel wird, gehört sie zu den abgeleiteten Entstehungsformen (Cap. III. l.c wenn die bereits als Körperschaft geordneten Colonisten, wie jene Pilger nach Neu-England, aus eigener Kraft und mit eigener Gefahr neue Gemeinwesen auf Boden begründen, der bisher noch keinem State zugehört, so \>\ das wesentlich ur- sprüngliche Statenbildung, Bleiben die barbarischen Orbewohner auf dem Gebiete des neuen Colonistenstats zurück, - die Schwierigkeit, das Verhältnis! der beiderlei Bevölkerungen zu ordnen, fast ebenso gross, wie in dem eroberten Lande. Die Ueberlegenheit eines Cultunrblks über die Barbaren führt aber durchweg zur Serrschafl jener über diese.

IV. Die Verbündung mehrerer Staten n einem neuen Ganzen, Conföderation. Hier i>t es nichi etwa der Ver- trag der Individuen, sondern von Staten, welcher die Gründung eines neuen, des Gesammtstates einleitet. Dieser komm! aber erst durch die wirkliche Organisation der Gemein-

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 245

schaft zu Stande. Von der Art waren die griechischen Conföderationen der böo tischen Orte, der verunglückte Ver- such des Epaminondas, die Arkader zu einigen, die Sym- machie, über die Sparta Hegemonie übte, der ätolische und der achäisclie Bundesstat. Von der Art in Italien die Bünde der Samniter, im spätem Mittelalter die Bünde der deutschen Hansestädte, der schweizerischen Eid- genossen, der niederländischen Staten.

Diese Form erzeugt zunächst immer zusammengesetzte, nicht einfache Staten, indem sie die verbündeten Staten nicht aufhebt, sondern zu einer neuen Siatsgenosscnschaft vereinigt. Indem sie anfänglich auf Statsvertrag beruht, mehr als auf Statsgesetz, so öberlieferl sie auch den folgenden Geschlech- tern den Gegensatz mehrerer in wesentlichen Dingen selbstän- diger, in andern nichi minder wesentlichen aber iron der Ge- sammtheil abhängiger Staten, und mit diesem Gegensatze eine

Wechselwirkung, häufig auch einen Kampf des particulä- ren and des allgemeinen Statsgeistes als Erbtheil ihrer Weise.

Auf diesem Gegensatze beruhen die beiden Hauptformen der Btatlichen Verbündung: der Statenbund und der Bundes- stat. Beide sind zusammengesetzte Statskörper, und insofern von bloszen Allianzen, die keinen neuen Stat bilden, verschie- den. Nur die erste aber hält den Charakter der Conföde- ration fest, die letztere macht den Fortschritt zur Union.

1. Der Statenbund, indem er mehrere Staten zu einer St;iisgenossenschaft verbindet, die wenigstens nach auszen als Gesammtstat als eine völkerrechtliche Statsperson erscheint, organisirt sich doch nicht als einen von den Einzelstaten ver- schiedenen CentraJstat, sondern überläszt die Leitung des Ge- sammtstates entweder einem Einzelstate als Hegemon oder Vorort, oder der Versammlung von Gesandten und Stellvertretern aller verbundenen Einzelstaten.

Von jener Art waren die griechischen Statenbünde unter der Hegemonie von Sparta und Athen, von dieser die schwei-

246 Dnücs })uch. Von der Entstehung und d< m l

zerische Eidgenossenschaft bis l-iv und der deutsche Bund von 1815.

2. In dem Bu ndi nicht bloss vollständigoi- rn voraus einen selb- ständig organisirten k, Centralstai, Die Bundesgewalt ist nicht einem der Einz Ls . noch der VersammJ r Einzelstaten anheii 3 indem sie hat ihre eigenen i oder nationalen 0 hervorgebracht, w< u der Gesammi ren, Der achäische Bund mit \ Bammlnng als g endem Kör gen als dein Bundeshaupte, dem B dem Bundesgerichte war ein Bolcher Bnn l< Bstai Zuerst la eine moderne in den \ \ . aber erat in der DnionsverJ 1787 ausgebildet und dann ?on der Schweii in d »bildet worden. Beide \ mehr auf einem eigentiicl

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Beide Formen der Eusamn Bind

eher für Republiken als I archien . wovon man

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Die Verfassung des norddeutschen Bundes ?on L867 einigt /war ^tatsächlich and rechtlich die verschiedenen in

Deutschland wirk m Machte und Kräfte im na-

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und Btory'i Comm. ; EHnntiohli, Gesch. d. sei

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Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 247

tionalem Zusammenwirken, aber sie maclit der principiellen Betrachtung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen Theil seiner Puppe und selbst die liette seines frühem Raupen- zustands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits auf den freien Vertrag aller Einzelnstaten (Fürsten und Kam- mern) hin, die Verfassung ist aber ihrem Inhalte nach durch den leitenden Willen der preuszischen Regierung in Verbin- dung- mit den Arbeiten des einheitlichen Reichstags zu Stande gekommen. Wie hier Vertrag und Gesetz sich seltsam ver- binden, so erinnert die Vertretung der verbündeten Regierun- gen in dem Bundesrathe noch ganz an den früheren staten- bündlichen deul chen Bundestag und hai selbsl der Ausdruck des „Bundespräsidiums'4, welches der königlichen Krone Preuszen zustellt, noch dasselbe statenbundliche Gepräge. Aber wenn daneben die wirkliche Machtstellung dieses Bundesprä- sidiums und die verfassungsmäszigen B< d< sselben

insbesondere auch als Bundesfeldherrn erwogen werden, so tritt aus der Verhüllung d.is den (sc In- Reichsoberhaupt-— wenn auch noch nicht mit dem allein würdigen Kaisernamen in deutlichen umrissen hervor. Die Institution des Reiche- rt einheitlicher gedacht and durchgeführt als selbst der nordamerikanische i und die schweizerische Bundes-

sammlung. Die Verfassung führt offenbar aus dem frühem kenbund durch bundesstatliche Zwischenstufen in die Stats- form eines monarchischen Reiches hinüber, welches seinen Gliedern noch einige Selbständigkeit und Selbstverwaltung in inneren Dingen verstattet, aber die äuszere Politik einheitlich geleitet sehen will.

V. Verwandt mit der Verbündung ist die Einigung zweier oder mehrerer Staten unter Einem gemeinsamen Herrscher, oder zu einem einzigen neuen State, vor- zugsweise Union genannt. Auch hierlassen sich verschiedene Stufen und Arten der Einigung unterscheiden. In jeder Weise unvollkommen ist dieselbe:

248 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.

1. In Gestalt einer bloszen Personalunion. Diese kann sogar blosz vorübergehend eintreten, wenn die Thronfolge- ordnungen zweier verschiedener Staten zufällig dieselbe Person zu beiden Kronen berufen, somit wieder aufhören, wenn später die Succession wieder zwei verschiedene Personen trifft. Von der Art war die Verbindung des deutschen Eeiches und von Spanien unter Karl V., von Polen und Sachsen unter August, von England und Hannover unter dem Könige Georg IV., von Schleswig-Holstein und Dänemark nach dem Vertrage von 1620. Diese Form der Union, die loseste von allen, erzeugt auch nicht einen neuen Vereinsstat, sondern beschränkt sich darauf, zwei selbständige Staten in eine blosz äuszerliche Be- ziehung zu dem nämlichen Fürsten als Statsoberhaupt zu bringen.

Auszer ihr kommt aber auch eine dauernde Personal- union vor, indem die Kronen zweier Staten derselben Dynastie und nach dem nämlichen Successionsgesetze zugehören. Bei- spiele dieser Art sind die pragmatische Sanction von 1713 für die unter dem österreichischen Scepter vereinigten Staten, welcher 1722 auch der ungarische Keichstag für das König- reich Ungarn beitrat, die Erwerbung des Fürstenthums Neu- chatel von Seite der Krone Preuszens von 1707, die Verbin- dung von Norwegen und Schweden seit 1814, die Ueberein- kunft zwischen dem Königreich Ungarn und dem Kaiserlichen Oesterreich von 1867.

Eine solche dauerhafte Vereinigung kann zwar einen neuen Gesammtstat begründen; aber die Einheit ist doch eine sehr unvollständige und fast nur unter der Voraussetzung von ent- scheidender practischer Geltung, wenn eine absolute Macht in der Person des Herrschers wirklich concentrirt ist. Unter jeder anderen Voraussetzung wird der unversöhnte innere Widerspruch zweier verschiedener Staten mit abweichenden Interessen und Stimmungen und eines gemeinsamen Fürsten sich fühlbar machen und es kann in Folge desselben sogar die

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstehungsformen. 249

unsinnige Forderung an den Fürsten gerichtet werden, dasz er in seiner Eigenschaft als Oberhaupt eines States Feindschaft übe wider den andern Stat, an dessen Spitze er nicht minder steht. Mit der Kepräsentativverfassung ist daher diese Form der Personalunion nicht wohl zu vereinigen.

2. Eine höhere Einigung liegt in der sogenannten Real- union. In ihr ist nicht blosz die Person des Herrschers ge- einigt, sondern die oberste Statsleitung selbst in Ge- setzgebung und Eegierung. 8 Zwar verträgt sie sich mit einer relativen Selbständigkeit der unirten Staten, denen innerhalb gewisser Schranken eine particuläre Gesetzgebung und Regierung vergönnt werden mag, aber der Gesammtstat ist in ihr doch einheitlich organisirt, und die höchsten ge- meinsamen Statsinteressen sind in den einheitlichen Organen concentrirt. Die Vereinigung Norwegens mit dem Königreich Dänemark durch das Reichsgesetz von 1536, die Einigung von Castilien und Aragon, wenn auch nicht sofort von Anfang an, 1474, so doch unter den österreichischen Fürsten, ganz vor- züglich aber die österreichische Monarchie nach dem Grund- gesetze von 1849 und der Februarverfassung von 1861 sind Beispiele solcher Realunion.

3. Die volle Union endlich löst die Besonderheit der unirten Staten auf, und bildet nicht einen aus mehreren Staten zusammengesetzten, sondern einen einfachen Stat.

Die Vereinigung der beiden ursprünglich durch blosze Personalunion verbundenen Königreiche England und Schott- land zu dem Gesammtkönigreich Groszbritannien vom Jahr 1707, und die spätere Union zwischen Groszbritannien und Irland von 1800 haben diesen Charakter einer vollen Union,

8 Anders versteht Pözl den Unterschied der Personal- und der Realunion (Deutsches Statswörterbuch , Art. Union), jene ist ihm die zufällige, diese die grundgesetzliche Einigung der Statsgewalt über zwei oder mehrere Staten in Einer Person. Die Verbindung von Schweden und Norwegen erscheint ihm dann bereits als Realunion.

250 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

indem die particularen Parlamente aufgehoben und für das ganze Keich ein gemeinsames einheitliches Parlament angeord- net wurde. Die Einverleibung der Hohenzollerischen Filrsten- thümer in Preuszen im Jahr 1849, die Annexion der italieni- schen Herzogthümer und des Königreichs Neapel mit Piemont zu dem neuen Königreich Italien im Jahr 1800 und 1861 und vorzüglich die Umwandlung des Königreichs Hannover und der Fürstenthi'imer Kurhessen. Nassau, Schleswig und Holstein und der freien Stadt Frankfurt in preuszische Provinzen sind neuere Beispiele solcher vollen Union.

Das ältere Statsrecht war geneigt diese Verbindung und Wandlung ausschliesslich aus dem dynastischen Standpuncte und nicht anders zu beurtheilen, als ob es sich um die Zu- sammenlegung oder den Erwerb von mehreren Grundstücken durch dieselbe Privatperson handelte. Es wurden daher wie die privatrechtlichen Formen der Veräuszerung unter Leben- den. so auch von Todes at, Erbvertrag) aner- kannt; wie irenn Voll und Land eine Verlassenschaft wären, über die ein einzelner Mensch nach seinem Belieben zu ver- fügen hätte. Das neuere hl mus« diese dem modernen Statsbegriff widerstreitende Ansicht verwerfen, und daran fest hallen, dasz solche Veränderungen wesentlich die öffentliche Verfassung des Volts betreffen und daher nicht ohne Zu- stimmung der Volksvertretung geordnel werden dürfen.

VI. Den Ge;.' der Verbindung bilde! die Theilung

und Zertrennung eines grösseren States in zwei oder meh- rere neuere Staten.

Diese Erscheinung wird sich besonders da ergeben, wo verschiedene, zumal auch dem Gebiete nach getrennte Völker zu einem State verbunden waren, ohne innerlich eins zu wer- den. Wenn die Macht der Concentration , welch«' sie bisher zusammenhielt, nachläszt, so treiben die natürlichen Öegen- auseinander; und es geht der grosze Scheidungsprooesz vor sich, welcher das bisherige Ganze in eine Anzahl neuer

Zweites Capitel. Ursprüngliche Entstellungsformen. 251

selbständiger Staten auflöst. So ging die grosze durch Alexanders Genie einen Augenblick zusammengeschmiedete Weltmonarchie nach seinem Tode sofort auseinander. Ebenso wurde im IX. Jahrhundert die fränkische Monarchie nach den Nationalitäten, freilich nicht ohne wesentliche Mitwirkung der dynastischen Gegensätze gespalten. Auch der Zerfall des napoleonischen Kaiserreiches mit seinen Schöpfungen abhängiger Lehenskönig- reiche in diesem Jahrhundert läszt sich grosxcntheils so er- klären. Die Trennung von Belgien und Holland im Jahr 1830 hat diesen Charakter.

Während des Mittelalters gab es aber noch eine andere Theilung eines Statsganzen wie einer Erbschaft unter mehrere Erben, so unter mehrere Söhne des verstorbenen Staatsober- hauptes und es dauerte lauge, bis diese privatrechtliche mit dem Hecht eines zusammengehörigen Volkes und der Wohl- fahrt eines States durchaus unvereinbare Behandlung durch das politische Princip der Untheilbarkeit in Europa verdrängt wurde.

Vll. Eine ähnliche Form ist die Lossagung eines Theiles des States und Constituirung dieses Theiles zu einem selb- ständigen State.

In der Eegel ist der Theil als solcher nicht berechtigt, sich wider das Ganze zu empören und sich von demselben gewaltsam loszureiszen. Die Geschichte hat uns von .vielen ungerechtfertigten und unheilvollen Lostrennungsversuchen der Art warnende Berichte überliefert. Aber sie weisz auch von andern Lossagungen, welche volle Anerkennung errungen haben, und deren innere Berechtigung nicht zu bezweifeln ist. Er- innern wir uns an die Lossagung der niederländischen Gene- ralstaten von Spanien von 1579, an die Unabhängigkeits- erklärung der nordamerikanischen Freistaten von 1776, an die Befreiung Griechenlands von türkischer Herrschaft in unsern Tagen. Jene Eegel bedarf somit einer Beschränkung, die wohl so zu fassen ist: Zur Lossagung ist der Theil ausnahmsweise

252 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

berechtigt, wenn seine dauernden und wichtigen Interessen von dem Statsganzen, dem er angehört, nicht geschützt noch be- friedigt werden, und er zugleich befähigt ist, für sich selber zu sorgen und seine selbständige Stellung zu behaupten. Nur wirkliche Noth und ein unerträglich gewordenes LeMen gibt somit gegründete Veranlassung zu der Lossagung, und nur die moralische Kraft, welche sich in dem Kampfe um Selbstän- digkeit siegreich bewährt und alle Schwierigkeiten überwindet, gewährt einen Anspruch auf Anerkennung derselben. Unter diesen beiden Voraussetzungen wird dieselbe denn auch von dem groszen Gerichte ausgesprochen, welches durch die Welt- geschichte spricht.9

9 Die Unabhängigkeitserklärung von Amerika nimmt c.-> mit dem Princip etwas leichter und bekennt die naturrechtliche Lehre ihrer Zeit, indem sie folgende Sätze ausspricht: »"Wir halten folgende Wahrheiten für klar, dasz alle Menschen gleich geboren, dasz sie von dem Schöpfer mit gewissen unveräuszerlichen R< gabt Bind, und dasz zu diesem

Leben Freiheil nnd das Streben nach (Glückseligkeit gehöre, dasz, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingt sind, welche ihre gerechte Gewalt Ton der Zustimmung der Begierten ableiten, dasz wenn immer eine Statsform diesen Endzwecken verderb- lich wird, es ein Recht de< Volkes ist, dieselbe ZO ändern oder abzu- schaffen und eine neue Statsform einzurichten, indem e^ dieselbe auf solche Principien begründet, und deren Gewalten in Boloher Weise orga- nisirt, wie es ihm zu* seiner Sicherheit und zu Beinern Glücke am zweck- dienlichsten scheint. Die Klugheit gebietet allerdings, Beit langem be- stehende Verfassungen nicht am leichter und vorübergehender Orsaohen willen zu ändern, und demgemäß hat alle Erfahrung gezeigt, dasz die Menschen geneigter sind die Leiden zu ertragen, so lange sie erträglich Bind, als sich durch Vernichtung der Formen, an welche Bie Bioh einmal gewöhnt, selbst Recht zu verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Miszbräuchen und unrechtmässigen Kingriffen, welche unwandelbar das nämliche Ziel verfolgen, die Absicht beweist, das Volk dem abflO- lutcn Despotismus zu unterwerfen, so hat dieses das Recht und die Pflicht, eine solche Regierung auszustoßen und neue Garantien für seine künftige Sicherheit anzuordnen u

Drittes Capitel. Abgeleitete Entstehungsformell. 253

Drittes Capitel.

Abgeleitete Entstehungsformen.

T. Colonisation.

Die Colonisation, wie sie von den hellenischen Staten geübt wurde, und die Küsten des Mittelmeeres in Kleinasien, Italien, Sicilien, auf den Inseln des Archipels mit neuen Städten und Staten bevölkerte, war in der That bewuszte neue Statenbildung. Die Pflanzstadt ging aus der Mutterstadt hervor, wie der Sohn, der aus der Familie des Vaters aus- tritt, um ein eigenes Hauswesen zu gründen. Sie wurde sofort zum selbständigen neuen State, unabhängig von der Mutter- stadt, aber mit ihr durch ihre Abstammung, Sitten, Hecht, Keligion verbunden. Aus dem Prytaneum der Mutterstadt nahm die Tochterstadt das heilige Feuer mit, und die väter- lichen Götter zogen mit in den neuen Wohnsitz hinüber. ' Die Hellenen vermochten nicht ein groszes Keich zu gründen und zusammen zu halten, aber durch ihre zerstreute Städtecolonien hellenisirten sie den Orient. -

Anders die römischen Colon ien. Sie waren bestimmt, die römische Herrschaft in weiteren Kreisen zu sichern und zu befestigen, und blieben dalier in einem strengen Abhängig- keitsverhältnisz zu der Hauptstadt. Hier ist somit nicht von neuer Statenbildung, sondern nur von Ausdehnung des besteh- enden Einen States die Rede.

Wieder von anderer Art ist die moderne Colonisation. Sehen wir auf den Ursprung der modernen, besonders in Ame- rika von den europäischen Staten aus gestifteten Colonien, so handelte es sich dabei in der Kegel nicht um Gründung neuer

1 Vgl. Herrmann, griechische Statsalterthümer Cap. IV. Die altere phönicische Colonisation ist weniger von Anfang an neue Statsgrün- dung, ist aber gewöhnlich in kurzer Zeit zu dieser geworden.

2 Vgl. die Ausführung von Laurent II. S. 310.

254 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States

Staten, sondern mehr um Ausbreitung der Herrschaft und Cultur des europäischen Vaterlandes, oder um Erwerb einer neuen ökonomischen Existenz, zuweilen auch um Sicherung der Uebersiedler vor Verfolgung in ihrer Heimat. Im Süden war die Abhängigkeit der Colonien von den romanischen Staten Europas gröszer als im Norden, wo der germanische Corpora- tionstrieb und das germanische Freiheitsgefühl wenigstens einer relativen Selbständigkeit der Colonien günstig waren, diese theilweise sogar hervorgerufen hatten.

Sieht man aber auf die spätere Entwicklung und Ge- schichte dieser Colonien, so sind sie meistens zu einem selb- ständigen Dasein erwachsen, und haben sich dann als neue Staten losgemacht und abgesondert von jener europäischen Herrschaft. Diese Colonisation ist daher eher der Geburt eines Kindes zu vergleichen, welches die väterliche Familie als ein abhängiges Glied derselben erweitert, dann aber, nach- dem es zu körperlicher und geistiger Reife herangediehen, sich absondert und eine neue eigene Familie begründet.

II. Eine fernere abgeleitete Statenbildung kam in dem Mittelalter öfter vor in Gestalt der Verleihung von Ho- he itsr echten an einzelne Bestandtheile des States. Eine ganze Reihe besonders deutscher Gebiete, Fürstenthümer, Herr- schaften, Reichsstädte wurden zu selbständigen Staten, indem sie einzelne Hoheitsrechte von dem Könige erlangten, und diesen Erwerb zu vermehren wuszten, bis zuletzt dem Könige nur ein idealer Schein von Oberhoheit zunickblieb, alle reale Statsgewalt aber an sie entäuszert war. So strebten die früheren Theile eines Statsganzen im Laufe der Jahrhunderte zu selb- ständigen Staten auf. Die äuszere Form solcher Verleihung war häufig wieder die eines privatrechtlichen Erwerbes durch Kauf oder Verpfändung, und ist insofern ungeeignet für das moderne Statsleben. Das war aber selbst im Mittelalter nicht wesentlich, und es läszt sich auch in unserer Zeit -die prakti- sche Möglichkeit gar wohl denken, dasz ein Stat mit klarem

Viertes Capitel. Untergang der Staten. 255

Bewusztsein einen Tlieil seines Gebietes zur Selbständigkeit heranziehe und denselben mit statlichen Hoheitsrechten aus- statte. In dieser Weise verfährt England in unsrer Zeit gegen Canada nnd andere englische Nebenländer.

III. Endlich kommt vor die Institution eines neuen States durch einen fremden Herrscher, insbesondere durch einen Eroberer, dessen Machtsprüche alte Staten um ihr Leben bringen und neue Staten hervorrufen. Europa hat in den Jahren der napoleonischen Herrschaft gesehen, wie eine Keine von Staten ausgelöscht, und andere hinwieder nach dem Willen des französischen Kaisers neu errichtet wurden. Europa hat aber auch erlebt, dasz diese willkürlichen Schöpfungen momentaner Uebermacht zu keinem innerlich kräftigen Leben gelangten, und kaum ins Dasein gerufen wieder abstarben oder getödtet wurden. Es ist das ein beredter Beweis, dasz unter allen Formen der Statenbildung diese die unvollkommenste ist, und am wenigsten Gewähr darbietet für die Fortdauer solcher Staten.

Viertes Capitel.

Untergang der Staten.

Die Erde ist mit den Trümmern untergegangener Staten überdeckt; die Erfahrungen der bisherigen Weltgeschichte zeugen gegen die Unsterblichkeit der Staten. Die Veranlas- sungen und die Formen des Untergangs sind wohl unter sich verschieden, wie die Todesfälle der einzelnen Menschen. Aber daraus, dasz alle Staten untergehen, dürfen wir wohl auf eine gemeinsame Ursache ihrer Sterblichkeit schlieszen. Diese Ursache kann nicht in der Immoralität der Völker lie- gen, denn die Immoralität ist nicht nothwendig und nicht gleichmäszig vorhanden; und die Geschichte lehrt uns, dasz

256 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie un- moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen. Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon mehrere Generationen schlechter Regenten tiberdauert. Aber auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der Mischung und Entartung der Volksrassen ; manche Staten sind gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig ge- worden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen wesent- lich verändert worden; ich erinnere an Rom, an England, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem groszen Gesetz alles irdisch-organischen Lebens, dasz es durch die Geschichte entwickelt und aufgezehrt werde. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich, und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich fortschreiten- den Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten kann, überholt und zurückgelassen.

So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie- digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er- scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit selbst.

Die besonderen Formen des Statenuntergangs aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung, und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be- gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft die Geburt des andern sich unmittelbar an.

I. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet die Desorganisation oder Auflösung des Volkes. Eine eigentümliche Art der Desorganisation ist die Anarchie. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeitliche Gewalt

Viertes Capitel. Untergang der Staten. 257

anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten den losen Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze kümmert, noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der Stat selbst negirt, und das organisirte Volk ist in diesem Falle zur chao- tischen Masse herabgesunken. Die Anarchie hebt somit im Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige Statsform auf. Allein eine so entschiedene und so andauernde Anarchie, die dann freilich immer der Tod des States ist, findet sich doch in der Geschichte der Völker höchst selten. Weit häufiger sind die anarchischen Zustände blosz vorübergehend und momentane Fieberkrisen, welche zwar das Leben des States bedrohen, aber oft nur eine andere Gestaltung der Stats Verfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten heftiger Erschütterungen der Revolution offenbart sich die entschieden statliche Natur der arischen Völkerstämme in höchst merk- würdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo sie die stat- liche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unterwerfen sie sich doch den notwendigen Formen des statlichen Daseins : und während sie in der Verwirrung der Ideen für Anarchie schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wildesten und strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzng der entfessel- ten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die kalten, eher- nen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern der zerstörten Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk eine neue, wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung zurecht. Auch die Völker der groszen arischen Familie sind nicht un- sterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können sie der stat- lichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als der Fisch des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches Volk sich dauernd losgemacht hätte von dem State, oder dasz ein solches auch nur in den Zustand der Nomaden zurückgesunken wäre. Im sechzehnten Jahrhundert haben die Wiedertäufer die Idee des States vollständig verworfen, ähnlich wie in unsern Tagen die

B 1 u n t s c h 1 i , allgemeines Statsrecht. I. 17

258 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang de3 States.

Communisten. Aber als ihnen die Gelegenheit geboten ward, einen Versuch zur Einführung ihrer unstatlichen Gemeinschaft zu machen, haben sie doch wieder obwohl in karikirter Form einen Stat eingerichtet.

IL Die Auswanderung eines Volkes aus dem Lande seiner Väter, wie die Helvetier zu Cäsars Zeit sie unternommen, oder die Vertreibung eines Volkes aus seiner Heimath, wie sie während der groszen Völkerwanderungen in Europa oft erzwungen worden, zerstört den bisherigen Stat jedenfalls ; und es ist gewöhnlich unsicher, ob es dem weiterziehenden Volke gelinge, eine neue feste Herrschaft über ein anderes Land zu erwerben, und so einen neuen Stat zu gründen.

III. Die Eroberung eines Landes und die Unter- werfung eines bisher selbständigen Volkes durch eine fremde Macht ist öfter noch Zerstörung alter als Gründung neuer Staten, indem sie meistens eine blosze Erweiterung des sieg- reichen States zur Folge hat. In dieser Weise hat einst Rom eine Reihe von Staten verschlungen, und über deren Bevölke- rung und Gebiet seine Herrschaft ausgebreitet. Die Ergebung (deditio) des schwächern Volkes hat zwar den Schein der Freiwilligkeit, ist aber regelmäszig doch das Werk der Noth und äuszern Zwanges, und fällt dann mit der Unterwerfung zusammen.

IV. Die volle Union ferner zieht den Untergang der unirten Staten nach sich. Da in ihr aber zugleich der Anfang eines neuen gröszeren States liegt, dessen Volk aus den Völ- kern der aufgelösten Staten besteht, so ist hier eher eine freiwillige Entäuszerung der bisherigen «tätlichen Son- derexistenz denkbar.

V. Den Gegensatz zu dem Aufgehen der kleineren Staten in dem gröszeren Gesammtstat bildet die Th eilung eines Reiches in mehrere Staten oder die Vertheilung eines States unter mehrere fremde Staaten. Die erstere .kann ohne äuszern Zwang auf organische Weise vor sich gehen, indem

Fünftes Capitel. Speculative Theorien. I. Der sog. Nafurstand. 259

die verschiedenen Bestandteile eines States ihre Besonderheit schärfer ausprägen und sich dann ablösen, die letztere aber ist gewöhnlich das Werk fremder Uebermacht. Die beiden Thei- lungen Polens (1772 und 1793) sind entsetzliche Beispiele solcher widerrechtlichen Gewalt in einer Periode, die auf ihre Aufklärung und Humanität eitel war.

VI. Wie durch Verleihung von Hoheitsrechten an einzelne Gebietstheile neue Staten sich bilden, so können auch durch Entzug oder Abtretung von Hoheitsrechten bisher selb- ständige Staten allmählich ihre statliche Existenz einbüszen. Für jene Form der Statenbildung ist die Geschichte des deutschen Keiches, für diese Art des Statenuntergangs ist die Geschichte Frankreichs besonders lehrreich. Die Centralisation von Frankreich, vorzüglich seit Ludwig XL, bat so eine Masse von . Souveränen Seigneurien,u in welche das Land zerklüftet war, nach und nach beseitigt. Aber auch Deutschland hat durch die zahlreichen Mediatisir ungen seit der Revolution diese zweite Richtung der Auflösung klei- ner Staten eingeschlagen.

Fünftes Capitel

Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.

Die philosophische Speculation liebt es, einen Urzustand zu erdenken, in welchem die Menschen noch ohne Stat lebten, und von da aus den Weg zu suchen, welchen die Menschheit habe gehen müssen, um zu dem State zu gelangen. Die Phantasie des Volkes hat diesen Urzustand oft mit heitern Bildern von Unschuld und reichen Naturgenüssen geschmückt, und eine goldene Zeit des Paradieses erträumt, in welcher es noch kein Uebel und kein Unrecht gegeben, und alle in un- beschränkter Freiheit und Glückseligkeit sich des friedlichen

17*

260 Drittes Buch. Von der Entstellung und dem Untergang des States.

Daseins erfreut haben. In dieser Vorzeit gab es nach jenen Vorstellungen noch kein Eigenthum, da der üeberflusz der Natur jedem in Fülle darbot, wornach sein unverkünstelter und unverdorbener Sinn verlangen mochte; damals noch keine Unterschiede der Stände noch selbst der Berufsarten, jeder war dem andern gleich; damals auch weder Obrigkeit noch Unterthanen, keine Beamte, keine Kichter, keine Heere, keine Steuern. l

Einem solchen Ideale gegenüber muszte der spätere stat- liche Zustand der Menschen als Entartung und Verfall erschei- nen. Erst als vorher unbekannte Plagen die Menschen trafen, erst als die Leidenschaften in ihrer Brust erwachten und neue Gefahren hervorriefen, erst als die Schuld den Seelenfrieden störte, da bedurfte es einer Macht, welche die Bösen schreckte und strafte, und den vielfach verkümmerten Genusz aller sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht

1 Shakespeare schildert diesen Naturzustand mit glänzender Ironie

im Sturm: Gonzalo: „Hätt1 ich, mein Fürst, die Pflanzung dieser Insel, Ich wirkte im gemeinen Wesen Alles Durchs Gegentheil, denn keine Art von Handel Erlaubt' ich, keinen Namen eines Amts: Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtimm, Dienst, Armuth gäb's nicht; von Vertrag und Erbschaft, Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts; Auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Oel, Metall, Kein Handwerk, alle Männer müssig, alle; Die Weiber auch, doch völlig rein und schuldlos, Kein Regiment.

In der gemeinsamen Natur sollt' Alles

Frucht bringen, ohne Mühe und Schweisz; Verrath, Betrug, Schwert, Speer, Geschütz, Notwendigkeit der Waffen Gäb's nicht bei mir; es schaffte die Natur Von freien Stücken alle Hüll' und Fülle, Mein schuldlos Volk zu nähren.

Sebastian: Keine Heirathen zwischen seinen Unterthanen?

Antonio: Nichts dergleichen, Freund, alles los und Huren und Taugenichtse. u

Fünftes Capitel. Speculative Theorien. I. Der sog. Naturstand. 261

immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth- und Zwangs an stalt, um gröszern Uebeln zu entgehen.

Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen gries gräm- liche Philosophen den Zustand des ersten , noch unstatlichen, Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und Krieg aus aller gegen alle : und wenn auch ihnen der Stat als ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso- phische Gedanke fand in der theologischen Spekulation, welche den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der „ge- fallenen Menschheit" nannte, eine willkommene Bekräftigung.

Die beiderlei Vorstellungen übersehen die stat liehe Natur des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von der Wahrheit,2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz der Mensch ein „statliches Wesen" sei. Mag man sich immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un- möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen,3 und es war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, als der von Anfang an ihr eingepflanzte Keim zur Statenbildung sich entfaltete und zur Erscheinung kam.

2 Auch Rousseau (diso, sur l'inegalite des conditions parmi les hommes) meinte: „Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen (repugnait) gegen die Gesellschaft." Aber Mirabeau entgegnete ihm vortrefflich (essai sur le despotisme) mit den Worten: „Non seulement l'homme semble fait pour la societe, mais on peut dire qu'il n'est vrai- ment homme c'est ä dire un etre reflechissant et capable de vertu, que lorsqu'elle commence ä s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni du sacrifier en se reunissant en societe; ils ont voulu et du etendre leurs jouissances et Vusage de la Übet le par les secours et la garantie reeiproques. "

3 Auch Plato de Republ. IL 369 leitet die Entstehung des States davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern von Natur der Gemeinschaft bedürfe.

262 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.

Sechstes Capitel.

II. Der Stat als göttliche Institution.

In dem Altertlium sowohl als während des Mittelalters war der Glaube an die göttliche Institution des States viel verbreiteter und intensiver als in unserer Zeit, Auch damals aber war in ganz verschiedenem Sinne von einer göttlichen Begründung des States die Rede.

1. Nach der einen Vorstellung war der Stat das un- mittelbare Werk Gottes, die directe Offenbarung der göttlichen Herrschaft auf Erden.

Diese Vorstellung lag der jüdischen Theokratie zu Grunde, und die volle Consequenz derselben führt jederzeit zu der theokratischen Statsform, zu welcher sie allein paszt. Wenn Gott den Stat unmittelbar geschaffen hat, so ist es natürlich, dasz er denselben unmittelbar erhalte und regiere.

2. Nach der andern Vorstellung dagegen ist der Stat nur mittelbar von Gott gegründet, und wird auch nur mittel- bar von Gott geleitet. i

Diese Ansicht wurde auch von den Griechen und Römern getheilt, deren Statsformen keineswegs theokratisch waren, sondern durch und durch einen menschlichen Charakter hatten. Kein Statsgeschäft von irgend welcher Bedeutung wurde im Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher- gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er- forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim-

1 In diepem Sinne nun nennt Niebuhr (Gesch. d. Zeit der Revol. I. 214.) den Stat „eine von Gott geordnete Institution, die zum "Wesen des Menschen nothwendig gehört, wie die Ehe und das väterliche Ver- hältnisz. Diese Institution kann sich aber auf dieser Erde nicht voll- kommen darstellen. Was wir in der Wirklichkeit vom State sehen, ist nur ein Schatten der göttlichen Idee des States.'4

Sechstes Capitel. II. Der Stat als göttliche Institution. 263

mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens- gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von dem Willen und dem Walten der Gottheit.2 Hatten sie etwa hierin Unrecht?

Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den N Stat nicht au sz er halb der göttlichen Weltordnung und Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ- liche Auflassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten Römer richtete: ..Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott: wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." (Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befrem- den, wenn während des ganzen Mittelalters in allen christlichen Staten die obrigkeitliche Gewalt von Gott, die höchste des Kaisers ohne Vermittlung durch eine Zwischenperson von Gott abgeleitet3 wurde.

2 Plutarch sagt darüber in einer von Hai ler (Restaur. I. S.427) citirten Stelle sehr schön: „Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be- stehen ohne Glauben an Gott." Auch in neuerer Zeit hat "VVa shington, in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen Glauben bezeugt: „Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten offiziellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath- sehläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten. Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet, welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben."

3 Das ist auch der Sinn der Constitutio Ludovici Bavarici v. J. 1338: „üeclaramus quod imperialis dignitas et potestas est immediaU a

264 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.

Aber so würdig auch diese Ansicht die Entstehung und das Schicksal des States an die göttliche Weltherrschaft an- knüpft, und so hoch ihre sittliche Bedeutung immerhin anzu- schlagen ist, so darf doch nicht übersehen werden, dasz die- selbe ihrem Wesen nach religiös, nicht politisch ist, und dazs sie gerade darum, wenn sie zum politischen Stats- princip erhoben und als Kechtssatz gehandhabt wird, leicht Irrthümer und Miszbräuche veranlaszt und beschönigt. Heben wir einzelne hervor:

1. Gott hat zwar den Menschen als ein statliches Wesen erschauen, aber zugleich hat er ihm die Freiheit verliehen, die eingepflanzte Idee des States durch eigene Thätigkeit und zunächst nach seinem Urtheil und in den ihm geeignet schei- nenden Formen zu verwirklichen. Es ist schon ein grobes Miszverständnisz, wenn einzelne Statsformen, z. B. die repu- blikanische, deszhalb verworfen werden, weil Gott als Monarch die Welt regiere.

2. Die obrigkeitliche Gewalt ist zwar in ihrer Idee und Erscheinung von Gott abhängig, aber nicht in dem Sinne, dasz etwa Gott einzelne bevorzugte Menschen über die Beschränkt- heit der menschlichen Natur emporhöbe, sich selber näher setzte und gewissermaszen zu Halbgöttern für die Erde be- stellte, noch in dem Sinne, dasz Gott die menschlichen Re- genten zu seinen persönlichen und mit ihm, so weit ihre statliche Herrschaft reicht, identischen Stellvertretern ernennte und mit seiner Macht und seiner Autorität ausrüstete.4

solo Deo (d. h. nicht mediatc durch den Papst) statim ex sola electione (durch die Kurfürsten) est Rcx vorus et imperator Romanorum censendus.u Die Augsburgische Confession vom Jalir 1530 Art. 16 lehrt: „dasz alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze, gute Ordnung von Gott geschaffen und eingesetzt sind.a Sie leitet also die gesummte Rechtsordnung von dem Willen Gottes ab.

4 Vgl. Stahl, Statslehre II. §. 48. „Nach der theokr.itischen Auf- fassung des Mittelalters ist die Stellung der berufenen Häupter der Christenheit die Guttes selbst. Die Herrscher (Papst, Kaiser und Könige)

Sechstes Capitel. IL Der Stat als göttliche Institution. 265

Derlei theokratische Vorstellungen widerstreiten der mensch- lichen Natur derer, welchen die Regierung des States anver- traut ist. Die hochmüthige Rede Ludwigs XIV.: „Wir Fürsten sind die lebenden Bilder dessen, der allheilig und all- mächtig ist,"5 klingt im Verhältnisz zu Gott wie Blasphemie und ist im Verhältnisz zu seinen Unterthanen Menschen wie er ein unwürdiger Hohn.

3. Manche fassen die obrigkeitliche Gewalt selbst, unter- schieden von den Personen, welche dieselbe verwalten, als eine politisch - göttliche und „übermenschliche" auf. Stahl z. B. 6 sagt: „Die Gewalt des States ist von Gott nicht blosz in dem Sinne, wie alle Rechte von Gott sind, Eigen- thum, Ehe, väterliche Gewalt, sondern in dem ganz specifischen Sinne, dasz es das Werk Gottes ist, das er versieht. Er herrscht nicht blosz kraft Gottes Ermächtigung, wie auch der Vater über seine Kinder, sondern er herrscht nn Gottes Namen. Darum ist auch der Stat mit der Majestät umkleidet."

Das ist aber wieder eine objective Theokratie, welche practisch zu der auch von Stahl verworfenen persönlichen Stellvertretung Gottes führen, und allen mit dieser verbunde- nen Anmaszungen und Miszbräuchen von neuem freien Einzug gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort: „Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge- bührt", viel schärfer und entschiedener auf die menschliche Natur des States hingewiesen und jede Identificirung statlicher Gewalt mit specifisch-göttlicher Herr- ais die Repräsentanten Gottes haben in Person die Fülle alles Ansehens lediglich in sich."

5 Oeuvres de Louis XIV. II. S. 317, wo noch folgende erläuternde Stelle vorkommt: „Der, der den Menschen Könige gegeben, hat gewollt, dasz man sie ehre als seine Stellvertreter, indem er nur sich das Recht vorbehielt, ihr Thun und Lassen zu prüfen. Sein "Wille (?) ist, dasz wer als Unterthan geboren ist, ohne weiteres gehorche."

6 Statslehre II. §.43. Vgl. dagegen Macaulay in der unten B. IV. Cap. 22. I. mitgetheilten Stelle.

266 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

schaft verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu nehmen.

4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der besteh- enden Statsverfassungen und insbesondere auch die Unverän- derlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie mit dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt von Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der äuszern Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte, und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig bestehenden Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel- barkeit auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel- bar anerkannt. AVohl mochte im XVII. Jahrhundert jene Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be- denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyranni- schen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste Tory unbedenklich in diesem die „von Gott geordnete Obrig- keit" verehren.

5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant- wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott verantwortlich seien für das was sie thun oder unterlassen, das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant- wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die oberste obrigkeitliche Macht im State speeifisch göttlich, son-

Siebentes CapiteL III. Theorie der Gewalt. 267

dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwortlich^ keit vor mensclüiclien Kichtera in Anspruch genommen.

Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke, und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant- wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf- gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat.7

Siebentes CapiteL

III. Die Theorie der Gewalt.

„Der Stat ist das Werk gewaltsamer Unterwerfung. Er beruht auf dem Eechte des Stärkern." So versichern uns einzelne Philosophen, öfter aber noch einzelne gewaltsame Machthaber. *

Diese Lehre ist dem Despotismus günstig, denn sie recht- fertigt jede Gewaltthat, in zweiter Linie aber dient sie auch der Eevolution, sobald sich diese stark genug fühlt, offene Gewalt zu üben. Gewöhnlich wird sie eben da als Waffe her- beigeholt, wo die Schranken des wahren Kechtes überschritten werden und die rohe Uebermacht waltet. Sie ist ein Sophis- mus, nur für Mächtige verlockend, den Schwachen leichter

7 Lamartine, Revolut. de 1848. I. S. 47 spricht diesen Gedanken schön aus, indem er von sich berichtet: „II tentait Dieu et le peuple, Lamartine se reprocha depuis severement cette faute. C'est un tort grave de renvoyer ä Dieu ce que Dieu a laisse a l'homme d'Etat, la responsabilite; il y avait un defi ä la Providence."

1 Plutarch (Leben des Camillus. 17.) legt diese Theorie dem Gallier König Brennus in den Mund: „Das älteste aller Gesetze, welches von Gott an bis auf die Thiere hinabreicht, gibt dem Stärkern die Herrschaft über die Güter des Schwächern."

268 Drittes Buch. Yon der Entstehung und dem Untergang des States.

vernichtend als täuschend, eher zur Selbsttäuschung als zur Täuschung anderer geschickt.

Man hat gesagt, die Geschichte erweise die Wahrheit jenes Satzes, und allerdings zeigt in der Geschichte die Ge- walt sich öfter wirksam bei der Begründung von Staten als der Vertrag; aber nur äuszerst selten hat die rohe Gewalt für sich allein, nach eigener Willkür, Staten geschaffen, nie- mals dauernde und grosze Staten. In der Kegel, wenn auch gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider- stand, der den Abfiusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An- erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der Zerstörung und des Todes.

Diese Lehre ist im schneidensten Widerspruche mit dem Begriffe der organischen Freiheit. Sie kennt nur Herren und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig- sitt- lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy- sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will, Em- pörung wider das Recht.2

Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-

* Schmitthenner, Statswis£enschaft. I. S. 13, citirt eine schöne hieher gehörige Aeuszeruiig von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.): „Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup- ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht" (s'il ne transforme sa force en droit et l'obeissance en clevoir).

Achtes Capitel. IV. Die Vertragstlieorie. 269

entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat inso- fern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber, welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Machtverhält- nisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die Träume bloszer Speculation und die Wünsche abstracter Doctrinen da zu verwirklichen, wo die natürlichen Verhältnisse und Kräfte widerstreiten.

Ohne Macht kann weder ein Stat entstehen, noch sich behaupten. Der Stat bedarf der Macht nach innen sowohl als nach anszen; wo die Machtverhältnisse fest und dauernd ge- werden sind, da sucht und erlangt gewöhnlich auch die Macht die Verbindung mit dem Hecht, d. h. die Anerkennung, Rei- nigung und Heiligung durch das Recht. Denn ohne das Recht ist die Macht des Stärkern von thierischer Natur, sie ist der Wolf, der das Lamm zerreiszt. Mit dem Rechte vereinigt aber ist sie der sittlichen Natur des Menschen würdig ge- worden.

Achtes Capitel.

IY. Die Yertragstlieorie.

Vorzüglich seit Rousseau hat die Lehre, dasz „der Stat ein freies Werk des Vertrages, der Ueberejnkunft seiner Bürger" sei, eine grosze Verbreitung und Popularität genossen. Sie schmeichelte der Selbstgefälligkeit der Indivi- duen, von denen sich jeder Einzelne nach ihr als Statengründer denken konnte, und schien ihre Lüsternheit zu befriedigen, in- dem sie jeden beliebigen Inhalt aufzunehmen verhiesz. Diese Theorie hat vorzüglich in den Zeiten der französischen Revo-

270 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

lution eine furchtbare Autorität erlangt. Mit ihrer Hülfe vor- nehmlich wurde die alte Statsform niedergerissen und wurden mannichf altige aber verunglückte Versuche unternommen, über dem Schutthaufen ein neues allen zusagendes Statsgebäude aufzurichten. Aber wenn sie auch vorzugsweise als die Lieb- lingstheorie der Revolution Geltung gefunden hat, so hat sie doch öfter schon auch dazu dienen müssen, die Kechtmäszig- keit absoluter Herrschaft vertheidigen zu helfen. Es verhält sich mit ihr umgekehrt wie mit der Lehre von der Gewalt.

Wie diese vorzugsweise den Despotismus roher Ueber- macht begünstigt, ausnahmsweise aber auch die gewaltsamen Vorgänge der Empörung deckt, so ist die Vertragstheorie voraus der Anarchie günstig, schützt aber ausnahmsweise auch die Unterdrückung verhaszter Minderheiten durch willkürliche Mehrheiten oder die Tyrannei des Siegers über die Besiegten, welche sich ihm ergeben haben.

Diese Theorie erhebt den Anspruch auf allgemeine Gül- tigkeit. Nach derselben beruht die Entstellung aller Staten und in gewissem Betracht auch die Fortdauer aller Staten auf Vertrag. Die Geschichte aber, welche uns so reiche Auf- schlüsse über die Statenbüdung eröffnet, weisz auch nicht ein einziges Beispiel, in welchem wirklich durch Verabredung und Vertrag der Individuen ein Stat ,,contrahirta worden wäre. Wohl kennt sie einzelne Fälle von V e r t r ä g en z w e i e r oder mehrerer Staten, durch welche ein neuer Stat gegründet wurde, auch einige Fälle, in denen Fürsten und Häuptlinge sich mit einzelnen Classen oder Ständen des Volks vertrags- mäszig zu neuen Statsformen vereinbarten, aber sie kennt keinen Fall, in welchem ein Stat wie eine Handelsgesellschaft oder eine „Brandkasse" durch Beine „gleichen" Bürger errich- tet worden wäre. Eben so wTenig unterstützt die Geschichte die Meinung, dasz auch die Fortsetzung der Staten aus einer steten Vertragserneuerung der Individuen abzuleiten sei. Viel- mehr zeigt sie uns. dasz «las Individuum Schon als Glied des

Achtes Capitel. IV. Die Vertragstheorie. 271

States geboren und erzogen wird, und mit seiner Erzeugung, Geburt und Erziehung auch das bestimmte Gepräge des Volks und des Vaterlandes empfängt, dem es zugehört, bevor es im Stande ist, einen eigenen selbständigen Willen zu haben und zu äuszern.

Das Zeugnisz der Geschichte steht somit jener Theorie schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl- reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter „freie und gleiche Bürger" aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den Urversammlimgen „vertrugen" sich nicht mit den Mehrheiten, welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel- tenden durchsetzten. Die „constituirende" Versammlung wurde zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt- lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über- wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg über die vielheitliche des Vertrages. Man „fingirte" einen Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen, da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig unerträgliche reale Herrschaft ' übte.

Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte nachgewiesen wird, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver- nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen. Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den

1 Rousseau (C. 5.) schon fingirt eine ursprünglich e Ein- stimmigkeit, durch welche das Gesetz der spätem Mehrheit ange- ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht.

272 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur gleich, so könnte nie ein Stat entstehen,2 denn dieser setzt die (politische) Ungleichheit ohne welche es weder Eegierende noch Regierte geben kann als nothwendige Grundlage voraus.

Noch mehr. Der Grundirrthum jener Anschauung ist der, dasz sie sich die Individuen als Contrahenten vorstellt. Wenn die Individuen Verträge schlieszen, so entsteht Privat- recht, nie aber Statsrecht. Das was dem Individuum als solchem zugehört, ist sein individuelles Vermögen, sein Privat- gut. Darüber kann er verfügen, der eine wie der andere dar- über auch Verträge schlieszen. Einen politischen Inhalt aber können die Verträge nur haben , wenn schon eine Ge- meinschaft da ist, welche über den Individuen steht, denn dieser Inhalt ist nicht Privatgut der Individuen, sondern öffentliches Gut der Geineinschaft.

Durch Vertrag von Individuen kann somit weder ein Volk noch ein Stat entstehen. Wie viele Einzelwillen auch ange- häuft werden, es entstellt kein Gesammtwille daraus; wenn noch so viel Privatrecht abgetreten wird, es entsteht kein Statsrecht daraus.

Für die Politik ist übrigens jene Lehre im höchsten Grade gefährlich. Indem sie den Stat und dessen Rechts- ordnung zu dem Producte individueller Willkür stempelt, und je nach dem Willen der gerade lebenden Individuen für ver- änderlich erklärt, liebt sie den Begriff des Statsrechts auf, reizt die Bürger zu statswidriger Willkür , und gibt den Stat der äuszersten Unsicherheit und Verwirrung preis. Viel eher ist sie daher eine Theorie der Anarchie als eine Stats- lehre zu nennen.

2 Aristoteles, Polit. II. 1, 4: „ov yug yLvercu nofag o(wotW 'di€Qov yuQ av/ujuu/üc (Bundesgenossenschaft) x«i nöXig (Stat).u

Achtes Capitel. IY. Die Vertragstheorie. 273

Auch sie enthält indessen ein Stück Wahrheit verhüllt, wie denn überhaupt der Irrthum der täuschendste und gefähr- lichste ist, in welchem eine allgemein faszliche Wahrheit durch- schimmert. Im Gegensatze nämlich zu der Theorie, welche in dem State ein bloszes Naturproduct sieht, hebt sie die Wahrheit hervor, dasz der menschliche Wille auch be- stimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie vindicirt sie der menschlichen Freiheit und dem Be- wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Kecht.

Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit. I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin- reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen- hang mit dem State als solches keine Existenz hat.

2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün- den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr- thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil- lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um- zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die Existenz dej Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält- nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab- hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und erkannt, „geschöpft," nicht geschaffen; und mehr noch als das : „Wir wollen" der menschlichen Subjecte ist das: „Ihr sollt" von entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel, indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzel willefi," sondern aus dem „wahren," dem „an und für sich seienden" Willen hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen, obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.

3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und

Blunts ohli , allgemeines Statsrecht. I. 18

2 74 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll- ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der Statswissenschaft, die er „Restauration" nannte. Es geschieht ihm frei- lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr- schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis- mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der Lehrer der Revolution.

Haller gründet den Stat auf das „Naturgesetz, dasz der Mäch- tigere herrsche," und erkennt in der Ueberlegenheit des einen und in dem Bedürfnisz des andern den Grund aller Herrschaft und aller Abhängigkeit. Er nennt dasselbe eine ewige, unabänderliche Ord- nung Gottes. Schon diese Hinweisung zeigt, dasz ihm Macht nicht gleichbedeutend mit Gewalt ist, und er führt den Gegensatz näher aus. „Jene wird beschränkt durch die Pflicht. Durch das moralische Pflicht- gesetz, welches Gott in die Herzen der Menschen geschrieben, welches sich in dem Gewissen der Kinder schon kund gibt, und in allen Zeiten unter allen Völkern offenbar wurde: „Meide Böses und thue Gutes," und: „Beleidige niemand und lasz jedem das Seine;" durch das Gesetz der „Gerechtigkeit" und das Gesetz der „Liebe" wird dafür gesorgt, dasz die Macht (potentia) nicht in schädliche Gewalt (vis) ausarte. Diese beiden Gesetze sind von Gott dem Menschen eingepflanzt, sie sind diesem anerboren. Sie sind allgemein und nothwendig, ewig und unab- änderlich. Sie sind jedem verständlich, und die obersten und höchsten, denen alle andern menschlichen Gesetze sich unterordnen müssen, von denen niemand zu dispensiren befugt ist. Sie sind auch die mildesten und freundlichsten, ihr Joch ist sanft und ihre Last ist leicht. Nicht der allgemeine Volkswille, nicht das allgemeine "Wohl, auch nicht die Furcht vor menschlicher Gewalt, sondern einzig der göttliche Wille ist der Grund dieses Pflichtgesetzes. Es gilt dalier auch für die Mächtigen. Jede Uebertretung derselben ist ein unerlaubter Miszbrauch der Gewalt von dem gemeinsten Hausvater bis zu dem gröszten Potentaten hinauf, eine Ungerechtigkeit oder eine Lieblosigkeit. Die Gerechtigkeit darf man fordern von dem Starken wie von dem Schwachen, sobald man sie selbst beobachtet, Liebe und "Wohlwollen von dem bessern Theil des menschlichen Herzens erwarten. Gegen den möglichen Miszbrauch der höchsten Gewalt gibt es keine Hülfe durch menschliche Einrichtungen. Es gibt über die höchste Gewalt keinen menschlichen Richter. „Es gibt nirgends Hülfe als bei Gott." „Der Glaube an Gott," wie Plutarch sagt, „ist das Band und der Kitt aller menschlichen Gesellschaft und die Stütze der Gerechtigkeit." Die Religion allein vermag die Macht in ihren Schranken zu halten und die Schwachen zu stärken."

Wir haben die Grundzüge der Haller'schen Doctrin mit ihren eige- nen Worten wiedergegeben. Dabei fällt es freilich auf, dasz er das Recht und den Stat nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der

Neuntes Capitel. V. Der organische Statstrieb. 275

Macht ableitet, und jene nur als die Schranke dieser erfaszt. Die Macht gibt nach ihm Recht und nur die Macht gibt Recht; je gröszer die Macht, desto höher das Recht, während in Wahrheit die Macht für sich allein nur ein thatsächliches , nicht ein Rechtsverhältnisz bildet. Dieser Zug geht aber durch das ganze System durch. Die Ehrfurcht vor der realen Macht, wie sie sich in den natürlichen Verhältnissen äuszerlich sichtbar darstellt, wie sie historisch geworden ist, verschlieszt ihm öfter die Einsicht in den ideal-sittlichen Charakter des Recht3 und in das Werden desselben; die Neigung, die höchste Macht und das höchste Recht der Obrigkeit vor jeder Beeinträchtigung zu sichern, wird in ihm zuweilen bis zum Hohn und Hasz gegen jeden Versuch gestei- gert, die Rechte der Unterthanen vor Miszbrauch der obrigkeitlichen Gewalt zu sichern und die Ausübung dieser zu beschränken, als ob es ein Frevel wäre, das göttliche Pflichtgesetz auch durch menschliche Ein- richtungen vor menschlichen Verletzungen zu bewahren. Er ist daher auch ein erklärter Gegner des ganzen constitutionellcn Systems und bildet die mittelalterliche Vorstellung, dasz die statliche Herrschaft dem Eigenthum gleich sei, in schroffer Weise aus.

Neuntes Capitel.

V. Der organische Statstrieb.

Es genügt nicht, die gewöhnlichen speculativen Theorien zu verwerfen. Das Bedürfnisz, die Eine Ursache der Staten- bildung im Gegensatz zu den mannichfaltigen Formen der Erscheinung zu erkennen, bleibt unbefriedigt.

Indem wir auf die menschliche Natur zurückgehen, finden wir in ihr die gemeinsame Ursache aller Statenbildung. Die Menschennatur hat neben der individuellen Mannigfaltig- keit auch die Gemeinschaft und Einheit als Anlage in sich: und indem diese Anlage entwickelt wird und zunächst die Nationen als Völker sich in ihrer innern Gemeinschaft und Einheit erfahren und demgemäsz äuszerlich gestalten, bringt der innere Statstrieb die äuszere Organisation des Gesammtdaseins in Form männlicher Selbstbeherrschung, d. h. in Form des States hervor.

18*

276 Drittes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.

Alle die historischen Formen der Entstehung von Staten, welche die Geschichte zeigt, erklären sich aus dem Einen Statstrieb. In den Mächtigen steigert er sich leidenschaftlich bis zur Herrschsucht, in den Schwachen bis zur knechtischen Unterwürfigkeit. In den Freien aber ist er durch den Ver- stand erleuchtet und durch das sittliche Selbstgefühl, welches mit dem ebenfalls sittlichen Gesammtgefühl in Harmonie ist, würdig erfüllt. Xur der freie Stat ist wahrer Stat, weil nur in ihm der Statstrieb allgemein und weil er überall gesund und kräftig ist.

Was Wahres in den falschen speculativen Theorie! ent- halten war, finden wir in dieser Auffassung, welche die Alten schon ausgesprochen hatten,1 wieder, ohne die entstellenden Irrthümer jener Theorien. Mittelbar erscheint dann der Stat auch als etwas Göttliches, indem Gott den Statstrieb in die menschliche Natur gelegt und insofern die Verwirk- lichung des Stats gewollt hat. Das gesunde religiöse Gefühl wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird. Auch was von realer Mach t fülle zur Statenbildung unent- behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten- bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End- lich wird auch dem geistig- sittlichen Momente des Willens sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte und zerfahrene Einzelwillen, sondern den 70n Natur gemein- samen und einheitlichen Volks- oder Stats willen.

Der Anlage nach ist der Gesainmfwille in den Nationen ebenso rassemäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs- und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heisren. Dieser Gesammtwille in der Oifenbarung wird zum Statswillen, wah- rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,

1 Siehe oben S. 273. Vgl. auch Cicero de Republ. I. 25. „Ejus (populi) prima causa co<"undi est non tarn imbccillitu«, quam naturalis qunedam liominum quasi congregatio."

Neuntes Capitel. V. Der organische Statstrieb. 277

wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen. Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver- trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt, das Einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um po- lizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Verwal- tung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln, seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.

Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung der schlechten Leidenschaften, nicht ein notwendiges Uebel, sondern ein noth wendiges Gut. Die Völker als Gesammt- wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht anders zur Darstellung ihrer innem Gemeinschaft und Einheit, nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge- langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirkli- chen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in allen öffentlichen Dingen.

So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine ir- disch-menschliche Gestaltung. Aber nichts hindert uns, dem religiösen Ideal einer unsichtbaren Kirche, welche die Gemeinschaft der religiös verbundenen Geister bedeutet, auch das politische Ideal eines unsichtbaren States, welcher die Gemeinschaft der politisch geeinigten Geisterwelt bedeutet, an die Seite zu stellen. Wie die Theologen von einer voll- kommneren Kirche im Himmel sprechen, so können auch die Männer des States den irdischen Stat nur als eine Vorstufe des himmlischen States betrachten.

Der wirkliche Stat aber ist wie die wirkliche Kirche nur die wir hier erkennen, in denen wir leben und arbeiten. Nur mit diesem wirklichen State hat es die Wissenschaft des Stats- rechts zu thun, und dieser Stat wird vollständig aus der menschlichen Natur erklärt und begriffen.

Die Statsformen.

Erstes Capitel.

Die Eintheilung des Aristoteles.

Vor mehr als zweitausend Jahren hat Aristoteles eine Eintheilung der Statsformen begründet, welche noch gegen- wärtig als die herrschende Ansieht zu betrachten ist. Bei dieser Eintheilung ist Aristoteles von der obrigkeitlichen Ge- walt, oder genauer von der obersten Regierungsgewalt im State ausgegangen. In jedem State gibt es ein höchstes, in gewissem Sinne ein herrschendes Organ,1 in welchem die oberste obrigkeitliche Macht concentrirt erscheint, welchem gegenüber alle andern einzelnen Organe eine untergeordnete Stellung und Bedeutung haben. Die Art, wie dieses herr- schende Organ in einem State bestellt wird, prägt demselben daher auch einen eigentümlichen Stempel auf, und es ist ganz natürlich und schicklich, nach ihr die verschiedenen Ar- ten der Statsformen zu bestimmen.

Als recht m äs z ige Statsformen bezeichnet er alle die, welche die Wohlfahrt der Gemeinschaft bezwecken,, als Aus-

1 Aristot., Pol. in. 4, 1.

Erstes Capitel. Die Eintheilung des Aristoteles. 279

artungen (naQHxßdaetg) dagegen die, welche nur das Wohl der Kegierenden bezwecken.2

Von diesen Gedanken aus findet er nun drei richtige Grundformen des States, denen hinwieder drei Abarten zur Seite stehen. „Die oberste Kegierungsgewalt," sagt er, ,, steht nothwendig entweder Einem, oder Wenigen (einer Minderheit), oder der Mehrheit zu." Daraus ergeben sich folgende rich- tige Arten:

1. Das Königthum (ßamZeia), wie Aristoteles sie nannte, oder die Monarchie, wie wir sie zu nennen pflegen, als die Herrschaft des Einen.

2. Die Aristokratie, als die Herrschaft der ausge- zeichneten Minderheit.

3. Die Herrschaft der Mehrheit, der Menge hiesz er Politie. 3 Weil zu seiner Zeit die Demokratie der griechischen Städte, Athens voraus, entartet war, so vermied er es, den Namen Demokratie für die gute Art der Mehrheitsherrschaft zu gebrauchen, und zog es vor, die Abart derselben so zu be- zeichnen. Später ist aber der Name Demokratie wieder der gewöhnliche für diese dritte Statsform geworden, und da- her wollen auch wir diesen Sprachgebrauch beibehalten.

Die drei Abarten sind nach Aristoteles:

1. Die Tyrannis oder Despotie als die Alleinherr- schaft, welche vornehmlich den Vortheil des Alleinherrschers bezweckt.

2. Die Oligarchie, als die Herrschaft der Keichen, zu ihrem Vortheil.

3. Die Demokratie,4 wie sie Aristoteles, die Ochlo-

3 Ebend. III. 5, 1. 2.

4 Ebend. I. 5, 4. 5. Cicero de Republ. I. 2G. drückt den Aristo- telischen Gedanken so aus: „Quum penes unum est oraniura summa rerum, regem illum unum vocamus, et regnum ejus reipublicae statum. Quum autem est penes delectos, tum illa civitas optimatium arbitrio regi dicitur. Illa autem est civitas populär is, in qua in populo sunt omnia;

280 Viertes Buch. Die Statsformeu.

kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.

Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach dem Linne'sehen Systeme die Zahl der Staubfaden die Arten der Pflanzen bestimmt. In dir That, das wäre ein AYider- spruch gegen sein eigenes Grundprincip ; denn dieses ist die Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs. Aristoteles hat aber selbst Bchon* die Gefahr solchen Inrthnms erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver- schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak- ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als auf jenen zu sehen sei. Aber er hal die Principien der Qua- lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.

In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich un voll- ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschieht« geben hat, welche sich unter kein«' jener drei Grundformen einreihen lassen. Nadi allm dreien gehört die oberste Ifaohl im Staic Menschen in, sei es einem Individuum, oder den Ausgezeichneten, oder dem Volke, Nun aber haben wir Staten gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeil anerkannt, s«>n- dern Bei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer aber* menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und eigentliche Herrscher verehr! wurde. Die Menschen, welche die Herrschaft verwalteten, -allm dann nicht alfi Inhaber der-

and lü-zt die drei Ausartungen F. i."> entstehen, «renn „<'\ rege dominus, ex optimatibus /'actio, ex populo turha ei COnfustO* werde.

5 Aristot., Polit. I. 5, 7. Ich hatte dafl früher, durch die Dar- stellungen manober Neuem rerleitet, in meinen „Studien" übersehen und dalier dem groszen Statslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht, Sparta war MonarelnC , obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.

Zweites Capitel. Der sogenannte gemiscLte Stat. 281

selben, sondern nur als Diener und Verwalter eines Herrschers, welcher unsichtbar über den Kegierten throne, frei von den Schwächen ihrer menschlichen Natur.

Wir können diese vierte Gattung von Statsformen, wenn sie zur Wohlfahrt der Kegierten dienen, unter dem gemein- samen Namen der Ideokratie (Theokratie) zusammen- fassen, und die Abart derselben Idolokratie nennen.

Anmerkung. Schleiermacher hat ausgeführt,6 dasz die antiken Formen der Monarchie, Aristokratie, Demokratie „durchgängig in ein- ander übergehen," so dasz auch in der Demokratie die Volksleiter als eine Aristokratie und zuweilen einzelne wie z.B. Perikles wie Monarchen erscheinen. Dasselbe läszt sich in umgekehrter Richtung von der Mon- archie behaupten, und auch Mirabeau7 hat Recht, wenn er sagt: „In gewissem Sinne Bind die Republiken monarchisch, und in gewissem Sinn die Monarchien hinwieder Republiken. a Dessen ungeachtet i.*t jene Unter- scheidung der Statsformen keineswegs müszig, und bleibt es wahr, dasz die Art des Btatsoberhauptes der ganzen Statsverfassung ein specifisches Geprftge verleiht, und dasz mit ihr die wichtigsten politischen Principien in engster Beziehung stehen.

Zweites Capitel.

Der sogenannte gemischte Stat.

Schon im Alterthum hat man den Versuch gemacht, den drei Aristotelischen Arten des Stats eine vierte beizuordnen, welche man die gemischte genannt hat. Cicero insbeson- dere glaubt in dem römischen State das Vorbild für diese vierte, aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie gemischte Statsform gefunden zu haben, und erklärt diese für die beste unter den vieren.1

6 Abhandlungen der Berl. Akademie der Wissensch. 1814. Ueber die Begriffe der verschiedenen Statsformen.

7 Rede von 1790 in seinen Oeuvres VIII. 139.

1 Cicero de Republ. I. 29: „Quartuni quoddam genus reipublicae

282 Viertes Buch. Die Statsformen.

Versteht man unter dem gemischten State nur eine Er- mäszigurjg oder Beschränkung der Monarchie, oder Aristokratie, oder Demokratie durch andere statliche Fotenzen, z. B. die Beschränkung der Monarchie durch Beiordnung eines aristokra- tischen Senates oder Oberhauses und einer demokratischen Volksversammlung oder Volksvertretung, so ist es wahr, dasz so mannichfaltig gegliederte Statsverfassungen besser sind als solche, in welchen die Herrschaft eines oder einiger oder der Menge einseitig und schrankenlos waltet. Aber dann ist durch solche Mischung keine neue Gattung von Staten entstanden ; denn immerhin ist die oberste Regierungsmacht in der Hand des Monarchen oder der Aristokratie oder des Volkes concentrirt.

Versteht man dagegen die Mischung so, dasz die oberste Regierungsgewalt selbst get heilt sei zwischen dem Monar- chen, der Aristokratie und dem Volk, so dasz zwei oder meh- rere oberste Gewalten neben einander bestehen, jede von der andern unabhängig, jede in einem gewissen Kreise als die oberste anerkannt, dann hat Tacitus Recht, welcher den Ge- danken des gemischten States verwirft, und behauptet, ein so gemischter Stat komme in Wirklichkeit nicht vor oder sei mindestens nicht von Dauer.

Neuere haben zwar gemeint, England sei ein solcher Stat, in welchem die Herrschaft unter drei oberste Mächte getheilt sei, den König, das Oberhaus und das Unterhaus, und eben darauf beruhe die Vollkommenheit der englischen Verfassung, dasz sie das Ideal dieser vierten gemischten Statsform rer-

maxime probandum esse censeo, quod B54 i-x hil, quie prima dixi, mo- deratum et permixtum tribus," und I. 45: „IMaeet enim, esse quiddam in republica praestans et regale , esse aliud auetoritati prinoipum parti- tum ac tributum, esse quasdam res servatas judicio volimtatiqtie multi- tudinis."

2 Tacitus Annal. IV. 33: „Cunctas nationes et urbes populus aut ]>rii>tores aut singuli regunt: delecta ex hil et consociata reipublicae forma laudari facilius quam evenirc; vel si evenit, haud diutuma csso potest.44

Zweites Capitel. Der sogenannte gemischte Stat. 283

wirklicht habe. Allein die englische Verfassung ist nicht aus einer Theilung der obersten Regierungsgewalt entstanden. Vielmehr ist die Monarchie, welche dem State in alter Zeit seine specifische Form gegeben, nur nach und nach durch eine mächtige Aristokratie, und später durch den Hinzutritt demo- kratischer Elemente vielfach beschränkt und ermäszigt worden. Die äuszere Form des States ist fortwährend monarchisch ge- blieben, und es wird die ganze oberste Kegierungsmacht (die Kegierungsgewalt) nicht nur, sondern auch die oberste Stelle in dem zusammengesetzten Körper des gesetzgebenden Parla- ments von dem englischen Statsrecht dem Könige allein zu- getheilt. 3

Uebrigens wird gewöhnlich übersehen, dasz das Princip der Aristotelischen Eintheilnng nicht auf der Art und Zu- sammensetzung der gesetzgebenden Gewalt beruht; denn in dieser, wo sie ausgebildet ist, stellt sich regelmäszig der ganze Stat mit all' seinen Hauptbestandteilen dar. Sondern sie beruht auf dem Gegensatze der Regierung und der Re- gierten, und der Frage, wem die oberste Kegierungsgewalt zustehe? Diese aber läszt sich nicht theilen etwa zwischen dem König und den Ministern. Eine solche Dyarchie oder Triarchie widerspricht dem Wesen des States, welcher als ein lebendiger Organismus der Einheit bedarf. In allen lebendigen Wesen finden wir zwar eine Mannichfaltigkeit der Kräfte und Organe, aber zugleich eine Einheit in dieser Mannichfaltigkeit, eine Ueber- und Unterordnung der Organe, ein oberstes Organ, in welchem die einheitliche Leitung con- centrirt ist. Kopf und Leib haben kein getrenntes Leben, jeder für sich, und sind sich auch nicht gleichgestellt. So ist auch im State ein oberstes Organ die nothwendige Bedin-

3 Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht der politische Geist in der englischen Verfassung eher ein aristokratischer als ein monarchischer geworden sei. Vgl. Blackstone I. 2.

284 Vierleb Buch. Die Statsformen.

gung seines Lebens, und dieses kann nicht gespalten sein, wenn der Stat selbst beisammen bleiben soll.

Es gibt somit keine neue Gestaltung von Staten, welche wir als die gemischten bezeichnen könnten: vielmehr Boweit

die Mischung möglich ist, findet sie hinreichende Berücksich- tigung bei Behandlung der früher genannten reinen Statsformen.

Anmerkung. In unsern Tagen ist viel von „demokratischer Monarchie" die Rede gewesen und diese als die Aufgabe der Zeit be- zeichnet worden. Soll damit der Gedanke ausgedrückt werden, da-/ die heutige Monarchie sich vorzugsweise auf die groszen Volksmassen (den Demos) stützen und mit diesen in nahem Rapport bleiben müsse, so ist das wahr, aber es wird damit nicht eine gemischte, sondern eine reine Monarchie bezeichnet. Versteht man aber darunter eine Monarchie, durch demokratische Institutionen beschränkt and srmäMrigt, oder etwa wie im Jahr 1830 die Juliverfassung Frankreichs eine Monarchie „von republikanischen Institutionen umgeben, * so bat der Ausdruck noch einen Sinn, obwohl such in diesem Falle wie die Geschichte lehrt die Gefahr nahe genug liegt, dual die Prinorpien der beiderlei Institutionen

in Kampf gerathen und die Monarchie durch die aufstrebende Demokratie

oder Republik gestürzt werde. Versteht man endlich unter jenem Aus- druck eine Mischung oder Theilung der obersten Regierungsgeiralt selbst, die zur Hallte monarchisch 1 rar Hälfte demokratisch sein müsse, so hat der Ausdruck keinen vernünftigen sinn und könnte ein bo eingerichteter Stat unmöglich bestehen. Die französische Constituante von 1789 hatte mitBousseau an eine derartige Theilung der obersten Statsmaeht In zwei gleiche Gewalten geglaubt, deren eine dem Volke, die andere dato Kö- nige zukomme. Aber der innert» Widerspruch und die rnhaltbarkeit der Verfassung offenbarte sich, sobald Bie in die Wirklichkeit übertreten wollte. Pinheiro-Ferreira (Prinoipea du droit public, §.475) erklärt die demokratische Monarchie als diejenige, in welcher ea keine Privilegien gebe, dehnt aber den Begriff der Pririlegien auf jede Anerkennung etaei Aristokratie aus, versteht somit unter jener eine Monarchie, in «reicher es nur demokratische, keine aristokratischen Organismen gibt, ahn in gewissem Sinne einen unvollständigen Stat, in welchem die aristokrati- schen Elemente nicht berücksichtigt oder unterdrückt -ind. Vgl. unten Buch V. Cap.20.

Drittes Capitel. Neuere Fortbildung der Theorie. 285

Drittes Capitel.

Neuere Fortbildung der Theorie.

1. Montesquieu hat sich im Wesentlichen an die Ein- teilung des Aristoteles gehalten, aber insofern einen wissen- schaftlichen Fortschritt gemacht, als er für die drei Formen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie abgesehen von der Zahl der Regierenden drei geistige oder moralische Lebensprincipien aufsuchte. Ob er sie gefunden die Tu- gend erhob er zum Princip der Demokratie, die Mäszigung zu dem der Aristokratie, die Ehre zu dem der Monarchie, und die Furcht zu dem der Despotie ist freilich eine an- dere Frage. Auszerdem aber fügte er den drei Arten als vierte die Despotie hinzu, die Aristoteles besser als Ausartung bezeichnet und den richtigen Statsforinen entgegengesetzt hatte.

2. Sehr beachtenswert!] ist der Versuch Schleierma- chers,1 die mancherlei Staten zu ordnen, indem er verschie- dene Entwicklungsstufen des statlichen Bewusztseins unter- schied. Der Stat entsteht, wenn in der Völkerschaft das Bewusztsein erwacht des nothwendigen „Gegensatzes von Re- gierung und Unterthan." Die erste Stufe ist die, wo dieses Bewusztsein in einer kleinen Völkerschaft hervortritt, gewöhn- lich so, dasz ,,die ganze zum Statswcsen reife Masse gleich- förmig" ergriffen wird. Dann wird jener Gegensatz in Allen sich entwickeln. Sie werden sich vereinigen, um die Obrig- keit darzustellen und sich wieder trennen, um sich als Unter- thanen zu zeigen. Das ist die Demokratie, in welcher der Gegensatz zwischen Gemeingeist und Privatinteresse nur schwach auseinander tritt. Oder es kann die zum Statwerden reife Masse von dem statbildenden Anstosz ungleichförmig berührt werden, das politische Bewusztsein kann sich zuerst in einem

1 Schleier mach er: TJeber die Begriffe der verschiedenen Stats- formen, in den Abhandlungen der Berliner Akademie y. 1814.

286 Viertes Buch. Die Statsformen.

oder in mehrern entwickeln, und so eine Ungleichheit ent- stehen, welche zur Monarchie oder Aristokratie führt. Die drei Formen wechseln leicht auf dieser Entwicklungsstufe des noch kleinen States und sind auch unter sich noch ähn- lich. Die natürliche Hinneigung auf dieser Stufe ist aber immer zur Demokratie, indem auch in jenen Fällen einer oder mehrere der Masse nur vorausgeeilt sind in dem politi- schen Bewusztsein.

Die zweite Stufe umfaszt mehrere Völkerschaften. Sie ist eine Mittelstufe zu der höhern dritten, in welcher das Bewusztsein der Einheit der Nation seinen vollen Ausdruck findet. Auf ihr übt eine höhere Völkerschaft die Herrschaft aus über die übrigen regierten Stämme. Diese Mittelform des States wird daher wesentlich aristokratisch sein, wie die Form der niederen Ordnung wesentlich demokratisch. Demo- kratisch kann derselbe nicht sein, weil die Mehrheit der Stämme dem herrschenden unterworfen, somit nicht gleich ist, Die äuszere Form der Monarchie kann er wohl annehmen, aber der König wird dann zu dem herrschenden Stamme gehören, und insofern nur ein aristokratischer König sein.

Erst auf der obersten Stufe spricht sich die Einheit eines ganzen groszen Volkes in den Formen des States rein und klar aus. Die demokratische Natur der ersten Stufe konnte weder den statliehen Gegensatz zu voller Entfaltung bringen, noch den Umfang eines groszen Volkes erreichen. In der Aristokratie der zweiten Stufe hatte der herrsehende Stamm noch immer sein Privatinteresse: and die Einheit des Volkes war nicht das Lebensprincip des State. Auf dieser dritten Stufe erst kommt die echte .Monarchie zur Vollendung, in welcher der Monarch ohne alle Vermischung mit Privatinter- essen die Einheit des States und der Regierung in voller Kraft und Macht darstellt.

Die drei bekannten Formen des States erhalten somit durch Schleiermachers Darstellung eine geistige Begründung

Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen. 287

und eine Beziehung auf die Entwicklungsstufen der politischen Idee, und werden so geordnet, dasz die Demokratie als die niedrigste Stufe, die Monarchie als die höchste erscheint. Immerhin ist durch diese Erörterung, wenn auch nicht ein neues Princip der Eintheilung eingeführt, so doch eine höhere Einsicht in den Geist der verschiedenen Statenbildungen ge- wonnen worden.

Die Entwicklungsstufen der Geschichte aber entsprechen der logischen Entwicklungsstufe, wie sie Schleiermacher auf- faszt keineswegs.

Viertes Capitel.

Das Princip der vier Grundformen.

Der specifische Unterschied der verschiedenen Statsformen ist, wie Aristoteles erkannt hat, in der verschiedenen Art zu finden, wie der Gegensatz der Regierung und der Regierten aufgefaszt wird, insbesondere in der Qualität (nicht Quantität) des Herrschers.

I. Die erste Form war die der Ideokratie, deren höch- ster Typus die Theokratie ist. Das Volk dachte sich den Herrscher als ein ihm in jeder Weise, schon von Natur über- geordnetes, als ein übermenschliches Wesen, Gott selbst wurde als der wahre Regent des States verehrt.

II. Den schroffsten Gegensatz zu der Ideokratie, in wel- cher das Volk einer fremden, auszer ihm und über ihm stehenden Macht unterworfen ist, bildet die Statsform, in der das Volk sich selbst beherrscht, d. h. in seiner Gesammt- heit als Regierung, in seiner Auflösung in einzelne Bürger als Regierte erscheint: die Demokratie, Volksherrschaft.

III. Die statliche Unterscheidung zwischen Regierung und Regierten hält sich zwar innerhalb des Volkes, und ist mensch-

288 Viertes Buch. Die Statsformen.

lieh, aber so geordnet, dasz eine höhere Classe oder ein höherer Stamm des Volkes als Eegierung, die übrigen Classen und Stämme dagegen als Regierte sich darstellen. Die letztern sind dann nur Regierte, nicht auch Regierung, die erstem zwar vorerst Regierung, aber daneben doch in ihren einzelnen Gliedern wieder Regierte: Aristokratie.

IV. Der Gegensatz von Regierung und Regierten ist voll- kommen, aber menschlich so entfaltet, dasz die Regierung in einem Individuum concentrirt ist, welches nur Regent, nicht zugleich Regierter ist, welches somit dem State ganz und gar angehört und gewissermaszen die Einheit der Volksgemein- schaft personificirt : Monarchie.

Für jede der vier Grundformen gibt es einen Urtypus, welcher in ihr sich spiegelt:

Die Theokratie bildet die Herrschaft Gottes über die AVeit, aber noch als eine unvermittelte, gewissermaszen rohe und despotische nach.

Die Monarchie verherrlicht die Einheit der Mensch- heit in ,,dem Mensehen41 als Individuum, welches als Herrscher im State die Gesammtheit darstellt, oder die Ein- heit des Volks in der Personifieation des Volksfürst en,

Die Demokratie drückt die Idee der Gemeinschaft des Volks oder aller Individuen aus und stellt die Gemeinde im State dar.

Die Aristokratie verkörpert den Gegensatz der edleren und gemeinen Bestandteile des Volks, und gibt jenen die Herrschaft über diese. Wie der Demokratie die Gemeinde, so schwebt ihr der Adel der höbe reu Rasse als Typus vor.

In gewissem Sinn stehen Theokratie und Monarchie auf der einen, Aristokratie und Demokratie auf der andern Seite sich gegenüber. In den beiden ersten nämlich ist die Regierung in höchster Machtfülle und Majestät so con- centrirt, dasz der Regent nicht zugleich Regierter ist, dasz er nur das Statsinteresse , nicht zugleich Privatinteressen vertritt,

Viertes Capitel. Das Princip der vier Grundformen. 280

In der Theokratie aber ist diese Erhabenheit der Statsherr- schaft göttlich nnd daher absolut, in der Monarchie mensch- lich und daher relativ dargestellt. Die beiden letztern Grundformen auf der andern Seite, welche daher auch mit dem gemeinsamen Namen der Republik zusammengefaszt werden, haben das Gemeinsame, dasz in ihnen der Gegensatz der Regierung und Regierten nicht so scharf hervortritt, son- dern eine gewisse Mischung voraussetzt, so dasz die nämlichen Menschen sich bald als Obrigkeit, bald als Unterthanen be- trachten und äuszern, und zugleich öffentliche und Privat- interessen haben. In der Demokratie verbreitet sich diese Mischung über das ganze Volk, in der Aristokratie dagegen ist sie auf die herrschende Classe des Volkes beschränkt, welche zwar den übrigen Bestandteilen des Volkes nur als Herrscher gegenübertritt, unter sich selber aber gewöhnlich demokratisch organisirt und so Herrscher und Unterthan zu- gleich ist. Insofern erscheint die Aristokratie allerdings als eine Zwischen- und Mittelstufe zwischen der Demokratie und der Monarchie.

In einer andern Beziehung aber gehören hinwieder Mon- archie und Aristokratie zusammen und sind der Theo- kratie und Demokratie gegenüber zu stellen. In den erstem ist der Gegensatz zwischen Regierung und Regierten menschlich so organisirt, dasz sich die Regenten als solche selbständig fühlen und wissen, und ebenso von dem Volke geachtet werden, dasz sie in eigenem Namen und zu selbständigem Rechte die Herrschaft üben, vollkom- mener freilich in der Monarchie als in der Aristokratie. In den beiden letzteren dagegen bedarf der als Herrscher gedachte Gott immer, das als Herrscher gedachte Volk doch in der Regel einer Stellvertretung und Vermittlung durch Priester oder Beamte, welche persönlich zu den Regierten gehören, aber nun als Diener Gottes oder des Volks in deren Auftrag und Namen für den Herrscher handeln.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 19

290 Viertes Buch. Die Statsfornien.

Diese können nicht sich selber als Regenten betrachten, aber sie verwalten gleichsam die Regentschaft für den eigentlichen Regenten, der nicht persönlich handeln kann. Sie sind ge- nöthigt, sich beständig an eine andere Macht anzulehnen, und in dieser Hinweisung auf die höhere Macht, welche auch sie beherrscht, die Autorität zu rochen, welche ihnen selber abgeht.

Anmerkungen. 1. Kntsprechend dem Unterschied der vier Stats- formen lassen sieh die Staten aucli nach ihrem politischen Charak- ter, abgesehen ron der Form, unterscheiden, Es gibt theokrati- sirende Staten dem Geiste nacli. wenn gleich nieht ein Gott, sondern vielleicht ein Kirchenfürst, oder eine priesterliche Aristokratie, oder ein religiös bestimmter Demo- darin das Regiment Hat. Ebenso gibt es aristokratisirende Staten, die keine Aristokratien sind, demokra- ti.sirende Staten, die keine Demokratien, und sogar \on monarchi- schem Geist erfüllte Staten, die keine Monarchien -ind. Diese Ein* theilung der Staten gehört aber nicht ins Btatsreoht, sondern in die Politik.

Ebenso sieht die Rohmerische Eintheilung der staten (F. Böh- mer! Lehre von den polit. Parteien J. 219 ff.) naon den rier Altersstufen der Mensches Eunieasl Dicht auf die Btatsform, Mindern auf den politi- schen Geist, der in dem Biete lebt. Bis i-t daher nicht eine -tat-- rechtliche, sondern eine politische Classification, and von ansrer cbigen Eintheilung gans r< d, aber nicht derselben widersprechend.

Sie erkennt

den radiealen Btatsgeist in dem [dolitat,

- liberalen Individual-t.it,

oont erratiren Ka--c-t.it,

bielutistischen » » « Formenstal

laue Monarchie /. B, kann möglicher Weise alle diese Phasen das

politischen Geistes der Reihe nach durchmachen, Wenn K. v. Mohl

(8tatswissenschaft I. E einwendet, ein Volk sei nicht jung nnd

nicht alt, weil in jedem Volk Kinder und Kreise sugleieh beisammen

Wien, >u beruht diese Einwendung auf einem Hissverstandniss dar Lehre,

die er bestreitet Bohon * 1 i •■ Alten haben gewuszt, und v. Barignj

hat ei der deutschen Juristenwelt klar gemacht, dass auch die Volker

ganische Gtosammtwesen ihre Altersstufen durchleben, analog der

Jugend Ond «lein Alter der Indi\idueii. Au-/er die. er Folge der Zeiten.

h in jeder Volksgeschichte wiederholt, kommt aber der angeborene Volkscharakter in Betracht. Wie es ein/eine Menschen gibt, «leren

Wesen kindlich oder auch kindisch i-t und bleibt, und die leibst im

reiten und hohen Alter diesen Orundsug ihrer Natur nie verlHugnen,

und hinwieder andere, die schon in früher Jugend einen ältlichen

Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen. 291

Charakter haben, so gibt es auch kindliche und ältliche Völker von Natur. Am deutlichsten zeigt sich das in den grossen Rassen. Die Negervölker sind mehrtausendjährige Kinder, die rothen Indianer zeigen ebenso während mehreren Jahrhunderten beharrlich ein ältliches Wesen. In Europa, dem Welttheil der vorzugsweise männlichen Völker, erscheint doch die Natur der Spanier abgesehen von der Lebenspeiiode, in der sie sich befinden eher dem altern, die der deutschen dem jugend- lichen Geiste zu entsprechen. Wie die Völker, sei es von Natur und daher beständig, sei es auf der Altersstufe, auf welcher sie gerade sich befinden, und daher periodisch jung oder alt sind, so erfüllen sie mit diesem Geiste auch den Stat , in dem sie leben. Die männliche Form der constitutionellen Monarchie wird daher auf Haiti, weil ein kindisches Volk in ihr lebt, zu einem bübischen Possenspiel.

