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Full text of "Wörter und ihre Schicksale"

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A.J.STORFER 


WÖRTER 

UND 

IHRE 

SCHICKSALE 


Atlantis-Verlag 






A. J. STORFER 


läßt in diesem Buch eine 
ausgewählte Anzahl deut¬ 
scher Worte in alphabe¬ 
tischer Reihenfolge antre- 
ten, um sie einem kurzen, 
präzisen Verhör zu unter¬ 
werfen, über ihre Her¬ 
kunft und ihre teilweise 
abenteuerliche Lebensge¬ 
schichte im Wandel der 
Zeiten. — Worte, die man 
tagtäglich im Munde führt, 
ohne sich ihres merkwür¬ 
digen Sinnes bewußt zu 
sein, finden hier Beschrei¬ 
bung und Deutung in 
spannend amüsanter und 
zugleich lehrreicherWeise. 
Ein Schatz von Anekdoten 
und tieferen Einsichten 
wird dem Leser fast mühe¬ 
los zuteil, und ob er will 
oder nicht, wird er selbst 
zum Forscher, der beim 
Sprechen oder Schreiben 
seiner Sprache achtet, ihre 

Merkwürdigkeiten genießt 

und ihren Rätseln auf die 
Spur zu kommen sucht. 










a INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 







WÖRTER UND IHRE SCHICKSALE 



WÖRTER 

UND IHRE 

SCHICKSALE 


VON 

A. J. STORFER 


ATLANTIS-VERLAG * BERLIN ♦ ZÜRICH 



Alle Rechte Vorbehalten 

opyright by Atlantis-Verlag G. m. b. H., Berlin 1935 
Druck: Bibliographisches Institut AG., Leipzig 
Printed in Germany 







Man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man 
soll deutsch reden, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf 
der Gassen, gemeinen Mann auf dem Markte darum fragen und den- 

selbigen aufs Maul sehen . Luther. 

Die Pflicht des Schriftstellers ist es, Abstammung der Worte zu merken. 

Die Ableitung führt ihn auf das Bedeutende des Wortes, ««i stellt manches 
Gehaltvolle wieder her und führt ein Mißbrauchtes in den vorigen Stand. 

Goethe. 

Denn daß ein Wort nicht einfach gelte, 

Das müßte sich wohl von selbst verstehen. Goethe. 

Sprachforschung, der ich anhänge und von der ich ausgehe, hat mich noch 
nie in der Weise befriedigen können, daß ich nicht immer gern von den 
Wörtern zu den Sachen gelangt wäre. Jacob Grimm. 

Was wir eine Etymologie nennen, ist nichts als eine mehr oder weniger ab¬ 
gekürzte Wortgeschichte und eine Wortgeschichte wiederum bildet keinen 
festen Ausschnitt aus der gesamten Sprachgeschichte, sondern verfließt ohne 
Grenzen in andere Wortgeschichten. Hugo Schuchardt. 

Denken Sie daran, daß die Etymologien, die Ihnen Ihre Professoren darbieten, 
jeweilen nur den Ausgangspunkt eines Wortes an geben, daß das Wort, wenn es 
sich einmal von seinem Ursprung entfernt hat, ein Vogel ist, der seinen Flug 
angetreten hat und nunmehr Wegen folgt, die ihm die atmosphärischen Be¬ 
dingungen und seine Begegnungen diktieren. Begnügen Sie sich nicht damit, 
die Geschichte eines Wortes in der Weise darzustellen, wie etwa ein Literatur¬ 
historiker, der das Leben eines berühmten Mannes in folgende Worte faßte: 
Balzac trug in den Armen seiner Amme ein blaues Kleid mit roten Streifen; 
er schrieb die „Menschliche Komödie u . Jules Gillieron. 

Wir können vielleicht sagen, daß von den wissenschaftlichen Worterklärungen 
einige dauerhaft und fest wie Felsen dastehen, andere hingegen flüssig sind 
und wie die Meereswellen hin und her schwanken; endlich befinden sich 
nicht wenige in gasförmigem Zustande und werden dahin und dorthin geweht, 
wie es dem Wind gerade einfällt. Manche darunter sind nicht besser als 
Giftgase, wovor der Himmel uns bewahren möge. Otto Jespersen. 

* 

Man laß ein Wörterbuch nur den Verdammten schreiben. 

Kaspar Stieler der Spate, 1691. 



e g war Slbflcbt beg SBerfafferg unb SOßunfcb beg Skrlagg, 
btefeg 23ud), bag einen wetteren ßeferfteig über iperfunft nnb 
SDBanbel non Wörtern unb Sfcbengarten unterrichten will, unb 
^war bauptfäcbltcb non beutfcben Wörtern unb Sfabengarten, 
in grafturfcbrtft fefeen $u laffen, wie eg gegeben fd>ien. 2lbet 
auch in biefem gaHe batte entfpred>enb bem allgemeinen brauch 
nergletcbgweife betange^ogenet frember @pracbftoff in Antiqua 
gefegt werben müffen, unb jwar nicht nur etwa@toff aug bem 
ßateinifcben ober aug lebenben grembfpradben, fonbern auch aug 
bem Sllttnbifcben, bag eine fo große £>ebeutung in ber inbo* 
germantfcben ©pracfwergfeicbung bat, auch aug bem ©ottfcben, 
fogar aug bem 2llt* unb iüttttclbocbbeutfcben. £)ag batte ein 
außerorbentlicb unrubigeg ©afcbtlb ergeben unb ein berartigeg 
£>urcbcinanbet beg SÜtifcbfageg wäre nicht nur unfebön, fonbern 
würbe auch bte ßegbarfeit erheblich beeinträchtigen. <£g blieb 
habet nichtg übrig, alg ben 933unfcb nach Srafturfafc in biefem 
SaUe ber Sinheitlichleit halber aurüdpflellem 







INHALT 


Seite 

Aar, Adler, Sperber. 11 

Neubelebung veralteter Wörter u 

Unter gegangene Wörter . 13 

abgebrannt, Brandbrief. 16 

abgefeimt, abgebrüht.. 20 

Almosen. 22 

Anger, Angel, Anker, verankern 23 

Mißverständnisse bei Gasthaus¬ 
namen . 25 

Apachen. 28 

Arbeit, Robot. 30 

Arsenal, Zechine. 31 

Arzt. 33 

Verdunkelte Zusammensetzun¬ 
gen . 3 6 

Attentat. 38 

Witzige Ver Schmelzungswörter 39 

aufdröseln. 47 

Aufhebens machen.48 

Redensarten vom Fechten .... 49 

ausbaden, etwas. go 

ausgemergelt. 51 

authentisch, Effendi. £2 

Bagage, Plunder, Pack, Troß, 

Bagatelle. 5-3 

Bastard, Bankert. $y 

Beisl. 60 

bescheiden, diskret. 62 

im Bilde. 65* 

Blick, Blitz, abblitzen. 66 

Bluse. 69 

Politische Bewegungen nach 
Kleidungsstücken benannt .. 70 


Seite 


Bonze. 71 

Wörter chinesischer oder japa¬ 
nischer Herkunft . 72 

borniert. yg 

Anspielung durch Ortsnamen 76 

brennen, Brunnen, Born. 80 

Metathesis (Umstellung) ... 81 

Butter, Butter auf dem Kopf, 

buttern. 82 

Chateaubriand. 87 

unter einer Decke stecken ... 87 

derb. 88 

Domino. 89 

Dumdum. 9 1 

Eisbein. 9 2 

Eisvogel, halkyonische Tage. . . 94 

Element. 97 

Ente, Seeschlange, Grubenhund, 
Tatarennachricht, Latrinen¬ 
parole . 99 

Errungenschaft. 108 

Die Nachsilbe -schaft . n o 

Erz. 11 2 

fanatisch. 114 

faul, Faulpelz, faulenzen. 11 £ 

Die Endung -enzen . 119 

fechten. 120 

Federlesens machen. 121 

Fersengeld geben. 122 

Flammeri. 124 

flöten gehen. i2g 

Fugger, fuggern, so wie Fuggers 
Hund. 127 




















































auf großem Fuße leben. 

Gabel. 

Galgen. 

Gas.. 

Gauner... 

Gazette. 

ins Gebet nehmen, kurz ange¬ 
bunden, zu Paaren treiben . 

Gemüt, Gemütlichkeit. 

Gesicht wahren. 

Ghetto. 

Grisette, Lorette. 

Guillotine... 

Hagestolz, Kadett. 

Halali, Oie. 

Hängematte.. 

Volksetymologien . 

Hep, hep. 

Hochstapler. 

Hoffart. 

Assimilation . 

Dissimilation . 

Lambdazismus . 

Rhotazismus ...< . 

Hunger. 

Husar .. 

Janhagel.. 

Jingo. 

Kaffer, Tölpel usw. 

um des Kaisers Bart streiten ,. 

Kanaille. 

keck, quick, frech. 

Keks, Biskuit. 

keusch. 

Kluft. 


Seite 

knorke. 215- 

Korb geben. 218 

Krawatte. 222 

Kretin, Idiot. 22 £ 

Kutsche.. 228 

Wagenbezeichnungen . 230 

Laune. 238 

locken, wider den Stachel .... 239 

Löffel. 240 

loyal, legal. 243 

Das Fremdwort in zwei Formen 244 

Mandarin, Mandarine. 247 

marod. 248 

Mayonnaise, Majolika. 2 £2 

Mazagran. 23-3 

miekrig. 23-4 

Musselin, Mussolini . 2^4 

naiv. 2 ss 

Neunundneunziger. 2^9 

niederträchtig. 261 

Pejorativer Bedeutungswandel 262 

O. K. (okej). 266 

Omnibus. 269 

Pappe, Pappenstiel. 272 

Elliptische Zusammensetzun¬ 
gen . 273 

Pathos, pathetisch. 274 

perfid, perfides Albion. 276 

Pfui. 279 

Pfuscher, Stümper, Patzer, Sud¬ 
ler usw r .. 282 

Pilatus. 287 

Polka, Polonäse, Mazurka .... 292 

Porzellan. 294 

Pyjama. 296 


Seite 

129 

131 

133 

140 

142 

145 * 

147 

J L 4 

157 

1*8 

160 

163 

166 

168 

170 

17 S 

177 

178 

179 

181 

182 

184 

184 

190 

193 

198 

199 

202 

204 

*°£ 

210 

212 

214 I 




































































Wörter neuindischer Her¬ 
kunft . 