Fünftes Capitel.

Das Princip der vier Nebenformen.

Die Art des Statshauptes ist zwar entscheidend für die ganze Gestalt des Statskörpers. Aber in zweiter Linie kommt doch auch das Recht der Regierten in Betracht, und bestimmt secundär den rechtlichen Charakter der Statsverfassnng. Die Aristotelische Eintheilnng der Statftformen enthält, wenn man so die Gegenseite in dem (Jrgegensatze aller Statenbildung berücksichtigt, die nöthige Ergänzung.

War auf Seite der Regierung das oberste herrschende Organ, entscheidend, so ist auf Seite der Regierten, die wir als Gesammtheit im engeren Sinne wieder das Volk, oder noch eher das Land heiszen, die Controle der Regierung und die Theilnahine an der Gesetzgebung entscheidend.

Indem wir nach diesem Merkmal die verschiedenen Stats- formen classificiren , erhalten wir folgende drei (beziehungs- weise vier) Nebenformen.

I. Die Regierten werden insgesammt als eine blozse passive Masse behandelt, welche der Regierungsmacht un- bedingt unterthan und zu absolutem Gehorsam verbunden ist.

19*

292 Viertes Buch. Die Statäformen.

Sie bat weder ein Recht der Controle noch einen Antheil an der Gesetzgebung. Es sind das die absolut regierten Staten, die wir daher unfreie Stats formen (unfreie Völker) heiszen. Sie sind nicht nur dann unfrei, wenn sie der Willkür und den Launen eines Desputen angehören (Despotien), sondern auch dann politisch unfrei, wann der Herrscher selber ein Rechtsgesetz anerkennt und sowohl das Privatreeht als die Privatfreiheit geachtet wird (Absolution).

II. Ein Theil der Begierten, die obern (Massen der- selben, haben das Recht der Controle und der Theilnahme an den Öffentlichen Angelegenheiten und e b c h r a n k e n dadurch die Begiemngsgewali Aber die übrige Ifasse, insbesondere die untern V <>] k > el assen sind noch in dem politisch un- freien Zustande und haben keine politischen Rechte. AVir heiszen diese staten halbfreie Statsformen. Die mittelalter- lichen Lehens- und Standestaten Bind ?on dieser Art.

III. Alle Vdkaolassen haben politische Rechte. Das ganze Land (Volk) übt ein«- Controle der Regierung und eine Mitwirkung ans bei der Gesetzgebung. Wir heisien di Staten freie Statsformen, oder auck Republiken im weite- sten Sinn des Worts. Wir können lie auch Volksstafcei heiszen.

Diese Coiitr.de und Theilnahme wird wieder entweder

A) unniitteliiar durch die Versammlung der Bürger geübt, wie vorzugsweise im AJterthum (antike Republi- ken) oder

B) mittelbar durch Ausschüsse und Stellvertreter! wie in der neuem Zeit (moderne ReprasentatiYstaten.)

Wenden wir diese neue secund&re Qnterscheidung auf die alte Eintheilung der Grundformen an, bo ergeben tich fol- gende Resultate:

I. Die Theokratie ueigi sich principieU zu der Gasse der unfreien Staten. Aber sie ist nichl aothwendig Despotie, indem aneh der herrschende Gott, oder die von ihm inspirirte

Fünftes Capitel. Das Princip der vier Nebenformen. 293

Priesterschaft ein Gesetz des Gemeinwesens anerkennen und respectiren kann. Sie kann daher sich der zweiten und der dritten Classe insofern annähern, als die Ausübung der gött- lichen Herrschaft an die Mitwirkung aristokratischer Classen oder selbst einer Volksversammlung gebunden wird. Die jüdische Theokratie war in diesem Sinne republikanisch.

II. Die Aristokratie gravitirt zur zweiten Classe der halb freien Staten, kann aber auch als unfreier Stat vor- kommen, wenn der Demos politisch rechtlos ist oder sie kann sich in die dritte Classe der freien Volksstaten erheben, wenn sie dem Demos wie in Kom eine wahre Volksvertretung ver- stattet.

III. Die Demokratie hat einen innern Zug zur dritten Classe der freien Staten; sie kann aber zur Despotie werden gegenüber der Minderheil oder doch zur Absolutio gegenüber den einzelnen Bürgern; und sie kann im Verhältnisz zu einer unterwürfigen Classe (Sclaven und Heloten im Alterthum, Farbige in Amerika) als halbfreier Stat sich zeigen.

IV. Die Monarchie, welche überhaupt in den mannich- faltigsten Formen erscheint, nimmt alle drei Classen in zahl- reichen Anwendungen in sich auf. Die Despotien des Orients und die absoluten Monarchien arich des Occidents sind offenbar unfreie Staten; das Künigthum und das Fürstenthum des Mittelalters, welches durch den Klerus und die Laienaristo- kratie beschränkt war. waren halbfreie Monarchien. Das rö- mische Königthum nach der servianischen Verfassung und das alte fränkische oder das norwegische Königthum, welches der Volksversammlung einen gewissen Antheil an der Statsleitung zugestanden hatte, mögen als Beispiele der unmittelbaren Volksbetheiligung auch in freien Monarchien gelten. Die con- stitutionelle Monarchie der neuern Zeit endlich ist die höchste bisherige Ausbildung der Monarchie zu einem freien State mit Repräsentativverfassung.

Wird die aristotelische Eintheilung, die mit E echt von

294 Viertes Buch. Die Statsformen.

Oben her ausgeht, so von Unten her ergänzt, so fallen auch die wichtigsten Bedenken gegen dieselbe hinweg, insbeson- dere die Einwendung, dasz sie nicht genug unterscheide und weder die Verwandtschaft, z. B. der heutigen Bepräsentativ- demokratie mit der eonstitutionellen Monarchie noch die we- sentliche Verschiedenheit z. B. der al »sohlten und der ständisch beschränkten Monarchie zu erklären im Stande sei.

Sechstes Capitel.

I. Die Ideokrntie i Theokrntie ).

Die Form der Theokratie gehört yonngsweise der Kind- heit des Menschengeschlechtes zu. In Asien und Nordafrika ist der Sitz der ersten tätlichen Kntwicklung , und zuerst zeigen sich da theokratische Staten.

in dm erstes Zeiten, als die noch jnnge Menschheit sich

auf der Erde EUrechtzufiltden suchte, war offenbar das Gefühl der Abh&ngigkeil \<-n lt< »t 1 1 i*-li «-n \\Y>rn und unverstandenen Naturkraftei oocfa äusserst lebhaft, und die Einwirkung Qottes

oder der Natur auf das Leben, gewissrrmaszen auf die Er- ziehung der Menschen anmittelbarer und mächtiger als spater. Gott und die GMtter verkehrten Dach allen alten Sagen und Mythen persönlich mit dm Menschen, und was Pia ton uns von den Grzustft&dan selbst der hellenischen Völker erzählt, dasz Kronos, die Sehwache und Unfähigkeit der Menschen in jener Zeit bedenkend, ihnen ..zu Königen und Fürsten über die Staten nicht Menschen, sondern Dämonen, Wesen von göttlicherem und höherem Geschieht»' gesetst" habe, stimmt mit «lein Glauben aller arten Volker rosammen. riaton selbst war dieser theokratis» hen Auffassung persönlich zugcthan, und schlug in seiner Lehre vom Btat kflnstliche TauschungBrnittel vor, um den damals entwickelteren Menschen von neuem den

Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 295

Glauben beizubringen, dasz nicht Menschen, sondern Gott selber die Herrschaft im State führe.

Wurde so Gott oder wurden Götter und Dämonen1 als die wahren Oberhäupter des States verehrt, so war mit diesem Glauben der überwiegende Einflusz der Priester unzertrenn- lich verbunden, denn diese waren die auserwählten Sterblichen, welche vorzugsweise dem Dienste der Götter geweiht waren, ihren Willen vernahmen, und ihre Sprache verstanden. Unter diesen Völkern haben daher auch die Priester den obersten Hang. In den einen verwalten die Priester geradezu das Ke- giment, im Namen Gottes oder der Götter, in den andern stehen zwar Könige an der Spitze der Regierung, aber auch sie regieren nicht in eigenem Namen, sondern als Stellver- treter und Organe der Götter, und sind entweder zugleich Oberpriester oder weiden durch den Einflusz der Priester ge- leitet und beschränkt. Die erstem können wir nach Leo's Vorgang reine die letztem gebrochene Priesterstaten nennen. In diesen ist der üebergang von der Form der Theo- kratie in die der Monarchie ersichtlich.

Ein solcher Priesterstat war der Stat der Aethiopen in Meroe. Der Vorstand des States gehört der Priesterkaste an. Die Priester bezeichnen aus ihrer Mitte einige der Besten, aus welchen in feierlicher Procession der Gott einen erwählt. Ist der Ausspruch des Gottes gethan, so beugt das Volk vor dem Erwählten Gottes seine Kniee, und verehrt in ihm den Stellvertreter Gottes. Seine Macht aber ist in jeder Weise beschränkt durch die göttlichen Gesetze, und die fortdauernde Offenbarung des göttlichen Willens in den Orakeln, welche

1 Von einem merkwürdigen dämonokra tischen State unserer Zeit berichtet der berühmte Entdecker der Alterthümer von Niniveh, A. H. Layard (Niniveh und seine TJeberreste S. 144 ff.). In den Ge- birgen Mesopotamiens wohnen die Jezidi, welche unter einem geist- lichen Oberhaupte stehen, dem groszen Scheikh, und dem Satan eine besondere Verehrung widmen, von dem sie glauben, er werde später wieder zu einem hohen Range in der himmlischen Hierarchie gelangen.

296 Viertes Buch. Die Statsfornien.

die Priester vermitteln. Ein strenges Ceremoniel ordnet jeden seiner Schritte, und der freien menschlichen Entschlieszung ist kein Spielraum vergönnt. Ueberall begleiten ihn die Priester und wirken mit, und selbst seine Existenz ist völlig unsicher. Wenn er dem Gotte miszfallt, so offenbart dieser den Priestern seine Ungnade. Die Priester theilen ihm durch eine Bot- schaft den zürnenden Willen des Gottes mit, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den gött- lichen Zorn zu sühnen.2

In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks- sage während vieler Jahrhunderte die Gtöttei selbst. Später jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im einzelnen bestimmt, das/, dem Könige nicht einmal die Aus- wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt waren.'1 Bei seinem Leben freilich fragten die Priester nicht mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber wenn er starb, s<> wurde ein grosses und Öffentliches Todteii- gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge- schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt wurde durch ihr Urtheil bestimmt, unter einem Volke, wel- ches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode glaubte, mit anszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge- schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht

" Diodorus Sic. U\<t. III. 5. 8. Vgl. Lco's Wcltgesrli. I. B. 79L 3 Diodorus Sic. Hilt. I. 71, 72. Vgl. Duncker Gesch. d. Alter- tliums I3d. I.

Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 297

die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht- bare Macht.

Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die ungleiche Ehe entwürdigt. Aber die Würde des Königs wird doch wieder so hochgehalten, dasz ihr eine besondere Göttlichkeit inwohnt. Sein Leib wird, nach den Gesetzen Manu's, aus Be- standteilen gebildet, welche in den acht göttlichen Wächtern der Welt ihren Ursprung haben, daher ist er rein und heilig. „Wie die Sonne blendet er die Augen und Herzen, und Nie- mand auf Erden vermag ihm ins Antlitz zu sehen. Gott hat ihn geschaffen zur Erhaltung aller Wesen. Keiner darf ihn, selbst wenn er noch ein Kind ist, verachten, indem er zu sich sagt: er ist ein einfacher Sterblicher, denn eine grosze gött- liche Kraft wohnet in ihm."4

Auch der indische König ist von Priestern umgeben. Er bedarf der Weihe, wenn er die Kegierung antritt. Seine sieben oder acht Minister, welche er einzeln und vereint in allen Geschäften vernimmt, bevor er den Entscheid faszt, sind meistens Brahmanen. Jedenfalls aber musz er in allen wich- tigen Dingen vorerst einen brahmanischen Gewissensrath zu Käthe ziehen. Auch ihm ist ein strenges Ceremoniel vorge- schrieben, und die Gesetze Manu's mahnen ihn in ernster Sprache an seine wenn auch nicht näher geordnete Ver- antwortlichkeit: „Der unsinnige Monarch, welcher seine Unter- thanen durch Ungerechtigkeit bedrückt, wird in kurzem seines Königthums und seines Lebens beraubt werden, er und seine ganze Familie." s

* Manava Dharma Sastra. Lois de Manou, par Loiseleur. Paris 1833. V. 96, 97. VII. 3—8. s Ebend. VII. 54 ff. 111.

298 Viertes Buch. Die Srai>l'ui nun.

Immerhin hat der indische in höherem Grade arische Siat übrigens ein helleres, freieres Ansehen, und ist in ihm die königliche Würde und Macht mehr und stattlicher ausgebildet, als in den finsteren Priesterstaten von Meroß und Aegypten. In allen aber finden wir ein schroffes und starres Kanton- System; grosze Vorrechte der Priesterkaste, die in sich alles geistige Leben der Nation vereinigte und abschlosz, und zu- gleich reichlich mit den Gütern der Erde ausgestattet war : in Aegypten gehörte der dritte Theil des Bodens ihnen zu;G das indische Gesetz lagt: „Ein König darf, selbst wenn er vor Mangel stürbe, nie von eilen in den heiligen Schriften

nen Brahmanen eine Steuer nehmen und niemals dulden, dasz in seinen Staten ein solcher Brahmane Hunger leide."7 Ferner eine gedrückt»1 Lage und verachtete Zustünde der untern Volkscla.-M'ii. welche auch für Einzelne nicht durch die Hoff- nung des Emporsteigens erhellt wurden. Die ägyptischen Bauern sind durchweg nur Hörige, welche die den Priestern

«•der dem König ler den Kriegern zugehörigen Güter be- bauen. Die Hirten und die Handwerker sind erblich an ihr Geschäft gebunden, willkürlicher Schätzung unterworfen, und

ohne allen activen Antheil an den Statsinstitutionen. /ahl- reiche Frohnden aller Art Bind in diesen Landern verhieltet. Noch viele Jahrhunderte hinab hat ein the<>kr;iti><her Charakter des States in Asien sich erhalten, und auch später noch ist derselbe in dem o r i e n t a 1 i s c h e n H e r r s c h e r t h u m fortwährend sichtbar. Die Macht der Priesterschaft freilich über die immer entschiedener weitlichen Herrscher ist durch die steigende Macht dieser, wie BC in den gröszeril durch

Eroberung entstandenen und durch Kriegsheer« rasaanmefir

gehaltenen Reichen sich entwickelte, mehr in den Hintergrund gewiesen und verdunkelt «forden. Aber die Herrscher lelhei winden wie Götter verehrt. DieStatsfonn blieb bheojcratisch,

* Diodor. Sic. I. 73.

7 Lois dfl Manou. VII. L33,

Sechstes Capitel. I. Die Ideukratie (Theokratie). 299

nur trat sie in eine neue Wandelung ein. Zuerst war der Gott in Person der Herrscher, seine Werkzeuge die Könige und die Priester; dann stellte sich die Herrschaft mehr und mehr äuszerlich als eine Priesterherrschaft dar, mit einem anfangs priesterlichen, dann kriegerischen Könige an der Spitze ; endlich wurde der König selbst zum Gott erhoben, und es entstand der übermenschliche „Despotenstat". Es gilt das namentlich von dem spätem Perser reiche und selbst von den neuern Staten der mohammedanischen Sultane, und den chinesischen Kaisern.

Der König von Iran Guschtasb (1300—1350 v. Ch.), unter welchem Zarathustra (Zoroaster, Serduscht) als Prophet auftrat, nannte sich selbst einen ,,Priesterkönigu, und in den heiligen Büchern (dem Send-Avesta) wird der Perserkönig nicht zu der Kaste der Krieger, wie in Indien, sondern zu der der Priester (der „Rechtskundigen und Gottes- gelehrten4') gerechnet.8 Das ganze Statssystem ist zugleich Religionssystem, Kecht und Moral unausgcschieden, der Zu- sammenhang der unsichtbaren Welt, der guten und bösen Geister mit der sichtbaren Welt der Menschen in allen Dingen fort- während anerkannt. Aber seitdem die Könige von unpriester- lichem persischem Geschlechte die Herrschaft erlangten, nahm der persische Stat mehr die Natur eines solchen Despoten- reiches an, und der Einfiusz der Magier, so grosz er in man- chen Dingen blieb, ward, verglichen mit den altern Zeiten, um vieles geringer. Allmächtig wie der Gott, dessen Gnade ihn erhoben hat, waltet in seinem Reiche der Perserkönig im Princip, und sein Hof ist das Abbild des himmlischen Hof- states des guten Weltgeistes Ahuramasda. Die Ehren, die ihm erwiesen werden, gleichen den Ehren der Gottheit. Vor seinem goldnen Throne, der hoch emporragt, und auf dem er in reich- stem Schmucke mit der Tiara auf dem Haupte sitzt, den

8 Vuller's Fragmente über die Religion des Zoroaster. Bonn 1831. S. 33- 69. Vgl. Spiegel Avesta. Leipzig 1852—63. III Bde.

300 Viertes Buch. Die Statsformen.

goldenen Stab in der Hand, das Schwert zur Seite, im Purpur- mantel, ,, strahlend wie die Sonne an dem glänzenden Firma- ment," werfen sich selbst die fremden Gesandten nieder in den Staub, wie Sclaven vor dem Herrn oder Betend« dem Gott. Wie diesem die Opfer, so werden ihm die Gaben derer dargereicht, welche seinem Throne nahen. Und wenn er stirbt , so bezieht er den herrlichen Todtenpalast in Per- sepolis, dort das Leben der Seligen fortsetzend. Ein feierliches Ceremoniel mit seinen manniehfaltigen Symbolen umgibt ihn,9 ihn zu ehren. In der Wirklichkeit freilich ist gerade dieses auch ihn beengende und wie mit einem goldenen Netze um- spinnende Ceremoniel die unauflösliche Schranke und 1 seines Willens, und spottet der fingirten Allmacht, die ihm in der Idee zugeschrieben wird.

Ein Fortschritt aber liegt unverkennbar in dieser Wande- lung aus dem eigentlichen Priester- in das Despotenreich des Orients. Das starre Walten einer für göttlich gehaltenen Offenbarung in dem Gang und den Formen der Gestirne nach welcher die Priester auch den StaJ leiteten, und die Gleich- mäszigkeit und (Jirrer&nderlichkeil des ganzen ein- für allemal durch göttliche Gesetze normirtal Ststslebenfl waren durch- brochen; und wenn auch in der trüben Form der Despotie, äuszerte sich nun ein freier menschlicher Wille in den Stats- angelegenheiten, und konnte Rücksicht nehmen auf die natür- lichen Veränderungen in den Zuständen der politischen Welt, und auf die mancherlei neuen Bedürfnisse der Völker. In dem persischen Reiche wurde denn auch die Eisdecke des Kastenwesens frühzeitig aufgelfl

Der merkwürdigste Stat dieser Gattung im Altertlrom war die T h co k ratio der Juden nach der Mosaischen Gesetzgebung. Die Reinheit der Mosaischen Religion, der lebendige Glaube

1 Eine vortreffliche kurze Dnrtellunp rlir*er St;it«form bei Lee Weltgesch. I. 8. 120 f. Duncker Goch. d. Alt. II. B.1

Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 301

an einen Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt, ist die feste Grundlage, auf welcher der jüdische Stat erbaut ist.

Gott selbst, Jahve oder Jehova, wird als König der Juden gedacht. Er ist der unsterbliche Herr des sterblichen, aber auserwählten Volkes. Er gibt das Gesetz, er regiert das Volk. Die ganze umfassende Gesetzgebung, welche wir von Moses her benennen, erscheint als Offenbarung Gottes, mit welchem Moses in der Einsamkeit der Berghöhe gesprochen, dessen Willen er mit Furcht und Zittern vernommen, und getreu dem Befehle des Herrn dem Volke verkündet hat. Blitz und Donner haben die Gegenwart Gottes auf dem Berge Sinai allem Volke bezeugt.

Das ganze Volk aber wurde durch diese göttliche Herr- schaft gehoben. In Aegypten noch war es verachtet, und jeder Aegvpti.T aus einer der hohem Kasten betrachtete die Juden als Verworfene, deren Umgang verunreinige. Nun erhielten sie das erhabene Gefühl, das bevorzugte Volk des höchsten Gottes zu sein. Obwohl auch sie in erbliche Stämme einge- teilt winden, und auch unter ihnen ein gesonderter Priester- stamm (der Stamm Levi) geordnet ward, so waren doch alle Stämme Nachkommen der Erzväter Abraham, Isak und Jakob, und galt hinwieder das ganze Volk als ein „Priestervolku. Die schroffe reberordnung der Kasten ist somit hier von Grund aus aufgegeben, und die Brüderlichkeit der Stämme zum Princip erhoben.

Das göttliche Gesetz wird in einer mit Gold überzogenen Lade verwahrt, über welcher der goldene Thron der Gnade sich erhebt, von zwei Cherubim bewacht, und als Sitz der göttlichen Offenbarung verehrt. In der Stiftshütte, gewisser- maszen der göttlichen Kesidenz, die von den Priestern bewahrt wird, ist die Lade und der Thron in dem Allerheiligsten hinter einem Vorhang verborgen. Dort empfängt der Hohepriester die Gebote Jehovahs und verkündet sie. Der Hohepriester, aus dem Geschlechte Aarons, des Bruders von Moses, stammend,

302 Viertes Buch. Die Statsformen.

ist das regelmäszige Organ des göttlichen Willens, und der Vertreter des Volkes vor dem Herrn. Ausnahmsweise, in kritischen Zeiten, erweckt Jehovah einzelne erleuchtete Indivi- duen, die als Propheten die rniszkannte göttliche Autorität herstellen, das Gewissen des Könige und des Volkes wach- rufen, den Abfall von Gott züchtigen, zur Bekehrung mahnen und das künftige Schicksal des Volkes enthüllen. Auch die Richter, welche an der Spitze der verschiedenen Stämme das Recht verwalten und handhaben, tlmn es im Namen Jehoflhn, ,,denn das Gericht ist Gottes/' Daher sollen sie „keine Person im Gericht ansehen, sondern den Kleinen hören wie den Groszen, und sich vor Niemand BChenen." Ist ihnen aber eine Sache zu schwer, so sollen sie sich an den Ort der Stiftshütte wenden, und dort vernehmen, wie durch den Mund der Priester Gutt die Sache entscheidet. Den Spruch sollen sie erfüllen, oder des Todes sterben. 1"

\Vie das Volk der strengen aber Begensreichen Herrschaft Jehovahs unterthan ist, SO ist auch der ganze Boden des ge- lobten Landes in Jehoyahs Eigenthnm. Unter die Familien wird er nur zu Leben vertheilt, nicht zu freiem verfügbaren Eigenthum. Von allen fruchten des Bodens und von allen Früchten der Thiere man daher zur Anerkennung des liehen Obereigenthums der Zehnte an die Stiftshfitte zum Unterhalte der Priester gegeben werden. Jedes siebente Jahr ist ein Feierjahr, auch für das Land, welches dann nicht be- baut wird, wie der siebente Wochentag ein Kühe- und Feier- tag für den Menschen ist, und nach .siebenmal sieben .Jahren in dem Jubeljahr wird die Vertheilung des Bodens wieder neu bereinigt, so dasz verarmte Familien ihren Lehensboden zurück erhalten, reich gewordene ihren Deberflusz an (intern wieder herausgeben müssen. Unter den Juden selbst darf es keine Leibeigenschaft geben; das Jubeljahr macht auch die

V. Mose, 1, 17. und 17, 8 ff. JTgL Duncker a. a. O. I. S. 780 j Bluntächli Altasiatische Gottes- und Weltideen, Nr. IV.

Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 303

frei, die sich selber in die Knechtschaft eines andern begeben haben; nur Fremde können zu Sclaven erkauft und besessen werden.11

Als die Juden später einen König begehrten, „damit sie auch seien wie alle andern Völker," willfahrte Jehovah ihrer Bitte durch den Mund des obersten Richter, des alten Samuel, aber tröstete diesen mit den Worten: „Gehorche der Stimme des Volks in allem, das sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, dasz ich nicht soll König über sie sein/*12 So ging die Form der reinen Theokratie in die einer Monarchie über, welche indessen immer noch durch theokratische Institutionen und durch die ganze durch und durcli religiöse Natur und Mission des jüdischen Volkes beschränkt und modificirt blieb.

In Europa sind nur schwache und vereinzelte Nachklänge der Theokratie zu erkennen. Wenn der römische Kaiser Ca- ligula mit goldenein Bart und Blitz wie Jupiter sich öffent- lich zeigte, oder Heliogabal sich als Opferpriester der herr- schenden Sonne gerirte, oder nach der schweizerischen Sage der Vogt Geszler von den freien Männern des Gebirgs for- derte, dasz sie dem Hute des Kaisers ihre Verehrung beweisen, so waren das nur karikirte Nachbildungen einer untergegange- nen Statsform, die keinen Anspruch hatten auf Bestand. Wohl aber ist im römischen Reiche in der Sitte, sogar den lebenden Kaisern Statuen und Tempel zu errichten und die gestorbenen als Divi zu verehren sowie in dem spätem Ceremoniel der byzantinischen Kaiser noch ein theokratisches Element sicht- bar geworden.

Im Mittelalter bekamen besonders durch den Einflusz der Geistlichkeit, welche von jeher ihre Vorliebe für die theokra- tischen Lehren kund gegeben hat, auch die christlichen Stats- einrichtungen in manchen Beziehungen eine theokratische Fär-

11 III. Mose, C. 25. V. Mose, C. 4 und 5.

12 I. Samuel. 8, 7 ff.

304 Viertes Buch. Die Statsformen.

bung. Wir werden dergleichen zwar mehr in den geistlichen als in den weltlichen Fürstentümern gewahr; aber auch die letztern hielten sich nicht rein davon. Sogar der Kaiser hat zugleich priesterliche Weihen empfangen müssen. Aber so sehr das Mittelalter es liebte, alles Recht und alle Gewalt von Gott abzuleiten, so betrachtete es doch die Ge- walthaber als Menschen, und sorgte reichlich für menschliche Beschränkungen ihrer Macht.

Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie des Klerus folgte ganz dem theokratisehen Zug. Die welt- lichen Fürsten und ( »brigkeiten wurden doch auch von der katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung erinnert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen in Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie.

Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen mohammedanischen Staten eher als theok ratisch be- zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische Welt nicht nit-hr, wie die ahm Juden, an eine unmittelbare

und refelmiaxigt Qottesregienmg. Die mosaische Theokratie

ward von Mohammed nicht wiederhergestellt Aber der Koran lehrt, dasi Gotl die Herrsohafl gebe wem er will, und be- trachtet den mensehliehrn Pursten an der Spitze des Btati als den Statthalter und Lehensträger (Jottes. In dem Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammeda- nischen Btatensystcms einigen sich die Eigenschaften deeOtar- priesters und des Oberköniga, Der Khalif ist Papsi nnd Kaiser zugleich. Religion nnd Sacht, Theologie nnd Jnrisprndens werden nicht gentlgend unterschieden. Die Glottesgelehrten

sind auch Beohtsgelehrte. Der Islam vrrlrägf sieh weit eher mit der Theokratie all das Ohrisionthlim.11

Die moderne Zaü endlich bat ein-' offenbare Abneigung

ts (Jeher eilige uidere Iheokratiiirendt stüt'-n vgl. Blüntiohli, Artikel Meokreiie im deutseken Stettwerterbuek, Bd.Vj ▼. Hohl, Kn- eyolopftdie dei Btetnrimntek. §. 11,

Sechstes Capitel. I. Die Ideokratie (Theokratie). 305

gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen Fürstenthümer, mit einziger Ausnahme der päpstlichen Landes- herrschaft im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser Zeitrichtung,14 welcher auch jene Ausnahme nicht lange mehr wird widerstehen können.

Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame Charakterziige:

1. Religion im«! Recht, kirchliche und statliche Institu- tionen und Maximen Bind in ihnen gemischt und zwar in dem Verhältnis/, «las/ die religiösen Elemente das Uebergewicht haben über die politischen. Di»- Aussieht auf das Leben nach dem Tode beherrscht das ir.lis.-li.> Leben so sehr, dasz dieses sich nicht in Freiheit zu entfalten getränt.

2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch- licher Erhabenheil gesteigert. Alles bürgerliche und öffent- liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach absolut, Die Qnterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht in einem menschlichen Verhältnis/ , nicht als Söhne desselben Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks. Der Herrscher erheb! sich ober sie in eine unerreichbare Höhe und wird zum allmächtigen Herrn.

3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begründet sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.

Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen

14 Selbst die Verfassung von Montenegro, die vor wenigen Jahren noch in dem Yladika ein kriegerisch -priesterliches Oberhaupt an der Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher ge- treten.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 20

306 Viertes Buch. Die Statsformen.

des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent- scheiden , wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött- lichen Herrschaft diesen AVillen erfahren können. Entweder es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der inner n Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in der Weise der römischen Auguren und Harnspices den Fing der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe, oder wie die Hellenen die Orakel befrage oder wie die Ger- manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen unfehlbar anf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs. Der zweite Weg aber der innen Inspiration ist um so mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt . je weniger der Menseh die eigenen Geisteekräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit gegeben hat, je passiver er sich verhält und je Leidenschaft- licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt Die unentbehrlichen menschlichen Organe der Btatliohen

Willensbildung sowohl für die Gesetlgebung als für die Kegierung sind also in der Theckratie sehr unvollkommen ausgebildet und durchaus unsicher.

4. Uebermacht des Priest er t hu ms , das rieh Gott näher glaubt, Bbei die weltlichen A.emter. Wenn die Priester die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erschein der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es neben ihm eine weltliche Obrigkeii gibt, so macht sich die priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.

Da aber in allem Priesterthumc etwas Weibliches ist, so werden in dem Priesterstat die weihlichen Eigenschaften den männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen.

Siebentes Cap. II. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 307

Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.

5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der Strafen.1,11 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.

6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den kirchlichen Zwecken. Alle Wissenschaften, Künste, Fertig- keiten werden nur insofern geschätzt und gepflegt, als sie zu religiösen Zwecken nützlich sind; im übrigen aber mit Misz- trauen betrachtet und vernachlässigt, und wenn eine Gefahr für die hergebrachte religiöse Autorität daraus zu erwachsen scheint, unterdrückt und verfolgt.

Wissenschaft und Kunst haben keinen Werth für sich, sondern nur für die Religion, sie sind nicht freie Schöpfungen des Menschengeistes, sondern Sclavinnen der Kirche.

Siebentes Capitel.

II. Demokratische Statsformen. A. Die unmittelbare (antike) Demokratie.

Die Art, wie im Alterthum die Demokratie verstanden wurde, und wie sie in der neuern Zeit aufgefaszt wird, ist sehr verschieden. Die alten Demokraten gingen von dem State aus, und suchten die Freiheit Aller in der politisch- gleichen Herrschaft Aller. Die neuern Demokraten gehen von der individuellen Freiheit der Einzelnen aus, und

15 Gute Bemerkung darüber bei Duncker a. a. 0. II. S. 619.

20*

308 Viertes Buch. Die Starsfurraen.

suchen möglichst wenig davon abzugeben an »las Ganze, mög- lichst wenig zu gehorchen. Die alte Demokratie ferner war durchweg eine unmittelbare Demokratie, wenn auch bald in absoluter Form, bald ermäßigt: die neuere dagegen ist regel- mäszig eine repräsentative Demokratie. Es ist einleuch- tend, dasz die erstere nur in einem kleinen Statsgebiete möglich, diese aber auch in einem grösseren Volke und Lande anwend- bar ist.

Die Griechen vorzüglich, in eine grosie Zahl kleiner Staten zersplittert, Backten und fanden in der demokratischen Statsform die Befriedigung ihrer politischer] Aiischauungsv Es ist nicht zu l&ugnen, Belbst die alten königlichen Staten und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen Ari.-tokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo- durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch i-t es beach- tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie keine- instig 1». nrtheflteu . ' doch das Ideal eine:

mftssigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats- form Pell t ie nannten.

Für die EÜnsichl in die Natnr der Demokratie ist kein Stat lehrreicher als der athenische. In <\w Verfassung Athens

erlangte dieselbe ihren dbnsequente8ten Ausdruck. In einem

Umfang wie nie seither wieder, ttbte da- Volk dort seihst die Barschaft ans. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten

wurden in der V o 1 k .- \ e r-a m m lu n g {ixxX^aia) verhandelt, und diese trat BO häutig, beinahe Wöchentlich einmal, auf dem

Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Bernfsgeschäfte und Ar-

beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaveii. nicht VOD den freien Bürgern betrieben wurden.

1 Darin stimmen Xenophon, Platoa und A i i - 1 (i t <■ I e - IMMBH

Siebentes Cap. IL Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 309

In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll- endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als die Herren des Stats, jeder einzelne als ein Theil des Sou- veräns. Das charakteristische Merkmal der demokratischen Verfassung, dasz die Mehrheit herrsche, und jeder Bürger Antheil an der obrigkeitlichen Macht habe, war hier völlig ausgebildet. Jedem stand es frei, das Wort zu ergreifen und zu dem Volke zu sprechen. Zu Solons Zeit noch gab das er- fahrene Alter einen Vorzug, aber diese, wie die übrigen Be- schränkungen der demokratischen Gleichheit wurden bald lästig befunden und verworfen. Dem Sprachtalent wurde freier Spielraum eröffnet, und die Gewalt der Rede elektrisirte und lenkte die Menge schrankenlos. Ein Glück war es, wenn grosze Statsminner wie Perikles, als Redner ihr Urtheil bestimmten: aber häufiger noch bemächtigten sich schlaue und ehrgeizige Demagogen der Gemüther, und indem sie es ver- standen die Leidenschaften der Versammlung zu erregen und ihrer Selbstsucht zu schmeicheln, regierten sie die Masse wechselseitig. Von dieser groszen Wirkung der Rede haben wir in dem modernen Stat keine völlig entsprechende Anschau- ung mehr. Sie ergriff die Zuhörer massenhafter und stärker als die Presse die zerstreuten Leser. Der Eindruck war un- mittelbarer und lebendiger. Die Stimme des Redners, der Glanz der Augen, die Gebärden desselben erhöhten die Be- deutung und den Nachdruck seiner Worte, und die erregte Stimmung der lauschenden und ihrer Macht bewuszten Menge gab der Verhandlung einen gewaltigeren Schwung. Auch die mündlichen Verhandlungen und Reden in unsern Parlamenten haben nicht denselben Grad von Einflusz, theils weil die Ver- sammlungen selbst viel kleiner und gewählter, theils weil sie beschränkter in ihrer politischen Macht sind.

310 Viertes Buch. Die Statsformen.

Die Befugnisse dieser Versammlungen waren sehr aus- gedehnt. Sie umfaszten das ganze Statsleben. Selon hatte dieselben noch beschränkt auf die Wahlen der Magistrate, die Controle der Regierung, und die Berathung über die Ge- setze. Aber im Gefühl seiner Uebermacht übersehritt der von den Rednern geführte Demos die Schranken der Solonischen Verfassung. Die Volksbeschlüsse (tfrqpigfjiaTa) wurden entscheidend, und der Demos beschlosz, wie ein absoluter Despot, was ihm gefiel auch wider die Gesetze.2

Die eigentliche Gesetzgebung stand zwar nicht der Volks- versammlung selbst, sondern den Nomotheten zu; aber auf die Entscheidung dieser hatte die Verhandlung und Stimmung jener einen meistens überwältigenden Einrlusz und die Nomo- theten waren selber nur ein zahlreicher, im einzelnen Falle gewählter Ausschusz der Volksversammlung. Dagegen ent- schied die Volksversammlung Belbst die wichtigsten Kegierungs- geschäfte. Sie selber hörte die Gesandten anderer Staten an, ernannte Gesandte, berieth und bestimmte die Instructionen derselben. Sie beschL»>z Krieg "der Frieden, erwählte die Feldherren, regelte den Sold and BOgar die Art der Kriegs- führung. Das Schicksal der eroberten Städte und Lander wurde von ihr normirt. Sie verfügte aber die Aufnahme und Anerkennung neuer Götter, über die religiösen Feste, über neue Priesterthümer. Sie erth eilte Bürgerrechte und Privile- gien. Ueber den Zustand der Finanzen, die Kinnahmen und Ausgaben der Republik muszte ihr in jeder Prytanie (zu 35 oder 36 Tagen um) KechensebalL abgelegt werden. Von ihr wurden die Steuern auferlegt, die Schirmgelder der Metöken bestimmt, das Münzwesen geordnet, zu freiwilligen Beiträgen aufgefordert. Die Bauten der Tempel und öffentlichen Ge- bäude, der Straszen, Mauern u. s. f., sowie die wiehtigen Aus- gaben für den Schiffsbau bedurften ihrer Genehmigung und

Vgl. Aristot. Pol. IV. i, i u. (i.

Siebentes Cap. II. Demokrat. Statsformen. A. Die unmittelb. Demokr. 31 1

die wesentlichen Aufträge dafür gab sie selber, Sie verwen- dete die Statsgelder auch zum Privatvergnügen der einzelnen Bürger, indem sie diesen den Besuch der Theater bezahlen liesz. Die regelmäszige Strafgerichtsbarkeit war der Volks- versammlung zwar entzogen, aber in auszerordentlichen Fällen, insbesondere wo das Gesetz ein Verbrechen nicht vorgesehen hatte, oder erschwerende Umstände auszergewöhnliche Masz- regeln zu rechtfertigen schienen, wurden auch Criminalklagen vor derselben verhandelt und von ihr die Strafe bestimmt, oft auch das Schuldig ausgesprochen. Die Entartung, welche rasch auf die Blüthezeit der Demokratie folgte, begünstigte die Miszbräuche dieser Volksjustiz.

In der Volksversammlung hatte die Mehrheit der an- wesenden Bürger den Entscheid. Aber selbst in Athen, wo die geistige Bildung auch der untern Schichten der freien Bürger höher stand, als seither in irgend einem Lande, unter einem Volke, welches die Tragödien von Aeschylos und Sophokles zu würdigen wuszte, vor welchem die Reden des Demosthenes gehalten wurden, selbst in Athen, wo durch Handel und Herr- schaft sich grosze Keichthümer aufhäuften und reichlicher Verdienst jede Arbeit lohnte, war die Mehrheit unfähig, den Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und ungeneigt, eine gerechte Herrschaft zu üben. Die Minderheit der edleren und der reicheren Bürger wurde auch von dieser Mehrheit gedrückt und miszhandelt, und Xenophon konnte es, im Hinblick auf seine Vaterstadt Athen, als eine nothwendige Consequenz der Demokratie erklären, „dasz in ihr das Loos der Schlechten besser sei als das der Guten."3

3 Xenophon über den Stat der Athener. I. 1. Ebenda (II. 19-) versichert er, „das Yolk der Athener wisse recht wohl zu unterscheiden zwischen guten und schlechten Bürgern. Aber es ziehe die Schlechten vor, die ihm zu Willen seien, und hasse die Guten; denn es sei über- zeugt, dasz die Tugend Einzelner nicht zum Wohl der Menge, sondern zu ihrem Schaden in der Welt sei, und ihnen liege nichts daran, dasz

312 Viertes Buch. Die Statsformcn.

Die Allmacht der Volksversammlung sollte freilich nach der Solonischen Verfassung durch den Eath zum Theil be- schränkt, zum Theil geleitet werden. Den Eath selber hatte Solon auf die aristokratische Ordnung des Volkes nach den vier Stämmen basirt, und indem er die Bürger je nach ihrem Vermögen in vier Classen theilte, und den oberen und reicheren Classen schwerere Pflichten und höhere Eechte im State an- wies, auch dem Vermögen und der Bildung im Bathe das Uebergewicht übef die niedere Menge zu sichern gesucht. Allein auch den Eath nahm seit Klisthenes (510 v. Chr.) die Menge ganz und gar für sich in Anspruch. Der Eath der 500 war selber eine kleine Volksversammlung, ohne Bücksicht auf Vermögen und Bildung aus der gleichen Menge der Bürger hervorgegangen, nicht einmal durch die Wahl auserlesen, son- dern durch das Loos zusammengewürfelt, und ebenso durch das Loos in zehn Bureaux (Prytanien) von je 50 Eäthen ver- theilt, welche alle 36 Tage in der Leitung der Geschäfte wechselten. Von einer selbständigen Autorität eines derartigen Eathes der Menge gegenüber, aus welcher er wie der auf die Höhe getriebene Schaum des Champagners wechselnd empor- stieg, und in welcher er wieder nach kurzer Frist sich auf- löste, konnte keine Bede mehr sein. Er diente blosz dazu, die äuszere Besorgung und Einleitung . der Geschäfte der Menge zu erleichtern, und die Selbstregierung dieser möglich zu machen.

Die Archonten, in älterer Zeit hohe Magistrate , ur- sprünglich Eupatriden, nach der Solonischen Verfassung aus der Classe der Beichsten (der Pentakosiomedimnen) gewählt, wurden, als einmal die Demokratie zu freier Entfaltung ge- langt war, durch das Loos bestellt, zu welchem jeder Bürger nun, ohne dasz ferner auf Geburt oder Vermögen oder Bil- dung geachtet wurde, zugelassen wurde, und sanken herab zu

der Stat wohlgeordnet sei, sondern daran nur, dasz die Menge frei und Herrscher sei/ (I. 8.)

Achtes Capitel. Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 313

bloszen Dienern des Demos und machtlosen Vorsitzern der zahlreichen Gerichtshöfe. Diese selber waren wieder ganz de- mokratisch bestellt, und wiederum eine Art von Volksversamm- lung. Nicht weniger als 6000 Geschworne nahmen an den Gerichtsverhandlungen Theil, und je nach der Wichtigkeit der Processe urtheilten Hunderte oder Tausende von Geschworenen. Die Sucht der Massen, an dem Solde und an der Autorität der Richter Theil zu nehmen , von Aristophanes in den Wespen gegeiszelt, ward zu einer chronischen Krankheit Athens, und auf diesem Boden ging das schändliche Gewerbe der Syko- phanten wuchernd auf. Derlei Volksgerichte betrachteten sich mehr als Beschützer und Förderer der Volksherrschaft, und kümmerten sich mehr um politische Parteikämpfe und Partei- interessen, als um die Handhabung des unparteiischen Rechts. Sie wurden so zum Tummelplatze der öffentlichen und Privat- leidenschaften; die Bestechlichkeit der Sykophanten und der Richter selbst nahm überhand, und in Form Rechtens wurde die äuszerste Willkür und Despotie der Menge geübt.4

Achtes Capitel.

Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie.

In der begabten Natur der Athener und in der glänzen- den Geschichte ihrer Stadt spiegeln sich die Eigentümlich- keiten, die Vorzüge und Gebrechen der unmittelbaren Demo- kratie für alle Zeiten ab.

Die Demokratie liebt die Freiheit mehr als die Auto- rität. Die Freiheitsliebe der Athener hat vornehmlich die reiche Entfaltung der ewig-jungen und ewig-schönen Werke in Kunst und Wissenschaft hervorgebracht, welche die Bewunde-

4 Ueber die Verfassung Athens ist vorzüglich das treffliche Buch von K. Fr. Herrmann, Griech. Statsalterthümer, zu vergleichen.

314 Viertes Buch. Die Statsformen.

rang der Nachwelt erhält und verdient. Aber die demokra- tische Freiheit Aller wird zugleich als Herrschaft der Mehrheit verstanden. Die Bürgerschaft will in Per- son, d. h. durch grosze Volksversammlungen den Stat re- gieren. Diese hinwieder sind nur möglich in kleinen Staten, und bei einem Volke, welches Musze hat sich mit Stats- geschäften regelmäszig zu befassen, also nur unter der Vor- aussetzung, dasz entweder die Lebensverhältnisse des Volkes äuszerst einfach und die Statsgeschäfte gering sind, wie der- gleichen etwa in den Gemeinden abgeschlossener Bergthäler vorkommt, oder dasz die Masse der täglichen Arbeit von Per- sonen besorgt wird, welche nicht zur Bürgerschaft gehören. Bei einem gebildeten Volke ist daher die reine Demokratie Aller immer eine Unwahrheit, indem ihre Existenz eine die- nende, unfreie Bevölkerung voraussetzt.

In dies<'n giooen ^olksrersaminlangen aber entwickelt sich leicht ein Gefühl von unbeschrankter Macht, welches hinwieder das Volk zu Miszgriffen jeder Art verleitet, und leichi launische Willkür an die Stelle des Rechtes setzt. Der Einzelne für sich ein ehrbarer und besonnener Mann, wird in der Versammlung als unbemerktes Glied einer zahlreichen und imposanten Menge von dem öeiste und den Leidenschaften der Masse ergriffen , und zu Willensfinszerungen fortgerissen, die er kurz vorher noch des bestimmtesten verworfen bat. Ist einmal durch die Redner, welche, um Eindruck zu machen, genöthigt sind auch die Saiten der Volksleidenschaften anzu- spielen, die Stimmung der Menge wie eis brausender Strom in Bewegung gesetzt, so hält selbst die Scham das Volk nicht zurück, alle widerstrebenden Schranken zu durchbrechen und maszlos zu fiberflnthen. '

1 Edm. Burke spricht das schön am: ., W<> die Autorität de* Vol- kes absolut und unbeschränkt ist, da hat das Volk auch ein Oaendliofa gröszeres, weil ein besser gegründetes Verträum auf seine Macht. Es M -<'ll>st, bei groszen Maszregeln, sein eigene- 'Werkzeug, während der

Achtes Capitel. Beurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 315

Soll die reine Demokratie daher eine gute Verfassung sein, so musz die Bürgerschaft in ihrer Mehrheit politisch fähig und tüchtig, d. h. die Einsicht der Menge musz ausgezeichnet und ihr Charakter vortrefflich sein. Es ist aber immerhin eine sehr bedenkliche Erfahrung für diese Statsform, dasz selbst in Athen, unter einem geistig so hochgebildeten Volke, dessen Charakter sich vorzüglich im Unglück und in der Gefahr grosz zeigte, somit eine ausgezeichnete Anlage hatte, die reine Demokratie sich nur während ganz kurzer Zeit vor der Entartung und dem Verfall bewahrte. Ja selbst in der Periode ihrer höchsten Blüthe und Herrlichkeit beruhte ihre Grösze vornehmlich darauf, dasz das Volk nicht seinen Willen selber bestimmte, sondern der Autorität und Leitung eines groszen Statsmannes völlig vertraute, dasz Einer die Menge factisch beherrschte. Thukydides* sagt von den Zeiten des Perikles: „Den Werten nach war Athen eine Demokratie, in der Wirklichkeit aber war der Stat unter der Herrschaft des Ersten Mannes."

Die Tugend der Menge, wenn sie den berauschenden Wein der Macht getrunken, hält nicht Stand. So lange noch die religiöse Scheu vor der Gerechtigkeit Gottes lebendig ist in ihrem Herzen, so lange noch die Sitte und das Gesetz sie in Schranken hält, und die Achtung vor der überlegenen Autorität der Besten waltet, so lange allerdings kann auch die demokratische Form der Herrschaft bestehen, und es ist nicht zu verkennen, dasz dann auch die Masse der Individuen des

Fürst ohne die Hülfe Anderer nichts thun kann. Es ist dem Gegen- stande seiner Herrschaft näher. Daher steht es weniger unter der Ver- antwortlichkeit jener groszen controlirenden Macht auf Erden, dem Ur- theil des guten Rufes und der Ehre. Die Furcht vor der Schande, an welcher jedes Individuum, wenn es sich um öffentliche Dinge handelt, Theil hat, ist für das Yolk nur gering, indem die Selbständigkeit der öffentlichen Meinung in einem umgekehrten Yerhältnisz zu der Zahl derer steht, welche die Macht miszbrauchen. Eine vollendete Demokratie ist daher das schamloseste Ding auf der Welt," * Thid-ydiä, IL 65.

316 Viertes Buch. Die Statsformen.

demokratischen Volkes durch die Beschäftigung mit den Öffent- lichen Angelegenheiten gehoben wird, und sich vor den bür- gern anderer Staten durch eine reichere und selbstbewusztere Entwicklung ihrer Anlagen auszeichnet. Jeder Einzelne musz. weil er Theil an der gemeinsamen Herrschaft hat, seine Blicke über die enge Gränze seines Bernfes hinaus richten, er wird vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und dem Gesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten werden ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr mit denselben Clanen anders regierter Völker zeiizt er sich in manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald Lftszt jene Sehen und Achtung nach, und es nimmt EUgleidh, da die wohlthätige Zweiheit der andern Statsf« rmen, der Kegent und die Regier- ten, hier fehlt, das Gefühl einer äusxerlich Dicht beschränkten Macht und der Miszoraucfa derselben überhand. Dann kommen die schlechten Eigenschaften in der Blasse zu Eügelloser Bnt- faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren Dasein schon die niedrige Menge wie »'inen Vorwurf empfindet, und wie einen Protest gegen ihre Berrsehafl betrachtet, wird nun beneidet, gehassi und unterdrückt. Qebermnth, Launen- haftigkeit, Maszlosigkeit, die Bucht zu häufiger und eitler Neuerung, Willkür, Rohhtit wuchern in dem Demos empor, und je weniger er in Wahrheit rieb selbst beherrscht, desto drückender wird seine Herrschaft über andere. Bfl bilden sieh Parteien, in irelcheo der Haa gegen einander starker ist die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, and welche dieses zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Lehen bekämpfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen v<dler Unsicher- heit und Gefahr, und geht in dem [Jebermasz der Beweglich- keit /.n Grunde. So war die Blüthezeil der athenischen De- mokratie zwar überaus glänzend, aber stdir kurz, und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach.1*

3 Die Qlansptriode beginnt mit Disthenei Mit r. (In . welcher /u-

Achtes Capitel. ßeurtheilung der unmittelbaren Demokratie. 317

Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist die Vorliebe für das Princip der Gleichheit, In Athen wurde die politische Gleichheit der Bürger in ihrer Einseitig- keit so consequent ausgebildet, wie in den neueren Demokratien nirgends mehr. Wo es irgend möglich schien, handelte die Masse der gleichen Bürger selbst, denn die Kepräsentation durch einzelne Auserwählte begründet schon einen Vorzug und Vorrang dieser. Wo aber dennoch einzelne Beamte oder Käthe bestellt werden muszten, da zogen die Athener in der Kegel der unterscheidenden und die für besser geachteten Männer aussondernden Wahl das blinde Loos vor, welches unbeküm- mert um die höhere Einsicht und Tugend Einzelner in die gleiche Masse greift und bald diesen bald jenen hervorzieht; und damit nicht etwa der Vorzug des Amtes, wenn es an- daure, doch wieder die Beamten über die Menge erliebe, begegneten ßie «lieser Gefahr durch häufigen Wechsel der ge- loosten Würdeträger. ' Schon die Existenz von Beamten, die Gehorsam fordern, ist dem demokratischen Grundsatze der Gleichheit aller Bürger zuwider; erscheint dieselbe unentbehr- lich und unvermeidlich, 30 soll daher diese Art der Ungleich- heit durch das Loos und den Wechsel gemildert werden. Die Gleichheit nämlich, auf welcher die Demokratie beruht, ist die Gleichheit der Zahl. Ihr Ausdruck ist nicht: ,, Jedem nach seinen Verhältnissen, u sondern: ,, Einer wie der andere."5

Eine andere Consequenz dieser demokratischen Rechts- gleichheit ist der Ostracismus, bei den Griechen in offener, theilweise sogar ehrenvoller Form ausgebildet, in den neuern Demokratien nicht formel anerkannt, aber von Zeit zu Zeit

erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert.

* Ygl. Aristot. Pol. VI. 1, 8.

5 Aristoteles bezeichnet den Gegensatz Pol. V. 1, 7. und VI. 1, 6. vTo taov x«r' ccqtd-fxov clXXu {uy xr«' u^iccv.*

318 Viertes Buch. Die Statsformen.

thatsächlich , und dann zuweilen auch in schmählicher Weise geübt. Jede Verfassung musz, wenn sie bestehen soll, die mit ihrem Bestand unverträglichen Elemente ausstoszen können. Insofern ist die reine Demokratie nicht zu tadeln, wenn sie einzelne Bürger, welche durch ihre persönliche Ueberlegenheit die allgemeine Gleichheit gefährden, verbannt, wie die Athener ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben. Aber es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der demokra- tischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtigkeit der Massen, als die hervorragende Grösse einzelner Individuen erträgt.

Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen. Die unmittelbare Demokratie , wie sie vorzuglich in den grie- chischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für kleine, und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter frommer Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende Völker- schaften geeignete.'1 für höhere Culturvölker und reichere Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der erstem VoTMssetznng erseheini sie sowohl natürlicher als ge- mflszigter, unter der letzteren dagegen zur Cebertreibnng und Schrankenlosigkeit geneigt Die Freiheit, welche sie ver- Bpricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel- losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be- ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine GtegensÜM und Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und das entschiedenste Unrecht. 7

6 Aristoteles Pol. VI. 2, I ff. führt diesen Gedanken, welcher in Griechenland eichon und spStei in der Schweiz durch die Erfahrung bewährt wurde, näher aus.

7 Sehr wahr sagt Cicero de Rep. [.26: vQuuni omni« per popuhui geruntur quamvis justum atque moderatum, tarnen ar/fiinhilitas eil iwiqua, quum kabeai miUo$ grodus dignitatü

Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (modernej Demokratie. 319

Neuntes Capitel.

B. Die repräsentative (moderne) Demokratie.

Die unmittelbare Demokratie hat sich nur ganz ausnahmsweise auch in der modernen Welt erhalten, unter besonders günstigen Verhältnissen, und überdem in Vergleich mit der athenischen Form sehr gemäszigt und gemildert; so vorzüglich in den Bergkantonen der Schweiz, wo noch alljähr- lich die Landsgemeinde aller freien Männer zusammentritt, und die obersten Aemter und Worden der schlichten Kepublik gewöhnlich aus den angesehensten Familien des Landes, durch jubelndes Handmehr besetzt, und die Gesetze sanctionirt, die vor. den Käthen vorbereitet sind. Diese einfachen von der Strömung des europäischen Lebens bis auf unsere Zeit wenig berührten Demokratien sind in der Tliat durch ihr mehr als fünf hundertjähriges Alter, durch eine an männlichen Zügen reiche, nur selten durch Gewalttaten befleckte Geschichte und durch die Bewahrung schlichter Sitten und eines friedlichen und glücklichen Daseins ehrwürdig. Aber selbst da ist in neuerer Zeit die Richtung, diese Demokratie in eine reprä- sentative umzuwandeln, eingesehlagen worden, und die De- mokratien der übrigen schweizerischen Kantone, wie die der Vereinigten Staten von Nordamerika haben alle einen repräsentativen Charakter. Wo heut zu Tage de- mokratische Parteien sich regen, streben sie fast überall der repräsentativen Form der Demokratie als ihrem Ideale nach. Auch das demokratisch bewegte Frankreich der Jahre 1793 und 1848 hatte diese Verfassung gewählt. Man darf daher wohl die repräsentative Demokratie für die moderne Form dieser Art des States erklären.

1. Die moderne Demokratie hat durchweg eine breitere Grundlage als die antike, gerade deszhalb aber auch meh- rere Stufen der Ausübung politischer Rechte. Der vierte

320 Viertes Buch. Die Statsformen.

Stand war im Alterthum gewöhnlich eine Sclavenbevölkerung, in neuerer Zeit aber wird auch er zu dem demokratischen Volke gerechnet. Aus gleichem Grunde kann auch unmöglich jeder für gleich fähig angesehen werden, die Statsgeschäfte zu besorgen; und wenn auch allen Bürgern aller Classen in der repräsentativen Demokratie der Zutritt zu den Würden und Aemtern des States eröffnet wird, so ist doch das Loos als ein Mittel die Einzelnen zu Würdeträgern und Beamten zu bezeichnen, überall verworfen, und die aristokratische Form der Wahl allgemein eingeführt worden. Ich sage, nach dem Vorbild der Alten, mit Absicht: die ,, aristokratische" Form der Wahl, denn sie setzt die Unterscheidung und den Vorzug der Bessern und Fähigem vor der Menge, d. h. die Ungleichheit voraus. Es ist somit die repräsentative Demo- kratie immer ermäszigt durch das aristokratische Element einer auserwählten Minderheit, durch eine Wahlari- stokratie,1 welche zwar das Volk als das höhere und herr- schende anerkennt, aber in der Regel doch in dessen Namen über die Menge die Herrschaft ausübt.

Eine andere Aristokratie dagegen, als diese durch wech- selnde Wahlen aus dem gleichberechtigten Volke hervorgezo- gene Minderheit, wird in keinem dieser Staten mehr anerkannt. Die Patriciate in den schweizerischen Kantonen Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern, welche in den letzten Jahrhunderten einen abgeschlossenen und erblichen Herrscher- stand bildeten, sind seit der helvetischen Revolution von 1798 ihrer Vorrechte entkleidet und aufgelöst worden. Den Stadt- bürgern, welche in andern Kantonen, in Zürich, Basel, Schaffhausen früherhin ebenso als abgeschlossene Corpora- tion die souverainen Rechte der Städte über die groszentheils erkauften Herrschaften und Municipalstädte der Landschaften ausübten, sind von dem nämlichen Zeitpunkte an die Land-

1 Vgl. K. S. Zachariä XL Bücher vom State. Buch 18. Abth. 2.

Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 321

bürger als gleichberechtigte Statsbürger zur Seite getreten. Diese beiderlei Evolutionen waren durch veränderte Verhält- nisse nicht minder als durch veränderte Eechtsbegriffe gerecht- fertigt. 2

In Nordamerika hatten schon die ersten europäischen Pflanzungen einen demokratischen Charakter. Die wenigen vereinzelten Individuen, welche zum englischen Adel gehörten, kamen nicht in Betracht neben der Masse der bürgerlichen und bäuerlichen Einwanderer, welche sich in den weiten Län- dern niederlieszen und Eigenthum erwarben. Eine demokra- tische Gemeinde Verfassung und Gemeindefreiheit war die Grund- lage der politischen Institutionen der neuen Staten. Nur in den südlichen Colonien ward durch die Einführung der Neger ein Gegensatz der Bässen begründet, diese aber als Sclaven von allen politischen Rechten ausgeschlossen. Die Gegensätze des Reichthums und der Armuth, der Bildung und der Un- bildung wurden in der Folge freilich auch sichtbar, aber sie wurden durch häufigen Wechsel in den Familien und Personen durcheinander gewürfelt. Die Gleichheit der Verhältnisse blieb bisher ein vorherrschender Charakterzug des Volks. In- dessen legten die reinsten Republikaner wie Washington fort- während einen hohen Werth auf die Eigenschaften eines Gent- leman, wenn es sich um Besetzung der Aemter handelte, und nahmen so factische Rücksicht auf die natürlichen aristokra- tischen Elemente der modernen Welt.3

In dem demokratischen Frankreich hatten sowohl die von Alters her überlieferten, als die neu entstandenen aristo- kratischen Bestandteile und Bildungen der Nation dem Hasse der Revolution und der in den Sitten weniger als in den Be-

2 Mediationsacte Ton 1803. XX. 3: „II n'y a plus en Suisse ni pays sujets, ni Privileges de lieux, de naissance, de personnes ou de familles." Bluntschli schweizerisches Bundesrecht I. S. 474. Bundes- verf. von 1848. §. 4,

3 Tocquevüle de la democratie en Amerique. Tom. I. Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 21

322 Viertes Buch. Die Statsformen.

griffen des französischen Volkes allgewaltigen Gleichkeitsidee weichen müssen.

2. Einzelne wichtige Dinge werden indessen anch in der repräsentativen Demokratie gewöhnlich nicht an die Kepräsen- tanten des Volkes übertragen, sondern bleiben der unmittel- baren Thätigkeit der Bürgerschaft selbst vorbehal- ten. Dahin gehören:

1) die Abstimmung über Verfassungsgesetze. In der Schweiz ist der Grundsatz, dasz Verfassungsgesetze der Zustimmung der Mehrheit aller Bürger bedürfen, seit dem Jahr 1830 ziemlich allgemein anerkannt, wobei übrigens nach der richtigen Hechnung die Bürger, welche sich der Abstim- mung enthalten, nicht gezählt werden.4 In den nor damer i- kanischen Republiken dagegen kommt anstatt der Abstim- mung durch die ganze Bürgerschaft, auch die Abstimmung durch eine zu diesem Behuf gewählte, zahlreiche Repräsen- tation derselben (Convent, Verfassungsrath) vor;

2) zuweilen auch die Abstimmung über andere Gesetze, entweder in der positiven Form der Sanction, so dasz dieselben erst durch die Annahme von Seite der Bürgerschaft Gültigkeit erlangen, oder in der negativen Form des Veto, so dasz der Bürgerschaft die Befugnisz zusteht, den von dem repräsentativen Körper beschlossenen Gesetzen durch ihre Ein- sprache die Gültigkeit zu versagen. Wo die letztere Form gilt, da werden nur die verneinenden Bürger gezählt, und ist das Gesetz verworfen, wenn ihre Zahl die Hälfte der Gesannnt- bürgerschaft übersteigt. Nach der ersteren Form werden nur

4 Verfassung von Zürich §. 93: „Wird der Vorschlag (einer Ver- fassungsänderung nach wiederholter Berathung durch den groszeo Ruth) angenommen, so ist das dieszfällige Gesetz noch der gesummten Bürger- schaft des Kantons zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.1* Seh wo lli r. Bundesverf. von 1848. Art. 6: „Der Bund übernimmt die Gewährleistung (der Kantonalverfassungen), insofern sie c) vom Volke angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt."

Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 323

die abstimmenden Bärger gerechnet, und die Mehrheit derselben bestimmt die Annahme oder die Verwerfung. Beide Institute sind der reinen Demokratie entlehnt. Beide haben daher auch für die den Massen weniger verständlichen Bedürfnisse einer höhern Cultur ihre Gefahren, und geben leicht zu Agitationen der Menge Veranlassung. Sie werden in einzelnen Kepräsen- tativdemokratien der Schweiz geübt.

3) Die Wahlen der Mitglieder des gesetzgebenden Körpers. Meistens ist bei diesen Wahlen das mathematische Princip gleicher Wahlkreise und der bloszen Kopfzahl der Wahlart zu Grunde gelegt, seltener organische Gliederungen, wie z. B. die Gemeinden. Die Vertretung wird daher gewöhn- lich unvollständig und allzusehr von bloszen Parteirichtungen bestimmt. Es ist das indessen ein Fehler, welcher mit der repräsentativen Demokratie keineswegs nothwendig verbunden ist, noch bei ihr allein vorkommt. Die Wahl der Kammern in der neuen constitutionellen Monarchie leidet häufig an dem- selben Uebel.

3. Die regelmäszige Ausübung der höchsten Statsgewalt wird gewöhnlich den groszen Kepräsenta- ti wer Sammlungen zugeschrieben, welche so als die vor- züglichste und umfassendste Stellvertretung des souveränen Volkes gewählt sind.

Im Mittelalter waren die groszen Käthe in den schweizerischen Städtekantonen, und die Landräthe in den Ländern nur eine Erweiterung der eigentlichen Käthe, in welchen die Obrigkeit der Stadt oder des Lan- des concentrirt war, eine Erweiterung durch Ausschüsse der Bürger und Landleute für die wichtigeren Angelegenheiten, in den Städten namentlich auch für die Gesetzgebung. In der neuern Zeit aber sind die groszen Käthe von den Kegierungen getrennt, über diese gestellt, und zu dem beauftragten Träger der Souveränetät erhoben worden.5 Eine ähnliche Stellung

5 Zürcherverfassung von 1831. §.38: „Die Ausübung der hoch -

21*

324 Viertes Buch. Die Statsformen.

nimmt in der schweizerischen Bundesverfassung die aus zwei Räthen bestehende Bundesversammlung ein, der Bundes- regierung gegenüber. 6

In Nordamerika besteht der Nationalcongresz und der gesetzgebende Körper der Eiuzelstaten aus zwei Kammern, die noch schärfer von der Regierung getrennt sind, und in ihrer Vereinigung in der Regel wieder die gesetz- gebende Gewalt ausüben.

4. An der eigentlichen Regierung nimmt das Volk selbst da nicht mehr unmittelbaren Antheil in neuerer Zeit, wo sich für die Gesetzgebung die reine Demokratie erhalten hat. Dieselbe wird in allen neuern Demokratien nicht von dem Volke selbst, sondern im Namen des Volkes, und somit durch beauftragte Stellvertreter des Volkes ver- waltet. In den einen Ländern hat sich indessen das Volk doch die Wahl des Hauptes der Regierung selber vorbehalten. In den nordamerikanischen Freistaten werden die Statthalter ge- wöhnlich von der gesammten Bürgerschaft gewählt, ebenso die Statsräthe von Genf. 7 In andern dagegen ist die Wahl dem gesetzgebenden Körper übertragen, der somit auch darin das Volk repräsentirt, dasz er die obersten Aemter bestellt. Dem letztern System huldigen die meisten schweizerischen Republiken, deren grosze Räthe die Regierung und das oberste Gericht bestellen, und einige Einzelstaten Nordamerika^. Nach dem ersteren System ist die Regierungsgewalt offenbar selbständiger

sten Gewalt nach Vorschrift der Verfassung ist einem öroszen Rathe übertragen. Ihm steht die Gesetzgebung und die Oberaufsicht über die Landesverwaltung zu. Er ist Stellvertreter des Cantons nach auszen." Cherbuliez, de la demoeratie en Suisse. II. S. 35 ff.

6 Bundesverfassung von 1848. §. 60: „Die oberste Gewalt des Bundes wird durch die Bundesversammlung ausgeübt, welche aus zwei Abtheilungen besteht: a) aus dem Nationalrath, b) aus dem Ständcrath."

7 Ebenso war es nach der französischen Verfassung von 1848. Art. 43: „Le peuple frangais delegue le pouvoir executif u un citoyen qui reeoit le titre de president de la Republique." Tocquevüle de la demoeratie en Amerique. Tom. I.

Neuntes Capitel. B. Die repräsentative (moderne) Demokratie. 325

und mächtiger, zumal im Verhältnisz zu dem gesetzgebenden Körper, weil die Vertreter derselben nicht minder als dieser, in gewisser Beziehung sogar in höherem Masze das persönliche Vertrauen des Volkes für sich haben; nach dem letztern da- gegen ist die Eegierung abhängiger von dem gesetzgebenden Körper, dem sie ihr Dasein zu verdanken hat. Es läszt sich daher auch eher nach jenem als nach diesem eine wechsel- seitige Beschränkung je der einen Repräsentation des Volkes durch die andere ausbilden.

5. Die Rechts pflege wird zwar wieder im Namen des Volkes gehandhabt, die Richter aber, für welche besondere wissenschaftliche Eigenschaften erfordert werden, werden in der Regel nicht von dem Volke selbst, sondern entweder wie in Nordamerika und in dem demokratischen Frankreich von der Regierung oder wie in der Schweiz von den groszen Käthen bezeichnet. Einen unmittelbaren Theil an der Verwaltung der Rechtspflege nimmt das Volk in der Geschw ornen Ver- fassung, indem die Geschwornen aus der Masse der Bürger durch wechselndes Loos bestellt werden.

6. Von besonderer Bedeutung ist in allen repräsentativen Demokratien die Gemein de Verfassung. Sie bildet den soliden Unterbau der ganzen Statsordnung. In den Gemeinden werden die Bürger zur Theilnahme an den öffentlichen Ange- legenheiten, zur Selbstverwaltung und zu bürgerlicher Freiheit erzogen. Da wird es auch wenigstens in kleineren und vorzüglich in den Landgemeinden noch möglich, dasz die Bür- ger zur Gemeindeversammlung zusammen treten. In den gröszern vorzüglich den Stadtgemeinden tritt auch da eine Repräsentation der Bürgerschaft an die Stelle der Gemeinde- versammlung. Sowohl die schweizerischen als die nordameri- kanischen Republiken beruhen geschichtlich auf einer freien Gemeindeverfassung; und wenn das in Frankreich anders ist, so ist das zugleich ein Zeichen, dasz der französische Stat wenig Anlage zur Republik hat.

326 Viertes Buch. Die Statsformen.

Abgesehen also von der immerhin beschränkten unmittel- baren Ausübung der Volks herrschaft ist in der repräsentativen Demokratie die Kegel die, dasz das Volk nur durch seine Beamten regieren und durch seine Stellvertreter die Gesetze geben und die Controle über die Verwaltung des States besorgen läszt. Insofern nähert sich diese mo- derne Statsform schon bedeutend den Staten an, in welchen der Gegensatz des Regenten und der Regierten ausgebildet erscheint.

Zehntes Capitel.

Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie.

Montesquieu hat bekanntlich die Tugend für das Princip der Demokratie erklärt. Die Tugend aber setzt als politisches Princip moralische Würdigung der Herrschenden und nicht die Gleichheit Aller voraus, und jene finden wir keines- wegs in der reinen Demokratie anerkannt. Nur das ist wahr: ein gewisses Masz von Tugend der Volksmasse ist ein unent- behrliches practisches Erfordernisz einer guten Demokratie, dessen Mangel sofort den Verfall dieser Statsform nach sich zieht. Eher läszt sich behaupten, dasz die Tugend in der Repräsentativdemokratie zum politischen Princip erhoben worden sei, denn in der That in dem Princip der auserwählten Repräsentation liegt nicht allein eine Ermäszi- gung, sondern zugleich eine Veredlung der Demokratie, durch welche diese die Vorzüge auch der aristokratischen Form sich anzueignen sucht.

Das Princip deselben ist: Die Besten des Volkes sollen in dessen Namen und Auftrag regieren. Die grosze Schwierigkeit aber liegt darin, die Wahl so zu orga- nisiren, dasz wirklich die Besten an Gesinnung und Einsicht zu Repräsentanten der Volksherrschaft gewählt werden.

Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 327

Man ist in unserer Zeit geneigt, diese "Wahlen einfach nach Maszgabe der Kopfzahl der Wahlen zu vertheilen. Diese Neigung entspricht dem demokratischen Zuge der Zeit; denn in der That die Demokratie legt auf die Gleichheit Aller einen entscheidenden Werth und gelangt daher in ihren Einrichtungen leicht zu mathematischen Normen. Sie zählt die gleichen Bürger, und nach ihrer Zahl sucht sie ihnen gleiche Eechte beizulegen.

Indessen paszt dieses System der Kopfzahl offenbar besser zu der unmittelbaren Demokratie, welche auch die Ausübung der Herrschaft gleichmäszig über die ganze Bürgerschaft ver- breitet, als zu der Kepräsentativdemokratie, welche unter den Bürgern nach ihrer höheren oder geringeren Würdigkeit unter- scheidet und nur den Bessern die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten anvertraut. Die letztere Statsform nimmt auf die Qualität der Gewählten Kücksicht, und eben darum ist es für sie nicht ebenso natürlich, bei der Yertheilung der Wahlkreise nur die Quantität in Anschlag zu bringen. Ueber- dem werden die Gebrechen dieses Princips in der repräsen- tativen Demokratie bedeutend gesteigert. Wenn in der un- mittelbaren Demokratie die gesammte Bürgerschaft an einem Orte beisammen ist, so ist diese Versammlung doch in Wahrheit nicht eine blosze Summe von einzelnen gleichen Individuen, sondern es macht sich in der Masse die Autorität der ange- sehensten Männer geltend; die Magistrate, die Kedner, die über das Niveau emporragen, üben einen Einflusz aus, und es kann sich eher auch in der Mehrheit eine Meinung bilden, welche dem Volke als einem Ganzen nach seiner wahren Natur entspricht. In der repräsentativen Demokratie dagegen ist das Volk nicht so vereinigt, sondern die Bürgerschaft wird in so und so nele Parcellen zertheilt, welche der Kopfzahl nach zwar einander gleich sind, wenn aber auf ihre Eigenschaften gesehen wird, in einem sehr verschiedenen Verhältnisz zu der Gesammtheit stehen, mithin sehr ungleiche Theile

328 Viertes Buch. Die Statsformen.

des Volkes sind. Wer wollte den Wahlkreis von Paris, in welchem die reichsten und gebildetsten Theile der Bevölkerung, dann die zahlreichen Schichten der einfachen Bürger (Krämer, Handwerker), ferner der Arbeiter und endlich auch eine Masse von Pöbel, wie er sonst in Frankreich nirgends mehr sichtbar ist, auf unnatürliche Weise gemischt sind, ohne sich zu einigen, und die ländlichen Wahlkreise der Bretagne oder die Fabrik- bezirke der Elsasz wirklich für gleich halten? Die Verschieden- artigkeit der Wahlkreise aber erfordert logisch schon eine ver- schiedene Werthung ihres Stimmrechtes ; und nur diejenige Anordnung und Yertheilung der Wahlen bürgt für eine richtige Repräsentation des Volkes selbst, welche jedem der verschie- denen Bestandteile und Interessen in dem Volke eine seinen Verhältnissen zum (ranzen gemäsze Ver- tretung sichert. Die Rücksicht auf die Zahl hat allerdings auch einen Werth, aber sie allein genügt nicht ; vielmehr müssen die übrigen Eigenschaften, wenn die Aufgabe ist, je die Besten zu Repräsentanten der Gesammtheit zu erheben, des Vermögens, der Bildung, der Berufs- und Lebensweise ebenfalls berücksichtigt werden; und am besten ist es. wenn das in An- lehnung an organische Eintheilungen des Volkes selbst, im Gegen- satze zu willkürlieh zusammengewürfelten Massen geschieht

Wir können daher für die Repräsentativdemokratie fol- gende zwei Grundsätze aussprechen :

1. Da wo in ihr die Gesammtheit der Bürger selber han- delt, bei Abstimmungen, welche durch »las ganze Volk hin- durch gehen, genügt die einfache Zählung der abstimmenden Bürger, wie bei der unmittelbaren Demokratie.

2. Wo dagegen nicht die Gesammtheit handelt, sondern nur Theile derselben die Bessern zu Repräsentanten für das Ganze erheben sollen, da genügt das Princip der Kopfzahl nicht, sondern es sind die Theile mit Berücksichtigung auch der Qualität so zu bilden, dasz möglichste Garantie* für die Auswahl der Besten und in richtiger Proportion der in dem

Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 329

Volke vorhandenen geistigen, sittlichen und materiellen Lebens- elemente gegeben ist.

Das Eigentümliche der Repräsentativdemokratie besteht darin, dasz die Herrschaft im State der Mehrheit zu eigenem Kecht zugeschrieben, die Ausübung dieser Herr- schaft aber einer Minderheit anvertraut wird. Um es mög- lich zu machen, dasz die Minderheit wirklich im Sinne der Mehrheit regiere, behält sich diese den Entscheid über die Personen, die in ihrem Namen handeln sollen, vor, und wer- den die Wahlen der Repräsentanten nach kurzen Zeiträumen erneuert.

Es wird von der Verfassung anerkannt, dasz die Mehrheit der Bürger die Musze und die Fähigkeit nicht habe, die Selbstregierung, die sie als ihr natürliches Recht in Anspruch nimmt, auch tatsächlich auszuüben. Aber es wird der Mehr- heit so viel Interesse an dem Stat und so viel Einsicht zuge- schrieben, dasz sie sich bei den Wahlen betheilige und die tüchtigsten Männer für die Repräsentation zu finden wisse.

Die Verfassung ermäszigt verglichen mit der unmittel- baren Demokratie ihre Anforderungen an die Bürgerschaft, aber sie steigert ihre Ansprüche an die Repräsentanten. Sie stützt sich noch auf das Selbstgefühl der freien und wesent- lich gleichen Bürger, aber sie vertraut zugleich , dasz diese sich bescheiden werden, die Bessern aus ihrer Mitte zu wäh- len, und dasz Alle sich willig von den gewählten Repräsen- tanten regieren lassen werden , freilich nur so lange , als die- selben das Vertrauen der Mehrheit der Wähler behalten.

Durch die öfteren Wahlen werden die Regierenden ab- hängig gemacht von den Regierten und dennoch sollen in- zwischen diese jenen Gehorsam leisten. Die Autorität der Regierung ist daher verhältniszmäszig schwach, die Freiheit der Regierten besser bedacht. Die obersten Magistrate werden weniger als Häupter der Republik geehrt, als vielmehr als Diener der Menge betrachtet und behandelt. Obwohl nach

330 Viertes Buch. Die Statsformen.

dem Ausdruck von Guizot, jeder Stat nur von oben herab und nicht von unten herauf regiert werden kann, so will doch diese Statsform möglichst den Schein wahren, als ob in ihr von unten aufwärts regiert werde. Die Regierung bekommt daher leicht das Gepräge einer bloszen Verwaltung und der Stat das Gepräge einer ausgedehnten Wirth schaff, einer groszen Gemeinde.

Am wenigsten zeigt sich übrigens diese Schwäche der Autorität in dem gesetzgebenden Körper, vielmehr liegt da die entgegengesetzte Versuchung nahe, dasz sich die Volks- vertretung mit dem Volke selbst identificire und sich von dem Wahne der Omnipotenz berauschen lasse. Aber nur sehr schwer gelingt es der Regierung in der Repräsentativdemo- kratie eine starke Autorität zu bethätigen. Der öftere "Wech- sel der Wahlen macht ihre Stellung unsicher und von der veränderlichen Volksstimmung abhängig. Sie ist nur mächtig, wenn sie von dem Beifall der Mehrheit getragen wird und ohnmächtig, wenn s;e diese gegen ihre Neigung leiten und bestimmen will. Weit aussehende Pläne kann sie nur dann verfolgen, wenn dieselben den Tnstincten oder Gewohnheiten des Volks entspringen und darin die Bürgschaft ihrer Dauer liegt.

Die Regierungsorgane erscheinen durchweg in bescheide- ner, bürgerlicher Gestalt. Der Glanz der Majestät oder der höheren Dignität, mit dem sich die Monarchie und die Ari- stokratie umgibt, ist der Repräsentativdemokratie fremd und zuwider. Die höfische Diplomatie mit ihrer Kunst und Formen gedeiht nicht auf diesem Naturboden. Auch da zieht sie die einfachere Vertretung durch Geschäftsträger und Consuln vor. Ein groszes stehendes Heer ist mit ihr geradezu unverträglich. Es wäre eine stete Bedrohung ihrer Sicherheit und ihrer Frei- heit. Dagegen bedarf sie einer breiten und tüchtigen Volks- und Landwehr. Weniger ausgebildet ist in ihr die Concen- tration aller Kräfte als die Selbstbestimmung und freie' Bewe- gung aller Theile.

Zehntes Capitel. Betrachtungen über die Repräsentativdemokratie. 331

Alle Anstalten, welche der groszen Menge dienen, sind in ihr durchweg gut, oft vortrefflich bestellt. Wir finden in den Demokratien meistens zahlreiche gemeinnützige und wohlthätige Anstalten, gute Straszen und Verkehrsmittel, zahl- reiche Volksschulen , muntere Volksfeste u. s. f. , und dabei weniger bureaukratische Plage als anderwärts.

Dagegen bedarf es gröszerer Anstrengung, als in andern Verfassungen, damit der Stat auch für die höheren Bedürfnisse der Kunst und der Wissenschaft sorge. Es ist ein Zeichen einer hohen Civilisationsstufe , auf die ein Volk sich empor- gearbeitet hat, wenn es durch die Befriedigung auch dieser Dinge, die dem allgemeinen Verständnisz ferner stehen, sich selber ehrt; und nur die gebildete Einsicht weisz den Werth zu schätzen, welchen die Pflege dieser geistigen Güter auch für die allgemeine Volkswohlfahrt hat.

Das Bewusztsein männlicher Freiheit, welches die ganze Verfassung hervorgebracht und darin einen Ausdruck gefunden hat, hebt die zahlreichen Mittelclassen, auf die sie vornehm- lich gestützt ist, empor, steigert durch mittelbare oder un- mittelbare Uebung in Statssachen die geistige Entwicklung und kräftigt den Charakter der Bürger. Die allgemeine Vater- landsliebe hat hier eine breite Unterlage und einen weiten Spielraum; und in Krisen zeigt sich die freie Bürgerschaft auch zu groszen Opfern bereit. Weniger bietet die Verfassung den aristokratischen Naturen Gelegenheit zu freier Entfaltung, und diesen gegenüber verhält sich das Volk oft misztrauisch oder feindlich. Aber auch solche Naturen können unter der Voraussetzung Achtung ihrer Persönlichkeit erwerben, dasz sie ihrerseits nicht durch hochmüthige Anmaszung das Gefühl der Kechtsgleichheit verletzen und in gemeinnütziger Hingabe für das gemeine Beszte mit den Beszten der Demokraten wetteifern.

Anmerkung. Robert v. Mohl hat gegen die obige Behauptung, dasz für die repräsentative Demokratie das Princip der Volkszahl keine absolute Geltung verdiene, eingewendet (Encyclop. S. 346.): »So richtig

332 Viertes Buch. Die Statsformen.

im Allgemeinen die Ansicht ist, dasz die Befugnisz, an einer statlichen Wahl Antheil zu nehmen, nicht vom Standpunkt des persönlichen Rechtes aufgefaszt, sondern als ein Auftrag oder als ein Amt betrachtet werden musz, so verhält sich diesz doch ganz anders in der Yolksherrschaft durch Vertretung. In der Volksherrschaft geht man überhaupt von dem angeborenen Rechte des Einzelnen, an der Regierung Theil zu nehmen, aus." Ich gebe zu, die moderne demokratische Lehre, wie sie von Rous- seau hauptsächlich vertraten wird, sieht das Yerhältnisz so an. Gerade deszhalb ist sie aber noch in der Mischung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts befangen und ihr Gesellschaftsstat ist nichts an- deres als der auf den Kopf gestellte Patrimoni aistat. Indem man sich der Einheit des Volks im Gegensatz zu der Summe der Bürger bewuszt wird, kann sich auch der Irrthum jener Theorie nicht mehr verbergen. Kein Wähler hat von der Natur sein Wahlrecht erworben, sondern Jeder hat es von dem State empfangen. Alle Wahlorganisation ist Statseinrichtung zu öffentlichen Zwecken.

Eilftes Capitel.

III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. Sparta.

Wie Athen im Alterthum als der höchste Ausdruck der Demokratie, so galt Sparta bei den Hellenen als die aus- geprägteste Erscheinung der Aristokratie. Im all- gemeinen hatte der hellenische Volkscharakter eher eine Nei- gung zur demokratischen als zur aristokratischen Statsform; nur im Verhältnisz zu den Barbaren des Auslandes liebten die Hellenen es, sich als geborne Aristokraten zu betrachten. Der dorische Volksstamm ' aber, zu welchem die Spartiaten ge- hörten, zog auch für seine innern Statseinrichtungen aristo- kratische Formen und Tendenzen vor.

Alle Aristokratie setzt in ihrem idealen Princip Herr- schaft der edleren Bestand theile des Volkes über die untergeordnete Menge voraus. Die Art aber wie diese* edleren Bestandteile gemessen und emporgehoben werden, ist in den

Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellen. Form. Sparta. 333

verschiedenen Staten dieses Charakters verschieden. In Sparta war der Stamm der Spartiaten, welche das Land mit den Waffen erobert hatten, der herrschende. Ihre Unterthanen waren die alten besiegten Einwohner des Landes, die Perioiken, Lakedämonier. Die Geburt bezeichnet somit schon den herr- schenden und den unterthänigen Stamm. Die ersten Eroberer des Landes setzten so die Herrschaft, welche sie durch die Ueberlegenheit ihrer Waffen erworben hatten, fort, indem sie dieselbe durch alle folgenden Generationen auf ihre Nach- kommen vererbten. Das politische Erbrecht, ein charak- teristischer Zug aller alten Aristokratien, hatte in diesem Streben der Erhaltung einen natürlichen Ursprung, und war zu einem Grundprincip des ganzen States geworden.

Diese erbliche Herrschaft der Spartiaten als des edleren Stammes wurde nicht durch Uebergänge gemildert. Die Aus- scheidung der Spartiaten und der Metoiken blieb schroff und starr, in der That kastenartig ohne Ehegenossenschaft. Nur ganz ausnahmsweise und äuszerst selten wurde etwa Einer von diesen in das volle Bürgerrecht jener aufgenommen. Der herrschende Stamm wurde somit nicht erfrischt durch neue Familien, und der unterthänige nicht durch die Aussicht ge- tröstet, dasz die besten seiner Söhne durch ihr Verdienst hinaufsteigen können zu den Leitern des States. Diese Aus- schlieszlichkeit erscheint um so befremdender und drückender, je weniger ängstlich in anderer Beziehung die Spartiaten die Reinheit des Blutes wahrten; lieszen sie es doch von Stats- wegen geschehen, dasz spartanische Frauen, deren Männer im Kriege gefallen waren, der Umarmung von Heloten preisgege- ben wurden, um spartanische Kinder zu empfangen.

Desto sorgfältiger aber wurde die Erziehung geordnet. Der Vorzug der Geburt sollte durch die Erziehung ergänzt, und durch beide die Ueberlegenheit der Spartiaten erhalten werden. Die Sorge des States für eine politisch-kriegerische Erziehung der Jugend war so umfassend und eingreifend, dasz

334 Viertes Buch. Die Statsformen.

um ihretwillen selbst der Zusammenhang und die Freiheit der Privatfamilien aufgelöst und geopfert wurde. Das individuelle Leben wurde nirgends in dem Masze dem Statsleben unter- worfen, und die Allmacht des States nirgends weiter getrieben als in Sparta : als wäre wirklich der Mensch nur für den Stat in der Welt.