Rabe, Rappe, berappen. 

Rasse. 

Römer..... 

Sandwich .... 

sardonisches Lachen. 

Sarg, Sarkophag, Sarkasmus ... 
sein Schäfchen ins Trockene 

bringen. 

Schiboleth. 

Schimmel, Amtsschimmel .... 

Schimpf. 

Schmetterling. 

schofel. 

Schwan, Schwanengesang, mir 

schwant etwas. 

steil. 

im Stich lassen. 

Straße, Gasse, Gassenhauer, 
gassatim. 

Register. 


Seite 

Formveränderungen hei Stra¬ 


ßennamen . 330 

Strolch. 336 

Syphilis. 337 

Tank. 348 

taub, toben, doof, dufte.350 

Tausendgüldenkraut. 35-3 

Teller, Tisch, Scheibe. $$£ 

Teufel. 3 £7 

Tiger. 368 

Ulrich rufen. 374 

Vauxhail, wagsal. 376 

Wand, Gewand, Wanze. 378 

Weste, Gilet, weiße Weste ... 379 

Woche, Wochenbett. 383 

Wolke, welken, Wolga, aus 

den Wolken gefallen. 384 

Zapfenstreich, Retraite, Reti- 

rade, Redoute. 386 

Zenith. 391 

Zoll... 392 


39 £ 


Seite 

297 

298 

300 

3 °i 

303 

3 °S 

308 

309 

3ii 

312 

313 

314 

319 

32 o 

323 

324 

326 


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■ 














































AAR, ADLER, SPERBER 

Aar (althochdeutsch aro, gotisch ara) ist vielleicht mit griechisch 
ornis (Vogel) verwandt. In der Zeit der mittelalterlichen Falknerei, 
als man die zur Jagd verwendeten Raubvögel in edle und unedle 
einteilte, kam die Form adel-are (edler Aar) auf, woraus Adler 
wurde, welches Wort dann das ältere Aar zunächst — wenn man 
von seinem Fortleben in Zusammensetzungen, wie Fischaar, Hühner¬ 
aar usw., absieht — ganz verdrängte. Bei Luther kommt Aar über¬ 
haupt nicht vor. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
tauchte Aar als altertümliches, daher dichterisch wirkendes Wort 
wiederauf, zuerst wahrscheinlich 175-6 bei Gleim. Einzelne Dichter, 
die das neubelebte Wort aufgriffen, fanden es nötig, in erklärender 
Fußnote hinzuzufügen, daß das Wort gleichbedeutend sei mit Adler. 
So vollzog sich ein vollständiger Rollen tausch: das ursprünglich 
,,adel“-lose Wort Aar war nunmehr als Wort der Dichtersprache 
geadelt und über das mittlerweile gewöhnlich gewordene Adel-Are 
= Adler erhoben 1 * * . 

Das Wort Aar ist auch enthalten im Vogelnamen Sperber, alt¬ 
hochdeutsch sparwari = Sperlingsaar, d. h. von Sperlingen lebender 
Adler. Ferner ist das Wort Aar auch enthalten im Vornamen 
Arnold, althochdeutsch aranwalt = wie ein Aar Waltender, Herr¬ 
schender. 

Das Beispiel des alten Wortes Aar — zuerst ganz aus dem Gebrauch 
geraten und dann wieder aus der Vergessenheit hervorgeholt — steht 
in der Wortgeschichte nicht vereinzelt da. Die Bereicherung der 
Sprache vollzieht sich nicht nur im Wege von Neuschöpfungen, 
sondern auch durch 

Neubelebung veralteter Wörter. 

Schon Leibniz empfahl in den ,,LInvorgreifliehen Gedanken 4 ‘ ,,die 
Aufsuchung guter Wörter, die schon vorhanden, aber itzo ver¬ 
gessen“. Besonders die Dichter des 18. Jahrhunderts waren bewußt 
um die Reaktivierung längst in den Ruhestand versetzter Wörter 

1) Durch Voransetzung des Wortes „Adel“ ist übrigens nicht nur der Aar 
nobilitiert worden, sondern auch mehrere deutsche Vornamen verdanken 
dieser Voransetzung ihre jetzige Form. So ist z. B. Adalbert (verkürzt Albert 
und Albrecht) der durch Adel (ursprünglich Landbesitz) Prächtige; Adolf 

(Atha-ulf, Namen des ersten Königs der Westgoten) der Edelwolf; Alois 

(Adelweis, Alwis) der Edle und Weise; Adelheid (verkürzt Adele) die edle 

Gestalt, das edle Wesen. 




bemüht. Man müsse, führte Herder aus, die Klangwörter der alten 
Sprache wieder erobern, damit aus ihnen die ermattende Schreibart 
Kraft und Stärke trinke. Die Neuausgabe der Sinngedichte Logaus 
durch Lessing hat u. a. folgenden, damals bereits welken Wörtern 
zur neuen Blüte verholfen: Besonnenheit, entjungfern, erkunden, 
torkeln, herzlich, Städte, Wegelagerer, Unzahl. Durch die Wieder¬ 
einführung alter Wörter, schreibt Lessing in der Einführung der 
Logau-Ausgabe, könne der Sprache „ein weit größerer Dienst er¬ 
wiesen werden als durch Prägung ganz neuer Wörter, von denen 
es ungewiß ist, ob ihr Stempel ihnen den rechten Lauf so bald geben 
möchte“. In den deutschen Shakespeare-Übersetzungen am Ende 
des 18. Jahrhunderts sind z. B. Wörter wie Halle und Heim nach 
fast dreihundertjährigem Dornröschenschlaf zu neuem Leben er¬ 
wacht. Bei Klopstock auferstehen: Barde, Hain, hehr; in der Voß- 
schen Homer-Übersetzung: gastlich und Gastfreund. Dieses Streben, 
verschollene Wörter wieder in Umlauf zu bringen, dauerte auch im 
19. Jahrhundert an. Uhland wollte vor allem alte Wörter, an denen 
sich ein Bedeutungswandel vollzogen hatte, im ursprünglichen Sinn 
verwendet wissen, z. B. fromm im Sinne von tüchtig, gesund im 
Sinne von unversehrt, Elend im Sinne von Fremde. Übrigens war 
auch die schon im 18. Jahrhundert besonders von Wieland ver¬ 
tretene Forderung, schweizerischen Autoren ihre mundartlichen 
Ausdrücke (wie abschätzig, Augenschein, bildsam, verzetteln, Vor¬ 
spiegelung) abzulauschen, mittelbar nichts anderes als ein Streben 
zur Neubelebung alter Wörter, da es sich bei diesen schweizerischen 
Wörtern, die sich durch eine sinnlich-anschauliche Art aus¬ 
zeichneten, in der Hauptsache um regional erhalten gebliebenes 
altes deutsches Allgemeingut handelte. 

Um zu ermessen, wie viele heute lebensfrisch erscheinende Wörter 
der deutschen Sprache erst von den Dichtern des 18. und 19. Jahr¬ 
hunderts neu belebt worden sind, lese man nach, was einzelne 
Wörterbücher des 18. Jahrhunderts noch als veraltet oder aus¬ 
gestorben bezeichnet haben. So verzeichnet z. B. Steinbach in 
seinem deutschen Wörterbuch 1734 u. a. folgende Wörter als 
veraltet: bieder, Dime, Fehde, Forst, Gaul, und Adelung verwirft 
1784 als Provenzialismen, da nur niederdeutsch, die Wörter: Arger, 
beschwichtigen, Bucht, dicht, düster, flau, flink, hastig, vergeblich; 
als nur oberdeutsch: abhanden, behelligen, dumpf, kosen, un¬ 
befangen, LInbill, weitschichtig; er dekretiert, daß man folgende 

12 


\ 



Wörter als veraltet und lächerlich nicht gebrauche: abhold, Aben¬ 
teuer, Absage, beginnen, behaglich, Drang, Gau, Hader, Knappe, 
Wonne, zierlich. Er könnte sich heute wundem, wie lebendig und 
unlächerlich all diese Wörter seither wieder geworden sind. Einige 
weitere Wörter, denen man es nicht ansieht, daß sie schon einmal 
zu Grabe getragen worden sind: Ansicht, bangen, Feme, Gast¬ 
freundschaft, Gebilde, Inschrift, sühnen, Tafelrunde, Vaterschaft, 
Wagnis. 

Viele veraltete Wörter hat Richard Wagner zu neuem Leben er¬ 
weckt, allerdings ohne daß sie den altertümlichen Charakter ver¬ 
loren hätten: z. B. Maid, Minne, Tarnkappe, Walküre, und den 
Namen jener Wurfwaffe von drei Buchstaben, ohne welche heute 
Kreuzworträtsel ihr Auslangen nicht finden könnten: Ger. Viele 
Neubelebungen Wagners sind allerdings nicht durchgedrungen, wie 
freislich, sehren (= beschädigen, z. B. sehrende Not, enthalten in 
unversehrt), Glast, gehren, hellen usw. Überhaupt war den Neu¬ 
belebungsversuchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht 
mehr so leicht Erfolg beschieden wie den früheren. So gingen aus 
den ,,Ahnen“ von Gustav Freytag zwar die wiederbelebten Wörter 
Gelahrtheit, Wittib, sintemal in den allgemeinen Sprachgebrauch 
über, d. h. sie sind allgemein bekannt, sie anders als scherzhaft zu 
gebrauchen, gilt aber doch als Manieriertheit. 