Unter sich waren die Spartiaten wieder zunächst gleich- berechtigt, und so sehr war innerhalb der Aristokratie die demokratische Gleichheit anerkannt, dasz sogar gleiches Vermögen aller spartanischen Familien ein Grundzug der lykurgischen Verfassung war. Jede Familie hatte ein gleiches Loos (xXfjQog) an dem zum Privatbesitze vertheilten Boden des Landes erhalten, und die Loose sollten nicht veräuszert werden dürfen. Damit aber das bewegliche Vermögen nicht sich bei Einzelnen ansammle und auf diese Weise der Unter- schied der Reichen und der Armen entstehe, wurde sogar jeder Gebrauch von Silber nr.d Gold verboten. Die Heloten, welche die Landgüter der Spartiaten bebauten, waren nicht imEigen- thum der einzelnen Herren, sondern wie die Güter selbst in dem Eigenthum des States: und der Zins an Früchten, den sie entrichteten, war gesetzlieh und gleichmäszig für die Her- ren und hinwieder für die Frauen des Hauses bestimmt. Selbst die Mahlzeiten, allen Männern gemeinsam, welche in vielen Tischgenossenschaften beisammen lauen, waren für alle gleich- artig bestimmt und zugemessen. Die Gleichheit des Le- bens war somit unter den aristokratischen Spartiaten sehr viel ausgebildeter und fester begründet als bei den demokra- tischen Athenern.

Dessen ungeachtet übte der Stamm der Spartiaten seine Herrschaft nicht in demokratischer Form aus. Es wäre das im Widerspruch gewesen mit dem Charakter des States und des Volks. Wohl gab es auch zu Sparta eine Volksversamm- lung (txxAqcna); aber die reale Macht war nicht bei dieser, sondern bei der Gerousie. Diese behandelte und entschied

Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellen. Form. Sparta. 335

die Statsgeschäfte in der Regel, und unterwarf nur in einigen Hauptfällen ihre Entscheidungen noch der einfachen Genehmi- gung oder Verwerfung der Volksgemeinde, in welcher nur die Könige, die Geronten und Ephoren , nicht jeder reden, und nur Männer von gereifter Lebenserfahrung (von mindestens 30 Jahren), nicht junge Leute stimmen durften.

Bei der Bestellung des Senats, der Gerousie, wurden wieder folgende aristokratische Rücksichten beachtet:

1) Auf das Geschlecht. Die 9000 spartiatischen Kle- ren und vollberechtigten Hausväter waren in 30 Oben ge- theilt, welche füglich mit den römischen Curien verglichen werden können. Aus jeder Obe wurde Einer zum Geron er- hoben. Die beiden Könige gehörten den zwei königlichen Oben an, die 28 übrigen Geronten, welche mit jenen zusammen den Senat bildeten, waren gewissermafzen ihre Pairs, die Fürsten.1 Diese Rücksicht wirkte negativ gegen die Ueber- macht blosz einzelner Geschlechter, positiv für die Würde und Stellvertretung der verschiedenen Familien.

2) Auf das Alter. Dem hohen Alter widmeten die Spartiaten die gröszte Ehrfurcht. Sie verehrten in ihm die Grundbedingung der höchsten Lebensweisheit. Die Geronten auszer den Königen muszten wenigstens 60 Jahre zu- rückgelegt haben. Immerhin scheint diese Kücksicht über- trieben in der Verfassung; denn auch die Schwäche ist ein gewöhnlicher Begleiter des Alters, und der Stat bedarf zu seiner Leitung nicht blosz der Erfahrung der Greise, sondern vornehmlich auch der vollen produetiven Kraft und Geistes- frische der Männer.

3) Auf die Wahl, welche nach vorheriger Bewerbung der Candidaten durch die Volksversammlung, durch die Stärke des Beifallsrufes vorgenommen wurde. In der Bewerbung um diese hohe Würde sprach sich die Ueberzeugung der Greise

1 Homer noch nennt die Rätlie des Königs ^ßaoLXees."

336 Viertes Buch. Die Statsforrnen.

aus, dein State noch gute Dienste leisten zu können, und der Wille derselben, ihr noch übriges Leben dem State zu weihen, in dem Beifall der Versammlung aber das Vertrauen des Volkes.

4) Auf die Dauer des Amtes, welches auf Lebenszeit verliehen wurde, somit vor den Schwankungen der Volksgunst gesichert, aber auch der Gefahr einer bis zur Ausschwächung festgehaltenen Stabilität ausgesetzt war.

Ermäszigt war diese Aristokratie theils durch das König- thum, welches aus derselben emporragte und in höherer Weise die Einheit und Würde des Stats darstellte, theils durch das demokratische Amt der Ep hören, welche als wechselnde Organe des Volkes die Amtstätigkeit der Könige und des Senates controlirten und eine ausgedehnte Gerichtsbarkeit auch in Statssachen ausübten.

Die Verfassung von Sparta macht den Eindruck eines Kunstwerks, welches, der Platonischen Republik ähnlich, durch edle Formen den Sinn für äuszere Schönheit und Harmonie erfreut, aber um seiner innern Unnatur willen befremdet, und daher eher zurückschreckt als anzieht. Indem man sie betrach- tet, wird man eher um Bewunderung ihrer Architektur als mit der Neigung erfüllt, darin zu wohnen und zu leben. Hat man den Athenern mit Grund vorgeworfen , sie ziehen die Herrschaft der Menge einem wohlgeordneten Stat vor, so kann man den Spartiaten den Vorwurf machen, sie opfern der Stats- ordnung die menschliche Freiheit auf. Ibre Weise ist vor- nehmer als die der Athener, aber weniger heiter und behag- lich; bei ihnen ist mehr ruhiges Ebenmasz politischer Tüch- tigkeit, bei den Athenern sind glänzendere Lichter und dunklere Schatten zu finden. Die Stätigkeit der einen und die Beweg- lichkeit der andern sind beide einseitig übertrieben.

An Dauerhaftigkeit übertraf die spartanische Verfassung die Athens bei weitem. Solon hatte noch bei seinen Lebzeiten den Untergang seiner mit aristokratischen Elementen der

Eilftes Capitel. III. Die Aristokratie. A. Hellenische Form. 337

Geschlechter und des Keichthums bedeutend gemischten Demo- kratie in der Tyrannis erfahren, ohne den Sieg dieser behin- dern zu können, und als später nach der Ermordung der Ty- rannen die reine Demokratie eingeführt wurde, versank sie schon in dem ersten Jahrhundert ihres Bestandes in den offen- kundigsten Verfall. Die Verfassung Lykurgs dagegen erhielt fünf Jahrhunderte lang die Grösze Sparta1 s aufrecht, und obwohl sie den Verfall derselben nicht abzuwenden vermochte, so musz doch zugestanden werden, fürs erste dasz die Abweichung von den Verfassungsgrundsätzen Lykurgs, insbesondere der seinen Gesetzen zuwider eingeschmuggelte Reichthum Einzelner, die im Zusammenhang damit eingedrungene Bestechlichkeit Vieler und die spätere Demagogie der Ephoren, nicht aber die Fest- haltung derselben die Entartung und den Untergang Sparta's herbeigeführt habe2; fürs zweite, dasz die bewahrende Kraft dieser Verfassung um so höher geschätzt werden musz, je mehr sie auf der einen Seite mit der menschlichen Natur selbst, auf der andern mit der Macht der Weltverhältnisse in Wi- derspruch und Kampf gerieth. Einen Theil dieser unerschütter- lichen Haltbarkeit mochte sie aus dem ideokratischen Glauben des Volkes geschöpft haben, dasz sein Gesetzgeber der Liebling des Zeus und selbst ein gott-menschliches Wesen sei.

Indessen wird der ähnlichen Verfassung von Kreta und der ebenfalls aristokratischen Verfassung von Karthago nicht mindere Dauerhaftigkeit nachgerühmt, und es ist immerhin eine durch die Geschichte erwiesene Thatsache, dasz die Aristo- kratien, welche die Stätigkeit der Statsordnung zu dem Hauptprincip ihres Daseins erhoben haben, auch sich und den Stat weit länger zu conserviren verstehen, als die Demokratien die Herrschaft des Demos.

2 Laurent (II, 290.) macht darauf aufmerksam, dasz die Unver- änderlichkeit der Verfassung eine Ursache der Entvölkerung Sparta's geworden sei.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 22

338 Viertes Buch. Die Staataformen.

Zwölftes Capitel.

B. Die römische Aristokratie.

Die römische Republik war ihrem Grundcharakter nach ebenfalls eine Aristokratie, aber von höherer Art als die spartanische. Die Römer unterschieden scharf zwischen dem Rechte des States in öffentlichen Dingen und der Freiheit der Individuen und Familien. Obwohl sie voraus für die Herr- lichkeit und Macht des States den offensten Sinn und die groszartigste Hingebung hatten, so vermaszen sie sich doch nicht, das individuelle Leben gewaltsam mit der Statsscheere zuzustutzen. Sodann hielten sie sich frei von jener künstlichen und beschränkten Abschlieszung gegen alles Fremde, welche zwar die nationale Tugend der Spartiaten für einige Zeit reiner erhielt, aber dieselben auch unfähig machte, die hervorragende Stellung in der äuszern Welt zu behaupten, zu welcher sie durch das Geschick berufen wurden. Endlich waren die Römer von Anfang an frei von jener Starrheit der ständischen Gegen- sätze, wie wir sie in Sparta gefunden. Die in dem römischen Volke vorhandenen Gegensätze standen nicht unbeweglich ein- ander lähmend entgegen, sondern brachten gerade durch ihre Reibungen und Wechselwirkungen eine höhere Entwicklung des politischen Lebens hervor. Der römische Stat ist nicht minder ein Kunstwerk als der spartanische, aber einerseits der menschlichen Natur und den allgemeinen Weltzuständen gemäszer, und andererseits durch Reich thum der Bildungen und Groszartigkeit der Verhältnisse vor dem letztern ausge- zeichnet. Der römische Stat macht in hohem Masze einen organischen Eindruck.

Betrachten wir die römische Republik in ihren Hauptzügen, so finden wir überall, wenn schon durch monarchische und de- mokratische Einrichtungen ermäszigt, den aristokratischen Cha- rakter hervorragend. Es zeigt sich diesz 1) in dem Verhältnisz

Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Komische Aristokratie. 339

der Stände; 2) in der Institution der Volksversammlungen; 3) in dem Senate; 4) in den Magistraturen.

1. Yerhältnisz der Stände. Schon in der ältesten Zeit mochte der Umstand der Starrheit sowohl als der Des- potie des Patriciats entgegen wirken, dasz die römischen Pa- tricier nicht wie die Spartiaten von Einem Volks stamm ihren Ursprung herleiteten, sondern wie der englische Adel aus sächsischem und normannischem Geblüte, so von latinischem und sabinischem, th eil weise auch et ruskischem Ursprung war. Auch später besasz zwar das Patriciat noch lange als der herrschende Stamm fast alle politische Gewalt im State, aber theils wurde diese ermäszigt durch die Organisation der Plebes mit eigenen plebejischen Magistraten, theils wurde das- selbe genöthigt, der aufstrebenden neuen Aristokratie der Ple- bejer einen wachsenden Antheil an der Leitung des States zu verstatten. Endlich entstand aus der Verbindung und Mischung der alten und der neuen Aristokratie der keineswegs abge- schlossene, aber für den römischen Stat so sehr bedeutende Stand der Optimaten. '

Die Tradition der Statsleitung und die Kunde der Stats- geschäfte war, so lange die römische Kepublik bestand, vor- nehmlich in der Aristokratie. Sie zeichnete sich aus durch Geburt, Erziehung, Reichthurn, religiöse und politische Kennt- nisse, Macht. Aber sie zog fortwährend neue Kräfte aus der Plebes herbei. Sie stieg empor auf die obersten Höhen des damaligen Lebens, den Königen gleich, und über diesen, aber sie blieb zugleich in voller Gemeinschaft mit dem Volke, aus welchem sie hervorragte.

Auch die politische Erziehung der Römer war sorgfältig ; aber sie war Angelegenheit der Familien, nicht wie in Sparta des States. Daher denn auch die Mannichfaltigkeit und die erbliche Entschiedenheit der politischen Richtungen, während zu Sparta innerhalb der Aristokratie auch hierin Gleichheit

1 Vgl. oben Buch II. Cap. 10.

22*

340 Viertes Buch. Die Statsformen.

bestand. Die meisten vornehmen römischen Familien waren und blieben conservativ gesinnt; aber einzelne, wie z. B. die patricischen Yalerier und die plebejischen Publilier und Si- cinier haben vorzugsweise in liberaler Richtung gehandelt; die Claudier dagegen mit seltenen Ausnahmen sind den englischen Tories zu vergleichen.

2. Die Volksversammlungen. Von den drei Arten der römischen Comitien waren nur die jüngsten, die Tribut- comitien, demokratisch organisirt. Ihrer ursprünglichen Be- stimmung nach sollten sie indessen nur als Organ für die Stimmung und Meinung des untergeordneten Standes der Ple- bejer und als Schranke der patricischen üebermacht dienen, nicht aber an der eigentlichen Leitung des States Theil halten. Später wurden sie allerdings nicht blosz zu einem einzelnen Factor der gesetzgebenden Macht, sondern erlangten für sicli allein die volle gesetzgebende Gewalt. Aber selbst in den letzten Jahrhunderten der Republik, während welcher die alte Aristokratie in Verfall gerieth und die Monarchie vorbereitet wurde, übten die demokratischen Tributcomitien doch mir in seltenen Ausnahmsfällen, von ehrgeizigen Tribunen geleitet, eine durchgreifende oberste Macht aus. In der Regel hemmten die Tribunen selbst schon, die allein Vorschläge machen durften, und von denen je einer den andern controlirte und hindern konnte, und überdera die Rücksicht auf die mächtige Autorität des Senats jede Ausschreitung der Demokratie, und es waren daher gewöhnlich auch diese Comitien nur ein Ferment und eine Schranke der äuszerst zähen und meistens übermächtigen Aristokratie.

Die Curiatcomitien dagegen, in den ersten Jahrhun- derten der Republik noch eine bedeutende Macht, in den letzten Zeiten derselben freilich nur eine formelle Scheinmacht, waren' durchaus aristokratisch. Sie waren vornehmlich die Versamm- lung der alten, nach Geschlechtern und Curien geordneten Ge- burtsaristokratie der Patricier, der Senat selbst anfänglich ge-

Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Römische Aristokratie. 341

wissermaszen nur der Ausschusz ihrer Geschlechtshäuptlinge. Selbst wenn man annimmt, dasz die Plebejer Zutritt zu den- selben gehabt haben, so waren diese doch offenbar in unterge- ordneter Stellung anwesend.

Die wichtigste Volksversammlung endlich, der sogenannte comitiahis maximiis der Centurien, in welcher die ganze Nation zusammentrat, war so organisirt, dasz in ihr die höhern Classen der Gesellschaft das entschiedenste Ueberge wicht hatten. Die Censusverfassung legte den gröszten Nachdruck:

a) auf das Vermögen. Schon die erste Classe der Höchstbesteuerten mit ihren 80 Centurien für sich allein, wenn sie einig war und die 18 Rittercenturien mit ihr stimmten, besasz die Mehrheit aller Stimmen, so dasz ihr gegenüber die vier andern Classen und die Masse der Proletarier und Kopf- steuerpfiiehtigen zusammen, obwohl an Volkszahl jener vielfach überlegen, dennoch in der Minderheit blieben. Aber auch in den andern vier Classen hatten je die Reicheren in demselben Verhältnisz wie mehr Vermögen so auch mehr Stimmrecht; 4 Personen der zweiten Classe so viel als 6 der dritten, 12 der vierten und 24 der fünften. Die gewisz damals auch sehr zahlreichen Proletarier waren wie die noch zahlreicheren Ca- pitc Censi nur in je eine Centurie von 195 zusammengedrängt, hatten somit einen sehr geringen EinÜusz in einer Versamm- lung, in welcher die Aristokratie des Reichthums so viel galt.

b) Auch die Geburt und edler Lebensberuf kamen in Betracht, indem nach diesen Rücksichten die ersten 18 Rittercenturien gebildet und als die Edelsten an die Spitze der Versammlung gestellt wurden.

c) Sodann war den Aeltern hinwieder ein erhöhtes Stimmrecht eingeräumt als den Jüngern, indem die Centurien der erstem, den Gesetzen der Sterblichkeit gemäsz, höchstens halb so zahlreich besetzt waren als die Centurien der letztern, und doch nicht minder als diese gezählt wurden.

d) Endlich war, abgesehen von den Classen, die ganze

342 Viertes Buch. Die Statsformen.

äuszere Erscheinung und Haltung dieser Versammlung durch- aus nicht demokratisch. Die sorgfältige Beachtung der Au- spicien, die feste, militärische Ordnung des groszen Körpers, der Vorsitz der hohen Magistrate, die Einrichtung, dasz nicht Jedem verstattet war zu reden, auch keine regelmäszigenEedner anerkannt waren, sondern je nach Bedilrfnisz der Sache die zugleich mit der Ausführung und der eigentlichen Statsre- gierung betrauten Magistrate allein zum Volke sprechen und mit dem Volke verhandeln durften: das alles verlieh dieser höchsten Versammlung einen würdigen und maszhaltenden Cha- rakter, und wir begreifen es, dasz ein Römer mit einer ge- wissen vornehmen Verachtung auf die chaotische Weise und das turbulente Treiben der griechischen Ekklesien herabsehen konnte. 2

Die eigentlichenGesetze aber bedurften der Zustimmung dieser Comitien, und die für das ganze römische Statsleben entscheidenden Wahlen der höhern Magistrate waren der so aristokratisch geordneten Nation vorbehalten.

3. Der römische Senat ferner war durch seine Bildung und seine Befugnisse ein erhabenes Institut des Stats. An- fänglich aus den Häuptlingen der patricischen Geschlechter, den Fürsten (principes) bestehend und vornehmlich die Ge- burtsaristokratie darstellend, wurde er später eine Versamm- lung der durch die obrigkeitlichen Aemter erprobten römischen

2 Cicero pro Flacco. c. 7: „Nullam 1111 nostri sapientissimi et sanc- tissimi viri vim concionis esse voluerunt; quae scisceret plebes aut quae populus juberet, summota concionc, diatributis partibus, tributim et cen- turiatim descriptis ordinibus , classibus, aetatibus, auditis auctoribus, re raultos dies promulgata et cognita, juberi vetarique voluerunt. Graeco- rura autem totae res publicae sedentis concionis temeritate administrantttr. Itaque ut hanc Graeciam, quae jamdiu suis consiliis perculsa et efflicta est, omittara: illa vetus, quae quondam opibus imperio gloria floruit, hoc uno raalo concidit, libertate immoderata ac licentia concionum. Quum in theatro imperiti homines, rerum omnium rüdes ignarique consederant, tum bella inutilia suscipiebant; tum seditiosos homines rei publicae prae- ficiebant; tum optime meritos cives e civitate ejiciebant."

Zwölftes Capitel. III. Die Aristokratie. B. Römische Aristokratie. 343

Statsmänner. Eben in der Geschichte des Senates zeigt sich die Urnwandlung des patrici sehen Adels, der auch später noch immer als die Quelle der Auspicien verehrt wurde und die heilige Ueberlieferung der Vorzeit bewahrte, in den neuen römischen Amtsadel. Man darf die hohen Magistrate der römischen Eepublik wohl Königen vergleichen, und eben aus den gewesenen Magistraten bestand der Senat, den die Alten selbst „eine Versammlung von Königen" nannten; so hoch stand diese politische Aristokratie. Den Censoren als Wäch- tern der guten Sitten war die ehrenvolle Aufgabe anvertraut, die Listen der Senatsmitglieder aus den gewesenen Magistraten zu verfassen und unwürdige Individuen von dem Senate aus- zuschlieszen. In der Versammlung saszen und stimmten die Senatoren nach den Abstufungen des Banges, den sie vordem als Magistrate des römischen Volkes, als gewesene Consuln, Censoren, Prätoren, Aedilen, Quästoren eingenommen hatten. Auch die Verhandlung bewegte sich in den strengen Formen römischer Autorität. Mit Opfer und Gebet wurde sie eröffnet, von den regierenden Magistraten, welche die Anträge machten und zur Abstimmung brachten, geleitet, und durch den Ein- spruch bald der Volkstribunen, bald der eigentlichen Magistrate gegen Ausschweifung und Uebergriffe gehemmt.

Alle grozsen Staatsangelegenheiten wurden in dem Senate entweder vorbereitet oder entschieden. Die Sorge für die re- ligiöse Verehrung der Götter, und deren Feste und Opfer war vorzüglich bei dem Senate. Er leitete die Unterhandlungen mit den fremden Staten und deren Gesandten, und hatte die ganze groszartige Diplomatie des römischen States in seiner Hand. Die erfolgreiche Begutachtung der Gesetze und Zu- stimmung zu den Gesetzen kam ihm zu und war in der Begel maszgebend. Seine eigenen Beschlüsse (Senatus-Consulta) hatten überdem in der Verwaltungssphäre eine gesetzähnliche Autorität. Die Finanzgewalt stand bei ihm. Er decretirte die Steuern, und bestimmte die Ausgaben und Verwendungen. Er verfügte

344 Viertes Buch. Die Statsformen.

aber die Aushebung von Truppen und vertheilte die Heere unter die Magistrate. Er ertheilte den Proconsuln und Pro- prätoren die zur Regierung der Provinzen erforderlichen Voll- machten und Instructionen, und controlirte die gesammte Ver- waltung derselben. In schweren Krisen des States ertheilte er denConsuln jene unbegränzte Machtfülle, welche nöthig schien, die Rejublik vor Schaden zu bewahren.

4. Die Magistrate. Man kann darüber Zweifel haben, ob die römischen Magistraturen eher eine königliche oder eine aristokratische Institution gewesen seien. Dasz aber ihr Cha- rakter kein demokratischer gewesen, das ist augenfällig genug. Schon die vornehme Form der äuszern Erscheinung dieser Ma- gistrate, ihre mit Purpur geschmückte Toga, der curulische Stuhl auf erhöhtem Boden, die Umgebung derselben mit einem freiwilligen Stab angesehener Gehülfen und Freunde, der Vor- tritt der Lictoren, die Verbindung mit den Göttern, die bei ihrer Ernennung in Form der Auspicien sich äuszern muszte und die nun auch durch die von den Magistraten vorgenom- menen Auspicien unterhalten wurde, läszt in dieser Beziehung keinen Zweifel zurück. Die ausgedehnte und innerlich absolute Machtfülle, welche in dem Imperium als Kern desselben lag, war wesentlich königlich,3 und die republikanische Seite der- selben war nur in der kurzen Dauer, für welche diese Macht einzelnen Römern verliehen ward, und in der Vertheilung der- selben unter zwei oder mehrere Magistrate von gleichem Rang zu erkennen. Ein dem römischen Statsrecht eigenthümlicher und sehr beachtenswerther offenbar aristokratischer Grundsatz ist es, dasz jeder Magistrat berechtigt ist, jede Amtshandlung eines ihm gleich oder niedriger stehenden Magistrates durch sein Veto zu hemmen:4 ein Grundsatz, welcher die in dem

3 Cicero de Legibus III. 3: „Regio imperio duo sunto.u Liv. IV. 3. Polyb. VI, 1 1. §.7: »luv vnünav i^ovaiuu, xekeiuyg tuo v u q -/ixdv dcpaivei'* tlvta x«i ßaaiktx 6 */."

4 Daher die Formel bei Cicero de Legib. III. 3: „ni par majorve potestas prohibessit.a Es ist das nämliche Princip, welches auch im

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imperium liegende Allgewalt sehr bedeutend ermäszigte, ohne sie, da wo ihre volle Wirkung für den Stat nöthig oder nütz- lich schien, zu schwächen.

Freilich wurden diese Magistrate nun von dem ganzen Volke gewählt, aber die Wahl der höheren A ernte r war den Centuriatcomitien vorbehalten, in denen die Aristokratie des Reichthums das üebergewicht besasz, und die hinwieder von Magistraten geleitet und durch die Auspicien beschränkt wur- den. Ueberdem war der Weg zu diesen Würden in der Eegel nur denen offen, welche selbst zu der nationalen Aristokratie gehörten, sei es weil sie von angesehenem Geschlechte waren, in Folge dessen einen glänzenden Namen trugen und eine zahl- reiche Clientel und auch bei dem Volke ein günstiges Vor- urtheil für sich hatten , sei es weil sie grosze Reichthümer besaszen und das Volk durch öffentliche auf ihre Kosten aus- geführte Spiele zu gewinnen wuszten, sei es endlich, weil sie durch einleuchtende Verdienste im Kriege oder als grosze Redner über die Menge emporgestiegen waren und einen volks- tümlichen Ruf und Autorität erlangt hatten. Seitdem auch den Plebejern die höhern Magistraturen zugänglich geworden, waren dieselben freilich nicht mehr auf den bloszen Geburts- adel eingeschränkt, aber, wenn wir von einzelnen ziemlich seltenen Ausnahmen absehen, war es doch in der Regel nur den Gliedern jener groszen politischen und socialen Aristokratie, in welche das Patriciat sich umgewandelt und ausgebildet hatte, vergönnt, an der Regierung des States unmittelbaren Theil zu nehmen; und diese Magistrate bilden hinwieder den Senat.

Erwägt man alle diese Verhältnisse, so wird man die Wahrheit der Behauptung zugestehen müssen, dasz die römi- sche Republik, obwohl monarchische Ueberlieferungen und demokratische Elemente auf die Verfassung einwirkten, den- noch wesentlich eine Aristokratie war, und zwar keine

römischen Privatrecht unter den Miteigentümern gilt: „Neganti major potestas." Vgl. Gellius Noctes Atticae XIII. 12. 15.

346 Viertes Buch. Die Statsformen.

Geschlechts- oder Staudesaristokratie, wie das Mittelalter sie in zahlreichen Formen hervorgebracht hat, sondern die grosz- artigste und herrlichste Volksar istokratie der Welt- geschichte.

Dreizehntes Capitel.

Bemerkungen über die Aristokratie.

Montesquieu hat die Mäszigung (moderation) als Prin- cip der Aristokratie erklärt, und allerdings bedarf die Aristo- kratie der Mäszigung im Interesse ihrer Sicherheit, und wird auf die Mäszigung hingewiesen durch die Betrachtung, dasz sie an Zahl und physischer Kraft von der Menge, über welche sie die Herrschaft übt, übertroffen wird. Wird die Demo- kratie im Gefühl ihrer äuszerlich unbeschränkten Macht leicht zu einem unmäszigen Gebrauch derselben verführt, so kann die Aristokratie im Gegentheil der Sorge nicht leicht los wer- den, dasz die gereizte Menge ihr Widerstand leiste und sich wider sie auflehne : und diese Rücksicht bestimmt sie in der Regel, ihr statliches Uebergewicht nicht allzudrückend werden zu lassen. Sie weisz es, dass die Erhaltung ihres Ansehens groszentheils darauf beruht, dasz sie Masz hält und ihre Po- litik ist gewöhnlich conservativ.

Aber das innerste geistige Princip der Aristokratie wird damit doch nicht bezeichnet. Vielmehr läszt sich als solches eher die moralische und geistige Auszeichnung der herrschenden Classe von der regierten Menge angeben. Die Aristokratie ist nur insofern Wahrheit, als wirklich in ihr die Besten (oi uqlgtoi) regieren. * Artet die herrschende Classe aus, gehen die vorzüglichen Eigenschaften, durch welche sie

1 Viel richtiger als Montesquieu, welcher die Tugend afl$ Princip der Demokratie erklärt, hat Aristoteles gesagt (Polit. IV. 6, 4.): „Der Charakter der Aristokratie ist Tugend, der der Demokratie Freiheit. tt

Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 347

sich emporgehoben, unter, verdirbt ihr Charakter, wird ihr Geist schwach und eitel, so geht die Aristokratie unaufhaltsam unter, weil die belebende Seele ihres Wesens abstirbt. Aber ebenso geht sie zu Grunde, wenn zwar in ihr die hervorragen- den Eigenschaften noch fortdauern; aber in den regierten Classen ähnliche Auszeichnung aufblüht und die hergebrachte Aristokratie es versäumt und verschmäht, diese in sich aufzu- nehmen und dadurch ihre Kräfte zu ergänzen und zu steigern. Das vorzüglich hat die römische Aristokratie so grosz gemacht, das auch den Einflusz und das Ansehen der englischen erhalten, dasz sie so in lebendigem Zusammenhang mit dem übrigen Volksleben verblieben sind und fortwährend neue Säfte aus diesem aufgezogen haben.

In der Abgeschlossenheit liegt ein Hauptgebrechen vieler Aristokratien. Im Bestreben, die auf Vorzüge gegrün- deten Vorrechte zu befestigen, haben sie oft die Rücksicht auf die Vorzüge selbst auszer Acht gesetzt, und die Vorrechte äuszerlich gewiszermaszen mit Wällen und Gräben zu sichern und erbrechtlich fortzusetzen gesucht. In kleinen Verhält- nissen liesz sich so eine Zeit lang die Herrschaft behaupten, gröszern Verhältnissen aber war die so beschränkte Aristo- kratie nicht mehr gewachsen. Sparta und Venedig wurden schwach, als sie grosze Eroberungen gemacht hatten. Sowohl die Spartiaten als die Altbürger von Venedig, die Nobili, waren für sich allein nicht zahlreich und nicht stark genug, weite Länder zu behaupten, und das übrige niedergehaltene Volk war ohne politisches Leben und Kraft geblieben und konnte keine hinreichende Beihilfe gewähren.2 Auch die Bern er Aristokratie ist weniger durch innere Entartung des Patriciates als vielmehr daran zu Grunde gegangen, dasz sie sich nicht aus den ausgezeichneten Männern der Hauptstadt und des Landes zu ergänzen verstand.

2 Sehr gute Bemerkungen darüber hat MachiavelH zu Livius I, 6, gemacht.

348 Viertes Buch. Die Statsformen.

Alle Aristokratie beruht auf ausgezeichneter Qualität. Welche Art der Qualität nun bei einer Nation vorzüglich ge- achtet werde und Macht habe, das hängt von dem eigenthüni- lichen Charakter und von den jeweiligen Zuständen der Nation ab. Wenn der Vorzug des Geschlechts (der Kasse) ent- scheidet, so nennen wir sie Geschlechter- oder Adels- aristokratie. In ihr wirkt das Familienrecht und das ständische Hecht auf die Ausbildung der öffentlichen Ver- fassung mächtig ein. Viele mittelalterliche Aristokratien hatten diesen Charakter. Der Vorzug der B i 1 d u n g und Erzieh- ung kann zur Priester- oder Gelehrtenaristokratie führen. Wird das höhere Alter als Hauptbedingung der Re- gierungsfähigkeit betrachtet, so bildet sich eine Aristokratie der Aldermänner und des Senats. Gilt die kriegerische Auszeichnung als entscheidend, so entsteht die Aristokratie des Ritterthums. Wird auf den Reichthum das Schwer- gewicht gelegt, so ergibt sich, je nachdem der Grundbesitz allein oder auch das bewegliehe Vermögen beachtet wird, eine grundherr liehe oder eine Capitalistenarietokratie, die Plutokratie, nach Cicero's EJrthei] die hftszlfchste aller Statsformen.3 Die Aristokratie der Optimal en hat vorzugs- weise einen Parteicharakter, indem sich in ihr eine Anzahl von Familien und Personen geeinigt haben. Die Aristokratie der Aemter und Würden kann vorzugsweise als eine po- litisch motivirte angesehen werden, am ehesten dann, wenn sie noch als Wahlarist okratie erscheint, weniger wenn rie, wie das im Mittelalter gewöhnlich geschehen ist, allmählich zur Erbaristokratie und in Folge dessen wieder zur Geschlechter- oder Adelsaristokratie wird.

Oft, wird zugleich auf verschiedene vorzügliche Eigen- schaften gesehen und diese combinirte Aristokratie ist sicherer

J Cicero de Rep. I. 34: „nee ulla deformior species c^t civitatis quam illa in qua opulenttisimi optimi putaniar." Herrschaft der haute ftnasoc (Bankiers). Vgl darüber Leo. Naturlelire d. Statt. 8. 89 ff.

Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 349

und besser als die einseitig auf Einen Vorzug gegründete Herrschaft, welche alle andern von Natur aristokratischen Classen oder Personen zu natürlichen Gegnern hat.

Die Aristokratie liebt es ihre Vorzüge glänzen zu lassen. Indem sie daher mit Vorliebe die äuszere Hoheit und Würde des States zu zeigen pflegt, veredelt sie die statlichen Formen und verstärkt sie die öffentliche Autorität. Sie kann eher noch der Liebe des regierten Volkes, aber nie der Achtung desselben entbehren. Daher sucht sie durch die äuszere feier- liche Erscheinung zu imponiren, und ihr Selbstgefühl, ihr Stolz prägt sich dem State ein. Es ist das ein unverkennbarer Vorzug der aristokratischen vor der demokratischen Statsform, welche leicht auch ihre Obrigkeit und selbst den Stat in die Niederung des gemeinen Lebens herabzieht.

Aber an den Vorzug schlieszt sich die Gefahr ganz nahe an, dasz die herrschenden Classen sich selbst überheben, und die regierten Classen weder hinreichend achten, noch ihnen eine genügende Sorge zuwenden. Daher begegnen wir nicht selten in der Geschichte der Aristokratien einer kalten, mit Geringschätzung begleiteten und dadurch um so verletzenderen Härte und selbst Grausamkeiten gegen die niedern Schichten der Bevölkerung. Das Verfahren der Spartiaten gegen die Heloten, die Bedrückung der plebejischen Schuldner durch die Patricier, die Miszhandlung der irischen Pächter durch die englischen Grund h er ren, die Aus- beutung und die despotische Unterdrückung der Hindus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die englischen Statt- halter4 sind beredte Zeugnisse für diesen Charakterzug.

Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder- lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen- schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer

* Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvre tom. VIII.

350 Viertes Buch. Die Statsformen.

Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt, die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen, voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth nicht selten in den Trrthurn : indem sie sich starr an das Alte anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es meistens besser als die Demokratie , sich selber zu conserviren, und durchweg haben die Aristokratien einen längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie vermeidet die Statsexperi- mente, sie hat Scheu vor raschen Sprüngen ; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vorwärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masse wieder eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem natürlichen Instinct der Selbst- erhaltung entspringt, das wird, im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.

Diese Neigung und Fälligkeit der Erhaltung offenbart sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die Erb- lichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche Kaiser- reich war, ungeachtet das Kaiserthum ursprünglich von der Idee der Monarchie vollständig erfüllt und durchdrungen war. jedenfalls seit dem Untergänge der Hobenstaufen dem Wesen nach zu einer Aristokratie geworden.5 Nur das Kaiser-

5 Das hat schon der Franzose Bodin wohl gewuszt. Seither haben es sogar deutsche Rechtshistoriker zuweilen wieder vergessen. Bodin schreibt (de Rep. lib. II.): „Et quoniam plerique Imperium Germanorum monarchiam esse et sentiunt et afFirmant, eripiendus est hie error. Neminem autem esse arbitror, qui cum animadverterit, trecentos oirotter Principes Germanorum ac legato.s civitatum ad conventus eoire, qui ea, quae diximus, jura majestatis habeant, aristoeratiam esse dubitet. Lege? enim tum [mperatori, tum singulis Principibus ac civitatibus, cum etiam

Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 351

thum selbst war nicht erheblich geworden, sondern wurde durch Wahl der erblichen Kurfürsten besetzt. Die Ehren, welche dasselbe umgaben, waren glänzend, aber die Macht gering. In allen wichtigen Dingen kann der Kaiser nur in Verbindung mit den Kurfürsten einen Entscheid fassen. Die Gesetze bereitet das Kur fürst encolle gium vor, und hat auf dem Keichstage selbst die erste Stimme. Die zweite steht den übrigen Fürsten und Herren zu, welche alle wieder die ursprünglichen Statsämter in erbliche Landesherrschaften um- zuwandeln gewuszt haben. Ist die Vereinbarung auch mit dieser regierenden Aristokratie, dem Keichsfürstenrath, gelungen, so wird noch das reichsstädtische Collegium um seine Zustimmung befragt; aber da zu der Zeit auch in den Reichsstädten gewöhnlich eine patricische Aristokratie das Regiment besitzt, so ist selbst hier wieder die Vertretung auf den Reichstagen groszentheils aristokratisch. Die Reichs- regierung steht dem Kaiser und dem Kurfürsten gemeinsam zu, nicht jenem allein, und an eine unmittelbare Einwirkung und Beherrschung der Reichsgewalt den Personen und Zustän- den gegenüber ist nicht mehr zu denken. Diese war in jeder Weise

de bello ac pace decornendi, vcctigalia ac tributa imporandi, deniqueju- dices Imperialis Curiae dandi jus habenr. Sceptra quidera, regale so- lium, pretiosissimae vestes, coronae, antecessio, subsequentibus Christianae regibus, imaginem regiae majestatis, habent, rem non habent. Et certe tanta est imperii germanici majcstas, tantus splendor, ut Imperator suo quodam modo jure Omnibus ornamentis ac honoribus cumulari mereatur: sed ea est Aristocratiae bene constitutae ratio, ut quo plus honoris eo minus imperii tribuatur; et qui plus imperio possunt, minus honoris adipiscantur, ut omnium optime Veneti in republica constituenda decre- verunt. Quae cum ita sint, quis dubitet, rempublicam Germanorum Ari- stocratiam esse?" Philipp Chemnitz (dissert. de ratione status in imperio nostra Romano germ. 1640.) hat auf den Gedanken, dasz Deutsch- land eine Aristokratie sei, seine Reformplane gegründet. Ygl. Perthes das deutsche Statsleben vor der Revolution. J845. §. 246. Puffendorf (Montezambano) hat das Reich ein zwischen Monarchie und Aristokratie schwankendes Monstrum genannt, aber ebenfalls die überwiegende Ten- denz zur Aristokratie anerkannt.

352 Viertes Buch. Die Statäformen.

unterbrochen durch die Landesherrschaft der erblichen Reichs- aristokratie, unterbrochen und gelähmt bei weitem mehr als vermittelt.

In allen politischen und rechtlichen Verhältnissen zeigt sich diese aristokratische Neigung des Mittelalters zu erblicher Befestigung derselben. Die Lehen, die Reichswürden und Aemter, die Gerichtsbarkeit in .allen Stufen, Grafschaften, Vogteien, Grundherrschaften, selbst die Stühle der urtheilen- den Schöffen, die Ritterschaft, der Hofdienst der Ministerialen, die Patriciate in den Städten , die Meyer- und Kellerämter in den Dörfern, der hofrechtliche Besitz der hörigen Bauern, Alles wurde während des Mittelalters erblich.

Im Gegensatze zu dieser Richtung des Mittelalters äuszert dagegen die neuere Zeit vielfältig ihre Abneigung gegen das politische Princip der Erblichkeit. In beiden sich wider- streitenden Tendenzen liegt ein Element der Wahrheit, und eines des Irrthums und der Uebertreibung. Die neuere Zeit hat Recht, wenn sie gegen die Hemmnisse ankämpft, welche eine verhärtete und beschränkte Erblichkeit der Verhältnisse der Entwicklung de* Lebens und der Befriedigung der moder- nen Bedürfnisse entgegengesetzt; de hat Recht, wenn sie für die individuelle Tüchtigkeit Anerkennung verlangt; Recht, wenn sie nicht mehr zugibt, dasz die politischen Aemter, welche persönliche Fähigkeit und zugleich Unterordnung unter das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden. Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver- gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, aufzu- lösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fortge- setzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche eben durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung selbst als feste Säulen dienen, und welche auch grosze moralische Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zukunft hin- überleiten, eine lockere und häufigem Wechsel ausgesetzte

Dreizehntes Capitel. Bemerkungen über die Aristokratie. 353

Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut sie statt auf Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die organische Natur sowohl der Nation als des States, deren Leben nicht mit den einzelnen Generationen wechselt, sondern während Jahrhun- derten sich durch eine Keine von Generationen fortsetzt/

6 In dem aristokratischen England wird diese Bedeutung des politi- schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die französische Revolution: „Sie werden bemerken, was die übereinstim- mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä- rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa- rische Erbschaft (an entailed inheritance) zu begehren und in An- spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden, und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk, welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein sicheres Princip der U eberliefcrung erzeugt, ohne irgend ein Princip der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb frei, aber es sichert das Erworbene. Unser politisches System steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordtmng und mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An- ordnung einer bewundernswürdigen Weisheit ist unsere Verfassung als ein Ganzes, indem sie die grosze und geheimniszvolle Verbindung des Menschengeschlechtes nachbildet, zu keiner Zeit alt oder jung (?), son- dern unveränderlich fortdauernd schreitet sie fort durch den mannich- faltigen und im einzelnen unablässigen Wechsel der Abnahme und des Untergangs, der Erneuerung und des Aufschwungs. Indem wir so die Weise der Natur in der Leitung des States bewahren, werden wir in unsern Verbesserungen niemals ganz neu sein, und in dem was wir er- halten, nie ganz alt. Indem wir so der Erblichkeit anhängen, haben wir unserer Statsordnung das Bild einer Bluts- und Familienverbindung aufgeprägt, verknüpfen wir unsere Landesverfassung mit unsern theuer- sten häuslichen Banden, nehmen wir die Fundamentalgesetze auf in das Heiligthum unserer Familienliebe, umfassen wir unzertrennlich und mit der Wärme der verschlungenen und wechselseitig wiederstrahlenden Zu- neigungen unsern Stat, unsern Herd, unsere Gräber und unsere Altäre."

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 23

354 Viertes Buch. Die Stitsformen.

Da die Aristokratie vorzugsweise die Macht der äuszern Ordnung aufrecht erhält, und von dieser ihre Erhaltung er- wartet, so ist sie in besonderem Masze auch eine Pflegerin des Eechts, dessen formellen Bestand sie sorgfältig vor Er- schütterung bewahrt. Man hat es daher mit Grund ihr nach- gerühmt, dasz sie, wenn sie nicht in ihrer Existenz bedroht scheine, und deszhalb ihre Leidenschaften gereizt werden, ge- rechter sowohl im Verhältnisz zu den Unterthanen als zu ihren eigenen Gliedern zu handeln pflege als die Demokratie. Es ist kaum zufällig, dasz die welthistorische Ausbildung der Rechtswissenschaft vorzüglich in dem eminent aristokratischen Volke der Römer vor sich ging. Anerkannt auch ist die zwar strenge aber unparteiische Rechtspflege der Venetianer, das gute Recht, welches die Berner gehandhabt, das starke Rechts- Gefühl der aristokratischen Engländer, und während des Mittel- alters nahm selbst die Politik die äuszere Gestalt des Rechts- urtheils und seiner Vollstreckung an.

Die neuere Zeit ist der Aristokratie als Statsform so sehr ungünstig, das/ sich keine einzige Aristokratie bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat behaupten können. Die alt- römische Aristokratie ist zuvor durch die aufstrebende Demo- kratie gebrochen, und dann erst durch «las Kaiserthum erdrückt worden. Die italienischen and die deutschen Aristokratien des Mittelalters sind vorerst durch die wachsende Macht der Fürsten überholt und gedemüthigt worden, und dann erst der Feind- schaft der bürgerlichen ('lassen erlegen.

In dem modernen Stat nehmen daher die aristokratischen Classen nur noch als ein ausgezeichneter Bestandtheil des Volks eine mittlere, aber nirgends mehr eine souveräne Stellung ein. Sie sind überall entweder der Monarchie oder der De- mokratie untergeordnet. Sie können jene unterstützen oder er- mäszigen und diese veredeln oder beschränken, aber sie können nicht mehr die Statsregierung von Rechtswegen in Anspruch nehmen.

Vierzehntes Capitel. IV. Monarch. Sfcat3forraen. Hauptarten ders. 355

Vierzehntes Capitel.

IV. Monarchische Statsformen. Die Hauptarten der Monarchie.

Die monarchische Statsform hat die allgemeinste Aner- kennung unter den verschiedensten Völkern der Erde erlangt. Wir finden sie in allen Welttheilen, in Asien und in Europa fast überall und schon in den Anfängen unserer Geschichte wie in der Gegenwart. Aber unter sich sind die Monarchien sowohl in der Idee als in der Form ihres Daseins so sehr ver- schieden und mannichfaltig, dasz es schwer wird, die Haupt- arten derselben näher zu bestimmen.

I. Den Uebergang von der Theokratie zur humanen Mo- narchie bildet die Despotie, wie sie in Asien vorzüglich Macht und Geltung erlangt hat. Das charakteristische Kenn- zeichen der Despotie ist, dasz sie alles Kecht in dem Mo- narchen dergestalt einigt, dasz auszer ihm und ihm gegen- über Niemand festes Recht hat. Er allein ist der Berechtigte, alle andern sind vor ihm rechtlose Wesen, Sclaven. Er kann wohl von dem religiösen oder moralischen Pflichtgefühl be- schränkt sein und anerkennen, dasz er Gott für die Ausübung seiner Allgewalt verantwortlich sei, aber er ist nicht beschränkt durch die Rechte seiner Unterthanen. Vor ihm gibt es kein anderes Recht, als was er an Willkür und Gnade zuläszt.

Diese Despotie musz , um sich selbst auch nur einiger- maszen zu erklären, auf die göttliche Allmacht sich berufen. Der Despote musz als Stellvertreter Gottes und als Inhaber der göttlichen und deszhalb unbegränzten Gewalt verehrt werden. Darin liegt die nähere Beziehung zur Theokratie, an deren Gebrechen auch die Despotie leidet, auch wenn sie im übrigen zugesteht, dasz der Despot ein Mensch sei. Die muhammeda- nischen Staten des Mittelalters haben alle einen solchen Zug zur Despotie: und erst in unserer Zeit fangen sie an, sich der europäisch-humanen Monarchie entschiedener anzunähern.

23*

356 Viertes Buch. Die Statsforraen.

IL Wir können die Despotie als eine barbarische Form der Monarchie bezeichnen. Die höheren arischen Völker haben sie schon in der Vorzeit als ihrer unwürdig verworfen. Sie haben alle auszer den Rechten der Fürsten und Könige auch Eechte der Stände und der Privatpersonen behauptet und sich als Freie, nicht als Sclaven gefühlt. Wo die Uebermacht des Monarchen unter ihnen zuweilen der Despotie ähnlich über- spannt wurde, da empfanden die arischen Völker das immer als ein Unrecht, und bei günstiger Gelegenheit traten sie ihm entgegen und nöthigten ihn, auch die Rechte der Unter- thanen anzuerkennen. Die civilis irte Monarchie ist daher immer eine durch die gemeinsame Rechtsordnung be- dingte und beschränkte. Die Stellung des Monarchen wird dadurch nicht erniedrigt, sondern erhöht, und seine Macht nicht geschwächt, sondern verstärkt, denn es ist edler, einem freien Volke, als einer knechtischen Menge vorzustehen und die politischen Kräfte jener zusammenzufassen und zu leiten, als den stumpfen Gehorsam dieser zu lenken. Je mehr in einem State die Einheit und Energie des Ganzen mit der freie- sten Entfaltung aller Glieder verbunden erscheint, um so voll- kommener ist der Stat organisirt. Das aber ist nie in der Despotie, sondern nur in der civilisirten Monarchie möglich.

Der menschliche Geist hat in den verschiedenen Zeitaltern und unter den verschiedenen Völkern mancherlei Versuche ge- macht, um die richtige Form der rechtlichen Bestimmung und Beschränkung zu finden.

Eine der ältesten Formen ist das Geschlechtskönig- thum, die Patriarchie. Der König wird wie der Häupt- ling aus dem vornehmsten Geschlecht, als der Aelteste und der Vater des Stammes verehrt. Die Institution erscheint da noch gebunden an den Verband der Familienart, und beschränkt durch den Familiengeist. In dem Vizpati der indischen Stämme wie in dem Kuning der deutschen Völkerschaften wird diese kindlich-naive Anschauung sichtbar.

Vierzehntes Capitel. IV. Monarch, Statsformen. Hauptarten ders. 357

Ebenso gebunden an privatrechtliche Zustände und In- stitutionen ist die Form des patrimonialen Fürstenthums, welches vorzüglich im Mittelalter Anerkennung fand, sei es in der Form des Lehenstats, sei es in der Form der ein- fachen Landesherrschaft (dominium terrae). Auch da wirken gewöhnlich Familienrecht und dynastische Vorstellungen ein; es kommt aber hinzu die Verwechslung des Stats mit einer im Eigenthum befindlichen Grundherrschaft. Das Amt wird einem Vermögensrechte ähnlich betrachtet und behandelt.

Wir können diese beiden Formen, in denen das Statsbe- wusztsein noch nicht durchgebrochen ist, als unreife Ent- wicklungsphasen bezeichnen.

III. Ist zwar das Statsbewusztsein th eilweise geweckt worden, aber noch in einer einseitigen Richtung auf eine ein- zelne öffentliche Function als Hauptfunction des Fürstenthums befangen, so entstehen die einseitigen Formen entweder des Kriegsfürst enthums (Herzogthum, Imperatoren- stat), wenn die kriegerische Obergewalt bestimmend wirkt, oder der Gerichtsherrschaft, wenn das Richteramt als Herrschaft angesehen wird. Das erstere wird durchweg ge- waltiger und energischer erscheinen, die letztere beschränkter und gemäszigter.

IV. Wenn das Statsbewusztsein in dem Fürsten über- reizt und übermächtig wird, so dasz er sich selbst für den allmächtigen Herrn und Inhaber aller öffentlichen Gewalt hält, so kommt zwar die vielseitige und öffentliche Bedeutung der Monarchie als einer entscheidenden Centralgewalt zur Er- scheinung, aber die Bevölkerung wird in politischer Unfreiheit niedergehalten. Es entsteht die absolute Monarchie, welche als civilisirte Statsform der barbarischen Despotie entspricht, aber sich dadurch von ihr unterscheidet, dasz der civilisirte Monarch doch eine Rechtsordnung als nothwendig aner- kennt, und sich selbst verpflichtet, derselben gemäsz —we- nigstens in der Regel zu regieren. Ausgedehnter erscheint

358 Viertes Buch. Die Statsformen.

diese absolute Gewalt in dem antiken römischen Stat, be- schränkter in der neueren Absolutie, die durch das Christen- thum und die freiheitliche Entwicklung auch des Mittelalters beschränkt wird.

V. Edler entwickelt und in sich gehaltener sind die For- men der beschränkten Monarchie, welche die einheitliche Machtfülle der statlichen Centralgewalt in sich aufnehmen, aber zugleich damit die Freiheit der Volksclassen und der ein- zelnen Bürger zu verbinden unternehmen.

Dahin gehört sowohl die mittelalterliche Form einer aristo- kratisch und ständisch beschränkten, als die moderne Form der repräsentativen und constitutione llen Mo- narchie.

Einige der wichtigsten Erscheinungen dieser verschiedenen Arten verdienen eine besondere Betrachtung, wie dieselbe den folgenden Capiteln vorbehalten wird.

VI. An dieser Stelle musz aber noch ein anderer Gegen- satz innerhalb der civilisirten Monarchie erwähnt werden, der Unterschied nämlich des Kon igt hu ms und des Kaiser- thums. Er wiederholt sich auf allen Entwicklungsstufen der Monarchie, roher in der alt-asiatischen Despotie, edler in der europäischen Statenbildung.

Die Idee des Königthums gehört dem Volke, die Idee des Kaiserthums der Menschheit an. Das Königthum ist die höchste obrigkeitliche Institution des Volksstates, des Ein- zelstates, das Kaiserthum ist die Krone des Weltreiches. Ueber den Königen erhebt sich die Würde des Kaisers, wie .die Macht der Menschheit über der der Völker. So oft im Orient ein groszes Reich gegründet ward, finden wir solche Könige der Könige. Der grosze Cäsar griff den Gedanken der römischen Weltherrschaft persönlich auf, und ihm zu Ehren hat die- Weltgeschichte diese vornehmste Statsidee mit seinem Namen benannt. Die volle Verwirklichung derselben wird aber erst dannzumal möglich werden, wenn die Welt zu einer uni-

Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigthum. 359

verseilen Organisation der Menschheit fortgeschritten sein wird. Bis dahin sehen wir in der bisherigen Geschichte nur be- schränkte und mangelhafte Versuche, das Kaiserthum herzu- stellen. *

Fünfzehntes Capitel.

A. Hellenisches und altgermanisches Geschlechtskönigthum.

In den ersten Zeiten der hellenischen und germa- nischen Geschichte finden wir unter beiderlei Völkern Könige an der Spitze der Stämme und Staten; und es zeigt die Art, wie diese Institution von diesen Völkern aufgefaszt und be- handelt wird, eine aufTallende Uebereinstimmung, während da- gegen das in der Mitte liegende alt-römische Königthum in wesentlichen Beziehungen sich davon unterscheidet.

Das Königthum der Hellenen und der Germanen bildet den Uebergang aus der noch ideokratischen Form der orien- talischen Alleinherrschaft in eine menschlich-politische Institution. Die Könige leiten zwar ihr Geschlecht gewöhn- lich von den Göttern her, die hellenischen meistens von Zeus, die germanischen von Wodan (Odin), und der Volksglaube verehrt in den Königen die Ueberlieferung des göttlichen Blutes ; aber obwohl so der Ursprung der Könige angeknüpft wird an die Herrschaft der Götter über die Welt, werden sie doch auf der andern Seite als Menschen anerkannt und vielfach auch menschlich beschränkt. i Die königlichen Heroen und Helden

5 Ygl. über die Idee und die Geschichte des „Kaiserthums" den be- züglichen Artikel im deutschen Statswörterbuch.

1 Daher der Ausdruck : „Ex de Jios ßaaiXies. u AioysveZq jLoxqecpElg bei Homer, H. IL 204 ff.

„Nimmer Gedeihn bringt Vielherrschaft, nur Einer sei Herrscher, Einer nur Fürst, dem schenkte der Sohn des verborgenen Kronos Scepter zugleich und Gesetze, damit er gebiete den Andern." Vgl. Herrmann griech. Statsalterth. §. 55. Sophokles Philokt. 137.

360 Viertes Buch. Die Statsformen.

sind Göttersöhne und Verwandte der Götter, aber sie sind zu- gleich wirkliche Menschen in ihren und des Volkes Augen.

Daher sind die Ehrenrechte der Könige höher und aus- gedehnter als ihre Macht. Sie vertreten das gesammte Volk den Göttern gegenüber und vermitteln durch Opfer und Gebet, soweit nicht besondere Priester diese Pflicht üben, zwischen beiden,2 weszhalb denn auch zu Athen nach der Abschaffung des Königthunis der opfernde Archon noch den Namen des Königs beibehielt.

An Werth wird ihre Person weit hoher geschätzt als die der übrigen Volksgenossen. Pas Wergeid der germanischen Könige übertrifft das der Edeln gewöhnlich mehrfach. Sie ragen daher auch durch ihren Beichtham vor Allen hervor.

„Hoch ragt vor andern Künsten ja Bines Königs Kun-r.

Der klug waltend Zeus1 göttliches Scepter lenkt." Vgl. den Preh des Königthnms in dem Indischen Epoa Bami Holtzma im Ten. I J (2:

t Wie für den Leib das A nge sfe ts, Nach allen Seiten sorglich blickt, So für das Reich der Männerf&rst Der Tugend Wuriel und des Kechts. In blinde Finsternias verhüllt, AVüst und verworren ist die Welt, Wenn nicht der König Ordnung hält, Und zeigt, was recht und unrecht sei.u Nach Jornandes c. li stammen die Ämaler aus dem Geschlechte der Äsen. Von Ilengi-M und Rorsa ist 68 bekannt, dasz sie von Wo- dan stammen. Es i*t aioher, dasz viele anfängliche Gesohleohtshäupter erst später auf europäischem Boden an Königen geworden sind (Sybel, Entstehung des deutschen KÖnigthums), und dasz man sich dieMI Ursprungs wohl erinnerte. Aber die Idee und selber die Institution des Königthums haben die arischen Völker ans Asien mitgebracht.

2 Aristot. Pol. III. 9, 7\ In den skandinaTischeii Ländern tritt diese Eigenschaft auch der germani^lu n Könige deutlicher hervor, als in der uns bekannten deutschen Geschichte. Vgl. Grimm, Rechtsalt. S. 243. Der christlich gesinnte norwegische König Ilakon wurde von den noch heidnischen Bauern gezwungen, an dein Ding Dach dem alten Herkommen zu opfern, die Weihebecher zu trinken nnd Pferdefleisch zu essen. Konr. Maurer, die Bekehrung des norweg. Stammes zum Christentum. I.S. ICD ff".

Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigtlium. 351

Ihnen gehört ein groszer Theil des Landes als Domäne zu Eigenthum zu, und bei Eroberungen erhalten sie ausgedehnte Güter zum voraus.3 Ihre Wohnung, der Palast war höher, weiter, schöner und reicher geschmückt als die übrigen Häuser.4 Ihre Schätze, Horte, sind reich mit Kleinodien und Schmuck ausgerüstet.

Durch Insignien sind sie als Könige bezeichnet. Die griechischen tragen das Scepter, zum Zeichen der Gerichts- hoheit undMacht: ebenso die deutschen den Stab.5 Sie sitzen auf einem erhöhten Throne, dem Königs stuhl (Hochsitz).6 Den deutschen Königen wird überdem das Banner vorge- tragen als Zeichen ihrer Kriegsgewalt. Bei den Griechen ver- künden Herolde ihr Erscheinen und gebieten Schweigen, ähn- lich den deutschen Fronboten in den Gerichten. Die fränki- schen Könige tragen wallendes langes Haar zum Schmuck. Die Kleidung des Königs ist glänzender, vornehmer als die gewöhnliche. Die altindischen Könige und ebenso die alt- chinesischen Fürsten erscheinen in gelbem (golddurchwirkten) Talar, mit gelbem Sonnenschirm. 7

3 Tacitus, Germ. 14: „Materia munificentiae per bella et raptus.u c. 2G: „Agro-s inter se secundum dignationem partiuntur." Diese aus- gedehnte Grundherrlichkeit der Könige und Fürsten ist , trotz der zahl- reichen Entäuszerungen aller Art, noch durch das ganze Mittelalter hinab in Deutschland sichtbar.

4 Homer's Odyss. IV. [$:

„Wie der Sonne Glanz umherstrahlt oder des Mondes, Strahlte der hohe Palast des gottbeseligten Herrschers." Vgl. Odyss. VI. 301 ff. Aehnlich die „Hallen" der deutschen Fürsten.

5 Homer's II. IL 100 ff.

„Da erhub sich der Held Agamemnon, Haltend den Königsstab, den mit Kunst Hefästos gebildet, Diesen gab Hefästos dem waltenden Zeus Kronion. Aber ihn liesz Thyestes dem Held Agamemnon zum Erbtheil, Viel Eilande damit und Argos Reich zu beherrschen." Vgl. Grimm. R. A. S. 241. c Grimm. R. A. S. 242.

' Grimm. S. 239. Thierry Merowing. II. 82. (Rama von Holtz^ mann) v. 782 ff.

362 Viertes Buch. Die Statsf'ormen.

Die Existenz königlicher Geschlechter und die Verbindung dieser mit den Göttern weist unverkennbar auf alte Erb li ch- keit des Königtimms hin. Indessen bestimmte das Erbrecht nicht nach festen Eegeln die Nachfolge. Vielmehr wird bei den Hellenen zugleich auf persönliche Tüchtigkeit ge- sehen. So werden daher sowohl Weiher als Kinder meistens ausgeschlossen von der Thronfolge, und in Folge der Aner- kennung, welche den Edeln und dem Volke vorbehalten bleibt, und der Einwirkung solcher individuellen Rücksichten nicht ganz selten Abweichungen von dem Erbrechte durchgesetzt.9 Ebenso ist bei den Deutschen die Beachtimg des Erbrechts mit der Kur der Fürsten und der Zustimmung des Volkes verbunden, wenn schon in gewöhnlichen Fällen das Erbrecht entscheidet, und eher noch als bei den Hellenen auch Kinder zu Königen erhoben werden. Nichts hinderte die freie Volks- genossen.M/liiit't . auch einen ferneren Sippen des verstorbenen Königs dem näheren vorzuziehen, wenn jener tüchtiger BChien.9

Die statliche Haehl dieser Könige «rar zwar intensiv, aber immerhin sehr beschränkt Sie äussert sich hauptsächlich

in folgenden Momenten:

1) Der König hat den Vorsitz und die Leitung so- wohl des. Käthe- der Fürsten als der Versammlung des

1 Wir erinnern an die Geschieht*' de> Oedipns. Auch bei den In- diern älml. Verbindung d, Erbrechte (nach Erstgeburt) mit Katli und Wahl des Fürsten. Rama i v. llolt/maniO, f. 22 ff«

9 Tacitus Germ, i : .Ke^x r.r nnhilitate. sumurU.* I>i'' Rücksicht auf das Geschlecht liegt1 lobon in dem Namen der deutschen Könige,

Chuning und Kun-ing von ohun oder ohuni, Gesohlecht. Büdebert II. wurde als fünfjähriger Knabe tum Eftnigc von A.ustrasien ausgerufen. Thierry Mercw. II. 63. Beispiele ron Abweichungen von dem Erbrecht

finden lieh öfter in der Geschiente der Westgothen und der Lougobarden. F. Dahn (Die Könige der Germanen I. 8. H2) betont die Erblichkeit entschiedener; Thudichum (Der altdeutsche ßtat 8. 60, i mehr die

Volkswahl; aber beide erkennen die Verbindung hei. ler (Jrsaebei an. Eine ähnliche Verbindung vop Erbrecht (der Erstgeburt) mit dem Rath und der Wahl der Groszen , wie bei den alten Germanen, findet Sich bei den alten Indiern. Rama | v. Holtzmannj v. 22 ff.

Fünfzehntes Capitel. A. Hellen, u. altgerm. Geschlechtskönigthum. 363

Volkes.10 Er hat in beiden eine hohe Autorität, aber, wie Tacitus das sehr wahr bezeichnet, eher eine moralische Au- torität der Empfehlung als eine rechtliche des Gebots.11

2) Er ist der oberste Eicht er und hat als solcher nicht etwa das Urtheil zu finden, wohl aber das Kecht zu schützen und zu handhaben. ,2 Auch hier übt er keine will- kürliche Gewalt, weder in Form noch Inhalt. Tn beiden Be- ziehungen wird er durch das Urtheil beschränkt und bestimmt.

3) Er ist ferner Haupt der Kriegsordnung und in der Kegel Heerführer. I3 Im Kriege erweitert sich dann seine Macht.14 Zuweilen sehen sich die deutschen Stämme indessen genöthigt, eben weil sie noch mehr als die Hellenen an dem Erbrechte halten, statt unmündiger Könige Herzoge im be- sondern Falle mit der wirklichen Kriegsführung zu betrauen. Auch in solchen Fällen aber gilt doch der König als Ober- haupt des Heerbanns.

Die eigentliche Regierun gsma cht dagegen ist bei den Hellenen und den Germanen in den ersten Zeiten noch sehr unentwickelt. Der Keim derselben liegt noch verhüllt in den vorhin genannten Eigenschaften des Königs.

Diese Könige sind endlich mit ihrer ganzen Existenz und ihren Hechten umschlossen von dem göttlichen und dem mensch- lichen Recht. Die Griechen machen auf den Unterschied zwischen

lQDießovXy der icvaxie g oder /inatXse ?, auch yEQovreg um den König her bei den Hellenen entspricht dem concilium prineipum, welches nach Tacitus den deutschen Königen zur Seite steht.

11 Tacit. Germ. II: „auetoritas suadendi potius quam jubendi."

12 Homer nennt die Könige daher „dixuanoKovs* und &siuioionöXovg Ueber die deutschen vgl. Tacit. Germ. 9. J2. Auch der indische Königs- name rag stammt von rag richten, wie rex von regere. Die Idee der Rechtsordnung ist daher schon in dem alt-arischen Königsnamen aus- gesprochen. Lassen Ind. Alterth. I. S. 808. „Die Bürde der Gerech- tigkeit ruht auf der Königswürde." Rama 17.

13 Aristotel. Pol. III. 9, 7: vKvqlol cT ijouv rrjg xe /.(na nöXe^xov r/yepoviccg." Bei manchen deutschen Völkerschaften hat der glückliche Herzog eine königliche Dynastie gegründet.

n Vgl. Caesar de B. G. VI. 23.

364 Vierte* Buch. Die Statsformen.

der orientalischen Despotie und diesem Königtlmm aufmerksam, und heben mit Nachdruck hervor, dasz das Wesen des letztern in der Beachtung der göttlichen Ordnung, der vaterländischen Gesetze und Gewohnheiten bestehe.1'1 Der König steht somit nicht über, sondern in der Rechtsordnung, nicht auszer dem Volke, sondern an der Spitze desselben. Noch mehr beschränkt durch das Recht des ganzen Volkes und der übrigen Glieder desselben sind die deutschen Könige.16

Eine Eigentümlichkeit des deutsehen Königthums aber, wodurch die geringe Macht desselben in gewissen Kreisen sehr verstärkt wird, ist die Beziehung desselben zu dem auser- wählten und eng verbundenen Gefolge. Durch das kriegerische und zu persönlicher Treue und Ergebenheit eidlich verpflichtete Gefolge erlangen die deutschen Könige eine ihnen ausschliesslich

,s Dioaya von Halicarnasa V. ?4: „Urspr&nglioh hatten alle grie- chischen Städte Konige, aber Dicht in der despotischen Art der Bar- baren, sondern nach den Gesetzen und den vaterländischen Gewohn- heiten.8 Aristo'. Pol, in. :», ; und III. 10, I. Vgl. Herr mann n. a. (). Sophokles Oed, <L König \ 35 ' tf'., wo der Chor auf das göttliche Recht hinweiat:

„Ach würd' ich theilhaft des I

Rein EU wahren fromme Scheu hei jedem Wort und jeder Handlung.

Treu den Urgesetzen,

Welche beschwingt hoch in des Aethen

EGmmlischem Geiste stammen ans dem Bchoosze

Des Va teri ol y mpoa , nicht

Aus sterblicher Männer Erafl

Geboren; nimmer hüllt sie die Zeit, traun, in Vergessenheit;

Es belebt machtvoll sie ein Gott, der nie altert." Und noch energischer Antigene iv. iMi zum König Kreon: „Auch nie SO mächtig aclift' ich, was ]>u hcfahht.

Um über angeschriebenes, festes, gSt'tliohei

Gesetz liinaus zu schreiten, eine Bterbliche.

Für diesem wollt' ich nicht dereinst, ans banger Beben

Vor Menschendünken mir der Götter Btrafgerioht

Zuziehen/ Vgl. Oed. Col. v. L371. 16 Tacitus, Germ. 7: „nee regibua infinite ac libera potestis»" c 11: „penes plebem arbitrium* Sie „walten" ihrer Völker, sie „herrschen" nieht. Sc h m i t thenner, Statsr. S. [Q,

Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 365

dienende Haus- und Kriegsmacht, als deren freie „Herren" sie gelten, und deren Ehre darauf gerichtet ist, die Ehre, Au- torität und Macht des Königs gegen seine Feinde und Wider- sacher zu verfechten. In dieser Eigentümlichkeit liegt der Keim zu der groszen mittelalterlichen Schöpfung der Lehens- verfassung, welche die Nationalverfassung später vielfach durch- brochen, überwuchert und groszentheils auch umgestaltet hat.

Sechzehntes Capitel.

B. AUi'ümiselies Volksköni»tluun.

In einigen Beziehungen erscheint das alte Königthum der Römer dem der Hellenen und Germanen nahe verwandt: in andern aber unterscheidet es sich von diesem so bedeutend, dasz wir in ilim wohl eine neue Art der Alleinherrschaft, und zwar eine höhere Entwicklungsstufe derselben erkennen dürfen. Schon bei Bestellung der römischen Könige finden wir den wichtigen doppelten Unterschied, dasz die Rücksicht auf das Erbrecht bedeutend zurücktritt hinter das Element der Er- nennung oder Wahl, und dasz nicht ebenso der Volksglaube die römischen Könige von göttlicher Herkunft stammen läszt, wie die griechischen und germanischen.

Zwar haben die Heroen, denen Rom seine Gründung ver- dankt, noch Götterblut in ihren Adern, und Romulus wird nach seinem Tode selbst zu den Göttern erhoben. Aber nach ihm äuszern die Götter ihre Mitwirkung nur, wie in allen andern wichtigen Statsangelegenheiten, durch die Zeichen, welche bei den Auspicien beobachtet werden, durch die un- sichtbare Stimmung der Seelen und durch die unabwendbare Macht des Schicksals. Der Charakter des römischen König- tums ist demnach rein menschlich geartet, obwohl auch in ihm die Verbindung mit göttlicher Einwirkung auf das Geschick des States noch festgehalten wird. Die Einsicht und

366 Viertes Buch. Die Statsformen.

der Wille der Individuen wirkt hier stärker ein, und die Rücksicht auf das Blut und die Familie tritt mehr in den Hintergrund. 1

Der römische König wird von dem Vorgänger oder dem Interrex unter Mitwirkung des Senats und mit Zustimmung der Götter ernannt oder auf Lebenszeit gewählt, nicht eine königliche Erbdynastie anerkannt. Es kommt daher mehr auf die Individualität desselben, als auf den Stamm an. Dem gewählten Könige wird nach einem von ihm selber vorge- schlagenen Gesetz der Curien mit den Auspicien von dem Interrex die königliche Gewalt übertragen, 2 ganz so wie später den Magistraten der Eepublik ihr imperium. So ist das römische Königthum von Anfang an auch eine individuelle Ma- gistratur.

Schon diese Unterschiede bedingen eine andere Auffassung der königlichen Institution. Ein anderer nicht minder ge- wichtiger liegt in der Art und dem Charakter der könig- lichen Gewalt selbst. In manchen Dingen zwar sind die Hechte des Hex ähnlich denen der andern antiken Könige. Auch er ist Opferpriester für das Volk, auch er versammelt und leitet sowohl den Senat, als die verschiedenen Comitien des Volks. Eben so ist er in der Regel der oberste Richter, ungeachtet es von seinen Strafen unter gewissen Voraussetz- ungen noch eine Berufung an das Volk gibt. Er steht ferner von Rechtes wegen an der Spitze der Kriegsverfassung, und ist der natürliche Heerführer. Endlich besitzt auch er Reich- thum an Gütern und Einkünften. *

1 Ganz analog ist selbst das römische Erbrecht in der Regel nicht auf den Zusammenhang des Blutes und der Familie gegründet, sondern in erster Linie auf den individuellen AVillen des Erblassers, der seinen Nachfolger frei ernennt.

2 Es ist das die sog. lex regia, welche zur Kaiserzeit erneuert ward. Ulpianus in pr. L. 1. de con3tit. Princip. Cicero de lege agrar. II. 11.

3 Vgl. Niebuhr, röm. Gesch. I. (356). Rubino, Untersuch, über röm. Verf. 1. Abschn. 2.

Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 367

Aber ungeachtet der römische König kein Abkömmling der Götter und nur auf Lebenszeit gewählt ist, so ist seine Macht doch sehr viel intensiver und voller als die der grie- chischen Könige. Darin offenbart sich schon von Anfang an der vorzugsweise statliche Sinn der Kömer, dasz sie ihre obersten Magistrate mit einer Fülle von Macht, und insbe- sondere mit der Gewalt ausstatten, für die öffentliche Wohl- fahrt energisch zu sorgen. Das specifisch-rö mische Imperium ist es vorzüglich, was diesz Königthum vor jenen andern In- stitutionen so sehr auszeichnet.

Die äuszere Erscheinung des Königs ist nicht minder voll Glanz und Ehre, als die der andern, aber in ihr schon offen- bart sich ihre gröszere Macht. Die Kuthenbündel und Beile, welche die zwölf Lictoren ihnen vortragen, sind nicht blosze Zeichen, sondern Werkzeuge der strengen Strafgewalt, welche den Ungehorsam an Leib und Leben heimsucht. Das römische Imperium und die Beile der Lictoren gehören im Leben und in der Idee der Römer zusammen.4

In Folge des höchsten Imperium, welches der König von Rechtes wegen mit den Auspicien überliefert erhalten hat, ist er voraus berechtigt , die erforderlichen Statsordnungen und Rechtsgrundsätze festzustellen. Man darf nicht vergessen, dasz der römische Stat von dem Könige gegründet worden war, und dasz die Gewalt des ursprünglichen Gründers auf dem Wege der Tradition auf dessen Nachfolger überging. Die eigentlichen Gesetze bedurften freilich der Zustimmung des Senats, und wohl auch sicher seit dem Könige Servius Tullius, 5 des Geheiszes der Volksversammlung (populi jussu),

* Cicero pro Flacco. 8.: Opifices et tabernarios atque illam omnem faecem civitatum, quid est negotii concitare in eum praesertim qui nuper summo cum imperio fuerit , sumrao autem amore esse propter nomen ipsum imperii non potuerit. Mirandura vero est horniges eos, quibus odio sunt nostrae secures etc. 34. „non Imperium non secures. u Vgl. Liv. XXIV. 9.

5 Tacit. Ann. III. 26. : „Praecipuus Servius Tullius sanctor legum fuit, quis etiam reges obtemperarent." Pomp. L. 2. §. I. de Orig. Jur.

368 Viertes Buch. Die Statsformen.

aber für diese war der Wille des Königs selbst unentbehrlich und gewöhnlich auch maszgebend. Denn nur er konnte das Gesetz in Antrag bringen, und gegen seinen Willen kein Vor- schlag in Berathung oder zur Abstimmung kommen. 6 Auszer den Gesetzen konnte aber der König unzweifelhaft durch sein Edict, ohne Berathung und Zustimmung irgend einer be- schränkenden Versammlung, das Beeilt näher bestimmen, welches er schützen und handhaben werde. Machte er auch selten davon Gebrauch, so wurde es von jeher doch als ein Recht der römischen Magistrate betrachtet, das Gewohnheits- recht und neue Rechtsansichten in solcher Weise zur Aner- kennung zu bringen, und in den von ihnen bestimmten Formen fortzubilden. Dieses jus edicendi ist von den Königen auf die Magistrate der Republik übergegangen, nicht für diese neu begründet worden.

So war auch die Autorität der römischen Könige in Hand- habung der Rechtspflege viel gröszer, als die der germa- nischen Fürsten. Wie diese saszen auch jene öffentlich und anfangs persönlich zu Gericht, aber der Rex war nicht be- schränkt durch das Urtheil der Beisitzer. Er leitete nicht blosz den Gang des Processes, er setzte selber den Rechts- satz fest (jus dicit), welcher zur Anwendung kommen sollte. Er urtheilte wohl auch in der altern Zeit häufig selbst. Die ganze Privatrechtspflege und die Strafrechtspflege gröszern- theils hingen durchaus von ihm ab.7

schon von Romulus: „Leges curiatas ad populura tulit." Vgl. Liv. I. 8. Bion. Hai. IV. 3G.

6 Rubino a. a. 0. S. 18 ff. hat das altrömiäche Statsrecht in vielen Beziehungen wieder zur Anerkennung gebracht, aber geht wohl zu weit, wenn er den Königen in älterer Zeit für sich allein alle Gesetzge- bungsgewalt zuschreibt. Der bescheidenere Ausdruck rogare legem wird zwar von den Königen nicht gebraucht, sondern die vornehmeren Be- zeichnungen constituere, instituere, dare jus; aber damit wird weder die Bedeutung des Senates, noch die des Volkes verneint.

7 Cicero de Rep. V. 2.: „Omnia conficiebantur judieiis regüs.a 11.31. Zonaras, annal. VII. 13.

Sechzehntes Capitel. B. Altrömisches Volkskönigthum. 369

Wie ausgedehnt ferner war die Heeresgewalt des rö- mischen Königs! Keine Schranke hemmte im Felde das ab- solute Kecht desselben über Leben und Tod aller Kriegs- Pflichtigen von den obersten Führern bis hinab zu den nie- drigsten Kriegern. Noch aus den Zeiten der römischen Re- publik, in welchen die überlieferte königliche Gewalt so man- cherlei Beschränkungen erlitten hatte, kennen wir eine ziem- liche Anzahl von Beispielen, in welchen nicht blosz Dictatoren, deren vollere Macht eben die alte ungeschmälerte königliche war, sondern auch Consuln trotz den Bitten oft des ganzen Heeres angesehene Kriegsobersten hinrichten, oder in ganzen Heeresabtheilungen je den zehnten Mann enthaupten lieszen.8

Die übrigen Statsämter und priesterlichen Wür- den leiten groszentheils ihr Dasein und ihre Befugnisse von dem Könige ab. Der tribunm Gelerum als Anführer der Rei- terei, der praefectus urbi, welcher in der Stadt als Stellver- treter der Könige waltet, werden von ihm ernannt. Die Au- gurn, die Pontifices haben ihre Wissenschaft der Weis- sagung und des heiligen Hechts von dem Könige empfangen. 9

In dem Imperium liegt endlich als innerster Kern des- selben eine mächtige Eegierungsge walt , welche überall, wo das Bedürfnisz des States und die Umstände es im ein- zelnen Falle verlangen, ein- und durchgreift, und im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt das Notlüge gebietet und anordnet. Diese Gewalt bei den hellenischen Königen nur in sehr ge- ringem Umfange, bei den germanischen fast gar nicht bekannt nimmt in dem römischen Statsrechte von Anfang an eine wichtige Stellung ein, und wie die Römer in ihrer Familie und als Eigenthümer die absolute Herrschaft lieben , so ist auch ihr statliches Imperium absolut. Ihre Könige sind daher nicht blosz Richter im Frieden, sie sind, wie schon der Name zeigt, ganz vorzugsweise Regenten.

s Livius II. 59. VIII. 7. IX. 16. Brisson de formuL p. 455 ff. 9 Rubin o a. a. 0. S. 114 und 298.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 24

370 Viertes Buch. Die Statsformen.

Nur so erklärt sich, wie die ganze Politik des römischen States in der königlichen Periode von dem individuellen Willen und der Thatkraft der Könige bestimmt, wie alle Einricht- ungen auf die Könige zurückgeführt werden. Nur von da aus wird es verständlich, wie schon zu dieser Zeit riesenhafte und gemeinnützliche Bauwerke in Korn von den Königen ange- ordnet und durchgeführt werden. Sie haben die Sorge für die Lebensmittel und für eine gute Bewirtschaftung des Bodens, sie wachen über die guten Sitten der Bürger und üben die polizeiliche Gewalt in ausgedehntem Masze aus. Alle Gewalt überhaupt, welche später unter die Consuln, die Prätoren, die Censoren, die Aedilen vertheilt ward, ist ursprünglich in der Einen Hand des römischen Königs verbunden. 10

Mit Einem Worte: Der römische Stat zuerst führt die Monarchie in Form einer mensch lieh- nationalen Tndi- vidualherrschaft mit voller Concentration aller statlichen Macht und mit einer Fülle sogar abso- luter Regierungsgewalt in die Geschichte ein.

Siebenzehntes Capitel.

C. Das römische Kaiserthum.

Das römische Kaiserthum, welches von C. Julius Cä- sar eingeleitet und vouAugustus eingeführt worden ist, und auf die ganze spätere Entwicklung des mittelalterlichen und modernen Statsrechts einen groszen Einflusz geübt hat, beruht keineswegs blosz, wie das Neuere hier und da behauptet, auf einer Anhäufung republikanischer Aemter und Würden, son- dern ist in der That eine Erneuerung der monarchischen Ge- walt, welche die Kindheit des römischen States geleitet hat,

10 Rubino S. 136.

Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 371

eine Erneuerung freilich in viel groszartigeren Verhältnissen und der seitherigen Umbildung des States gemäsz.

Allerdings lieszen sich die Kaiser Gewalten übertragen, welche vorher einzelnen republikanischen Magistraturen zuge- hört hatten: die tribunicische Gewalt, in Folge welcher sie auf persönliche Unverletzlichkeit, auf ein weit wirkendes Eecht der Intercession und der Verneinung, und auf die Idee, Schirmer des niedern Volks und seiner Rechte zu sein, einen erhöhten Anspruch bekamen ; die censorische Gewalt, welche ihnen die Aufsicht über die Sitten und die Befugnisz verlieh, die Listen des Senats und der Ritter nach ihrem Ermessen zu bereinigen; die Würde des pontifex maximtts, und damit die Befugnisz über wichtige Fragen des geistlichen Rechts zu ent- scheiden. Von Zeit zu Zeit nahmen sie auch persönlich die Würde eines Consuls an. Aber in der Hauptsache, in Idee und Macht, bestand die Statsveränderung nicht in solcher Cumulation von Magistraturen, sondern in der neuen Begründ- ung einer einheitlichen Centralmacht, einer wahren Monarchie. Republikanische Formen verdeckten einem Theil der Bevölkerung anfänglich den Uebergang in die Monarchie; in den Augen der Kundigen aber war diese schon unter Au- gustus vollständig eingeführt. Das monarchische Princip wurde schon bei der Erhebung des Kaisers Tiberius sehr scharf im Senate ausgesprochen: „Nicht darum kann es sich nunmehr handeln, zu trennen was unzertrennlich verbunden ist, sondern um Anerkennung des Grundsatzes, dasz derStat Ein groszer Leib ist, und durch Einen Geist regiert werden musz.1

Der Name Princeps (Senatus) freilich war bescheiden, die Macht des Kaisers dagegen so unermeszlich , dasz nur wenige Individuen den Genusz derselben zu ertragen vermochten, die meisten durch das Uebermasz geistig oder moralisch ruinirt

1 Tacitus Ann. I. 12; I. 1. von Augustus: Cunda discordiis civili- bus fessa nomine Principis sub Imperium accepit." Vgl. die Verhand- lungen von Mäcenas und Agrippa mit Augustus bei Dio Cassius 52.

24*

372 Viertes Buch. Die Statsforinen.

wurden. Die Gewalt und die Würde war nicht erblich, dem Kaiser nicht anerboren, sondern dieser wurde gewählt, anfänglich dem Scheine nach nur auf zehn Jahre, in Wahrheit aber auf Lebenszeit. Sie hatte einen menschlichen, nicht einen göttlichen Ursprung, und erkannte die Hoheit des Volkes an. Durch ein Volksgesetz wurde ihm die Gewalt von demVolke übertragen.2 Allein auf das Blut und die Familienver- bindung wurde dennoch bei der Anerkennung der Kaiser zwar nicht principiell, aber factisch in den meisten Fällen Bücksicht genommen, und der anerkannte Kaiser empfing jeder Zeit die kaiserliche Gewalt, welche an Umfang der Gewalt des römischen Volkes selbst zur Zeit der Kepublik gleichgeachtet wurde, zu persönlichem, vollem Rechte. Auch das Volk konnte dieselbe später nicht mehr beschränken noch entziehen. Sie war durch die Ueberlieferung gesichert.

In ihr war abgesehen von den obigen Magistraturen, die regelmäszig mit der kaiserlichen verbunden waren, und diese sehr verstärkten enthalten:

1. Die Disposition und der Befehl über die gesammte Kriegsmacht des States, zu Rom über die Garde der Prä- torianer. Die Einführung stehender Heere, für die spätere Grösze des Reiches ein Bedürfnisz, sicherte zugleich die Existenz des Kaiserthums, und diente dazu, demselben überall Gehorsam zu erzwingen. 3 In dieser Eigenschaft nahmen die Kaiser den Titel der „Imperatoren" an , welcher vordem eine andere Bedeutung gehabt hatte

2. Die unbeschränkte Regierung über eine Anzahl und gerade die wichtigsten und reichsten Provinzen. Von

2 Ulpianus in L. 1. pr. de constitut. princip. : „Quod principi placuit, legis habet vigorem, utpote , cum lege regia, quae de imperio ejus lata est, populus ei et in eum omne suum Imperium et potestatem conferat. Gaj. I. 5. §. 6. J. de jure nat.

3 Mäcenas empfahl daher auch dem Kaiser Augustus , eindringlich, ein stehendes Heer ^aiQcatoiiag cc&auäiovg) zu bilden, dagegen die Masse der Bevölkerung den friedlichen Gewerben zu überlassen. Dio Gass. a.a.O.

Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 373

daher zogen die Kaiser unermeszliche Keichthümer und Kräfte aller krt an sich. Im übrigen hatten die Provinzialen durch die Statsveränderung bedeutend gewonnen. Ihre Groszen wurden von dem Kaiser in den Senat berufen und mit Aemtern be- traut, die Volksniasse wurde durch die kaiserlichen Legati weniger bedrückt und ausgesogen, als früher durch die Pro- consuln und Proprätoren der Republik, welche sich abwechselnd in den Provinzen zu bereichern pflegten. Das dauernde In- teresse der Kaiser gebot theils gröszere Schonung theils eine geregelte Verwaltung der Provinzen.

3. Die Entscheidung über die auswärtige Politik, das Recht über Krieg und Frieden, und das Recht Bündnisse abzuschlieszen. 4

4. Die Macht, den Senat zu versammeln, Anträge an denselben zur Berathung zu bringen, den Senatsbeschlüssen gesetzliche Geltung zu verleihen. 5 Wie fügsam der Senat sich den Kaisern gegenüber erwies, wie abhängig derselbe auch von diesen war, ist bekannt genug.

5. Die entscheidende Stimme bei allen Besetzungen der Magistraturen und wichtigeren Statsämter, indem sowohl der Senat, als die damals nur noch dem for- mellen Scheine nach erhaltene Volksversammlung, die von dem Kaiser empfohlenen Bewerber zu berücksichtigen, so- gar durch das Gesetz verpflichtet ward. 6

6. Die unbeschränkte allgemeine Vollmacht, alles zu

4 Lex de Imp. Vespasiani: „foedusque cum quibus volet facere liceat."

5 Ebenda: „utique ei senatum habere, relationem facere, remittere senatus consulta per relationem discessionemque facere liceat utique cum exvoluntate auctoritateve jussu mandatuve ejus praesente eo senatus habebitur omnium rerum jus perinde habeatur servetur ac si e lege Se- natus edictus esset habereturque.

6 Ebenda: „utique quos magistratum potestatem imperium curationem cujus rei petentes senatui populoque Romano commendaverit quibusque suffragationem suam dederit, promiserit , eorum comitis quibusque extra ordinem ratio habeatur."