Neben den einigen Hunderten einmal bereits abgestorbener und 
dann neu belebter Wörter gibt es natürlich auch eine unvergleich¬ 
lich größere Anzahl solcher, die ganz (oder jedenfalls vorläufig) 
verschollen sind. Solche 

untergegangene Wörter 

sind z. B. barn (Kind), enke (Knecht), schelch (Kahn), gadem 
(Haus), beiten (warten), dagen (schweigen), nenden (wagen), 
tougen (heimlich). Durch Wörter fremden Ursprungs wurden 
u. a. verdrängt, sinewel, lauch, ritten: nämlich durch rund, 
Flamme, Fieber, die alle drei lateinischen Ursprungs sind. So 
ersetzte z. B. auch das griechische Wort Evangelium das alt¬ 
hochdeutsche gotspel (Erzählung von Gott, englisch gospel), 
Priester (aus griechisch presbyteros = Älterer) das germanische 
Ewart (Wart, d. h. Hüter der Ehe, d. h. des Gesetzes), Sarg (aus 
griechisch sarkophagos) die in Mundarten noch erhaltenen Aus¬ 
drücke Leichkar, Totenbaum. Tisch (von griechisch diskos) 


13 




verdrängte das Wort Beute, Zwiebel (italienisch cibola) das Wort 
Bolle. Fest (aus dem Lateinischen) tritt an die Stelle von Dult (in 
Bayern heute noch gebräuchlich im Sinne von Jahrmarkt); Puppe 
(ebenfalls lateinisch) gelangt an Stelle von Docke (bei Luther kommt 
Toche noch vor); Anker (aus griechisch-lateinisch ankyra, ancora) 
an Stelle von Senkel (noch erhalten in Schnürsenkel); Mühle (von 
lateinisch mola, spätlateinisch molina) verdrängte das germanische 
Quern, Küme (erhalten noch in Ortsnamen wie Querfurt, Quirren¬ 
bach, Quamebeck). Über die Verdrängung von keltisch-germanisch 
lachi durch das Lehnwort Arzt (griechisch archiatros) und der deut¬ 
schen Wörter Anke und Schmer durch Butter (skythisch-griechisch- 
lateinisch butyron) siehe die Stichwörter „Arzt“ und „Butter“ 1 . 

In der Lutherbibel mußten neuere Ausgaben viele alte Ausdrücke 
der ursprünglichen Übersetzung, weil schon unverstanden, bald 
durch jüngere ersetzen, z. B.: gl um durch schwammig, Kolter 
durch Bettdecke, Sponde durch Bettgestell, Kreuel durch Gabel, 
Pfeben durch Kürbis, treufen durch schelten. Von vielen unter¬ 
gegangenen Wörtern lebt der Stamm in anderen Wörtern, Zu¬ 
sammensetzungen, Weiterbildungen noch fort, z. B. ande = Krän¬ 
kung in ahnden, beigen = schwellen in Balg; blichen = schimmern 
in bleich; boln = werfen in Böller; bolt = kühn in Witzbold, Rauf¬ 
bold, Trunkenbold und auch in Kobold (der im Koben, d. h. im 
Hause Waltende); bozen = schlagen in Amboß, Putsch und Butzen 
(= Klumpen); burian = aufheben und bor = Erhebung, Trotz in 
empor und empören; deo = Knecht in Demut; feim = Schaum in 
abgefeimt; galen = singen in Nachtigall; gelimpfen = angemessen 
sein in glimpflich; hurt = Stoß in hurtig; kara = Klage in Kar¬ 
freitag; varn = leben in Hoffart und Wohlfahrt; leichen — tanzen, 
hüpfen in Wetterleuchten, frohlocken und locken (gegen den 
Stachel); malm = Staub in zermalmen; mein = falsch in Meineid; 
munt = Schutz in Mündel und Vormund; vam = Ziel, Streben 
in anberaumen; ruoche = Sorge, Überlegung in ruchlos; schmer 


i) Daneben sind auch die Fälle zu erwähnen, in denen das ältere germanische 
Wort noch nicht ganz untergegangen ist, sondern in der Schriftsprache nur 
weniger gebräuchlich ist als das allgemein vorherrschende Wort fremden 
Ursprungs; so erhielt sich neben Onkel und Tante (von lateinisch avunculus, 
französisch oncle und lateinisch amita, altfranzösisch ante) Oheim und Muhme; 
neben Insel (lateinisch) Aue, Werder, Eiland; neben Peitsche (im 16. Jahr¬ 
hundert aus dem Tschechischen und dem Polnischen entlehnt) Geißel. 


14 



= Fett in Schnfierbauch; sehr = Schmerz in unversehrt; sin = immer, 
allgemein in Sintflut und Singrün; spanen = locken in Gespenst und 
abspenstig; spei = reden in Beispiel (englisch spell = reden, gospel, 
godspel = Evangelium), spen = Muttermilch in Spanferkel; vlat 
= Sauberkeit in Unflat; vro = Herr in frönen, Frondienst, Fron¬ 
leichnam und in der weiblichen Form Frau; zafen = putzen in Zofe; 
zwerch = quer in Zwerchfell. 

Viele untergegangene Wörter leben noch in Eigennamen fort, 
z, B. stauf = hochragender Felsen in Hohenstaufen, gadem == Haus in 
Berchtesgaden (Berchtholdes gadem), ram = Bock in Ramsau, 
klinge = Bach in Klingental, lachenaere = Arzt in Lachner, Lach¬ 
mann, storf = Strunk, Klotz, Baumstumpf in Storfer. Besonders in 
jenen Familiennamen, die als alte Gewerbebezeichnungen ge¬ 
deutet werden, erhält sich noch viel sonst ausgestorbenes Sprach- 
gut. Um nur einige Beispiele zu nennen: Bleuler = Besitzer einer 
Stampfmühle (mittelhochdeutsch bliuwel), Hodler = Fuhrmann 
(Hodel ist die über den Wagen gespannte große Decke), Kieser 
= amtlich bestellter Prüfer von Getränken, auch von Geld (kiesen 
= prüfen, wählen), Pagenstecher = Roßschlächter (mittelhoch¬ 
deutsch page = Pferd), Bardenhewer = Waffenschmied (der die 
Barten, d. h. Beile haut), Pfotenhauer = Zimmermann, der die 
Pfetten (Dach- und Querbalken) zuhaut, Pfeitler = Hemdenmacher 
(pfeit = Hemd), Spener = Nadelmacher (in Österreich heißt die 
Stecknadel auch jetzt noch Spennadel), Geizer = Schweinever¬ 
schneider (geize = verschnittenes Schwein), Auler = Töpfer (alt¬ 
hochdeutsch ula, lateinisch olla ~ Topf), Schwegler = Verfertiger 
von Flöten (mittelhochdeutsch swegel), Fechner = Kürschner (Feh 
= Pelzwerk), Lersner=Verfertiger von ledernen Hosen (Lersen) usw. 
Manches veraltete Wort lebt in Straßennamen fort: so z. B. 
das Wort Hülbe = Wasserloch im Wiener Straßennamen An der 
Hülben; Kumpf = Walktrog der Wollweber in Kumpfgasse (in der 
Nähe der Wollzeile in Wien). 

Von anderen ausgestorbenen Wörtern sind nur in einzelnen 
Mundarten Reste vorhanden. Zu diesen alten Wörtern, die nur 
noch ein mundartliches Dasein fristen, gehören z. B. Baude = Ge- 
birgshütte, Brake = Hund, Bruch = Hose (englisch breeches), Farre 
= junger Stier, Hechse = Kniebug, lützel = klein (englisch little), 
Nehrung = Landzunge, Maut=Zoll, Schaff= Gefäß, Spint=Schrank, 
Schrein, strählen = kämmen. 



Schließlich sei noch erwähnt, daß manches ausgestorbene deut¬ 
sche Wort in einer fremden Sprache, von der es einmal entlehnt 
worden ist, noch weiterlebt. Wir nennen zwei Beispiele aus dem 
Ungarischen, also aus einer nicht indogermanischen Sprache: im 
Worte mälha = Bündel, Gepäck lebt althochdeutsch malaha, mittel¬ 
hochdeutsch malhe noch fort, und das ungarische zsäkmäny — Beute 
ist nichts anderes als unser verschollenes Wort „Sackmann“. („Die 
sackman werden rouben und nemen unser hab“, heißt es bei Meister 
Altswert, dem Elsässer Dichter im 14. Jahrhundert; im älteren 
Neuhochdeutsch bedeutete „den Sackmann machen“ plündern, und 
die Plünderung hieß auch kurz „der Sackmann“; übrigens bildete 
sich daraus auch der Italiener — offenbar durch Vermittlung deut¬ 
scher Landsknechte und Reisläufer — die Ausdrücke mettere a 
saccomanno und saccomannare; die große Verwüstung und Plün¬ 
derung der „ewigen Stadt“ durch die Söldner Karls V. lebt in der 
Geschichte als „sacco die Roma“ fort.) 

ABGEBRANNT, BRANDBRIEF 

Als abgebrannt bezeichnet man nicht nur ein Haus oder ein 
Gehöft, das Raub der Flammen geworden ist, sondern schon seit 
dem 16. Jahrhundert auch den Menschen selbst, dessen Habe ab¬ 
gebrannt ist. Verallgemeinert, d. h. losgelöst von der Vorstellung 
des Feuerschadens und nicht ohne scherzhaften Beigeschmack, finden 
wir das Wort auch bei Goethe; im 8. Bandevon „Dichtung und 
Wahrheit 44 ist zu lesen: „Er lehnte das Darlehen ab und gab mit einer 
Schalkheit zu verstehen, daß er nicht so abgebrannt sei, als er aus- 
sehen möchte.“ Das Abgebranntsein als Musterfall der Geldnot 
zeigt auch das Sprichwort: dreimal umgezogen ist einmal ab¬ 
gebrannt. (Das berlinische abjeäschert ist nicht ganz ein Synonym 
von abgebrannt; es bedeutet: abgehetzt 1 .) 