374 Yiertes Buch. Die Statsformen.

thun, was ihm zur Wohlfahrt und Ehre des States zweck- dienlich erschiene. Das ist der innerste Kern der Kaiserge- walt, die überall, wo das Statswohl es erfordert, mit Macht eingreift, und das öffentliche Bedürfnisz befriedigt.7 Eine Folge dieser auszerordentlichen Vollmacht ist es, dasz die kaiserlichen Edicte allein nicht blosz , sondern sogar die De- crete und Rescripte die volle Autorität von Gesetzen haben, dasz somit auch die gesammte Gesetzgebungsgewalt von dem Kaiser allein in weitestem Umfange ausgeübt werden kann.8

Damit aber jedes Bedenken über die Anwendung dieser absoluten Macht zum Schweigen gebracht, und jeder Wider- stand gegen dieselbe erfolglos werde, bestimmt das Kaiserge- setz ausdrücklich: dasz wenn einer um dieses Gesetzes willen gegen Volksgesetze, Plebiscite oder Senatsordnungen handle, oder was dieselben vorschreiben, nicht befolge, ihm das nicht zum Schaden gereichen solle, und er deszhalb nicht zu ge- richtlicher Rechenschaft gezogen werden dürfe. Die Un Verant- wortlichkeit des Kaisers verstand sich von selbst; sie wurde aber auch auf alle ausgedehnt, welche im Auftrag und Dienst des Kaisers nach seinem Willen handelten, somit das Gegen- theil der heutigen Ministerverantwortlichkeit festgesetzt.9

In der That war diese Kaisermacht auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes ganz ähnlich wie das Eigenthum des römischen Sachen- und die väterliche Gewalt des Familien- rechts. Sie war unbeschränkte Herrschergewalt, ,0

7 Ebenda: „utique quaecumque ex usu reipublicae majestate divinarum huma'rum publicarum privatarumque rerura esse censebit ei agere facere jus potestasque sit."

8 Savigny, System des röm. Rechts. I. S. 121 ff.

9 Lex de Imp. Vesp.: „Si quis hujusce legis ergo adversus leges ro- gationes plebisve scita senatusve consulta fecit fecerit sive quod eum ex lege etc. facere oportebit non fecerit hujusve legis ergo id ei ne fraudi esto neve quit ob eam rem populo dare debeto neue cui de ea re actio neve judicatio esto neve quis de ea re apud . . agi sinito."

,0 Den Namen dominus freilich, der im Gegensatze an die servi erin- nerte, verbaten sich die ersten Kaiser noch als unwürdig (Sueton. Octav.

Siebenzehntes Capitel. C. Römisches Kaiserthum. 375

vor der sich Alles beugen muszte. Sie war die Concentration der römischen Weltherrschaft, das imperium nrundi in Einem Individuum. Das ideale Motiv, welchem freilich die Kealität nur selten entsprach, war die öffentliche Wohl- fahrt, Salus publica, das grosze Statsprincip der Kömer, welches sie in den Statsangelegenheiten wenigstens in späterer Zeit mehr anriefen als das Eecht, Jus, so sehr sie im Pri- vatrecht gerade dieses zu Ehren brachten und ausbildeten.

Die römische Kaisergeschichte, wie sie diese absolute Statsform im groszartigsten Maszstabe zur Erscheinung gebracht, hat zugleich der Nachwelt die Warnung hinterlassen, dasz ein solches Uebermasz von Macht weder zum Besten dessen dient, der sie besitzt, noch der Nation, für welche sie geübt werden soll. n

In der Zeit des untergehenden und innerlich verdorbenen Weltreiches mochte übrigens dieselbe nöthig und in dem Schick- sale hinreichend begründet sein. Die römische Aristokratie war theils entartet, theils nicht stark genug, den unermesz- lichen Statskörper zu leiten. Von Zeit zu Zeit noch ohn- mächtige Versuche wagend , ihre frühere Herrschaft herzu- stellen, ergab sie sich doch in der Eegel der zwingenden Ge- walt der neuen Verhältnisse. 12 Die Masse des Volkes , ohne Anspruch auf Herrschaft, der Waffen entwöhnt, den Werken und Genüssen des Friedens ergeben, zog sogar die Herrschaft des Einen Kaisers dem Kegimente des Senates vor, und freute

53 : vdomini appellationera ut maledictum et opprobrium semper exhor- ruit" Tiber. 27. Tac. Ann. IY. 37.38.). Spätere Kriecherei aber führte den Titel dennoch ein.

11 Man vergleiche nur die folgenden Worte des Kaisers Tiberius, welche ursprünglich vielleicht aufrichtig gemeint waren, mit seinen Tha- ten. Sueton. Tiber. 29: „Dixi et nunc et saepe alias, P. C, bonum et salutarera Principem, quem vos tanta et tarn libera potestate exstruxistis, senatui servire debere et universis civibus saepe et plerumque etiam singulis: neque id dixisse me poenitet."

12 Wie wenig damals die frühere republikanische Verfassung bei den untern Volksclassen zu Rom populär war, zeigen die Vorgänge bei der Erhebung des Kaisers Claudius.

376 Viertes Buch. Die Statsformen.

sich trotz der eigenen politischen Ohmnacht über die De- inüthigung des Adels. Der alte Römercharakter, früher noch als der Eömergeist, war schwach und krank geworden, und es büszten die Kömer den unersättlichen Trieb nach Herrschaft, der sie von Eroberung zu Eroberung geführt hatte, nun mit der eigenen gemeinsamen Knechtschaft.

Achtzehntes Capitel.

I). Fränkisches Königthuin.

Auf römischem Boden erhob sich das grosze Reich der deutschen Franken. Die fränkische Monarchie, aus römischen und deutschen Elementen gemischt, bildet denn auch den Uebergang aus der antiken in die mittelalterliche Weltordnung. Viel mächtiger als ein alt-germanischer König ist der fränki- sche König, doch weder so absolul noch so übermächtig als der römische Kaiser. Die tdeen des germanischen Rechts und der germanischen Freiheit nahen sich gewisser- maszen vermählt mit den Gedanken der römischen Stats- hoheit und Macht, and aus dieser Verbindung ist die mo- narchische Institution hervorgegangen, wie wir sie in der Zeit Karls des Groszen in voller Kraft entfaltet sehen,

Eine Reihe von Gründen wirkten zusammen, um die ein- heitliche Macht der karolingischen Könige zu stärken: vorerst die merkwürdige Folge individuell ausgezeichnete! und glück- licher Herrscher, sodann die wachsende Ausdehnung eines groszen Reiches, für welches ein umfassendes und starkes po- litisches Regiment Bedürfnisz ward, die Notwendigkeit einer stets verfügbaren groszen Kriegsmacht, und die Siege, welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit des romani- schen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der CMtur des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und durch- greifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt waren.

Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthum. 377

In einer Beziehung freilich machte die Institution der Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich- keit nämlich der königlichen Würde, neben welcher die frühere Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität zusammen- schrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der privatrecht- lichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne des ver- storbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter, die ein Privatmann hinterlassen hatte.1 Damit war aber der poli- tische und st ats rechtliche Charakter der Thronfolge, welcher die fortdauernde Einheit des States erhält, gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip, dasz die Herrschaft im State wie ein Vermögen des Individuums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patrimonial princip in dieser Hinsicht gehuldigt.*

Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtverhält- nissen sind folgende zu erwähnen:

1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger und fruchtbarer in dem fränkischen Reiche, als vordem in dem engen Lebenskreise einer einzelnen germanischen Völ- kerschaft , und die Könige erlangten auch dort einen viel gröszern Einflusz auf dieselbe , als sie vormals gehabt hatten. Der römische Grundsatz, dasz jede beliebige Willens-

1 Karl der örosze freilich suchte diesen Uebeln einigermassen zu be- gegnen durch das Reichsgesetz von SOG. „Placuit inter praedictos filios nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma- nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites invadere praesumat ; sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum, ut auxüium Uli ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibili- titera, sive infra patriam sive contra exteras nationes." In derselben wird auch der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. Eichhorn, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Gruizot, Essais sur l'hist. de France. S. 206 ff.

2 Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die „terra Salica" behandelt. Vgl. Z öpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch, II. §.33. 3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.

378 Viertes Buch. Die Statsformen.

äuszerung des Kaisers in Kecktssachen Gesetzeskraft habe, konnte natürlich unter dem germanischen Volke der Franken weder Billigung noch Geltung finden; aber die in den meisten Fällen maszgebende Vorbereitung der Gesetzes- entwürfe wurde nun gewöhnlich in dem königlichen Cabinette mit Hülfe der königlichen Räthe vorgenommen, und die Ge- setze selbst im Namen des Königs erlassen, dessen Sanction erst den Entwürfen Gesetzeskraft verlieh.

Von gröszter Bedeutung aber war es, dasz die Berath- ung, beziehungsweise die Zustimmung der auf den Reichs- tagen versammelten geistlichen und weltlichen Groszen der Aristokratie * in der Sitte und in dem Rechte als unent- behrlich betrachtet wurde für die Gesetzgebung. Die Billig- ung durch das Volk selbst hatte dagegen nur noch eine un- tergeordnete Bedeutung, und galt in den meisten Fällen, ins- besondere wenn es sich um statliche oder kirchliche Organi- sation handelte, nicht mehr als aöthig. Nur wenn das eigent-

3 Hincmar de online palat. 29. von <lrm Reichstag im Mai: „In quo placito gencralitas universorwn majorum tarn clcricorum quam laieorum conveniebat. Seniores. proptet consilium ordinandwn: minores propter

idem suvcipiendum et interdum pariter tractandum , et non ex potcsrate sed ex proprio mentia intellectu vel sententia confirmandum." Und von

dem Reichstag im Herbst: „Aliud placitum, cum senioribiw tantum et praecipuis consiliariis habebatur, in quo jam futüri anni Status fcractari ineipiebatur." Dalier denn auch die Formeln in manchen Capitularion : „per consütum Sacerdotura et Optimatum meorum ordinavimus" (Gap. Karlomanni a. 742): „CWn eonseiMU Epi8COporum sive Comitum et Opti- matum Francorum" (Cap. Pippini a. 744): „Hortatu oinniuiu fidelium nostrorum et maxime Episcoporum ac rHiquoruni Sacerdotum consultu" (Cap. Caroli M. a. 709). Der Vergleich unter den Söhnen Ludwigs des Frommen vom Jahre 851 enthält die ausdrückliche Bestimmung ('. (i. : ,,Et illorum, scilicet veraciter nobis fidelium, connnuni consilio, secundum Dei voluntatem et commune salvamentum ad restitutionem sanctae Eccle- siae et statum regni, et ad honorem rcgium atque pacem populi com- missi nobis pertinenti, adsensum praebebimus\ in hoc ut illi sie sint nobis fideles et obedientes, ac veri adjutores atque cooperatores, sicut per rectum unusquisque in suo ordine et statu suo Principi et suo Seniori esse debet."

Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthum. 379

liehe Volksrecht verändert werden sollte, dann wurde auch die Gutheiszung des Volkes selbst noch erfordert.4

In jener Mitwirkung der Optimaten ist der erste Ansatz der ständischen Kepräsentation zu erkennen, welche in den spätem Jahrhunderten eine so groszartige Ausbildung er- langt und den repräsentativen Stat hervorgebracht hat.

2. Ee gierung. Die Grösze des States und die damalige Umgestaltung der öffentlichen Zustände machten eine Regier- ungsgewalt, wie sie dem altern germanischen Leben unbekannt gewesen, zum unabweisbaren Volksbedürfnisz. Der Idee für die Handhabung des Friedens und die Aufrechthaltung des Kechts zu sorgen, gesellte sich die Rücksicht auf die öffent- liche Wohlfahrt bei. Indessen war den germanischen Vor- stellungen das römische Imperium ein zu fremder und uner- träglicher Begriff, als dasz derselbe hätte adoptirt werden können. Vielmehr erhob sich die neue Regierungsmacht im Geiste der einheimischen Mundschaft (mundiburdium, mun- dium, auch sermo, verbum Regis). Diese königliche Mund- schaft verhält sich auf dem Gebiete des Statsrechts zu dem römischen Imperium gerade so , wie die Vormundschaft des deutschen Ehemanns und Vaters zu der römischen potestas im Familienrecht. Sie ist nicht eine absolute Herrschergewalt, sondern der Schutz der Rechte des Volks und der Unter- thanen und die Sorge für deren Wohl sind die Ideen, welche sie beleben.5 Die Vorstellung der Pflicht wird mit der des Rechts unauflösbar verbunden, und schrankenlose Willkür- gewalt nicht gestattet. Der neue Gedanke ist freilich noch

4 Capitul Caroli M. III. a. 803. c. 19: „ut populus interrogetur de capitulis quae in lege noviter addita sunt. Est postquam omnes con- senserint subscriptiones et manufirmationes suas in ipsis capitulis faciant."

5 Du Gange s. v. mundiburdis et mundiburdium. Vgl. cap. Caroli M. a. 802. c. 40. Hincmar de Ordine Pal. 6: „Et Rex in semetipso no- minis sui dignitatem custodire debet. Nomen enim regis intellectualiter hoc retinet, ut subjeetis omnibus rectoris officium procuret."

380 Viertes Buch. Die Statsformen.

nicht nach allen Seiten klar geworden, aber der Kern des- selben ist gesund und einer wahrhaft statlichen Entwicklung fähig.

Von diesem Standpunkte aus darf und soll der König auch gebieten. Das Gebot äuszerte sich in der Form des sogenannten Bannes. Der König hatte sowohl den Heer- bann als den Gerichtsbann. In Folge des ersten verfügte er über die ganze Kriegsmacht des Eeiches, freilich auch hier durch das Herkommen beschränkt und nach bestimmten Ver- hältnissen der Kriegsdienstpflicht. Indessen riefen starke Kö- nige, wie insbesondere Karl der Grosze, nicht blosz das lehens- pflichtige Gefolge, sondern ganze Abtheilungen des Heerbannes auch zu Angriffskriegen auf, und bedrohten jeden Säumigen mit dem schweren Königsbann von 60 Schillingen Busze. 6

In dem Gerichtswesen, woran sich noch immer die Lan- desverwaltung anlehnte, übt der König den Gerichtsbann aus, freilich selten mehr in Person, in der Kegel durch die Gaugrafen, deren Gerichtsbarkeit aber von ihm abgeleitet ward. Die erstarkende Statsordnung beschränkte nun die früher in viel weiterem Umfange geübte Selbsthülfe und Bache in privatrechtlichen Streitigkeiten wie in Straffällen, und über das ganze Land breitete sich der sogenannte Königsfrieden unter dem Schutze des Königsbannes aus und ersetzte den vormals leichter zu störenden gemeinen Frieden.

Auch die Einkünfte der königlichen Kammer und der Fiscus des Königs, worüber dieser nach eigenem Er- messen frei verfügte, hatten bedeutend zugenommen. Die Eroberung römischer Provinzen und die Aufhebung der alten König- und Herzogthümer hatten die Domänen der Könige sehr bereichert. Ueberall im Keiche gab es ansehnliche kö- nigliche Villen, von deren Pfalzen hinwieder viele zinsbare Güter abhingen. Die Grund- and Kopfsteuern der Provincialen

* Vgl. Zöpfl. D. St. u. R. G. II. §. 36. Cap. 2. Caroli M a. 812» §. 1 : „Quicumque homo über in hostem bannitus fuerit et venisse con- temserit, plenum heribannum i. e. GO solidos persolvat."

Achtzehntes Capitel. D. Fränkisches Königthura. 381

wurden beibehalten, die römischen Zölle theil weise sogar aus- gedehnt, den besiegten Stämmen Tribute auferlegt und reich- lichere Friedensgelder und Buszen erhoben.7

3. Ein von dem Könige abhängiges Beamtensystem diente nun dazu, die königliche Macht nach allen Sichtungen und auf allen Stufen der Statsordnung auf Volk und Land einwirken zu lassen. Die obersten Eeichsämter wurden nach dem Vorbilde des byzantinischen Kaiserhofes an dem Hofe des Königs concentrirt. Dahin gehören der Pfalz graf (comes palatii), welcher an des Königs Statt das oberste Richteramt verwaltet, der C aplan (apocrisiarius , referendarius), welcher an der Spitze der Hofgeistlichkeit steht und in kirchlichen Dingen referirt, und der Kanzler (cancellarius) , welcher der königlichen Kanzlei vorsteht und daher auch die diplomatische Correspondenz leitet. Dahin auch die eigentlichen Hofämter des Kämmerers, der den königlichen Schmuck, den Hof- stat der Königin , und die Ehrengaben des Hofes besorgt, des Seneschals, welcher die Aufsicht hat über alle Ministeria- len, das Gesinde und die ganze Oekonomie des Hofes, des Kellners (buticularius), welcher die Naturalgefälle bezieht, und auch für die königliche Tafel den Wein besorgt, und des Marschais (marescalcus , eigentlich „Eoszknecht"), welcher die königlichen Stallungen unter sich hat, des Hausmeisters (mansionarius) , welcher dafür sorgt, dasz der König, wo ei- sernen wechselnden Hof aufschlagen will, eine würdige Auf- nahme und Wohnung finde, der vier obersten Jägermeister (venatores principales) und des Falkners (falconarius).8

Die königlichen Sendboten (missi dominici), die jährlich mit besonderer Vollmacht nach der freien und wech- selnden Ernennung des Königs die einzelnen Länder des weiten Reichs bereisten, waren hier seine Stellvertreter. Sie waren

7Ygl. Zöpfl a.a.O. §. 40. Waitz, Deutsche Verf.-Geschichte IL 498 ff.

8 Vgl. darüber Hincmar IG 24. -

382 Yiertes Buch. Die Statsformen.

seine Augen, durch deren Hülfe er Einsicht erlangte in die öffentlichen Zustände, in den Stat und in die Kirche, seine Ohren, mit denen er die Beschwerden und Wünsche der Bevölker- ung vernahm, zuweilen auch seine Arme, durch die er dem Gesetze Gehorsam verschaffte und der öffentlichen Ordnung Schutz verlieh.9

Die Gaugrafen, welche in den Gauen die hohe, und die Zentgrafen, welche in den Zenten die mittlere Ge- richtsbarkeit ausübten, leiteten nun ihre Eichte rgewalt von dem Könige ab , als dem obersten Richter auf Erden, die ersten unmittelbar, die letztern mittelbar, ebenso ihre mili- tärische Gewalt: und obwohl allerdings schon unter den Nachkommen Karls des Groszen die Neigung zur Erblichkeit der Grafenämter theilweise zu einem Rechte auf Erblichkeit erwachsen war, so galt in der noch frischen Periode der aus- gebildeten fränkischen Monarchie die Würde der Grafen als ein wahres Reichsamt, auf dessen Besetzung dem Könige ein entscheidender Einflusz zukam, noch nicht als eine feste Erbherrschaft.

Als das Institut der Sendboten auszer Uebung kam, die Herzogthümer hergestellt wurden und die Reichsämter zu Fa- milienrechten wurden, da war es auch um die Macht des neuen romano-germanischen Königthums geschehen, und die Aristo- kratie der zahlreichen Fürsten und Herren trat an seine Stelle.

4. Endlich ist noch die enge Beziehung des fränkischen Königthums sowie der weströmischen Kaiserwürde, welche durch Carl den Groszen mit demselben verbunden wurde, zu der Ausbreitung des Christenthums und zu der christ- lichen Kirche als eine hervorragende Eigenschaft zu erwähnen.

Der Stat war ein christlicher geworden und das Ko- ni gthum hatte durch Priesterhand die göttliche*Weihe

9 Capit. Caroli M. a 802. I. et Tl. et a. StO. Guizot, Essais sur l'hist. de France, p. 191 ff.

Achtzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 383

empfangen, und war so geheiligt worden.10 Der König fühlte sich verpflichtet, für die Erhaltung und Ausbreitung des reinen christlichen Glaubens in seinem Eeiche zu sorgen, und als Kaiser, soweit seine Macht reichte, das Heidenthum zu vertilgen und die Ketzerei auszurotten: eine Verpflichtung, welche Karl der Grosze in groszartigem Umfange mit Strenge vollzog.11 Die Christenheit selbst galt als ein zusammenge- höriger Körper mit zwei Ordnungen , der priester liehen und der königlichen, der kirchlichen und der stat- lichen.12 Obwohl aber der König nur das Haupt der letztern war, so handhabte er doch auch dem Klerus gegenüber die einmal erkannte christliche Ordnung. Er berief Synoden, be- aufsichtigte die Bischöfe und die Klöster, und erliesz eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen von kirchlichem Inhalt. Ebenso wirkte der Geist der Hierarchie hinwieder auf die Ge- staltung der politischen Einrichtungen und auf die Rechts- grundsätze der weltlichen Ordnung bedeutend ein.i;{

Neunzehntes Capitel.

E. Die Lehensmonarohie.

Die fränkische Monarchie hatte zwar in ihrer organischen Anlage alle Bedingungen einer wahren Monarchie in sich,

10 Hinemar a. a. 0. 5. ,,Principes sacerdotum Sacra unetione reges in regnum sacrabant."

11 Schon bevor er die Kaiserwürde erhielt, führte Karl der Grosze den Titel: „devotus sanetae Bei ecclesiae defensor humilisque adjutor."

12 Die angebliche Aeuszerung des Papstes Gelasius an den Kaiser Anastasius: „Duae sunt Imperatrices augustae , quibus principaliter mundus hie regitur, auetoritas sacrata Pontificum et regalis potestas" ist auch in die fränkischen Reichsgesetze (Cap. V. 319.) aufgenommen. Ygl. Hinemar a. a. 0. c. 5.

13 Ygl. Eichhorn a. a. O. §. 158.

384 Viertes Buch. Die Statsformen.

und insofern ist sie der Anfang einer neuen, der modernen Statsentwicklung. Allein die widerstrebenden Kräfte und Lei- denschaften waren damals in der Nation noch so mächtig, und die alten einer jeden starken Statsgewalt abgeneigten Gewohn- heiten des Adels und der freien Germanen noch so fest, dasz es nur ausnahmsweise einzelnen groszen Kegenten gelang, den öffentlichen Charakter des neuen Königthums und die darin liegende Statsmacht groszartig zu entfalten. Saszen schwache Individuen auf dem Throne, so wurde sofort die Ohnmacht derselben spürbar und auf allen Seiten zeigten sieh die Ten- denzen zur Auflösung der Statseinheit, zur Beschränkung und Nichtachtung der Centralgewalt , zu selbständig particularer Herrschaft in kleinen Kreisen.

Die Abschwächung und das Erlöschen der Karolinger be- zeichnet zugleich die Verdunkelung der königlichen Macht und das Wach stimm der in den einzelnen Stämmen, Ländern und Gebietsteilen sich erhebenden Fürsten- und Herrenge- walt. An die Stelle der früheren roimuio-germanischen Welt- monarchie trat mm das Lehenskönigthum. In ihm er- langte der Charakter des Mittelalters in Vorzügen und .Man- geln einen angemessenen politischen Ausdruck.

Die hervorragenden Eigenschaften der Feudalmonar- chie sind:

1. Alles bisherige Königthum beruhte auf den Volks- stämmen oder ganzen Nationen oder einem zur Einheit ver- bundenen Volke. Man darf dasselbe wohl eine volksthüm- liehe oder nationale Institution nennen. Das feudale Königthum dagegen steht zwar auch in Beziehung zu einem bestimmten Volke, an dessen Spitze der König ist, aber es wurzelt, wenn man auf das Wesen sieht, vornehmlich auf der engen persönlichen Treu verb indung zwischen dem Könige als dem obersten Lehensherrn und seinen Va- sallen, welche von ihm Macht, Ehre, Vermögen ableiten. Die übrige Masse des Volkes, soweit sie nicht in den Lehensnexus

Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 335

steht, kommt daher nur in untergeordneter Weise, nur mittel- bar in Betracht. Dieses Königtimm ist somit nicht eine na- tionale Institution im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine eigenthümliche St an des Institution. Nicht das Yolk, sondern die Gefolgschaft ist die ursprüngliche Grundlage desselben.

2. Die persönliche Treue, von dem Glänze und der Kraft der Ehre beleuchtet und gestärkt, wurde nunmehr zu dem wichtigsten Statsbegriff erhoben.1 Alle Vasallen muszten daher persönlich dem Herrn, indem sie das Lehen von ihm in der Kegel knieend empfingen, den Eid der Treue und Hui de2 schwören. Am ausgebildetsten sind, wie überhaupt das Lehenssystem, so auch diese Schwurverhältnisse in dem Saxo-Normanni sehen Rechte des englischen König- reichs bestimmt. Die eigentlichen Lehensvasallen schwören dem Könige, ihrem Lehensherrn, knieend den Mann schafts- ei d;< (homagium, liomage) und stehend auf das Evangelium den Treueid (fidelitas, foy, feaute). 4 Bischöfe und Aebte

1 Tacitus schon weist in der Schilderung des germanischen Gefolges auf diese moralischen Eigenschaften als die Seele des Institutes hin c. 13 und li: „Magna et com i tum aemulatio, quibus primus apud prineipem suum locus; et prineipum, cui plurimi et accerrimi comites. Haec dignitas, hae vires, magno aemper electorum juvenum globo circumdari, in pace decus, in hello praesidium Cum ventum in aciem, turpe prineipi virtute vinci , turpe comitatui, virtutem prineipis non adaequare. Jam vero infame in oninem vi tarn ac probrosum, superstitem prineipi suo ex acie recessisse. Blum defendere, tueri, sua quoque fortia facta gloriae ejus assignare, praeeipuum sacramentum est. Principes pro victoria pugnant, comites pro principe."

2 Im französischen Recht: „foi et homage."

3 Die Formel desselben zeigt, dasz die Treue auch hier der Haupt- inhalt ist: „Devenio liomo vester de tenemento, quod de vobis teneo et Fidem vobis portdbo de vita et membris et terreno honore contra omnes gentes." Bracton. II. 25. §. 8. „Jeo deveigne vostre hörne de vie et de membre, et de terrene honor et a vous serra foyalt et loyall, et foy ä vous portera des tenemens, que jeo claime de tener de vous." Ygl. Du Cange s. v. homagium.

4 Die Formel bei Bracton a. a. 0. „Hoc audis, Domine, quod

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 25

386 Viertes Buch. Die Statsformon.

schwören ausnahmsweise nur den letztern. Jener ist enger als dieser und notwendiger an den Lehensbesitz geknüpft. Die Treue ist allgemeiner und es kann daher auch auszerhalb des Lebensverhältnisses von den übrigen ünterthanen der Eid der Treue gefordert werden, wie das schon in der Karolingischen Zeit freilich auch unter dem Einflüsse von Feudalbegriffen geschehen ist.5

Diese Treue ist gegenseitig. Auch der Herr ist dem Vasallen zur Treue verpflichtet, nur die Ehrerbietung , die der Mann dem Herrn schuldet, hat dieser nicht ebenso zu erwiedern.6

fidem vobis portabo de vita et membris, corpore et catallis (mit Leib und Gut) et terreno honore, sie me Deus adjuvet et haec saneta Dei evangelia." Vgl. Du Cange v. fidelitas. Das longobardische Lehens- reebt und ebenso das deutsche unterscheidet nicht so scharf. Lib. II Feud. d. Y. findet sich die Formel: „Ego juro ad haec saneto dei evan- gelia, quod a modo in antea fidelis huic, sicut debet esse vasallus domino, nee id, quod mihi sub nomine fidelitatis commiserit dominus, pandam alii ad ejus detrimentum, me scientc." Und tit- VI. wird dem, der Treue schwört, eingeschärft, dasz er sechs Rücksichten stäts vor Augen habe: „incolume, tutura, honeshim, utile, facile, possibile." Eine deutsche Formel im sächs. Lehnr. Art. 3. „dat he ime so trüwe unde also holt sie, alse durch recht die man sime herren solo, di wile dat he sin man wesen wille unde sin gut hebben wille." Vgl. Ilomeyerlll. 323.

5 Capit. III. Carol. M. a. 812 u. 13: „Ut missi nostri poputum nostrum iterum nobis fidelitatem promittcre faciant seeundum consuetu- dinem jamdudum ordinatam." Eine Formel in den Capit. Caroli Calvi a. 854 c. 13: „Ego ill. Carolo ab ista die inante fidelis ero seeundum meum savirum (savoir Wissen), sicut Francus homo perrectum esse debet suo Regi. Sic me Deus adjuvet et istae Reliquiae."

6 II. Feud. C: „Dominus quoque in bis omnibus vicem fideli suo reddere debet; quod si non fecerit, merito censebitur mnlcfidus." Auch in England Rechtsregel: „Quantum homo debet domino ex homagio, tantum illi debet dominus ex domininio, praeter solam reverentiam." Jieeves hist. of Engl. law. I. p. 12(3. Ässises de Jerusalem Haute Cour 322 (Kausler S. 372) : „Lassise et la lei de Jerusalem juge et dit que autant doit li rois de fei a 3on home lige, come lome lige doit a luy, et auis est tenus li rois de guarentir et de sauver et de desfendre des homes liges vers toutes gens qui tort lor vorreent faire com ses homes liges sont tenus a luy de guarentir le et de sauver vers toutes gens.

Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 387

3. Das Streben der Lehensmonarchie, alle Unterthanen in ein Vasallenverhältnisz hinein zu ziehen, hat auch eine dingliche Beziehung auf den Boden. In diesem Sinne suchten die ersten englischen Könige von normannischem Geschlechte ein Ob er- eigen t hu m des Königs über das ganze Land zur Anerken- nung zu bringen, in Folge dessen nicht blosz die hergebrachten oder neu verliehenen Lehengüter, sondern auch die freien Eigen- güter in dem Rechtssystem als von dem Könige abgeleitet erklärt wurden. Das Volksrecht des freien Eigenthums am Boden wurde so in das Lehensrecht des abhängigen Grund- besitzes (tenure) umgewandelt.7 Das aber ist ein allge- meiner Charakterzug der Feudalmonarchie, welcher in der englischen Rechtsgeschichte besonders klar erscheint.8

4. Ganz parallel dieser stufenweisen Ableitung des Grund- besitzes von dem Obereigenthum des Königs geht in dem Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat- lichen Gewalt von der königlichen Gewalt. Der König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott zu Lehen empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der Sonne be-

Et por ce ne peut il mie mettre la main sur son home lige sans esgart de ces pers."

7 Wilhelm I. führte erst den Treueid nach Art des Vasalleneides ein. Vgl. oben B. II. Cap. 12. Dann erliesz er ein Gesetz, durch wel- ches alle Grafen, Barone, Ritter, Edelknechte und alle Freien verpflichtet wurden, stäts (wie Vasallen) zum Kriege gerüstet zu seyn, mit Waffen und Pferden, und diese Verpflichtung wurde auf die „feoda et tenemenda"' begründet, welche sie haben. So ward die Fiction des Lehenssystems ein- geführt, dasz der König der ursprüngliche Herr und Eigenthümer alles englischen Bodens sei, und niemand Güter habe, die nicht unmittelbar oder mittelbar von ihm hergeleitet seien. Gegen die Folgen dieses Sy- stems wurde denn freilich später ernste Einsprache erhoben. Vgl. Black- stone Comm. IL eh. 4. Revees a. a. 0. S. 6. ff.

8 In Frankreich war das verwandte Princip: Nulle terre sans seigneurs"" bereits im 13ten Jahrhundert entschieden. Vgl. Loysel II, 2, i. Weder in Italien dagegen noch in Deutschland kam das Lehenssystem zu so ausgedehnter Verbreitung.

9 Nach dem Sachsenspiegel I. 1. ist es zunächst der Kaiser, dem Gott das weltliche Schwert verleiht ; woraus denn folgt , dasz die

25*

38g Yiertes Buch. Die Statsformon.

kommen, so erhalten die niederen Herren sodann ihre Herr- schaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige.10 Sie er- halten die Gewalt aber nicht etwa als blosze öffentliche Be- amte des States, als Organe der Regierung, sondern je für ihre besonderen und abgegränzten Kreise zu eigenem Recht und Genusz, wie sie die Lehensgfiter zu eigener Verfügung und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer Be- fugnisse mit privatrechtlicher Selbständigkeit, und sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grundbesitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems. Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberechtigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und. sei es bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis der Gewalt ist in sich abgeschlossen und Wesentlich selbständig.

Die Einheit der Statsgewall isl daher in dem Lehensstate fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt, durchzu- greifen, so erheben sich oft unflbersteigliche Schwierigkeiten. Die besondere Macht der groszen und kleinen Vasallen setzt sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt diese zu ver- mitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre Wirkungen. Das nationale Lehen wird s«> gespaltenin eine Mannichfaltigkeii particulärer Gestaltungen, die Eine Statsmacht aufgelöst in eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten. Dem individuellen

Könige ihre Macht durcii die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese Theorie kam indessen nicht zu voller praotisoher Geltung; nnd die Könige obwohl sie die höhere Wind.- des Kaisers respectirten, leiteten doehihre Macht unmittelbar von (J<.it ah. Altes französisches Rechtsspruch wort: „Le Roi ne tient que de Dieu et de l'£pee.M Loysel I. 2.

10 Sachsenspiegel III. 58: »Des rikes forsten ne solcn neuen leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vunlen, dar dir man af möge des rike3 vorste wesen, he nc vn i \-;i*i vo D d ein e ko n inge.* III. Hj. §. r>. Koninges bau ne mul niemaii lien wren die koning lelre. Die koning ne mach mit rechto nicht weigeren den bau to liene, deine it gerichte gelegen is.

Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 389

Willen und der individuellen Neigung, besonders der Magnaten des Landes, wird ein freier Spielraum auf dem politischen Ge- biete eröffnet, und ein bunter Keichthum der Formen und Ein- richtungen entfaltet; aber der Zusammenhang des Ganzen ist überall durchbrochen, und der Stat selbst gebunden. Die Aristo- kratie nur ist stark und frei, das Königthuni zwar an Ehren reich, an Macht aber arm und das Volk in der naturgemäszen Entwicklung seiner Kräfte auf allen Seiten gehemmt. Je ferner die Volksclassen von dem Centrum dieses States, von dem obersten Lehensherrn stehen, desto drückender wird für sie das Gewicht der in der Mitte lie- genden Herrschaftsrechte, und desto lästiger auch die Willkür der kleinen Herren.

Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig- keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann, wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen vertheilt. Die eigentliche R e g i e r u n g s g e w a 1 1 aber wurde in Vergleich mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie wieder ver- mindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze Ver- fassung war wesentlich eine aristokratische geworden, ob- wohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war. Die französischen Könige aus dem Cäpetingischen Geschlechte ragten nur wenig über die Seigneurs hervor;11 auch die deutschen Könige waren im Innern des deutschen Reiches vielfach ge- lähmt durch die Macht der Fürsten. Nur ausnahmsweise, wo besonders günstige oder drängende Verhältnisse eine Abweich- ung veranlaszten , konnte sich eine stärkere Centralmacht der Könige erhalten ; wie in England nach dem Siege der Nor- mannen, wo das Interesse der Sicherheit den normannischen Adel nöthigte, sich enger an den König anzuschlieszen, und

11 Schon Hugo Capet schrieb an den Erzbischof von Sens: „regali potentia in nullo abuti volentes , omnia negotia reiinihlicae in consulta- tione et sententia fidelium nostrorum disponimus." Mirabeau, Essai sur le despot. Oeuvres IL S. 390.

390 Viertes Buch. Die Statsformen.

das Bedürfnisz der neu begründeten Dynastie, sich zu erhalten, eine energischere Entfaltung der königlichen Macht erforderte.

5. Guizot hat die Frage aufgeworfen,12 woher es komme, dasz die feudale Statsordnung nicht erst in den Zeiten ihres Verfalls, sondern selbst in der Periode ihrer höchsten Blüthe fortwährend von der Abneigung des Volkes begleitet worden sei. Den Hauptgrund für diese Erscheinung stellt er so dar: „Der Feudalismus war eine Verbündung kleiner Herren, kleiner Despoten, die unter sich ungleich und durch mancherlei Rechte und Pflichten verknüpft, jeder auf seinen eigenen Gütern über ihre persönlichen und unmittelbaren Unterthanen eine willkür- liche und absolute Gewalt besaszen. Von allen Tyranneien aber ist die die schlimmste, welche ihre Unterthanen bequem über- zählt und von ihrem Wohnsitz aus die Gränzen ihres Gebiets überblickt. Die Launen menschlicher Willkür entfalten sich dann in unerträglicher Sonderbarkeit und mit unwidersteh- lichem Nachdruck. Die Ungleichheit des Standes macht sich dann auch in schroffster Weise fühlbar. Reichthum, Macht, Unabhängigkeit, alle Vorzüge und Rechte werden jeden Au- genblick dem Elend, der Schwäche, der Knechtschaft gegen- über gestellt. In diesem System war der Despotismus so grosz als in der reinen Monarchie, waren die Privilegien nicht geringer als in der engsten Aristokratie, und beide stellten sich in der beleidigendsten und rohesten Form dar. Der Des- potismus war nicht gemildert durch die Entfernung und die Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht ver- schleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft. Beide gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig und immer allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war."

In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem War keines-

12 Guizot: „Du caractere politique du regime feodal" in den Essais sur l'hist. de France. Y.

Neunzehntes Capitel. E. Die Lehensmonarchie. 39 \

wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglichkeit auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten. Auch ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem Herrn über seine Unterthanen eine „willkürliche und absolute Gewalt'4 zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt wurde und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig, sondern auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein , geschah das im Widerspruch mit dem System, welches von oben bis unten lauter abgeleitete und in sich selbständige Kreise von Eechten aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten ihr festes erbliches Eecht; die Lasten derselben durften nicht nach Belieben des Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre Person nicht anders als nach dem Herkommen und der guten Gewohnheit der Höfe disponirt werden. Das Ho fr echt in den untersten Kreisen war eben so genau abgegränzt und wurde ganz analog ge- sch atzt, wie das Lehensrecht in den höhern. 13

Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei- tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie- rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem nahen und jede freiere nicht schon durch das Her- kommen geheiligte Bewegung hemmenden Drucke derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge- hässigen Eigenschaften des Feudalismus.

6. Der Lehensstat kann vorzugsweise einEechsstat ge- nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt ist verdunkelt, die Abgränzung der mancherlei politischen Eechte aber genau bestimmt, diese selbst sind ähnlich wie Privat- rechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem gewöhn- lichen Eechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Vergabung, Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser Eechte wird

13 Das bezeugen die Coutumes und Weisthümer auf jeder Seite. In manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.

392 Viertes Buch. Die Statsformen.

groszentkeils in Form des gerichtlichen Processes gehandhabt, oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden überlassen. Auf der einen Seite eine starre festgegliederte Rechts- ordnung, welche wohl den Individuen, nicht aber der Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und Stiftungen, aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit gewährt, auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg, und eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind die beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die beiden Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen Lehensstate verwachsen sind.

Zwanzigstes Capitel

1'. l>ic neuere Absolute Monarchie.

Aus dem mittelalterlichen Lehenastat ging die moderne Repräeentativmonarchie nicht anmittelbar hervor als die statliche Ordnung der neuen Zeit. Im Kampfe mit dem Le- henswesen erstarkte vorerst eine neue abso lute Mo n a r c li i e. Die' sämmtlichen germano-romanischen und die germanischen Völker Europa's muszten erst das letztere Statssystem wieder erfahren, bevor es zu der Bildung der neuen Statsfonn kam.

Am frühesten zeigt sich diese Entwicklung und am hef- tigsten tritt der Absolutismus hervor in Prankreich und in Spanien. Je stärker die germanischen Elemente in der Nation waren, desto weniger konnte es den Königen gelingen, eine den germanischen Rechtsbegriffen völlig fremde und zuwider- laufende absolute Gewalt zum geltenden Statsprincip zu er- heben. Dagegen waren dieser die römischen Traditionen, die nun in Wissenschaft und Leben wieder wach wurden, durch- aus günstig.

Schon seit dem zwölften Jahrhunderte, als noch die Seig*

Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 393

neurs des üppigen Machtgenusses sich erfreuten, arbeiteten die französischen Legisten (so wurden die römischen Rechts- gelehrten genannt) mit Kühnheit und Einigkeit daran, die französische Monarchie auf die alten Grundlagen des römischen Kaiserreichs zurückzuführen. Sie gründeten eine theoretische und practische Schule des Regiments, deren oberster Grund- satz die Einheit, die Untheilbarkeit und die absolute Statsgewalt des Königthums war, welche sie unter dem Ausdruck der souveränen Gewalt zusammenfaszten. Von da aus behandelten sie die Herrschaften und Gerichtsbar- keiten der Groszen und ihrer Vasallen wie Anmaszungen und Miszbräuche, die zu Gunsten des Königs und des Volks auf- zuheben, oder mindestens so sehr als möglich zu beschränken seien. Sie stellten die französischen Könige als Nachfolger der römischen Imperatoren dar, und indem sie die römische Gesetzgebung als die wahre priesen, behandelten sie die feu- dalen Rechtsgewohnheiten mit Geringschätzung. * Es dauerte freilich noch Jahrhunderte, bis diese Theorien in die Praxis eindrangen und die Herrschaft der Seigneurs wirklich gebrochen wurde. Aber der innere Kampf hörte nicht mehr auf, bis der ganze reich gestaltete Lehensstat von Grund aus zusammen- stürzte, dann aber auch in seinen Sturz die inzwischen mächtig gewordene absolute Monarchie mit verwickelt wurde.

Der Satz des römischen Kaiserrechts : „Quod principi pla- mi% legis habet rigor cm" wurde wieder aus dem Alterthum hervorgeholt und als nothwendiges Statsprincip verkündigt.2

1 Thierry, temps Merowing. I. S. 16.

2 JBeaumanoir II. 57.: Ce qui li plest ä fere, doit estre tenu por ä loi; fügt aber beschränkend hinzu: ,.pourvu qu'il ne soit pas fet contre Dieu, ne contre bonnes meurs, car sHl le feroit, ne le devroient pas si souget soufrir." Ygl. Laferriere in d. Revue critique de Legisl. par Woloivslci IV. p. 125. Die italischen Glossatoren haben ebenso noch eine gewisse Scheu vor dem Princip und suchen es durch die Rücksicht auf das bestehende göttliche und menschliche Recht zu beschränken. Sogar im Jahre 1688, noch unter Ludwig XIV. dem mächtigen Lieb- haber der absoluten Königsgewalt erklärte der für Statsrecht angestellte

394 Yiertes Buch. Die Statsformen.

Er ging in das französische Bechtssprichwort über: „Qui reut Je roi, si veut Ja loi.u War einmal das Becht der Gesetz- gebung in dem Könige concentrirt, uud wurde dasselbe diesem in unbeschränkter Weise eingeräumt, so konnten von da aus die Hemmnisse, welche das Lehenswesen der vollen Entwick- lung der Statsgewalt, des nationalen Geistes und der öffent- lichen Wohlfahrt entgegensetzte, entfernt werden. Die von der neuen Eechtsgelehrsamkeit geleitete Praxis der Gerichte, be- sonders der königlichen Parlamente, half im einzelnen kräftig mit, dieser Richtung den Sieg zu bereiten. Die öffentliche Meinung, zunächst in den Städten, in welchen die römische Cultur einen uralten Wohnsitz hatte und welche von den Ein- flüssen des Lehensrechtes freier geblieben waren, war der ver- änderten Eechtsansicht günstig. Sie haszte die kleinen Herren viel mehr , als sie den nationalen König fürchtete ; und die Fortschritte der städtischen Gewerbe in Handel und Handwerk schienen durch die Demüthigung und Schwächung der Lehens- herren nur gefördert zu werden. Auch die Bauern konnten eher gewinnen als verlieren, wenn die Macht des Königs über ihre Bedränger zunahm.

Seit Ludwig XI.3 (1461—1483) war das Uebergewicht

Professor Delaunay den Satz in nicht absolutistischem Sinne: „que Ja loy est la volonte du Roy et non pas que la volonte du Roy soit loy.tt Aber es fanden sich zu allen Zeiten dienstbare Parteimänner, welche über alle mittelalterlichen Schranken des römischen Principe hinweg- setzten und eifrig für die absolute Gewalt des Monarchen kämpften.

3 Er verbot 1463 dem Herzog von Bretagne den Ausdruck: „par la grace de Dieu" für sich anzusprechen. Vor Karl VII. bedienten sich die Seigneurs gewöhnlich dieser Berufung in ihren Titeln. Schaffner, französ. Rechtsg. II. S. 27^. (Ursprünglich hatte übrigens der Ausdruck „von Gottes Gnaden" den demüthigen Sinn, an die Barmherzigkeit und Gnade Gottes zu erinnern, von dem alle Hoheit und alles Recht ausgehe. Erst später war derselbe zur Bezeichnung der souveränen Unabhängig- keit geworden.) In dem durch die Schweizer auf Anstiften des Königs vollzogenen Untergang des Herzogs Karl des Kühnen von Burgund wurdo nun das Haupt der hohen Lehensaristokratie erschlagen , und damit war der Sieg des Königthums in Frankreich entschieden.

Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 395

der königlichen Gewalt über die Lehensherrschaft in Frank- reich, seit Philipp IL (1556 1598) in Spanien entschieden. In Frankreich kamen freilich von Zeit zu Zeit Eeactionen da- gegen vor; in Spanien blieb der Absolutismus sicherer, und hatte einen finsterern und grausameren Charakter. Es erregt ein Grauen, wenn man sich daran erinnert, dasz Philipp IL das ganze Volk der Niederländer, über welches ihm nur be- schränkte Herrschaftsrechte zustanden, als Verbrecher zu ver- urtheilen wagte. Erst unter Ludwig XIV. hatte in Frank- reich die absolute Gewalt des Königthums ihren Höhepunkt erstiegen, von wo aus sie jählings dem Abgrunde der Revo- lution entgegenstürzte. Sein Beispiel ahmten dann die deut- schen Dynastien nach, die groszen und die kleinen.4 Es wurde wieder erlebt, dasz ein christlich-europäischer Monarch ein ganzes Volk, dessen Oberhaupt zu sein er sich überdem nur angemaszt hatte, dasz Joseph I. von Oesterreich die Bayern zum Tode verurtheilte , und sich dabei gar auf gött- liches Recht berief.*

Den politischen Grundgedanken dieses neuen Abso- lutismus hat Ludwig XIV. mit einer staunenswerthen Nai-

4 Friedrich II. von Preuszen im Antimach. 10: „II n'y a pas jusqu'au Cadet du Cadet d'une Ligne appanagee, qui ne s'imagine d'etre quelque chose de semblable ä Louis XIV. II bätit son Versailles, il a ses maftresses, il entretient ses armees. Ils s'abiment pour l'honneur de leur Maison et il prennent par vanite le cherain de la misere et de l'höpital."

5 Hormayr Lebensbilder I. S. 256. Patent Joseph's I. von Oester- reich vom 20. Dec. 1705: „Alle Bayern seyen der beleidigten Majestät Josephs I. als des ihnen von Gott dem Allmächtigen vorgesetzten allei- nigen rechtmäszigen Landesherrn schuldig, und daher ohne weiters mit dem Strange vom Leben zum Tode zu richten! Nur aus aller- höchster Clemenz (?) und landesväterlicher Müdigkeit (?) werde verordnet, dasz allezeit 15 zu 15 um's Leben spielen und jener, auf den das wenigste Loos fällt, im Angesicht aller aufgehenkt werden solle." Man traut seinen Augen nicht, wenn man solchen Wahnsinn , der sich selbst als Recht und Gnade verkündet, noch im XVIII. Jahrhundert, unmittel» bar vor dem Zeitalter der -„philosophischen Aufklärung" begegnet,

396 Viertes Buch. Die Statsformen.

vetät in dem bekannten Satze ausgesprochen: „L'etat eist moi." („Der Stat bin ich.") Der König betrachtete sich nicht mehr als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein wenn anch das oberste und mächtigste Glied des gesammten Statskörpers ist, sondern er iclentificirte seine Person und den Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern berech- tigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine ßtatswohifahrt auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht auszer seinem individuellen Kecht. Er war Alles in Allem, auszer ihm war Nichts.

Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem State wohl zu unterscheiden von der Personifikation der statlichen Majestät in dem Könige war um so bedenk- licher, als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als dieselbe Mode geworden, zugleich die Theorie von der Stats- allmacht aufkam. Während des Mittelalters war der Stat durch eine unendliche Menge fesler und abgeschlossener Rechts- kreise zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt worden. Nun machte die Theorie den Sprung in das Gfegen- theil, und liesz gar keine selbständige, der Willkür und der Einwirkung des States entzogene Bechtssphäre mehr gelten. Selbst das Privatrecht wurde als ein Product des States aul- gefaszt, und dem Belieben der Statsgewali preisgegeben.

Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten hat an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen grossen Antheil. Die einen billigten und unterstützten die unnatürliche Anmaszung der absoluten Könige mit Scheingründen, die an- dern traten derselben nicht entgegen, wie die Pflicht gebot. Aber nicht minder schwer haben sieh die damaligen Theo- logen (bald jesuitische, bald hochkirchliche oder orthodox- lutherische Hoftheologen) versündig , welche die christliche Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt dahin ent- stellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als unmittel- bare und vollkommene ^Repräsentanten und Inhaber der gött-

Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 397

liehen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter ausgaben. Weil Gott unumschränkter Herr der Welt ist, die er ge- schaffen hat, und die er mit seinem Geiste erfüllt und erhält, so sollten die Könige auch unumschränkte Herren der Völker sein, die sie nicht geschaffen haben, und die sie nicht zu er- füllen noch zu erhalten vermögen. Es kam, wie in den Zeiten der römischen Imperatoren, wieder dahin, dasz die Könige es liebten, sich auch mit der Gottheit zu identificiren. Man weisz wie gern Ludwig XIV. den Jupiter gespielt hat, was freilich in heidnischer Form eher anging als in christlicher.

Unmittelbar neben dieser Allmacht des Absolutismus, welche nun durch die Theorie dem Monarchen zugesprochen, und auch in wichtigen Beziehungen practisch geübt wurde, offenbarte sich freilich von Zeit zu Zeit die völlige Ohnmacht der absoluten Könige. Efl geschah nicht selten, dasz Fürsten, welchen Schmeichelei und knechtischer Sinn eine schrankenlose Gewalt beimaszen, selber zu willenlosen Dienern des Ehrgeizes ihrer Günstlinge oder der Herrschsucht und Ausschweifung ihrer Maitressen erniedrigt wurden. Alles hing ja von der Persön- lichkeit des Monarchen ab. War er ein hervorragendes Indi- viduum , welches die dilatorische Gewalt mit Energie und Geist zu handhaben verstand, wie Ludwig XIV. selbst, bevor das Alter und der Genusz seine Kräfte aufgezehrt hatten, so mochte er wenigstens den Schein der Allmacht erhalten. Auf die Dauer konnte aber selbst ein solcher Mann nicht auf so schwindl icher Höhe feststehen. 6 War er eine schwache

6 Lord Chatliam (Brougham, Statsraänner I. S. 29) in einer Par- lamentsrcde : „Absolute Gewalt richtet den zu Grunde, der sie besitzt, und ich weisz, dasz wo Gesetzlichkeit aufhört, Tyrannei beginnt." Gui- zot, Essais S. 245: „c'est le vice de la monarchie pure (?) d'elever le pouvoir si haut que la tete tourne ä celui qui le possede et que ceux qui le subissent osent ä peine le regarder. Le souverain s'y croit un dieu, le peuple y tornbe dans l'idolätrie. On peut ecrire alors les devoirs des rois et les droits des sujets; on peut merae les precher sans cesse; mais les situations ont plus de force que les paroles, et quand l'inega-

398 Yieites Buch. Die Statsformen.

Natur wie Karl IL vou England, F er d in an d VII. von Spanien, oder Ludwig XV. von Frankreich, so schwelgten andere in der Willkür, die dem Könige allein vorbehalten, seinen Händen aber entwunden war. Die Völker aber versanken überall in namenloses Elend. Wer die Wirkungen der Absolutie in dem civilisirten Europa kennen lernen will, der studire die spanischen oder italischen oder österreichischen Geisteszustände von 1540 bis 1740. 7

Uebrigens standen dieser Anmaszuug auf dem alten Boden der europäischen Verhältnisse so viele Ueberlieferungen wider- strebender Rechtsansichten und so bedeutende und feste Insti- tutionen entgegen, dasz es doch nirgends zu einer vollständigen und bleibenden Geltung eines Statsprincips kam, welches den asiatischen Despotien gemäsz, dem europäischen Leben aber fremd war. Als in England die restaurirte Dynastie der Stuarts auf ähnliche Abwege gerieth, und Jakob II. versuchte, die uralten und verbrieften Hechte des Parlaments und die neuere Gestaltung der kirchlichen Verhältnisse nach Willkür >.u ver- letzen, als er das Beispiel Ludwigs XIV. eigensinnig nach- ahmte, und selbst den gesetzlichen Widerstand der loyalen Freunde des Thrones und der Verfassung mit Verachtung be- handelte, da büszte er die verwirkte Herrschaft ein, und die Vereinigung Wilhelms von Oranien, des gröszten Statsmannes und Fürsten dieser Zeit, mit dem englischen Volk hatte die feste Begründung des modernen Keprasentativsystems zur Folge.

Die zweimalige und entscheidende Niederlage der ab- soluten Monarchie in England hat zwar nicht sofort den Untergang dieses Verfassungssvstems in Europa nach sich ge- llte est immense, les uns oublient aisement leurs devoirs, les autres leura droits."

7 Laurent, ßtudes sur Thist. XI. 136. „Si la revolution avait bo- soin d'une justification, eile la trouverais dans Tincompatibilite nidicale de la monarchie absolue avec le droit et par suite avec les interÄta de rbumanite."

Zwanzigstes Capitel. F. Die neuere absolute Monarchie. 399

zogen. Aber die Zuversicht in dasselbe ward erschüttert und allmählich reifte diese Statsform auch auf dem Continent dem sicheren Untergange zu. Ihr Princip wurde von der freieren Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts verworfen. Diese Philosophie bestieg mit Friedrich IL den Thron eines auf- strebenden States und verkündete nun laut vom Throne den entgegengesetzten Satz: der König ist nicht der Eigenthümer des Landes, noch der Herr des Volkes, nicht der Stat, son- dern der „oberste Diener des Stats." Das Princip der absoluten Monarchie war schon von der französischen Revo- lution überwunden. Dem Sturme der Revolution vermochte sie nicht mehr zu widerstehen. Trotz mancherlei Schwankungen erlag sie schlieszlich in allen Staten des civilisirten Europas dem freieren Volksbewusztsein.

Nur in dem europäischen Orient, in Ruszland8 hat die absolute Monarchie gegenwärtig nocli Bestand. Da sagt die religiöse Begründung der nationalen Denkweise eher zu als im Occident, und für das unermeszliche Reich, dessen Cultur noch zurück und unter Nationen, deren Bildung noch auf einer tiefen Stufe ist, bedarf es einer gewaltigeren Centralmacht. Die gröszten Reformen, wie voraus die heutige Befreiung des Bauernstandes von der Leibeigenschaft, sind da noch kaum anders als durch den allein entscheidenden Willen des Kaisers durchzuführen. Die Aristokratie würde dieselben schwerlich fördern, ein gebildetes und freies Bürgerthum existirt nicht als eine sociale oder politische Macht. Der unteren Masse aber fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit, in der Gemeinde und in Einungen der Berufsgenossen sich selber zu helfen,

8 Die in Ruszland geltenden Grundgesetze nennen den „Kaiser aller Reuszen" einen „selbstherrlichen und absoluten Souverän," und stützen seine absolute Macht ausdrücklich auf göttliches Gebot: „Gott selber befiehlt, sich seiner höchsten Autorität zu unterwerfen, nicht allein aus Furcht vor Strafe, sondern aus religiöser Pflicht." Die Gesetzgebung gebührt ausschlieszlich dem Kaiser, der übrigens regelmäszig den Stats- rath vernimmt. Foelix, Revue Etrangere III. S. 700.

400 Viertes Buch. Die Statsfermen.

wohl aber an der Fähigkeit, an der Bestimmung der Politik und an der Gesetzgebung einen erheblichen Antheil zu neh- men. Sie wirkt wie die Materie durch ihre Schwere.

Einundzwanzigstes Capitel.

Gr. Die constitutionelle Monarchie. 1. Die Entstehung- und Verbreitung der eonstitutioncllen Monarchie.

Die constitutionelle Monarchie ist zwar die Frucht der neuen Zeit. Aber der Keim, dessen Wachsthum vorhergehen muszte, bevor diese Frucht reifen konnte, ist, wie Montes- quieu richtig bemerkt hat, schon „in den Wäldern der ger- manischen Yorzeitu zu finden. Der erste grosse, aber noch unreife Versuch zu der Statenbildung, welche wir nunmehr als die constitutionelle bezeichnen, wurde in den Reichen gemacht, die auf römischem Boden von germanischen Fürsten gegründet wurden, als zuerst römische Statsideen sich mit germanischen Rechten vermählten.

Dann folgte die Lehensmonarchie, und mit ihr die reiche Blüthe der germanischen Aristokratie. Die Einheit des States aber ging verloren. Die Wohlfahrt des Volkes verkümmerte, das Königüram war voller Glanz und Ehre, aber ohne Maclit. Und wieder erhob sich der nationale Zug nach Einheit, wieder wurde der germanische Lehensstat durch römische Statsprin- cipien beleuchtet und befruchtet. Auch die Völker regten sich wieder; aber voraus langten die Fürsten nach dem eiser- nen Scepter der absoluten Gewalt. Die Kämpfe der Stände begannen, unter einander und mit den Fürsten. Als das Mittel- alter wich, da fing die moderne Statsverfassung an zu zeitigen. Im Groszen ist sie das Ziel einer mehr als tausendjährigen Ge- schichte, die Vollendung des romano-germanischen Statslebens, d. h. der eigentlichen europäischen Stats- c u 1 1 u r.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 401

I. Zuerst kam diese Statsform in England zur Aus- bildung. Langsam reifte sie heran in der groszen Geschichte dieses Inselreiches, langsam, aber in stäter und sicherer Entwicklung. In keinem europäischen Lande hatte das König- thum während des Mittelalters seine centrale Macht so unver- sehrt erhalten wie in England, in keinem aber auch wurden die Eechte und die Freiheiten des Adels und des Volkes so männlich verfcheidigfc und so fest begründet, wie dort.

Auch die englische Nation ist von den erschütternden Fiebern der Revolution nicht verschont geblieben. Zwei grosze Revolutionen drohten dem ganzen englischen Statsgebäude den Untergang. Die erste, um die Mitte des XIII. Jahrhunderts, war der Versuch der Aristokratie, die Statsregierung dem Könige wegzunehmen und in ihre Gewalt zu bringen. Das war der Sinn der „Provisionen" von Oxfort von 1258, welche dem besiegten Könige Heinrich III. von dem Grafen Lei- cester aufgenöthigt wurden.1 In der zweiten groszen Revo- lution, welche aus dem Kampfe Karls I. mit dem langen Parlament in der Mitte des XVII. Jahrhunderts hervorbrach, ward für einige Zeit das Königthum sammt der Aristokratie von der fanatisirten Volkspartei der demokratischen Puri- taner beseitigt (1649).

Aber beidemale dauerte die Krankheit nicht so lange, dasz sie den Statskörper auf die Dauer schwächte. Sie war auch, obwohl äuszerlich in heftigen Symptomen sich offen- barend, innerlich nicht so mächtig, um dem Leben der Nation eine fremde Richtung zu geben. Beidemale erholte sich Eng- land rasch von der Erschütterung und der historische Zu- sammenhang mit der Vergangenheit ging nicht verloren, die Entwicklung der Nation blieb eine organische und nor- male. Sie machte sogar beidemale die entschiedensten Fort- schritte. Von der ersten aristokratischen Revolution datirt die

1 Guizot, Essai u. s. f. S. 311 ff.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 26

402 Viertes Buch. Die Statsformen.

Berufung der Abgeordneten der Städte zum Parlament (zuerst 1264), die Anlage des spätem Unterhauses. Die zweite fand ihren definitiven Abschlusz in der Begründung des modernen Königthums im Jahr 1689. Von da an kommt die eigentliche constitutionelle Monarchie als eine na- tionale Institution zur Erscheinung.2

Die constitutionelle Monarchie nimmt gewissermaszen alle andern St ats formen in sich auf. Sie gewährt die gröszte Mannichfaltigkeit, ohne die Harmonie und Einheit des Ganzen

2 Der grosze Geschichtsschreiber der neuen englischen Geschichte Macaulay (Engl. Gesch. IL 8. 607) chavaktorisirt den Uebergang aus der mittelalterlichen Yorstcllungsweise in die moderne so: ,, Lange Zeit hatte leider die Kirche die Nation gelehrt, dasz die Erbmonarchie allein unter unsern Institutionen göttlich und unverletzlich Bei, dasz das Recht des Hauses der Gemeinen auf einen Antheil an der gesetzgebenden Ge- walt ein blosz menschliches Recht sei, dasz aber das Hecht des Königs auf den Gehorsam seines Volkes von oben stamme; dasz die Magna Charta ein Gesetz Bei, was von denen, die <•- gemacht hatten, wieder aufgehoben werden möge, dasz aber die Regel, welehe die Prin- zen von königlichem Grehlfit nach der Erbfolgeordnung zum Throne be- rufe, himmlischen Ursprungs und dasz jeder mit dieser Regel nicht über- einstimmende Act des Parlamentes nichtig sei. Es ist augenscheinlich, dasz in einer Gosoll>ehalt, in welcher Milche Wahnbegriffe vorwalten, verfassung3mäszige Freiheit immer unsicher Bein muss. Eine Macht, welche blosz als eine menschliche Ordnung betrachtet wird, kann kein wirksamer Zügel einer Macht sein, die als Ordnung Gottes be- trachtet wird. Die Hoffnung ist eitel, dasz Gesetze, wie trefflich sie auch sein mögen, fortwährend einen König Bügeln werden, der nach seiner eigenen Meinung und nach der eines groszen Theiles -eines Volks eine Autorität von unendlich höherer Natur hat als die Autorität, welche diesen Gesetzen zusteht. Das Cönigthum dieser geheimniszvollen Attri- bute zu entkleiden und den Gtrmndsata testzustellen, dasz die Könige nach einem in keiner Weise andern Rechte regierten, als nach welchem Freisassen die Ritter der Grafschaft erwählten oder Richter Habeas corpus Befehle ertheilten, war für die Sicherheit unserer Frei- heiten unbedingt nothwendig. Dieses Ziel wurde erreicht durch den Beschlusz, welcher den Thron für erledigt erklärte und Wilhelm und Marie einlud, ihn einzunehmen." Eine gute und /.wichen Radi- caliamus und Liberalismus wohl unterscheidende Darstellung gibt A. Zim- mermann in seiner kurzen historischen Entwicklung des Parlamen- tär. Regmrungssystems in England. Berlin L849.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 403

zu opfern. Sie gibt der Aristokratie freien Raum zurüebung ihrer Kräfte und zur Aeuszerung ihrer Gesinnung auf natio- nalem Felde. Sie legt auch der demokratischen Richtung des Volkslebens keine Fesseln an, sondern verstattet ihr freie Bewegung. Ja selbst einideokratisches Element findet sich in ihr anerkannt in der Verehrung der Gesetze. Alle diese verschiedenen Richtungen sind aber durch die Monarchie, als das lebendige Haupt der gesammten Statsordnung, in dem rechten Verhältnisz gehalten und zur Einheit verbunden.

Audi die englische constitutionelle Monarchie der neuern Zeit hat übrigens ihre Entwicklungsstufen. Schon der Zeit des Königs Wilhelm von Oranien gehören folgende Hauptmomente an :

1) Die principielle Verwerfung de>; absoluten König- tums als einer verfassungswidrigen Anmaszung, welche nicht zu dulden und gegen welche der Widerstand berechtigt sei.

2) Die Anerkennung, dasz das königliche Recht ebenso ein menschliches und durch die verfassungsmäszige Ordnung begrenztes Recht :{ sei, wie das Recht der Lords und und der Gemeinen im Parlament und wie die gesetzlichen Freiheiten der einzelnen Engländer, im Gegensatz zu den mystischen Vorstellungen der orthodoxen Theologen, welche in dem Königsrechte etwas specifisch göttliches verehrten, die man abgesehen von ihrer religiösen Rechtfertigung nicht mehr als Statsprincip gelten liesz.

3) Die urkundliche Aussprache und Sicherung der par- lamentarischen Rechte und der Volksfreiheiten in der soge- nannten Declaration of Rigths von 1689 und die Verbindung dieser Erklärung mit der Ordnung der Thronfolge, so dasz das Königthum nicht mehr losgetrennt von jenen Rechten und

3 Akte vom Jahre 1701: „Da die Gesetze von England das Geburts- recht des englischen Volkes sind und alle Könige und Königinnen, welche den Thron dieses Reiches besteigen werden, die Regierung dieses Reiches in Uebereinstimmung mit den genannten Gesetzen zu verwalten verpflichtet sind und alle ihre Beamten und Minister ihnen denselben Gesetzen ge- mäsz zu dienen schuldig sind, so u. s. f."

26*

404 Yiertes Buch. Die Statsformen.

Freiheiten, sondern nur im Zusammenhange damit zu den- ken war.

4) DieUnverantwortlichkeit der Könige wurde zwar als verfassungsmäszige Eegel beibehalten, aber durch den vollzogenen Bruch der stuartischen Legitimität unverkennbar die Zulässigkeit der Ausnahme behauptet, wenn es zwischen dem Könige und der Nation zu einem unversöhnlichen Widerstreite komme.

5) Die ausgebildete auch p o 1 i t i s c h e V e r a n t w o r t . 1 i c h- keit der Minister gegenüber den Häusern des Parlaments, so dasz dem Unterhause die Klage, dem Oberhaus das Gericht zusteht.

6) Die Mitwirkung des Parlaments an der Gesetz- gebung.

7) SeinRecht der Steuerbewilligung und seine Theil- nahme an der Ordnung des 8 tats haushält 8.

8) Seine Controleder gesammten Regierungsweise und Staatsverwaltung.

9) Die volle Unabli ängigkeit und die ausgedehnte Be- fugnisz der richterlichen Autorität, gestützt auf die Theilnahme der Geschwornen aus dem Volk.

10) Die Freiheit der Presse und der politischen Versammlungen und die daherige Kritik und Controle der öffentlichen Meinung.

Den Königen aus dem Hause Hannover würfe es freilich sehr schwer, diese Grundsätze sammt ihren Consequeneen zu verstehen. Aber die Macht der Verhältnisse nöthigte auch die widerstrebenden Neigungen der Dynastie und des Hofes zur Anerkennung der freien Verfassung. Don Einflusz des Prinzen Albert von Koburg ist es vorzüglich zu verdanken, dasz auch die Gesinnung der gegenwärtigen Königsfamilie rückhaltslos verfassungsmäszig geworden ist und das Königthum bat an Ansehen und Macht nicht eingebüszt, seitdem) es die Vorur- theileder dynastischen Tradition abgestreift hat und zum wahren Volkskönigthum geworden ist.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 405

Der englische König ist sich bewuszt, dasz er nicht seinen Eigenwillen, sondern den Statswillen darstelle und vollziehe. Daher haben die Minister und da die englischen Minister vor- zugsweise in dem Vertrauen des Parlaments hauptsächlich des Unterhauses ihre Stärke finden, auch die Volksvertretung einen gröszeren Einflusz auf die Kegierung als in den conti- nentalen Staten. Insofern kann man das englische Königthum ein parlamentarisches und republikanisches nennen. Aber die Ehrfurcht vor der Monarchie ist doch kaum in einem andern Lande stärker als in England. So mächtig die aristo- kratischen Elemente und das Parlament in England sind, die englische Verfassungsform ist doch eine Monarchie geblieben.4

IL Den zweiten welthistorischen Versuch, die constitu- tionelle Monarchie einzuführen, machte die französische Nation. Die Verfassung von 1791 sollte nach der Meinung

4 Schon Edm. Burkc bemerkt (Aus seinen Schriften, München 1850): „Auf dem festen Lande hat man gemeiniglich von der Stellung eines Königs von Groszbritannien einen irrigen Begriff. Er ist ein wirk- licher König, nicht ein vollziehender Beamter. "Wenn er sich um Kleinig- keiten nicht bekümmert, noch zur Aufmerksamkeit auf geringfügige Zänkereien sich herabläszt, so ist es kaum zweifelhaft, ob er nicht eine wirklichere, stärkere und ausgedehntere Macht besitze als der König von Frankreich vor der Revolution besasz." Als Sir Robert Peel in neuerer Zeit aus politischen Gründen von der Königin Victoria verlangte, dasz sie einige Hofdamen entferne und andere an deren Stelle treten lasse, drang die Zumuthung allerdings selbst in den Kreis des persönlichen und Familienlebens der Königin ein, beweist aber gerade für die Wichtigkeit auch der persönlichen Beziehungen und Gesellschaft der englischen Monarchin für die englische Politik. Aber wahr ist es doch, dasz die englische Statsverfassung, wenn man auf die entscheidende Macht sieht, in neuerer Zeit zur Parlaments- und Ministerregierung geworden ist. Robert Peel selbst sprach im Parlament (Rede vom 11» Mai 1835) die wichtigen Sätze aus: „Die Prärogative der Krone, die Autorität der Lords, sind allerdings der Constitution nach mächtig genug, gelegentlich die Eingriffe des Hauses der Gemeinen zu überwachen, aber sie dürfen sich heut zu Tage nicht auf diese als unübersteigliche Bollwerke ver- lassen. Die Regierung des Landes musz hauptsächlich mit dem guten Willen und durch die unmittelbare Thätigkeit des Hauses der Gemeinen geführt werden."

406 Viertes Buch. Die Statsformen.

ihrer Urheber als ein vollkommenes Meisterwerk aus dem mo- dernen Statsprincip unmittelbar geboren werden, mit logischer Notwendigkeit. Aber die Statsprincipien selbst der National- versammlung waren vielmehr republikanisch-demokratisch, als monarchisch. Die Eousseau'sche Theorie von der Volkssou- veränetät und den zwei Gewalten, und das Vorbild der nord- amefikanischen Constitution, welche eine Constitution eile Demokratie mit drei unabhängigen, aber durch die Einheit des souveränen Volkes zusammen gehaltenen Gewalten ins Da- sein gerufen hatte, übten auf die Geister der Franzosen einen stärkeren Einflusz aus als die englische Verfassung. Der Grund- charakter der neuen Verfassung von 1701 war demokratisch. Das Königthum in ihr war eine Inconsequenz des Systems, ein zurückgebliebener Rest der Vergangenheit, mit welcher die Revolution im übrigen von Grund aus gebrochen hatte.

Dann richtete Napoleon die monarchische Gewalt wieder auf, indem er die Nation aus dem Schlamme errettete, in den sie versunken war. Er concentrirte die gesammte Statsgewalt wieder in seiner starken Hand. Aber um eine modern fran- zösische constitutionelle Monarchie zu gründen, dazu war in den ersten Zeiten nach der Revolution und inmitten des euro- päischen Krieges das Bedürfnisz der Nation nach einer Dic- tatur zu stark und er selbst von Natur ein zu gewaltiger Herrscher. Einzelne Anfänge dazu freilich liesz er zu. Er er- kannte in dem französischen Volke die Quelle seiner Macht an und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine Aristo- kratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck „die Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Souverä- netät erhebt." * Hätte seine Dynastie ruhig fortregiert, so hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine

5 Las Cases Mem. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. JJ. Diebeste Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und Erbe im Jahre J 83 9 in der Schrift „Idees Niipoleoniennes" entworfen.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarcliie. 407

nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden seine Institutionen in seinen Euin verwickelt.

Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und der Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich zwischen den Rechtsansprüchen des früher absoluten Königthums und den neuen politischen Gewalten, zwischen der Legitimität und dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer Form aber war sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz seiner alleini- gen Autorität/1 Auch abgesehen von diesem Widerspruch zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung noch an an- dern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser als die vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Monarchie in Frankreich zu verwirklichen.

Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfas- sung nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste erfüllt. Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in gröszerem Masze zugestanden als in England, oder vielmehr, da die Charte in ihrer Theorie von dem absoluten Königthum ausgeht, 7 minder beschränkt worden als dort ; aber die Sicher- heit des französischen Königthums war sehr viel geringer als in England, nicht blosz weil der Charakter der Franzosen von jeher beweglicher und zu Veränderungen leichter erregbar ist als der englische, sondern weil die Revolution die französische

6 Einleitungs worte: „Nous avons volontairement et par le libre exer- cice de notre autorite royale accorde et accordons, fait concession et octroi ä nos Sujets de la Charte constitutionelle qui suit."

7 Einleitung: „Bien que l'autorite toute entiere residat en France dans la personne du Roi,"

408 Viertes Buch. Die Statsformen.

Aristokratie vernichtet, und das ganze Volk in demokratischen Begriffen und Tendenzen eingeschult hatte.

DiePairie, welche nächst dem Könige einen Antheil an der Gesetzgebung erhielt und den obersten Gerichtshof über schwere Statsverbrechen bildete, sollte eine „wahrhaft nationale Einrichtung sein und alle Erinnerungen der Vergangenheit mit allen Hoffnungen der Zukunft, die alte und die neue Zeit verbinden." Aber in der Wirklichkeit wurden die neuen Gröszen der Napoleonischen Zeit zu sehr zurückgesetzt und die alte, theilweise verkommene Aristokratie zu freigebig bedacht, als dasz diese erbliche Pairschaft als eine „wahrhaft nationale In- stitution" hätte Anerkennung finden und Bestand haben können. Dem englischen Oberhaus stand sie weit nach. Die Depu- tirtenkammer endlich sollte „jene alten Versammlungen des März- und Maifeldes sowie die Kammer des dritten Standes" ersetzen. Sie war aber auf rein plutokratischen Fundamenten er- richtet, und ward vorzüglich zu Gunsten der Beamten aus- gebeutet. Die Masse der städtischen Bürgerschaft, welche sich als berechtigt fühlte, wohlhabend und civilisirt war und in der Revolutionsperiode eine bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte weder Wahlrechte noch Wählbarkeit. Die ganze bäuerliche Be- völkerung, welche durch die Revolution freies Eigenthum ge- wonnen und ebenfalls politische Hechte erworben hatte, war nicht minder ausgeschlossen. Auf die niedern Volksschichten war keine Rücksicht genommen. Der Demos war somit gar nicht vertreten, und doch war er in Frankreich zu einer groszen politischen Macht geworden. Er konnte unmöglich eine Verfassung lieb gewinnen und sie stützen, welche ihn überall ausschlosz.

Die Revolution hatte zwei Richtungen vorzüglich verstärkt, die zum Theil wider einander laufen, die der Centralisation und die der demokratischen Ausbreitung. Jene führte, zum Extrem getrieben, zur absoluten Monarchie zurück, diese im Extrem zu revolutionärer Anarchie. Die Charte suchte sich

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 409

der ersten ganz zu bemächtigen und damit die letztere ab- zuhalten. s

Den ersten groszen Stosz des demokratischen Volkes, welches durch Karl X, absolutistisch und durch seine eigene Presse revolutionär gereizt worden war, hielt die Charte noch aus. „Die Charte soll eine Wahrheit sein" war der Wahlspruch Louis Philipps und der Julirevolution von 1830. Indessen wurde die erbliche Pairie aufgehoben, und nur eine persönliche auf Lebenszeit dauerte fort. Die Grundlage der Deputirten- kammer wurde um etwas erweitert, aber noch behielt sie ihren plutokratischen Charakter bei.

Da folgte im Februar 1848 der zweite Stosz einer vul- kanischen Gewalt, die Niemand ermessen, Niemand in solcher Heftigkeit erwartet hatte, und die ganze Verfassung, obwohl sie besser war als die, welche ihr folgte, und was sehr wichtig ist, obwohl die erforderlichen Mittel der Verbesserung in ihr lagen, wurde in einem Tage der Ueberraschung und Verblüffung der Mehrheit von einer verwegenen Minderheit umgestürzt. Nochmals versuchte der Demos selber die Herrschaft in Frank- reich auszuüben.

Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft- liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er- folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu, und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit aller Bürger stützte.

& Tocqueville bezeichnet die beiden Tendenzen scharf in seinem Buche über die Demokratie Amerika's I, S. 158: „La revolution s'est prononcee en meme temps contre la royaute et contre les institutions provinciales eile a ete tout ä la fois republicaine et centralisante : un fait, dont les amis du pouvoir absolu se sont empares avec grand soin,^

410 Viertes Buch. Die Statsformen.

Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom IG. Jenner und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an die englische Statsform ; wie denn überhaupt die Napoleon ischen Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben und daher auch den romanischen Elementen im französischen Geist vorzüglich einleuchten. Der Hoheit und Macht des franzö- sischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab- stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser- liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird.9 Dem fran- zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die Zu- neigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich- heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos ge- achtet, Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiser- liche Machtfülle in dem Glänze der Majestät. Die Initiative der Gesetzgebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie, die Armee sind in seiner Band, «las ganze Beamtenheer ist ganz von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann der Kaiser beliebig entlassen. Es gibt nur zwei grosze poli- tische Kräfte in dieser Verfassung: die Volksmehrheit und der Kaiser. Was in der Mitte ist zwischen beiden, ist sehr abhängig und hat nur geringe Selbständigkeit. Die Minister sind nur dem Statshaupte verantwortlich; der Antheil des ge- setzgebenden Körpers an der Gesetzgebung hat eher einen ne- gativen als einen positiven Charakter; er kann ein schädliches oder ungerechtes Gesetz verhindern, nicht verbessern. Er hat keine Initiative und nur in den Commissionen die Möglichkeit mit dem Statsrathe über Aenderung zu verhandeln. Der Senat ist zwar seiner Bestimmung nach eine die Volksfreiheiten schütz- ende und die Verfassung wahrende, ausnahmsweise auch zu Reformen den Anstosz gebende, ihrer Natur nach eme aristo-

9 Titel : ,,par la grace de Dieu et la volonte nationale Empereur des Francaie."

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 411

kratische Macht, aber die Senatoren sind durch die Wahl des Kaisers auf ihre hohe Stellung gerufen und durch die französischen Parteiverhältnisse wie durch ihre socialen Be- ziehungen an die Macht des Kaisers, als an ihren Grund und ihre Stütze angewiesen. Die Harmonie der Massen und des Kaisers wird daher mit groszer Sorgfalt vor jeder Dissonanz zu bewahren gesucht, und daher auch der Opposition in den Behörden und in der Presse nur ein sehr beschränkter Spiel- raum verstattet. Erst die Zukunft kann die Frage beantworten, ob diese Verfassung, mit welcher die Grösze und die Macht der französischen Nation sich in Europa wieder erhoben hat, auch in den Zeiten des Friedens einer freien Entwicklung fähig sei, zu welcher die Keime in sie gelegt sind, und ob sie, wie sie den Massen vorläufig genügt, auch die mittleren und höheren Classen der gebildeten Bevölkerung dauernd zu versöhnen vermöge. Die neuesten Schritte zu einer An- näherung an das constitutionelle Verfahren anderer Staten sind noch klein und unsicher prüfend, ob die Eisdecke tragfähig sei.10 III. Komanische Länder. Die Umgestaltungen, welche der französische Stat seit der Kevolution erlebte, hatten auch auszerhalb Frankreichs die wichtigsten Veränderungen zur Folge. Vorerst in den romanischen Ländern. Nach Art der französischen Kepublik wurden in Italien ähnliche Kepubliken unter dem erobernden Schutz der französischen Waffeu ge- gründet ; später von Napoleon neue abhängige Monarchien nach dem Vorbilde des französischen Keiches in Italien und Spanien eingeführt. Es schien, als ob die moderne Gestaltung Europa's von Paris aus ins Dasein gerufen werden solle. Indessen zog auch hier der Untergang der Napoleonischen Weltherrschaft den Fall dieser ephemeren Statenbildung nach sich.

10 In den Reveries politiques des Prinzen Louis Napoleon, die schon im Jahre 1832 geschrieben wurden, findet sich ein Entwurf einer fran- zösischen Verfassung, welcher sich zu der gegenwärtigen Verfassung, wie die Blüthe der Jugendideale zu der reifen Frucht des Mannesalters verhält. Kaiserliches Decret vom 19. Jan. 1867.

412 Viertes Buch. Die Statsfornien.

Wichtiger, wenn auch zunächst wieder nur von momen- tanem Erfolge, waren für die Ausbildung des constitutionellen Systems die beiden Verfassungen, welche im Jahre 1812 in Sicilien und in Spanien verfaszt und nroclamirt wurden.

1. Die Verfassung Siciliens vorzüglich das Werk des Lord Bentinck, eines englischen Statsmannes war ganz nach englischem Muster gewissermaßen zugeschnitten, so je- doch, dasz die Erinnerung an die alten aristokratischen Stande aus der Normannenzeit benutzt wurde und dasz die neueren Theorien von der Trennung der Gewalten in ausgedehnterem Masze als in England Anerkennung fanden. Die gesetzgebende Gewalt wurde zunächst dem Parlamente zugeschrieben, unter diesem aber nicht mehr, wie in dem englischen Statsrechte, König, Ober- und Unterhaus in ihrer Vereinigung, sondern nur die beiden Kammern verstanden. Von diesem Begriffe aus ist es denn freilich auffallend, dasz die Beschlösse des Parlaments der »Bestätigung des Königs," als einer ausser ihm stehen- den (lewalt bedürfen.11 Die Pairskammer besteht aus den Baronen und den Prälaten Siciliens. Die weltlichen Pairs haben ein erbliches Recht auf die Pairie. Per König kann aber neue Pairs aus den Edelleuten ernennen, welche ein reines Einkommen von 6000 Unzen genieszen. Das Unterhaus besteht aus gewählten Volksvertretern, ßtimmrechl und Wählbarkeit erfordern einen nicht hohen CenSUS.

Die vollziehende Gewalt wird dem Könige zuge- schrieben, seine Minister und geheimen Käthe aber dem Par- lamente für die Ausübung dieser Gewalt verantwortlich erklärt.

In allen wichtigen Angelegenheiten ist der König verpflichtet, das Gutachten seines geheimen Rathes einzuholen; in manchen Fällen, z. B. wenn er Truppen nach Sicilien bringen oder

Ausländern Militärstellen geben, oder neue Aemter errichten.

11 Artikel 1, 2 und I i. Die Verfassung i^t in deutsolier Ueberietisng

abgedruckt in dem Portlolio von 1848.

Einimdzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der co-nstit. Monarchie. 413

oder für den Stat geleistete Dienste Pensionen bewilligen will, bedarf er sogar der Zustimmung des Parlaments.

Die richterliche Gewalt wird zwar „im Namen des Königs verwaltet," aber als Kecht „einzig und allein den vom Gesetze bestimmten Beamten" zugesprochen. Den ein- zelnen Sicilianern wird ein ausgedehntes Kecht des "Widerstan- des gegen jeden vom Gesetz nicht autorisirten Zwang zuerkannt, die Censur als Regel mit Ausnahme theologischer Schriften aufgehoben, die Feudalrechte beseitigt u. s. f.

Man sieht, diese Verfassung war eine Nachbildung der englischen Formen, mit Beimischung der Theorien, welche in der französischen Verfassung von 1 7 '. M verkündet worden waren. Auch in ihr war «las republikanische Element überwie- gend, und der Widerspruch mit der monarchischen Tradition trat um so schroffer hervor, als weder der absolutistisch ge- sinnte Hof des Bourbonischen Königs sich mit der Verfassung vcrl ragen mochte und in den Volksparteien klerikale und ja- kobinische Tendenzen stark vertreten waren und mit der Leiden- schaft des südlichen Blutes sich heftig bekämpften. Der in Neapel restaurirte König fühlte sieh nun stark genug, die be- schworene Verfassung zu beseitigen (Dez. 181 6) und die abso- lute Regierung herzustellen. Aber dieser erste Versuch, die englischen Statsformen mit den Theorien der französischen Revolution zu verbinden und daraus ein neues constitutionelles Statsrecht für Europa hervorzubringen, blieb auch für die spätem ähnlichen Versuche ein Vorbild.

2. Die sehr ausführliche Verfassung vom 19. März 1812, welche die Regentschaft und die spanischen Cortes während der Gefangenschaft des Königs und während ein groszer Theil von Spanien in der Gewalt der Franzosen war, der spanischen Nation gegeben hatten, und welche von den ver- bündeten Engländern anerkannt ward, geht groszentheils von ähnlichen Theorien über den constitutionellen Stat und die Trennung der drei Gewalten aus. Die französische Verfassung

414 Viertes Buch. Die Statsformen.

von 1791 diente den Cortes als Muster. Indessen sind, ob- wohl das Princip der Volkssouveränetät (Art. 3) proclamirt ist, die Bechte des Königs in weitem Umfange anerkannt. Die gesetzgebende Gewalt wird „den Cortes mit dem Könige vereint" (Art. 15) und ebenso diesem die . Aufsicht über die Justiz" (Art. 171) zugeschrieben. Indessen kann er durch wiederholte Abstimmung der Cortes zur Sanction der Gesetze genöthigt werden (Art. 149). Darin aber unterscheidet sich diese Ver- fassung sehr von der englischen Form, dasz sie eine aristo- kratische Pairskammer als Mittelmacht nicht kennt, sondern dem Könige die Eine Versammlung der Cortes, als der ge- wählten Volksvertreter gegenüber stellt.12

Die Willkür, mit welcher der befreite König diese Ver- fassung aufhob (4. Mai 1814) und die Häupter der Cortes verfolgte, und die alten und neuen Erfahrungen, welche die Nation über die absolute Kegierungsweise der Bourbonischen Dynastie machte, hatten die Folge, «las/ die Verfassung tob 1812 trotz ihrer Mängel und ungeachtet man sich anfanglich wenig um dieselbe bekümmert hatte, nach ihrer Beseitigung populär ward, und wiederholte Versuche (1820, L836) gemacht wurden, dieselbe mit Gewalt einzuführen. Auch das Estatuto Real von 1834, welches Spanien nun doch eine Repräsentatiwer- fassung verlieh, befriedigte nicht mehr. Die Königin-Regentin wurde 1886 genöthigt, die Verfassung von 1812 anzuerkennen, und im Jahr 18:»7 kam unter dem Einflnsz der Frogressisten die neue constitutionelle Verfassung für Spanien, auf Grundlage der ersteren und mit theilweiser Benutzung des Estatuto Keal von 1834 zur feierlichen Beschwörung. In dieser modificirten Verfassung ist denn die Sanction der Gesetze durch den König wieder ohne Be- schränkung anerkannt, und das Zweikammersj stein (ein Senat und

12 Die Verfassung ist in deutscher üeberaetzung abgedruckt bei Pölitz II, S. 203 ff., und bei Schubert, Verf. II. S. ii ff. Vgl. be- sonders die ausgezeichnete Darstellung von Baumgarten in Ucrvinus Geschichte des XIX. Jahrhunderts, Bd. I.V.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 415

eine Deputirtenkammer) eingeführt worden.13 Noch mehr näherte sich die unter dem Einflüsse der Moderados revidirte Verfassung vom 23. Mai 1845 der französischen Charte von 1830 an.14

Aber auch dadurch sind die Verfassungskämpfe nicht zum Abschlusz gelangt. Das Land schwankte wieder zwischen klerikaler Reaction und radicalem Aufstande hin und her, und hat noch keineswegs sein Gleichgewicht gefunden, denn die heutige von Hof und Klerus begünstigte Militärdictatur ver- spricht keinen Bestand.

3. Eine Nachahmung der spanischen Verfassung von 1812 war die Verfassung für Portugal von 1822, die indessen wieder nicht zu unbestrittener Geltung gelangte. Im Jahr 1826 gab der König Don Pedro dem Lande eine neue Ver- fassung, in welcher das monarchische Princip besser gewahrt wurde als in jener ersteren, und welche nach Analogie der englischen Verfassung und der französischen Charte eine Pairs- kammer mit erblichen und lebenslänglichen Pairs der Depu- tirtenkammer beiordnete. Diese Verfassung spricht nun von vier Gewalten: 1) der gesetzgebenden, welche den Cortes unter der Sanction des Königes, 2) der vermitteln den (moderador), welche dem Könige „als höchstem Oberhaupte der Nation zur Handhabung des Gleichgewichts und der Harmonie der andern politischen Gewalten, u 3) der vollziehenden, welche dem Kö- nige in Verbindung mit den Ministem, und 4) der richter- lichen, welche unabhängigen Gerichten zusteht.15

Auch nach der Besiegung der absolutistischen Partei Don Miguels, welche von keiner der beiden Verfassungen etwas wissen wollte, stritten sich zwei andere Parteien mit wechseln- dem Glücke um die Herrschaft ; die eine demokratische, welche sich an die Verfassung von 1822, die andere, der Chartisten,

13 Bülau, Europ. Yerf. seit 1828, S 221. «* Schubert, Verf. II, S. 105 ff. und S. 116 ff. 15 Art. 11, 13, 71, 75, 1J8 der Verf. von 1826. Beide Verfassungen bei Pölitz II, S. 299 ff., die letztere bei Schubert, Verf. II, S. 148.

416 Viertes Buch. Die Statsformen.

welche sich an die Charte von 1826 hielt. Im Jahre 1838 kam es zu einer Kevision der letzteren, durch welche die erb- lichen Senatorwürden in periodisch gewählte umgewandelt, und die Institution des Statsraths aus der Verfassung gestrichen wurde.16 Die Masse des Volkes nimmt indessen noch immer wenig Antheil an diesen Verfassungen. Indessen haben sich die Portugiesischen Statszustände, unter dem Einflüsse der K o- burgischen neuen Dynastie friedlicher und günstiger ent- wickelt als die Spanischen.

4. Auch auf dem gröszeren amerikanischen Tochterstat Portugals, auf das unabhängig gewordene Kaiserthum Brasilien wurde die Verfassung der constitutionellen Monarchie über- getragen und erlebte dort ähnliche Schwankimgen und Kämpfe, machte alter auch ähnliche Portschritte wie in Europa.

5. Italien rang sich allmählich aus dem unwürdigen Druck des absoluten Furstenthums los. Mochte noch die Ver- fassung dfr Napoleonischen Königreiche Italien und Ne- apel als eine beschränkte Autokratie angesehen werden, so wurde doch der Bpäter restaurirte Absolutismus der bourboni- schen und habsburgischen Pursten überall nur ungern ertragen. Geheime Verschwörungen und offene Aufstände kämpften mit grausamen Beactionen. Nur mit fremder Waffengewalt konnte man das Streben der Völker unterdrüeken. Als der König von Neapel L820 sieh bequemt hatte, seinem Lande die spanische Verfassung von 1812 zu gewähren, stellten österreichische Truppen die alte Willkürherrschaft wieder her. Auch die Be- wegungen der Dreiszigerjahre hatten keinen gröszero Krfolg. Immer wieder gelang es der massiven Gewalt Oesterreichs, an welcher die Dynastien sich anlehnten, jeden Versuch n ver- eiteln, welcher die Constitutionen« Monarchie einfuhren wollte.

Erst in den Vierzigerjahren erwies sich der Geis! der Keform stärker in Italien, nachdem er rieb mit dem Geiste der nationalen Befreiung von der Fremdherrschaft verbündet hatte. '*■• Bftl Schubert, WH', ll, s. i ;.:.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 417

Schon im Jahre 1847 war ganz Italien in einer mächtigen Aufregung begriffen, welche damals auch von dem neuen Papste Pius IX. gebilligt schien; und noch bevor in Paris die Revo- lution ausbrach, sahen sich der König Ferdinand II. von Neapel und der König Karl Albert von Piemont veranlaszt, die constitutionelle Regierungsform einzuführen. Aber ungeachtet der erstere „in dem ehrfurchtgebietenden Namen des drei- einigen Gottes" bezeugte mit Aufrichtigkeit und Redlichkeit diese neue Bahn der politischen Ordnung zu betreten,17 so be- eilte er sich doch, sobald er es ungefährlich konnte, die Ver- fassung wieder zu brechen. Die Folge der wiederholten Treu- brüche war, dasz im Jahre 1860, als der Sohn Ferdinands Franz II. in neuer Noth sich entschlosz, die constitutionelle Monarchie einzuführen, Niemand mehr Beinern Gelöbnisa glaubte und die Dynastie vertrieben ward.

Eine andere Wendung nahmen die Dinge in Piemont. Nachdem einmal der König am 6. Febr. 1848 sich für die Einführung des repräsentativen Systems nach dem Vorbilde der französischen Charte von 1830 erklärt hatte,18 blieb das sa- voyische Königshaus dieser Verfassung vom 4. März 1848 mit einer seltenen Entschiedenheit treu. Zwar glückte es Karl Albert noch nicht, ein erweitertes italienisches Reich unter seinem Scepter zu einigen. Die Siege ßadetzky's warfen seinen natio- nalen Ehrgeiz zurück und bewährten vielleicht Italien vor dem Ueberfluten einer unreifen Demokratie. Aber auch in jener Zeit, wo die Keaction in Italien ihre Triumphe feierte, blieb der neue König Victor Emmanuel doch der Verfassung treu. Die wunderbaren Erfolge, welche er in den Jahren 1859 und 18G0 errang, verdankte er zu gutem Theile dem Glauben der italienischen Völker an seine ehrliche constitutio- nelle und nationale Gesinnung, welche ihn bestimmte, die

17 Verkündigung vom 8. Februar 1848 in dem Portfolio I, S. 64. 1S Worte der Verfassungsurkunde, abgedruckt Portfolio I, S. 53 ff. Itlunts chli , allgemeines Statsroc-ht. I. 27

418 Viertes Buch. Die Statsformen.

Leitung einem groszen Statsmanne als Minister, dem edlen Cavour zu übertragen. Mit Hülfe Frankreichs wurde Oester- reich aus der Lombardei verdrängt und der neue nationale Stat breitete sich über alle Fürstenthümer von Mittelitalien, durch den kühnen Feldzug Garibaldis auch über Neapel und Sicilien aus. Die Hülfe Preuszens verschaffte dem Reiche auch das Königreich Venedig 1866. Nur der Kirchenstat, ist bis jetzt noch durch den Einflusz der fremden Mächte, obwohl enger begrenzt, von der Verbindung mit dem Königreich Italien abgehalten worden. So weit Italien gegenwärtig den Italienern gehört, das neue Königreich Italien hält an der constitutionellen Mo- narchie fest, und sogar die republikanisch gesinnten Parteien bequemen sich nach dem Beispiel Garibaldis diese Statsform als die für Italien zur Zeit nothwendige anzuerkennen.

6. Den Uebergang von den romanischen zu den germa- nischen Staten bildet Belgien, dessen Verfassung vom Jahr 1831 wieder der französischen von 183<> nachgebildet ist, in einzelnen wichtigen Beziehungen aber der bürgerlich-demokra- tischen Anschauung näher stellt als diese. Dahin gehört der Satz, dasz „alle Gewalten von der Nation ausgehen" (Art. 25), wobei freilich zu beachten ist, dasz Belgien keine monarchische Dynastie mehr hatte, sondern eine solche ersl berufen muszte, die Verneinung jedes Standeunterschiedes (Art. 0), das ausge- dehnte Stimmrecht für die Kammern u. s. f. Das Zweikammer- system ist zwar beibehalten, die erste Kammer aber oder „der Senat" wird auf Zeit gewählt, und zwar von den näm- lichen Wählern, welche die Deputirton bestellen (der Entwurf hatte noch dem König die Ernennung der Senatoren v<n be- halten), und nur die Erfordernisse des Alters und l»Vi< hthnnis für die Senatoren werden höher angesetzt. Das Land hat in- zwischen, von einem statsmännischen Könige, Leopold von Koburg, weise regiert, die Erschütterung der europaischen Re- volution von 1848 nur wenig verspürt und seine Wohlfahrt hat seither glücklich zugenommen, obwohl auch in Belgien

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 419

der Kampf der ultramontanen und liberalen Partei leiden- schaftlich fortgeführt wird. ,9

IV. Germanische Staten auszer Deutschland.

1. Eine eigenthümliche Entwicklung hat das constitutionelle System in dem scandinavischen Norden erfahren. Zunächst in Schweden, dessen Reichsstände seit dem XVI. Jahrhundert aus vier Ständen bestand, welche vier gesonderte Standes- stimmen hatten: nämlich: die Ritterschaft und der Adel, die Geistlichkeit, die Bürgerschaft und die Bauer- schaft. Oefter hatten sich die Könige auf die beiden letz- teren Stände vorzüglich gegen die grosze Macht des Adels stützen müssen, der auszerhalb der Reichsstände in dem aus- schlieszlich aus ihm bestellten Reichsrat he (Statsrath und Ministerien) das wichtigste Organ seines Einflusses besass. Erst Gustav 111. brach dieses Uebergcwicht der Aristokratie, welche die Existenz der Krone und die Sicherheit des Landes bedroht hatte, und eröffnete auch (1789) nicht adeligen Personen den Zutritt zu den oberen Reichsämtern, nur die „höchsten und vornehmsten Aemter des Reiches und Hofes" noch ausgenommen.

Die Verfassung Schwedens vom 7. Juni 1809 2,) ist eine Fortbildung der früheren Verfassung von 1772. 8I Mit be- sonderer Ausführlichkeit und Sorgfalt, und mehr als in den übrigen Constitutionen der neueren Zeit sind in derselben der königliche Statsrath und die vier Statssecretäre be- handelt. Die Ernennung auch zu diesen Stellen ist nicht mehr auf den Kreis des Adels eingeschränkt. Die Reichsstände, ohne deren Mitwirkung und Zustimmung der König weder die Ver- fassung ändern, noch Gesetze geben, noch neue Steuern er- heben darf, war noch vor kurzem in vier Stände getheilt. Die Mehrheit dreier Stände war in der Regel für den vierten bindend,

19 Lehrreich ist die Geschichte der Gründung der constit. Monarchie in Belgien von Theodor Juste. 1850. 2 Bde.

20 Schubert, Verf. II, S. 368. " Schubert, Verf. II, S. 349.

27*

420 Yiertes Buch. Die Statsformen.

bei Verfassungsgesetzen aber Einigkeit aller vier Stände und des Königs erforderlich.

Diese Verfassung schlosz sich in manchen Beziehungen noch näher an die auch in Deutschland im Mittelalter bestan- denen Grundlagen der ständischen Verfassungen an. Die Schwier- igkeit aber, bei dieser Viergliederung der Stände einen einheit- lichen National willen zu Stande zu bringen, war wohl eine Hauptursache, weszhalb dieselbe auszerhalb Schwedens wenig Beachtung und keine Nachbildung fand, obwohl sie in andern Beziehungen mancherlei Vorzüge vor vielen andern modernen Systemen besitzt, im Jahr 1865 kam endlich auch in Schwe- den das Zweikammersytem im Gegensatz zu dem Vierstände- system zur Geltung, nach Analogie der andern constitutio- nellen Staten.

2. Weit demokratischer ist die Verfassung Norwegens vom 4. November 1814. Der König von Schweden, welcher durch die Friedensschlüsse auch zum Könige 7on Norwegen bezeichnet worden, war durch die Verhältnisse genöthigt, die Verfassung im wesentlichen bo anzuerkennen, wie dieselbe im Frühjahr des nämlichen Jahres con dem norwegischen Reichs- tag zur Sicherung der Selbständigkeit des Landes und der Freiheit seiner Bürger festgesetzt worden war. Die Gesetz- gebung wird hier dem Volke" zugeschrieben und durch das „Storthing" ausgeübt (Art. 49). Dem Könige Bteht ewar das Recht der Sanction zu. aber wenn ein nicht genehmigtes Gesetz zum drittenmale von demSfcorthing gutgeheiszen wird, darf er die Sanction nicht mehr verweigern. Das ganze Stort- hing wird durch Wahl der norwegischen Bürger (meistens Grundbesitzer) gebildet, theilt sich dann aber in zwei Kammern d;is sogenannte „Lagthing" und dftS „Odel sth ing." Die ausübende Gewalt gehört dem Könige, unter der Verantwort- lichkeit seines Rathes. Vergeblich waren die seitherigen Ver- suche, die königliche Macht zu erweitern, und eine politische Aristokratie einzuführen. Die Demokratie der freien Hauern

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 421

und der Bürger widersetzte zieh beiden Tendenzen beharrlich, und die Eifersucht der Norweger auf ihre Unabhängigkeit von Schweden stärkte diesen Widerstand. 22

3. Die dänische Eevolution von 1660 war gegen den Adel gerichtet und hatte mit Hülfe des Bürgerthums die ab- solute Monarchie eingeführt. In unserm Jahrhundert wurde auch in Dänemark die Wandlung in die constitutionelle Mo- narchie vollzogen, zuerst in der noch unzureichenden Form von Provinzialständen (Gesetz vom 28. Mai 1831), dann in dem Grundgesetz vom 5. Juni 1849 in demokratischer Kichtung. Die Verfassungsstreitigkeiten der Dänen mit den Deutschen beziehen sich weniger auf den Gegensatz der Verfassungsform als auf den Gegensatz der Nationalitäten. Indessen auch da kam es im Juni 1866 zu einer Verfassangsrevision, welche von dem König mit dem Keichsrath (Landsthing und Volksthing) vereinbart wurde.

4. In dem neugestifteten Königreiche der Niederlande, welches nach der Auflösung des Napoleonischen Kaiserreichs an die Stelle der alten Eepublik der Vereinigten Staten und des späteren Napoleonischen Königreichs Holland getreten war, wurde die constitutionelle Monarchie ebenfalls eingeführt (Ver- fassung vom 28. März 1814 und nach der Vereinigung mit Belgien vom 24. August 1815). Die neue Verfassung vom 14. Oct. 1848 war ein Fortschritt in derselben Richtung und der constitutionelle Geist ist neuerdings auch in Holland erstarkt.

V. Deutsche Staten.

1. Als der geistige Vater der modernen constitutionellen Monarchie für den Continent verdient der König von Preuszen Friedrich der Grosze geehrt zu werden. Hätten die Völker ihn besser verstanden und die Fürsten ihm mehr gefolgt, so hätte sich der Uebergang aus der absoluten in die constitutio- nelle Statsform leichter vollzogen. Niemand hat energischer

22 Schubert, Verf. II, S. 404 ff. Vgl. den Art. Norwegen im deutschen Stats Wörterbuch.

422 Viertes Buch. Die Statsformen.

als er den Satz bekämpft, dasz der König der Herr des States sei, niemand bestimmter ausgesprochen, dasz das Königthum ein Statsamt und der König der oberste Diener des States sei. Wenn er dessen ungeachtet weder die alte ständische Verfass- ung erneuerte, noch eine neue repräsentative schuf, sondern die ererbte absolute Gewalt fortsetzte, so erklärt sich das genügend daraus, dasz sein Volk politisch noch sehr unreif und er per- sönlich demselben allzusehr überlegen war. Aber indem er durch seine Gesetzgebung »las Volk erzog, beschränkte er zugleich die königliche Willkür, und bereitete eine geordnete Freiheit vor.

Die französische Revolution lenkte eher von dem Wege ab, auf den der grosze König gewiesen hatte, indem sie die Fürsten mit Furcht und Hasz erfüllte und in den Völkern zu radkaler Uebertreibung reizte.

2. Die Verfassungen, welche in der Rheinbundsperiode zu Stande kamen, hauptsächlich auf den Antrieb des L'rotectors des Rheinbundes, Napoleon L, konnten insofern als eine Uebergangsstufe zu der constitutionelleu Monarchie dienen, als sie mit den Resten der alten Landstände aufräumten, in Einer Urkunde die Grundgesetze zusammen foszten und eine Art von Repräsentation freilich eine kummerliche und ohnmächtige des Grundbesitzes, der Industrie und der höheren Bildung versprachen.

3. Als der grosse Befreiungskampf, zu dem sich die Nation opfermuthig erhoben hatte, die Fremdherrschaft brach, war ein günstiger Moment da, um die moderne StatßOrdnung in na- tionalem und freiem Geiflte durchzuführen. Die wenigen groszen Statsmänner, die Deutschland hatte, stein, Humboldt, anfangs auch Hardenberg wollten es. Der König Friedrich Wilhelm HL von Preuszen hatte seine Geneigtheit dazu öffentlich ausge- sprochen. Aber durchweg war die absolutistische Gesinnung der deutschen Dynastien, der Fornehmen Kreise der Gesell- schaft, des Beamtentums so übermächtig, die antirevolutionäre

Einundzwanzigster Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 423

Stimmung so misztrauisch gegen alle modernen Tdeen, und so befangen in romantischen Phantasien, und die politische Bild- ung des Volkes so unreif, dasz in dem deutschen Bunde und in den souveränen (groszen und mittleren und kleinen) Monarchien, die sich in die Beherrschung der deutschen Nation getheilt hatten, ein nur wenig von landständischen Erinnerungen beschränkter Absolutismus herrschend wurde.

Nur ausnahmsweise versuchte man's, in einigen Staten, eine Art constitutioneller Monarchie, in Nachahmung der fran- zösischen Charte, aber durch landständische Ueberlieferung mo- dificirt, einzurichten. Das Herzogthum Nassau ging voraus aber ohne^ nachhaltige Kraft (Verf. vom 2. Septbr. 1814). Dann folgte Luxemburg (Verf. vom 24. August 1815) und vorzüglich das Groszherzogthum Sachsen - Weimar- Kisenach (5. Mai 1816), dessen Fürst, Karl August eine seltene Erscheinung persönlich der freieren Verfassung zugethan war.

Wichtiger war es, dasz die süddeutschen Mittelstaten, die Königreiche Bayern (Verf. vom 26. Mai 1818), Würt- temberg (25. Sept. 1819), wo der Widerstand der alten Land- stände vorerst durch die weitsichtigere Regierung zu über- winden war, und das Groszherzogthum Baden (22. August 1818) nun zu der constitutionellen Monarchie übergingen und gerade in dieser Wandlung eine Stärkung erkannten gegenüber dem Drucke der deutschen absolut regierten Groszstaten.

Es folgte dann das Königreich Hannover (17. Decbr. 1819), das Groszherzogthum Hessen (17. Decbr. 1820) und Sachsen-Meiningen (23. August 1829).

In allen diesen Verfassungen ist die Monarchie mit einer reichen Fülle von Hechten ausgestattet. Auf der conserva- tiven Natur des deutschen Volkscharakters konnte sie sicherer ruhen als in Frankreich, und wenn sie nur einigermaszen ver- stand, die Zeitideen zu erfassen und in liberaler Richtung vor-

424 Viertes Buch. Die Statsformen.

zugehen, so wurde ihr die Leitung der öffentlichen Dinge ver- trauensvoller überlassen, als irgend anderwärts.

Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An- sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An- seilen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be- setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von Alters hergebrachten Stände anschlössen, so hat man diese Verfassung auch oft mit Emphase als eine ..ständische und keine repräsentative" bezeichnet. Aber mit Unrecht : denn nicht das ist der Charakter der Repräsentativverfassung im Gegensatze zu der mittelalterlichen Bt indischen, dasz in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berücksichtigt werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in jener, auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert ist, dennoch vornehmlich eine nationale sei. und die Einheit des Volkes und des States, nicht die Gespaltenheil derselben in die Sonderinteressen der Stände darstelle. Dieses Princip ist aber z. B. in der bayerischen Verfassung von 1818 ausdrücklich anerkannt, indem die Abgeordneten schwören müssen: „mü- des ganzen Landes allgemeines Wohl und Beste ohne Rück- sicht auf besondere Stände oder Classen nach Deberzeugung zu berathen."

Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen diese Statsform entschieden misztrauiscb und abgeneigt \ er- hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen Im Sund. Anstatt der verheiszenen Repräsentation <l* Volks kam es zu- letzt (1823) nur zu berathenden Provincialständen. Die öster-

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 425

reichische Kegierung glaubte die Einheit des zusammengesetzten Statswesens nur durch die absolute Gewalt erhalten zu können. Fast die ganze Wirksamkeit des deutschen Bundes war darauf gerichtet, das sogenannte „monarchische Princip" möglichst absolut zu bewahren und die Völker polizeilich zu bevormunden.

4. Die französische Julirevolution von 1830 hatte auch in Deutschland neue Bewegungen zur Folge, und wieder wurden eine Reihe deutscher Staten, mittlere und kleinere bestimmt, das constitutionelle System einzuführen. Das Kurfürstenthum Hessen erhielt am 5. Januar 1830 eine Verfassung, welche die Volksfreiheiten gegen die fürstliche Willkür zu schützen bedacht war, das Königreich Sachsen bekam eine der bayeri- schen nachgebildete Verfassung (vom 4. September 1831), das Königreich Hannover erhielt ('20. September 1833) ein neues constitutionelles Statsgrandgesetz, welches jedoch von dem nächstfolgenden Könige Ernst August nicht anerkannt wurde, und erst 1840 in modificirter Gestalt wieder ins Leben trat.

Es erweiterte sich so, wenn auch von den Regierungen zuweilen eher dem Scheine nach als in Wahrheit geachtet, durch die ausgebildete Schreiberei der Bureaukratie vielfach verdorben, durch die Parteien innerhalb und auszerhalb der Ständeversammlungen nicht selten miszbraucht und entstellt, das constitutionelle S tatsrecht doch fortwährend auch in Deutschland, während die beiden deutschen Groszmächte sich noch immer demselben abgeneigt zeigten.

5. Endlich erliesz der König Friedrich Wilhelm IV. von Preuszen das Patent vom 3. Februar 1847, durch welches auf der Unterlage der Provincialstände ein „vereinigter Landtag" für Preuszen gebildet, und demselben der Beirath für die Landesgesetzgebung, ein Zustimmungsrecht für neue Steuern, und ein Petitionsrecht in innern Angelegenheiten zu- gesichert wurde. Dadurch trat Preuszen aus der Classe der absoluten in die der beschränkten Monarchie über, und näherte sich den deutschen Repräseutativstaten bedeutend. Der Anfang

426 Viertes Buch. Die Statsformen.

einer modernen Statsentwicklung war gegeben, und es war so- gar ein Vorzug dieser Verfassung, dass sie an die bestehen- den Verhältnisse anknüpfte und nicht blos die bisher übliche Form der constitutionellen Monarchie nachahmte. Freilich waren die Eechte des Landtags nur kümmerlich und ungenügend be- dacht. Aber die Möglichkeit der Fortbildung war gegeben, und die Mängel der Verfassung hätten sich auf organische Weise im Zusammenhang mit der politischen Erziehung auch des Volkes nach und nach heben lassen. Leider trat die Re- gierung auch den gerechten Wünschen des Landtags in einer Weise entgegen, welche ihr das Vertrauen auch der gemäszigten Parteien entzog. Und als das politische Erdbeben von 1848 Europa erschütterte, stürzte der neue Bau haltlos zusammen. Preuszen erhielt darauf am 5. October 1818 eine Verfassung, welche zu groszem Theile das Werk der demokratischen , von den Wogen der Revolution getragenen Partei war. Nur mit Hülfe eines von dem Könige octrovirten Wahlgesetzes vom

30. Mai 1840 gelang es, die revidirte Verfassung vom

31. Januar 1850 im Kinverständnisz der drei Factoren durch- zusetzen. Seither sind noch einige wesentliche Veränderungen hinzugekommen, vorzüglich zur Verstärkung der Autorität. Trotz wesentlicher Mängel dieser Verfassung war nun für das constitutionelle Leben von Preuszen eine neue staatsrechtliche** Grundlage gewonnen.

Die wechselnden Ereignisse der folgenden Jahre zeigten freilich, dasz mit der Form der Verfassung noch nicht sofort der Geist derselben allgemeine Anerkennung fand. Das aristo- kratische Herrenhaus, dessen Zusammensetzung den frühern Vertretern des Absolutismus und dei ritterschaftlichen Romantik allzu freigebig Vorschub geleistet hatte, bequemte sieh nur widerwillig; dem an Selbstherrlichkeit gewöhnten Königthum fiel es schwer, sich in die veränderte Lage zu füi^Qß und sich

23 Die Urkunde bei Zachariü, die deutschen Verfa^sungsgcsctze der Gegenwart, S. 74 (f.

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstellung der constit. Monarchie. 427

von dein modernen Geiste des Volkskönigthums erfüllen zu lassen ; die Volksvertretung endlich konnte sich auch nur all- mählich der Gränzen ihrer Macht und der groszen Unterschiede bewuszt werden zwischen dem englischen Parlamentarimus und der preuszischen Statsregierung. Aber während der zähen und erbitterten Kämpfe zwischen Reform und Reaction, Auto- rität und Volksfreiheit trieb die neue Verfassung doch tiefere Wurzeln, und nach und nach fanden sich alle Gegensätze in der Pflicht gegen den wachsenden deutschen Stat zusammen. Im Feuer des deutschen Krieges von 1866 wurden die harten Widersprüche geschmolzen und die Einigung vollzogen.

Auch Oester reich wurde von der Revolution des Jahres

1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker, welche bisher durch die liabsburgische Dynastie zusammengehalten waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem Centrum der Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die unerfahrene schwär- merische Jugend. Nur in der Armee, sonst nirgends mehr war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der Monarchie. Die Siege der Armee aber verschafften den österreichischen Stats- männern wieder die Möglichkeit, die Zügel der Regierung zu ergreifen, und im Gedränge der innern und äuszern Gefahren unternahmen sie den Aufbau eines neuen enger verbundenen Gesammtstates. Durch die octroyirte Verfassung vom 4. März

1849 wurde ein erster Versuch gewagt einer Organisation des Reiches nach den Grundsätzen der constitutionellen Monarchie. Aber die Schwierigkeiten, so verschiedene Völker, die über- dem noch auf verschiedenen Culturstufen stehen, in Einer Reichs Versammlung zu einigen , schienen damals so unüber- windlich, und das Bedürfnisz nach einer einheitlichen und dic- tatorischen Regierungsgewalt nach der überwältigten Auflehn- ung Ungarns so stark, dasz es nicht zur Ausführung jener Verfassung kam. Hatten zuvor die verschiedenen österreichi- schen Staten ihre Einheit wesentlich in der herrschenden Dy- nastie gefunden, so sollte auch für die nächste Zeit die ein-

428 Viertes Buch. Die Statsformeu.

heitliche Statsmacht über das ganze geeinigte Reich aussdiliesz- lich der Person des Kaisers anvertraut bleiben. Durch das kaiserliche Patent vom 20. August 1851 wurde bestimmt, dasz die Minister nur dem Throne verantwortlich seien, durch das Cabinetsschreiben vom 20. August 1851 der Eeichsrath in einen Kath der Krone umgewandelt, und durch das Patent vom 31. December 1851 wurden die constitutionelle Verfassung und die Grundrechte von 1849 aufgehoben. In dem Cabinets- schreiben endlich vom 31. December 1851 wurden in den Kronländern berathende Ausschüsse des grundbesitzenden Erb- adels, der übrigen Grundbesitzer und der Industriellen in Aus- sicht gestellt,21 aber in Wahrheit das System der absoluten Monarchie wiederhergestellt. Mit Hülfe eines maschinenartig zu bewegenden Beamtensystems übte dieselbe die Begierungs- gewalt aus und stützte sich dabei in geistiger Hinsicht auf das Wohlwollen des katholischen Klerus und in materieller auf die starke Armee.

Seit dem Jahre 1858 hatte die absolutistische Politik in Preuszen, Bayern, Baden, Württemberg, Kurhessen u.s.f. eine Keine von Niederlagen erlitten und Oesterreich erfuhr es in dem Italienischen Kriege 708 1859, dasz die drei einzigen Stützen der absoluten Politik, die Bureaukratie, <li'1 Armee und der Klerus in der Krisis ohnmächtig werden. Wiederum sah die kaiserliche Regierung die einzig-mögliche Rettung aus ihrer Finanznoth und aus ihrer ionischen Verkommenheit in der Gewährung der Repräsentativverfassung und der Umwandlung der absoluten in die constitutionelle Monarchie. Das kaiser- liche Diplom vom 20. October 1800 verkündete diesen Ent- schlusz und das Grundgesetz vom 26. Februar 1861 suchte denselben auszuführen.

Die Machtstellung der Oesterreichischen Monarchie sollte nach der Erklärung der Diplome ihre Ausgleichung finden mil , dem geschichtlichen Rechtsbewusztsein ihrer verschiedenen Kö-

* ZachariS, a. Verf. 6. 62 ff

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 429

nigreiche und Länder." Die „historischen Völkerindividuen" sollten ihre Landtage haben mit beschränkter Autonomie und hinwieder in dem gemeinsamen Reichstag zusammenwirken bei der Gesetzgebung des Reichs und der Controle der Reichs- regierung. Die Verfassung selbst unterschied hinwieder einen Weitem Reichstag für die Gesammtmonarchie und einen Engern Reichstag, vorzüglich für die westlichen Länder. Indessen auch diese Verfassung gelangte nur zu einem Ver- suche des Lebens, nicht zu wirklichem Leben, da sich die Ungarn weigerten, den Reichstag zu beschicken.

Wiederum wurde die Wirksamkeit des Reichstages am 20. Sept. 1865 durch eine einseitige Kaiserliche Erklärung sistirt und von neuem die Reichsregierung ohne Controle des Reichstages geführt. Erst das neue Kriegsunglück des Stats brachte im Jahre 1800 wieder einen Umschwung zu Stande. Nach der Niederlage von Königsgrätz und dem Frieden mit Preuszen von Prag wurde ernstlicher wie bisher von der Kai- serlichen Regierung mit den Ungarn unterhandelt, die nicht gesonnen waren, ihre alt-hergebrachten verfassungsmäszigen Rechte aufzugeben und gegen eine octroyirte Verfassung des Kaiser- tums auszutauschen. Erst als ihnen die Rechtscontinuität nicht blosz der Ungarischen Verfassung, sondern ebenso der Ungarischen Gesetze von 1848 und die furtdauernde Selbständigkeit des Königreiches wieder zugestanden ward, mit Kraftloserklär- ung aller inzwischen versuchten Eingriffe, liesz sie sich herbei, ihren Frieden mit der Krone zu machen. Damit aber war wieder der Dualismus des Reichs hergestellt. Dem Ungari- schen Reichstage und Ministerium trat nun wieder ein öster- reichischer Reichstag und ein österreichisches Ministerium für die Länder dieszseits der Leitha an die Seite. Auch für sie muszte die sistirte Verfassung, soweit sie noch anwendbar war, hergestellt werden. Die beiden Reichstage suchten dann nach einer ausgleichenden Delegirtenversammlung , welche in Verbindung mit den beiden gemeinsamen Ministern für das

430 Viertes Buch. Die Statsformen.

Auswärtige und die Finanzen eine Einigung in der Politik der gesammten Monarchie herzustellen, die Aufgabe erhielt. Ob diese vermittelnde Einrichtung gelingen werde, ob nicht, das mag immer noch zweifelhaft sein ; aber das ist sicher, dasz weder Un- garn, noch Deutsche und Böhmen geneigt sind , sich die absolute Monarchie länger gefallen zu lassen, und dasz alle diese Nationen, wenn auch in verschiedenen Formen eine constitutionelle Mo- narchie mit Einflusz und Controle der Volksvertretung ent- schieden verlangen.

7. Der Versuch, die repräsentative Verfassungsform, wel- che seit der Eevolution von 18-18 in allen deutschen Ländern als die noch einzig mögliche Form der Monarchie proclamirt worden war, auch auf den deutschen Bund als einen Gesammt- stat überzutragen, führte zu der deutschen Reichsverfassung vom 28. März 1849, welche zunächst ganz Deutschland auszer Oesterreich unter einem Deutschen mit der Preuszischen Königskrone verbundenen Erbkaiserthum , zusammen faszte, den Einzelstaten eine Repräsentation in einem Statenhaus ein- räumte und dem deutschen Volk eine Vertretung in einem Volkshause zusicherte. Indessen diese Verfassung gelangte nicht zur Wirksamkeit. Oesterreich verwarf diese Lösung der deutschen Frage und bereitete sich zur Bekämpfung derselben vor; der König von Preuszen nahm die Kaiserkrone nicht aus den Händen der Nationalversammlung; auch Bayern weigerte seinen Beitritt. Die deutsche Nation war nicht entschlossen genug, für die Verfassung einzustehen. Die dynastischen und particularistischen Kräfte waren stärker als das nationale Be- wusztsein. Auch alle spätem Versuche besonders Preuszens einen engern Bund als constitutionelle Monarchie zu gestalten, scheiterten an dem Widerstand jener Kräfte. Erst der deutsche Krieg von 1866 überwand die zähen Hindernisse, welche Oesterreich und die Dynastieen erhoben hatten. Die Verfassung des norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 ist insofern als deutsche constitutionelle Monarchie zu betrachten, als dii

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit Monarchie. 431

Hauptleitung der gemeinsamen Bundespolitik dem Könige von Preuszen als erblichem Bundespräsidium und gebornem Bundesfeldherrn zukommt, der Bundeskanzler von ihm ernannt wird und dem Reichstag verantwortlich ist, die Mit- wirkung des Bundesraths die Betheiligung der Einzelstaten an der Gesammtleitung sichert, und der Reichstag als Vertretung des deutschen Volkes Antheil an der Gesetzgebung und eine Con- trole der Regierung und Verwaltung hat.

Fassen wir die Resultate zusammen:

In West-Europa hat das System der repräsentativen oder der Constitution eilen Monarchie das entschiedenste Uebergewicht erlangt. Fast in allen Staten der civilisirten europäischen Völker werden nicht blosz das Privatrecht der Bürger, sondern auch politische Rechte der Volksmenge und ihrer Classen anerkannt und Stellvertreter derselben zur Mit- wirkung bei der Gesetzgebung zugezogen. Die europäische Monarchie ist nicht mehr eine unbeschränkte und absolute Gewalt, sondern eine durch das Recht auch der Unter- thanen beschränkte oberste Rechtsmacht.

Aber im Uebrigen sind die Verfassungsformen noch sehr verschieden.

In England ist das Königthum von einer mächtigen Aristokratie umgeben, und die thatsächliche Leitung mehr von den Mehrheiten der Parlamentshäuser und den ihnen ver- antwortlichen Ministern als von dem individuellen Willen des Königs abhängig. Auf dem Continente dagegen gibt es nirgends mehr eine so angesehene Aristokratie. Vielmehr kommt da neben dem monarchischen das demokratische Element vorzüglich in Betracht ; das aristokratische hat da nur eine ermäszigende und vermittelnde Bedeutung. Die continen- talen Verfassungskämpfe sind Strebungen dieser mächtigen Ele-

432 Viertes Buch. Die Statsformen.

mente, das richtige Verkältnisz zu einander und zum Ganzen zu finden. Die ausschlieszliche Geltung- des einen und die völlige Unterdrückung des andern wurde oft versucht, aber im- mer wieder erhob sich das entgegengesetzte Element von mo- mentanem Fall. Die constitationelle Monarchie des Continents strebt offenbar eine organische Gestaltung an, welche allen Theilen des Gesammtkmmers ihr Recht gebe, der Monarchie die Fülle der Macht und Hoheit, den aristokratisch« Ele- menten Würde und Autorität, dem Demos Frieden und Freiheit. Ueberall auf dem Continent. vorzüglich aber in Frank- reich und in Deutschland i>t die Monarchie nicht blosz der äuszern Form nach, sondern der ganzen Anlage des Ver- fazsungskörpers nach die active Hauptmacht. Sie wird nur dann gehemmt durch die unberechenbare, aber in der Kegel ruhende Macht der öffentlichen Meinung, wenn sie in Wi- derspruch tritt mit den Instineten der Nation und mit der Ström- ung der Weltgeschichte. In Harmonie mit denselben aber ist sie viel starker als die Aristokratie, «reiche entweder wie in Deutseliland ihr gegen gewisse Vortheile zu dienen bereit ist, oder wie La Frankreich in Ohnmacht murrt, und selbst als die Vertretung des ganzen (Ihrigen Volks, welche nur die Re- gierung controliren, aber Dicht selber regieren will. In Frank- reich aber stützt sieh die Monarchie mehr auf die Zustimmung der grossen Volksmassen, in Deutschland mehr thetls auf die Staatsmittel des Beamtentums, welches hinwieder die Monarchie am meisten besehrankt, fcheils auf die Armee. Zu einer be- friedigenden Organisation des Dem«., ist es aber imeh nirgends gekommen, obwohl Anlange dazu allenthalben vorhanden sind. Erst wenn diese gelungen Bein wird, und erst wenn auch die Dynastien die mittelalterliehen Vorurtheile abgestreift und (Um modernen Statsgeist völlig aufgenommen haben werden, ist <\w vieljährige Widerstreit zur Versöhnung und die organisch be- schränkte moderne Monarchie, welche die Einheit des Ganzen mit der .Freiheit aller Theile verbinden und den romanischen

Einundzwanzigstes Capitel. 1. Entstehung der constit. Monarchie. 433

Statsgeist mit dem germanischeu Freiheitsgefühl zur Harmonie zusammenstimmen will, zu sicherem Dasein gelangt.

Anmerkung. In einer Schrift, welche in den höchsten Kreisen der Gesellschaft vielfältig mit Beifall aufgenommen worden ist, unter den gebildeten Mittelklassen aber allgemeine Miszbilligung erfahren hat: „Die Vortrefflichkeit der constitutionellen Monarchie für England und die Unbrauchbarkeit der constitutionellen Monarchie für die Länder des eu- ropäischen Continentes; Hannover 1852" hat sich Gustav Zimmer- mann, der seither in Hannover zu einer für den Fürsten und das Volk beklagenswerthen Wirksamkeit gelangt ist, über das auf dem Titel aus- gesprochene Thema näher erklärt. Ich betrachte diese Schrift als ein absolutistisches Gegenstück einer fruchtbareren radicalen Litteratur über die constitutionelle Monarchie. Wie diese sehr häufig, so hat auch Gust. Zimmermann seinen Begriff der constitutionellen Monarchie lediglich von den äuszern Formen und Maximen der englischen Verfassung abgezogen. Wenn er dann behauptet, dasz dieser abgezogene Begriff auf dem Con- tinent nicht anwendbar sei, weil in England seine innern Widersprüche und Mängel durch den historischen Zusammenhalt und die Interessen der herrschenden Aristokratie vermittelt und verbessert, hier aber durch die demokratische Erfülluni;- gesteigert werden, so hat er darin nicht Un- recht. Aber der parlamentarische Constitutionalismus in England darf nicht mit der Idee der constitutionellen Monarchie verwechselt werden. Jener ist der erste groszartige und trotz der logischen Fehler glückliche Versuch ihrer Verwirklichung, nicht ihre Vollendung. Man kann die Unanwendbarkeit des englischen Parlamentarismus auf den Continent zugeben und doch für diesen die Brauchbarkeit der constitutionellen Monarchie, d. h. der Monarchie fordern, welche anerkennt, dasz ihre politischen Rechte, wie die der regierten Volksclassen verfassungsmäszig bestimmt und beschränkt seien, und dasz insbesondere für die Gesetz- gebung alle Theile des Volkskörpers zusammen wirken müssen. Die or- ganische Monarchie ist noth wendig zugleich eine constitutionelle, denn der Organismus ist selbst die Constitution. Dasz trotz allem Scharfblick im Einzelnen Gustav Zimmermann im Ganzen kein Verständnisz hat für das moderne Statsbewusztsein, ergibt sich aus seiner beharrlichen Be- zeichnung der obrigkeitlichen Statsgewalt als „Eigenthum" der Fürsten. Indem er diesen mittelalterlichen Standpunkt wählt, geräth er mit der gesammten Bewegung der neuen Zeit in den feindseligsten Gegensatz; er kann so an einer kleinen Stelle die Strömung eine Weile stauen, aber er wird von den höher gehenden Wogen in Kurzem sammt dem morschen Gezimmer, das er sich in den Strom hineinbaut, weggerissen und ver- schlungen werden. (Ich lasse diese zuerst 1857 geschriebene Stelle wörtlich stehen. Sie hat 1866 ihre Erfüllung erlebt.) Wenn über irgend etwas unsere Zeit klar und entschieden ist, so ist es darüber, dasz die

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 28

434 Viertes Buch. Die Statsforrnen.

Statsgewalt öffentliches Recht und öffentliche Pflicht ist, d.h. dem gemeinsamen politischen Dasein und Leben des ganzen Yolkes zu- gehört, und dasz sie daher kein Eigenthum eines Individuums für sich, d. h. kein Privatrecht sein kann.

Zweiundz wanzigst es Capitel.

2. Falsche Vorstellungen von der constitutionellen Monarchie.

Die civilisirten Staten Europa's haben sich fast alle dem System der c on s t i tu t i o n e 1 1 e n M o n a r c h i e zugewendet, und in ihr den Äbschlusz der Gegensätze, welche das Mittelalter hinterlassen hat, der Zerbröckelung und Erstarrung des States einerseits und der absoluten Monarchie andererseits, in ihr auch eine Versöhnung der verschiedenen politischen Strömungen und Richtungen der Zeit, insbesondere der Demokratie und der Monarchie zu finden gehofft. Die Erörterung der Grundlagen dieses Systems hat demnach ein unmittelbar practisches Interesse.

Beseitigen wir zu diesem Behuf vorerst einige Trrthümer und Miszverständnisse dieses Systems:

1. Die französische Revolution hat in den ersten Jahren den Gedanken Rousseau's verwirklichen wollen, dasz es im State zwei Gewalten gebe, die des Willens, die gesetz- gebende, und die der physischen Kraft, welche den Willen vollziehe. „Das Volk will, der König führt aus," das hielt man damals in Frankreich für das Wesen der con- stitutionellen Monarchie. 1

1 Rousseau, Contr. Soc. III, 1: „Toute action libre a deux causes, qui concourent a la produire, l'une morale, savoir la volonte qui dc'tcr- mine l'acte, l'autre physiquc, savoir la puissance qui l'execute. Le corps politique a les mcmcs mobiles, on y distingue de morae la force et la volonte; celle-ci sous le nom de puissance legislative; l'autre sous le nom de puissance executive." Mirabeau, Kode vom 1. Sept. 1789: „Deux pouvoirs sont necessaires a l'existence et aux fonetions du corps politique; celui de vouloir et celui d'agir. Pur le premier la societe

Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 435

Dieser Gedanke setzt das Volk dem Könige gegenüber, und indem er diesen zum bloszen Diener eines ihm fremden und ohne seine Mitwirkung entstandenen Volkswillens macht, hebt er den Begriff der Monarchie auf. Der Fall des Königs Ludwigs XVI. und die Proclamation der jakobinischen Kepu- blik war freilich die Folge der historischen Ereignisse , aber zugleich auch eine natürliche Consequenz dieses Verfassungs- princips.

Denkt man sich aber den König nicht als untergeordnet der gesetzgebenden Gewalt, von der er ausgeschlossen wird, sondern als dieser gleichgestellt, so ist die not- wendige Einheit im Statsorganismus aufgegeben, und wir haben ein Monstrum mit zwei Köpfen, eine unhaltbare D}^archie,2 welche entweder den Stat zerreiszt, oder, sei es dem monarchi- schen, sei es dem republikanischen Princip, wieder weichen musz.

etablit les regles qui doivent la conduire au but qu'elle se propose, et qui est incontestablement le bien de tous. Par le second ces regles s'executent, et la force publique sert ä faire triompher la societe des obstacles que cette execution pourrait rencontrer dans l'opposition de3 volontes individuelles. Chez une grande nation ces deuxpouvoirs ne peuvent etre exerces par elle-mcme; de la necessite des representants du peuple pour l'exercice de la faculte de vouloir, ou de la puissance legislative; de encore la necessite d'une autre espece de representants pour l'exer- cice de la faculte d'agir ou de la puissance executive." Thiers, bist, de la revol. franc. I, S. 97: „Za nation veut , le roi fait^ les esprits ne sortaient pas de ces elemens simples , et ils croyaient vouloir la monar- chie, parce qu'ils laissaient un roi comrae executeur des volontes natio- nales. La monarchie reelle, teile qu'elle existe meme dans les Zitats libres, est la domination dyun seul, ä laquelle ont inet des bornes au moyen du concours national. Mais des l'instant que la nation peut ordonner tout ce qu'elle veut, sans que le roi puisse s'y opposer, par le veto, le roi n'est plus qu'un magistrat. C'est alors la republique avec un seul consul au Heu de plusieurs. Le gouvernement de Pologne quoi- qu'il y eut un roi, ne fut jamais (?) nomme une monarchie."

2 Die Spaltung, welche in dieser Dyarchie unvermittelt vorliegt, ist denn auch in Frankreich von der demokratisch-republikanischen Partei wohl begriffen worden, und sie hat dieselbe benutzt, um das Königtimm gänzlich zu beseitigen.

28*

436 Viertes Buch. Die Statsformen.

2. Im Gegensatze zu dieser Verkehrtheit hat Sieyes in seiner Verfassung dem Statsoberhaupt umgekehrt eine ruhende Stellung zuweisen wollen, und darin die moderne Entwicklung des constitutionellen Systems gesehen. Dieser Doctrin aber hatNapoleon, der, wenn je einer ein geborner Monarch war. durch sein berühmtes Wort: „Wie haben Sie sich einbilden können, dasz ein Mann von einigem Talant und einigem Ehr- gefühl sich zur Rolle eines Mastschweins hergebe, das mit ein paar Millionen gefüttert wird?" ein unauslöschliches Brand- mal aufgedrückt.3

3. Häufiger noch wird als das Wesen dieser Statsform der Satz behauptet: „Der König hat /war das Recht der Herrschaft und der Regierung, aber die Ausübung dieses Rechts steht nicht ihm, sondern den Ministern zu/* Faetisch mag diesz Verhältnis/ in manchen Ländern zu gewissen Zeiten so bestanden haben und noch bestehen. Als Statsprincip und als Statsform anerkannt aber würde es Verzichtleistang auf die Monarchie und Einführung der Republik sein. Denn wenn die Ausübung eines [(echtes dem auf die Dauer entzogen wird, dem man das Hecht zuschreibt. so hat dieser den re- alen Inhalt des Rechtes verloren, und es kann nicht fehlen, dasz dem, welcher das Recht der Ausübung erworben hat, auch die bei jenem zurückgebliebene lere Schale und der Name des Rechtes nachfolgt. Als die Ausübung des Ghrundeigen- thums im Mittelalter dauernd auf die Vasallen und die hof- hörigen Bauern übergegangen war, wurde auch das EHgenthum selbst anfänglich als nutzbares Eigenthum von diesen erworben, und der formelle Schein und Name des Obereigenthumfl ging im Verfolg der Zeit für den vormaligen Herrn anabwendbar verloren. Als die karolingischen Hausmeyer die königliche Macht der Merowinger erworben hatten, blieb auch der Name des Königthums nicht bei diesen. Ist einmal die wirkliche Regierungsmacht von dem Könige abgelöst und den Ministern

1 Las Costa Mim. IV.

Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 437

zu Kecht übergeben, so ist es eine republikanische Be- hörde, welcher das Regiment in Wahrheit zukommt, und das Königthum ist zur leeren Form geworden.4 Das blosze Symbol an der Spitze des States, statt einer lebendigen und thatkräftigen Individualität, könnte höchstens als Ideokratie, nicht als Monarchie gelten.

4. Es ist daher auch ein absurder Satz, dasz es in der constitutionellen Monarchie „gleichgültig" sei, wer König sei, ob eine ausgezeichnete Persönlichkeit oder eine unbedeutende, ob ein verständiger oder ein beschränkter Kopf, ein edler Cha- nikter oder ein Bösewicht. Die Constitutionen -monarchische Statsform hat die Tendenz, dafür zu sorgen, dasz der König zwar so wenig Uebels als möglich thun, aber dasz er auch so viel Gutes thun könne als möglich. Nur in diesem Sinne be- schränkt sie ihn. Sie weisz, dasz er ein Mensch ist, und dasz Uebermacht selbst die Bessern verdirbt. Aber sie will ihn nicht zur Puppe machen in der Hand der Minister. Sie will nicht in ihm, der die oberste und herrlichste Stellung im State hat, die Würde des Menschen vernichten, indem sie seine menschlichen Eigenschaften negirt. Sie will nicht ihm, der das höchste politische Recht hat, das geringste Masz von poli- tischer Freiheit zuerkennen. Wie wäre Liebe, Ehrfurcht, Treue gegen den Monarchen denkbar, wenn es gleichgültig wäre, ob er derselben persönlich würdig, ob er auch nur fähig sei, die Hingebung und Verehrung des Volkes zu verstehen und zu er- wiedern? Die Consequenz jenes falschen Princips müszte zu der Behauptung führen: je der blödsinnigste und schwächste Fürst, der am wenigsten eigene Einsicht und eigenen Willen

4 Unter jener Voraussetzung hatte die radical-deraokratisclie Partei zu Frankfurt im Jahr 1848 Recht gehabt, in ihrem Programm das„con- stitutionelle Königthum" als eine „Sinecure," als einen „abgetragenen Hut" zu erklären, nur bestimmt: „einen Premierminister zu ernennen" (der dann regelmäszig auch aufgedrungen würde), und „für die Erzeug- ung eines Nachfolgers" zu sorgen.

438 Viertes Buch. Die Statsformen.

hat, wäre der constitutionellste Monarch.5 Und eine solche Statsform sollte die Erfüllung der Sehnsucht sein, welche die Völker haben nach einer wohlorganisirten und geistig gehobenen Statsordnung ?

Man hat sich öfter auf die englische Verfassung berufen, um diese unsinnige Vorstellung zu rertheidigen. Allein auch in England ist die Persönlichkeit des Monarchen nichts woni- ger als gleichgültig. 6

5. Auch den berühmten Satz von Thiers: wLe roiregne mais ü ne gouverne pas* (der König herrscht aber er regiert nicht) können wir nicht als eine richtige Bezeichnung des constitutionell-monarchischen Principe gelten lassen. Ist es doch dem gewandten Minister selber nicht gelungen, denselben dem Könige Ludwig Philipp gegenüber practisch durch- zuführen! Und sicherlich nicht daran ist der König gescheitert, dasz er nicht blosz herrschen, sondern auch regieren wollte. Sein Nachfolger der Kaiser Napoleon hat gerade da- durch den Beifall der Massen erworben, dasz er selber die Regierang ausübte.

Durch den Ausdruck herrschen waren mehr die for- mellen Hoheits- und Majestätsrechte des Königs, durch das Wort regieren die praefcisch-reale Oberleitung der »tätlichen Politik bezeichnet. Beiderlei Rechte gehören dem Statsober- haupte zu, und dieses insbesondere von der Ausübung der

5 Auch Segel, Eteohtsphil. X- 280 geht zu weit, «renn er meist:

„der Monarch habe nur Ja zu sogen, und den Tunkt auf uns I zu 86*161) " Er hat nicht blosz Ja, sondern auch Nein EU legen, und nicht blosz den ff orm eilen Entscheid11 in geben, sondern auch das reell entscheidende Wort. Er hat nicht blosz zu entscheiden, er hat auch anmregen und einzugreifen, wo es noth fchnt. .1. 11. Fichte, Beitrag zur Statf- lehre: „Der leerköpfigste Regent wäre dann der idealste."

Wer darüber zweifelt, der lese Broughams Stahmänner, und er wird sich überzeugen, dasz auch in England eine nensohlichrpersönliehe Wechselwirkung zwischen der Individualität des Monarchen und -einer Minister besteht, und es ganz irrig ist zu meinen, es komme dort auf den Willen des ersteren nichts an. Vgl. oben Cap. 21, Aum. .).

Zweiundzwanzigstes Capitel. 2. Falsche Vorstellungen etc. 439

wichtigeren, letzteren aussclilieszen (eine blosz formelle Be- theiligung ist Ausscklicszung von dem wesentlichen Antheil) ist wieder Zerstörung des Kerns der königlichen Gewalt. vRex est qui regit."

Nicht zu verwechseln mit dem regieren (gouverner) das blosze verwalten (administriren). Sich mit diesem kleinen Geschäftsdetail fortwährend abzugeben, kann allerdings dem Könige weder zugemuthet werden, noch ist es für die Leitung des States irgend ersprieszlich, wenn er sich damit in der Kegel befaszt.

6. Andere haben, von der Idee der Volkssouveränetät aus, das Wesen der constitutionellen Monarchie darein gesetzt, dasz der Monarch „nach dem AVillen und dem Sinne der Volks- mehrheit regiere." Diese Meinung gibt offenbar die Exi- stenz der Monarchie preis, undläszt sich von demokratischen Ideen bestimmen. Denn die Demokratie ist die Herrschaft der Volksmehrheit. Die Monarchie aber hat einen ihrer wich- tigsten Vorzüge gerade darin, dasz sie berufen ist, auch die Minderheit in ihrer Freiheit und in ihrem Kechte vor den Anmaszungen der Mehrheit zu schützen. Wäre der Monarch nur ein Beauftragter und Diener der Mehrheit, und würde so- mit dieser die Herrschaft im State zukommen, so wäre das nicht Monarchie mehr, sondern Demokratie, eine Demokratie freilich mit einem Scheinmonarchen an der Spitze, welcher ohne innere selbständige Macht so lang ein bloszes Scheinleben fortführen könnte, als jene es bequemer fände, ihre wahre Ge- walt zu verbergen.7

7 Gerade diesen Versuch hat die französische Nationalversammlung von 1789 gemacht. Thiers sagt von ihr sehr gut (revol. franc. II, S. 198): „Elle etait democratique par ses idees et monarchique par ses sentiments." Die Ereignisse haben die Unhaltbarkeit eines derartigen Zustandes dargelegt. In Frankreich hob die mächtige Demokratie das ohnmächtige Königthum auf (1793).

440 Viertes Buch. Die Statsformen.

Dreiundzwanzigstes Capitel

3. Das monarchische Priucip und der Begriff der constitutionellen Monarchie.

Die constitutionelle Monarchie will eine wahre, keine Scheinmonarchie sein.

Was ist nun das Wesen der Monarchie? Ohne Zweifel die Personification der Statshoheit nnd der Statsgewalt in einem Individuum. Ton der Theokratie unterscheidet sie sich auch dann, wenn der als Herrscher gedachte Gott sich durch einen Fürsten vertreten läszt, indem sie dem Monarchen selber das Eecht der Herrschaft zuschreibt, von den Republiken, welche einen Dogen oder Präsidenten an der Spitze haben, aber dadurch, dasz die republikanischen Statshäupter genöthigt sind, sei es die aristokratische Minderheit, sei es die demokratische Mehrheit als den eigentlichen Herrscher zu betrachten, dessen Vertreter und Diener sie sind, der Monarch aber nicht Unter- than dieser Mächte, sondern immer selbständiger Inhaber der Eegierungsgewalt ist. Die Statsautorität erhält in der Mo- narchie im Gegensatz zu dem Collectivausdruck der Republik einen höchsten individuellen Ausdruck. Der Monarch ist die Statsperson im eminenten Sinne.

In jener Begriffsbestimmung sind zwei Seiten zu unter- scheiden, die beide vorhanden sein müssen, wenn noch von Monarchie die Rede sein soll.

I. Die persönliche Erhebung des Statshaupts, als in- dividuellen Repräsentanten und Organ der obrigkeitlichen Gewalt.

II. Die inhaltliche Concentration der obersten Stats- hoheit und der vollkommenen Statsgewalt in ihm. Die beiden Pole der fürstlichen Thätigkeit sind die Initiative und die Sanction.

L Mit dem ersten Princip ist wohl verträglich:

Dreiundzwanzigstes Capitcl. Das monarchische Princip etc. 441

1) Die Beschränkung des Monarehen durch die Ee- präsentation der übrigen Bestandteile des Volks in der Gesetzgebung, und

2) die Gebundenheit des Monarchen an die Mitwirk- ung der Minister in der regelmäszigen Ausübung der Ke- gierungsrechte und Pflichten. Denn wenn auch die andern Glieder des Yolkskörpers noch so hoch stehen, so überragt er sie doch noch, als der Höhere ; und wenn die Verfassung auch dafür sorgt, dasz sein individueller Wille wahrer Stats- wille und nicht selbstsüchtiger Eigenwille sei, so wird dadurch nur seine Aufgabe erleichtert und seine Statsautorität vor Miszgriffen und Fall bewahrt.

Aber es verträgt sich damit nicht:

1) die Vorstellung, dasz der Monarch ein bloszes Idol, eine blosze Form, nicht ein lebendiges Wesen sei;

2) die Einrichtung, dasz der Monarch der Volksreprä- sentation oder den Ministern untergeordnet sei und von ihnen gezwungen werden dürfe, einen Willen zu äuszern, den er nicht hat, und zu handeln, wie er nicht will.

Da die oberste Gewalt seiner Person zusteht, so gebührt ihm auch die Freiheit und das Kecht der Persönlichkeit. l Seine Person gehört zwar auch nicht in allen Beziehungen und nicht ganz, aber sie gehört doch vorzugsweise und mehr dem State an, als jede andere Person. Er ist auch ein Gatte, Vater, ein Genosse einer Kirche, vielleicht ein Gelehrter oder Dichter. Aber in allen öffentlichen Dingen soll sich der Statswille in ihm zum individuellen Willen erheben und po- tenziren. Der monarchische Stat legt auf die individuelle Sorge und die individuelle Energie des Monarchen einen groszen

1 ßuizot Mem. II, 237. „Dieu seul est souverain et personne ici- bas n'est Dieu, pas plus les peuples que les rois. Et la volonte des peuples ne suffit pas ä faire des rois; il faut que celui qui devient roi porte en lui-meme et apporte en dot, au pays qui l'epouse, quelques-uns des ca- racteres naturels et independants de la royaute."

442 Viertes Buch. Die Statsfornien.

Werth, und es wäre ungereimt, dem Monarchen das höchste Recht im State zuzusprechen und zugleich ihn um deszwillen unter die Vormundschaft anderer zu setzen. Nicht die Kam- mern schaffen das Gesetz, sondern, indem er seine Sanction frei ertheilt, begründet e r das statliche Ansehen des Gesetzes. Nicht die Minister fügen seinen Regierungsbeschliissen ihre Autorität bei, sondern er verleiht denselben seine Autori- tät, und die Minister dienen ihm nur als Organe, wenn auch als unentbehrliche Organe seines Willens.

So weit der König durch die Verfassung nicht beschränkt und nicht gebunden ist an die nothwendige Zustimmung oder Mitwirkung anderer Glieder des Statsorganismus , so weit ist er auch völlig frei, seinen eigenen persönlichen Willen auszusprechen und demgemäsz zu handeln.

Die Eigenthümlichkeit der constitutionellen im Gegensatz zu andern Monarchien besteht darin, dasz der Monarch für sich allein weder Gesetze geben noch in der Regel Regier- ungsliamllungen aasüben darf, sondern in der ersteren Bezieh- ung die M i t w i r k u n g und Z ust.i m m u n g der Kammer n, in der letzteren die Mitwirkung der Minister erfordert wird. Sie besteht aber nicht darin, dasz der Schwerpunkt der Statsregierung in den Kammern oder in den Ministern liegt.

Würde die Kammermajorität und der Ministerrath in allen Fällen mit formeller Notwendigkeit die Handlungen des Fürsten bestimmen, so wäre eine solche eigentliche Parlaments- und Ministerregierung2 allerdings im Widerspruch mit dem monarchischen Princip. Der constitutionelle Monarch wird sich thatsächlich meistens durch das schwere Gewiclit jener Ab- stimmungen und Anträge bestimmen lassen, weil er darin den vorbereiteten Statswillen erkennt, aber er wird sicli die freie Prüfung aus dem Standpunkt des Statswohls vorbehalten müssen, wenn er seine monarchische Pflicht üben soll.

! Von der Parlaments- und der Ministerregierung wird in den I>ü- chern Y, YI und YII noch näher die Kode sein.

Dreiundzwanzigstes Capitel. Das monarchische Princip etc. 443

Innerhalb jener Schranken bewegt sich auch der consti- tutionelle Monarch mit voller Freiheit. Es ist abgeschmackt, ihn verhindern zu wollen, dasz er seine eigene Meinung ausspreche. Jeder tüchtige Mann hat ein Bedürfnisz, seine wirkliche Gesinnung zu äuszern. 3 Politische Rücksichten mögen den Monarchen oft zurückhalten, dieselbe ganz und laut zu offenbaren, aber Niemandem steht das Recht zu, ihm die freie Rede zu versagen oder gar ihn zu falscher Rede zu nöthigen.4

Dem Monarchen kommt es ferner zu, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, selber zu prüfen, wie es steht in seinem Lande, unmittelbar sich von den Be- dürfnissen des Volks zu unterrichten , die Erscheinungen des öffentlichen Lebens zu beobachten , und wo das Interesse und die Wohlfahrt des Ganzen es erfordert, anregend einzu- greifen, Aufträge zur Bearbeitung der nöthigen Ge- setze oder zur Einleitung der erforderlichen Masz- regeln zu geben. Das ist es, wodurch von jeher grosze Mo- narchen sich ausgezeichnet haben. Das ist die wahre Acti- vität des Monarchen. f) Auch die constitutionelle Statsform

3 Guizot Mem. XII, 184. „Un tröne n'est pas un fauteuil vide, auquel on a mis une clef pour que nul ne puisse etre tentc de s'y asseoir. Une personne intelligente et libre, qui a ses idees, ses sentiments, ses desirs, ses volontes comme tous les etres reels et vivants, siege dans ce fauteuil. Le devoir de cette personne, car il y des devoirs pour tous, egalement sacres pour tous, son devoir, dis-je, et la necessite de sa Si- tuation, c'est de ne gouverner que d'accord avec les grands pouvoirs publics institues pa^la Charte, avec leur aveu, leur adhesion, leur appui.u

4 Beachtenswerthe Bemerkungen darüber finden sich bei Stahl: Das monarchische Princip, S. 9. Luther in den Tischreden: „Es ist nichts löblicheres und lieblicheres an einem Fürsten, denn dasz er frei redet, was seine Meinung sei, und hat er Die lieb, so deszgleichen thun und ungescheut sagen, wie ihnen ums Herz ist." Wie könnte er die freie Rede Anderer achten und lieben, wäre er selber in der freien Rede gehemmt ?

5 Friedrich der Grosze von Preuszen im Essai sur les formes de gouvernement: „Le souverain represente PEtat: lui et ses peupies ne

444 Viertes Bück Die Statsformer).

bietet einer bedeutenden Individualität in diesen Beziehungen noch immer freien Spielraum. Sie darf denselben nicht verschlieszen.

TL Das zweite Princip ist: Dem Monarchen steht die oberste Statshoheit und die vollkommene Statsmacht zu. Auch das englische Statsrecht, welches die Rechte des Königthums in einem Masze beschränkt, wie es die meisten Monarchien des Continents noch nicht ertragen, erkennt das Princip dennoch an. Darin liegt:

1. Die Monarchie ist nicht ein Aggregat von einzelnen Hoheitsrechten, sondern die Einheit und Fül le aller Ho hei ts- rechte.,j Die absolute Monarchie ontrirt diesen Gedanken dahin, dasz sie andern politischen Körperschaften und Organen weder selbständige, der Willkür des Monarchen entzogene Rechte, noch eine nothwendige Betheiligung bei der Ausübung der Rechte des Monarchen zugesteht, und das/ sie mich von be- rechtigten Freiheiten der Individuen und Volksclassen nichts wissen will. Alles Etechi nimmt sie für Bich in Anspruch, den Andern vergönnt sie höchstens Gnaden.1

forment qu'un corps, qui ne peut 6tre heureux qu'autanl la oonoorde lea unit. Le prince est & la Boci6t6 qu*il gouverne (•<• que la r <* t « * est au corps: il doit roir, penser <'t agir poar toute la oommunaute', atiu d<* In i pro- curer tous les avantages dont eile e*st Busoeptible. Bi l'ou reut que le gouverncinciit monarehique L'emporte sur lc republioain; t'arrel dl iou- v.Taiii est prononce: il doit etre actif er integre et rassembler totri forces poar fburnir la carriere qui lui est ouverte. Le Bourerain est at- taohc' pai dei liens indissolubles au oorpe d'Etat; par oonseqnent il rw- sent per ripereuseion toua tes naui qui affiigenl sea sujets, etfosoctftl souflre Sgalement des ntalbeurt qui fcouehent son Bourerain."

6 Der Artikel b"t der Wiener Schluszaote ron L820 drückt «las mo- narchische Princip in den ersten Batie nicht unrichtig aus. umfasst aber üe absolute, die Bt&ndiBOhe um] die constitutionelle Monarchie, und i>t in dem zweiten Satze der Entwicklung der eoustitutionellea Statsfonn ungünstig: „Die gesammte Statsgewalt musa in dem Oberhaupt des Btata rereinigt bleiben, und der Bourerain kann durch eine landstftn- disohe Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Eleohte*an die. Mit- wirkung der Stände gebunden werden." Die seitherige Ausbreitung der eonstitutionellen Monarchie liat nunmehr diesen Artikel antiquirt.

' Wie wenig jene absolute Auffassung aus dem Begriffe der Mo-

Dreiundzwanzigstes Capitel. Da3 monarchische Princip etc. 445

Die constitutionelle Monarchie dagegen ist auch hierin eine beschränkte und erkennt die Kechte jener Körper- schaften und die Freiheit der Unterthanen an.

2. An der Gesetzgebung vorerst hat der Monarch nicht blosz einen Antheil, sondern den dem Inhalt nach in der Kegel, der Form nach immer entscheidenden Antheil. Ihm stellt die Initiative und die Sanction der Gesetze zu, und in seinem Namen werden sie verkündet.

Wird dieser Grundsatz in einer constitutionellen Monarchie verneint, so wird auf* diesem Gebiete das monarchische Prin- cip durch die Einwirkung republicanischer Ideen in Wahrheit beeinträchtigt; denn dann ist die oberste Statsmacht nicht mehr bei dem Monarchen, sondern bei den für sich allein betrachtet offenbar republicanischen Kammern, und er ist, soweit die Gesetzgebung reicht, der l'nterthan der Kammern.

Die Rechte der Kammern können folglich nachdem System der Monarchie nur concurrirende, nicht a us seh lies z- liehe sein.

narcliie folgt, mag die Aeuszerung eines ziemlich absoluten Fürsten, Friedrichs des Grossen bezeugen. Er schreibt in dem Antiniacchia-

vel 1.: „Le Souverain bien loin d'etre le Maftre absolu des peuples qui soiit sous sa domination, n'en est que le premier Magistrat," (Anderwärts braucht er die Ausdrücke „le premier serviteur" oder „domestique de PEtat.") Die Art, wie Mirabeau dagegen (Essai sur le despotisme, Oeuvres II, S. 297) die Fürsten anredet: „Vous etes les salaries de vos sujets, et vous devez subir les conditions auxquelles vous est aecorde ce salaire sous peine de le perdre" überschreitet die Gränzen der Monarchie und setzt eine republicanische Volksherrschaft voraus. Noch bestimmter sprach sich der preuszische König Friedrich über die wahre Stellung der Monarchen in der ersten Audienz aus, welche er seinen Ministern er- theilte am 1. Juni 1741. (Ranke Preusz. Gesch. I, S. 48) : „Ich denke, dasz das Interesse des Landes auch mein eigenes ist, dasz ich kein Interesse haben kann, welches nicht zugleich das des Landes wäre. Sollten sich beide nicht miteinander vertragen, so soll der Vortheil des Landes den Vorzug haben." Und Washington schrieb am 18. Juni 1788 an Lafayette: „Ich verwundere mich höchlich, dasz es auch nur einen Monarchen gibt, der nicht erkennt, wie sein Ruhm und sein Glück von dem Gedeihen und der Wohlfahrt des Volkes abhängig sind."

446 Yiertes Buch. Die Statsforinen.

3. Alle St atsre gierung ist in dem Monarehen con- centrirt, steht ihm zu selbständigem Rechte zu, und wird in seinem Namen ausgeübt.

In der constitutionellen Monarchie dürfen die Minister oder andere Kegienmgsbeamtete nicht in ihrem Namen regie- ren; aber auch der Fürst kann nicht ohne die Mitwirkung der Minister, sondern nur im Einverständnis! mit ihnen regieren. Alle ihre Gewalt erscheint als ein Ausflusz der königlichen Gewalt, ihr Regierongsrecht wird aus der Fülle der königlichen Macht abgeleitet, und zwar nicht im Sinne der mittelalterlichen Lehensmonarchie, so das/ ihnen diese ab- geleiteten Rechte für siel] zu ihrem eigenen Rechte und eigener Nutzung verliehen wären, sondern so dasi die orga- nische Einheit des States gewahrt bleibt. Auch im Ver- hältnis/ zu den Ministen) hat der König Initiative undSanc- tion; die erstere können und Bollen auch die Minister üben als leitende ßtatsmänner, diese Bteht dem König allein, den Ministern nur das Stecht der freien Zustimmung zu den Be- fehlen des Königs KU.8

Das im Mittelalter erkannte Prinrip, dasi alle Regierungs- autorität und Gewalt v.m oben her komme und stufenweise nach unten verliehen, oichi aber umgekehrt von unten nach oben aufgetragen werde, und dasi alle obrigkeitliche Macht \<i)i) Centrum zur Peripherie und nichl yon dieser zu jenem den Weg nehme und wirke, ist in der constitutionellen Monarchie der neuen Zeil in Aberkennung geblieben. Aber die mittelalterliche Zersplitterung dieser Gewalt in selbständige Theilgewalten ist nun aufgegeben worden.

8 L. Stein, Verwaltnngslehre I. S. 86 f. unterscheide! ein per- sönliches VoUzienungsrecat des Btatsheupts poa da Begierange- gewalt des Statshaupta und verlang! für jenes Onabhangigkeil sowohl von der VolksTertreiung als von den Ministern. Diese Theorie eröffne! dem Absolutismus der Fürsten eine bequeme Binterthfire aber gefährdet und untergräbt die ganze verfassungsmäßige Statsordnung,

Dreiundzwanzigstes Capitel. Das monarchische Princip etc. 447

4. Alle einzelnen Statsorgane sind dem Monarchen untergeordnet, und zwar nicht blosz die, welche in ihrem Wirkungskreise von seinem Willen völlig abhängig sind, son- dern auch die, an deren Zustimmung er selber gebunden ist, um einen statlichen Willen zu äuszern, wie die Minister und die, denen ein von der Einwirkung des Statsoberhauptes unab- hängiger Wirkungskreis angewiesen ist, wie die Kichter, ja selbst die gesetzgebenden Kammern, welche als selbständige Mächte im State sich mit ihm zur Gesetzgebung einigen. Wie das Haupt allen andern Gliedern des Körpers und dem Leibe übergeordnet ist, so hat der Monarch in dem Statskörper die höchste Stelle.

Man darf den Begriff der constitutionellen Monar- chie nicht aus der englischen Verfassung allein ableiten. Je nach der Art und der Geschichte eines Volkes bekommt die- selbe Grundform einen modificirten Ausdruck. Da sie ihrer Natur nach relativ und nicht absolut ist, so hat sie aucli die Fähigkeit, sich den verschiedenen Verhältnissen und Bedürf- nissen anzuschmiegen.

Als nothwendige Merkmale aller constitutionellen Monar- chie sind folgende Eigenschaften hervorzuheben:

1) Sie ist eine ve rfassungs m äszige Würde und Macht. Der constitutionelle Fürst steht nicht aus zer, noch über, sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs- mäszige Rechtsordnimg, welche auch den Monarchen bedingt, hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich.

In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mo- narchie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten, aber nicht eine systematische Beurkundung der ge- sammten Statsorclnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und vor- zugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je nach

448 Viertes Buch. Die Statsfornien.

den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern Anforde- rungen des in bestimmten Richtungen erregten politischen Lebens des englischen Volks im Lauf der Geschichte allmählich ent- standen. Diese Constitutionen werden gewöhnlich auf einmal und unter dem Einflusz einer allgemeinen Statstheorie als ein zusammenhängendes und umfassendes Gesetzeswerk bearbeitet. In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie möglich. Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, aufVerbrief- ung der politischen Rechte, obwohl die Natur dieser nicht von der Form der Bezeugung und Zusicherung abhängt, einen entschiedenen Werth, ohne darum das ungeschriebene Recht zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem modernen Leben in der That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein nicht mehr so unmit- telbar mit der Gewohnheit verwachsen ist, sondern um sich sicher zu fühlen und zur Klarheit zu gelangen, derFixirung durch die Schrift bedarf.9

2) Der constitutionelle Monarch ist ebenso verpflichtet, wie die Bestimmungen der Verfassung, so auch die Gesetze des States zu beachten. Er darf nur rerfassuigs» und ge- setzmäszigen Gehorsam erwarten und fordern.

3) Die gesetzgebende Gewalt kommt ihm nur in Verbindung mit den Kammern (der übrigen Repräsentation des Volkes) zu. Er bedarf, um ein Gesetz zu geben, i lirer Zu- stimmung, nicht blosz ihres Beirathes.

4) Die Ordnung des Statshaushalts und die Bewilligung der Statssteuern isi ebenso an die Mitwirkung und Zu- stimmung der repräsentativen Körper gebunden.

5) Zu der Leitung der Regierung und der Verwal- tung bedarf der constitutionelle Fürst der Mitwirkung der

Allerdings gibt es auch „papierene Constitutionen," wie Fried- rich Wilhelm IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil Bie <'in blosses theoretische» Machwerk ohne Wurzeln in der Nation >ind, leicht zerrissen werden; aber die schriftliche I'x-m-kundung einer Ver- fassung macht diese nicht zur papierenen, sondern stärkt und Bioheft ihren Inhalt.

Vierundzwanzig3tes Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 449

Minister. Damit seine Verordnungen, Befehle und Dekrete für dritte Personen rechtswirksam werden, ist die Contra- signatur eines Ministers als Ergänzung seiner Unterschrift unerläszlich.

6) Die Verantwortlichkeit der Minister und aller andern Regierungsbeamten ist unentbehrlich für die Wirksam- keit der Verfassung.

7) Die Selbständigkeit der Rechtspflege und die Ausschlieszung aller Cabinetsjustiz als eine notwen- dige Beschränkung der Regierungsgewalt und eine der wich- tigsten Garantien für das Recht der Bürger.

8) Die Anerkennung, dasz auch den verschiedenen Volksclassen und den einzelnen Bürgern nicht blosz Privat- rechte, sondern öffentliche Rechte zustehen, die nicht minder unverletzlich sind, als das Recht des Monarchen.

Die constitutionelle Monarchie läszt sich nur als Volks- fürstenthum eines freien Volkes verstehen.10

Vierundzwanzigstes Capitel.

Zusammengesetzte Statsformen.

Die ganze bisherige Darstellung der verschiedenen Stats- formen hatte nur die einfachen Staten vor Augen. Es gibt aber auch zusammengesetzte, d. h. solche Staten, deren Theile in sich wieder als Staten oder wenigstens staten- ähnlich geordnet sind. In ihnen wiederholen sich die Gegen- sätze der geschilderten Grundformen, und insofern haben sie nichts Besonderes. Der Gesammtstat und die Einzelstaten; der Hauptstat und die Nebenstaten köunen z. B. monarchisch oder repräsentativ-demokratisch organisirt sein.

10 Vgl. den Artikel Monarchie im Deutschen StatswÖrterbuch.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 29

450 Viertes Buch. Die Statsformen.

Nicht immer haben aber die Einzelstaten und der Ge- sammtstat dieselbe Verfassun^rform. Der deutsche Bund von 1815 blieb eine Oligarchie von souveränen Fürsten, ohne Volks- vertretung, während in den Einzelstaten die constitntionelle Monarchie eingeführt würden. Einzelne Cantone der Bdiweil sind noch absolute Demokratien, während der Qeeammtstat re- präsentativ-demokratisch ist Die englische Verfassung ist constitutionel-moiiarohisch, aber englische Nebenländer in Asien werden noch als Ahsolutien verwaltet, andere halbsouveräne Staten sind Republiken unter brittischer Schutshoheit.

Sind die Nationalitäten, die Civilisationsstufen und die historischen Bedingungen Behr verschieden, bo wird sich auch eine Verschiedenheit der Verfassungsform rechtfertigen; sind sie gleichartig -- wie im Deutschen Hund so wird oft Verschiedenheit als Unnatur und Disharmonie empfunden,

Zu allen lusammei d Statswesen kommt aber noth-

wendig ein neuer Qegensati hinzu, nämlich d utver»

hältnii Binen Oesammt- oder Hauptstates zu der Selb-

ständigkeit der Einzel- oder Nebenstaten.

Mit Bücksicht darauf Kassen sich folgende Hauptverhält- oisse unterscheiden :

I. Ein herrschender Hauptstal mit gani unter- t hau [gen Nebenll ädern.

Von der An Bind fiele Besitzungen der europäischen »fachte vorzüglich in Asien and in Afrika. Nur der Haupt- Btat ls1 als freier Stal organisirt, die Nebenländer sind unfreie und Qberdem der Fremdherrschaft unterworfene Staten. Die Gegensätze der Staten sind hier I Bchroff und der

mögliche Conflici zwischen ihnen wird durch dir Energie der Herrschaft des einen States über den andern zu lösen versucht1

Ii. Kin oberherrl ich er Hauptstai gegenüber \ asa I len- Btaten oder ein Bchutzherrlicher Stal gegenüber den

■Ygl.dk vortrefüiohe tasfllliruBg bei Hill, Betrachtungen Bbet die Repriientativ?erfai8UDg (übersetzt rou Wille! Zürich I

Vierundzwanzigstos Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 451

schutzbediirftigen Neben staten. Hier ist eine relative Selb- ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober- oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammenge- setzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung entspricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lebensform, obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleichartiger Kräfte einen Sinn hai and einem freien Volke niemals zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds, die englische über die Jonischen Ins. -In, die europäische über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt werden.

III. VenviiinK damil aber ermä8zig1 und veredell durch die Rücksichten der Pietät i>t das Verhältnisz des biutter- ts /u den ooch oichl ganz Belbstmächtigen , aber bereits zu einer Btatenartigen Organisation erwachsenen Colonial- ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge- worden isl, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen, und insofern eine relative Qeberordiiung desselben an- erkennen.

I\. her Statenbund und die Personalunion1 setzen die volle Hoheit and Selbständigkeil der verbundenen Staten als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise, Boweü «las gemeinsame Schicksal der Verbindung es nüthig er- scheinen läszt. Die Binzelstaten sind liier wohl als Staten or- ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als eine unentwickelte Statengemeinschaffc, die nur in einzelnen Beziehungen vorzüglich nach Auszen wie eine Statsper- sönlichkeit auftritt. Sie ist eher ein Statenconglomerat, als ein wahrer Stat. Es fehlen ihr die nöthigen Organe für die Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege. Sie schwankt zwischen

2 Vgl. oben S. 245 und 248.

29*

452 Viertes Buch. Die Statsformen.

einer dauernden völkerrechtlichen Allianz und einer stats- rechtlichen Gestaltung. Deszhalb ist sie nur eine unvoll- kommene Uebergangsform.

Es gibt in dieser Form vielleicht eine gemeinsame Nation, aber kein wirkliches Gesammtvolk: und die Entwicklung des Gesammtlebens und der Gesammtmacht ist sehr erschwert, weniger noch in der Personalunion, welche in dem gemein- samen Monarchen ein einheitliches Haupt besitzt und nur in allen andern Beziehungen die Spaltung zeigt, als in dem Sta- tenbunde, wo es an jedem einheitlichen Organe fehlt. Zum Handeln ist dieselbe ganz untauglich. Der deutsche Bund war das beredteste Beispiel dieser Verbindungsform in unserer Zeit und ihrer Schwächen.

V. Der Bundesstat, das Bundesreich und dieKeal- union1 sind darin verwandt, dasz in beiden Verbindungen der Gesammtstat als ein wirklicher Stat organisirt ist, und ebenso die verbundenen Einzelstaten. In dem Bundesstate sind die letztern noch selbständiger, als in der Kealunion, weil Bie dort eine ihnen ausschlieszlich angehörige Regierung haben, hier aber das Haupt des Gesammtstats zugleich der Landes- fürst in den Kronländern ist. Man Bprichi daher nicht leicht von der Souveränetät der realunirten Kronländer, aber unbe- denklich von der Souveränetät der Einzelstaten (Particular- staten, Cantone) in dem llundesstat.

Es gibt in dem Bundesstate und dem Bundesreiche ein organisirtes Gesammtvolk und organisirte Theilvölker: (Amerikaner und New-Yorker oder Pennsylvanier ; Schweizervolk und Berner, Zürcher, Genfervolk; deutsches Volk undPreuszen, Sachsen u. s. f.) und der Gesammtstat ist eben so frei in seinen Bewegungen und zwar ebenso ausgestattet mit Organen wie ein Einheitsstat. Die Einzelstaten aber sind keine Va-

3 Oben S. 246 und 249.

Vierundzwanzigstes Capitel. Zusammengesetzte Statsformen. 453

sallen des Gesammtstates , sondern innerhalb ihres Bereiches wieder selbständig wie Einheitsstaten. 4

Die Möglichkeit eines solchen Nebeneinanderseins zweier Staten auf demselben Gebiete wird dadurch hergestellt, dasz einerseits die Competenzen der beiderlei Staten scharf aus- geschieden werden und für friedliche Erledigung allfälliger Conflicte gesorgt ist, und dasz andererseits die beiderlei Behörden und Repräsentativkörper möglichst von einander getrennt und wechselseitig unabhängig erhalten werden. Am vollständigsten ist diese Scheidung auch der Personen (Aemter) in dem nordamerikanischen Bundesstate durchgeführt worden, die Ausscheidung der Competenzen aber auch in der schweizerischen Bundesverfassung mit besonderer Sorgfalt geregelt worden.' In dem deutschen Bundesreiche sind die Organe der Bundesregierung noch mit den Organen der einzel- statlichen Regierungen eng verbunden, so jedoch, dasz in dem König von Preuszen die Eigenschaft des Einen Bundeshaupts sichtbar wird, und dasz der Reichstag von den Kammern der Einzelstaten ganz getrennt ist. Die Competenzen des Reiches aber sind scharf geschieden von dem der Einzelstaten. Ge- wöhnlich wird der Bereich des Gesammtstates vorzugsweise die äuszeren Angelegenheiten in der Regel, und nur gewisse gemeinsame innere Dinge als Ausnahme umfassen, und umge- kehrt die Selbständigkeit der Einzelstaten sich in der Regel in den innern, ausnahmsweise in den auswärtigen Verhält- nissen bewähren.

4 G. Waitz, Grundzüge der Politik. Kiel 1862. S. 44 f.: „Beide, die Bundesgewalt und die Gewalt der Einzelstaten müssen in ihrer Sphäre selbständig (souverain) sein; diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Uebertragung dieser beruhen." S. 153: „Wesen des Bundesstats."

5 Ygl. Rüttimann über die für Realisirung des Bundesrechts zu Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel der schweizerischen Eidge- nossenschaft. Zürich 1862.

fünftes thirij.

Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Erstes Capitel.

Die Sonderung der Gewalten. i. Antike Zust&nde.

In der Bildung des gesetzgebenden Körpers hai der mo- derne Btai eine viel höhere Stufe der Verrollkommnunj reicht ak der antike. Den Grundgedanken; dasz bei der Ge- setzgebung das ganze \ olk betheiligl sei und dasz in «lern ge- setzgebenden Körper das Voll Bich darstelle, hai zwar das Alteiilnmi Beben zum Bewnsztsein gebracht. A.ber dieses machte vorerst noch den Versuch, das Volk selbe! als Btirger- scliiit't eu versammeln und bo zu unmittelbarer politischer Erscheinung und Thätigkeii zu bringen.

Verhältniszmäszig noch in roher Form waren die Volks- versammlungen der Griechen. Auf der Pnyi «Hier in «lern Theater zu Aihen kam eine irirre Menge von Bürgern zu- Bammen, welche nach Köpfen gezähl! worden, und von denea jeder reden durfte. Die alten römischen Comitien dag« waren schon organisch nach Körperschaften und Classen ge- gliedert und geordnet, und bewegten Bich nur unter der strengen Leitung der hoben Magistrate. '

1 Aus diesem Grunde hielten die Römer auch die Centuriatoomitien für höhei ah die Tributcomitien. Cicero de Legibut III. 19 : „Desoriptai

Erstes Capitel. Die Sonderung der Gewalten. 1. Antike Zustände. 455

Diese Einrichtung aber leidet immerhin an wesentlichen Gebrechen, welche erst der modernen Repräsentativver- fassung zu verbessern gelungen ist:

1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger- schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines bloszen Gemeinde- oder Stadt wesens überschreitet, unmöglich. Die Volksversammlung des gröszern States wird daher, wie das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik ge- schehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be- ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung ein unverhältniszmäsziges Uebergcwicht.