Daß das Wort abgebrannt im allgemeineren Sinne jemanden be¬ 
zeichnet, der kein Geld hat (der „blank“, „potz“, „stier“, „par¬ 
terre“, „schwarz“, „neger“ ist), geht wohl hauptsächlich auf die 
Verhältnisse während des Dreißigjährigen Krieges zurück, als Feuers- 

1) In Ostpreußen gibt es (nach Frischbier) auch die Redensart er ist kalt 
abgebrannt mit der Bedeutung: er hat seinen Hof kurz vor der Versteigerung 
mit Hilfe gefälliger Nachbarn bei Nacht niedergerissen. Bei solchen kalten 
Bränden wird das Material sowie sämtliches Inventar und Mobiliar weggeschafft 
und dadurch den Gläubigern jedes Objekt zu ihrer Befriedigung entzogen. 

16 



brünste die häufigsten Ursachen der Verarmung stellten. Moscherosch 
schrieb 1640:,, Underwegs stieße uns auff ein gut Gesell, den ich 
wol kante, der beklagte sich, daß er abgebrant war, das ist nach 
Feldsprach soviel, als daß er umb alles kommen und erarmet war, 
daß er alles zugesetzt und verlohren hatte.“ 

Mit dem deutschen ,,abgebrannt sein“ ist das französische etre 
brüle in Parallele zu stellen, z. B. il est brüle chez ses fournisseurs, 
er hat den Kredit verloren (,,ist verbrannt“) bei seinen Lieferanten; 
un politicien brüle ist ein Politiker, der jeden Einfluß verloren hat. 

In dem Ausdruck Brandbrief kreuzen sich verschiedene Vor¬ 
stellungen : 

a) Leuten, die durch einen Brand mittellos geworden waren, 
wurde dies in früheren Zeiten, mindestens seit dem 17. Jahrhundert, 
oft durch ein behördliches Schreiben bestätigt. Da es noch keine 
Feuerversicherung gab, war es Brauch, daß man dem „abgebrann¬ 
ten“ Nachbar durch Arbeit, Material oder Geld zu Hilfe kam. Der 
Brandbrief sollte es eben ermöglichen, auch bei entfernter Leben¬ 
den, die über den Brand nicht verläßliche Kunde hatten, um Unter¬ 
stützung vorzusprechen. In der Schweiz 1 sagte man auch „Brunst¬ 
brief“. „Wo’s no kei Führassekeranz g’ha häd, häd-mer öppen eso 
en ab’brännte Ma g’seh mit-eme Schrieben ume ga und Geld ie- 
zieh.“ In österreichischen Landgemeinden kommt es auch heute 
vor, daß der „Abbrändler“ auf Grund einer schriftlichen Be¬ 
stätigung des Bürgermeisters nähere und fernere Nachbaren um 
Hilfe beim Wiederaufbau seines Gehöftes bittet. Die auf dem Lande 
häufigen Familiennamen Brandstetter, Prantner und Prantl, Brandl 
gehen vermutlich auf solche Feuersbrünste und gemeinschaftliche 
Schadengutmachungen zurück. (Beim Familiennamen Prantner 
könnte allerdings auch an das bayrisch-österreichische mundartliche 
Wort „Pranter“ gedacht werden; es bezeichnet einen Dachfutter¬ 
raum, den für Getreide bestimmten Boden über der Tenne und 
kommt nach Lessiak wahrscheinlich von slowenisch prentro.) 

b) In den bewegten Zeitläuften des 17. Jahrhunderts sind Brand¬ 
briefe, die man durch Feuer arm gewordenen Personen in Deutsch¬ 
land manchenorts ausstellte, oft auch zum dauernden und gewerbs¬ 
mäßigen Betteln mißbraucht worden. Mancher Bauer verlor die 

1) Abgebrannt im Sinne „kein Geld habend“ gebraucht der Schweizer 
zwar nicht, aber dafür z. B. beim Kartenspiel ,,i der Brandi si (sein)“, wenn 
er kein Spiel hat, z. B. beim Jassen weniger als 21 Augen hat. 


17 





Lust, zu seinem Grund heimzukehren, da Kriegshorden ihn immer 
wieder um die Früchte seiner harten Arbeit bringen konnten, und 
wurde zum Landstürzer, der sich — wenn nicht gar in schlimmerer 
Weise — bettelnd durchs Leben schlug. Da wurden behördliche 
Bettelbriefe weiterverschachert und nicht selten überhaupt 
gefälscht. Bei den vielen Belegen, die z. B. das Schweizerische 
Idiotikon aus Dokumenten der Zeit von 1618 bis 179^ zum Aus¬ 
druck Brandbrief beibringt, handelt es sich überwiegend um 
,,falsche, von anderen erkaufte oder mit falschen Siegeln besiegelte 
Brandbriefe“. Kein Wunder, daß das Wort Brandbrief einen üblen 
Beigeschmack bekam. 

c) Im 17. Jahrhundert waren außerdem aber auch gewisse 
,,Brandbriefe“ (oder ,,Feuerbriefe“) im Umlauf, die von einem 
sagenhaften christlichen Zigeunerkönig stammen sollten und Zauber¬ 
formeln, Besprechungen gegen Feuer, Gespenster, Seuchen u. dgl. 
enthielten. Mit den vorher behandelten hatten diese Brandbriefe 
gemein, daß sie herumziehenden Leuten gelegentlich Geld ein¬ 
brachten. 

d) Daneben gab es noch eine ältere Bedeutung des Wortes Brand¬ 
brief: so nannte man (nach Schmeller) die Verordnungen, die am 
Anfang des 1 £. Jahrhunderts von den Fürsten Bayerns und ihren 
Landschaften gemeinsam gegen Brandbrenner, Diebe und Räuber 
erlassen wurden. 

e) Wieder eine andere Bedeutung von Brandbrief ist: Drohbrief, 
in dem man eine Brandlegung ankündigt. Auch diese Bedeutung ist 
älter als jene des Brandbestätigungsbriefes: brantbrief mit der Be¬ 
deutung Fehdebrief, der Schädigung durch Feuer androht, ist schon 
für 1402 belegt. Solche Drohung, die schließlich jeden kriegerischen 
Charakter verloren hatte, diente später gelegentlich auch zur 
Stützung erpresserischer Forderungen, in anderen Fällen kündigte 
sie einen Racheakt an. Oft waren es von Bauern unglimpflich be¬ 
handelte Vaganten, Gaukler, Zigeuner oder sogar Handwerks¬ 
burschen, die sich ihr Mütchen durch solche schriftliche Drohungen 
kühlten; um die Rachegelüste auch durch die Tat zu stillen, dazu 
langte es nicht in allen Fällen an Gelegenheit, es wird aber den 
davongejagten Ahasveren schon gewisse Befriedigung bereitet haben, 
die gehaßten Widersacher in aufgeregter Angst und banger Er¬ 
wartung zu wissen. Die Sitte solcher Drohbriefe — sie sind die 
Vorläufer der Erpresserbriefe der Gangster und Kidnapper — hat 

18 




sich lange erhalten. So wurde z. B. 1790, einige Tage bevor das 
Augustinerkloster zu Lauingen an der Donau niederbrannte, auf der 
Straße in der Nähe des Stiftes ein Brieflein gefunden, an den Prior 
gerichtet, das mit den Worten begann: ,,Aus allen den ist sicher 
glauben und nachricht, das nicht ruhen ist bis alles wird dem boden 
gleich sein und soll es auch wieder fehlschlagen, diesesmal gut noch 
Augustiner.“ Sogar aus dem 19. Jahrhundert wird noch vielfach 
berichtet, daß Landstreicher, Bettler oder Walzbrüder auf einem 
Bauernhof, wo sie sich schlecht behandelt dünkten, einen Zettel 
zurückgelassen haben, auf dem ein Hahn (der ,,rote Hahn“) ge¬ 
zeichnet und eine Branddrohung ausgesprochen war. In so einem 
Brandbriefe aus dem Marchfelde (Niederösterreich) heißt es: ,,In 
dera Wocha brint den Prottengayer sein ganzes Gerschtl und 
Glampfweri (ganzes Hab und Gut) nieder; hiats eng das ans leschen 
hilfft, denn sunst zint i eng dammisch undar.“ Es ist einleuchtend, 
daß solche anonyme Brandbriefe nicht nur ,,ortsfremde Elemente“, 
sondern mitunter auch Ortseingesessene zum Verfasser haben konn¬ 
ten. Ein gereimter Brandbrief aus Bayern aus der zweiten Hälfte 
des 19. Jahrhunderts beginnt mit den Zeilen: ,,Wir sind halt unser 
dreißig, — im Anzünden sind wir fleißig.“ 

f) Schließlich gelangen wir zum neuesten Gebrauch des Wortes 
Brandbrief, besonders in der Redensart jemandem einen Brand¬ 
briefschicken. In diesem sprachlichen Zusammenhang haftet dem 
Ausdruck aus verschiedenen früheren Bedeutungen etwas an: es ist 
sowohl das Bettelnde als das Drohende darin vertreten; daher be¬ 
dient sich auch mit Vorliebe die Studentensprache des Wortes Brand¬ 
brief zur Bezeichnung eines dringlichen und energischen Pump¬ 
briefes. Daneben schwingen bei solcher Verwendung des Wortes 
auch andere Vorstellungen noch mit: Brandbrief = dringender Brief 
und Brandbriefe entflammender Brief (so wie Brandrede = hetzende, 
entflammende, hinreißende, überzeugende Rede). Wenn man also 
in Geldnöten an einen Nahestehenden einen Brandbrief schickt, so 
ist das erstens der Brief eines Abgebrannten, zweitens ein Brief, 
der das Herz des Empfängers in milden Brand zu versetzen sucht, 
drittens ein Brief, der die Hilfe als sehr dringend bezeichnet, da 
,,es bereits brennt“, viertens ein Brief, der für den Fall versagter 
Hilfe üble Folgen für den Schreiber (daher mittelbar auch für den 
Empfänger) in Aussicht stellt. Mehr kann man von einem einzigen 
schlichten Wort nicht verlangen. 


19 



ABGEFEIMT, ABGEBRÜHT 

Zwischen einem abgefeimten Kerl und einem abgebrühten ist 
kein großer Unterschied. Verschieden ist aber die sprachliche Her¬ 
kunft der beiden Eigenschaftswörter. 

Feim (althochdeutsch veim, englisch foam, wahrscheinlich 
urverwandt mit altindisch fena) bedeutet Schaum. Träume sind 
Fäume, heißt es im Schwäbischen. Alte Wiener sprechen noch heute 
vom Faam beim Bier, beim Kaffee usw.; ,,vor lauter Zürn steht 
eahm der Faam beim Maul.“ Auch „’s Roßfaamt“. Abfaamenheißt 
wienerisch auch: im Kartenspiel das Geld abnehmen; offenbar die 
gleiche Metapher, wie bei der übertragenen Bedeutung von „den 
Rahm abschöpfen“; man vergleiche auch steirisch abfeimen, ab- 
faumen = Geld absammeln im Wirtshaus (von „fahrenden Künst¬ 
lern ). Abschaum ist die von der Flüssigkeit entfernte Unreinigkeit, 
abgefeimt also = abgeschäumt. Auf dem Eichsfeld (südlich vom 
Harz) wird „abgefeimt“ noch im konkreten Sinne gebraucht: „häst 
dann d’Soppn alle (= schon) obgefiemet?“ 

„Abgefeimt“ als Scheltwort erscheint schon Mitte des i£. Jahr¬ 
hunderts beim vielgereisten Meistersinger Michael Behaim; in 
seinem Buch von den Wienern ist wiederholt von „gefampten, ab- 
geschaimpten“ Menschen, von „gevaimpt Schelken“ (Schalken) 
die Rede. Luther spricht dann von abgefeimten Christen und meint 
den Abschaum der Christenheit. Abraham a Santa Clara (der übri¬ 
gens auch Meerfaumb für Meerschaum sagt) schreibt: „Etliche tun 
nicht allein die Suppen abfeimen, sondern sind selbst der Abfeim 
aller Bosheit.“ Ohne üblen Beigeschmack verwendet Leibniz das 
Wort etwa in dem Sinne von abstrakt: ,,bei denen noch mehr ab¬ 
gezogenen und abgefeimten Erkänntnissen.“ Im allgemeinen hat das 
Wort abgefeimt aber nur noch die Bedeutung übertrieben, erz¬ 
schlau. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat man gelegent¬ 
lich auch die Rou6s (Wüstlinge) die Abgefeimten genannt. Auf den 
Vergleich mit dem Abschäumen beruht auch das sinnverwandte 
raffiniert (französisch raffine aus re = wieder, ad = zu, fin = fein), 
verfeinert in industriellem Sinne (Zucker, Petroleum usw.) und im 
übertragenen (z. B. raffinierter Luxus, raffinierter Betrug, raffinierte 
Grausamkeit). Der den Eigenschaftswörtern abgefeimt, raffiniert 
zugrunde liegende Vergleich zwischen einer künstlich verfeinerten 
Materie und einem besonders schlauen Menschen erklärt wohl auch 


20 



die Ausdrücke durchtrieben, gerieben, mit allen Wässern 
gewaschen. 

Abgebrüht wäre man leicht geneigt zu erklären wie gebrannt 
= gewitzigt, vorsichtig, jemand, der wie das gebrannte Kind den 
Ofen scheut; oder in Verbindung zu bringen mit ,,hartgesottener 
Sünder“ ; auch das Berlinische ,,ausjekochter Junge“ = gefährlicher 
Kerl kann einem einfallen. Aber ,,abgebrüht“ im Sinne von schlau 
kommt gar nicht von brühen = mit heißer Flüssigkeit begießen, 
auch nicht etwa von brüten = erhitzend auf etwas sitzen, sondern 
von niederdeutsch und niederländisch brüen und brüden = necken, 
narren, plagen (,,brühst du mi, brüh ik di weder“), aber vor allem 
auch: coire. Dieses Zeitwort brüten hängt zusammen mit nieder¬ 
deutsch brüd = Braut, was ursprünglich nicht Verlobte, sondern 
(ebenso wie englisch bride, schwedisch brud) junge Frau bedeutet; 
brüen, brüden bedeutet demnach: ein Mädchen zur Frau machen. 
In Grimmelshausens „Simplizissimus“ steht das mecklenburgische 
Schimpfwort ,,brüd’ dyne möme“, brühe deine Mutter, und so 
scheint -der verbreitete russische, rumänische, südslawische, unga¬ 
rische Fluch auch ein vereinzeltes deutsches Gegenstück zu haben, 
allerdings aus einem besonders derben Jahrhundert. Daß brüden 
als Bezeichnung des Geschlechtsverkehrs nicht auf das niederdeutsche 
Sprachgebiet beschränkt war, zeigt das Schweizerische Idiotikon, 
das den Ausdruck aus Akten von Beleidigungsprozessen im 14. und 
i£. Jahrhundert reichlich belegt: 1386 wurde z. B. eine Frau ge¬ 
klagt, weil sie einer anderen durch Unzucht erworbene Geschenke 
vorgeworfen hatte: ,,ich han nöt rot rock brütend gewonnen als 
du“; im Jahre 1398 war der Spitzname Brutenfuchs = brüte den 
Fuchs, in dem also der Vorwurf der Sodomie lag, Gegenstand eines 
Prozesses; 145-3 stand ein Mädchen vor Gericht, das ihrer Nachbarin 
zugerufen hatte: Ittly Rüsegger, der Hensly Billiter hät dich brütet. 
Wie die den Geschlechtsverkehr bezeichnenden Zeitwörter dazu 
kommen, auch andere Tätigkeiten ausdrücken zu können, hat Hans 
Sperber in seiner Studie in der ,,Imago“ über die Entstehung der 
Sprache auseinandergesetzt. Der vorherrschende Sinn von abgebrüht 
ist jetzt: schamlos, vor keiner Schandtat zurückschreckend. Durch 
den Anklang an brühen = mit heißer Flüssigkeit begießen ist aller¬ 
dings auch die Möglichkeit zu mancher weniger drastischen Sinnes¬ 
nuance gegeben; Platen spricht z. B. von ,,Schillers zehnmal ab¬ 
gebrühten Phrase“. 


21 



ALMOSEN 

Das griechische Wort eleemosyne ist als Übersetzung des biblisch¬ 
hebräischen rachmanoen = Mitleid entstanden und enthält das Zeit¬ 
wort eleein, bemitleiden (wie in Kyrie-eleison, Herr, erbarme 
Dich). Es gelangte bei Vordringen des Christentums schon früh, 
wahrscheinlich durch Vermittlung der Romanen Galliens (alimosna), 
in die germanischen Sprachen. So kam es zu angelsächsisch älmesse, 
altnordisch olmusa, althochdeutsch alamuosan mit der Bedeutung: 
Armengabe. 

Der Übergang vom Abstraktum „Erbarmen 4 4 zum Konkretum 
„Armengabe“ stellt einen bemerkenswerten Typus der Bedeutungs¬ 
verschiebung dar: das Wort, das zuerst eine bestimmte seelische 
Einstellung (eleemosyne = Erbarmen) bezeichnet, wird zur Bezeich¬ 
nung des Gegenstandes von Handlungen (Almosen), deren Beweg¬ 
grund jene Einstellung ist; man vergleiche damit englisch bounty, 
was sowohl Freigebigkeit als Geschenk, Prämie bedeutet; ähnlicher¬ 
weise hat douceur im Französischen früher nicht nur Süßigkeit, 
Freundlichkeit, sondern — wie unser Fremdwort — auch Trinkgeld 
bedeutet. 

Aus mittelhochdeutsch almuosen wurde im 16 . Jahrhundert 
Almusen oder gelegentlich (anscheinend in Anlehnung an arm 
= pauper) Armusen. Bei Luther jedoch schon: Almosen. Die 
germanisch anmutende Form gab öfters Anlaß zu volksetymologi¬ 
schen Wortspielen. Abraham a Santa Clara predigt einmal: Ihr 
weißt gar wohl, daß das Wörtel Almosen so viel heißt, als: alle 
müssen; dann ein jeder schuldig ist, den Armen . . . usw. Der 
sprachgewaltige Pater konnte in seiner Wiener Predigt um so leichter 
zu dieser Ideenverknüpfung gelangen, als das Wort in der Volks¬ 
sprache seiner schwäbischen Heimat die Form Allmuossen hatte. 
In einer Augsburger Chronik heißt es z. B. „ain Stock, das Allen- 
mussen einzulegen 4 4 . Übrigens sagt man im Schwäbischen (an 
„arm und ,,muos 44 = Mus denkend) auch Armmusen. 

Im Französischen wurde das griechische Wort über altfranzösisch 
almosne zu aumone, daraus aumonier, was Almosenpfleger oder 
Feldprediger bedeutet, womit man früher aber auch den Almosen¬ 
empfänger, d. h. den Bettler, bezeichnete. Aus dieser früheren 
Doppelbedeutung erklärt sich wohl, daß aumonier in der heutigen 
Pariser Unterweltssprache einen Dieb bedeutet, der einen Bettler 


22 



zum Helfershelfer hat. Im Englischen verdichtet sich das griechische 
eleemosyne zu alms (das Englische hat eine besondere Neigung zur 
Vereinsilbigung), woraus auch viele bemerkenswerte Zusammen¬ 
setzungen, wie alms-bag = Klingenbeutel, alms-fee = Peterspfennig, 
alms-land = Kirchengut. 