2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Versamm- lung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper, höchstens geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer vorge- schlagenen bekannten Richtung seinen Beilall zu äuszern oder dieselbe durch sein .Misz fallen zu hemmen, aber durchaus un- fähig, ein»' gründliche Berathung über Gesetzentwürfe zu pflegen und die schwierigeres und verwickeiteren Probleme der Politik zu lösen.

Nur in ganz kleineu Staten und unter der Voraussetzung sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz- gebung einer Volksversammlung aberlassen werden.

Die objective, nach der innem Natur der statlichen Functionen vollzogene S 0 n d e r u n g der Gewalten ferner ge- hört wieder erst der neueren Statenbildung an. Die Unter- scheidung derselben freilich rindet sich auch im Alterthum, nicht aber ebenso die Vertheilung unter die Organe des Stats.

Aristoteles2 spricht von drei verschiedenen Functionen, die sich in allen Verfassungen finden: 1) die berathende über die gemeinen Angelegenheiten ; 2) die der Obrigkeiten (äQx*0, ima" 3) die richterliche. Man sieht, seine Ein-

populus censu, ordinibus, aetatibus plus adliibet ad suffragium consilii, quam fuse in tribus convocatus. u

2 Aristoteles, Polit. IV. 11,1. Herrmann griech. Statsalterth. §.53.

456 Fünftes Bucb. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

theilung ist ähnlich der modernen Ausscheidung der Gewalten. Nur braucht er den Ausdruck „berathende" Function statt der „gesetzgebenden" Gewalt, wohl im Hinblick darauf, dasz die Gesetzgebung in Griechenland erst später von den Volksver- sammlungen geübt und selbst da gewöhnlich nur mittelbar geübt wurde, dagegen die Art und der Ausgang der Berath- ung in der Volksversammlung auf die wichtigsten Dinge masz- gebend wirkte. Was man in neuerer Zeit „vollziehende" Ge- walt zu nennen pflegt, bezeichnet er richtiger durch die Hin- weisung auf die Thätigkeit der obrigkeitlichen Aemter.

Aber die Volksversammlung zu Athen übte zugleich die höchste berathende Function aus, faszte eine Menge von Be- schlüssen in einzelnen wichtigen Fällen, die ihrer Natur nach der Kegierungsthätigkeit angehören, und brachte selbst richter- liche Functionen an sich. Die Archonten regierten, admini- strirten und leiteten zugleich das Gericht.

Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und mit einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen. In ihm ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätigkeit der Volksversammlung bereits schärfer gesondert von den Functionen der Magistrate. Diese aber verbinden ganz regel- mäszig regierende und richterliche Befugnisse. Wer das imperüim hat, der hat auch für den Umfang desselben die jurisdicto.3 Zudem hat er priesterliche Functionen (die Auspicien). Und endlieh übt er durch seine Edicte Be- fugnisse aus, welche in solcher Ausdehnung als gesetzgeberische bezeichnet werden müssen.

In dem spätem römischen Kaiserreiche kam eine neue Ausscheidung auf. Die byzantinischen Kaiser freilich behielten

3 Cicero de Legibus III, 3 : Omnes magistratus ausjnciumjudiciumque babento." Ulpianus in L. 2. D. de in jus vocando : „Magistratus, qui Im- perium habent, qui coercere ali quem possunt, et jubere in carcerem duci." Ulpianus L. I. pr. D. si quis jus dicenti: „Omnibus magistratibus . . . secundum jus potestatis suae concessum est jurisdictionem suam defen- dere poenali judicio."

Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 457

alle statliche Gewalt über das ganze Keich in ihrer Hand ver- einigt; aber in den untergeordneten Stufen der Provincialre- gierung und Beamtungen wurden die Ci vi Ist eilen von den Militärstellen sorgfältig getrennt. Diese Trennung, welche früherhin die Kücksicht auf die Unterthanen, auf welchen das Uebermasz der in den Magistraturen vereinigten Befugnisse schwer gelegen, nicht bewirkt hatte, ward nun um der Sicher- heit des Thrones willen durchgeführt. In der That lag hierin ein Fortschritt der statlichen Cultur und der bürgerlichen Freiheit, welcher auch in dem modernen State Anerkennung fand. Im Mittelalter traf die Aeuszerung der Statsgewalt auf allen Seiten auf Schranken, die ihr entgegen standen. Aber innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt. Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil- und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse, und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich der allgemeine Kechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein- zelne Streitfall beurtheilt.

Zweites Capitel.

IL Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.

In der Ausscheidung der verschiedenen Functionen des States und in der Zuweisung derselben an verschiedene Organe desselben erkennen wir eine höhere Stufe der stat- lichen Ausbildung, welche erst die reifere Menschheit erstiegen hat. In dem organischen Körper, wie Gott denselben ge- schaffen, sind ebenso die verschiedenen Thätigkeiten verschie- denen Gliedern zugetheilt. Das Auge sieht, das Ohr hört, der Mund spricht, die Hand greift und wirkt. Ebenso soll es in dem Statskörper sein und auch da jedes Organ bestimmte Functionen haben, für welche es gebildet und bestimmt ist.

458 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Der beliebte Ausdruck freilich : ,,T r e p nu n g der Gewalten" miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen Principe. Die vollständige , .Trennung" der Gewalten wäre Auflösung der Statseinheit und Zerre iszung des Statskörpers. Wie in dem natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter sich wieder verbunden sind, so musz auch im State der Zusammen- hang der verschiedenen Organe nicht minder Borgsam gewahrt bleiben. Der Stat fordert die S onderung and die Verbind- ung, aber erträgt nicht die Trennung der (Gewalten.

Die gangbarste Unterscheidung der Statsgewalten die Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir ist seit Monte so, d i eu die dreifache:

1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir legisktif),

2) vollziehende Gewalt (pouvoir exäcutif),

3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire).

Audi die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des Statsreehts angenommen, und eine ganze Reihe moderner Ver- fassungen hat dieselbe nach dem Vorgange der nordameri- k n ii isch eii Preistaten Banctionirt Den genannten drei Ge- walten haben einige, wohl innftchsi im Interesse der Statseinheii

4) eine vermittelnde Gewalt (pouvoir modlncteur, royal) hinzugefügt, und ea ist dieser Gedanke Benjamin Constants auch in die portugiesische Verfassung Don Pedro'a Abergegangen. Andere haben der vollziehenden Gewalt ferner

5) die verwaltende (pouvoir ;nl m in ist rat ih,

6) die an fse he o «I e i potestas inspectrva) und

7) die repräsentative (pouvoir reprlsentatif) beige- ordnet.

Bevor wir diese Bintheilung näher prüfen, [gj eine Irrige Vorstellung, welche häufig auf die Behandlung dieser IV grossen Einflnsz geübt hat, zu entfernen, die Vorstellung nämlich von der Gleichstellung der verschiedenen Ge- willten. Dieselbe widerspricht der organischen Natur des States. In dem organischen Körper hat jedes Glied die ihm

Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 459

eigenthüinliche, aber keines mit dem andern gleiche Stellung. Vielmehr ist das eine dem andern über- oder unter- oder zu- geordnet. Nur so wird Zusammenhang und Einheit des Ganzen erhalten. Dasselbe gilt vom Stat. Würden die obersten Gewalten in diesem wirklich nicht blosz der äuszern Form uii'l dem Scheine nach wie in Nordamerika sich gleichge- stellt, so müszte solche Spaltung und Gleichstellung der höchsten Stiiismacht den Stat selbst in ihren Consequenzen in Stücke reiszen. „Man kann den Kopf nicht von dem Leibe trennen urnl diesem gleichstellen, ohne das Leben des Menschen zu tödten." !

Käst kindisch isl die Vorstellung von dem Verhältnis/ der Statsgewalten zu nennen, «reiche in der gesetzgebenden Gewalt lediglieh die Bestimmung der Regel, in der richterlichen die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel, in der vollziehenden endlich die V o 1 1 s 1 rec k u n g dieses Urtheils sieht, und so den Statsorganismus wie einen bloszen logischen Syl- logismus betrachtet.2 Alle Functionen der verschiedenen Ge- walten wären so in jedem »gerichtlichen Ürtheile vereinigt, welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese auf die vor- gelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge dessen das Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung aber hätte kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohnboten oder der Gendarmerie, welche das Qrtheil der Gerichte vollzieht.

Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern

1 Meine Studien, S. J46.

2 Montesquieu XT, ß hat sich das Verhältnis doch anders ge- dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine ,,puissance executrice des choses, qui dependent da droit civil" und unterscheidet sie so ob- jeetiv von der eigentlichen „puissance executrice des choses, qui de- pendent da droit des gens." Nach ihm aber haben andere, unter ihnen auch Kant (Rechtslehre, §. 45) und Spittler (Vorlesungen über Politik, §. 15), jene wunderliche Meinung angenommen. Vgl. dagegen Stahl, Lehre vom Stat II, §. 57.

460 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein- zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung allein dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende Gewalt bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst, und ist ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck. Alle an- dern Gewalten dagegen üben ihre Functionen innerhalb der bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen concreten und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesam in t li e i t. Die übrigen Ge- walten äussern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in einzel n e q, nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen. Erst wenn die Befugnisse des gesetzgebenden Körpers bestimmt sind, kann die Frage der Eintheilung der übrigen Gewalten zur Lösung kommen.

Die gesetzgebende Gewalt hat demnach keineswegs blosz allgemeine Rech tsregeln, die Gesetze im engern Sinne festzustellen, obwohl diese Thätigkeil vorzugsweise ihr zugehört. Auch die Begründung und Aenderung Btatlicher Insti- tutionen, die Ausbildung des Statsorganismus in seinen Gliedern and Verhältnissen Btehl ihr zu. Und wenn sie in den Steuergesetzen allgemeine Ökonomische Anordnungen trifft, und Anforderungen, nicht Rechtsregeln, bewilligt, wenn sie sieh Rechenschaft geben Iftszl ober die Zustände des Landes und den Statshaushalt , so sind auch diese Func- tionen durch die Rucksichl auf die gesammte Statsordnung gerechtfertigt, obwohl dieselben keine eigentliche Gesetze betreffen.

Da das Ganze mehr ist als irgend ein Theil oder Glied desselben, so versteht sich, das/ die gesetzgebende Gewalt allen andern Einzeige walten übergeordnet ist.

Diese lassen sich für den modernen Stat füglich in vier Gruppen theilen von wesentlich verschiedenem Charakter. Die beiden wichtigsten und vorzugsweise obrigkeitlichen sind:

Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 461

I. die Regierungsgewalt, das Regiment; IL die rich- terliche Gewalt, das Gericht.

I. Die Regierungs gewalt. Durchaus verfehlt ist die leider sehr verbreitete Bezeichnung dafür: vollziehende Gewalt, denn sie ist die unversiegliche Quelle einer Menge von Irrthümern und Miszverständnissen der Theorie und von Fehlern der Praxis. Durch dieselbe wird weder ihr inneres Wesen noch ihre Beziehung zu der Gesetzgebung und dem Gerichte, worauf sie doch vornehmlich Rücksicht zu nehmen scheint, richtig ausgedrückt.

Man kann den eigenen Entschlusz und man kann den Befehl oder Auftrag eines Andern vollziehen. Immer aber ist das Vollziehen nur das S ecun d ä r e. Das P r im är e liegt in dem Entschlusz oder Auftrag. Die Functionen der Regierung sind aber ihrer Natur nach primär. Sie faszt Ent- schlüsse und erläszt Beschlüsse, sie spricht ihren Willen aus, sie gebietet oder verbietet, und in den meisten Fällen bedarf es gar nicht des executiven Zwanges, um ihren Befehlen Folge zu verschaffen. Es genügt regelmässig der blosze Ausspruch derselben, damit sie Gehorsam finden und zur That werden. Wo es aber der Nüthigung bedarf, da ist die Execution zwar allerdings Sache und in der Macht der Regierungsgewalt, wird aber, eben als das Secundäre, meistens nur von untergeord- neten Behörden und Dienern derselben besorgt.

Aber auch wenn man an den Willen Anderer denkt, ist die Bezeichnung der vollziehenden Gewalt unrichtig. Es ist nicht wahr, dasz dieselbe jederzeit im einzelnen vollziehe, was die gesetzgebende Gewalt im allgemeinen festge- stellt hat. Ein Gesetz läszt sich in der Regel gar nicht vollziehen, sondern nur beachten und anwenden, es wäre denn, dasz man etwa die Verkündigung des Gesetzes schon für die Vollziehung desselben hielte. Die Regeln, welche der Gesetz- geber sanctionirt, die Grundsätze, die er ausspricht, werden von der Regierung als rechtliche Normen und Schranken ihres

462 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und da9 Gesetz.

Verfahrens beachtet, aber innerhalb dieser Schranken faszt sie selber mit Freiheit die ihr heilsam und zweckmässig scheinen- den Beschlüsse. Von sich aus. nicht um ein Gesetz zu voll- ziehen, unter- und verhandelt sie mit andern Staten, gibt Auf- träge an ihre Unterbeamten, aber dieses oder jenes zu berichten, trifft die erforderlichen M;i>/.regeln zum Schutz der Ordnung. oder lüs/.t d.i> rar allgemeinen Wohlfahrt Geeignete vorkehren, ernennt Beamte, verfügt aber das Heer. Noch weniger als der Gesetzgebung gegenüber paszt die Bezeichnung der voll- ziehenden Gewalt dem Gerichte gegenüber. Die Vollziehung des Drtheila ist ihrem Wesen nach eine Sandlung der rich- terlichen Gewalt >tdiist . denn diese besteht in der Hand- habung <\r> Rechts und in der Herstellung der gestörten Rechts* ordnung und nur soweit die richterliche Gewalt nicht hinreicht, bedarf sie der Beihülfe der stärkeren Etegierungsmacht. Das Verh&ltni82 dieser so jener ist nicht das des Dieners, der i\m \\ illen des Herrn vollstreckt.

Das Wesen der Regierungsgewalt liegt -"mit nicht Inder Vollziehung, Bondern in der Macht, im einzelnen das Rechte nnd Gemeinnfitzlicbe zu befehlen und an/n-

urdiifii, und in der Maeln, das Land und das V 0 1 k

vor einzelnen Gefahren nnd Angriffen zn Bchützen und dasselbe in vertreten, und vor gemeinen [Jebeln zu bewahren, sie besteht vornehmlich in dem was die Griechen dQxW die Römer als impet tum, das deutsche Mittel- alter als Mundschaft und Vogtei bezeichnet haben. Von allen Btatiichen Einzelgewalten ist sie offenbar die am meisten obrigkeitliche, die vorzugsweise herrschende, dem- nach ohne Zweifel die oberste. Sie verhält sich zn den .indem Emzelgewalfcen wie «las Haupt zn den Gliedern des Leibes. Di«- Bogenannte Repräsentativgewalt aber ist in ihr inbegriffen,

3 Ari*totele8. Pol. IV., 12,3: „to yaq fauätttty < <>{i/.<mF nur iany* Er erkennt in den in dem Befehle die Haupt igenschafl d«r obi lieben Qewalt.

Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. 463

Bezieht sich diese Gewalt auf die Leitung des States im Groszen und Ganzen, so heiszen wir sie politische Re- gierung (gouvernement politique) , bezieht sie sich auf das Kleine und Einzelne, so heiszen wir sie Verwaltung (Ad- ministration).

IL Die richterliche Gewalt wird sein* häufig als ur- th eilen de Gewalt aufgefaszt, eine Verwechslung, welche der französische Ausdruck pouvoir judicaire begünstigt. Das Wesen der richterlichen Gewalt liegt aber nicht im Urtheilen, sondern im Richten, oder wie die Römer das gesagt haben: nicht in judicio, sondern in jure. Das ürtheilen in dem Sinne, das Recht im einzelnen Falle zu erkennen und auszusprechen, ist gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Function, noch die Ausübung einer Btatlichen Gewalt oder .Macht. Zu Rom waren es gewöhnlich Privatpersonen, welche als ürtheiler (ju- dices) das Rechl aussprachen; im deutschen .Mittelalter hatten die Schöffen, nicht die Richter, in neuere* Zeit haben oft die Geschworenen aus dem Volke, nicht die Magistrate zu ürthei- len. Das Sichten dagegen, d. h. die Gewährung des Rechts- schutzes, und die Handhabung des Rechts gegen die Störungen und Verletzungen der Rechte der [ndividuen und der gemeinen Rechtsordnung ist von jeher als eine obrigkeitliche Tliätig- keit angesehen, und daher überall richterlichen Magistraten und Beamteten als eine statliche Gewalt zugetheilt worden.

Sie unterscheidet sich von der Regierungsgewalt wesentlich dadurch, das/ sie nicht wie diese Herrschaft übt, sondern lediglich das erkannte und anerkannte Recht schirmt und anwendet. Sind die Functionen des Regiments denen der geistigen Kräfte im Menschen vergleichbar, so sind die Functionen des Gerichts von wesentlich moralischer Natur.

Eben deszhalb aber ist es ein groszer Fortschritt in der richtigen Anordnung des Statsorganismus, dasz in dem mo- dernen State die Ausscheidung der richterlichen Organe und Befugnisse von denen der Regierung vollzogen worden ist,

464 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

im Gegensatz zu dem gesammten Alterthum und dem Mittel- alter, welches immer die Regierungs- und die richterliche Gewalt von den nämlichen Magistraten ausüben liesz. Die Keinheit des Rechts und die wahre Freiheit der Bürger haben durch dieselbe gewonnen, und die Macht der Regierung ver- liert nicht, wenn sie vor Miszbrauch und Uebergriffen in die Sphäre der Rechtspflege bewahrt wird.4 Wie verschieden die beiderlei Gewalten sind, zeigt sich in der Erfahrung des Le- bens auch darin, dasz nur selten ausgezeichnete Stats- männer und Regierungsbeamtete auch gute Richter, und umgekehrt selten tüchtige Richter auch gute Regierungs- beamte waren.

Das Gericht als die weniger obrigkeitliche Gewalt steht mit dem Regiment nicht auf einer Linie, sondern ist, obwohl in der Hauptsache von diesem unabhängig, doch demselben untergeordnet, ähnlich wie das Herz dem Kopf.

In gewissem Betracht scheinen durch die Anerkennung dieses Gegensatzes die statlichen Einzelgewalten erschöpft zu sein, und es wird begreiflich, wenn die neuern Verfassungen gewöhnlich nicht darüber hinausgehen. Eine nähere Prüfung aber läszt uns noch zwei andere Gruppen von einzelnen Orga- nen und Functionen des States erkennen, die zwar beide den

4 In diesem Sinne darf man wohl an die Worte Washington^ erinnern, in seiner bewundernswürdigen Abschiedsadresse vom Jahre J 796 : „Es ist wichtig, dasz die Männer, welche in einem freien Lande an der öffentlichen Gewalt Theil haben, sich innerhalb der verfassungsmäszigen Gränzen halten und nicht die einen in die Befugnisse der andern über- greifen. Dieser Geist der Uebergriffe strebt darnach , alle Macht aus- schliesslich in sich zu vereinigen, und folglich den Despotismus einzu- führen, in welchem State immer er sich zeigt. Es genügt zu wissen, wie sehr die Liebe zur Macht und die Neigung, dieselbe zu miszbrauchen, dem menschlichen Herzen natürlich sind, um diese Wahrheiten zu fühlen. Daher die Notwendigkeit, die öffentlichen Gewalten durch ihre Theilung und Vertheilung unter mehrere Inhaber, welche dieses öffentliche Gut vor den Eingriffen Anderer schützen, ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist nicht minder nothwendig, die Gewalten in ihren Schranken zu halten, als dieselben einzusetzen."

Zweites Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten, 465

höchsten des Kegiments nicht blosz untergeordnet, sondern geradezu von ihr abhängig sind, die aber beide einen be- sonderen Charakter haben, und sich von dem des eigentlichen Regiments darin unterscheiden, dasz der herrschende und obrig- keitliche Charakter, welcher das Wesen desselben ausmacht, hier wiederum zurücktritt. Es sind das

III. die Aufsicht und Pflege der geistigen Cul- turverhältnisse, die Statscultur, und

IV. die Verwaltung und Pflege der materiellen Kräfte und Zustände, die Stats w i rtlisch aft.

In diesen beiden Gruppen handelt es sich nicht um das Regieren. Die groszen Factoren der menschlichen Cultur, die Religion, die Wissenschaft, die Kunst gehören überall nicht dem Statsorganismus an, und können nicht von dem State aus bestimmt und erfüllt werden. Das Verhältnisz der Stats- gewalt auch zu den äuszerlichen Anstalten der Religion, der Wissenschaft und Kunst, zu der Kirche und Schule, ist dem- nach grundverschieden von dem Verhältnisz der Regierung zu den Regierten in der Sphäre des eigentlichen Regiments. Der Stat hat auch hier die gemeine Wohlfahrt zu fördern und gemeinen Schaden abzuwenden, aber er ist sich bewuszt und wird fortwährend daran erinnert, dass das Wesen dieser Dinge nicht seiner Herrschaft unterworfen sei. Seine Functionen sind daher hier nicht maszgebend, nicht Gebote noch Verbote, son- dern wesentlich nur Aufsicht und Pflege.

Aehnlich verhält es sich mit der vierten Gruppe der Wirthschaft. Das charakteristische Moment in der Ver- waltung der Einkünfte und Ausgaben des States, der Finanzen, in der Unterstützung des bürgerlichen Verkehrs und der öko- nomischen Wohlfahrt der Bürger, in der Leitung der öffent- lichen Arbeiten, in der Beaufsichtigung der Gemeinden ist nicht Imperium noch Vogtei im strengen Sinne, sondern wie für die Culturbeziehungen geistige Sorge so hier auf das Ma- terielle gerichtete Pflege. Der specitisch obrigkeitliche

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 30

466 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Charakter kommt hier fast gar nicht, der weniger auf die statliche Macht und das Kecht als auf technische Kenntnisz und Erfahrung begründete Charakter der wirthschaftlichen Ver- waltung überwiegend zur Sprache. In keiner andern Gruppe nähern sich denn auch die Statsorgane so sehr dem Privat- leben, als in dieser; das Statsvermögen selbst erscheint ge- radezu im Verkehr einer Privatperson gleich. Unter allen nimmt sie daher die unterste Stufe ein, eine Stellung, welche mit ihrer Unentbehrlichkeit und ihrer groszen Ausdehnung bis in die Bewegungen des täglichen Lebens und Verkehrs hinein keineswegs im Widerspruch ist. Sie ist die breite Unterlage, auf welcher der Stat ruht, wie das Regiment seine höchste Spitze ist.

Die Erkenntnisz dieses Gegensatzes in den öffentlichen Functionen reift erst in unserer Zeit allmählich heran. Noch leiden wir an den Uebeln einer Vermischung der gebietenden und der pflegenden Thätigkeit. Noch wird gelegentlich be- fohlen oder verboten, wo nur verwaltet werden sollte, zuweilen auch scheue Pflege geübt, wo die obrigkeitliche Energie durch- greifen sollte. Aber es ist dock schon besser geworden, als es vor 100 Jahren gewesen ist; und viele Institutionen der Pflege sind bereits gesondert von dem eigentlichen Regiment und werden ohne Gewaltübung in dem wohlthätigen Geiste wissenschaftlicher und technischer Sorge verwaltet, der den Cultur- und Wirthschaftsbedürfnissen des Volkes Befriedigung verschafft und die Freiheit Aller respectirt.

Drittes Capitel.

Die Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. I. Die fränkischen Reichstage und II. das englische Parlament.

Der menschliche Geist arbeitete mehr als zweitausend Jahre daran, bis es ihm gelang, von den noch rohen Formen

Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 467

der antiken Volksversammlungen zu der vollkommeneren Ge- staltung des repräsentativen Körpers durchzudringen, und noch jetzt ist die VollenduDg dieser Arbeit im einzelnen nicht erreicht.

I. Die alten Eeichstage der fränkischen Monarchie stehen in manchen wichtigen Beziehungen wieder zurück hinter den römischen Centuriatcomitien. Weder die Ordnung der verschiedenen Classen und Stände, welche daran Theil haben, ist so fest gesichert, noch die Berathung und Abstimmung so ausgebildet, als bei den Römern. Und in der Hauptsache war es doch nur die Aristokratie der geistlichen und weltlichen Herren, auf deren Mitwirkung es wirklich ankam. Das übrige Volk wurde nur selten um seine Zustimmung befragt. In der Regel wurde ihm das Gesetz nur verkündet. '

Aber in einer und zwar in einer sehr erheblichen Rück- sicht lag in der fränkischen Einrichtimg ein groszer Fort- schritt. Die antiken Volksversammlungen bestanden aus den Bürgern einer Stadt, die als Centrum des States betrachtet wurde. Diese Reichstage aber ruhten auf einem über ein weites Land verbreiteten herrschenden Volke, und es wurden auf ihnen vornehmlich die Häuptlinge dieses Volkes, welche hinwieder einen Anhang unter demselben und Macht über ein- zelne Gegenden besaszen, zusammenberufen. Auf den groszen Reichstagen des Frühjahrs verstärkten die Gefolge, welche mit den Herren hergezogen waren, und die anwesende Menge der einfachen freien Kriegsmänner das Ansehen und die Autorität der Groszen. In der Aristokratie erblickte das Volk auch seine Führer und Vertreter.

Um den König her und mit seinen Räthen zur Berathung und Verhandlung trat so das Oberhaus der Herren (seniores) zusammen ; in einem weiteren Kreise wurde zuweilen auch die niedere Aristokratie der Mindern (minores) über ihre Zu- stimmung vernommen, meistens aber muszte sich diese noch begnügen anzuhören, was der König mit den Herren beschlossen.

1 Ygl. oben Buch IV, C. 17 die Stellen.

30*

468 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Erst in drittem Kreise vernahm das Volk der anwesenden Freien die Beschlüsse seiner Häupter.

Ob auf die Form dieser Reichstage und das Vortreten der Aristokratie auf denselben die alten gallischen Landtage2 und die frühere hohe Stellung der keltischen Druiden und Ritter auf diesen einen Einflusz gehabt habe, ist schwer zu bestimmen. In der Hauptsache ist wohl die Einrichtung germanisch. Allenthalben in den deutschen Ländern sehen wir in diesen und den folgenden Jahrhunderten das Ansehen der Aristokratie die schon in der ursprünglichen germanischen Verfassung, wie Tacitus uns berichtet, eine sehr hervorragende Stellung inne gehabt im Wachsthume begriffen.

IL Frühzeitig gelangte das Repräsentativsystem aber zu einer vollkommenem Gestaltung in England. Es läszt sich daher schicklich die Darstellung der höheren Entwicklungs- stufen an die Geschichte des englischen Parlaments an- lehnen.

Das angelsächsische Witenagemot war unter den nor- mannischen Königen welche in der Normandie ebenfalls ihre aristokratischen Hoftage zu halten gewohnt, und oft dazu genöthigt gewesen waren bis zu Anfang des XHL Jahr- hunderts in die höhere Form eines mit groszen politischen Rechten ausgestatteten „Groszen Raths" der Nation umge-

2 Die alljährlichen Versammlungen zu Arles, welche in der ersten Hälfte des V. Jahrhunderts dem südlichen Gallien von der römischen Regierung wieder verstattet wurden, und auf welchen die hohen welt- lichen und geistlichen Beamten und Würdeträger (die honorati) und die groszen Gutsherren (possessores) sich einfanden, sind um so merkwürdiger, als sich auf denselben bereits die Richter aus entlegenen Gegenden, die verhindert waren, persönlich zu erscheinen, durch Ab- geordnete (legati) vertreten hissen durften. Const. Honorii et Theo- dosii a. 413: „Illustris magnificentia tua id per septem provincias in per- petuum faciet custodiri, ut ab Idibus Augusti in Idus Septembris in Are- latensi urbi noverint honorati, possessores vel jndices singularum provin- ciarum annis singulis concilium esse servandum." Der Präfecf leitet die Versammlung, welche über die Interessen der Provinzen und 8tädte be- rathschlngt.

Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 469

bildet worden. Dieser grosze Kath beruhte aber damals noch ganz auf dem Lehenssystem. Die Heerschau der Yasallen und Hoffeste waren damit verbunden. Nach der Magna Charta Jo- hanns II. von 1215 waren zu demselben berechtigt und ver- pflichtet, alle unmittelbaren Yasallen des Königs. Die Groszeii: Erzbischöfe, Bischöfe, Aebte, Grafen, und die groszen Barone sollte der König durch persönliche Briefe einzeln einladen, die übrigen königlichen Yasallen dagegen insgesammt durch seine Yizgrafen und Vögte.3

Während des XIII. Jahrhunderts wurde das Parlament in Folge der Kämpfe des Adels mit König Heinrich III. be- deutend erweitert, auch von dem engen Zusammenhang mit der Lehensverfassung abgelöst, und so zu einer wahrhaft na- tionalen Institution erhoben. Die Hauptmomente für die Aus- bildung des englischen Parlaments sind:

1. Auszer den geistlichen Fürsten wurde auch ins- besondere wenn kirchliche Verhältnisse auf dem Parlament zur Verhandlung kamen dem nie dem Klerus eine Vertret- ung gestattet, und zwar so, dasz derselbe in jedem Decanat oder Archidiaconat zwei bevollmächtigte Vertreter er- wählen und zum Parlament abordnen durfte.4 Die Geistlich- keit war somit als Stand vertreten, und kam anfangs auch öfter als ein für sich bestehender Theil des Parlaments ge-

3 Magna Charta Joh. II.: „Et ad habendum commune consüium regni de auxilio assidendo submoneri faciemus Archiepiscopos, Episcopos, Abbates, Comites et majores barones singillatim per litteras nostras. Et preterea faciemus submoneri in generali pervicecomites et ballivos nostros omnes illos, qui de nobis tenent in capite."

4 Der alte Modus tenendi parliamentum, abgedruckt bei Unger, Geschichte der Landstände I, S. 289 aus d' Acherg spicileg. III, S. 394, ist freilich lange nicht so alt, als er sich selber ausgibt, auch sicher nicht aus dem XII. Jahrhundert, wie manche meinen, aber wahrschein- lich doch aus dem Ende des XIII. Jahrhunderts, und immerhin als Dar- stellung des alten Parlaments höchst interessant. Das erste Capitel han- delt von den geistlichen Mitgliedern. Ygl. auch das Einberufungsschreiben Eduard I., von J295 bei Guizot, Essai u. s. f., S. 332.

470 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

trennt von den andern zusammen. Später aber wurde es feste Sitte, dasz die geistlichen Herren mit den weltlichen Herren zusammen Ein Haus der Lords bildeten, und es kam auch die Abzahlung der Stimmen in diesem Hause ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit des Standes und der Per- sonen auf.8

2. Anfänglich waren die Grafen und groszen Barone mit den übrigen Reichsrittern in Einer Versammlung. Indessen mochten schon in älterer Zeit die persönlich geladenen Herren (die majores, barones, primae diguitatis) als die mäch- tigeren und vornehmeren Baronie der Modus tenendi pädia* mentum fordert von einer groszen Baronie mindestens dreizehn Rittergüter in derselben eine höhere Autorität besessen haben , und auch wohl oft allein befragt worden sein. Das Privy Council bildet den Kern dieser höheren Aristokratie, in welchem die Träger der obersten Reichsämter am Hofe und in Kirche, Heer, Gericht and Finanz znsammengefaszt wurde/' Während des XIII. Jahrhunderte tritt die Unterscheidung der hohen Aristokratie und der Ritterschaft immer bestimmter hervor.

3. Damit stand die Erweiterung der Ritterschaft in Verbindung. In den Grafschaften gab es neben den unmit- telbaren Vasallen des Königs noch viele andere, oft noch reichere Vasallen der Fürsten, Grafen und Herren, welche mit den Reichsrittern an demRathe und der Verwaltung der Grafschaft Theil hatten. Man fing nun an nicht mehr wie früher die un- mittelbaren mindern Vasallen in Masse zum Parlament EU rufen, sondern, da ohnehin nicht alle kamen, noch die An- wesenheit einer so groszen Zahl wünschenswerth schien, eine geordnete Abordnung der Ritterschaft zu veranstalten. Aus jeder Grafschaft sollten zwei Ritter für sieb und für die übrigen erscheinen. Von da an war es nun natürlich', dasz an

1 Ygl. darüber Blnckstonc, I. 2, 2. « Gneis t, Engl. Verf. II, 914.

Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 471

den Grafschaftswahlen auch die andern bei den Steuern und übrigen Landesinteressen nicht minder betheiligten freien Lehens träger Theil nahmen und erhielten. Durch diese Veränderung, welche seit der Mitte des XIII. Jahrhunderts aufkam, wurde eine auf Wahl beruhende Bepräsentation der angesehenen freien Grundbesitzer zu einem eigen- thümlichen Bestandteile des Parlaments erhoben.7 Der Cha- rakter einer Vertretung des freien Grundbesitzes er- hielt sich in der Folge nicht blosz, sondern wurde durch die Zulassung aller Freisaszen zum Stimmrecht, welche von Frei- gütern ein regelmäsziges jährliches Einkommen haben, anfangs von 40 Schillingen, später von 40 Pfund, seit der Eoformacte von 1832 selbst der Besitzer von Frei- oder Meyergütern mit einem Einkommen von 10 Pfund und der gröszern Zeitpächter bedeutend erweitert. 8

4. Ein ganz neues Element kam nun durch die Ver- tretung der Städte und der Burgen hinzu. Zuerst berief der Graf Simon von Mo nt fort im Namen des gefangenen König Heinrichs III. im Jahr 1260 Abgeordnete einer Anzahl von Städten und Burgen zum Parlament, in ihnen eine Ver- stärkung suchend seiner Macht. 9 Früher war wohl etwa von den Königen mit einzelnen Städten unterhandelt worden, wenn von denselben Beisteuern verlangt wurden. Für London war diesz in der Magna Charta von 1215 ausdrücklich vorgesehen. Aber nun zuerst wurde eine Versammlung der Abgeord- neten des Bürger Standes veranstaltet. Unter Eduard I. (1271—1307) befestigte sich die Einrichtung.

7 Ausschreiben Heinrichs III. von 1254. Die Sheriffs sollen er- wählen lassen in jeder Grafschaft: „duos legaliores et discretiores milites, vice omnium et singulorum." Modus ten. pari. c. 4: „eligi facerent qui- libet de suo comitatu per ipsum comitatum duos milites idoneos et ho- nestos et peritos."

8 Blacks tone I. 2, 5. R. Pauli, Bilder aus Altengland. 1861. S. 79.

9 Ausschreiben von 1264: „quod mittant duos de discretioribus , le- galioribus et probioribus tarn civibus quam burgensibus suis."

472 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

In den ersten Zeiten wurden die Abgeordneten der fünf Seehäfen anfangs Barone, nicht Bürger sodann der Städte (cives), endlich der Burgen (burgenses) unterschieden. Den untersten Kang nahmen die Burgleute ein, der Reichthum und das Ansehen der Städte gab den Städtern einen höhern Werth. lu Später vereinigten sie sich zu Einem dem dritten oder Bürgerstande, dessen Bedeutung fortwährend zunahm, und der ganzen Haltung des Parlaments einen neuen Charakter gab. Der alten mächtigen Erbaristokratie waren so zwei neue durch demokratische Wahl bezeichnete Bestandteile ein ritterschaftliches und ein repräsentativ -bürgerliches zur Seite getreten.

5. Diese neue Phase der Entwicklung erlangte durch die Bildung des Unterhauses eine feste Gestalt. Eine Zeitlang schwankte die Stellung der Bitterschaft zwischen dem Anschlusz an die Barone, besonderen Versammlungen und der Vereinig- ung mit den Bürgern. Während der Regierang Eduards 111. (1327 lo77) wurde dk letztere zu bleibender Kegel, und dein Hause der Herrn (Lords) reihte sich nun die Versamm- lung der Gemeinen (Commoners) als Unterhaus an: ,,les communaltes des ditz Countetz, Cites, Burghs et antra lieux du roiaume," wie es in einem Statut von 1335 heiszt. Es scheint, dasz die Vertretung der niederen Geistlichkeit später auszer Hebung kam. Dagegen wurden seit 1299 auch Abge- ordnete der Universitäten Oxford und Cambridge herbeigezogen.

Diese Theilung des Parlaments, an dessen Spitze der Konig stand, in zwei Häuser, welche in gewissem Sinne die hoch- aristokratischen und die allgemeinen niederaristokratischen und demokratischen Interessen vertraten, und insbesondere die Ver- bindung der Kitterschaft und der Bürger, von Land und Stadt beiderlei Abgeordnete hatten ihre Vollmacht den Volks- wahlen zu verdanken zeichnet die englische Einrichtung aus, und wurde das Vorbild des spätem Zweikammersystems.

10 Genaue Bestimmungen darüber in dem Modus ten. purl.

rittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Repräsentativverfassung. 473

6. Es dauerte eine Weile, bis das Princip der S tatsei n- heit, im Gegensatze zu der Sonderstellung und den Son- de rinteressen der einzelnen Stände, das ganze Parlament durchdrang. Indessen auch dieser grosze Fortschritt wurde in England schon zu Ende des XIII. Jahrhunderts gemacht. Schon der modus tenendi parliamentum spricht den Gedanken be- stimmt aus, und obwohl damals noch sechs Stufen des Parla- ments (König, geistliche Herren und Abgeordnete des niedern Klerus, weltliche Herren, Ritter, Städter und Burgleute) unter- schieden wurden, berichtet derselbe doch von einer eigenthüm- lichen Manier zur Einheit zu gelangen. In schwierigen Fällen nämlich, wo die Meinungen auseinandergehen, können mit Be- willigung des Parlaments die drei Hofbeamten einen Ausschusz von XXV erwählen aus allen Ständen, nämlich a) 2 Bischöfe und 3 Abgeordnete des Klerus, b) 2 Grafen und 3 Barone, c) 5 Grafschaftsritter, d) 5 Städtebürger, e) 5 Burgmänner. Diese XXV können sich selbst durch Wahl auf XII, diese hinwieder auf VI, und die auf III vermindern, mit des Königs Erlaubnisz können sogar die III auf Einen abstellen, und was so in dem Falle der Ausschusz verordnet, das gilt wie wenn das ganze Parlament es verordnet hätte.11

7. Das Haus der Lords erhielt noch mehr den Charak- ter einer persönlichen hohen Aristokratie, seitdem die Stellen der Lords abgelöst wurden von dem Zusammenhang mit bestimmten Herrschaften, und lediglich nach der Familien- erbfolge übergingen, während auf dem Continent die Würde eines parlamentarischen Standesherrn durch den engen Verband mit eigener Herrschaft desselben alterirt wurde. Durch die Reformation und Aufhebung der Klöster im XVI. Jahrhunderte verminderte sich die Zahl der geistlichen Herren bedeutend. Die weltlichen dagegen wurden von Zeit zu Zeit durch könig- liche Ernennungen erfrischt und für Rechtssachen regelmäszig durch den Zuzug der Xn Ober rieht er vermehrt.

11 Mod. ten. pari. c. 9.

474 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Nachdem Schottland (1707) und Irland (1800) mit Eng- land vereinigt wurden, kamen 16 von dem schottischen Adel erwählte Pairs und 4 Geistliche, und 28 weltliche irische hinzu.

Die grosze Mehrheit des Hauses (über vier Fünftheile) besteht somit aus Erbadel, aber er wird ergänzt durch geist- lichen und weltlichen Amtsadel und durch gewählte Pairs. Dieser Adel ist nicht mehr wie vordem ein Prälaten- und krie- gerischer Herrenstand, sondern die erbliche vornehmste Classe der Gentry.

7. Das Ansehen und die Macht des Unterhauses stieg besonders seit der Reformation und besonders seit den groszen Eevolutionsstürmen des XVII. Jahrhunderts, und den Kämpfen mit den Königen aus dem Hause Stuart um bürgerliche Freiheit. Allmählich ging der Schwerpunkt von dem Ober- auf das Unter- haus über. Die heftigen confessionellen Streitigkeiten des XVI. und XVII. Jahrhunderte aber hatten eine Beschränkung der Theilnahme an dem Parlament auf die Anhänger der pro- testantischen Confession cur Folge. Brat im Jahre 1829 wurden auch die römisch-katholischen ünterthanen die Priester aus- genommen — wieder für berechtigt erklärt, als Pairs oder als Gemeine in das Parlament aufgenommen zu werden. M

Von hoher Bedeutung aber für die Zusammensetzung des Unterhauses war die Eteformacte von 1832. ,a Seitdem die Städte und Burgen zuerst bezeichnet worden waren, welche Vertreter in das Parlament zu senden hätten, hatten sich die Verhältnisse sehr rerändert. Eine grosze Zahl insbesondere von Burgflecken war gesunken, und in völlige Abhängigkeit von der hohen Aristokratie gerathen, die ohnehin in dem Ober- hause hinreichend bedachl war. Einzelne Städte hatten umge- kehrt gegen früher an Bevölkerung und Reichthum sehr zu-

12 Die Acte ist im Original und in deutscher Ucbersctzung abge- druckt bei Schubert, Verfassungsurkunden, I. Bd., S. L93«

13 Ebenda, 8. 224.

Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 475

genommen, andere waren neu entstanden und zu groszem An- sehen gelangt, ohne eine Vertretung im Parlament zu haben. Einige Grafschaften waren im Verhältnisz zu andern viel be- deutender geworden. Die Eeformbill hatte nun die Absicht, die ^Repräsentation im Unterhause den veränderten Verhält- nissen anzupassen, und zugleich das Stimmrecht der Wähler in den Grafschaften, Städten und Burgflecken angemessen aus- zudehnen. ll

Viertes Capitel.

III. Ständische Entwicklung in andern Staten.

Auf dem europäischen Continent zeigen sich ganz ähn- liche Bestrebungen und Versuche zur Ausbildung eines stän-

14 Folgender Ueberblick über die Bildung des englischen Parlaments nach der Reformbill in unserer Zeit mag hier beigefügt werden:

I. Oberhaus: II. Unterhaus:

Prinzen vom königlichen A. England:

Geblüte 3 ^ ^on (len ^ Grafschaften 143

2. Von Städten u. Burgflecken 324 Herzöge 2G 3> yon Universitäten . . . 4__

Marquesses 31 (33)* 471

« B. Wales:

Grafen 147 -(16« liVonl2 Grafschaften. . 15

Viscounts 26 (32) 2. Von Burgen 14

Barone 132 (147) 29

C. Schottland: Erzbischöfe ) der engl. 3 L yon 80 Grafschaften . . 30

Bischöfe j Kirche 27 2. Von Städten und Burgen 23

Schott, gewählte Peers 16 53

D. Irland: Irländische repräsentir. lt Von 39 Grafschaften . . 64

Peers 28 2. Von Städten und Flecken 39

Mitglieder 439 3. Universität Dublin . . 2

TÖ5 658

* Die schottischen und irischen sind hier mitgezählt.

476 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

diseh-repräsentativen Systems wie in England. Aber überall wurde vornehmlich seit der Einführung stehender Heere und in Folge der groszen und zahlreichen Kriege, welche Europa zerfleischten, der Zusammenhang der Entwicklung unterbrochen, bevor dieselbe zu einer nationalen Gestalt durchgedrungen war.

1. Am frühesten und zugleich in grosser Ausdehnung finden wir eine Erweiterung der standischen Theilnahme in der pyrenäischen Halbinsel. Das Königreich Aragonien war in der That eine Republik mit einem Könige an der Spitze. Nicht blosz der Adel, der meistens von germanischem Ge- blüte das Land den Saracenen mit dem Schwerte wieder ent- rissen hatte, und die Geistlickei t, deren Einflusz durch die Kämpfe der Christen mit den Muselmännern an Bedeutung steigen muszte, sondern schon zu Anfang des XII. Jahrhun- derts scheinen auch die Städte, in denen die romanisch- christliche Bevölkerung das Uebergewieht hatte, in der Ver- sammlung der Cortes vertreten zu sein. Die Macht der Cortes gilt höher als die des Königs. Berühmt ist die alt-herge- brachte Huldigungsfunncl der Stände \<m Aragon, welche das bezeugt: „Wir die wir so fiel gelten als ihr, und die wir mehr vermögen als ihr, wir erheben euch zu unserni König, Herr, unter der Bedingung, dasz ihr unsere Rechte wahret, wo nicht, nicht."1 Ein einziges Mitglied der Stände, welches die Einstimmigkeit verhinderte, war schon mächtig genug, die Durchsetzung der königlichen Vorschläge zu hemmen, Zwischen den Fürsten und den Cortes richtete, wenn es zum Streite kam, der von dem Könige unabhängige und nur den vereinigten übrigen Statsgewalten hinwieder verantwortliche Q-roszrichtei, Justitia. Die Statseinheit aber war durch diese innern Gegen- sätze zerspalten.

In Castilien erschienen schon 1169 städtische Abge-

1 Nos que valemos tantöt como vos, y que podemoa Dias que vos, 03 azemos nuestro Rey, senor, con tal que guardeis nuestros fueros ; bi no, no.

Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 477

ordnete auf den Cortes von Burgos, im Jahre 1188 finden wir 47 Städte, 1315 90 Städte repräsentirt. Das XY. Jahrhundert war auch in Castilien das Zeitalter der ständischen Macht. Die städtischen Procuradores hatten sogar das Uebergewicht erlangt über Klerus und Adel. Dann aber brachte die Eifersucht der angesehensten Städte, Burgos und Toledo und die Kämpfe der Geschlechter unter sich und mit der gemeinen Bürgerschaft die Gesammtmacht der Städte ins Schwanken und an den inneren Zwiespalt scheiterte die Erhebung der Städte gegen Karl V. (1520.)

Gegen Ende des XVI. Jahrhunderts unternahm es Phi- lip]) IL von Spanien, die Macht der Cortes zu brechen, und obwohl auch er noch die Formen schonte, verfiel doch die mittelalterliche Selbständigkeit der Stände, und die absolute Monarchie errichtete auf den Ruinen der bürgerlichen Freiheit und des bürgerlichen Wohlstandes ihren Thron, dessen Um- sturz unser Jahrhundert gesehen hat.2

In Portugal nahmen an dem Reichstage, welchen der auf dem Schlachtfelde zum König von Portugal erhobene und von dem Papste bestätigte Alfonso I. im Jahr 1143 zu La- mego versammelt hatte und welcher für das neue Königreich Grundgesetze gab, neben Erzbischöfen und Bischöfen und an- dern Edeln auch „Procuratoren" für eine Reihe von portu- giesischen Städten Antheil.:< Der König liesz sich nochmals von dem Reichstage als König bestätigen. Als das geschehen war, sprach er, das blosze Schwert in der Hand: ,,Mit diesem Schwerte habe ich euch befreit und eure Feinde geschlagen, und ihr habt mich zu eurem Könige und Genossen gemacht. Da ihr aber mich dazu gemacht habt, so laszt uns nun Gesetze

2 Ygl. Ranke: Fürsten und Völker von Südeuropa I, S. 252 ff.

3 Leges Lamecenses, abgedruckt bei Schubert, Verf. II, S. 127: „procurantes bonani prolem per suas civifcates, per Colimbriam, per Vi- ramanes, per Lamecum" u. s. f.

478 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

geben, durch welche unser Land in Frieden sei." Sie alle sagten : „Wir wollen es, Herr König." Da rief der König alsbald die Bischöfe, die Männer von Adel und die Procuratoren (die Vertreter der Städte) auf, und sie sprachen unter einander : „Laszt uns vor- erst Gesetze machen über die Erbfolge im Königreich," und sie machten die nachfolgenden. Mehrere Jahrhunderte lang erhielt sich in Portugal eine freie Verfassung, bis auch ihr erst die erhöhte kriegerische Macht und der Reichthum der Könige ge- fährlich und sodann ihre Herrschsucht verderblich wurde. Doch wurde sie gleichzeitig mit der Erhebung des Hauses Braganza auf den Thron (1641) im wesentlichen erneuert, und es nahmen „die drei Stände, das heiszt der Klerus, der Adel und das Volk des Königreichs" das Recht in Anspruch ,, einem t3rrannischen König den Gehorsam zu ver- weigern, einen neuen König anzuerkennen und mit diesem die rechtmäszige Thronfolge zu bestimmen." Das achtzehnte Jahr- hundert liesz aber auch hier das ständische System untergehen. Schon 1643 war ein „Ausschusz der drei Stände" (Junta dos tres Estados) errichtet worden, mit welchem die Regierung lieber verkehrte als mit den Ständen selbst. Die Cortes wur- den in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts nur selten, im XVIII. Jahrhunderte gar nicht mehr berufen. Erst unsere Zeit hat die Wiederbelebung dieses Instituts in neuer Form und mit mancherlei Schwankungen erfahren.4

2. In dem mittlem Europa kommt, wie in England, eine Vertretung der Städte, beziehungsweise des Bürgerstan- des erst während des XIII. Jahrhunderts in Aufnahme. Zwar berichtet uns eine alte normannische Chronik, dasz Wilhelm der Eroberer, als er für seine Ansprüche auf England sich zum Kriege vorbereitete, auch die „Notabein der normanni- schen Städte" (gens notables des bonnes villes de Northmandie) neben den „Baronen" zu einem' Reichstage berufen und mit

* Vgl. Schubert. Verfassungen II, S. 136 ff.

Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 479

demselben Gesetze und Verordnungen gemacht habe.5 Allein dieser Bericht ist offenbar durch die Anschauungsweise einer spätem Zeit entstellt worden und die altern Erzählungen re- den nur von dem Adel.

Vor dem XIII. Jahrhundert sind die Bürger der Städte noch unter der Menge des „Umstand es" verborgen, noch ein nicht ausgeschiedener Theil der ungeordneten Volks- menge, oder wenn etwa auch die Städte berücksichtigt wur- den, so wurden dieselben noch durch ihre Stadtherren und Vögte, wie audere Herrschaften vertreten.6

Dagegen wurden von den französischen Königen in den Jahren 1227, 1240, 1245, 1256 u.s. f. Bürger der „guten Städte" zur Berathung wichtiger Dinge und in der Absicht, die Unterstützung der Städte zu gewinnen, zugezogen. Unter Philipp dem Schönen wurden zuerst 1302 7 die drei Stände (Geistlichkeit, Adel, Bürger) zu einem allgemeinen Keichstage zusammenberufen, da der König in seinen Streitig- keiten mit dem Papste Bonifacius VIII. der Zustimmung und Hülfe der Nation sich versichern wollte: und unter Ludwig X. (1314—1316) galt es bereits als eiu fester Eechtssatz, dasz ohne die Zustimmung der drei Stände keine Steuern erhoben werden dürfen. Ja in der Mitte des XIV. Jahrhunderts hatten die Stände sogar die Regierung in ihre Gewalt gebracht und unter den Ständen der dritte das Uebergewicht erlangt, bis die demokratische Bewegung zum äuszersten fortschreitend die Gewalt in die Arme des Pöbels verlegte und dann in dem

5 Abgedrukt bei Bouquet, Scriptores rer. Gall. XIII, S. 221. Ygl. Unger, Gesch. der Landstände I, S. 226, 277.

6 Es gilt das auch von den Hof tagen der mächtigeren deutschen Fürsten, welche aus den früheren Landtagen der Stämme, den placita provincialia durch Einwirkung des Lehens wesens entstanden waren, auf welchen nach dem Schwabenspiegel (Wackernagel, c. 118) die Für- sten, Grafen, Freien (Herren) und Dienstleute erscheinen müssen, „die bürge und stete (Burgen und Städte) in ir lande hant."

7 Auch in der Bretagne erscheint der dritte Stand zuerst im Jahr 1309 auf dem Landtage zu Ploermel. Schaffner II, S. 171.

480 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

eigenen Uebermasz unterging. Die Eeaction erhöhte die kö- nigliche Macht, und eine Zeitlang (1383 1412) vermied man die Keichsstände zu berufen. Doch kamen dieselben seit der Eeform von 1413 wieder öfter zusammen und auch im XVI. Jahr- hundert noch; obwohl seit Ludwig XI. das Sj^stem der ab- soluten Monarchie in Frankreich wuchernd um sich griff, fin- den sich einzelne Versammlungen der Generalstände (etats generaux), z. B. 1560, 1576, 1588, 1593. Seit Ludwig XIV. (1643 1715) scheinen dieselben in völliger Vergessenheit be- graben, bis zu Ende des XVIII. Jahrhunderts der Sturm der Revolution sie wieder an das Tageslicht brachte.8

Diese Stände galten zunächst als Vertreter ihrer beson- deren corporativen Interessen. Jeder Stand stimmte für sich, und die einzelnen Abgeordneten der Städte erhielten so- gar Instructionen von ihren Auftraggebern. Zu voller nationaler Ausbildung gelangte das Institut nicht, so wenig als zu einem dauernden und wohlgeregelten Leben.

3. Ebenso geht die Ausbildung der landständischen Verfassung in den deutschen Territorien während des XIII. und vorzüglich im XIV. Jahrhunderte vor sich.0 Die Ver- tretung der Städte auf den deutschen Eeichstagen fängt seit dem Könige Rudolph von Habsburg (1272— 1291) an, regelmäszig zu werden. Aber so wenig das Collegium der Kurfürsten oder das der Fürsten und Herren zu einem Ober- haus wurde, so wenig wurden die Bänke der Städte zu einem Unterhaus. Der Gesichtspunkt, dnsz dort und hier in der Hauptsache selbständige Fürstenthüm er und Eepubli- ken durch ihre Häupter, nicht aber die verschiedenen Be- standteile des Volkes vertreten seien, und dasz die Landes- und Stadtherrn auf den Eeichstagen voraus ihre Selbständigkeit

8 Schaffner, franz. Rechtsgesch. II, S. 27G ff. Rathqry , histoire des etats generaux. Paris 1845.

9 Vgl. den Artikel Landstände von K. Maurer im Deutsehen Stats- wörterbuch.

Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 481

gegen den Kaiser und ihre Herrschaft über die Territorien zu wahren berufen seien , war vorherrschend und hinderte eine nationale parlamentarische Entwicklung.

Innerhalb der einzelnen deutschen Länder aber kam es fast überall zu einer landständischen Verfassung. An diesen Landständen hatten wieder die drei Stände Theil, die an- fangs als gesonderte Stände berufen wurden, im Verfolg aber zu Einer gemeinsamen Landschaft, zu dem eigentlichen Landtag verbunden wurden:

a) Die Prälaten im Lande, Bischöfe und Aebte, welche früher wohl versucht hatten sich von den Hoftagen der Lan- desfürsten zurückzuziehen, und ihre Immunitätsrechte zu eige- ner voller Herrschaft auszudehnen, fanden es seit der Mitte des XIV. Jahrhunderts gewöhnlich in ihrem Interesse, als erster Stand an den Versammlungen der Landstände Theil zu nehmen.

b) Der Adel. In manchen gröszern Ländern, vorzüglich in Oester reich, Böhmen, Kursachsen wurde der H e r r e n- stand der Fürsten, Grafen und Herren unterschieden von der mittelfreien Ritterschaft, in Sachsen sogar äh nlich wie in Eng- land die meisten reichsunmittelbaren weltlichen Herren mit den Prälaten und die Ritter mit den Abgeordneten der Städte ver- bunden. In vielen andern Ländern aber wurden die gewöhn- lich wenig zahlreichen Glieder des hohen Adels mit der übrigen im Lande begüterten Ritterschaft oder Mannschaft, unter welcher auch die Dienstleute, insofern sie Lehens- güter besaszen, begriffen wurden, zu einem Stande verbunden.11 So in Bayern, Schlesien, Braunschweig, Branden- burg, Thüringen, Pommern u. s. f. Diese Ritterschaft war übrigens ein sehr zahlreicher Körper, indem dieselbe ge- wöhnlich nicht blosz Ausschüsse der Ritter, sondern alle mit Rittergütern versehenen Vasallen des Landes und die begüter-

10 Unger, Geschichte der Landst. I, S. 210. II, S. 34 ff. " Unger, II. S. 44 und 66.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 31

482 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

ten Ministerialien umfaszte. Im Tyrol hatten sogar alle Mit- glieder des Adels im weiteren Sinne ein Kecht auf persönliche Landstandschaft, auch wenn sie keine Grundherrschaft besaszen.

c) Die Städte erwarben gewöhnlich während des XIV. Jahr- hunderts landständische Kechte. Nur in wenigen deutschen Ländern reichen die Anfänge dieser Erscheinung noch in das XIII. Jahrhundert hinauf. Dahin gehört voraus Böhmen, dessen Cultur überhaupt eine Zeitlang der im eigentlichen Deutschland vorhergeht, wo schon im Jahre 1281 die Städte an dem Landtage theilnehmen, obwohl sie auch später noch über die Anerkennung dieses Rechtes Streit mit dem Adel führen. In Bayern kommen die Vertreter der Städte im Jahr 1307 mit den Prälaten und den Rittern zusammen, um der Münzverschlechterung zu steuern und für die erforderliche Geldhülfe zu sorgen, ,2 und werden die Städte und Märkte in den Zeiten König Ludwigs 1315 den „Landsherren und Dienstleuten" zur Seite gestellt:15 sie erscheinen als eine kräftige Stütze der Fürsten auch dem Adel gegenüber. In Brandenburg sehen wir die Städte seit 1308 als eine po- litische Macht im State geeinigt, und mit den Fürsten ver- handeln.14 In dem Fürstenthum Lüneburg wird schon 1356 ein herzoglicher Rath aus Prälaten , Ritterschaft und Städten bestellt, dessen Dasein die Existenz gemeinsamer Landstände voraussetzt.15 Die Vertretung der Städte auf den Landtagen wird so zur Regel. Aber gewöhnlich werden ihre Abgeord- neten nicht von der Bürgerschaft gewählt, sondern noch von den Räthen der Städte bezeichnet und ermächtigt, oder es nehmen von Amtswegen die Bürgermeister an dem Landtage Theil.

Auch für Deutschland war dieses Element von groszer Wichtigkeit. Die Einheit des States und die Interessen der

18 Rudhart, Geschichte der Landstände in Bayern I, S.bb. » Rudhart. Ebend. S. 73, 79.

14 TJnger, II, S. 87 ff.

15 Eichhorn, deutsche Rechtsgeschichte §. 423 Anm.

Viertes Capitel. III. Ständische Entwicklung in andern Staten. 483

öffentlichen Cultur fanden in ihm einen vorzüglichen Anhalts- punkt; sie waren im Ganzen sowohl der Entwicklung der fürst- lichen Regierungsgewalt als der bürgerlichen Freiheit günstig. Die Ausschlieszung der Städte von den polnischen Reichs- tagen, die ganz untergeordnete Stellung derselben auf den Un- gar i sehen ist eine Hauptursache des anarchischen Wesens und der geringen Wirksamkeit beider für die Zwecke höherer Gesittung.

d) Nur selten erscheint auch ein vierter, der Bauern- stand auf den deutschen Landtagen vertreten. Als Kegel er- hielt sich vielmehr, dasz was die Prälaten und die Ritterschaft für ihre Bauern gutheiszen, auch die übrigen dem Landesherrn ausschlieszlich unterthänigen Bauern im Lande sich gefallen lassen müssen. Eine Ausnahme machen die friesischen Landtage, auf welchen auch die von den Bauern erwählten Richter und Vorsteher der Gemeinden mit den Häuptlingen und Adeligen zusammentreten und die Wohlfahrt des Landes berathen. Im Erzbisthum Bremen hatten die eingesessenen Bauern der freien Marschgemeinden ebenfalls Ansprüche auf einen Antheil an den Landesversammlungen. In W ü r 1 1 e m b e r g sind Städte und Bauerschaften verbunden. Im Tyrol kommen seit 1418 auszer den Rittern und Städten auch Vertreter der ,,Thäler und Gerichte" vor, welche die Gesinnung und Interessen der Bauern repräsentiren. 16

Die landständische Macht hatte im XV. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, aber zugleich eine den Bedürfnissen des States und der Einheit der obrigkeitlichen Gewalt groszentheils widersprechende Richtung eingeschlagen, und diese Fehler gaben den absolutistischen Gelüsten der letzten Jahrhunderte Vor- wände genug an die Hand, um das Institut zu untergraben und zu beseitigen. Die Theorien der Romanisten, die in den Räthen der Fürsten zu practischem Ansehen gelangt waren, und die neuen, von den Fürsten ausschlieszlich

16 Unger II, S. 104 ff.

31*

484 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

abhängigen, stehenden Heere förderten ihre Abschwächung und ihren Untergang. Die Keiclisgesetzgebung verhinderte neue Bündnisse, Einigungen und den bewaffneten Widerstand der Stände, beschränkte ihr Recht der Steuerverweigerung, und stärkte die Landeshoheit. Der dreiszigj ährige Krieg vollendete den Verfall der landständischen Institution. In manchen deutschen Ländern wurden die Landtage von den Fürsten, welche auch darin den Absolutismus Ludwigs XVI. nachahmten, nicht mehr berufen; in andern wurde ihre Thätigkeit zu einer bloszen Formalität herabgedrückt. Das Scheinleben solcher Landstände im XVIII. Jahrhundert hat Karl v. Moser mit bittrer Laune vortrefflich gezeichnet.17 Nur ausnahmsweise, wie besonders in Württemberg, bewahrten sie noch einige Bedeutung. Mit der Auflösung des deutschen Reiches gehen sie in der alten Gestalt unter, um bald nachher in moderner Form neu zu erstehen.

Fünftes Capitel.

Der Unterschied der ständischen und der repräsentativen Verfassung.

Die mittelalterlich-ständische Verfassung ist in den letzten absolutistischen Zeiten des Mittelalters seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts mit den übrigen mittelalterlichen Institutionen unaufhaltsam abgestorben und zuletzt unterge- gangen. Der Aufschwung eines neuen Weltalters hat nun das Repräsentativprincipan ihre Stelle gesetzt. Beide Systeme sind darin ähnlich und nahe verwandt, dasz sie dem Abso- lutismus der obrigkeitlichen Gewalt widerstreben und die poli- tischen B,echte der Unterthanen gewährleisten. Das ständische

17 Herr und Diener, S. 101. Vgl. E ichhorn, Deutsche Rechtsgesch. §. 546 ff. Zachariae, Deutsches Statsrecht I, 5.

Fünftes Capitel. Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 485

System ist überdem eine Vorstufe des repräsentativen; es ver- hält sich zu diesem, wie der politische Geist des Mittelalters zu dem der neuen Zeit. Da aber jene Verwandtschaft und dieser Zusammenhang leicht zu einer höchst gefährlichen Ver- wechslung beider Gedanken verleiten, so wird es um so nöthiger, die principiellen Gegensätze um so schärfer ins Auge zu fassen. Wir wollen dieselben durch Gegenüberstellung veranschaulichen.

Ständisches Princip.

1. Ging von der Besonderheit der Stände aus. (Es wurden daher im Mittelalter nur die mächtigeren Stände und anfänglich bald diese bald jene allein zugezogen, die übri- gen nicht berücksichtigt.)

2. Sogar Individuen, wie mäch- tige Familienhäupter oder "Würde- träger (Fürsten und Herrn) konnten für sich Stände sein, ebenso Ge- nossenschaften und Einungen (universitates).

3. Die Abgeordneten der Städte und Corporationen bekamen von ihren Wählern Instructionen und Aufträge mit auf den Weg, durch welche sie angewiesen waren, in bestimmter Richtung zu stimmen und zu handeln. (Als die Deputa- ten zur französischen Nationalver- sammlung die widerspruchsvollen Hefte (cahiers) ihrer Instructionen wegwarfen, war der Bruch mit dem ständischen System vollzogen.)

4. Jeder Stand stimmte indi- viduell und konnte seine Stimme auch wohl einem persönlichen Stellvertreter übertragen. (Das „liberum veto," das im XVII. Jahr- hundert den einzelnen Mitgliedern des Polnischen Reichstages zugestan-

Repräs entatives Princip.

1. Geht von der Einheit des ganzen Volkes aus. (Das Streben der Zeit geht daher dahin, alle Volks- classen in Einer Gesammtvertretung zusammen zu fassen.)

2. Auch wer als Familienhaupt oder Würdeträger persönlich zur Repräsentation berufen ist, hat doch dieses Recht nicht für sich, sondern nur als ein Glied des Gesammtkörpers.

3. Die Berathung und Abstimmung in dem repräsentativen Körper darf nicht durch Vorschriften der Wähler beschränkt werden. In diesem soll sich erst die Meinung und der Wille des Volks mit innerer Freiheit ausbilden; und sowohl die persönlich-freie Meinungsäuszer- ung der Abgeordneten als die Be- rechtigung und Pflicht jedes Ein- zelnen, sich durch die Berathung aufklären und bestimmen zu lassen, werden als Garantien betrachtet ei- ner wahrhaften Abstimmung.

4. Die Abstimmung in den Kam- mern wird durch die Mehrheit der Ve rs ammlung vollzogen, und eine Stellvertretung ist nur in- sofern zuläszig, als sie vom Ganzen aus angeordnet ist.

486 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Ständisches Princip. den wurde, ist die äuszerste Conse- quenz dieser Richtung.)

5. Die Abgeordneten der Stände waren ihren Auftraggebern ver- antwortlich und wurden auch von ihnen mit Diäten bezahlt.

6. Die Stände hatten in erster Linie ihre ständischen Sonderin- teressen, erst in zweiter die ge- meinsame Wohlfahrt vor Augen.

7. Die Stände bewilligten die neuen Steuern, deren Bedürf- nisz sie anerkannten, für sich» und nur einzelne Steuern; sie verbanden damit auch häufig Be- dingungen von politischem In- halt, z. B. dasz das Land weder verpfändet, noch ver&uszert, noch vertheilt, dasz ihre Zustimmung zu Kriegen und Friedens vertragen ein- geholt werde und dergleichen, be- zogen die Steuern oft selber von ihren Angehörigen und verwal- teten sogar zuweilen die aus den erhobenen Steuern gefüllte Landes- kasse selber.1

8. Die Stände hielten an dem Vertrags princip mit den Für- sten fest. Die Huldigung, welche sie den Landesherren leisteten, war

Repräsentatives Princip.

5. Die Abgeordneten des Volks sind nur dem State verantwort- lich und empfangen die erforder- lichen Diäten aus der S t a t s - kasse.

6. Die repräsentativen Kammern sind verpflichtet, voraus die Volks- und S t a t s w o h 1 f a h r t zu bedenken, und dürfen erst unter der Voraus- setzung dieser die besondere Wohl- fahrt einzelner Klassen beachten.

7. Die modernen Kammern be- trachten den Einen Stats haus- hält in seinem Zusammenhang in sämmtlichen Einnahmen und Aus- gaben, helfen den Voranschlag feststellen, und nehmen Theil an der Steuergesetzgebung, über dürfen ihre Bewilligung nicht ein- seitig an Bedingungen knüpfen, noch

; besorgen sie den Bezug und die Verwendung der Steuern selber.

8. Im neuern State herrseht das Princip der einheitlichen Ge- setzgebung, au welcher die Kam- mern einen Antheil haben, und die

1 Auf dem Rittertage zu Bohnaitpaoh im Jahre 1302 erklären die Herzoge von Oberbayern dem Adel und der Ritterschaft, das« wenn sie wider den Willen eine gemeine Steuer fordern sollen, sie wider ihre Treue an demselben handeln, und die Stande berechtigt seien, die Steuer zu weigern. Im Jahre 1363 versprach der Herzog, ,das Land Oberbayern sollte ungetheilt und unzerbrochen beisammen bleiben. Im Jahr 1393 versprachen die Herzoge von Niederbayern, keinen Krieg ohne Rath der Stände anzufangen.

Fünftes Capitel. Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 437

Ständisches Princip. eine bedingte.2 Ihre besondern Rechte und Freiheiten3 lieszen sie sich vertragsmäszigzu sichern und erneuern.

9. Wie unabhängige Mächte ver- handelten und stritten die Stän- de mit den Fürsten, und es kam zu- weilen zu Kriegen4 unter ihnen, wie zwischen selbständigen Staten. Jeder Thcil warb, besoldete und verfügte selbständig über seine Truppen.

10. Die mittelalterlichen Stünde beschäftigten sich nur in unterge- ordneter Weise mit der Gesetzge- bung, erweiterten aber ihren Ein- flusz zuweilen zur Mitregierung des States, indem sie dem Fürsten Rätlie5 beiordneten, an deren Zu- stimmung er gebunden war und in

Repräsentatives Princip. allgemeine öffentliche Frei- heit, wie die besondern Eechte ein- zelner Classen werden nur durch das gemeinsame Statsgesetz ge- währleistet.

9. Der moderne Stat läszt eine solche Zweiung und Spaltung des Organismus nicht zu, sondern be- währt die Einheit des States und der Statsregierung unter allen Um- ständen, und will nun Ein Kriegs- haupt und Ein Heer.

10. Der moderne Stat verlegt die ganze Regierungsthätigkeit

| auszer die Kammern und ge- j stattet diesen wohl eine controlirende 1 Meinungsäuszerung, aber nicht Mit- | regierung. Dagegen weist er dem repräsentativen Körper die G e setz- ig ebung als seine wichtigste Thä-

2 Die Markgrafen von Brandenburg sicherten ihren Ständen 1282 zu, dasz wenn sie, die Fürsten, ihre Versprechen nicht erfüllen sollten, die Vasallen sich von ihnen abwenden dürfen, bis jene erfüllt seien. Und die pommerschen Herzoge gestatteten unter einer ähnlichen Voraus- setzung ihren Ständen 1348, einen andern Fürsten zu wählen, „welcher sie in ihren Rechten und Freiheiten regieren wolle." Unger II, S. 254 ff. In dem Herzogthum Braunsch weig-Lünebu rg wurde im Jahr 1392 ein Gericht, die „Säte," aus 8 Rittern und 8 Rathmännern geordnet, an welches Beschwerden der Stände gegen die Fürsten gebracht werden konnten, und welches befugt war, die landesherrlichen Einkünfte so lange einzuziehen, bis gegründeten Beschwerden abgeholfen ward. Unger II, S. 264.

3 Zahlreiche Beispiele siehe in den altbayerischen landständischen Freiheitsbriefen, herausgegeben von Gustav Freiherr von Lerche nfeld München 1853. Vorausgeschickt ist eine aus Urkunden geschöpfte wissen- schaftliche Einleitung von Dr. Rockinge r.

4 In Oesterreich, Bayern, Brandenburg, Württemberg, überall kamen solche vor, bis der ewige Landfrieden von 1495 und die veränderte Lehre der römischen Rechtsgelehrten diese Fehden hemmten. Vgl. Rudhart Gesch. der Landstände in Bayern I, S. 62, 82 etc.

5 Dahin gehören der Rath der XII. und der der XXV., welche den niederbayerischen Herzogen 1324 und 1341 beigegeben wurden,

488 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Ständisches Princip.

wichtigen Fällen sich selber Mitentscheid vorbehielten.

den

11. Aus den Ständen gingen oft bleibende Ausschüsse hervor, anfänglich zur Controle6 der Regie- rung; sie wurden aber nicht selten von den fürstlichen Käthen benutzt, um die unbequeme Versammlung der Stände selbst entbehrlich zu machen und den Untergang des In- stitutes herbeizuführen.

12. Die Rechte und Pflichten der mittelalterlichen Stände waren halb privatrechtlich halb st a ts- recht 1 i c h.

Repräsentatives Princip.

tigkeit zu. (Die englische Par- lamentsregierung, obwohl erst in späterer Zeit ausgebildet, hat in dieser Hinsicht doch einen mittel- alterlichen Zug.)

11. Der moderne Stat weisz in der Regel nur von der Versamm- lung d e s r e p r ä s e n t a t i v e n K ö r- pers selbst und will die Regie- rung durch Ausschüsse desselben weder hemmen noch bedienen lassen.

12. Die Rechte und Pflichten des

repräsentativen Körpers und seiner \ Mitglieder sind rein statsrecht- lich.

Die stats rechtliche Repräsentation ist von der pri- vatrechtlichen Stellvertretung völlig verschieden. Daher dürfen die Grundsätze, die von dieser gelten, nicht auf jene angewendet werden.

Die privatrechtliche Stellvertretung setzt entweder die Handlungsunfähigkeit des Vertretenen (z. B. Kinder, Wahn- sinnige) oder doch das Bedürfnisz desselben voraus, sich durch ein anderes handlungsfähiges Individuum vertreten zu lassen (z. B. Abwesenheit, Handelsinteressen). Der privatrechtliche Vertreter ist entweder durch die Rechtsnothwendigkeit be- zeichnet und ermächtigt, wie insbesondere der geborene oder gesetzte Vormund, oder er hat dazu den besonderen Auftrag des Vertretenen erhalten (Mandat). Als Hauptperson gilt immer

dieXIIRäthe, welche 1355 dem Herzog Ludwig von Br auns ch weig zur Seite traten, die Räthe von Tyrol im Jahr 1363, die württembergi- schen Räthe von 1419, 1457, 1498 u. s. f. Im Jahre 1535 übernahmen die Stände von Braun sc hweig-Lüneburg sogar die Regierung selbst. Unger II, S. 280 ff.

6 So die ober bayerischen Ausschüsse der Ritterschaft und der Städte im Jahre 1430.

Fünftes Capitel, Unterschied der stand, und repräsent. Verfassung. 489

der Vertretene, nur seine Stelle vertritt und statt seiner, für ihn handelt der Vertreter. Der Mandatar ist daher abhängig von dem Mandanten, gebunden an dessen Vollmacht und Instruc- tion, ihm zur Rechenschaft verpflichtet. So weit die Vollmacht reicht, wird nicht der Vertreter, sondern der Vertretene durch die Handlungen jenes verbunden.

In allen diesen Hauptbeziehungen hat die statsrechtliche Repräsentation einen ganz andern Charakter. Hier wird keine Handlungsunfähigkeit der Wähler vorausgesetzt und die Re- präsentation beruht weder auf dem persönlichen Bedürfnisz noch auf der Willkür der Vertretenen, sondern ist von Stats wegen angeordnet. Die Repräsentirten sind nicht die Haupt- personen und der Repräsentant nicht ihr persönlicher Stellver- treter, nicht ihr Beauftragter, sondern er verwaltet ein Volks- amt und übt eine Statsp flicht aus. Seine Vertretung ist Landes- und Volksvertretung nicht individuelle Ver- tretung. Es besteht zwischen ihm und den Wählern wohl ein Vertrauens- aber keineswegs das Rechtsverhältnisz des Mandats. Die Wahl ist nur ein Mittel, um die richtige Volksvertretung zu erzielen. Wahl ist nicht Vollmacht und nicht Auftrag. Der Gewählte ist daher nicht an die Instruction der Wähler gebunden und denselben nicht zur Rechenschaft verpflichtet. Er kann nicht beliebig von denselben abberufen, ihm nicht willkürlich der Auftrag gekündigt werden. Seine Abstimmungen binden weder ihn selber persönlich, noch seine Wähler. Sie wirken verbindlich nur, in wiefern das Gesetz durch dieselbe zu Stande kommt; und dieses verpflichtet Alle ganz gleich- mäszig, die welche dafür, und die welche dagegen gestimmt haben, die Repräsentanten, ihre Wähler und alle übrigen Statsgenossen.

490 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Sechstes Capitel.

Die Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers.

Das Princip der modernen Statsordnung ist: Der ge- setzgebende Körper stellt das ganze geordnete Volk dar. Er ist der verhältniszmäszige Auszug des gesammten Volksorganismus. Von diesem Princip aus lassen sich eine Reihe wichtiger Fragen leicht beantworten.

1. Die Frage, ob dem Regenten ein Antheil an der ge- setzgebenden Gewalt zukomme, welche erst in der neuesten Zeit ein practisches Interesse gewonnen hat im Alterthum und im Mittelalter verstand sich die Bejahung von selbst erscheint von dem Standpunkte des organischen States aus kaum möglich. Die Zweifel sind erst entstanden, seitdem man angefangen hat, ohne Rücksicht auf den inneren, lebendigen Zusammenhang des Statskörpers die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt als zwei gleiche und getrennte Gewalten einander gegenüber zu stellen, und jene von unten herauf, diese von oben herab zu construiren.

Soll der gesetzgebende Körper das ganze geordnete Volk darstellen, so musz in ihm das Oberhaupt des States, der Regent, die nämliche Stellung haben, welche dem Haupte in dem Körper, dem Regenten in dem Volk gebührt, d.h. die oberste und entscheidende. Das englische Stats- recht ist sich dieses Satzes wohl bewuszt. Schon der alte Modus tenendi parliamentum enthält das alte Rechtssprichwort: ,,Rex est caput, principium et finis parliamenti." l Auch die meisten neueren Verfassungen, welche auf dem System der constitutio- nellen Monarchie beruhen, schreiben die gesetzgebende Gewalt dem Könige und den Kammern zu.2

1 Mod. ten. pari. cap. 12. Blackstone I, 2, 2.

2 So die französische von 1814, §. 15, und 1830, §. 13: „Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich von dem Könige, der Kammer

Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 491

In den neuern republikanischen Staten dagegen ist die gesetzgebende Gewalt gewöhnlich ausschlieszlich den groszen repräsentativen Versammlungen zugewiesen, und ist der Re- gierung wenigstens der Form nach kein Antheil daran einge- räumt. Auszer jener falschen Vorstellung von der Theilung der Gewalten hat auf diese Eigenthümlichkeit wohl theils die demokratische Vorliebe für grosze Versammlungen, theils die Besorgnisz, dasz die Macht der Regierung zu grosz werden möchte, eingewirkt. Factisch aber ist den Regierungen doch auch hier oft ein bedeutender Einflusz auf die Gesetzgebung erhalten worden, in der Schweiz mehr in der Form der Initia- tive, in Nordamerika mehr in der des Veto.3

2. Die Vertretung des Volks soll eine vollständige sein, und alle Bestandteile der Nation, auch die untern Schichten der Bevölkerung umfassen. Auch in ihnen wird das

der Pairs und der Kammer der Deputirten ausgeübt." V. 1852 §. 11. Die niederländische von 1815, §. 105; die bayerische von 1818, §. 1; die portugiesische von 1826, §§. 13, 58, 74; die belgische von 1831, §. 26; die spanische von 1837, §§. 12 und 46; die nea- politanische von 1848, §. 4 ; die sardinische von 1848; die preuszi- sche von 1850, §. 62; die norddeutsche Bundesvers. v. 1867, §. 5. 3 Bundesverfassung für Nordamerika von 1787, Art. I, 1: „Die gesammte gesetzgebende Gewalt soll einem Congresz der Vereinigten Staten anvertraut sein, der aus einem Senate und aus einem Haus der Repräsentanten bestehen soll." Art. I, 7: „Jede Bill soll dem Präsiden- ten der Yereinigten Staten vorgelegt werden, ehe sie Gesetzeskraft er- langt." Ebenso in den Verfassungen der Einzelstaten Nordamerika' s. In der Schweiz (z. B. Verfassung von Zürich, §§. 38 und 57) üben die Groszen Räthe gewöhnlich die gesetzgebende Gewalt ausschlieszlich aus, aber die Regierungen entwerfen und begutachten in der Regel die Ge- setze. Schweizerische Bundesverfassung von 1848, §§. 74 und 90. Französische Verfassung von 1848, §§. 20 und 58. In dem König- reiche Norwegen ist die demokratische Ansicht in die Verfassung auf- genommen, §. 49 , aber der Regierung doch die Initiative und das Veto zugestanden, §. 76. Die deutsche Reichsverfassung von 1849 (§• 101) hatte dem „Kaiser" nur ein beschränktes Zustimmungsrecht eingeräumt? und war dadurch allerdings in "Widerspruch gekommen mit dem Princip der Monarchie.

492 Fünftes Buch, Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Statsbürgerthum geehrt. Das ist der Wahrheitskern, welcher dem modernen Verlangen des allgemeinen Stimm- rechts zu Grunde liegt.4 Das allgemeine Stimmrecht selbst aber kann höchstens eine arithmetische Vollständigkeit, nicht eine organische, zu Stande bringen, und selbst die Voll- ständigkeit der Zahl ist unsicher und täuschend. Die Min- derheiten werden durch dasselbe oft gar nicht, oft nicht in richtigem Verhältnisse berücksichtigt. In Zeiten der Partei- kämpfe, in welchen es mehr auf die Stimmung als auf die Interessen der Wähler ankommt, kann die schwächere Partei vielleicht einen Drittheil des gesammten Volkes be- tragen, und in dem repräsentativen, von lauter Majoritäten der Wahlkreise erwählten Körper fast gar nicht oder doch nur zu einem Zehntheil vertreten sein.

Ueberdem nimmt diese Wahlform keine Bücksicht auf die or ganis chen Verhältnisse des Volks. Sie gewährt keinerlei Bürgschaft, dasz die verschiedenen Bestandteile und Interessen eine ihrer Bedeutung für die National Wohlfahrt gemäsze Ver- tretung erlangen; denn weder jene noch diese werden durch die blosze, alle Bürger gleich rechnende Zahl der Wähler be- stimmt. Weder die politische Einsicht noch die Tüchtigkeit der Gesinnung werden durch dieselbe hinreichend beachtet. Vielmehr gibt das allgemeine Stimmrecht, wenn es zugleich als ein gleiches Stimmrecht Aller verstanden wird, und schrankenlos waltet, der rohen und unerfahrenen, aber zahl- reicheren Menge die Macht über die gebildeten Classen der

4 Lamartine sagt von den Franzosen, sie haben im Jahr 1848 das allgemeine Stimmrecht „wie einen unter den Trümmern des Throns ge- fundenen Adelsbrief des Volks" mit Liebe und Stolz ergriffen. Diesz Gefühl ist begreiflich ,' wenn man der vorangegangenen plutokratischen Ausschlieszung gedenkt. Sie haben aber in dem Siegesrausche die na- türlichen Unterschiede unter den Einwohnern und Bürgern übersehen, und das allgemeine Stimmrecht als ein gleiches verstanden. 'Socialisten und Communisten haben darauf die ausschweifenden Ansprüche „der rothen Republik," aber auch Louis Napoleon auf das allgemeine Stimm- recht der ordnungsbedürftigen Massen das moderne Kaiserthum gegründet.

Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 493

Gesellschaft, und bedroht so durch seine Quantität die bessere Qualität. Die blosze Zahl setzt die Söhne über den Vater, die Gesellen über den Meister, die Diener über den Herrn, die Jungen über die Alten, die Vermögenslosen über die Wohl- habenden, die Unwissenden über die Weisen, und indem sie den Massen schmeichelt, betrügt sie dieselben zugleich.5 Es ist das Princip der absoluten Demokratie, die „ungerechte Ver- tretung der Mehrheit allein, statt der gerechten Vertretung Aller.'1 6

Trotz alledem hat das allgemeine und gleiche Stimmrecht in dem gegenwärtigen Zeitalter die gröszten Fortschritte ge- macht. Es ist in Frankreich, der Schweiz, in Italien, im nord- deutschen Bunde, allmählich auch in den Vereinigten Staten von Nordamerika eingeführt worden. Das englische Wahlsystem nähert sich demselben mehr und mehr an. Offenbar entspricht es den demokratischen Neigungen des Zeitgeistes, dem Princip der Rechts gleichheit und der möglichst allgemeinen Betheiligung aller Männer an dem öffentlichen Leben. Es wirkt erhebend auf die groszen Volksclassen, erfüllt sie mit politischem Selbstgefühl und bringt sie dem State näher. Offenbar geht es parallel mit der allgemeinen Volksbildung und der allgemeinen Wehrpflicht.

5 Gute Bemerkungen über das allgemeine Stimmrecht bei Sismondi, Etudes sur les constitutions des peuples libres I, S. 48 ff. und S. 141: „In dem heutzutage beliebten System überläszt man dem Zufall die Ver- teidigung aller dieser Interessen (der Religion, der Wissenschaft, des Ackerbaues, des Handels, der Fabrikation, des Handwerks) ; man nimmt an, es werde sich unter den Abgeordneten der Provinzen etwa einer finden, welcher die Vertretung je eines dieser nicht berücksichtigten In- teressen übernehme. Aber diese Annahme ist vorerst unbegründet, und mehrere Interessen werden nie vertreten sein. Und selbst wenn sie es sind, so geschieht das häufig durch Männer, die nicht im Hinblick auf ihre Einsicht in solche Fragen gewählt wurden, die keine gründliche Kennt- nisz davon haben, die nicht von den Interessen ihrer Berufsclassen durchdrungen, die nicht geübt sind, dieselben zu% vertheidigen."

6 Ausdruck von J. St. Mill, Betrachtungen über die Repräsentativ- verfassung (übersetzt von Wille) S. 85.

494 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

3. Die Vertretung soll in richtigen Proportionen be- stellt sein. Mirabeau bat dieses Prineip noch am 30. Januar 1789 sehr scharf ausgesprochen, ungeachtet die französische Nationalversammlung mit dem Beispiel der völligen Miszacht- ung derselben vorangegangen ist: „Die Stände sind für die Nation, was eine Karte für die äuszere Erscheinung des Landes. In ihren Theilen und im Ganzen soll das Bild jederzeit die nämlichen Verhältnisse zeigen wie das Original.1' In der That, wie die Karte Berge und Thäler, Seen und Flüsse, Wälder und Fluren, Städte und Dörfer darstellt, so soll auch der ge- setzgebende Körper alle Bestandteile des Volks und diese als Ganzes gleichsam im Auszuge, und je nach den wirklichen Verhältnissen wieder bilden. Die edleren Theile dürfen nicht von den massenhafteren erdrückt, aber auch diese nicht ausgeschlossen werden. Der Werth eines jeden Bestandtheils wird bestimmt durch seine Bedeutung in dem Ganzen und für das Ganze. Die Verhältnisse sind organische, der Maszstab ist ein nationaler.

4. Von jenem Grundprincip aus ist auch die Frage, ob eine oder zwei Kammern? zu lösen. Mehrere Kammern, wie bis vor kurzem in Schweden, wie früher auch in Frankreich und auf dem deutschen Reichstage, spalten den Körper der Repräsentation zu sehr, und machen seine Bewegung schwer- fällig. In neuerer Zeit kommt daher gewöhnlich nur in Frage: eine oder zwei Kammern?

Die meisten romanischen und germanischen Staten, und fast alle, welche dem System der constitutionellen Monarchie huldigen, haben sich für das Zweikammersystem als die Regel entschieden. Nur ausnahmsweise, in Zeiten der revo- lutionären Entzündung, als es galt, die ganze Gewalt der Re- volution in Einem Centrum zu sammeln, und von da aus mit ungestümer Energie zu ergieszen, haben die demokratisch er- regten Völker die Vereinigung der Gesammtrepräsentation in Einem Hause vorgezogen ; so in England selbst, nach der Hin-

Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 495

richtung des Königs Karl I., 1649, in Frankreich von 1789 bis 1795 und wieder 1848, in Spanien 1810, in Deutschland 1848. Das System einer einzigen repräsentativen Kammer hat fast nur in den schweizerischen Cantonen und in einer Anzahl kleiner deutschen Staten, unter kleinen Völkerschaften, in denen die socialen Gegensätze nicht massenhaft erscheinen,7 Aner- kennung gefunden.

Eine Kammer scheint einfacher und der Einheit des Volkes entsprechender. Zwar stellt auch sie für sich allein nicht das ganze Volk dar, denn zu diesem gehört nothwendig auch das Haupt, der Regent. Aber sie stellt doch das übrige Volk auszer dem Haupte, gleichsam den Leib des Körpers dar, und auch der erscheint als Einheit.

Jene grosze historische Erfahrung gebietet indessen Vor- sicht, zumal wenn man erwägt, dasz schon in den Zeiten der ursprünglichen naturwüchsigen Gestaltung des germanischen Stateniebens die Theilung der Volksgemeinde in die Fürsten und das übrige Volk nicht minder sichtbar wird, als später in den Zeiten der principiel bewuszten Statsordnung, vorerst der Engländer, dann der Nordamerikaner, das Zweikammersystem entschieden herrschend geworden ist.

Die Vorzüge des letzteren sind einleuchtend:

a) Es ist klar, dasz vier Augen mehr und besser sehen als zwei, besonders wenn sie den nämlichen Gegenstand von einem verschiedenen Standpunkte aus betrachten. Eine wieder- holte Berathung und Prüfung der Gesetzesentwürfe durch zwei Kammern, die auf verschiedenen Boden stehen, kann demnach nur wohlthätig wirken.

b) Da der gesetzgebende Körper die dauerhaften Verhält- nisse der Nation zu ordnen, nicht momentane Bedürfnisse zu

7 Man hat berechnet, dasz das System der zwei Kammern in Europa eine Bevölkerung von ungefähr 173 Millionen, das Einer Kammer nur eine solche von nahezu 9 Millionen umfaszt. Dabei ist indessen die Schweiz als Gesammtstat in die erste Classe gerechnet.

496 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

besorgen hat letzteres ist die Aufgabe der Kegierung so sind für ihn rasche Entschlüsse weder nöthig noch wünsch- enswerth, und wieder bewahrt das Zweikammersystem vor Uebereilungen und Miszgriffen der einen Kammer, gewährt Schutz gegen die leidenschaftlichen Stimmungen, welche die- selbe leicht momentan erfüllen und fortreiszen, und hemmt die in groszen Versammlungen so gefährliche Neigung, ihre Macht ungebührlich auszudehnen und despotisch zu gebrauchen. 8

c) Insbesondere ist die Existenz eines Senates oder einer Pairskammer neben der eigentlichen Volkskammer eine wich- tige Schranke gegen die demokratische Beweglichkeit dieser, bewahrt dieselbe vor dem Miszbrauche ihrer Macht und vor Entartung, und ist eine starke Stütze der Freiheit und des Kechtes auch der Minderheit, wenn beide von der Mehrheit bedroht sind.

d) Für die constitutionelle Monarchie kommt überdem vorzüglich noch in Betracht, dasz der Monarch der Eiuen Volkskammer gegenüber leicht in den Kampf der Parteien und mit der Kammer verwickelt und zum Hammer oder zumAmbosz zu werden genöthigt wird, dagegen bei zwei Kammern dem unmittelbaren Parteikampfe entzogen und gleich der Zunge in der Wage zum Regulator zwischen beiden wird. Die Einheit des States, die Sicherheit und Würde der Monarchie, und die ruhige Haltung und Ordnung des gesetzgebenden Körpers sind dabei gleichmäszig interessirt.

8 Mit Recht haben amerikanische Politiker (vgl. Story1 s Comment on the constit. of the United States B. III, St. VIII, §. 82, bei Buszl, S. 222 ff.) darauf aufmerksam gemacht, dasz auch in der Demokratie gewöhnlich nur einzelne wenige Individuen die Versammlung leiten, und dasz diese nur zu geneigt seien, oft in ihrem individuellen Interesse oder nach ihrer Leidenschaft mit Hilfe der von ihnen abhängigen Mehrheit die Minderheit und ihre Gegner zu bedrücken, zu verfolgen, und bis zur Verzweiflung zu bedrängen. Auch dagegen schützt nurN ein mode- rirender und auf seine Selbständigkeit eifersüchtiger Senat oder Ober- haus. Eine vortreffliche Vertheidigung des Zweikammersystems findet sich bei E. Laboulaye, J&tats-Units. t. III. c. 12.

Sechstes Capitel. Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers. 497

Für den Statsmann sind diese Vorzüge entscheidend. Die Theorie verlangt noch eine tiefere principielle Begründung. In allen Völkern von höherer Art ist ein innerer Gegensatz zwischen dem Demos und der Aristokratie vorhanden, welcher mit dem Gegensatze der Quantität und Qualität in der Natur zusammenhängt. Im Mittelalter war das reprä- sentative Gewicht bei der Aristokratie, in der neuern Zeit ist es vornehmlich bei der sogenannten Volkskammer, welche zwar nicht die Menge selber, aber aus ihr hervorgegangen ist und auf ihr beruht. Wäre sie allein in der Repräsentation be- dacht, so wäre diese offenbar unvollständig. Es wären in ihr nur die Eigenschaften und Interessen der Massen, wenn auch in einem höhern Ausdruck, vertreten. Die ausgezeichnete Qua- lität dagegen , welche ihrer Natur nach nicht der Menge an- gehört, sondern jederzeit nur in einer Minderheit sich findet, die aber für die Gesundheit und Wohlfahrt des States und der Nation von gröszter Bedeutung ist, und eine naturgemäsze Er- gänzung und Schranke der Massen bildet, wäre nicht berück- sichtigt, und hätte keine ihrem wirklichen Verhältnisse zum Ganzen angemessene Vertretung. Diese kann sie genügend nur in einer besondern Kammer finden. Und nur so werden wirklich die groszen politisch wichtigen Seiten und Gruppen in dem Volksorganismus gehörig beachtet und anerkannt, wenn dem Haupte des States eine Repräsentation des Volks (als Demos), und der ausgezeichneten Minderheit (als Aristokratie) zur Seite treten, wenn die Volkskammer von dem dritten und vierten Stande, der Senat oder das Oberhaus von dem zweiten Stande besetzt werden.

5. In den meisten Verfassungen des Continents ist die englische Einrichtung, wornach jede der beiden Kammern nicht blos für sich berathet und abstimmt, sondern auch durch ihren Widerspruch die Beschlüsse je der andern Kammern unwirksam macht, nachgebildet worden. Die erste Be- stimmung sichert die Vielseitigkeit und Freiheit der Berath-

Bluntschli, allgemeines Statsreeht. I. 32

498 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

ung, aber die zweite gefährdet augenscheinlich die Handlungs- fähigkeit des Parlaments, und steht im Widerspruch mit der Einheit des States, der nicht durch das Widerstreben der Theile gelähmt werden darf.

In England wird der organische Fehler der Verfassung durch den politischen Geist des Parlaments verbessert. Es ist dort wohl formell möglich, aber thatsächlich unerhört, dasz der Zwiespalt der beiden Häuser auf die Dauer nöthige Re- formen verhindere. Das Oberhaus setzt wohl gelegentlich einen Aufschub und einzelne Modifikationen gegenüber dem Unter- hause durch, aber es hütet sich wohl, den wiederholten und von der Nation gebilligten Anforderungen des Unterhauses ein beharrliches Veto entgegen zu setzen. In vielen Staten des Continents aber ist der politische Gegensatz der ersten und der zweiten Kammer viel schroffer und hartnäckiger, und da kann aus dem Mangel der Verfassung, welche kein Mittel kennt, um die unerläszliche Einheit in dem Statskörper her- zustellen, für das Statsleben die gröszte Gefahr entspringen. Die beiden Kammern, deren eine vorwärts und die andere rück- wärts strebt, gleichen dann eher zwei Pferden an Einem Wagen, deren eines vorn und das andere hinten angespannt ist, als einem organischen Körper.

Das aber widerspricht geradezu dem Wesen des modernen Stats, der auf die Einheit und Entschluszfähigkeit des Stats- willens den gröszten Werth legt und keine Zerreiszung des Ganzen in die Theile verstattet.

Nur sehr wenige Verfassungen ermäszigen und vermeiden diesen Fehler, indem sie dafür sorgen, dasz eine Einigung unter den beiden Kammern schlieszlich hergestellt werde.9

9 Verf. des Königreichs Sachsen v. 1831, §.131: „Können sich beide Kammern in Folge der ersten Berathung über den betreffenden Gegen- stand nicht vereinigen, so haben sie eine gemeinsame Deputation zu ernennen, welche unter den beiden Vorstünden der Kammern über die Vereinigung der getheilten Meinungen zu berathschlagen hat." §. 92: „Bleiben auch dann noch die Curiatstimmen beider Kammern getheilt,

Siebentes Capitel. Ton der Bildung der Volkskammer. 499

Siebentes Capitel.

Yon der Bildung der Volkskammer.

Die Volkskammer soll aus dem allgemeinen Volke her- vorgehen und dessen Meinung und Interessen vertreten. Dem Princip der Kepräsentation gemäsz ist sie ein mit Bücksicht auf Tauglichkeit und Fähigkeit ihrer Mitglieder gemachter Auszug und erhöhter Ausdruck des Volkes als Demos. Sie ist gewissermaszen die statliche Qualität der volksinäszi- gen Quantität. Es ist daher naturgemäsz, dasz sie aus der gesammten Menge der Statsbürger in der Eegel durch Wahl1 bezeichnet wird. In gewissem Sinne ist sie eine An- wendung des politischen Princips der repräsentativen De- mokratie, und in neuerer Zeit hat sie auch mehr und mehr in den meisten Staten diesen Charakter angenommen.2

so ist zu der Verwerfung des Gesetzesvorschlags erforderlich, dasz in einer der beiden Kammern wenigstens zwei Drittheile der Anwesenden für die Verwerfung gestimmt haben." Schweizer. Bundesverf. §. 80: „Jeder Rath verhandelt abgesondert. Bei Wahlen, bei Ausübung des Begnadi- gungsrechtes und für Entscheidung von Competenzstreitigkeiten vereinigen sich jedoch beide Räthe unter der Leitung des Präsidenten des National- rathes zu einer gemeinschaftlichen Verhandlung, so dasz die absolute Mehrheit der stimmenden Mitglieder beider Räthe entscheidet."

1 Allerdings ist die Wahl kein absolutes Erfordernisz. Edm. Burke 1792: „Wo zwischen denen, in deren Namen gehandelt wird, und denen, welche in derselben Namen handeln, eine Gemeinschaft der Interessen, eine Verwandtschaft der Ansichten und Wünsche stattfindet, daist wirk- liche, obgleich nicht förmliche Stellvertretung. In manchen Fällen ist diese wirkliche Stellvertretung besser als die förmliche, in welcher die Vertreter von denen, an deren Statt zu handeln haben, erwählt sind. Das Volk kann sich in seiner Wahl täuschen, selten täuscht die Gemeinschaft der Gesinnungen und der Interessen. Allein jene wirkliche Stellvertretung hat keine lange noch sichere Dauer, wo sie nicht, wenig- stens zum Theil, auf die förmliche gestützt ist."

2 Vgl. oben Bach IV, Cap. 10. S. 326 ff. Edm. Burke spricht sich „über die Ursachen der gegenwärtigen Unzufriedenheit" in einer Stelle, von der Brougham gesagt hat, sie sollte mit feurigen Buch- staben in das Portal des Hauses der Gemeinen eingegraben werden, so

32*

500 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Gewöhnlich werden die stimmberechtigten Statsbürger in eine Anzahl von Wahlkreisen vertheilt, ohne Kücksicht auf ihre besonderen Eigenschaften, und jedem Wahlkreise nach der Kopfzahl seiner Glieder oder der Bevölkerung, die er uni- schlieszt, eine Anzahl Eepräsentanten zugetheilt. Die Mehr- heit wählt, und die Minderheit wird dann nicht weiter be- rücksichtigt.

Diese Einrichtung empfiehlt sich meistens durch die All- gemeinverständlichkeit einfacher arithmetischer Verhältnisse

aus: „Ein volksmäsziger Ursprung kann nicht die charakteristische Aus- zeichnung einer volksmäszigen Repräsentation sein. Diese Eigenschaft kommt gleichmäszig allen Gliedern des Statskörpers zu und in allen Formen. Sie alle -ind bevollmächtigt für das Volk; denn keine Macht ist lediglich zu Gunsten ihres Inhabers gegeben, und obwohl die Obrig- keit sicherlich eine Institution von göttlicher Autorität ist, so sind doch die Formen und die Personen, welche sie verwalten, alle ursprünglich aus dem Volke hervorgegangen. Die Tugend, der Geist, das Wesen des Hauses der Gemeinen besteht darin, dasz es das ausdrucksvolle Bild des Nationalgefühls ist. E3 wurde nicht eingerichtet, um eine Aufsicht zu «ein über das Volk. Es wurde bezeichnet als eine Aufsicht für das Volk. Andere Einrichtungen sind entstanden zu dem Zwecke, die Aus- schweifungen des Volkes zu hemmen. Das Haus der Gemeinen, wie es niemals bestimmt war, um den Frieden und die äuszere Ordnung auf- recht zu halten, ist für diesen Dienst völlig ungeeignet, da es keine stärkere "Waffe hat als seinen Stab, und keine bessern Officiere als seine unbewaffneten Pedelle, welcher es aus eigener Machtvollkommenheit be- fehlen kann. Ein wachsames und eifersüchtiges Auge über die vollzie- hende und die richterliche Beamtung, eine ängstliche Sorge für das öffent- liche Geld, ein offener Sinn, der an Gefälligkeit gränzt, für öffentliche Beschwerden, das scheinen die wahren Eigenschaften eines Hauses der Gemeinen zu sein. Aber ein Haus der Gemeinen , welches Beifalls- adressen erlässt, und ein Volk, das Bittschriften macht; ein Haus der Gemeinen, welches voll Vertrauen ist, wenn die Nation in Verzweiflung gestürzt ist; in der vollkommensten Harmonie mit den Ministern, welche das Volk mit äuszerstem Abscheu betrachtet; welches in allen Streitig- keiten zwischen Volk und Regierung zum voraus gegen das Volk ein- genommen ist, welches dessen Unordnungen bestraft, aber sich wei- gert, die Anreizungen zu denselben zu untersuchen, das ist ein unnatür- licher und monströser Zustand der Dinge in unserer Verfassung. Eine solche Versammlung mag ein groszer, weiser, ehrfurchtwürdiger Senat sein, aber sie ist in keiner Weise ein volksmäsziges Haus der Gemeinen.44

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 501

und durch die demokratische Betonung der Gleichheit Aller. Vor einer organischen Erkenntnisz des States erscheint sie als roh und ungenügend. Weder die Vollständigkeit noch die Wahrheit der Volksrepräsentation finden in ihr ausreichende Garantien. Es ist nur zufällig, wenn die verschiedenartigen Interessen des Handels, der Fabrication, der Handwerke, der Landwirtschaft, wenn ferner die Interessen der Bildung und Wissenschaft, wenn die Kenntnisz des Rechts hinreichende Vertretung erhalten; die Wahlart selber weisz von alle dem nichts. Sie hat wenig Gewähr in sich, dasz wirklich die tugend- haftesten und einsichtsvollsten Männer gewählt werden. Nur allzu oft waren und sind diese Wahlen ein Spiel der Parteien und ihrer Leidenschaften. Anstatt einer Vertretung der Volks- interessen gingen und gehen aus ihnen zuweilen Versamm- lungen hervor, in welchen die politischen Leidenschaften und Vorurtheile vornehmlich repräsentirt sind, und die wirklichen und dauernden Interessen des Volks den wechselnden Stimm- ungen der Parteien unbedenklich hingeopfert werden.

Der sehr beachtenswerte Reformvorschlag des Engländers T h o m a s H ar e , ;* die gesammte Bürgerschaft als Einen Wahl- kreis zu behandeln und die Wahlen lediglich von einer be- stimmten Anzahl Stimmen abhängig zu machen, die sich auf Eine Person vereinigen, würde manche Uebelstände der gegen- wärtigen Einrichtung beseitigen und sowohl den Minderheiten als den verschiedenen Interessen Gelegenheit verschaffen, sich repräsentiren zu lassen. Aber derselbe ist noch nirgends ver- wirklicht und gehört gegenwärtig noch der Politik, nicht dem Statsrecht an.

Eine Repräsentation nach Classen, welche unter sich eine Gemeinschaft der Anschauung und der Interessen haben,

3 On the Election of Repres. 1859. Vgl. Mill, Repräsent. Regierung und Bluntschli Artikel Wahlrecht im Deutschen Statswörterbuch.

502 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

ist wiederholt versucht worden.4 Sie hat mancherlei Vorzüge vor der Wahl der gemischten Menge. Es ist auch ein Irr- thum, dasz eine derartige Classenver tretung dem mittel- alterlichen ständischen System, nicht dem modernen Reprä- sentativsystem angehöre. Sie entspricht vielmehr der Grund- idee der Volksrepräsentation , welche ein wahres Bild des Volkes sein soll , durchaus , und ist erst deren wirkliche Er- füllung. Damit das ganze sichtbar werde, müssen die Theile in ihm, freilich nicht als für sich bestehende kleinere Ganze, sondern als Theile vorhanden sein. Damit die Landkarte gut sei, müssen in ihr nicht blosz Zahlen und gerade Linien, son- dern die Berge, Thäler und Seen, Städte und Dörfer im Lande sichtbar werden. Besteht das Volk aus Ständen und Classen, so musz auch das Bild des Volkes diese Bestandteile wieder zeigen. Aber im Ganzen verhält sich unsere Zeit doch noch gegen eine solche p]inrichtung misztrauisch, theils weil sie noch

4 Sismoiidi, Etadeal, S. HO, sag! übe* die Verfassung der Republik Florenz im Jahr L266: »Die Republik vertheilte die ganze Bevölker- ung in L2 Corporationen, die „Künste" (les arts i genannt und unter- schied wieder zwischen höheren und niederen Künsten, den erstcren einige Vorzugsrechte vor den letztern einräumend, aber allen abwech- selnd verstattend ein Mitglied für die oberste Magistratur zu ernennen. Jede dieser Corporationen hatte ihr Versammlungshaus, wo sie ilire Vorsteher und Repräsentanten erwählte: jede war berufen, sich selber zu -tudiren, ihre Interessen kennen zu lernen und dieselben ihrem Prior einem der sechs Mitglieder der obersten Behörde zu empfehlen, welche wie in einem Ruthenbünde] die Einsicht aller zusammenfaszte. Jede hatte eine militärische Organisation, ein Banner und das Bewusztein, dasz sie der Unterdrückung Widerstand leisten könnte. So lieszen die Gelehrsamkeit, die Bildung, das behagliche Capital, der Handel, wie die mühevollen Handwerke ihre Stimmen, jedes besonders vernehmen; alle Interessen waren berathen und der Entscheid hing mehr von der Weis- heit als von der Zahl ab. Jeder Florentiner, auch der arme und un- wissende fühlte, dasz er etwas galt in seiner Vaterstadt und hatte Theil an den politischen Rechten und an der Souveränetät als ein Olicd seiner Innung, und doch war die Souveränetät nicht an die Mehrheit über- lassen, welche in all unsern Staten nothwendig arm, unwissend und zu gesundem politischem Urtheil unfähig ist. u

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 503

nicht klar geworden ist über die Art der Class eneintheilung und besorgt, die mittelalterlichen Stände möchten unter dem neuen Namen wieder restaurirt werden, theils weil sie für die Einheit des Volksbewusztseins und für die wahre Rechtsgleich- heit Schaden fürchtet.

Besser als blosze mathematisch bestimmte Wahlkreise sind immerhin solche, die sich an organische Theile des Landes, insbesondere an die Gemeinden anschlieszen. In ihnen wird doch eine gewisse Uebereinstimmung der Lebensart und Gleich- artigkeit der Interessen offenbar. Aber für gröszere Staten ist der Geist und Gesichtskreis der einzelnen Gemeinden zu be- schränkt und zu klein, um ausschlieszlich auf ihn die Landes- repräsentation zu begründen.

2. Der Gegensatz der unmittelbaren und der mittel- baren Wahlen (par degre), jene durch die Urwähler, diese durch gewählte Wahlmänner vollzogen, ist ferner zu be- rücksichtigen. Vorzüge der directen Wahlform sind:

a) Wähler und Gewählte stehen in einem directen Rapport des Vertrauens, während bei der indirecten Wahlart es leicht vorkommt, dasz der Gewählte zwar das Vertrauen der Wahl- männer, nicht aber das der Urwähler besitzt.

b) Die Aufmerksamkeit und das Interesse der Wähler bei der Wahl ist erhöht und gröszer, als wenn beide durch eine Zwischenstufe gebrochen werden.

Auf der andern Seite aber sprechen für die mittel- baren Wahlen unter Umständen folgende Gründe:

a) Wenn die Wahlkreise sehr ausgedehnt sind, so gelingt es nicht leicht, die Urwähler an einem Ort zu versammeln. Bleibt aber die Masse getheilt und zerstreut, so ist es sehr schwierig, ein Wahlresultat zu erhalten. In solchen Fällen dient die Wahl durch Wahlmänner als ein Auskunftsmittel.

b) Wenn ferner das Stimmrecht allzu tief niedersteigt, und zu grosze Massen umfaszt, so liegt in der Bezeichnung von Wahlmännern eine Sichtung der Massen und die Her-

504 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Stellung eines fälligeren und besseren Wahlkörpers. Wird nicht auf solche organische Weise dafür gesorgt, so geschieht es leicht, dasz sich die Clubbs der Vermittlung und Leitung der Menge bemächtigen, sich selber zu einem Wahlausschusz con- stituiren und so auf unorganischem Wege die Aufgabe der Wahlmänner übernehmen.

Am nächsten steht übrigens der directen Wahl die Wahl durch eine sehr grosze Anzahl von Wahlmännern , z. B. so, dasz je auf zehn Urwähler ein Wahlmann ernannt wird.

In England, in Nordamerika, nun auch in Frank- reich, im norddeutschen Bund, in Belgien und in den meisten Schweizerkantonen ist »las System der directen, in Spanien, Preuszen, Bayern und in den meisten deutschen Staten das der indirecten Wahlen eingeführt.

3. Besondere Eigenschaften der Wähler.

Da in dem Volkshause die Menge des Volkes zur Ver- tretung gelangt, so ist die Ausbreitung des Stimmrechtes auf die Gesammtheit der Statsbürger (vgl. oben Buch 11 Cap. 22) als Kegel anzuerkennen. Diese Kegel erleidet in- dessen mit Rücksicht auf die Bestimmung des repräsentativen Körpers Modifikationen, indem verschiedene Rücksichten noch in Betracht kommen:

a) In der römischen Censusverfassung wurde den altern Wählern ein grösseres Stimmrecht zugewiesen als den jun- gem, und so der Erfahrenheil der immerhin an Zahl von den Jüngern übertroft'enen Alten im Interesse der Statswolilfalirf gebührende Rechnung getragen, ohne jene auszuschlieszen. Die modernen Verfassungen* vernachlässigen diese Bücksicht auf das Alter zu sehr, und geben daher oft der reizbaren und beweglichen Jugend einen unverh&ltniszmäszigen Einfiusz.

b) Häufiger wird auf das Vermögen geachtet. Das Vermögen kommt nicht blosz insofern in Betracht, .um die Eigenschaft eines selbständigen Statsbürgers zu ermitteln, son-

5 Napoleon I. beachtete in seinen Verfassungen dieses Moment.

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 505

dem auch abgesehen davon verdient es eine besondere Berück- sichtigung, weil es eine der wichtigsten Aufgaben des States ist, das Vermögen seiner Angehörigen zu schützen und das Gesammtvermögen der Nation zu pflegen. Es darf daher wohl bei der Vertretung berücksichtigt werden, aber nicht auschliesz- lich, denn die persönliche Arbeitskraft der Massen ist kein geringerer Factor der Volkskraft.

Burke* hat den Satz ausgesprochen: ,,Eine gehörige Repräsentation eines States erfordert, dasz sowohl dessen Fähig- keit als dessen Eigenthum repräsentirt sei. Aber da die Fähig- keit ein lebenskräftiges und thätiges Princip, und das Eigen- thum träge, schwerfällig und furchtsam ist, so kann es nie vor einer Invasion der Fähigkeit sicher sein, wenn es nicht in der Repräsentation sehr bedeutend vorherrscht."

Die Römer haben in ihrem Census diesem Gedanken groszes Gewicht beigelegt, und den vermöglicheren Classen eine weit stärkere Vertretung eingeräumt, als den unvermög- lichen. Eine Nachbildung dieser Organisation rindet sich in der preuszischen Verfassung von 1850, welche die Ur- wähler je nach dem Betrage ihrer Steuern in drei der Zahl nach sehr verschiedene Classen theilt, so dasz die wohlhabensten Statsbürger, welche zusammen ein Drittheil der Steuer in der Gemeinde oder dem Wahlbezirk entrichten, auch einen Drittheil der Wahlmänner, sodann die mittleren Bürger, welche zusammen den zweiten Drittheil bezahlen, einen zweiten Dritt- theil der Wahlmänner, und die minder begüterten, die in weit gröszerer Anzahl den letzten Drittheil entrichten, auch nur den dritten Theil der Wahlmänner bezeichnen.7

In dieser Einrichtung, obwohl sie von Mängeln nicht frei und der Ausbildung bedürftig ist, liegt immerhin ein Fort- schritt gegenüber der gewöhnlichen Behandlung, welche nur zwei Classen kennt, deren eine ganz ausgeschlossen wird von

6 Barke, Reflections on the French Revol.

7 Preusz. Verf. §. 71.

506 Fünftes Buch Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

jedem Stimmrecht , und deren andere gleiches Stimmrecht besitzt.

In England8 wird seit der Keformbill von 1832 als Eigenschaft der Wähler in den verschiedenen Weltkörper- schaften erfordert:

a) in den Grafschaften auszer den alt berechtigtenVierzig- Schilling-Freisassen (Freeholders) Grundbesitz (nicht ge- rade Grundeigenthum, auch langer Pachtbesitz) mit einem jähr- lichen Beinertrage von mindestens 10 Pfd. Sterling,

b) in den Städten und Wahlflecken eigener oder miethe- weiser Besitz eines Hauses, Magazins oder Ladens von dem jährlichen Werthe von 10 Pfd.

In England kommen in Folge der Keform auf eine Be- völkerung von fast 14 Millionen nahe an 800,000 Wähler wovon die gröszere Hälfte (etwas über 450,000) auf die Graf- schaften vertheilt ist. In Irland dagegen ist das Verhältnisz der Gesammtbevölkerung von etwas über 8 Millionen zu den Wählern, ungefähr 150,000, bedeutend gröszer. Die Wähler- zahl von ganz Groszbritanien mit einer Bevölkerung von 26 Millionen beträgt etwas über eine Million. Gegenwärtig arbeitet das Parlament an einem neuen Reformgesetz, welches den Kreis der Wähler noch erheblich erweitern soll.

In Frankreich war in der Verfassung von 1814 ge- radezu Rei cht hu in, nicht bloszes Vermögen der Wähler ge- fordert worden. Nur wer 300 Fr. directe Steuer bezahlte, war Wähler.9 Das Gesetz von 1831 hat diese Forderung auf 200 Fr. vermindert, und die Zahl der Wähler von 80,000 auf

8 Vgl. die nähern Angaben bei Schubert, Vorfassungsurkunden I, S. 255 ff. und Müh ry in Mittermai er 8 Zeitschr. XX VIII, S. 28 ff. II. Cox, Statseinrichtungen Englands, übersetzt von Kühne, Berlin 1867. §. 90.

9 Gesetz vom 5. Febr. 1817. Die Verfassung hatte an , mittelbare Wahlen gedacht, das Gesetz machte daraus unmittelbare Urwähler. Ihre Zahl wurde auf 90,000 berechnet. Gervinus, Gesch. des XIV. Jahrh. II, S. 257.

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 507

174,000 gegenüber einer Bevölkerung von mehr als 30 Mil- lionen gesteigert, dadurch aber den Charakter einer pluto- kratischen Eepräsentation nur gemildert, nicht verändert. Die Verfassung von 1848 hat den gefährlichen Sprung aus der Plutokratie in die Demokratie gewagt und jedes Kequisit eines Census aufgehoben (Art. 25). Zuletzt ist auf dieser breiten Basis das Kaiserthum aufgerichtet worden.

Die österreichische Verfassung von 1849 (§. 44) hatte eine directe Steuer von mindestens 5 Gulden auf dem Lande und in kleineren Städten, und von 10 Gulden bis 20 Gulden in gröszeren Städten gefordert.

Nach der Verfassung vom 26. Febr. 1861 werden die Abgeordneten des Reichstags von den Landtagen der Kron- länder gewählt. Die Vertretung in den einzelnen Ländern aber ist meistens nach Classen geordnet, so dasz a) die hohen kirchlichen Würdenträger (Bischöfe), b) die Groszgrunclbesitzer, c) die Städte und Industrialorte und die Handels- und Ge- werbekammern, d) die übrigen Landgemeinden vertreten werden. Die Wahlen der Groszgrundbesitzer und der Städte sind direct, die Wahlen in den Landgemeinden indirect; aber die untern Classen, die keine oder eine ganz geringe Steuer bezahlen, sind von dem Wahlrecht ausgeschlossen.

Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867 sieht von jeder Berücksichtigung des Vermögens ab und er- kennt das allgemeine Stimmrecht an.

4. Die Frage, ob die Wahlen geheim oder offen, ob sie schriftlich oder mündlich oder durch Handaufheben vor sich gehen sollen, war bekanntlich schon bei den Alten sehr bestritten. Die Erörterung der römischen Statsmänner bei Cicero (de Legibus III. 15 17) über dieselbe hat auch für unsere Zeit groszes Interesse.

Gewöhnlich ist mit der geheimen auch die schriftliche, mit der offenen die mündliche Abstimmung oder die durch Handmehr verbunden, aber nicht immer. Männlich freier

508 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

ist die offene und mündliche, sorgfältiger und vorsichtiger die geheime und schriftliche. Bei jener Wahlform erlangen leicht die angesehensten Männer der Gemeinde, zuweilen auch die Demagogen gröszeren Einflusz, bei dieser getrauen sich die kleinen Leute eher ihre eigene, zuweilen aber auch die von den Clubbs ihnen vorgeschriebene Meinung zu befolgen. Wo das übrige politische Leben sich in öffentlichen Formen be- wegt, paszt das Geheimnisz auch da nicht.

In England und Nordamerika geschehen die Wahlen öffentlich und mündlieh. In Frankreich ist die geheime Abstimmung sogar in der Verfassung von 1848 (§, 26) er- halten worden. In einzelnen deutschen Staten ist ein ge- mischtes System der Schriftlichkeit verbunden mit Er- öffnung der Abstimmung vor dem Wahlbureau, aber Ge- heimnisz vor dem übrigen Publicum angenommen worden, so in Bayern. Im norddeutschen Bund ist die Wahl ge- heim und schriftlich. In der Schweiz kommen offene und geheime AVahlen oft neben einander vor, jene eher bei vor- übergehenden Ernennungen, diese bei den wichtigeren und dauernden.

.">. Die Erfordernisse der Wählbarkeit wurden in den früheren Verfassungen gewöhnlich strenger bestimmt, als die des Stimmrechts. Bis 1858 ward in England (Gesetz von 1837) für die Mitglieder des Unterhauses, wenn sie als Ritter in den Grafschaften erwählt werden, ein reines Einkommen v<>n 600 Pfd. St., für die Repräsentanten derStädte Hnd Wahl- flecken ein solches von 300 Pfd. gefordert. Durch «las (Jesetz von 1858 sind alle Vermögenserfordernisse abgeschafft worden. Die französische Charte von 1814 (S- 38) forderte einAlter von 40 Jahren und Bezahlung einer directen Steuer von min- destens 1000 Fr. Die kaiserliche Verfassung kennt diese Beschränkung der Wählbarkeit nicht mehr. Die b olgische Verfassung von 1831 (§. 47) fordert dagegen nur ein Alter von 25 Jahren, und ein Steuerminimum von 20 bis 100 Gulden.

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 509

Darin liegt der Uebergang zu dem neueren System, welches gewöhnlich die nämlichen oder sogar geringere Erfordernisse für den Gewählten wie für die Wähler verlangt, in Anbetracht, dasz die Wahl selbst denselben hinreichend qualificire, somit es keiner weitern Qualificirung bedürfe. So z. B. in Bayern (Gesetz vom 4. Juni 1848) und in Preuszen, wo nur ein Alter von 30 Jahren, aber keine Steuerzahlung, also in dieser Beziehung weniger als für das Stimmrecht erfordert wird (§. 74). Sowohl die englische als die Verfassung des deutschen Nordbunds gestatten den Abgeordneten keine Entschädigung für ihre Dienste anzunehmen, was einem nicht unbedeutenden Census ähnlich wirkt.

6. Die Wahl von Ersatzmännern, nur in wenig Län- dern üblich, seitdem die fr an z ö s i seh e Nationalversammlung von 1781) diese Institution ins Leben gerufen hat, ist in keiner Beziehung zu empfehlen. Da die Ersatzmänner in der Kegel doch nicht berufen werden, so widmen die Wähler ihrer Wahl nur geringe Sorgfalt, und nehmen oft, nur um ihr Geschäft schneller zu endigen, den nächsten besten. Ueberdem wird dem Gewählten der Bücktritt bequemer gemacht, und für diesen Fall die allein Vertrauen genieszende Neuwahl verhindert.

7. Beachtenswert ist die englische, auf dem Continent hier und da, z. B. in Griechenland (§.64), Bayern (Ge- setz vom 4. Juni 1848 §. 29), Preuszen (§.78) im nord- deutschen Bund (§. 21) nachgebildete Sitte, dasz der De- putirte, der ein Kronamt erhält, sich einer neuen Wahl unter- werfe, und so den Wählern Gelegenheit gebe, ihr Zutrauen entweder klar zu erneuern oder auf einen andern hinzuwenden.

Viel weiter war die französische Verfassung von 1848 gegangen, welche alle besoldeten Beamten geradezu von der Nationalversammlung ausschlosz (§. 28). Die Napoleonische Verfassung von 1852 (§.44) schlieszt nur die Minister aus. Die amerikanische Unionsverfassung (1. 2. §. 2) und ebenso die schweizerische Bundesverfassung ($. 66) schlieszt die

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Bundesbeamten aus, nicht aber die Beamten der Einzelstaten. Die norddeutsche Bundesverfassung schlieszt nur die Mit- glieder des Bundesrates aus (§. 9).

Die Ausschliessung der Beamten aus der Volkskammer entzieht dieser die geschäftskundigsten Mitglieder und schwächt in Folge dessen die Einsicht und die Autorität der Kammer: wenn aber der Beamtenstand überwiegt, so wird die Oontrok der Kammer gegenüber der Regierung leicht zu einem bloszen Scheine verflüchtigt und die Kammer verliert das Vertrauen der öffentlichen Meinung. Da- rechte Masz zu treffen ist voraus eine Aufgabe der Wähler.

Uebrigens sind nicht alle ('lassen der Beamten in diesen Beziehungen gleich zn achten. Die welche nur ein Ptflege- amt verwalten, wie /. B. Statsärzte, Professoren, stehen den Privaten wesentlich gleich; die Richter sind durch ihr»' an- abhängige Stellung gesichert; am schwierigsten ist die Stellung eigentlicher Regiernngsbeainten. Würde die Opposition vornehmlich von ihnen geleitet, so würde dir Ginbeil und Au- torität des Regiernngskörpers geaehädigl . wollte sich die Re- gierung vornehmlich auf ihren Einflusz in der Kammer stützen, so wäre die Selbständigkeil der Kammer gefährdet. In Zeiten des heftigen Kampfes ilmn die Wähler daher wohl, in der Regel auszer den verantwortlichen Ministern keine Kegiomngs- beamten zu wühlen.

8. Häufig finden wir bestimmte Perioden festgesetzt, nach deren Ablaut' das Volkshaus einer neuen Wahl unter- werten Wird, sei es dasz diese eine <; esu ni mt- «»der nur eine partielle Erneuerung Ist. Das englische Unterhaus hat seit Georg I. eine siebenjährige, früher nur eine dreijährige, Amtsdauer, das nordamerikanische (1. 2.) Haus der Re- präsentanten eine zweijährige, in den Emzelstaten meistens nur eine einjährige, die preus zische zweite Kammer *^§. 73) und dei norddenf sehe Bund (§. 21) eine dreijährige, die bel- gische Kammer (§. 51) der Repräsentanten eine vierjährige,

Siebentes Capitel. Von der Bildung der Volkskammer. 511

die bayerische zweite Kammer und der französische Ge- setzgebungskörper (§. 38) eine sechsjährige (§. 13).

Die Gesammterneuerung ist zur Kegel geworden. Wo nur Eine Kammer, ist dieselbe aber gefährlich, weil sie die Tra- dition der Statspraxis plötzlich unterbricht, und oft ganz schroffe Sprünge macht aus einem politischen System in ein anderes.

9. In der constitutionellen Monarchie ist überdem die Auflösung der Volkskammer zum Behuf neuer Volks- wahlen ein wichtiges Recht des Monarchen, und ein geeignetes Mittel die Volksstimmung zu prüfen, zuweilen auch die Har- monie der verschiedenen Theile des Gesetzgebungskörpers unter- einander und mit der Regierung herzustellen.

In den repräsentativen Demokratien dagegen (Nordamerika, Schweiz), wird ein solches Recht der Re- gierung nicht verstattet, nicht weil dasselbe als eine Be- schränkung der Volksrechte angesehen wird, diese werden im Gegentheil durch die Auflösung eher erweitert, sondern um der Eifersucht willen auf die Macht der Regierung, und aus ängst- licher Sorge für das höhere Ansehen der Repräsentation.

10. Die Abberufung einzelner Deputirter durch ihre Wähler aus dem Grunde des verwirkten Vertrauens ist durch- aus unorganisch, und für die wahre Stellung eines Volksreprä- sentanten gefährlich, indem derselbe berufen ist, nach freier Ueberzeugung , wie sich dieselbe in der Kammer bildet, zu stimmen, und sich als Repräsentanten des ganzen Volkes, nicht als Mandatar seiner Wähler zu benehmen.

10 Für England Blackst. I. 2, 7. Belgien, Verf. §.71. Bayern, §.23. Preuszen, §. 51. Frankreich von 1852, §.46. Norddeutscher Bund S. 25.

512 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.

Achtes Capitel.

Von der Bildung des Senats oder des Oberhauses.

Der Senat oder das Oberhaus darf nicht eine Wiederholung des Volkshauses sein, noch auf dem nämlichen Princip wie dieses beruhen. Der Statsorganismus darf nicht zwei Organe haben, welche beide dasselbe thun. Die erste Kammer musz vielmehr, wenn sie eine Wahrheit sein soll, ein eigenthüm- liches politisches Princip für sich und eine besondere Aufgabe zu erfüllen haben.

Ihre natürliche Bestimmung ist es, die aristokrati- schen Elemente im State zu vertreten, wie die der Volks- kammern, den Demos zu repräsentiren. Sie ist eine Mittel- macht zwischen dem Statsoberhaupt und der Volksmehrheit, welche ihre Stärke nicht von dieser ableitet, sondern in sich selber und in den ausgezeichneten Eigenschaften hat, auf wel- chen sie beruht Ihr liegt die Qualität ganz und gar, nicht die Quantität zu Grunde. Die Auszeichnung, die au und für sich schon eine politische Macht ist , ist ihre Unterlage.

hört in dieselbe daher nur die wirkliche Aristo- kratie, welche im Lande ist, aber auch alle wahre Aristo- kratie, die sieh darin findet.

1. Die Einrichtung in Norwegen, nach welcher das Grosz-Ding der Yolksivpräsentanten aus seiner Mitte einen Viertheil der Mitglieder erwählt, und diese zum Lag-Ding, den Ueberrest als Odels-Ding constituirt (Verf. §. 74 (T.)i zeigt das Bedürfnisz zweier Kammern, aber gewährt demselben keine Befriedigung. Wie soll ein Viertheil einer gleichartigen Versammlung den drei Viertheilen als besondere Kammer gegen- über, und nötigenfalls auch entgegentreten können? Können aber die beiden Abtheilungen sich nicht verständigen, so treten sie zusammen und dann entscheidet die Mehrheit voirzwei Drit- tneilen.

Auch der belgische Senat, welcher von den nämlichen

Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 513

Wählern bestellt wird, wie die Kammer der Volksrepräsen- tanten, hat mit dieser die Unterlage gemein, unterscheidet sich aber insofern von dieser, als seine Mitglieder ein höheres Alter, 40 Jahre, und ein groszes Vermögen, mit einem Steuerbetrag von G-. 1000, haben müssen, und nicht blosz auf 4, sondern auf 8 Jahre gewählt werden (§. 55, 56). Aehnliche Einricht- ungen, meistens mit noch weiter gehender Abschwächung der Unterschiede zwischen Kepräsentanten und Senatoren, kommen in denEinzelstaten Nordamerika' s vor. Sie bleiben alle hinter dem obigen Princip zurück, dem sie sich von demokra- tischem Boden her nur schüchtern und auf Umwegen annähern.

2. Durchaus eigentümlich und nur in Bundeskörpern oder zusammengesetzten Keichen denkbar, ist der Senat der nord- amerikanischen und der Ständerath der schweizer- ischen Bundesverfassung von 1848 organisirt. In ihnen sind die Einzelstaten als politische Mächte, nicht eine aus- gezeichnete Minderheit der Nation vertreten. In jenen beiden Häusern wird somit nicht das Volkshaus durch ein aristokra- tisches Haus, sondern es wird die gemeinsame Nationalreprä- sentation durch die Versammlung der verbündeten Statsindivi- dualitäten ergänzt und besckränkt. In beiden Bundesverfass- ungen sind die Stateu gleichmäszig je durch zwei Mitglieder vertreten. Der Bundesrath im norddeutschen Bund ist eher eine Art Bundesregierung, nicht ein Statenhaus, aber dient doch einiger Maszen anstatt eines Statenhauses.

3. Die Qualitäten, welche bei der Bildung des Ober- hauses in Betracht kommen, sind verschieden, je nach der Art der Nation und den Zeiten. Wie immer sie aber bestimmt werden, die Repräsentanten derselben müssen vorzugsweise p o- litisch gebildet und durchdrungen sein von dem Pflicht- gefühl gegen den Stat und das Volk.1 Die wichtigsten Mo- mente scheinen folgende zu sein :

1 Vgl. darüber besondei'3 die Ausführung yon Gneis t, Engl. Ver- fassungsrecht.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 33

514 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

a) Wo es, wie in England, eine mächtige und gesicherte Erbaristokratie gibt, verdient dieselbe voraus Berücksichtig- ung. Sie bildet den Kern des englischen Oberhauses, und verleiht demselben vorzüglich ein historisches Ansehen und eine feste Haltung in dem Wechsel der Lebensströmungen.

Ohne Vermögen und ohne Erfrischung aus dem Volke, dem sie nicht als geschlossene Kaste entgegensteht, sondern mit dem sie verbunden und verwachsen sein musz, wie die Berge mit den Ebenen, kann dieselbe am wenigsten in unsern Tagen bestehen. In Deutschland sind zwar noch brauch- bare Elemente einer solchen Aristokratie vorhanden, aber nur eine gründliche Adelsform2 hätte dieselbe in ihrer Keinheit und Stärke herstellen, und für den Stat gewinnen können. Diese Reform ist aber zur rechten Zeit nicht vollzogen worden.

b) Die Erbaristokratie ist gewöhnlich auch Grundaristo- kratie. In neuerer Zeit wird zuweilen von jener abgesehen und der Nachdruck auf diese gelegt, zuweilen letztere zu einer bloszen Vermögensaristokratie erweitert.'5 Vieles hängt hier von der Natur des Landes und des Lebens ab. In Handeis- staten genieszt das bewegliche Vermögen nicht geringeres An- sehen als der Grundbesitz. In Ackerbaustaten hat dieser den entschiedenen Vorzug. Für die conservative Bedeutung des Senats ist jedenfalls groszes Gr undeigenthu m und vor- züglich erbliches eine der sichersten Grundlagen.4 Ein

* Vgl. darüber Stahl's Rede zu Berlin vom 22. Nov. 1849, und meine Rede zu München vom 5. Juli 1850, vorzüglich aber den Artikel Adel im deutschen Statswörterbueli.

3 Der Entwurf der belgischen Verfassung hatte für die Senatoren eine Grundsteuer von 10Q0 fl. gefordert, die Verfassung selbst begnügt sich aber mit einer Vermögenssteuer von diesem Betrag (§. 56). In Portugal (Verf. von 1838) wird ein Einkommen aus Grundbesitz von 2600 Milreis, und aus Geschäften von 4000 Milreis gefordert.

4 E. Burke, Betrachtungen über die franz. Revolution.: „Das cha- rakteristische Wesen des Eigenthum3, welches auf der Verbindung der Principien seines Erwerbs und seiner Erhaltung beruht, ist die Ungleich- heit. Die groszen Vermögensmassen, welche den Neid erregen und die

Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 515

Erbrecht, welches einen Gütercomplex der Familie bewahrt, und stets in Einer Hand concentrirt, wie das englische Kecht der Erstgeburt oder das deutsche Institut der Familienstift- ungen, begründet und erhält eine erbliche Pairie, stärkt ihre Macht und befestigt ihre Würde.

Der grosze Grundbesitz wirkt aber auch ohne diese erb- rechtliche Geschlossenheit als freies Eigenthum, welches der heutigen Wirthschaft besser zusagt, in derselben Weise. Daher begründen manche neuere Verfassungen die Vertretung im Oberhaus einfach auf den groszen Grundbesitz überhaupt. Die Unterscheidung zwischen adelichen und bürgerlichen Ritter- gutsbesitzern hat heut zu Tage keinen Sinn mehr, und ist daher mit Recht auch in den österreichischen Landesverfass- ungen seit 1861 aufgegeben worden.

Gröszere Bedenken hat

c) die Vertretung des Reichthums überhaupt, auch des beweglichen Vermögens. Der Reichthum für sich allein, wenn er nicht durch Verdienste um die Nationalinteressen ge- adelt wird, ist keine aristokratische Eigenschaft. Er ist dann nur durch die Quantität hervorragend, nicht durch die Quali- tät ausgezeichnet , und es kann sich auf ihn geradezu die wucherliche Aussaugung der nationalen Kräfte gründen oder doch ein spieszbürgerliches Brozenthum sich damit spreizen.

Raubsucht reizen, müssen daher auszerhalb der Möglichkeit der Gefahr gesetzt werden. Dann bilden sie einen natürlichen Wall um die kleineren Vermögen in allen Stufen. Die nämliche Vermögensmasse, welche durch den Lauf der Dinge unter die Menge vertheilt wird, hat nicht dieselbe Wirkung. Ihre Widerstandskraft wird geschwächt, indem sie ausge- breitet wird. Die Macht, unser Vermögen in unsern Familien fortzu- setzen, ist eines der gewichtigsten und bedeutendsten Verhältnisse für die Familie, und trägt in vorzüglicher Weise zu der Fortpflanzung des States selbst bei. Die Besitzer des Famlienreichthums und die Inhaber der ausgezeichneten Lebensstellung, welches erbliches Gut gewährt, sind die natürlichen Wächter für jene Fortpflanzung. Unser Oberhaus be- ruht auf diesem Princip. Es ist ganz auf erbliches Vermögen und erb- liche Auszeichnung gegründet."

33*

51G Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Aber die Geschichte Venedigs und der deutschen Hanse- städte beweist, dasz es auch eine auf grosze Kaufmannschaft gegründete Aristokratie gibt: und in den modernen Verhält- nissen finden wir oft grosze Kaufleute, Fabrikanten und Banquiers, welche sich auszeichnen nicht blosz durch die Vermögensmacht, die ihnen zur Verfügung ist, sondern ebenso durch einen weitsichtigen politischen Blick und eine opferbe- reite Volks- und Vaterlandsliebe. Die Berücksichtigung dieses Elements neben dem groszen Grundbesitz dient daher in unsrer Zeit zu einer zeitgemäszen Ergänzung und Correctur.

d) Die Aristokratie der statlichen Würden und Aemter war vorzugsweise in dem Senate der römischen Republik vertreten, der in manchen Beziehungen auch die Bedeutung eines Oberhauses hatte. In England waren an- fänglich die meisten Lords zugleich öffentliche Beamte und ist die Zuziehung der XII Oberrichter in das Oberhaus mit berathender Stimme von der Art. Die obersten Richter verdienen vorzugsweise, um ihrer Rechtskunde und der be- währten Hebung in dem Schlitze der Rechtsordnung willen, bei der Bildung des Oberhauses berücksichtigt zu werden. In Spanien wurden durch die Verfassungsänderung von 1845 vorzugsweise die Präsidenten und Mitglieder der Codes, mit unabhängiger Vermögensfftelhing, und ebenso die hohen Beamten und Würdeträger des Reichs, Minister, Statsräthe, Gesandte, Präsidenten und Beisitzer der obersten Gerichtshöfe neben den Granden und reichen Adeligen für fähig erklärt, in den Senat ernannt zu werden. Die Napoleonischc Verfassung von 1852 (§. 20) erklärt die Marschälle und Admiralr des Reichs neben den Kardinälen zu Senatoren.

e) Oefter wird in den ersten Kammern der hohen Geist- lichkeit, insbesondere den Bischöfen eine Stellung ange- wiesen, mit Recht, insofern die hohen Würdeträger der Kirche eine grosze psychische Macht im State vertreten , und ge- wöhnlich mit groszer Autorität aucli vor dem Volke ausge-

Achtes Capitel. Von der Bildung des Senats oder Oberhauses. 517

rüstet sind. Das englische Oberhaus ist auch der Sitz der englischen Bischöfe, freilich nur einseitig der anglicanischen, nicht auch der katholischen Kirche. Ebenso gibt die öster- reichische Verfassung von 1861 den Erzbischöfen und den Bischöfen, welchen fürstlicher Bang zukommt, Sitz und Stimme im Herrenhause, mehrere andere deutsche Verfassungen neben den katholischen Bischöfen auch einem Repräsentanten der protestantischen Kirchenleitung.

f) Auch die Wissenschaft ist eine geistig ausgezeich- nete Macht, und hat, insofern sie eine statliche Bedeutung inne hat, wie in den Akademien und auf den Universitäten, ein natürliches Recht auf einen Sitz inmitten der Aristokratie der Nation.

g) Endlich ist die Erhebung in das Oberhaus ein würdiger Preis für Männer, die sich um den Stat und die Nation grosze Verdienste erworben haben, und zugleich gewinnt dasselbe durch die Aufnahme einer individuellen Verdienstaristo- kratie an geistigen und moralischen Kräften sowohl, als an Autorität vor der Nation.

4. Weniger wichtig, als dasz die rechten Qualitäten er- kannt und berücksichtigt werden, sind die Formen, wie die Mitglieder des Hauses bezeichnet werden:

a) Die Wahl, für das Unterhaus Regel, ist hier minder anwendbar, indem die aristokratische Qualität nicht aus der Quantität hervorgeht, sondern in sich selber ihre Stärke hat. Auch darin entsprechen die belgische und die portugie- sische (seit 1838) Verfassung, welche den Senat nur durch Wahl bestellen, der Idee nicht.

Nur wo die Wähler selbst schon durch aristokratische Eigenschaften ausgezeichnet sind, wie z. B. die groszen Grund- besitzer, die Groszindustriellen oder die Corporationen der Universitäten, ist die Wahl einer Vertretung im Oberhause begründet.

b) das Erbrecht setzt das Dasein einer erblichen Ari-

518 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

stokratie in der Nation voraus, wie in England die Lords, in Deutschland mindestens die Prinzen und die Standesherren.

c) Die königliche Ernennung ist in England zur Ergänzung der erblichen Pairie,* und in dem franzö- sischen System von 1830 und von 1852 als allgemeine Regel6 der Begründung und Erhaltung einer lebenslänglichen Pairie anerkannt, Die p reuszi sehe Verordnung vom 12. Octbr. 1854 beschränkt das königliche Ernennungsrecht durch Präsentationen der aristokratischen Verbände und der grösseren Städte. Das österreichische Grundgesetz von 1861 weist auf die Verdienste um Stat oder Kirche, Wissenschaft oder Kunst hin, welche der Kaiser durch Ernennung ehrt. Der König ist vor- zugsweise berufen, die national -ausgezeichneten Eigenschaften zu erkennen und zu ehren. Insofern ist er ganz geeignet, ein- zelne Individuen unter die Volksaristokratie, sei es als Erb- pairs, sei es als lebenslängliche Pairs, aufzunehmen. Aber es darf nicht das ganze Oberhaus von der königlichen Macht und Gnade abhängig sein, soll dasselbe seine vermittelnde Be- deutung für den König und das Volk erfüllen.

d) Die Cooptati«>n *h>* Hauses selbst wurde in den aristokratischen Senaten der mittelalterlichen Etaichsat&dtt viel- fach geübt, und auch in den Xapoleonischen Verfassungen von 1799 und 1802 zugelassen.

e) Verbindung mit gewissen Würden oder Folgen der Bekleidung bestimmter Aemter. Das alt-römische Sjatem vornehmlich hielt sich an diese Form. In Preuszen berech- tigten die vier groszen Landesämter zum Sitz im Herrenhause.

Passend können auch verschiedene Formen mit einander verbunden und neben einander gebraucht werden, um das Ober- haus würdig zu erfüllen.

1 Dieselbe wird übrigens oft geübt. Man rechnet 667 Pairien, die von 1700 bis 1820 creirt worden sind. Th. Ersk. May, Verfassnngs- gesch. Englands, übersetzt von Oppenheim I, S. 194,

6 Ebenso in Spanien seit 1845.

Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Ge.-,etzgebungskörpers. 519

5. Dem Charakter der Institution entspricht die gröszere Dauerhaftigkeit der Senatoren- oder Pairswürden.

Auch wo die Senatoren in der Regel gewählt werden, wie in den nordamerikanischen Einzelstaten und in Belgien, werden dieselben doch, verglichen mit den Abgeordneten der Volkskammer, gewöhnlich auf eine doppelte oder dreifache Amtsdauer gewählt-; dort z. B. auf 2 oder 3 Jahre, hier auf 8 Jahre.

Das Grundprincip der Institution erheischt strenge ge- nommen so lange Dauer, als die Qualität vorhanden ist, worauf die Stelle sich gründet. Um neben der Regel der Dauerhaftigkeit auf Lebenszeit auch die Möglichkeit ausnahms- weiser Entartung zu berücksichtigen, hat bei den Römern das Censoramt vortrefflich gedient. Die Erneuerung der Senatslisten war zugleich Reinigung derselben. Sie dient dazu, die Institution vor Altersschwäche zu bewahren und die Harmonie mit der Volksvertretung herzustellen.

Neuntes Capitel.

Befugnisse. A. Des gesammtcn Gesetzgebungskörpers.

Der Gesetzgebungskörper stellt die ganze Nation in Haupt und Gliedern gleichsam in verkürztem Maszstabe und im Aus- zuge dar. Seine Macht ist daher eine innerlich vollkommene, nationale, deszhalb aber nicht eine „absolute," noch „des- potische." Blacks tone freilich schreibt dem englischen Par- lament auch eine solche zu, und spricht von politischer „All- macht" (omnipotence) desselben; und manche neuere Publi- cisten stimmen ihm hierin bei, indem sie eine absolute Stats-

520 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

macht für unentbehrlich oder für unvermeidlich, und immerhin für ein geringeres Uebel halten, wenn sie dem genannten ge- setzgebenden Körper, als wenn sie nur einem Individuum zu- geschrieben wird.

Aber der moderne Stat kennt keine absolute Macht, weil er menschlich ist und dem Menschen in seiner Beziehung zum Menschen eine solche weder vergönnt ist noch zusagt. Auch die höchste Statsmacht des Parlaments hat in dem na- türlichen Verhältnisse, in welchem es zu dem englischen Volke steht, und in der Existenz anderer Gewalten im State, ferner in der politischen Bestimmung der es dient, endlich in den verfassungsmäszigen Formen seiner Verhandlungen und Be- schluszfassung vielerlei sittliche und rechtliche Schranken, welche sie vor Willkür und Miszbrauch bewahren. Die letzteren for- mellen Beschränkungen werden gewöhnlich anerkannt, aber mindestens für die Gesetzgebung selbst wird Allmacht des Parla- ments verlangt. In der Segel gibt es in dem Statsorganismus keinen Körper und kein Organ, welche demselben übergeordnet oder auch nur, soweit seine Bestimmung reicht, gleichgeordnet wären, und die Kegel musz das Siatsrecht anerkennen, dasz seine gesetzgeberische Autorität die höchste, und dasz sie für alle andern Glieder und Angehörigen des States eine ver- pflichtende ist, der sie sich auf ordentlichem Wege nicht entziehen können. Aber wenn das Parlament sein Verhältnis* zu der Nation grob miszachten und wirklich eine offenbar des- potische Gewalt wider das wahre Recht ausüben sollte, so würde das Uebermasz des Miszbrauchs seiner Macht den auszer- ordentlichen Widerstand einer freien Nation hervorrufen, und es bald klar werden, dasz jene „Allmacht" eine Fiction sei, die nicht Stand hält. Man denke sich , dasz ein corrumpirtes Ober- und Unterhaus von einem despotisch gesinnten Könige bestimmt würde, die Parlamentsverfassung in England aufzu- heben, und diesem allein alle gesetzgebende Gewalt zu über- tragen. So lange das englische Volk noch nicht völlig ent-

Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers- 521

artet und verdorben ist, würde es sich eine solche Parlaments- acte sicher nicht gefallen lassen. 1

In folgenden Richtungen äuszert sich die Thätigkeit des gesetzgebenden Körpers hauptsächlich :

1. Ihm steht es zu, die dauernde Ordnung des States selbst festzustellen, die Verfassung der Nation auszubilden, zu verbessern, umzuändern, bleibende Institu- tionen zu begründen oder aufzuheben, mit einem Worte, ihm gebührt voraus die organische Gesetzgebung.

Diese Befugnisz ist in den meisten neueren Verfassungen anerkannt. In Nordamerika aber concurrirt mit dem Congresz, wenn es sich um Zusätze zu der Bundesverfassung oder Ab- änderung derselben handelt, ein auszerordentlich gewählter Convent. In einzelnen schweizerischen Republiken ist die Ab- änderung der Verfassung geradezu dem gewöhnlichen groszen Rathe, der sonst die gesetzgebende Gewalt ausübt, entzogen, und einem eigens für diesen Zweck zu ernennenden Verfassungs- rathe vorbehalten. Erhöhte Vorsicht und strengere Erforder- nisse für diese wichtigste Function der Gesetzgebung haben guten Grund, aber die Begründung besonderer Organe für die- selbe neben dem gesetzgebenden Körper macht einen unorga- nischen Eindruck und bringt leicht Störung und Verwirrung in die bestehende Statsordnung.

2. Er übt auch in allen übrigen Beziehungen das Recht

1 Mit dieser letzteren Auffassung stimmen auch die englischen Com- mentatoren ßlackstone's zu I. 2, 3 überein Sie verweisen einmal auf das „angeborene Volksrecht," und anderseits darauf, dasz die Macht des Parlaments ihrem Wesen nach eine „anvertraute," nicht eine ursprüng- liche sei. Eine ganz entgegengesetzte und auch in unsern Tagen noch wahrnehmbare Gefahr ist die der Ohnmacht des Gesetzes, die der sky- thische Fürst Anacharsis schon in einem Gespräche mit Solon (Plu- tarch, Solon 5) scharf genug bezeichnet hat: „Die geschriebenen Gesetze gleichen Spinngeweben, welche die Schwachen und Kleinen , die hinein- gerathen, festhalten, aber von den Eeichen und Mächtigen zerrissen werden."

522 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

der Gesetzgebung in vollem Umfange aus, und ordnet so- wohl das öffentliche als das Privatrecht.

Er allein spricht das Gesetz (loi) aus. Die Kegierung dagegen unter Umständen auch andere Verwaltungsbehörden erläszt die Verordnung (ordonnance, decret). Auf diesem organischen Gegensatz der Autoritäten beruht zunächst der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung. Jenes ist der Willensausdruck des Gesetzgebers, diese der Verwaltung. In der Kegel kann daher das Gesetz nur durch die Ueber- einstimmung aller Factoren der gesetzgebenden Gewalt (König und Kammern, Congresz u. s. f.) zu Stande kommen.2 In der Verordnung dagegen spricht sich die Autorität der Regierung oder einer andern Behörde aus.

Offenbar ist die Autorität des Gesetzes die höhere, weil sich in ihm der Wille der Gesammtrepräsentation des ganzen Stats ausspricht, die der Verordnung die mindere, weil sie nur auf der Autorität eines einzelnen Gliedes der Staatsgewalt, wenn auch vielleicht der obrigkeitlichen Gewalt beruht.

Dem Inhalte nach treffen die beiden Gebiete keineswegs zusammen. Vielmehr dürfen eine Reihe der wichtigsten Ver- hältnisse nach den meisten Verfassungen nur durch die Ge- setzgebung nicht durch die Verordnung geregelt werden. Dahin gehören zumeist:

a) die wichtigeren s tatlichen Institutionen und die Grundrechte,

b) das gesammte Privatrecht und die Civilprocesz- Ordnung,

c) das Straf recht und die Ordnung des Strafver- fahrens,

1 In mehreren deutschen Staten steht dorn König auch da? Recht zu, in dringlichen Fällen sogenannte p ro visoris cli e Gesetze zu erlassen, die aber nur insofern ihre Rechtsgültigkeit behaupten können, als die beiden Kammern in nächster Versammlung zustimmen und hinfällig werden, wenn eine derselben die Zustimmung verweigert. Vgl. v. Rönne in Aegidis Zeitschr. f. D. Statsrecht. Bd. I. H. 3.

Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers. 523

d) alle Auflagen von Steuern und die Feststellung des Statshaushalts,

e) die Grundbestimmungen über die Militärpflicht. Ueberdem musz, soweit die Gesetzgebung die Verhältnisse

ordnet, die Verordnung das beachten und wird demgemäsz der Bereich der Verordnung eingeschränkt.

Die Gesetze selber machen unter Umständen weitere Ver- ordnungen nöthig, theiis zum Behuf des Vollzugs (Voll- zugsverordnungen)', theils zur E r g ä n zu ng der Lücken der Gesetze, besonders in den Verhältnissen, die einem öftern Wechsel unterworfen sind.

Daneben bezieht sich eine dritte und die zahlreichste Classe der Verordnungen auf einzelne statliche Kichtungen, z. B. die Finanzverwaltung, polizeiliche Beziehungen, Vor- schriften für die Heeresordnung und nicht auf die Verhält- nisse der gesammten Nation, welche vorzugsweise durch das Gesetz geordnet werden.3

Nicht unpassend werden die allgemeinen Verordnungen, welche in näherer Beziehung zu der Gesetzgebung stehen, nach manchen Verfassungen der regelmäszigen Controle des gesetz- gebenden Körpers unterworfen.

Die Ausbildung dieses Gegensatzes gehört erst der neuern Zeit an: und auch nun sind die einen Völker eifriger als die anderen, den Bereich der Gesetzgebung auszudehnen und den der Verordnungen einzuschränken. Die Besorgnisz vor der Willkür der Kegierungsgewalt ist die eine, das Interesse der öffentlichen Wohlfahrt, dasz die Wirksamkeit der Regierung nicht gelähmt und der gesetzgebende Körper nicht zu einem regierenden und verwaltenden verdorben werde, die entgegen- gesetzte Rücksicht, welche bei der Bestimmung der Gränzen zwischen beiden vorzüglich in Betracht kommen. In England

3 Vgl. die Ausführung bei Stein Verwaltungslehre. Stuttg. 1865. Bd. I. S. 62 f., welcher übrigens den Gegensatz meines Erachtens zu formel faszt, und daher das Gebiet der Verordnung zu weit ausdehnt.

524 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

wird die Gesetzgebung durch ein üebermasz von Einzelheiten beladen und verwirrt; in Frankreich pflegt das Gesetz nur die allgemeinen Grundsätze festzustellen und alles Detail den Or- donnanzen und Decreten zu überlassen.

In den früheren Jahrhunderten des Mittelalters wurde der' Nachdruck eher auf den Gegensatz zwischen hergebrachtem Kecht und Neuerungen gelegt. Nur die letztern bedurften in der Regel der Zustimmung der Sünde. l

3. Dem Gesetzgeber kommt in den meisten neuern Stuten auch das ausschlieszliche Recht zu, Steuern und Abgaben zu bewilligen, oft auch der Entscheid über die Verwendbar- keit der öffentlichen Einnahmen zu bestimmten Statswerken, und die Erlaubnis/, zur Benutzung des Laudescredits, sei es durch Aufnahme von Darlehen, sei es in anderer Form.

Diese practisch «richtige Seite der Thätigkeit des gesetz- gebenden Körpers war den römischen Comitien fremd ge- blieben und vornehmlich den Magistraten und der Autorität des Senates überlassen worden. Die germanischen Völker aber haben von jeher auf die Rechte »1er Repräsentation in dieser Beziehung den gröszten Werth gelegt. Anfänglich war die

4 Einige Bauptstellen mögen die Verbreitung dieser a.uffassung be- urkunden, ai für die fr&nkisohe Monarchie Capit. Garoli M. a. 803, c 1;<: „l'i populus interrogetur de oapitulis, quae in lege noviter addita sunt: ei postquam omnes oonsenserini, snbsoriptioues faciant. Ed. Oaroii Cakri a 864, o. 6: »Lei consentn populi St et constitutione Re- gig.- in Für die deutschen Linder Reichsgeseti ron 1231: „Saper qua re reqnisitd oonsensn prinoipum i'uit taliter diffinitum, oft neque principe* neque cUii quilibet constitutione* v<I nova jura facere possint, ni-'i meliomm et majorani terre consensm primitaa uabeatur,B Vgl. Ungcr, Geschichte der Landstände II, S. 188 ff. c) Für England Fleta über das sächsische Witenagemot, das berufen sei, „novis injurUi emersis nova constituere remedia.* d) Für Frankreich. Alte Cou- turae von Anjou, eitirt von Schaffner, braus. Reohtsgeso)* II, 170: Ne le Roy sans assentement e Barons ue peul mettrt o&uitwM en leurs terres ne ils la pevent auxi mettre cn la leur sans lassentement de leurs Valvasseuri ne de la greignour partie du peuple.a

Neuntes Capitel. Befugnisse. A. Des ges. Gesetzgebungskörpers. 525

Zustimmung der Staude auch hier nur für die Auflage neuer Steuern und Lasten 5 gefordert worden. Später erst ent- wickelte sich das Steuerbewilligungsrecht der Landesvertretung zu einem Antheil an der Normirung des gesammten Stats- haushalts. 6

4. Die Abschlieszung von Stats vertragen mit frem-

6 Englische Magna Charta von 1215: „Nulluni scutagium (lehens- reclitliche Kriegssteuer) vel auxilium ponatur in regno nostro, nisi per commune consilium legni nostri, nisi ad corpus nostrum redimendum et primogenitum filium nostrum militcm faciendum, et ad filiam nostram primo^enitam semel maritandam." Freiheitsbrief König Eduards I. von England von 1297: „avuus dites graunto pur nos heyrs que mes teles aydes mises ne prises uc trerroms a coustume par nule chose que soit fayte" (die zuletzt B< zogenen auszerordentliohen Steuern sollen nicht in Gewohnheitsabgaben umgewandelt werden dürfen): wenn Bedürfnisse zu solchen wiederkehren, so verspricht der König nur „par comraun assent de tout le Roiaume" Steuern zu erheben „da commun profist de meismes te Roiaume, sauve /-■>■ ancienes aydes eprises dues e acoustu>iiees.it Die alte Chronik der Normandie über die Zeit Wilhelms des Eroberers : „En ce fait avez be-oing de l'ayde et du conseil de vos amis ; si le faites tous a>sembler et lenr remonstrez vostre fait, et les re({uerez de ce qui vous e»t necessairej et be3oigniez par leur conscil; car raison est, que qui paie Vescot (Schoosz), quHl so/t ä V'asseoir." Sachsenspiegel III, Dl, §. 3: „He ne mut ok neu gebot, noch hei berge, noch beedc de- nest, noch recht uppe't bind äetten, is ne willekore dat land." Das Sprichwort der deutschen Stände:

.. Wo Wir nicht niitrathen, Wir auch nicht mitthaten" hat einen ähnlichen Sinn.

6 Nordamerikanischc Bundesverfassung von 17871, 8: „Der Con- gresz hat das Recht, Taxen, Abgaben, Auflagen und Accisen aufzulegen und zu erheben, Geld zu borgen auf den Credit der Yereinigten Staten, Geld zu münzen4' u. s. w. Bayerische Verfassung von 1818 VII, §. 3: „Der König erholt die Zustimmung der Stände zur Erhebung aller directen Steuern, sowie zur Erhebung neuer indirecten Auflagen oder zu der Erhöhung oder Veränderung der bestehenden." §. 4: „Den Ständen wird daher nach ihrer Eröffnung die genaue Uebersicht des Statsbedürf- nisses sowie der gesammten Statseinnahmen (Budget) vorgelegt werden." Preuszische Verfassung von 1850 I, §. 99: „Alle Einnahmen und Aus- gaben des Stats müssen für jedes Jahr zum voraus veranschlagt und auf den Statshaushalt-Etat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgestellt."

526 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

den Staten ist in den neueren Verfassungen gewöhnlich der Competenz des gesetzgebenden Körpers entzogen und der der Regierung zugetheilt. Obwohl durch dieselben allerdings oft dauernde Verhältnisse der ganzen Nation geregelt werden, so hat doch hier vorzüglich die Rücksicht überwogen, dasz die Statsinteressen im Verhältnis zu fremden Staten besser durch eine concentrirte und im Stillen ihre Beschlüsse fassende und ihre Maß- regeln treffende Macht geordnet werden, dasz dagegen die öffent- liche Verhandlung in dem gesetzgebenden Körper leicht die Schwie- rigkeiten der Regelung vergrßszern und demso handelnden State neue Verlegenheiten, Gefahren und Nachtlieile bereiten könnte.7 Im Altertlium dagegen ist die entgegengesetzte An- sicht, dasz die Statsverträge zu ihrer unbezweifelten Gül- tigkeit auch der Zustimmung des Volks bedürfen, vorherrschend,8 und im Mittelalter wurde auch oft der Kath oder die Ein- willigung der Stände nftthig erfunden.9

7 Für England Klacks t I. 7, 2. Seilet in der nur da nie r i k a- nisohen BundeSYerfassung ist das Recht Btatsrertr&ge ia loUiesuea dem Präsidenten vorbehalten, and derselbe nur an die „Zustimmung des Senates,1' nicht anefa der Reprisentanten gebunden. H, 2 Was- hington in Beiner Botschaft ron 30. Mir/ 1796: »Die Verhandlungen mit auswärtigen Hftohten erfordern Disoretion, ihr Erfolg hängt fast immer von dem Gteheimnisi ab. Selbst wenn dieselben in einem End- resultate gebracht sind, wäre die sofortige Enthüllung der lCissregelo, Begehren und Zugeständnisse, welche vorgeschlagen oder erwartet werden, unpolitisch, und könnte einen verderblichen Einflusz auf die künftigen Verhandlungen haben oder eine nnrersQgliche Dmstimmung bei den Mächten hervorrufen."

8 In Athen wmd. Mi sogar die fremden Qesaadteu von der Volksrer- lasnmluag angehört In Rom kam dal Prinoip, dasz die Comitien zu- stimmen müssen, erst seit den Kriegen mit den Bamnitem auf. Hatte das Volk nicht zugestimmt, so konnte es lieh duroh Deberliereruag der abschließenden Magistrate an (\<'\\ Feind ron leinen Verpflichtungen be- freien. Vgl. die ausführliche Untersuchung Rubino'fl (roa. Verf. und Gesch.) I, S. 274 ff., 280.

J Ungar, Gesch. der Landst. I, 96 ff., II, 332 ff. So für Bayern die Primogeniturordnung v. 1506: „Wir als regierende Fürsten -ollen und mögen kriegen, wie wir uns und eine gemeine Landschaft dessen miteinander vertragen."

Zehnte? Capitel B. Befugnisse aller einzelnen Bestandteile. 527

Unter den neuern Verfassungen hatte ausnahmsweise die französische von 1848 dem Präsidenten zwar die Unter- handlung und Genehmigung der Verträge auch überlassen, aber die vorherige Billigung der Nationalversammlung für ein notwendiges Erfordernisz der Gültigkeit derselben erklärt (Art. 52), und haben die schweizerischen Verfassungen durchweg die Genehmigung der Verträge den repräsentativen Körpern vorbehalten. (Bundesverf. Art. 73. 5.) Insofern die Ausführung von Statsverträgen aber die Rechtssphäre auch der einzelnen Einwohner betrifft, oder in die Gesetzgebung ein- greifen, bedürfen sie der Mitwirkung des Gesetzgebers. lu

Zehntes Capitel.

li. Befugnisse aller einzelnen Bestandtlifile.

1. Das Recht, einen in die Competenz des Gesetzgebungs- körpers gehörigen Gegenstand in Anregung zu bringen, steht regelmäszig allen Theilen des Körpers zu. Sie kann eine Bitte sein (Petition), zur Vorbereitung eines Gesetzesantrages, wie nur diese gewöhnlich den deutschen Kammern vor 1848 dem Statsoberhaupte gegenüber zukam,1 oder eine Empfehlung,

10 Belgische Verf. §. G8. Die Handelsverträge, sowie diejenigen Verträge, welche den Stat belasten oder einzelne Belgier verpflichten, haben nur Kraft, wenn sie die Zustimmung der Kammern erhalten. Griechische Verf. §. 25: „Immerhin sind Handelsverträge oder alle andern Verträge, welche Bestimmungen enthalten, die der Sanction eines Gesetzes bedürfen oder die Griechen persönlich verpflichten, nur aus- führbar, insofern sie die Zustimmung der Deputirtenkammer und des Senates erlangen." Norddeutsche Bundesverf. 11: „Insoweit die Verträge mit fremden Staten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Bundesgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschlusz die Zustimmung des Bundesrates und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich."

1 Vgl. schon die französische Verfassung von 1814. Art. 19—21.

528 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

wie sie in England durch die Botschaft des Königs an die beiden Häuser und in Amerika durch die Botschaft des Prä- sidenten an den Congresz geschieht, einen Gegenstand in Be- rathung zu ziehen, oder ein Auftrag, beziehungsweise Befehl zur Berichterstattung und Antragstellung, wie die Häuser Nordamerika^ den Commissionen, und die groszen Käthe der Schweiz den Regierungen zu ertheilen pflegen. Endlich kann die Anregung mit

ii. der Einbringung eines Gesetzesantrages selbst, mit der Proposition, oder der Ausübung der sogenannten Ini- tiative im engern Sinne zusammenfalle]].

Naturgemäsz and nach der Auffassung der meisten Staten

ist es vorzugsweise die Aufgabe des Statshauptes, und seiner Regierung, die nöthigen Gesetzesanträge dem Gesetz- gebungskörper vorzulegen. In Bona war dies/ Sache der Ma- gistrate, später der Kaiser, im Mittelalter überall der Könige und Forsten. Aueh in unsern Tagen isl es die Regel geblieben, dau die Entwürfe von der Regierung ausgehen; sogar in den schweizerischen Bepubliken, deren neuen' Statstheorie (seit 1830) dieselbe nichl mehr als einen Bestandteil des Gk gebung8körpers anerkennt. Die Napoleonische Verfassung ron 1852 (§. 8) spricht dem Kaiser allein die [nitiative der Gesetze ru.

Eine Bonderbare Ausnahme mach! das englische Stats- recht, welches dem Könige allein unter den drei Theilen des Parlaments die Initiative rersagt, angeblich zur Ehre des Königs, damit nichl Bein Vorschlag der Bekämpfung ausgesetzt werde.- In Wirklichkeit indessen werden auch in England fast alle Gesetzesentwürfe rorersi ron den Ministem bearbeitet und

* Der Modus ten. pari, läset das Parlament noch durch den König in Person halten und die Vorschläge durch den kSnigl. Kanzler machen. Die spätere Auffassung BOhlosz Bioh formell wohl daran an, daft die Bills anfänglich in Form von Petitionen an den König rerfasst and ent seit Heinrich VI. (1313—1422) in Form von Parlainentsacten aufge- zeichnet wurden.

Zehntes Capitel. B. Befugnisse aller einzelnen Bestandtheile. 529

nur, wenn sie der Unterstützung der Regierung sicher sind, auf dem Wege der Motion durch ein Parlamentsmitglied ein- gebracht. :i

In der neueren constitutionellen Monarchie kann der Ge- setzesantrag nun gewöhnlich auch in jeder Kammer seinen Anfang nehmen.4 Da die Kammer in ihrer Gesammtheit erst durch die Berathung einen gemeinsamen Beschlusz hervor- bringt, so wird der Weg, auf welchem sie von diesem Rechte Gebrauch machen kann, gewöhnlich durch ein einzelnes Mitglied eröffnet werden müssen, welches erst einen indi-

3 Die englische Praxis entspricht dem richtigen Princip, welches die englische Theorie verläugnet hat, viel genauer als die Praxis mancher constitutionellen Staten des Continents, welche die richtige Theorie sanc- tionirt haben. Vgl. Sismondi , Etudes I, S. lfji: „Ohne Zweifel haben in England alle Mitglieder der beiden Häuser die Initiative und be- trachten dieselbe als ein werthvolles Vorrecht; aber sie ist in ihren Händen nur ein Mittel, die Einsicht des Parlamente auf Alles auszu- dehnen und die Mitglieder der Regierung zu nöthigen, das Ihrige zu thun. In Wahrheit werden alle Gesetze von einem Mitglied der Re- gierung vorbereitet und vorgelegt und von der Autorität des Ministeriums gehalten. Wenn es zufällig begegnen würde, dasz ein von der Oppo- sition vorgeschlagenes Gesetz durchginge, so würde das Ministerium sich zurückziehen, aber die Opposition ist ihrerseits zu weise, um sich mit dem Detail einer Maszregel zu befassen, die sie nicht zu vollziehen hätte. Wenn sie ihre Macht fühlt und der Majorität in einer Frage versichert ist, so begnügt sie sich, eine „Resolution" durchzusetzen. Diese ist nur ein Princip, welches sie annimmt oder ausspricht; die Sorge, dasselbe in ein Gesetz umzuwandeln, überläszt sie dem gegenwärtigen oder künf- tigen Ministerium." Die Vorlagen der Statsregierung werden sogar an be- stimmten Tagen vorzugsweise eingebracht. E. May. Engl. Pari. S. 222. In Schweden hatten die Stände schon nach der Verfassung von 1722, §. 72 das Recht, durch eine gemeinsame Botschaft dem Könige einen neuen in ihrer Mitte entstandenen Gesetzesentwurf zur Genehmigung vorzulegen. Vgl. Verf. von 1809, §. 81, 87.

4 Französische Verfassung von 1830, Art. 15: „La proposition des lois appartient au roi ä la chambre des pairs et ä la chambre des deputes." Belgische Verfassung §. 27. Griechische von 1844, §. IG. Bayerisches Gesetz vom 4. Junius 1848. Preuszische Ver- fassung §. 64. Oesterreichische von 186J, §. 12. Deutsche Bun- desv. §. 23.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 34

530 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Ge>etz.

vi du eil en Anzug (Motion) stellt. Das Recht der Initia- tive der Kammer schlieszt daher das Recht ihrer Mitglieder zu Motionen in sich. Damit aber dieses nicht in einer für die Kammer selbst oder das Land schädlichen Weise ausgeübt werde, ist eine wirksame Controle der Kammer selbst unent- behrlich und um so eher zu rechtfertigen, als die Antrag- stellung von Gesetzen ihrem Wesen nach keine blosz persön- liche, sondern eine s tat liehe Function ist, und nicht den Mitgliedern der Kammer als Individuen. Bondern der Kammer als einem politischen Körper zukommt. Die Mittel, deren Mch die Kammer zu diesem Zwecke bedient, sind:

a) die Erlaubnis/, oder Verweigerung der Einbrin- gung selbst; in der Regel wird jene, wenn nicht klare und gewichtige Gründe, z. B. die Besorgnisz vor schädlichem Scandal, dagegen sprechen, ertheilt werden. In England erste Lesung,

b) Die Erklärung aber die Erheblichkeit de> <- Standes nach angehörten Vortrag d<-> ICotionsstellers, in Eng- land in Form der Zulassung zu zweiter Lesung.

c) Die Vorberathung und Prüfung durch Com- missionen der Kammer oder die öeberweisung dazu an die Regierung, bevor näher in den Vorschlag eingetreten wird.

Der Napoleo nischen Verfassung von 1852 eigen- tümlich ist die Bestimmung, dasz der Gesetzgebungskörper nur die Geseteesentwürfe der Regierung beratheii and darüber abstimmen, und nur durch seine Prüfungsausschüsse den Stats- rath veranlassen darf, Verbesserungsanträge seinerseits gut zu hoisxea und unter dieser Voraussetzung dem Gesetzgebungs- k<»rper vorzulegen (§. 89, 40 .

3. Das Recht« Prüfungen [Enquites) anzuordnen, um die allgemeinen Zustände und Bedürfnisse näher zu erkunden, und daraufhin gesetzgeberische oder andere in die Competeal des Gesetzgebungskörpers gehörige bfaszregeln einzuleiten«

Wahrend die Kammern auf dem Contineni vornehmlich nur amtliche Wege benutzen, um zu dieser Einheit zu gelangen.

Zehntes Capitel. B. Befugnisse aller einzelnen Bestandteile. 531

wird dieses Recht in England schon seit langem in viel freierer und gründlicherer Weise mit weit gröszerem Erfolge von den Parlamentshäusern so geübt, dasz ihre Commissionen vorzüglich auch von kundigen Privatpersonen (Sachverständigen und Zeugen) theils mündliche, theils schriftliche Aufschlüsse begehren und auch freiwillig angebotene empfangen.

4. Das Recht, Petitionen, Beschwerden, An- sprachen (Adressen), welche auf ihre Functionen Bezug haben, in Empfang zu nehmen, und zu der Ausübung ihrer Compe- tenz zu benutzen, nötigenfalls auch darüber Beschlüsse zu fassen.

5. Das Recht, ihre Meinung, Gesinnung, Wünsche, H o f f n unge n und Besorgnisse für das Land in un ver- bindlicher Weise auszusprechen.

Das Statsoberhaupt pflegt dasselbe regelinäszig bei Ge- legenheit der Eröffnung der Kammern in der Form der soge- nannten Thronrede auszuüben. Diese ist von Rechts wegen der Ausdruck der Meinung des Königs in der constitutionellon Monarchie und nicht etwa der König das blosze Sprachrohr seiner Minister.* Aber die Minister sind verpflichtet, dieselbe zu vertreten, wie jeden andern Statsact des Königs, und es wird die Uebereinstimmung der Minister mit dem Inhalt und der Form der königlichen Rede vorausgesetzt. Daher wird die Thronrede auch von dem Könige mit den Ministern vorberathen.

Die Antwortsadressen der Kammern an den König sind ebenso der Meinungsausdruck der ersteren, und im In- teresse der Monarchie nicht minder als der Kammern liegt es, dasz dieser Ausdruck ein völlig freier der einzelnen Kam- mern sei. Die Uebereinstimmung beider Kammern darf hier nicht gefordert werden, da es sich nicht um eine verpflichtete Willensäuszerung handelt. Dieselbe verstärkt natürlich das Gewicht ihrer moralischen Autorität, aber ist keineswegs als der Ausdruck des gesammten Volkes zu betrachten, denn von

5 Vgl. oben Buch IV, Cap. 23, S. 44 i ff.

34*

532 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

diesem läszt sich das Haupt nicht trennen, und das Volk hat seine Meinung nicht völlig den Kammern übertragen.

Dagegen steht es den einzelnen oder beiden Kammern nicht zu, Proclamationen an das Volk zu erlassen. Diese enthalten nicht blosz eine freie Meinungsäuszerung, sondern sie sind mit statlicher Autorität ausgerüstet, und eine solche steht nur dem ganzen gesetzgebenden Körper, oder den Organen der Regierung zu.

Eilftes Capitel.

C. Besondere Befugnisse. I. Des Königs.

Dem Könige als dem Haupt des gesetzgebenden Körpers kommen regelmäszig folgende Befugnisse ausschließlich1 zu:

1. Die Einberufung der Kammern und die Ver- sammlung des gesetzgebenden Körpers.

Er allein ist fortwährend wach und thätig; ihm als dem Haupt gebührt es öberdem, die zerstreuten Glieder, wenn das Bedürfnisz es erfordert, um sich zu versammeln. Auch in re- publikanischen Stuten ist diese Einwirkung auf den gesetz- gebenden Körper in der Regel der Regierung belassen worden, obwohl im Widerspruch mit der sonst häufig gebildeten Theorie von der „vollziehenden Gewalt" und mit der Ausschlieszung der Regierung von dem Antheil an der ..gesetzgebenden Gewalt."2

1 Das englische Statsrecht nennt diejenigen Rechte, welche dem Könige allein, nicht auszer ihm auch noch anders Behörden oder Privaten zukommen, des Könige „Prärogative.1* Die Adoption dieser Bezeichnung ist indessen nicht zu empfehlen, indem das königliche Recht durch dieselbe den Schein des Vorrechtes erhält.

? In Nordamerika übt der Präsident dieses Recht wenigstens in außerordentlichen Fällen (Verf. TT, 3), in der Schweiz üben es die Re- gierungen gewöhnlich aus, obwohl nach nähern gesetzlichen Vorschriften.

Eilftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. I. Des Königs. 533

Eine regelmäszi ge und in kurzen Zeiträumen wieder- kehrende Versammlung des repräsentativen Körpers, im Gegensatze zu willkürlicher Berufung oder Nichtberufung durch die Regierung, ist indessen ein nothwendiges Erfordernisz seines Lebens und seiner Gesundheit. Der Mangel einer solchen Ein- richtung hat auf dem Continent sehr vieles zu dem Untergang der ständischen Verfassung, der Ueberwucherung des Absolu- tismus und den Erschütterungen der Revolution beigetragen. In England wurde schon unter Eduard III. die jährliche Versammlung des Parlaments gesetzlich vorgeschrieben:3 und obwohl auch in der englischen Geschichte einzelne Unterbrech- ungen vorkommen, und durch ein späteres Gesetz sogar nur zu drei Jahren eine Sitzung gefordert wird, so ist doch die jährliche Versammlung Regel geblieben. In neuerer Zeit ebenso sind jährliche Versammlungen in den meisten Verfass- ungen zur Vorschrift gemacht. 4

2. Die Schliessung (Prorogation) und die Auflösung (dissolution) der Kammern. Die Vertagung im engern Sinn (ajoitrncmenl), cl. h. die Verschiebung einer Versammlung innerhalb der nämlichen Sitzungsperiode von einem Tag auf einen andern steht oft nicht blosz dem König, sondern auch den einzelnen Kammern selber zu. Die Schlieszung beendigt eine Sitzungsperiode, die Auflösung hebt die Kammern selbst auf. Mit jener werden gewöhnlich die Bescheide des Königs

3 In Bayern bat die Landschaft schon 1458, dasz alljährlich ein Landtag gehalten werde. Der Herzog behielt sich aber vor, „unsere Landschaft zu fordern, so oft uns Noth sein bedünken wird." Rudhart Gesch. der Landstände in Bayern I, S. 220.

4 Nordamerika (I, 4), G riech enland (§. 30), Preuszen (§. 76), Oesterreich (§. 9). In Frankreich war die „Nationalversammlung" sogar permanent (§. 32); die jährliche Versammlung des Senats und des Gesetzgebungskörpers ist auch nach der napoleonischen Ver- fassung nothwendig (§. 11, 23, 43). In der Schweiz ist meistens über- dem der Grundsatz anerkannt, dasz eine bestimmte Anzahl von Mit- gliedern des Repräsentativkörpers die Besammlung fordern könne. Viele deutsche Verfassungen haben noch mehrjährige Sitzungsperioden.

534 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.

über die vorberathenen Gesetzesentwürfe und Wünsche der Kammern veibunden. Diese macht neue Wahlen nothwendig. Mit der Auflösung der zweiten Kammer ist die Schlieszung auch der ersten Kammer nothwendig verbunden. fi

3. Die Sanctionder Gesetze und der letzte Entscheid in allen dem gesammten Körper zustehenden Angelegenheiten.

Man hat sich in neuerer Zeit gewöhnt, die Sanction des Königs das Veto desselben zu nennen. Dieser Sprachgebrauch, von dem negativen Eechte der römischen Volkstribunen ent- lehnt, ist durchaus verwerflich, wie schon die Hinweisung auf seinen Ursprung zeigt. Die Sanction der Gesetze ist ein wesentlich positives Recht des Königs. Sie ist die Erfüllung und Vollendung, der oberste Ausdruck der gesetzgebenden Ge- walt, und keineswegs ihre Beschränkung. Sie ist auch nicht Vollzug des Gesetzes, 7 sondern Anna h m e desselben. Vorher war es kein Gesetz. Erst durch sie wird es dazu.

Es gilt das auch von dem englisches Statsrecht unzweifel- haft, angeachtet die englische Theorie von einem absoluten Veto spricht, wie schon die Sanctionsformel: ,,Le roy le veut" und die Verweigerungsformel: .,Lc roy s'&visera" beweist. Auch ist der richtige Ausdruck in manche neuere Verfassungen über- gegangen. 8

In den republikanischen Staten der neueren Zeit ist dagegen zuweilen der Regierung nur ein Veto, und zwar regelmäszig ein beschränktes (sog. suspensives Veto) eingeräumt, durch welches sie die Gültigkeit des Gesetzes beanstanden und einstweilen hemmen darf. So ist in Nord-

5 Blackstone I. 2, 7.

6 Streit darüber zwischen der ersten und zweiten Kammer in Preu- szen. Vgl. Gneist's Gutachten über die Frage.

7 Von manchen Publici.sten wird sie irrigerweise so dargostellt.

s Blacks tone I. 2, 6. Französisch e Verfassung von 1814 §.22. und J 830, §. 18: „Le roi seul sanetionne et promulgue les lois" und von 1852 §. 10; „II (l'empereur) sanetionne et promulgue les lois et les se- natum consultes." Belgische §. 69. Griechische §. 29. Nieder- ländische §. 118. Preus zische §. 62. Oesterreichische §. 12,

Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 535

amerika, wo der Präsident durch Nichtbilligung einer Bill eine neue Prüfung der Kammern veranlaszt und die Wirksam- keit des Gesetzes hindert, wenn diese nicht zum zweitenmal und nun mit einer Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen dasselbe beschlieszen.9 Die schweizerischen Verfassungen kennen selbst ein Veto der Kegierung nicht.

Zwölftes Capitel.

II. Der beiden Häuser.

1. Den beiden Häusern kommt zwar nicht das Kecht der Mitwirkung bei der Statsregierung und Verwaltung zu, wohl aber ein Kecht der umfassenden Controle. Es ist das eine der wichtigsten Unterscheidungen des constitutionellen Statsrechts. Die repräsentativen Versammlungen wären unge- schickte Organe zur eigentlichen Regierung und Verwaltung, welche eine concentrirte und fortgesetzte Thätigkeit erfordert. Aber sie sind passende Organe, um eine Meinung darüber zu äuszern, ob den Gesetzen gemäszund ob gut regiert und ver- waltet werde. Die constitutionelle Monarchie schlieszt die Re- gierung der Massen aus, aber sie erkennt an, dasz alle Volks- classen einen Anspruch darauf haben, gut regiert zu werden und sorgt daher für die erforderlichen Garantien.

Die Kammern sind daher nicht berechtigt, Befehle in einzelnen Fällen an Regierungsbeamte, auch nicht an die Mi- nister zu erlassen, und thun überhaupt wohl, sich nicht über- geschäftig in die Detailfragen der Verwaltung einzumischen.

9 Vgl. oben Cap. 6, S. 490. Bundesverfassung I, 7. Die norwe- gische Verfassung (J. 72—82) schwankt zwischen der Idee einer Sanc- tion des Königs und dem Begriff eines bloszen beschränkten Veto des- selben.

536 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Aber es kommt den Kammern allerdings zu

a) zu prüfen, ob in der Verwaltung des Statshaushalts die gesetzlichen Voranschläge und Bewilligungen eingehalten oder überschritten worden sind und im letztern Fall entweder die Verwaltung nachträglich gutznheiszen und zu entlasten oder aber den betreffenden Minister zur Verantwortung zu ziehen und zum Ersatz anzuhalten;

b) ein Verfassung^- oder ges etzwidriges Verfahren überhaupt zu tadeln, auf Verbesserung zu dringen;

c) auf öffentliche Bedürfnisse und Uebelstände die Statsregierung aufmerksam zu machen und die Befriedigung jener, die Abstellung dieser zu empfehlen :

d) auch über die hohe und insbesondere die auswärt- ige Politik eine Meinung zu äuszern und Kath zu geben. Die Regierung ist freilich an diesen Kath nicht gebunden, aber da die Kammern, wenn sie ihre Meinung ernstlich geltend machen wollen, den Ministern ihr Vertrauen entziehen und die- selben in der Verfügung über die Volkskräfte beschränken können, so bleibt den Ministern doch nichts anderes übrig, als entweder sich mit den Kammern zu verständigen oder die- selben aufzulösen und an die Wähler zu appelliren. In England sind diese Grundsätze alt hergebracht. Auf dem europäischen Continent kommen sie nur allmählich zur Geltung.1

2. Es ist eine alt englische Einrichtung, dasz alle Steuer- bewilligungen in dem Unterhause zuerst behandelt werden müssen , und das Haus der Lords in solchen Fällen nur zustimmen oder verwerfen, nicht aber verändern darf. Diese Einrichtung erklärt sich historisch daraus, dasz die Ab- geordneten der Städte und Grafschaften ursprünglich meist nur deszhalb berufen wurden, um von ihnen Steuerbewilligungei

1 St. Mill, Repräsenfcutivverfassung, S. 58. Ersk. M;iv, Englisoh« Ycrfassungsgesch. I. S. 381.

Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 537

zu erlangen.2 In der Folge konnte dafür angeführt werden, dasz die Steuern vornehmlich auf der Menge des Volkes lasten, und von der Aristokratie minder empfunden werden. Dann wurde dieselbe auch in andern Staten nachgebildet.3

Die Ausdehnung des Rechtes der Steuerbewilligung, ^welches den Kammern zusteht, ist schwierig zu bestimmen. In England hat sich das mittelalterliche Princip freier Steuer- verweigerung in weitestem Umfang in der Theorie erhalten; an eine practische Ausübung derselben aber ist dort viel we- niger als irgend anderswo zu denken, indem die Mitglieder der beiden Häuser bei dem ungestörten Fortgang des Stats- lebens voraus interessirt sind.

Auf der einen Seite ist anzuerkennen:

a) Dasz die Vorstellung des Mittelalters, wornach es keine Steuerpflicht der Unterthanen, sondern nur eine freiwil- lige Uebernahme der Steuern durch dieselben oder ihre Vertreter gibt, mit dem modernen Statsprincip unverträglich ist, nach welchem das Ganze über die Kräfte der Statsbürger, soweit das Bedürfniss desselben es erfordert, verfügen darf.

b) Dasz eine Verweigerung aller Steuern oder auch nur eines erheblichen Theils derselben bei der modernen Entwicklung des States einer völligen Lähmung des Statskörpers gleich kommt, und wenn sie auch nur eine kurze Frist anhält, den Untergang der Statsordnung nach sich zieht. Ein Recht, den Stat zu lähmen und zu tödten, kann aber einem einzelnen Gliede des Statskörpers nicht im

2 Lord Chat h am: „Die Besteurung bildet keinen Theil der Befug- nisse der Statsregierung oder der Gesetzgebung. Steuern sind eine frei- willige Gabe und Zubilligung der Gemeinen allein." Ersk. May, Engl. Verfassungsgesch. I, 394.

3 Nordamerikanische Bundesverfassung I, 7, aber ohne den Senat in der Abänderung zu beschränken. Ygl. Laboulaye, hist. des ßtats Unis IL S. 262. Ebenso die französische von 1814, §. 17. Bayerische §. 18. Badische §. 60. Portugiesische von 1826, §. 35. Spanische von 1837, §• 37.

538 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das- Gesetz.

Ernste zugestanden noch als ein Begriff des Statsreehts ver- theidigt werden.

c) Dasz das Unterhaus, wenn es die Macht , die Steuern zu bewilligen und zu versagen, völlig rücksichtslos und unbe- schränkt ausüben darf, eben damit auch die Macht besitzt, alle andern Gewalten im Stat sich unterzuordnen und so die ganze Verfassung umzustürzen: denn unter dieser Voraussetzung bliebe der andern Macht, und insbesondere dem Könige keine andere Wahl, als entweder den AVillen des Volks- hauses zu thun und damit die Fortdauer des Statshaushalts zu erlangen, oder mit dann ungesetzlicher Gewalt das Unter- haus zu bezwingen und dadurch jenes absolute Recht der Steuerverweigerung aufzuheben.

Als die preuszische Nationalversammlung im Jahr 1848 einen solchen Versach wagte, durch die Steuerverweigerung ihrer Politik den Sieg zu verschaffen, empörte sich die öffent- liche Meinung gerade des vornehmlich von den Steuern be- troffenen Theiles der Bevölkerung, geschreckl durch die uner- meszliche Statsgefahr wider diesen Versoch.

Auf der andern Seite steht es ebenso f<

a) dasz das verrasflnmgsm&szige Rechl der Steuerbe- willigung nur dann einen Sinn hat, wenn damit die Mög- lichkeil des Abschlags, d. h. das Recht der Steuer verwei- geru n g verbunden wird ;

b) dasz ohne dieses zweiseitige Rechl die Controle, welche den Kammern gegenüber der öffentlichen Verwaltung zukommt, u n w i r k s a m würde ;

c) dasz auch andere Machtbefugnisse, einseifig und rück- sichtslos auf die Spitze getrieben, wie z. B. die Kriegs lie- he it des Fürsten, das öffentliche Hecht und die Freiheit eben- so gefährden würden.

Man hat in der Absicht, den Widerstreit zu lösen, in neuerer Zeit verschiedene Vorschläge gemacht, welche (ÜB

Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. IL Der beiden Häuser. 539

Steuerbewilligungs- und das Steuerverweigemogsrecht be- schränken :

a) indem unterschieden wird zwischen einem unbeweg- lichen und einem beweglichen Budget, und nur dieses verweigert werden darf; allein auch das letztere beruht auf einem Bedürfnisz des States, und das erstere ist doch nicht unveränderlich, somit ebenfalls der Einwirkung der Kammern nicht völlig entzogen;

b) indem der Grundsatz angenommen wird: Steuern, welche zur Führung der Regierung nöthig" seien,4 dürfen nicht verweigert werden; aber die Frage: was nöthig sei, ist dem Streit ausgesetzt, und dieser fordert eine Erledigung, wie sie in zusammengesetzten State n durch ein höheres Tribunal zwar gegeben werden kann, in einem einheitlichen State kaum zu organisiren ist, ohne die Einheit des States und die Attri- bute seiner Gewalten zu stören;

c) indem die alten Steuern fortdauern, die Verweigerung nur die neuen betrifft.6

Die einfachste Lösung ist wohl die, wenn keine äuszer- liche Beschränkung eingeführt, wohl aber die der inneren Bestimmung des Steuerbewilligungsrechtes selbst innewoh- nende beachtet wird. Diese Bestimmung aber ist keine andere, als für den Statshaushalt zu sorgen, dem hinwieder die Existenz und Wohlfahrt des Stats in seiner verfassungsmäszigen Gestaltung zu Grunde liegt, nicht aber die, als ein Hebel für die politische Macht der Kammern zu dienen, und deren Uebergriffe zu unterstützen. Demgemäsz hat die Kammer volle Freiheit, die Steuern zu bewilligen oder zu versagen, beides aber nicht aus fremdartigen, sondern vornehmlich aus Motiven der Statsöko- nomie : folglich je nachdem sie eine Ausgabe für gerechtfer- tigt oder überflüssig hält, je nachdem die Art der Steuerer-

4 Deutscher Bundesbeschlusz von 1831 III. und von 1836.

5 Preuszische Verfassung, §. 109. Vgl. auch die bayerische Verfassung VII, §. b.

540 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

hebimg ihr gerecht und zweckmäszig erscheint oder nicht. Eine Verweigerung der Steuern im allgemeinen ist daher im- mer ein Miszbraueh und ein Unrecht, denn nie läszt sich diese aus Gründen des Staatshaushaltes, der gesicherter Einnahmen bedarf, rechtfertigen.6

Wohl aber läszt sich eine Steuerverweigerung im einzel- nen und ebenso die Ermächtigung zu gewissen Ausgaben dann vollständig rechtfertigen, wenn die Kammer ernstlich besorgt, dasz jene Steuer zu verwerflichen Zwecken miszbraucht würde, oder diese Verwendung ungeeignet wäre. Diese Besorgnisz wird natürlich eher entstehen und schwerer ins Gewicht fallen. wenn sie überhaupt kein Vertrauen hat zu der Politik der Mi- nister. Man darf es daher nicht tadeln, wenn die Kammern, gegenüber einem unpopulären Ministerium sich eher karg als freigebig erweisen, wenn gleich darin unter Umstände« eine mittelbare Nöthigung der Minister zum Rücktritt liegen mag.

3. Mit dem Rechte der Steuerbewilligung ist gewöhnlich auch das Recht der Zustimmung zur Aufnahme von Dar- lehen für den Stat und zum Verkauf und zur Verpfandung der Domänen verbunden-7

4. Ebenso hängt mit beiden zusammen und ist vorzugs- weise die Form des modernen, den ganzen Stat umfassenden Haushaltes: die Bewilligung des Voranschlags (Budget) aller jährlichen Einnahmen und Ausgaben des States, und die Vorlage der Statsr echnung an die Kammer zur Prüfung und Gutheissung.8

Auch in den Budgetberatliungen nimmt das Volkshaus

6 Das ist denn auch der wahre Sinn der öfter vorkommenden Vcr- fassungsbestimmung : „Die Stünde dürfen die Bewilligung der Steuern mit keiner Bedingung verbinden." Bayern VII. g. !».

7 Bayerische Verfassung VII, §. 11—18. Die Stünde sind bei der 8chuldentilgung3commissioD sogar durch Commissäre betheiligt. Preu- Bzisohe Verfassung, §. 103.

1 Bayerische Verfassung VII, §. 4, 10. Belgische §. 115,116. Preuszische §. 99. 104. Oesterreichiscbe §. LO.

Zwölftes Capitel. C. Besondere Befugnisse. IL Der beiden Häuser. 541

gewöhnlich eine hervorragende Stellung ein, indem dieselben nach englischem Vorbild da beginnen müssen, und in den meisten Monarchien das Oberhaus nur das Recht hat, die Ge- sammtanträge anzunehmen oder zu verwerfen, nicht aber im Einzelnen Verbesserungen zu machen; in den Republiken tritt der Unterschied zwischen den beiden Häusern weniger stark hervor.

Dieses Uebergewicht des Volkshauses darf jedoch nicht dahin überspannt werden, dasz die höhere Autorität des Ge- setzes beeinträchtigt wird. So weit durch Gesetze oder durch zu Recht bestehende Verträge und dauernde Anordnungen die Einnahmen und Ausgaben festgestellt sind, ist diese Feststellung auch in dem Budget8 zu beachten. Es darf nicht, was die sammtlichen Factoren der Gesetz- gebung gemeinsam geordnet haben, durch eine Verfügung eines einzelnen Factors willkürlich geändert werden. Nur innerhalb der Rechtsordnung, die bona fide anzuerkennen ist, haben die Bewilligungen vorzüglich der Ausgaben einen freien Spiel- raum. Der gröszte Theil des Budgets hat demgemäsz einen nothwendigen und dauernden Rechtscharakter.9

5. Als letztes Mittel, um ihrer Controle Nachdruck zu geben, ist den Kammern das Recht verliehen, die Minister zu persönlicher Verantwortung zu ziehen, und einen Statsprocesz gegen dieselben einzuleiten.

In England hat sich dieser Procesz dergestalt entwickelt, dasz die Anklage der Minister ausschlieszlich von dem Unterhause ausgeht.10 Man nimmt an, dasz hierin das Unterhaus vorzugsweise das durch ein verwerfliches und schäd- liches Regierungsverfahren beleidigte und verletzte Volk reprä- sentire. Dasselbe System ging auch in die Verfassung Nord-

9 Tgl. R. Grneist: Budget und Gesetz nach dem constitutionellen Statsrecht Englands mit Rücksicht auf die deutsche Reichsverfassung. Berlin 1867.

10 Vgl. Acte über die Thronfolge von 1801.

542 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

amerika's (I. 2.) über, in der weiteren Ausdehnung jedoch dasz dem Hause der Repräsentanten das Recht der Anklage gegen ,, untreue Statsbeamte" überhaupt, den Präsidenten in- begriffen, zugesprochen wurde; es wurde sodann in die Ver- fassungen des Continents vielfach verpflanzt. 1 1 Einzelne deutsche Verfassungen erschweren die Anklage der Minister durch das Erfordernisz der Vereinigung bei der Kammern, oder gestatten zwar die Klage jeder von beiden Kammern, aber stumpfen die politische Schneide der Klage, indem sie dieselbe in ein Verfahren vor einem auszerhalb der Kammern stehenden Stats- gerichtshof verweisen. ' *

6. Nach englischem Statsrechte geziemt es dem Ober- hause allein, über die Statsanklagen des Unterhauses zu richten. Die Klage im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt wird als Volkssache, die würdige und gerechte Beurtheilung als der Beruf der Aristokratie betrachtet.1'* Auch die Nord- amerikaner haben die Beurtheilung der Statsanklagen dem Senate zugetheilt, obwohl ihr gewählter Senat weniger un- abhängig ist als das englische erbliche Oberhaus, und obwohl sie sonst mehr als alle andern Völker auf eine scharfe Aus- scheidung der verschiedenen Statsgewalten groszen Werth legen. Der ursprüngliche Verfassungsentwurf hatte die Beurtheilung dem obersten Gerichtshöfe zugesprochen. Aber nach gründ- licher Erörterung erhielt das englische System den Vorzug, hauptsächlich aus folgenden Gründen der Politik und der Ge- rechtigkeit :

a) Die Wichtigkeit und Schwierigkeit solcher Klagen haben bewirkt, dasz das Volkshaus ausschlieszlich für berufen erklärt wurde, dieselben zu erheben. Der groszen und mächtigen

11 Französische von 1814, §. 55. Belgische §. 90.

12 Bayerische Verfassung X, §. 6. Bayerisches Gesetz vom 4. Junius 1848 und vom 30. März 1850. Preuszische §. 61. Vgl. unten Buch VII, Cap. 5.

13 Blackstone IV. 19, 1.

Zwölftes Capifcel. C. Besondere Befugnisse. II. Der beiden Häuser. 543

Autorität des Klägers gegenüber erscheint aber ein gewöhn- licher Gerichtshof zu schwach, und nur die Unabhängigkeit und das Ansehen einer andern nicht minder hohen Macht kann hier das erforderliche, für die gerichtliche Würde und das öffentliche Vertrauen unentbehrliche Gleichgewicht herstellen.

b) Diese Klagen beziehen sich auf politische Verhält- nisse, deren richtige Würdigung eine Menge von Kenntnissen und Erwägungen voraussetzt, wie sie von Statsmännern wohl, nicht ebenso von bloszen Rechtsgelehrten erwartet werden dürfen.

c) Das politische Miszverhalten ist so mannichfaltig, dasz hier genaue Vorschriften des positiven Rechtes, die sonst den Richter binden, nicht möglich sind, und das ganze Verfahren dem freieren Ermessen des Gerichtes überlassen werden musz. Diese Eigenthümlichkeit einerseits und die Gefahr andererseits, dasz gerade bei solchen Processen die Leidenschaften der Par- teien in ungewöhnlichem Grade aufgeregt werden, machen es doppelt wünschenswerth, dasz eine zahlreiche und durch ihre hohe und unabhängige Lebensstellung ausgezeichnete Ver- sammlung den Entscheid habe.14

Darin aber unterscheidet sich das englische von dem nordamerikanischen System, dasz nach jenem das Ober- haus jede Strafe aussprechen darf, und kein zweites gewöhn- liches Proceszverfahren mehr möglich ist, während nach diesem der Senat nur die politische Strafe der Entfernung vom Amte und der Unfähigkeitserklärung zu weiterer Be- trauung mit öffentlichen Aemtern verhängt, und der Ueber- führte mit Bezug auf die gewöhnliche Criminalstrafe wegen eines Verbrechens noch der Beurtheilung der Geschworenen nach dem Gesetz anheimfällt. 15

Auch die französische Charte von 1814 (§. 33) erhob die Pairskammer zu einem Gericht über die Verbrechen des

14 Vgl. denFederalis t und die näheren Ausführungen inStory's Comm. III, 10, §. 102.

15 Bundes ver f. I, 3.

544 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Hochverraths und der Gefährdung der Staatssicherheit, und zwar nicht blosz wenn die Deputirtenkainmer Kläger, noch wenn die Minister oder andere Beamte Beklagte waren. Diese Einrichtung wurde denn auch in manchen romanischen Ver- fassungen wieder nachgeahmt. 16

In den deutschen Verfassungen sind der ersten Kammer auch bei politischen Vergehen gewöhnlich keine richterlichen Befugnisse zugestanden, sondern die Beurtheilung solcher Klagen wird an Gerichtshöfe verwiesen.17 Wir werden unten bei Be- trachtung der Ministerverantwortlichkeit darauf zurückkommen.

7. Jedes Haus übt bei sich Haus recht und sorgt selbständig für die Handhabung der innern Ordnung. Zu diesem Behuf kommt dem Präsidenten und der Versammlung eine Disciplinargewalt zu, welche in England sehr aus- gedehnt, auf dem Continent gewöhnlich beschränkt ist.

8. Gesetze, welche sich auf die Zusammensetzung und die Rechte des Oberhauses beziehen, müssen in Eng- land zuerst im Oberhause eingebracht, und dürfen im Unter- hause nur angenommen oder verworfen, nicht aber amendirt werden. 1S

9. Eine eigenthüm liehe Stellung und Aufgabe hat der Senat in der neuen Napoleonischen Verfassung. Er hat

a) das Hecht, die Promulgation eines Gesetzes durch seine Opposition (Veto) aus dem Grunde zu behindern, dasz dasselbe der Verfassung oder der Religion oder der Moral, oder der Cultusfreiheit oder der individuellen Freiheit, oder der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz oder der Unverletzlich- keit des Eigenthums und dem Grundsatz der Unentfernbarkeit

16 Portugal von 1826, §.40. Neapel von 1818, §. 48. Griechen- land. §. 84.

,7 Bayern X, §. 7. Belgien, §. 90. Niederlande, §. 177, 179. Preuszen, §. 95.

18 Blacks tone I, 2. 4. Vgl. Mühry in Mittermaier's Zeitschrift XXIV, S. 309.

Dreizehntes Capitel. Von den Gesetzen. I. Arten der Gesetze. 545

des Kichterstandes widerspreche; oder die Verteidigung des Landes beeinträchtige (§. 26);

b) die Befugnisz, durch Senatus consulte die Lücken der Verfassung zu ergänzen (§. 27);

c) die C a s s a t i o n aller verfassungswidrigen Acten (§. 28) ;

d) die Anregung zu neuen Gesetzen und Verfassungs- änderungen.

Dreizehntes Capitel.

Von den Gesetzen, J. Alten der Gesetze.

Die Römer verstanden anfänglich unter Lex jede Rechts- verbindlichkeit, welche auferlegt worden. Publica lex war dann die dem Volke selbst auferlegte und von ihm gut- geheiszene Rechtsverbindlichkeit. Das Volk nimmt das Gesetz auf sich , und wird durch dasselbe gebunden. Der Magistrat fordert das Volk zur Uebernahme der Verbindlichkeit auf. ' Das römische Gesetz war daher ursprünglich weniger eine Vor- schrift, welche das Volk erliesz, als eine Verpflichtung, welcher sich das Volk unterzog. Später aber nannten auch die Römer vorzugsweise die allgemeinen von der Volksversammlung fest- gesetzten Rechtsregeln und Ordnungen Gesetze.2

In der neueren Rechtssprache wird der Ausdruck Gesetz in verschiedenem Sinne gebraucht:

a) Um überhaupt jede allgemeine Rechtsbestim- mung, Rechtsregel, oder jede dauernde Rechtsord-

1 Populus legem accipit, tenetur lege, magistratus fert legem. Vgl. Rubino, Untersuchungen I, S. 352 ff.

2 Atejus Capito bei Gellius Noctes Atticae X, 20: „Lex est generale jussum populi aut plebis rogante magistratu." Gajus, Inst. I, §. 3: „Lex est, quod populus jubet atque constituit.'"

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 35

546 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Korper und das Gesetz.

nung, Institution zu bezeichnen, somit auch die des Ge- wohnheits- oder des wissenschaftlichen Rechts, und selbst die Statuten von Privatvereinen.

b) In etwas beschränkterem Sinne jede von einer öffent- lichen Autorität im State ausgesprochene Eechtsregel oder Rechtsordnung, nach welchem Sprach gebrauche auch dieEdicte der römischen Magistrate, die Decrete und Rescripte der Kaiser, die Statuten der Räthe in den Städten und die Weisthümer und Offnungen des Mittelalters, und in neuerer Zeit die Re- gierungsverordnungen Gesetze heiszen.

c) Im eigentlichen Sinne versteht mau unter Gesetz nur die von der obersten gesetzgebenden Gewalt, dem Gesetz- gebungskörper, mit höchster statlicher Autorität ausge- rüstete dauernde Rechts re gel und Rechts Institution, im Gegensatze zu allen andern Rechtsansprüchen und Anordnungen, sowohl durch andere Organe des States als zu den Beschlüssen des Gesetzgebers selbst, in einzelnen Fällen eines momentanen Bedürfnisses.

Mit Rücksicht auf ihren Inhal f werden unterschieden:

a) Verfassung s- und Grundgesetze, durch welche die Grundeinrichtungen des States, zuweilen auch die Grund- rechte seiner Bürger uml Einwohner normirt werden.

b) Organische Gesetze, welche innerhalb der Grund- gesetze die Verfassung im einzelnen weiter ausbauen und ausbilden.

Insofern beide auf der organ i sirenden Tliätigkeit des Gesetzgebers beruhen, (das gilt von den Grundrechten nicht) begründen dieselben n o t li w e n d i g e s , bindendes Recht, und sie haben durchweg einen eminent politischen Cha- rakter, gehören daher vorzugsweise dem jus publicum an. Neue Verfassungs- und Grundgesetze aber bedürfen um ihrer Wich- tigkeit willen in manchen Staten einer strengeren Form und erhöhter Erfordernisse als die gewöhnlichen organischen besetze.3

3 Schweiz. Bundesverfassung von 1843, Art. Mi. „Die revidirto

Dreizehntes Capitel. Von den Gesetzen. I. Arten der Gesetze. 547

c) Regierun gs- (Verwaltung^-) Gesetze und poli- tische Gesetze im engeren Sinne, sowohl zur Normirung der Regierungsweise als der politischen Rechte der Bürger im einzelnen. Dieselben sind nicht immer von bindender Natur, wohl aber meistens von bestimmendem und näher begränzendem Inhalt, sowohl für die Thätigkeit der öffentlichen Gewalten, als für die Ausübung der Freiheitsrechte.

ä) Finanz-Gesetze zur Normirung des Statshaushalts. Sie enthalten ebenfalls öffentliches Recht (jus publicum), sind aber oft nicht von bindendem Charakter , sondern ent- halten nur eine Ermächtigung der Regierung, z. B. den Credit des States zu benutzen und Steuern zu erheben.

e) Straf- und Polizei gesetze, in der Regel Ver- bote und Strafandrohung enthaltend, und daher wieder von zwingendem Charakter, gewöhnlich aber dem richterlichen Ermessen einen freien Spielraum zur Entscheidung offenlassend, je nach den besonderen Verhältnissen einzelner Uebertretungen jener Verbote.

/) Privat rechtliche Gesetze zur Regulierung und Sicherstellung der privatrechtlichen Verhältnisse. Nur aus- nahmsweise, und zwar wenn öffentliche Tuteressen bestimmend einwirken, sind dieselben bindend. Tn der Regel haben sie nur einen erklärenden Charakter, mit Vorbehalt der indi- viduellen Willensbestimmung der einzelnen Privatpersonen, welche im Privatvertrag ihr eigenes Gesetz machen, und be- stimmen nur, was als regelmäszige Rechtsmeinung der Parteien betrachtet und gehalten werden soll, wenn diese nichts Abweichendes festsetzen.4

Eine besondere Berücksichtigung erfordern noch diejenigen Ausnahmsgesetze, welche wir Privilegien zu nennen pflegen.

Bundesverfassung tritt in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der stimm- enden Schweizerbürger und von der Mehrheit der Cantone angenommen worden ist."

4 Vgl. Savigny, System des röm. Rechts I, S. 58.

35*

548 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Man hat diesem Ausdrucke zuweilen eine ganz ungebührliche Ausdehnung gegeben, und dadurch die Abneigung, welche unser nach Gleichheit des Eechtes strebendes Zeitalter gegen die Privilegien nährt, auch auf Institutionen hingelenkt, welche durchaus nicht den Charakter von Privilegien an sich tragen. Man hat z. B. alle königlichen Rechte Privilegien genannt, weil sie der einzigen Person des Königs zustehen. Nach diesem falschen Sprachgebrauch würde und müszte fast das ganze Y erfassungsrecht des States als eine Anhäufung von Privi- legien betrachtet werden, denn jedem einzelnen Organe kommen besondere und aussehlieszliehe Rechte zu, während dasselbe gerade vorzugsweise von dem Geiste des Ganzen erfüllt und seinem Wesen nach also von normaler Natur ist.

Die Privilegien sind immer Ausnahmsgesetze und zwar :

a) Entweder individuelle Ausnahmen von der regel- mäßigen Rechtsordnung und dem gemeinen Rechte, Als stats- rechtliche Privilegien von dieser Art sind z. 13. der Ostra- eismus der Athener und die Verbannung der Bourbohen aus Frank- reich, zu erwähnen,* als privatrechtliche die G-ewerbsmoaopole.

b) Oder Ausnahmsregeln, welche eine gewöhnlich durch äuszere Motive des Nutzens und der Zweckmäszigkeit gerechtfertigte oder entschuldigte Abweichung von dem unter gleichen Verhältnissen Bonsl gleichartigen gemeinen Rechte und somit anomales Rech.4 (jus singulare, im Gegen- satz zum jus commune) enthalten.6 Die Majestätsrechte des Königs, die Pairschafi der englischen Lords, die Qnabsetzbar- keit der Richter sind normale Rechte, die Immunitäten der Geistlichkeit, der besondere Gerichtestand der Adeligen, die

Römische XII Tafelgesetze l\. „Privilegia ne inroganto." f> Paulus in L. in. I). de Legibus i I, :'»): „Jus singulare est, quod contra tetwrem rationis propter quandara utilitatera introductum est4u Julianas in L. 15. eod.: „Quod rero contra rationem juris est, nun eit producendum al consoquentiai." Vgl. Savigny, System I, 6i.

Vierzehntes Capitel. Form und Erzeugung der Gesetze. 549

Ausschlieszung der Juden von allen öffentlichen Stellen und Aemtern, die ausgedehntere Testirbefugnisz der Soldaten da- gegen sind Privilegien in diesem Sinne. Oft begegnet es, dasz was ursprünglich normales Kecht war, im Verfolg der Zeit unter veränderten Umständen zu grundlosem Privilegium wird, und gerade diese Privilegien sind es, die den meisten Hasz auf sich gezogen haben. In früheren Zeiten z. B. konnte die Steuerfreiheit der Kitter, die mit Leib und Leben dem State dienten, als durchaus normales Kecht betrachtet werden, im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderte aber war die Steuerfreiheit des Adels ein bloszes Privilegium geworden.

Vierzehntes Capitel,

II. Form der Erzeugung der Gesetze.

Es lassen sich vier Momente unterscheiden: 1) die Bil- dung des Gesetzesvorschlags, 2) die Berathung über denselben, 3) die Annahme und 4) die Verkündigung des Gesetzes.

1 . Der Gesetzesvorschlag bildet die Grundlage der weiteren Berathung und enthält das ganze künftige Gesetz in sich. Eine sorgfältige und gute Fassung des Vorschlags ist daher in der Regel entscheidend für alles Uebrige. Ein in der Anlage oder ersten Ausarbeitung miszrathener Vorschlag wird durch die Berathung schwerlich gut gemacht, so wenig als ein schlechtes Gedicht durch die Kritik. Ein gutes Gesetz ist ein Kunstwerk, und wer den Vorschlag zu machen hat, soll ein Meister sein.

1 Tgl. für England Ersk. May. Das engl. Parlament und seine Verfassung, übers, von Oppenheim. Leipzig 1860 und für die Ver- einigten Staten von Amerika: L. S. Cushing law and Practice of legislative Assemblies in the United States of America. Boston 1856.

550 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Im Alterthum wurde der Vorschlag gewöhnlich indivi- duell behandelt; zu Athen konnte jeder Bürger, zu Rom nur ein Magistrat ihn stellen. Immer aber war die Vorbe- rathung und Begutachtung dort des Eathes, hier des Senates nöthig. In unserer Zeit werden die Vorschläge meistens von der, R e g i e r u n g , seltener von Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung eingebracht, setzen aber auch im ersteren Falle die individuelle Arbeit eines Kedactors voraus, wenn sie in Form und Inhalt wohlgerathen ausfallen sollen.

2. Ist der Vorschlag (Entwurf) eröffnet, so unterliegt er nun der Berathung, und diese ist entweder Vor berat h- ung oder eigentliche Berathung.

Die Vorberathung hinwieder kann in formloser Weise vor sich gehen. Bei den Römern dienten die Con- cionen dazu, welche den Comitien vorhergingen und darauf vorbereiteten. In neuerer Zeit geschieht dieselbe hauptsäch- lich durch die öffentliche Discussion in der Presse, kann aber gar wohl auch durcli Privatarbeiten and Eingaben anderer Art gefördert werden. Soll diese Vorberathung benutzt werden

und gewisz ist es jederzeit wichtig, dasz die öffentliche Meinung Gelegenheit erhalte, sich in freier Weise zu äuszern,

so ist erforderlich, dasz der Entwurf des Gesetzes vor der Hauptberathung in den Kammern öffentlich bekannt gemacht werde.

Wichtiger noch ist die geordnete Vorberathung durch die Kammern seilet. Zu diesem Behuf bedarf es der Ausschüsse, C o m m i s s i o n e n.

Sehr ausgebildet ist das englische System der Com- missionen, ihrer Prüfungen und Berichte. In wich- tigen Fällen verwandelt sich das ganze Haus in eine Com- mission und der Sprecher verläszt seinen Sitz, in andern Fällen werden je im einzelnen Fall besondere Ausschüsse ge- wählt und dabei die löbliche Sitte beachtet, die verschiedenen Parteien in den Ausschüssen vertreten zu lassen. Berühmt

Vierzehntes Capitel. IL Form und Erzeugung der Gesetze. 551

und mit Eecht sind die englischen Prüfungen, um ihrer Gründlichkeit, ihres Reichthums und ihrer lebendigen Anschau- ung willen. Es werden nicht allein amtliche, sondern auch Privatberichte von kundigen Männern eingezogen, und mehr noch mündlich durch persönliche Einvernahmen und Gespräche als schriftlich verkehrt. Dann erst wird dieser umfassende Stoff in dem Berichte verarbeitet und die Anträge der Com- mission darauf gestützt.

Verschieden ist sowohl die französische und preus- sische Methode, das ganze Haus in eine Anzahl Bureaus durch das Loos zu vertheilen, und von den Bureaus die Aus- schüsse bestellen zu lassen, als die bayerische, ständige Ausschüsse durch die Kammer zu erwählen.

Der Wechsel der verschiedenen Formen je nach der ver- schiedenen Art der Fälle ist wohl das beste System. Unter allen Umständen aber ist darauf der gröszte Werth zu legen, einerseits, dasz in die Ausschüsse je die sachkundigsten und urtheilfähigsten Mitglieder von verschiedenen Parteien und Richtungen bezeichnet werden, andererseits, dasz die Aus- schüsse ihre Untersuchung und Nachfragen nicht auf bureau- kratische Wege beschränken müssen, sondern in der Einver- nahme sachkundiger Personen frei verfahren dürfen.

Für die Hauptberathung innerhalb der Kammern selbst sind folgende Momente zu beachten:

a) Die Redefreiheit der einzelnen Mitglieder. Dieselbe darf nicht beschränkt werden

a) durch Instructionen der Wähler, denn wieBurke zu seinen Wählern sprach: „Das Parlament ist nicht ein Gesandtencongresz für unter sich abweichende und feind- liche Interessen, welche Jeder als ein Agent und Anwalt gegen andere Agenten und Anwälte aufrecht erhalten musz, sondern das Parlament ist eine berathschlagende Versammlung Eines Volkes mit Einem Interesse, dem der Gesammtheit, wo weder örtliche. Absichten noch Vorur-

552 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

theile, sondern das von der allgemeinen Vernunft der Ge- sammtheit anerkannte Gemeinwohl leiten soll."2

Die Zulassung der Abstimmung durch bevollmächtigte Stellvertreter von Seite der Lords im englischen Oberhaus (vote by proxy) ist ein in das moderne Kepräsentativsystem nicht passender Rest des früheren ständischen Wesens.3

ß) Eben so wenig darf sie durch vorherige Ab- stimmungen in den Parteiclubbs der Kammermit- glieder gebunden werden. Diese mögen zai besserer Vor- bereitung auf die Berathungen sich verbinden, aber über dem Parteiinteresse steht die allgemeine Wohlfahrt, und diese versagt jeden Versuch eines derartigen Zwangen '

2 Burke, Rede von 1774, Vgl. "Washington^ Brief vom 15. Nov. 1786: „In nationalen Angelegenheiten mag man wohl die Gefühle des Bezirks, aber nicht den Willen des Bezirk-; aussprechen, und man nm>7 den Abgeordneten die Befugnisz lassen , je nach den Umständen und je nach vorgelegten Aufklärungen zu artheilen. " Franz 5 8. Verfassung 1848, >;• 3 i : „Lea membres de L'Assemblee nationale sont les represen- tants, non du Appartement qui les nomine, mais de la France entiere."

„II- nc peurent recevoir de mandat imperatif." Bayerische Verf. ^. 25, Eidesformel: „Ich schwöre in der Btänderersammlung nur des ganzen Lande« allgemeines Wohl und Beste, ohne Rücksicht auf besondere Stände oder (Jlassen, nach meiner innern Ueberzeuguns zu berathen." Preuszische Verf. §. 83: „Die Mitglieder heider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Ueber- zeugung und sind an Aufträge und Instructionen nicht gebunden/

3 Blacks tone I. !. i. Bayerisch« Verf. g. 17: .Kein Mitglied der ersten und zweiten Kammer darf sich in der Sitzung durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen. tt

Ansprache des Münchener Constitutionen -monarchischen Vereins vom 17-Mai 1849: „Nimmermehr darf die blosze Partei, beisse sie Rechte oder Linke, die Stimme eines Volks abgeordneten zum voraus für -ich gefangen nehmen, ihn zum bloszen Parteiabgeordneten erniedrigen, seine Ohren den Gründen seiner Gegner verschlieszen, über seine freie Stimme nach ihrem Belieben verfügen, die freie Berathung in der Kammer, die alle Parteien in sich vereinigt, stören, die AVirkung der allseitigen Er- örterung der Volksinteressen hemmen, die Freiheit der gemeinsamen Verhandlung und Abstimmung fesseln und die Thätigkeit des Ganzen unterbrechen. *

Vierzehntes Capitel. II. Form und Erzeugung der Gesetze. 553

y) Sie darf auch nicht bedroht werden durch die Ge- fahr von Verfolgungen. Es ist ein allgemein aner- kannter Satz des modernen Statsrechtes , hervorgebracht durch das hohe Nationalinteresse der parlamentarischen Eedefreiheit, dasz kein Mitglied des gesetzgebenden Kör- pers für seine in demselben geäuszerten individuellen Meinungen oder für seine Abstimmung gerichtlich ver- folgt noch überhaupt auszerhalb des gesetzgebenden Kör- pers selbst zur Kechenschaft gezogen werden dürfe.5 Dagegen ist es die Sorge des Präsidenten und der Kammer selbst, die Debatten in gemessenen Schranken der Ordnung und des Anstands zu halten, Ungebühr zu rügen (Ordnungruf, Entziehung des Worts) und grobe Verletzungen ernster, nötigenfalls wie in England mit Verhaftung oder in Deutschland mit Ausstoszung aus der Kammer zu bestrafen. Die Würde und die Autorität sowohl als die Art und die Grösze ihrer Aufgabe erfordern eine unnachsichtige Handhab- ung solcher Ordnung und einen entschiedenen Nachdruck auf Bewahrung des guten Tones und des parlamentarischen An- standes. 6

5 Englische Bill of rights von 1G8CJ. Blacks tone I. 2, 3. Story Coram. III, St. 12, §. 124 und St. 10, §. 100. Bayerische VII, §. 27. Belgische §. 44. Griechische §. 55. Preuszische §. 84. Das Princip ist auch in die s ch weizeris chen Verfassungen übergegangen.

6 Sismonäi, ßtudes sur les const. des peuples libres I, 145: „Jeder Tumult, jede Gewaltsamkeit der Sprache, jede Reizung zum Zorne und zu den Leidenschaften des Hasses, sind nicht blosz Beleidigungen der nationalen Würde, sie sind auch Angriffe auf die Freiheit, auf jene Souveränetät der nationalen Vernunft, welche das schönste Vorzugsrecht der freien Völker ist. In Frankreich haben die Stürme der Volksleiden- schaften den Geist der Repräsentation getödtet und kaum dessen Form stehen lassen. "Wie kann die öffentliche Achtung vor einer Kammer be- stehen, die immer ungeduldig, immer leidenschaftlich aufgeregt erscheint, wenn sie nicht aufmerksam ist? Kann die Nation sich vorstellen, dasz diese Versammlung ihre Einsichten widerstrahlt und ihren Geist zu- sammenfaszt? Das Schicksal der Freiheit, der endliche Sieg der Sache der Menschheit ist gefährdet durch diese verderbliche Manier, welche in

554 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

b) Das Kecht Verbesserungs antrage (amendements) zur Sprache zu bringen wird nun gewöhnlich nach dem Vor- gang der Engländer den Mitgliedern der Versammlung zuge- standen, auf dem Continent aber weit unmäsziger geübt als in England.7 Unbedenklich mag es von den Ausschüssen und in den Ausschüssen in weitem Umfange geübt werden. Für die Hauptberathung der Versammlung aber gibt es der Gründe genug, um ähnlich wie die Motionen so auch die Verbesserungs- anträge der Mitglieder innerhalb gewisser Schranken zu weisen, welche die Versammlung vor Ueberraschung schützen und vor Miszgriffen bewahren sollen, und dafür sorgen, dasz nicht die Harmonie und die Absicht des Gesetzes Schaden leiden.

c) Die Notwendigkeit wiederholter Berathung, bevor

neuerer Zeit sicli über alle repräsentativen Riithe verbreitet, durch diese Beifallsbezeugungen , welche denen zu Theil werden, die sich in dem Ausdrucke der Leidenschaft oder in dem Talente beiszenden Spottes aus- zeichnen, durch diese Sucht zu glänzen, welche den Ton der Wahrheit und die Gedanken der Weisheit für einen Triumph der Tribüne hergibt. Und doch ist es nur der Triumph eines Tages, dem bald die Miszbilligung folgt, welche der ganze Körper auf Bich zieht, und der Miszoredit selbst der Institutionen der Freiheit. E> isi Zeil auch für England, auf seine alten parlamentarischen Gewohnheiten und auf sein altes Gefühl für Schicklichkeit zurückzugehen, und es tat Zeh für alle Andern freien Staten, von England zu lernen, dasz die repräsentativen Formen ihren Nutzen verlieren und in Verachtung fallen, wenn sie nicht durch die "Würde, durch die Urbanität und die Leidenschaftslosigkeit der Verhand- lung gehoben werden. u Feine Bemerkungen über die „Taktik der ge- setzgebenden Versammlungen" hat der Engländer Bcntham mit Bei- hülfe des Genfers Dumont unter diesem Titel herausgegeben.

7 Sismondi, (Etudcs I, 164): „Die Mitglieder der beiden Häuser haben das ausgedehnteste Recht der Amendements, aber sie haben zu viel Weisheit, um sich der Redaction des Gesetzes zu bemächtigen; sie überlassen alle Ehre und alle Mühe derselben den Urhebern der Bill, und ermüden die Versammlung nicht durch eine unendliche Reihe von Abstimmungen im Einzelnen. Die Opposition concentrirt ihren Angriff in einen einzigen Yerbesscrungsantrag, der ihr ganzes System darlegt, und darüber verlangt sie die Meinung des Hauses, the sense of the House. Geht der Antrag durch , so läszt das Ministerium die Bill fallen oder zieht sich auch wohl selber zurück,"

Vierzehntes Capitel. II. Form und Erzeugung der Gesetze. 555

es zur endlichen Abstimmung kommt, sichert die Reife der Meinungs- und Willenserzeugung. In England wird drei- malige Lesung des Gesetzesentwurfs erfordert, je nach Zwischenräumen. Die erste Lesung bedeutet nur, das Haus bekannt machen mit der Vorlage und es auffordern, dieselbe in Berathung zu nehmen. Sie wird nur versagt, wenn das Haus von Anfang an entschlossen ist, die Frage nicht zu er- örtern oder das Princip des Vorschlags zu verwerfen. Wicht- iger ist die zweite Lesung. Diese wird schon öfters verweigert. Wird sie bewilligt, so ist das regelmäszig die Einleitung zu einer allgemeinen Comite-Berathung, welche das Detail fest- stellt. Erst wenn die ganze Arbeit reif ist, kommt es zu der dritten entscheidenden Lesung, bei welcher nur noch Redac- tionsverbesserungen zuläszig sind.8

Auf dem Continente ist die einmalige Lesung meistens als Regel anerkannt. Da indessen gewöhnlich auch da Aus- schuszberathungen der Hauptverhandlung vorangehen und der Entwurf schon früher eingebracht war, so ersetzt diese ein- malige Lesung die englischen zweite und dritte. Nur aus- nahmsweise z. B. für Verfassungsgesetze schreiben einzelne Verfassungen, z. B. die preuszische, eine wiederholte Abstimmung vor, seltener, wie z. B. in Zürich für alle Gesetze.

d) Eigenthümlich war die Methode der Athener zur Verfechtung des alten Gesetzes gegenüber von neuen Ent- würfen, besondere Anwälte von Statswegen zu bestellen. In einem Zeitalter der Neuerung wie das unsrige wäre solche Vorsicht kaum überflüssig, und würde zu gründlicher Betracht- ung und Vergleichung der hergebrachten Ordnung mit der neuen mancherlei oft übersehenen Stoff herbeischaffen.

3. Ueber die Annahme des Gesetzes wird durch die Abstimmung entschieden. Auch sie soll eine freie sein.

8 Oppenheim, Artikel Parlam. Geschäftsordnung im deutschen Statswörterbuch. Haym, Preuszische Jahrb. von 1859, Heft 2.

556 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Was die Mehrheit nach gepflogener Berathung beschlieszt, das gilt als Meinung und Wille der ganzen Kammer. Die Ab- stimmung kann öffentlich geschehen durch Handaufheben oder Aufstehen. Jenes macht weniger Geräusch und befördert die Freiheit, indem es ihr nicht, wie die Nöthigung zum Auf- stehen, die Bequemlichkeit des Sitzenbleibens als Schwerge- wicht anhängt. Seltener und nur aus be sondern Gründen ist eine geheime Abstimmung durch Kugeln oder Stimmtäfelchen anwendbar. Die Stellvertreter des Volkes dürfen das Licht nicht scheuen, und sollen vor seinem Angesichte ihre Ueber- zeugung kundgeben. Eine Abstimmung aber mit Namensaufruf rechtfertigt sich nur in besonders wichtigen Fällen. Häutig angewendet dient sie der Verschleppung, der Intrigue und dem Parteispiele.

Was die Abstimmung durch die Kammern, ist die Sanc- tion des Hauptes. Sie erst ertheüt dem zur Bill gewordenen Vorschlag Gesetzeskraft.

L Durch die Sanction des Gesetzes ist der eigentliche Act der Gesetzgebung vollendet. Die Verkündigung, Pro- mulgation, Publication derselben aber wird regelmässig als ein Act der Kegierun-- behandelt, indem durch dieselbe das Volk mit dem Inhalte des G< in offizieller Form be-

kannt gemacht und dessen Beachtung gesichert wird.'' Die Gültigkeit des Gesetzes tritt mit der Sanction ein. und die Verkündigung ist eine nothwendige Folg«', nichl der Grund jener. Die Rechtsverbindlichkeit des Gesetzes aber für die Statsangehörigen wird in manchen Staten erst von der öffentlichen Verkündigung an gerechnet. ," die nun meistens durch die Presse vollzogen wird.

Es gilt das auch in den schweizerischen Republiken, wo der Regierung nicht einmal ein Veto, noch weniger die Sanction zustellt. In Frankreich: ,,Le president de la Repnblique ]>romulgue leg lois au nom du peuple francais." Verf. von 1848, §. 56- -59.

10 Cude Civil Napolfon, §. 1. Oesterroich : Gteeetsbuoh §. 2. Die Engländer nehmen an, durch die Erklärung der königlichen Sanction im

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 557

Fünfzehntes Capitel.

Grenzen der Gültigkeit der Gesetze.

Die Macht des Gesetzgebers ist die höchste im State, wenn auch nicht eine absolute ; l ihn in der Ausübung der- selben durch statliche Anordnungen zu beschränken, ist daher schwer. Wenn der Gesetzgeber die moralischen Bestimmungen und Schranken, welche die groszen Zwecke des States, Ge- rechtigkeit und allgemeine Wohlfahrt, ihm setzen, nicht be- achtet, so wird es nicht leicht gelingen, ihn durch äuszerliche Rechtsmittel auf der richtigen Bahn zu erhalten.

Einige Rücksichten der Rechtsordnung dienen indessen auch als Schranken dei gesetzgeberischen Willkür.

1 . Die f 0 r m e 1 1 e P r ü l'u n g , ob wirklich ein auf ver- fassungsmäßigem Wege entstandenes Gesetz vorhanden sei, steht auch den ü br ig en S t a t s g e w alten, wenn sie das Ge- setz anwenden oder beachten sollen, unbedenklich zu. AVürden in der constitutionellen Monarchie die beiden Kammern ein Gesetz verkünden lassen, das der König nicht sanetionirt hat, so würden die Regierung und die Gerichte mit Recht dessen Anerkennung verweigern , und würde der König ein Gesetz proclamiren, das nicht die Zustimmung der Kammern erlangt hat, wo diese unentbehrlich ist, so würde auch einem solchen angeblichen Gesetze der Gehorsam versagt werden dürfen. 2

Parlament werde das Gesetz für Jedermann verbindlich, denn was im Parlament öffentlich geschehe, sei .ledermann bekannt. Blacks tone I, 2, 6. Ebenso die Nordamerikaner. R. v. Mohl, Statsrecht, Völker und Politik IL S. 602.

1 Siehe oben Cap. 8.

2 Puchta, Pandekten, §. 15. Beseler, deutsches Privatrecht 1,71. Die Frage ist neuerdings in Deutschland streitig geworden. Vgl. Seuf- fert im Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe IV, Nr. 250, und V oller t in Mohl's Zeitschrift für Statswissenschaft X, S. 328 ff. Bei Erörterung der Frage stellt man sich oft einseitig auf den Stand- punkt des Gerichts, vor dem über die formelle Gültigkeit und An-

558 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und da3 Gesetz.

Die Prüfung der übrigen Statsgewalten erstreckt sich aber nicht auf die Art der Zusammensetzung einer Kammer noch auf ihre Beschluszfähigkeit im einzelnen Fall. Der Entscheid z. ß. über die Gültigkeit einzelner Wahlen von Abgeordneten, über Erfordernisz einer bestimmten Zahl von anwesenden Mit- gliedern u. s. f. ist ganz der Kammer selbst anvertraut, und ihr Verfahren unterliegt nicht der Controle der Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden.

2. Gröszere Bedenken hat die Xirhtanerkennuug eines Gesetzes, weil der Inhalt desselben verfassungswidrig sei.

Es versteht sich, dasz der gesetzgebende Körper selbst, auch wenn er eine Verletzung der Verfassung oder sonst ein Unrecht begangen hat, nicht innerhalb des States, dessen Gesammtheit er repräsentirt, zur Verantwortung und Strafe gezogen noch Oberhaupt verklagt werden kann. Selbst in denjenigen S taten, in welchen das Statsoberhaupt verant- wortlich ist für Beine Regierung, hat man doch nie an die Möglichkeit gedacht, auch den gesetzgebenden Körper für ver- antwortlich zu erklären. Alle andern Behörden und Beamt- ongen im stufe sind nur einzeln.' Organe in dem Statskörper. Er allein stellt als Gesetzgeber den ganzen Körper >ell>sf dar. Wie könnte dalier der Theil zu Gericht sitzen über das Ganze, das Glied über den Körper?3

wendbarkeit einet Gesetzes nuf eine bestimmte Prooeszsaohe gestritten wird. \)a< Grerieht prüft hier die Präge, ob eine GesetsesautoritAt da sei, wie es prüft, ob die A atorUat des Gewohnheitsrechtes oder der Jurisprndeni rar Anwendung komme, in'" Präge [gl aber für die V.-r- waltung suefa zu erwägen, denn euch sie bat in ihrem Bereich jene Autoritäten zu beaebten und daher vorerst in erkennen, Deberdem darf man nicht übersehen, dasz im leisten Grande die Präge eine stati- rechtliche und dabei die h0ob9te itatsreehtliohe Autorität des gesetz- gebenden Körpers für die «künftige Anerkennung oder Nichtanerkennung früherer zweifelhafter (resetze mailgebend i-t.

3 E* gilt das auch in den republikanischen Btaten nicht minder all in dem monarobisoben. Story, Comra. in, st. .;>. Die Luzerner Oe- ricbte des Jahres 1850 haben diesem Prinoip entgegen die Verurtheilung

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 559

In den meisten neuern Staten wird aber auch kein Rechts- mittel verstattet gegen die Gültigkeit und Anwendbar- keit eines Gesetzes aus dem Grunde, dasz sein Inhalt im Widerspruch mit der Verfassung stehe. Die Autorität des gesetzgebenden Körpers gilt, so weit seine Functionen reichen, als die höchste und als eine unbestreitbare. Die Gerichte sind daher nicht ermächtigt, den Inhalt eines Ge- setzes anzugreifen, und durch ihre Autorität für ungültig zu erklären. Ungeachtet sie sich nur über die Anwendung im einzelnen Falle aussprechen, nicht über das Princip in seiner Allgemeinheit, so sind sie doch auch in den ihnen zur Beur- theilung vorgelegten einzelnen Fällen gehalten, sich der höheren Autorität des Gesetzgebers unterzuordnen.4

Diesen letzteren Grundsätzen , welche sowohl in F n g- 1 a n d als auf dem e u r o p ä i s c h e n Continente allgemein gelten, und in der Harmonie und Einheit des Statsorganismus und seiner Thätigkeit ihre tiefere Begründung suchen, hat das nordamerikanische Statsrecht ein anderes System entgegen- gesetzt. Nach demselben nämlich sind die Gerichte befugt und verpflichtet, einem Gesetze, welches nach ihrer Ueberzeug- ung der Verfassung widerspricht, als einem ungültigen die Anerkennung zu versagen und die Vollziehung desselben zu hemmen.5 Die amerikanischen Statsmänner sehen darin „den Ruhm ihrer Verfassung, dasz es sogar für die Versehen der

der Mitglieder eine' gewaltsam aufgelösten Groszen Käthes wegen eines von diesem gutgeheiszenen Statsvertrags ausgesprochen, ungeachtet sie vorher durch die Rechtsgutachten der Juristenfacultäten von München und Zürich über die Rechtswidrigkeit eines solchen Verfahrens unter- lichtet worden waren, und obwohl gerade die Luzerner Gesetzgebung mit vozüglicher Klarheit die Unzuläszigkeit desselben ausspricht.

4 Vgl. oben S. 460.

5 Bundesverfassung III, 2: „Die richterliche Gewalt erstreckt sich über alle Fälle des Gesetzes und der Billigkeit (in law and equity) die sich gegen diese Verfassung^ die Gesetze der Vereinigten Staten und gegen Statsverträge ereignen."

560 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Legislatur selbst ein Heilmittel gebe."6 Der „Föderalist" führt dafür folgende Hauptgründe an: .Die Gewalt des Volkes stellt über der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt, und die Constitution musz dem Statute, die Absicht des Volkes der Absicht seines Agenten vorgezogen werden. Wo daher der Wille der Legislatur, den sie in ihren Statuten erklärt. dem von dem Volk in der Constitution erklärten entgegen- steht, da müssen die Richter sich mehr durch den letztem als durch den erstem leiten lassen. Sie müssen ihre Ent- scheidungen eher naeh den Grundgesetzen als nach jenen regeln, welche nicht fundamental sind. Wie die Gerichte bei der Bestimmung zwischen zwei sieb widersprechenden Ge- setzen, dem später erlassenen den Vorzug geben, s.» geben sie hier bei der Bestimmung zwischen zwei sich widersprechenden Acten einer höhern und einer untergeordneten Behörde, einer ursprünglichen und einer abgeleiteten Gewalt, dem Ausspruche der hohem Behörde den Vorzug. .Man kann niohi erwiedern, dasi die Gerichtshöfe unter dem Vorwand eines Widerstreits ihre Willkür den constitutioneUen Absichten der Legislatui unterstellen möchten, hie Gerichte müssen den Sinn des

sei/es erklären, und wenn sie geneigl sein würden, ihren

Willen statt ihres Drtheile geltend zu machen, so würde die Folge überhaupt auch in allen andern Fällen der richter- lichen Thätigkeii die Setzung ihrer Willkür an die Stelle des Willen.^ des Gesetzsebers sein." Der oberste Gerichtshof seihst sprach sieb darüber unter anderm bo aus: „Jene, welche den Grundsatz bestreiten, dasz die Constitution in den Gerichts- höfen als oberstes Gesetz betrachte! werden müsse, werden zu der Nothwendigkeil geführt, zu behaupten, das/ die (Jeriehts- höfe ihre Augen über die Verfassung schlieszen, und blosz das Gesetz, ansehen dürfen. Diese Lehre würde erklären, das/ ein Act, welcher nach den Grundsätzen und der Theorie un- serer Etegierungsweise völlig ungültig ist. dennoch in der

' Worte des Repräsentanten Boudinot.

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 5ßl

Praxis vollkommen verbindlich sei. Sie würde erklären, dasz wenn die Legislatur thun wird, was ausdrücklich verboten ist, ein solcher Act, ungeachtet des ausdrücklichen Verbots, in der Wirklichkeit gültig sei. Sie würde der Legislatur eine practische und reelle Allmacht in dem nämlichen Athemzug geben , welcher erklärt , sie in enge Grenzen einzuschränken. Sie zieht Schranken und erklärt zugleich, dasz diese Schranken nach Willkür übertreten werden dürfen."

Es läszt sich nicht verkennen, dasz in diesem Eaisonne- ment eine gewisse Wahrheit liegt, und dieser Versuch, die moralischen und ideellen Schranken der Legislatur durch äuszerliche Stützen zu befestigen, verdient immerhin die Be- achtung der Statsmänner. Auch ist die Gefahr, dasz die richterliche Gewalt ihrerseits die gesetzgeberische usurpiren möchte, in der That gering ; denn sicher erfordert es jeder- zeit groszen und seltenen Muth der Richter, um im einzelnen Falle dem ausgesprochenen Willen der obersten Statsmacht entgegenzutreten und das Keclit der Verfassung gegen jene und gegen die Kegierung zu schirmen. Würde es sich auch nur darum handeln , ein Versehen " des Gesetzgebers zu verbessern, würde die gerichtliche Erklärung der Verfas- sungswidrigkeit eines Gesetzes keine andere Folge haben, als die, den Gesetzgeber zu nochmaliger Prüfung zu veranlassen, so könnte man ohne grosze Bedenken jener amerikanischen Auffassung zustimmen.

Wenn man aber in Erwägung zieht, dasz der Gesetzgeber in der Regel von der Verfassungsmäszigkeit des Gesetzes überzeugt ist und dieselbe will, und dasz dennoch sehr leicht sich verschiedene Meinungen darüber bilden, so dasz, wenn sein Ausspruch Gegenstand des Streites werden kann, das Ge- richt vielleicht eine andere Ansicht darüber hat, als der Ge- setzgeber; wenn man bedenkt, dasz in diesem Falle doch die höhere Autorität des Gesetzgebers zwar nicht im Princip, aber im Erfolg der niedriger gestellten der Gerichte weichen

Itluntächli, allgemeines Statsrecht. I. 36

5ß2 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

und der Repräsentant der gesarnmten Nation im Conflicte mit einem einzelnen Organe des Statskörpers hinter dasselbe zu- rückstehen niüszte; wenn man die Störung und den Zwiespalt, welche auf solche Weise in den einheitlichen Gang des Stats- lebens gebracht wird, überlegt und sich erinnert, dasz die Gerichte ihrer jetzigen Beschaffenheit nach vorzugsweise zur Erkenn tnisz privatrechtlicher Normen und Rechtsverhältnisse berufen und vorzugsweise geneigt sind, auf formell - logische Momente den Nachdruck zu legen, während es sich hier ge- rade häufig um die wichtigsten statsrechtlichen Interessen und die allgemeine Wohlfahrt handelt, die zu erkennen und n fördern Aufgabe des Gesetzgebers ist: so wird man dennoch dem europäischen System den Vorzug geben, obwohl dasselbe nicht vor allen Uebeln schützt und an der UnvollkommenhiMt der menschlichen Zustände auch seinen Antheil hat. Auch gegen ungerechte Urtheile der obersten Gerichte gibt es in der Regel keine Inneren HülfsmitteL Der gesetzgebende Körper aber trägt in seiner Bildung die wichtigsten Garan- tien, dasz er nicht seine Befugnisse in verfassungswidrigem Geiste ausübe.7

7 Die nordamerikanisehe Ansicht hat auch in Europa zwei bedeu- tende Vertreter gefunden, in dem Belgier Verhaegen, des lois consti- tutionelles, Bruxeft und in unserem Robert v. Molil, Stats-

reelit, Völkerrecht und Politik I, s. 66 ff., und in dem deutsehen Btats- wörterbuch, An. Gesetz. Auch er unterscheidet Verfassung, Gesetz und Verordnung, so das/ den Gerichten zustehe, die Verfassungsmisiigkeit der Besetze Bowohi in Form als in Inhalt, wie die Gesetzm&szigkeit der Verordnung zu prüfen. Das praotiscb «richtigste Motiv, welches mich einstweilen noch bestimmt, die europäische Praxis rorzuziehen, hat übri- geD9 HohJ miszyerstanden. .Nicht weil ich ein blindes Vertrauen haha, dasz die Kammern allezeit von einem lebendigen Gefühl ihrer Pflichten gegen die Verfassung geleitet werden und desihalb keine materielle

Verfassungswidrigkeit begehen werden, habe ich die-e Meinung rerthei-

digt; sondern weil ich unsern fast nur oifilistisoh und criminalistisch gebildeten und an blosze formell-logische Operationen gewohnten Berichten weniger ein richtiges Urthcil über die Verfassungsmäszigkeit eines Gesetzaa zutraue als den großen repräsentativen Körpern, d.h. weil

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 563

In neuester Zeit hat Napoleon III. durch seine Verfassung vom 14. Januar 1852 eine neue Form der Garantie gegen einen verfassungs- und rechtswidrigen Inhalt der Gesetze ein- geführt, indem er dem Senate die Pflicht einschärfte und das Recht gab, Einsprache zu machen gegen Gesetze mit solchem Inhalt. Da aber diese Prüfung vor, nicht nach der Promulgation der Gesetze geübt wird, so wirkt diese Form doch nicht stärker, als die in dem Zweikammersystem eben- falls gegebene, der nöthigen Zustimmung beider Häuser.

3. Aehnlich verhält es sich mit der Beachtung der na- türlichen Eechtsordnung überhaupt. Sie ist die Pflicht des Gesetzgebers, denn das Gesetz ist seinem Wesen nach der Ausdruck und die Offenbarung des natürlichen Eechtes und nicht ein willkürliches Froduct. Aber wenn er dieser Pflicht nicht eingedenk oder über ihre Ausdehnung und Anwendung

die politischen Garantien für den verfassungs- und rechtmäszigen Inhalt der Gesetze gröszer sind in dem Parlament als in einem gewöhn- lichen Gerichtshof. Die Fälle, wo das Statshaupt mit Zustimmung der Kammern eine offenbar verfassungswidrige Bestimmung in ein Gesetz aufnimmt, sind gewisz äuszerst selten. Aber die Fälle, in denen gesetz- liche Bestimmungen einen allgemeinen Grundsatz der Verfassung im einzelnen beschränken und in der Anwendung modificiren, sind sehr häufig, und da kann immer und leicht gestritten werden, ob der Inhalt des Gesetzes verfassungsmäszig oder verfaszungswidrig sei. Die blosz logische Schluszfolgerung aus einem abstracten Verfassung.ssatz wird da leicht zu dem verneinenden Resultate der Verfassungswidrigkeit führen, während die politische Erwägung aller Verhältnisse, die neben und auszer dem Wortlaute des Verfassungsparagraphen wirken, den Gesetz- geber von der Rechtmäszigkeit seiner Anordnung überzeugt. "Würde es gelingen, einen statswissensc haftlich durchgebildeten Statsgerichts- hof oder Senat herzustellen, dem mit politischem Vertrauen eine nega- tive Controle auch des Gesetzgebungskörper3 anvertraut werden könnte, so würde mein Hauptbedenken beschwichtigt sein. Der Grundgedanke des französischen Senats entspricht dieser Forderung, aber seine Aus- führung gewährt nicht die nöthige Sicherheit für eine selbständige Con- trole der verfassungsmäszigen Rechte und Freiheiten. Die nordamerika- nische Praxis selber hat übrigens bei den Reconstructionsgesetzen von 1866. 67 gezeigt, dasz auch in Amerika die Autorität der Gerichte im Kampfe mit der des Congresses weichen musz.

36*

564 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

im Irrthum ein Gesetz erläszt, welches mit der natürlichen Rechtsordnung im Widerspruche steht, so gibt es auch hier kein legales Statsmittel, um diesen Fehler zu verbessern, als die Befugnisz des Gesetzgebers selbst, durch Revision des Ge- setzes die Harmonie herzustellen. Den Gerichten darf wieder das Recht nicht zugestanden werden, die höhere Autorität des Gesetzgebers durch ihre eigene unwirksam ^u machen. Auch das ungerechte Gesetz ist, so lange es in äuszerer Kraft be- steht, von den untergeordneten Organen des States als ein gültiges zu handhaben.

4. Ebenso ist es eine Verpflichtung des Gesetzgebers, die wohlerworbenen Rechte Dritter (jura quaesita) zu achten und nicht zu kränken.

Der Begriff der wohlerworbenen Rechte setzt voraus, dasz dieselben bestimmten Personen, sei es einzelnen Men- schen oder Genossenschaften und juristischen Personen, zu eigenem und selbständigem Rechte zustehen. In diese Rechtssphäre des Individuums darf der Gesetzgeber regelmäszig nicht eingreifen. Indessen musz hier unterschie- den werden:

a) Erworbene rein politische Rechte. Diese kommen zwar auch bestimmten Personen zu, z. B. Hoheitsrechte den Fürsten, Thronfolgerechte ihren Agnaten, Gerichtsbarkeit den Gutsherren, Pairsrechte den Lords, Amtsrechte den Beamten, aber sie kommen denselben nicht für sie allein, sondern als statliche Rechte im Zusammenhang mit dem ganzen Stat voraus für diesen zu. Ihre ganze Existenz ist von der Stats- existenz abhängig. Auszerhalb des Stats haben sie keinen Sinn und keine Geltung, im Widerspruch mit dem Dasein und der Gesundheit des Stats keine innere Berechtigung. Es än- dert nichts an diesem Grundverhältnisz, dasz solche Rechte zuweilen ähnlich wie Privatrechte erkauft worden sind. Im Mittelalter ist das häufig geschehen; aber im Mittelalter waren Privat- und öffentliches Recht vielfältig auch sonst ver-

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit des Gesetzes. 565

mischt. In unserer Zeit müssen wir schärfer trennen und können dem öffentlichen Kechte, auch wo es früher auf Privat- wegen erworben worden ist, darum doch nicht mehr einen privatrechtlichen Charakter zugestehen. Daher hat aber hier der gesetzgebende Körper die Macht, auch solche Kechte aus Gründen der natürlichen Statsordnung und in verfassungs- mäsziger Form, sei es aufzuheben, sei es abzuändern: und wenn er auch hier Entschädigungen eintreten läszt, so mögen ihn dazu Gründe der Klugheit und billiger Schonung bestimmen, eine Verpflichtung dazu aber lastet nicht auf ihm. 8

b) Nur wo mit öffentlichen Rechten der Art Vortheile und Genüsse verbunden sind, welche wesentlich dem Indivi- duum als solchem zu gute kommen, z. B. ein mit der Würde verbundener Rang in der bürgerlichen Gesellschaft, Ansprüche der Prinzen auf Apanagen, der Bürger einer Stadt auf Benutzung von Kunst- und Wohlthätigkeitsanstalten , das Recht einzelner Familien auf die Ausbeutung von Regalien, z.B. der Posten, wo somit das öffentliche Recht einen erheb-

8 Für Deutschland ist in dieser Beziehung der Reichsdeputations- hauptschlusz vom 25. Febr. 1803 von Interesse. Robert Peel, Rede vom 5. Mai 1829: „Ich gebe die volle Kraft des Einwandes zu, welcher gegen den Theil der vorgeschlagenen Maszregel geltend gemacht wird, gegen den Theil, durch welchen den Freisassen das bestehende Recht der Abstimmung entzogen wird. Es ist ohne Zweifel ein rechtsgültig verliehenes Recht, aber es ist ein Recht, welches seinem Charakter nach von den Eigentumsrechten und von andern Privatrechten verschieden ist. Es ist ein öffentliches Recht, das für öffentliche Zwecke gegeben ist, das man ohne Zweifel mit groszer Yorsicht und Rückhaltung ver- ändern musz, das wir aber verändern dürfen, wenn das öffentliche Inter- esse offenbare Opfer verlangt." Viel zu enge ist in dieser wie in andern Beziehungen die Auffassung von Radowitz in den Gesprächen über Kirche und Stat, S. 243: „Das Gesetz hat ursprünglich nur den Beruf, die Lücken des Gewohnheitsrechtes zu ergänzen, die Widersprüche zu lösen, das Ganze übersichtlich zusammen zu fassen. Geht ein Gesetz über diese Aufgabe hinaus, ändert und verletzt es wohlerworbene Rechte, so ist es ein ungerechtes, gleichviel, von wem es ausgegangen."

566 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

liehen Beisatz von individuellem und insofern im letzten Grunde von Privatrecht in sich hat, das erworbene Recht ein solches in engerem Sinne geworden ist, da wird, so weit dieser Beisatz reicht, die Befugnisz des Gesetzgebers be- schränkt durch die Pflicht desselben, diese individuelle Seite unverletzt zu erhalten, oder wenn im Conflicte mit der öffent- lichen Wohlfahrt eine Veränderung und Aufhebung unver- meidlich wird, die zu Verlust kommende Person dafür zu entschädigen. 9

c) Am wichtigsten ist dieser Begriff auf dem Gebiete des Privatrechts. Die Privatrechte gehören ihrer Natur nach den Privatpersonen an und nicht dem State, den Indivi- duen und nicht dem Volk. Der Gesetzgeber, welcher das Volk darstellt, würde demnach in ein ihm fremdes Gebiet übergreifen, und fremde Rechte verletzen, wollte er den Pri- vaten ihre erworbenen Rechte entziehen oder beeinträchtigen, Rechte, die zu schützen gerade sine Hauptaufgabe des States ist. Allerdings in io ireil der einzelne mit seiner Rechts- sphäre sich der öesammtheü unterordnen muss, so dasi diese bestehen und ihre Aufsähe erfüllen kann, s<» weit i.-t der Ge- Betzgebei berechtigt, avefa die bestehendes PriYatrechte zu be- schränken, /.. 1). durch ein Bangesetz im Interesse der öffent- lichen Sicherheil and des Öffentlichen Anstandes die Baufrei- heit zu beschränken, durch ein Gesetz die Nachbarverhältnisse zu regnliren oder Gewerbebeschränkungen anzulegen. Aber Je mehr ein." Privatberechtigung den Charakter der Selbstän- digkeit und Besonderheit an si< h trägt, desto weniger darf <ler stat in dieselbe eingreifen, und «renn er durch die höheren Interessen der allgemeinen Wohlfahrt dazu genöthigl

wird, sm niusz sich der Gesetzgeber stets daran erinnern, dasz

9 V^l. auch Stahl, Btatilehre II, B. I75ft Ptf du mitteklterliehe Recht lind ili<- meiste« MTenftüeheii Rechte .ii^ Boiehe erworbene im engeren Sinne n betrachten. In den m 3tate dagegen i

Gebiet derselben sehr beschränkt worden.

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 567

das Sonderrecht des Individuums wohl dem Rechte des ge- sammten States im Conflicte weichen musz, aber nur gegen volle Entschädigung des Individuums durch den Stat, der jenes Opfer fordert.10

Das Recht der Privatpersonen auf Entschädigung, in- sofern sie genöthigt werden, ihre erworbenen Rechte abzu- treten oder aus Rücksichten der öffentlichen Wohlfahrt aufzu- geben, versteht sich zunächst von selbst. Es gründet sich nicht erst auf die Bestimmung und Normirung, es ist nicht das Product des Gesetzes. Daher können die Privatpersonen auch in solchen Fällen den Schutz der Gerichte für dieses wie für ihr anderes Privatrecht anrufen. Nur wenn das Ge- setz die Entschädigung ausdrücklich versagt oder ungenügend bestimmt, dann freilich wird der Richter auch in solchen Fällen dem ungerechten Gesetze nicht widerstehen dürfen. n

Die überwiegende Macht des States in auszerordentlichen

10 "Vgl. preuszisches Landrecht, Einleitung, §.74: „Privilegia, auch solche, die durch einen lästigen Vertrag erworben worden, kann der Stat, jedoch nur aus überwiegenden Gründen des geraeinen Wohls und nur gegen hinlängliche Entschädigung des Privilegirten, wieder auf- heben." §. 75: „Die Entschädigung selbst kann nicht anders als durch Vertrag oder rechtliches Erkcnntnisz festgesetzt werden."

11 Eine Reihe neuerer Schriftsteller gestatten die Entschädigungs- klage nur, wenn die Aufhebung des Privatrechtes durch einen Regie- rungsact, nicht auch wenn sie durch einen legislativen Act geschehen ist, auszer wenn das Gesetz selbst die Entschädigung vorschreibe, z. B. Stahl, Statslehre II, S. 469. Zöpfl, Statsrccht, §.196. B eseler, D. Privatrecht I, S. 72. Verfassung von Hannover von 1833, §.37: „Ist die Verletzung (wohlerworbener Rechte) durch einen Statsvertrag oder durch ein verfassungsmäszig erlassenes Gesetz bewirkt, so kann die- selbe nicht zum Gegenstand eines Rechtsanspruches gegen den Stat oder gegen Verwaltungsbehörden gemacht werden." Vgl. Kl üb er, Oeff. R. d. D. Bundes, §.551 und 552. Faszt man den ganzen Satz, wie es }ni Texte geschehen ist, so ist nicht abzusehen, wie dadurch die natür- liche Unterordnung des Richters unter den Gesetzgeber verkehrt, noch wie dem Gesetzgeber irgend Gewalt angethan würde. Vielmehr ist der- selbe nur einfache Anerkennung des Privatrechtes, soweit der Gesetz- geber demselben nicht ausdrücklich den Statsschutz entzogen hat.

568 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

Collisionsfällen zwischen der öffentlichen Wohlfahrt und dem individuellen Recht durchzugreifen und dieses zu beugen, wird die „potestas eminens- die gesetzgeberische Ausnahms- gewalt des States genannt. Ein gewissenhafter Gebrauch derselben in ernster und dringender Gefahr des States kann zu dessen Rettung unentbehrlich sein, eine leichtsinnige und willkürliche Anwendung aber ist ein moralisches Verderben des States selbst.

5. Wenn sich das bestehende Recht auf einen Sta ts- vertrag mit andern State n gründet, so ist dasselbe gegen eine Verletzung von Seite der Landesgesetzgebung unter den Schutz des Völkerrechtes gestellt, und wird durch dieses die Macht des Gesetzgebers beschränkt. Der so berechtigte Unterthan darf zwar in einem solchen Falle, ohne die Treue und die Unterthanenprlicht zu verletzen, den fremdes Stat, der sein Recht garantirt, um völkerrechtliche Hülfe und Beistand anrufen, denn indem er das tliut, beruft er sich auf ein Recht und macht von einem Rechtsmittel Gebrauch, welches der Stat, dem er angehört, selber durch den eingegangenen Stats- vertrag auf eine für ihn verbindliche Weise anerkannt hat '■ Aber vom Standpunkt«' der politischen Selbständigkeit des Vaterlandes aus hat die Anrufung einer fremden Hülfe ge- wöhnlich grosze Bedenken.

Ein Vertrag dagegen zwischen einzelnen Gliedern des States vermag diesen Schulz nicht zu gewähren.

Das nordamerikanische Statsrecht kennt auch in den Fällen einen gerichtliehen Schutz gegen Kechtsverletzungen von Seite des Congresses, in welchen State vertrage , die von den vereinigten Staten eingegangen oder garantirt sind , zur Anwendung gelangen. ,3

6. In zusammengesetzten Staten läszt sich eher

12 Beispiele der Art sind die Reohtt der S tan des I) er reu in Deutschland.

11 ßundesverfMdsung III, l. Story III, St. 3g, gt22fc

Fünfzehntes Capitel. Grenzen der Gültigkeit der Gesetze. 569

dafür sorgen, dasz die gesetzgebende Gewalt der Einzel- staten auch durch die äuszere Rechtsordnung in Schranken gehalten werde, indem die Bundes- oder R eich s Verfassung höhere Organe für Aufrechthaltung des Rechts in dem ganzen Umfange des Bundes oder Reiches besitzt, welche insofern auch den obersten Gewalten der Einzelnen übergeordnet sind.

Eine derartige Bedeutung hatte das Reichskammer- gericht in der Verfassung des spätem deutschen Reiches. Der oberste Gerichtshof Nordamerika 's hat hier eine aus- gedehnte Competenz. Aber merkwürdig ist es, dasz die Nord- amerikaner, welche sonst die richterliche Gewalt selbst über Gebühr ausdehnen, sie in Fällen hemmen, wo dieselbe überall sonst waltet und practisch völlig unentbehrlich ist, nämlich wo Rechtsansprüche von Privaten, /.. B. Gläubigern, gegen die Ver- einigten Staten selbst oder gegen Einzelstaten gestellt, somit Staten eingeklagt werden. Ihre Verfassung von 1787 scheint freilich das Gegentheil zu bestimmen; aber die Theorie mancher Statsmänner, welche meinten, dasz souveräne Staten keiner Klage unterworfen werden dürfen (schon die Kömer haben den Stat, wenn er als Schuldner oder Gläubiger er- scheint, der Souveränetät entkleidet und als Fiscus den Pri- vatpersonen gleich gestellt), und ein Amendement zu der Verfassung von 1705 führten diese durch keine wahren Rechts- gründe zu vertheidigende Beschränkung ein, welche die Stats- gläubiger lediglich auf den Rechtssinn ihres Schuldners ver- weist.14 In der Schweiz hat die Bundesversammlung das Recht, im Interesse der Bundesverfassung und der Bundes- gesetze wie zur Garantie der Cantonalverfassungen auch gegen gesetzgeberische Uebergrifte der Cantone einzuschreiten oder solche statsrechtliche Fragen dem Bundesgerichte zur Beur- theilung zu überweisen.15

Die Ausbildung des Völkerrechts könnte in der Zu-

14 Story a.a.O., §.235, 237. Schubert, Verfassungsurkunden I, S. 321.

15 Bundesverfassung, §. 74, und 105, 106.

Bluntschli, allgemeines Statsrecht. I. 37

570 Fünftes Buch. Der gesetzgebende Körper und das Gesetz.

kimft auch hier Eechtshülfe schaffen, und die allerdings fühl- baren Mängel verbessern, welche der schrankenlosen Gewalt des gesetzgebenden Körpers auf dem Fusze folgen.

7. Endlich ist noch der Satz zu erwähnen, dasz die Gesetze keine rückwirkende Kraft haben noch haben dürfen.

Dasz auch das Gesetz nicht das Unmögliche möglich und das Geschehene nicht ungeschehen machen, und dasz dasselbe somit nicht in die Vergangenheit zurückgreifen und diese um- gestalten könne, bedarf keiner Erörterung. Wenn in der Rechtssprüche von einer rückwirkenden Kraft der Gesetze die Hede ist, und diese nicht zugelassen wird, so hat das den Sinn, dasz Handlungen oder Rechtsgeschäfte, welche in eine frühere Zeit fallen, aber später zur Beurtheilung kommen, m der Kegel nicht nach einem inzwischen und nach ihrer Voll- endung entstandenen Gesetze zu Im- in essen seien, und das spätere Gesetz in der Kegel auch die bereits erworbenen Rechte nicht ändere. ,fi Hat alter das Gesetz einen blosz interpretativen, nicht einen Heuernden Charakter und sprechen keine Grunde fflr eine zeitliche Beschränkung dieser Interpretation auf die Zeil des Gesetzes selbst, so kann es unbedenklich auch zur Erklärung früherer Rechtsgeschäfte be- nutzt werden.

Jener Satz enthält demnach zunächst eine Rege] der Gesetzesauslegung, welche allerdings sich an eine natür- liche Beschränkung der Gesetzgebung anschlieszt. Ausnahmen kommen vor, wenn entweder das Gesetl seihst aus der ihm

,f' c. ]. C. [TheodoriuA et Vdlentinianus) de Legibus: „Leges et oonstitutiones futuris certum es! dare formam negotiis, doh ad facta prae- terita revocari. nir-i nominatim et de praeterito tempore et adhuc pen- dentibus nego-tiis cautum sit." Code Civil) §.2: „La l<>i no dispose (juc pour l'avenir; ello n'a point d'effeot retroaotiü." Oesterreich. Gteseti, §. 5: „Gesetze wirken nicht zurück; sie Italien daher auf vorange- gangene Handlungen und auf vorher erworbene Rechte keinen Eünfluai." Preuszisches Landreoht, Einl., g. 14 ff. Bayer. Landr. I. I '

angewiesenen Bahn heraustritt, und bereits begründete Rechts- verhältnisse ausdrücklich abändert, oder wenn durch Anwen- dung des Gesetzes auf die Beurtheilung früherer Handlungen oder Rechtsgeschäfte keine wohlerworbenen Rechte gekränkt, vielmehr die Anwendnng zu Gunsten des Handelnden oder im Interesse des Rechtsgeschäftes ausfällt, z. B. bei Strafgesetzen, welche für einzelne Verbrechen mildere Strafen anordnen, oder bei Gesetzen, welche einzelne früher für strafbar erklärte Handlungen erlauben, oder bei solchen, welche geringere Er- fordernisse für die Gültigkeit gewisser Rechtsgeschäfte, z. B. leichtere Formen des Testaments, einführen, Hier hilft, wie die Köiner das nennen, eine wohlwollende Auslegung (benigna interpretatio) über dir logische Strenge des Princips hinüber.

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