Die oft durchdringende Abneigung gegen das Beginnen eines 
Wortes mit einem Vokal verwandelte das griechische eleemosyne 
im Italienischen zu limosina, im Spanischen zu limosna und im 
Polnischen zu jalmuzna. Im Altslawischen hieß es noch almuzino. 
Durch slawische Vermittlung kam es wohl zum ungarischen ala- 
mizsna = Armengabe; daneben gibt es im Ungarischen merkwür¬ 
digerweise aber auch eine zweite, dem griechischen eleemosyne 
ähnlichere Form elemozsia, welches volkstümliche Wort jedoch 
nur Verpflegung (z. B. auf einen Weg mitgenommenen Mundvorrat) 
bedeutet; vielleicht ist diese Nebenform unter Bettelmönchen oder 
Bettelstudenten entstanden, auf deren Wanderungen die Begriffe 
milde Gabe und Proviant vielfach zusammenfielen. 

,,Almosen geben 44 hat im Volke auch eine sonderbare übertragene 
Bedeutung. Schmellers Bayrisches Wörterbuch verzeichnet es als 
scherzhafte Redensart mit der Bedeutung: ,,die physische Liebe 
pflegen (vom Manne gemeint). 44 Auch im Niedersächsischen 
(Bremen) wird von einem, der zitternde Hände hat, scherzhaft 
gesagt: He het to veel um Gottes willen geven. 

ANGER, ANGEL, ANKER, VERANKERN 

Es wird eine indogermanische Wurzel onk vorausgesetzt mit der 
Bedeutung krumm, gekrümmt. Von dieser stammt wohl (über 
griechisch ankyra, lateinisch uncus = Gekrümmtes, Haken und 
ancora = Anker) das deutsche Anker (zweiarmig gekrümmtes 
Eisen zum Festmachen von Schiffen 1 ) als auch Angel 2 (Stachel 3 , 
Spitze, Widerhaken,Türangel, Fischangel). Weniger sicher erscheint, 

1) Die Germanen gebrauchten ursprünglich nur schwere Steine (senkil- 
stein oder senkil) zum Festmachen der Schiffe; den eisernen Anker übernahmen 
sie von den Römern. 

2) Bezeichnenderweise sind auch im Ungarischen die Benennung von Angel 
und Anker aus der gleichen Wurzel gebildet: horog, horgony. Dazu gehört 
im Ungarischen ferner auch das Zeitwort horgol = stricken (mit einer ge¬ 
krümmten Nadel). 

3) Auch der Stachel der Biene ist als Angel bezeichnet worden (z. B. bei 
Fischart). 


23 




daß auch Anger von derselben Urwurzel abstammt. Verläßlich 
ist der Stammbaum von Anger nur bis griechisch ankos == Tal, 
Niederung. Der Zusammenhang in der Urbedeutung „gekrümmt“ 
soll darin bestehen, daß ein Tal eine Krümmung der Erdober¬ 
fläche darstellt 1 . Im Althochdeutschen hat das Wort angar jeden¬ 
falls nur den Sinn Grasland, Grasplatz. Das Wort ist enthalten 
im germanischen Völkemamen Angrivarii, Leute aus Engem, dem 
Angerland, d. h. Grasland in den Niederungen an der Weser. Im 
Mittelalter bedeutet Anger einfach Wiese, insbesondere eine Wiese 
in der Niederung, im Tal. Heute ist das Wort schon veraltet und 
wird höchstens in der Zusammensetzung Schindanger (Wiese, wo 
das gefallene Vieh abgedeckt wird) gebraucht. Auch ist das Wort 
in manchen Städten in Straßennamen noch erhalten. Im Innern 
Münchens heißen zwei Straßen: Oberer Anger und Unterer Anger. 
In der Altstadt Wiens gibt es eine Grünangergasse, deren Namen 
für 1342 in der Form „Am grünen Anger“ belegt ist. 

Obschon die große Mehrheit der Menschen nie etwas mit dem 
Ding zu tun hat, das mit dem Worte Anker bezeichnet wird, und 
auch nur selten einen Anker zu Gesicht bekommt, gehört das Wort 
nicht zu den seltenen in der Umgangssprache, was wohl damit zu¬ 
sammenhängt, daß der Anker als altes Symbol der Hoffnung häufig 
in den Vordergrund der Vorstellungen tritt. Beliebt ist neuerdings, 
eine verbale Weiterbildung des Wortes in übertragenem Sinne zu 
gebrauchen. Etwas verankern (z. B. in einem Gesetz), verankert 
sein (z. B. in den Vorurteilen seiner Klasse) sind Wendungen, die 
ungefähr seit Kriegsende bevorzugt werden. Das an sich gewiß 
schöne und ausdrucksvolle Bild ist eine Zeitlang so häufig verwendet 
worden, daß es bei strengen Stilkritikern als Modewort in Verruf 
geraten ist. Es ist jedoch ein Unrecht, ein „Modewort“ unter allen 
Umständen verächtlich zu finden. Es ist mit der Sprache ebenso 
wie mit allen Dingen, in deren Bereich es „Moden“ gibt: Es kann 
etwas Nettes und Nützliches in Mode kommen, und es gibt Mode¬ 
torheiten. Im übrigen entledigen sich Erscheinungen, die anfangs 
als Torheiten galten, meistens dieser Leumundsnote, wenn sie dank 
irgendwelcher ersichtlichen oder nichtersichtlichen Gründe dauer- 

1) Man beachte zu dieser Vorstellungsverknüpfung zwischen den Begriffen 
„Tal“ und „Gekrümmtes, Gebogenes“ die mit dem deutschen Worte „Tal“ 
urverwandten Wörter griechisch tholos = Kuppelbau, oph-thalmos = Auge, 
ursprünglich Augen Wölbung, altnordisch dalr = Bogen. 


24 



haft geworden sind. Wenn wir einen Ausdruck als Modewort be¬ 
zeichnen, so meinen wir damit ein neues Wort oder ein in einer 
neuen Anwendung erscheinendes Wort, das in verhältnismäßig 
kurzer Zeit zur allgemeinen Verbreitung und besonders häufigen 
Verwendung gelangt ist. Man sehe sich die von Ferdinand Herrmann 
angeführten Beispiele dieses ,,imerträglichen Ausdrucks verankern“ 
an. Es sind zwei Stellen von Hasenclever: ,,Es galt die Revolution 
geistig zu verankern“— ,,tief im Ewigen verankert liegen“ —, und 
eine aus einer Tageszeitung: „Das jeweilige aktuelle Thema w r ird 
durch die Kleinarbeit vorbereitet und wissenschaftlich verankert.“ 
Da muß man sich wirklich der Verfemung dieses Zeitwortes durch 
Herrmann, Wasserzieher, Schaukal, Engel („ein verspottetes, nur 
noch in anprangenden Gänsefüßchen geschriebenes, schon ver- 
mufftes Modewort“) nicht anschließen. Daß das Bild mißbraucht 
werden kann (z. B. wenn man von der „budgetarischen Ver¬ 
ankerung der hochfliegenden Pläne eines Geologen“ spräche), gilt 
wohl für jeden bildlichen Ausdruck, besonders bevor das Metapho¬ 
rische in ihm ganz verblaßt ist. 

In der bereits erwähnten Wiener Grünangergasse gibt es ein 
altes, beliebtes italienisch-wienerisches Restaurant „Zum grünen 
Anker“ (ancora verde). Man kann nicht annehmen, daß der 
Gründer dieses Gasthauses, vermutlich ein Italiener, von dem Be¬ 
streben der Etymologen, Anger und Anker auf eine gemeinsame 
indogermanische Wurzel zu bringen, gewußt bzw. es vorausgeahnt 
hätte. Vielmehr ist wahrscheinlich, daß er im Namen der Straße 
das veraltete Wort Anger nicht verstanden und es fälschlich als 
Anker aufgefaßt hat. Solche sprachliche 

Mißverständnisse bei Gasthausnamen 

kommen nicht selten vor. Die Sitte, den Häusern in den Städten 
Namen zu geben, geht im deutschen Sprachgebiet im 12. Jahr¬ 
hundert aus Südwestdeutschland, von den alten Bischofsstädten am 
Rhein zwischen Basel und Köln aus. Im Zeitalter der Aufklärung 
begann der Untergang der Hausnamen mit der Einführung der Haus¬ 
nummern. Nur Wirtshäuser, Restaurants und Hotels, mitunter 
Apotheken und Drogerien tragen noch Hausnamen und Haus¬ 
zeichen. (Vor kurzem hat in der Schweiz, im klassischen Lande des 
Herbergswesens, Bernhard Schmid interessantes Material über Aus¬ 
hängeschilder bekanntgemacht; sie spielten früher eine große 





Rolle, und selbst Künstler wie Holbein, Caravaggio, Rubens, Wat¬ 
teau, Greuze verschmähten nicht, solche zu malen.) 

Bei den Gasthausnamen, die aus Mißverständnissen entstanden 
sind, handelt es sich manchmal um Hörfehler, das andere Mal um 
die Verkennung eines mundartlichen Ausdrucks oder eines fremd¬ 
sprachigen Wortes. So geht z. B. der Namen eines vor den Toren 
Kölns liegenden Gasthauses „Zum Totenjuden“ auf das nieder¬ 
deutsche ,,to (= zu) den Juden“ zurück. Ein Gasthaus in der Pfalz 
führte in der napoleonischen Zeit einen goldenen Apfel im Schild 
und hieß k la pomme d’or. Die Wirtin verblieb auch nach Abzug 
der Franzosen die Bummwirtin, dann hieß sogar das ganze Haus 
„die Bums“, und so heißt es vielleicht heute noch; jedenfalls hieß 
es vor dem Weltkrieg noch so. 1870, beim Einmarsch ins Elsaß, 
tauften deutsche Landwehrleute ein Wirtshaus bei Straßburg, das 
ächeval blanchieß, also ein welsches „Weißes Rößl“, zur „blanken 
Schwalbe“ um. Im gleichen Kriege wurde ein Wirtshaus „Au 
sauvage“ (Zum wilden Mann) im Munde der deutschen Soldaten 
ein „Wirtshaus zur Sau-Waage“. 

Ob jener Berliner Wirt, der in der Fichtestraße (Ecke Hasen¬ 
heide) ein Schild „zur Fichte“ aushängte, sich nur einen Scherz 
leisten wollte oder vom Philosophen Fichte wirklich keine Kennt¬ 
nis hatte, bleibt eine offene Frage. Offenbar beabsichtigt ist in der 
nach dem Heerführer Eichhorn benannten Eichhomstraße in Berlin 
ein Gasthausschild „zum Eichhorn“. 

In England findet man noch öfters alte Wirtshäuser, die den 
Namen bag of nails (Sack mit Nägeln) führen; das ist frei ver¬ 
englischt aus bachanals (wo der Weingott Bacchus verehrt wird). 
Andere merkwürdige Namen auf Schildern alter Gasthäuser in 
England: Bull and Mouth = Stier und Mund (ursprünglich Boulogne 
mouth, zum Hafen von Boulogne), Pig and carrot = Schwein und 
Mohrrüben (ursprünglich Pique et Carreau, Farben der französischen 
Spielkarten). 

In Brüssel gibt es in der Nähe des Rathauses ein kleines Wirts¬ 
haus, das französisch ä la pie boiteuse, flämisch in de manke elster, 
zur hinkenden Elster heißt. Im Fenster des Wirtshauses sieht man 
eine ausgestopfte Elster, den Kopf verbunden mit einem wei߬ 
getupften Bauerntuch, und unter dem einen abgespreizten Flügel 
steckt eine kleine Krücke. Der Kunsthistoriker Wilhelm Hausen¬ 
stein, der in einem Feuilleton auf düstere und grauenhafte Züge im 


26 



sonst so lebensfrohen Brüssel hinweist, erörtert eingehend das 
traurige Motiv der hinkenden Elster. Überraschenderweise hat 
dann aber der Romanist Spitzer den hinkenden Vogel als den 
Wechselbalg eines sprachlichen Mißverständnisses entlarvt. Nicht 
um ein hinkendes Tier handelt es sich eigentlich, sondern um ein 
trinkendes. Das Brüßler Wirtshaus muß einmal ä la pie qui boit, 
zur trinkenden Elster, geheißen haben. Die Elster galt nämlich jfls 
besonders trinksüchtig 1 * * . Aber vielleicht liegt außer der Verwechs¬ 
lung von boire = trinken mit boiter = hinken noch ein zweites 
sprachliches Mißverständnis vor: französisch pie = Elster bedeutet 
in übertragenem Sinne auch ein schwarzweißes Pferd (auch das 
schwarze Pferd, der Rappe, ist nach einem Vogel, dem Raben, be¬ 
nannt), und möglicherweise war der ursprüngliche Sinn jenes 
Schildes „zum trinkenden Schecken* 4 , was für ein Wirtshaus, bei 
dem Reiter und Fuhrwerke rasten, nicht verwunderlich wäre. 

Übrigens muß man bei der Verwandlung des trinkenden Pferdes 
zur hinkenden Elster nicht unbedingt das Walten unwillkürlicher 
sprachlicher Mißverständnisse voraussetzen. In vielen Fällen haben 
sich Wirt und Schildermaler bewußt der Freude am Wortwitz 
hingegeben und auf den Schildern einen sprachlichen Mummenschanz 
entstehen lassen. Besonders das Französische machte mit seinem 
Reichtum an ähnlich klingenden und nur orthographisch unter¬ 
schiedenen Wörtern und Silben es leicht, solche Scherzschilder und 
Scherznamen zu ersinnen. In Paris trug z. B. ein Gasthaus „zum 
goldenen Löwen** (au Lion d’or) ein Schild, auf dem ein Bett und 
ein darin schlafender Mann abgebildet war (au lit on dort, man 
schläft im Bett). Das Schild eines Gasthauses ,,zu Johannes dem 
Täufer (au Saint-Jean-Baptiste) zeigte ein mit einem Batiströckchen 
bekleidetes Äffchen (au singe en battiste). Als um die Mitte des 
18. Jahrhunderts der Genfer Vorort Carouge zur selbständigen 
Stadt wurde, soll sich ein Gasthaus ein ,,rotes K** (,,Ka rouge**) 
zum Schild erwählt haben. Man nennt solche Schilder enseignes 
rebus, Bilderrätselschilder; sie erinnern an die ,,redenden Wap¬ 
pen**, z. B. an den etymologisch unbegründeten Bären der Ber¬ 
liner und der Berner, an Ratte und Schwan (rat, cygne) im Wappen 
Racines. 

i) Damit hängt wohl zusammen, daß im französischen Argot la pie (Elster) 

auch die Bezeichnung für (alkoholisches) Getränk ist; croquer la pie (die 

Elster knacken) = saufen. 


27 






APACHEN 

Die Angehörigen des Indianerstammes, die man Apachen nennt, 
bezeichnen sich selbst nicht so. In ihrer eigenen Sprache heißen sie 
nte (Männer) oder schis-inte (Männer des Waldes, weil sie im 
Winter geschützte Quartiere in den Wäldern haben). Die be¬ 
sonders wilden und kriegerischen Nte wurden in der Sprache 
der Yuma-Indianer apa-agwa-tsche, Leute des Krieges, genannt. 
Aus der Zusammenziehung dieser Bezeichnung entstand spanisch 
los apaches. Aus dem Spanischen gelangte das Wort in die 
anderen europäischen Sprachen; Fenimore Coopers Indianer¬ 
romane machten breite Bevölkerungskreise mit dem Namen 
Apachen vertraut. 

Jetzt bezeichnet das Wort außer jenem Indianerstamm auch 
zynische und gewalttätige, zu Verbrechen neigende, in Dimen- 
kreisen verkehrende junge Männer niederen Standes in Paris. Ein 
Apache liegt vor, sagt der bekannte Argotforscher Sainean, wenn 
ein Dieb in gleicher Person auch Zuhälter und Totschläger ist. Zu 
dieser Anwendung des Indianernamens soll es so gekommen sein, 
daß im Pariser Stadtteil La Villette eine Messerstecherbande, deren 
Mitglieder offenbar Freunde abenteuerlicher Indianerromane waren, 
sich selber den Namen Les Apaches de Villette beigelegt hatte. 
Vielleicht ist für die Entstehung des Ausdruckes auch maßgebend 
gewesen, daß Aristide Bruant, der bekannte Dichter von Ver¬ 
brecher- und Dirnenliedern, in den 90er Jahren in einem Gedicht 
die Grausamkeit seiner Helden mit jener der Apachen verglichen 
hatte. Aber erst Victor Morris verschaffte durch eine Unterwelt- 
reportage im ,,Matin“, 1902, dem Ausdruck weitere Beachtung. 
International wurde das Wort Apachen in seinem europäischen 
Sinne einige Jahre vor dem Weltkrieg, als sich eine schwer bewaff¬ 
nete Verbrecherbande an der Peripherie von Paris tagelang gegen 
ein großes Polizeiaufgebot zur Wehr setzte und sich erst nach einer 
regelrechten, vom Polizeipräfekten persönlich geleiteten Belagerung 
ergab. Als im Jahre 1913 in Mitteleuropa die sommerliche Herren¬ 
mode auf weitoffene weiche Hemdkragen zurückgriff, nannte man 
diese in Deutschland, eine alte Bezeichnung neu aufleben lassend, 
Schillerkragen, in Österreich (angesichts der damaligen Adria¬ 
ausstellung in Wien) Adriakragen, in Ungarn — apacsgaller (Apachen¬ 
kragen). Auch die Damenmode hatte vor einigen Jahren einen Fach- 


28 



ausdruck, der auf die Pariser Apachentracht hinwies: die farbigen 
Halstücher hießen Apachentücher. 

Nicht nur die Apachen, auch andere Indianerstämme haben 
europäische Namen bekommen, die wesentlich abweichen von 
jenen, die sie sich selbst geben. Wie die Apachen, nennen auch die 
Delawaren sich selbst einfach ,,Leute“ (lenape); den Namen 
Delawaren bekamen sie nach dem 1610 gestorbenen Lord de la 
Ware, einem der ersten Siedler in Virginia, nach dem auch der 
Delawarefluß benannt ist. Die Sioux wurden von ihren feind¬ 
lichen Nachbaren nodowässiug = Vipern 1 , d. h. in übertragenem 
Sinne Feinde genannt, daraus wurde deutsch Nadowessier 
(Schillers ,,Nadowessische Totenklage“), französisch nadovessioux, 
daraus gestutzt zu sioux, und so verpflanzte sich ein winziger Brocken 
des ursprünglichen indianischen Namens mit der französischen 
Mehrzahlendung ins Deutsche. Ziemlich gut erhalten ist der indiani¬ 
sche Namen des ausgestorbenen Stammes der Mohikaner (mo-hi- 
konnius = gute Bootsleute), allgemein bekannt geworden durch den 
Titel von Coopers Roman ,,Der letzte Mohikaner“ (1826), der 
zum geflügelten Wort geworden ist 2 und vielerlei in übertragenem 
Sinne gebraucht wird (z. B. auf das letzte Geldstück, das man aus¬ 
geben muß). Nicht indianisch, sondern portugiesisch ist der Namen 
der südamerikanischen Botokuden, die in ihrer Unterlippe große 
Holzscheiben oder Pflöcke tragen; ihr Namen kommt von portugie¬ 
sisch botoque = Lippenpflock, das nach Lokotsch über arabisch 
bunduq auf griechisch pontikon zurückgeht. Botokude wurde im 
Deutschen früher nicht selten als eine Schelte für unzivilisierte, 
geistig tiefstehende Menschen gebraucht. Die Franzosen bedie- 
nnt sich besonders des Namens der Irokesen, die im Norden 
der heutigen Union und in Kanada leben, zur Bildung von Gattungs¬ 
bezeichnungen. So bedeutet in der französischen Umgangssprache 
iroquois einen verdrehten Kerl. Auch bezeichnet dieses französische 
Wort nicht nur die Sprache dieses Indianervolkes, sondern hat auch 
die allgemeine Bedeutung: Kauderwelsch. In der Bretagne bezeich¬ 
net man eine bestimmte, scheinbar verworrene und unsinnige Art, 
in der Lotterie zu setzen: marquer ä Piroquoise. In Frankreich 

1) Nach anderer Deutung bedeutet nodowässing in einer Indianersprache: 
Halsabschneider. 

2) Die Engländer gebrauchten mohawk oder mohock schon im 18. Jahr¬ 
hundert im Sinne nächtlicher Ruhestörer, aristokratischer Raufbold. 


29 





standen früher nämlich gerade diese Indianer in dem Ruf einer „un¬ 
zugänglichen Bizarrerie“ (Esnault). Alle Apotheker sind Irokesen, 
schreibt ein französischer Autor, und meint: verschrobene Käuze. 
Tete d’iroquois! ist ein üblicher französischer Ausruf. (Test de 
l’iroquois = das ist imverständlich, ist Quatsch. Dieser Gebrauch 
des Völkernamens im Französischen geht offenbar auf die vielen, 
zum Teil blutigen Konflikte zurück, die die französischen Kolonisten 
im ehemaligen ,,Neufrankreich“ mit den Irokesen hatten. 

ARBEIT, ROBOT 

Nach der Überlieferung des Tacitus arbeiteten die freigeborenen 
Germanen nicht, sie überließen die Arbeit den Unfreien. Dieser 
Umstand spiegelt sich auch in der Geschichte des Wortes Arbeit 
wider. Im Althochdeutschen war die Bedeutung von arbeit oder 
arabeit noch: Mühsal, Plage, Beschwerde, Leid. Aus dem Gotischen 
kennen wir arbaiths = Bedrängnis, Not. Auf weitere indogermanische 
Zusammenhänge läßt schließen altslawisch rabu = Knecht, Leib¬ 
eigener (woraus ungarisch rab = Sklave, Gefangene) und armenisch 
arbaneak = Diener, Gehilfe. Vom altslawischen rabu gelangen wir 
zu tschechisch und polnisch rabota = Zwangsdienst, Fronarbeit, 
welches Wort bereits im 14. Jahrhundert ins Deutsche gelangt und 
das spätmittelhochdeutsche robot und robolt ergibt. Der Familien¬ 
namen Rowohlt ist eine Nebenform davon (in einem alten bayrischen 
Dokument heißt es: „es sollen auch mesner, hüttenknecht und 
pfisster“ frei sein von ,,Steuer, Wacht und Rowolt“). Von Robot 
kommt vermutlich auch das berlinische sich abrabatten = sich mit 
einer Arbeit plagen. 

Unser heutiges Wort Robot (woraus nach des tschechischen 
Schriftstellers Karel Capeks sozialutopischem Drama „R. U. R.“ 
seit 1922 auch der Ausdruck Roboter für eine Menschenarbeit ver¬ 
richtende Maschine von menschenähnlichem Äußeren) ist demnach 
eigentlich eine Doublette von „Arbeit 44 . Während aber der Begriff 
der Arbeit sich der Kriterien des Zwanges, der Plage im Laufe der 
Jahrhunderte entledigt hat und gleichsam eine Standeserhöhung 
durchgemacht hat, zu einem Begriff geworden ist, den Ethik, 
Religion und Dichtung verherrlichen 1 , ist im Begriff des Robot 

1) Zur Bedeutungsänderung von „Arbeit“ schreibt Domseiff in der Ein¬ 
leitung seines Synonymenwörterbuchs: „Griechisch ponos, lateinisch labor, 
mittelhochdeutsch arebeit bedeuten zunächst Mühsal, Schmerz, später auf 


30 





1 


das Beschwerliche, Zwangsmäßige um so stärker in den Vorder¬ 
grund getreten. 

Nur noch einzelne mundartliche Spuren weisen auf den ursprüng¬ 
lichen Kern des Arbeitsbegriffes (Arbeit = Plage, Schmerz) hin. In 
Schwaben versteht man unter Arbeit auch die sonst Fraisen (con- 
vulsiones) genannte Kinderkrankheit. Im Niederländischen versteht 
man unter arbeydt (wie es auch im Mittelhochdeutschen der Fall 
war) auch die Geburtswehen. Oft finden wir in älteren schwäbi¬ 
schen Dokumenten das Wort Arbeit im Sinne von Mühe, Schwierig¬ 
keit gebraucht; wir führen zwei Stellen aus Augsburger Chroniken 
an: ,,sie entrunen mitarbeit“ (d. h. mit Schwierigkeiten); ,,darauss 
vil Unrat, Müe, Arbeit und Spot und grosse Schad kommen ist“ 1 . 


ARSENAL, ZECHINE 

Arabisch ist dar = Haus, sina-a = Betriebsamkeit, Erzeugung, In¬ 
dustrie. Die arabische Zusammensetzung dar-sina-a, Haus der Be¬ 
triebsamkeit, Fabrik, wird im Italienischen zu arsenale; so hießen 
die berühmten Schiffswerften der Venezianer. Da die Venezianer im 
*3* Jahrhundert die Herren Konstantinopels waren, darf eine 

einen Zweck gerichtete Bemühung. Für gewöhnlich wird der Semasiologe 
hier eine Bedeutungsverbesserung feststellen und womöglich einen ethischen 
Fortschritt buchen in dem Sinne: Aha, der wehleidige Wilde hat sich zum 
Arbeiter emporentwickelt. Wer diesen Schluß zieht, sagt sich damit zugleich, 
daß der gute Mensch auch die Wörter besser macht. Es ist aber doch vielmehr 
so, daß die Menschen die Wörter dann sprechen, wenn sie etwas Bestimmtes 
sagen wollen, und daß sie dabei darauf angewiesen sind, was diese Wörter 
bedeuten. Wenn also der Mensch zum ersten Male aussprechen und mitteilen 
wollte, daß er sich mit einer zielbewußten Tätigkeit angestrengt habe, so griff 
er zu einer der üblichen Bezeichnungen für Schmerz. Der Terminus ,Schmerz 
mit Index 4 (= Arbeit) wurde verstanden, bürgerte sich ein. Er zeigt aber den 
Menschen zu der Zeit des sprachschöpferischen Aktes in flagranti auf einer 
bedauerlich niedrigen Stufe der Arbeitsethik. Wer den Bezeichnungsmodus 
erwägt, stellt fest, daß überall die Menschen zunächst die Arbeit als Schmerz 
beschimpft haben. Die Frage: Wann haben die Menschen die Arbeit als wert¬ 
voll gelobt, muß, fürchte ich, von der Literaturgeschichte und nicht von der 
Sprachgeschichte aus beantwortet werden.“ 

i) Ähnlich wie ,,Arbeit“ hat auch das jetzt gleichbedeutende französische 
travail eine Bedeutungsveredlung mitgemacht: das französische Wort bedeutete 
ursprünglich Folter. Auch muka, das in fast allen slawischen Sprachen Folter, 
Pein bedeutet, kann im Serbischen auch im Sinne von Arbeit verwendet wer¬ 
den (auch im Ungarischen ist munka = Arbeit). 


31 








byzantinische Vermittlung bei dieser Entlehnung aus dem Arabischen 
angenommen werden. 

Im Französischen taucht das Wort archenal 139^ zuerst auf. Nach 
Deutschland gelangt das Wort erst im 16. Jahrhundert. 1556 
schreibt Bruder Felix in der ,,Fahrt in das heilige Land“ : ,,schlugen 
wir hinten an der Stadt (Venedig) hinumb an den Arschanal“. In 
Venedig selbst ist übrigens auch die alte arabische Wortform fast 
zur Gänze noch erhalten, der Stadtteil, in dem sich die zum alten 
Arsenal gehörigen Werfte und Schiffsdocks befinden, heißt dort 
heute noch Darsena. In der Form ,,darsena“ übernahmen übrigens 
auch die Genueser das arabische Wort. Abgekürzt erscheint es im 
Französischen als ,,darse“, als Bezeichnung der Schiffswerft von 
Genua im Französisch des i$. Jahrhunderts. Im Altdalmatinischen 
entstand das Wort orsan = Aufbewahrungsort für Barken. 

Die Verdeutschung Zeughaus für Arsenal stammt von Philipp 
von Zesen (1619—1689 ) 1 . 

Neben Arsenal gibt es noch ein zweites internationales Wort, 
das auf den arabischen Namen einer venezianischen Werkstätte 
zurückgeht. Zu arabisch sikka = Münze, Prägestock gehört dar as- 
sikka = Haus der Prägung, Münzstätte. So hieß auch die berühmte 
Münzstätte von Venedig und daraus wurde verkürzt la zecca. Die 
dort geprägte Goldmünze wurde seit Ende des 13. Jahrhunderts 
zecchino genannt; die Zech inen, bald auch von anderen italieni¬ 
schen Staaten und auch von der Türkei geprägt, blieben jahr¬ 
hundertelang die Handelsmünze des Mittelmeergebietes 2 . 


1) Zesen verdankt die deutsche Sprache auch die Wörter Mundart, Losung, 
Vertrag, Verfasser, Umgang, Trauerspiel, Gesichtskreis, Augenblick, Blut¬ 
gerüst, Gegenfüßler (für Dialekt, Parole, Kontrakt, Autor, Prozession, Tragödie, 
Horizont, Moment, Schafott, Antipode). Von ihm stammen aber auch die 
Vorschläge Entgliederer für Anatom, Krautbeschreiber für Botaniker, Schimpf¬ 
dichter für Satiriker, Reimband für Vers, Gipfeltüpfel für Zenit, Meuchelpuffer 
für Pistole, Schnauber für Nase, Dachschnauber für Schornstein, Mannszwinger 
oder Jungfemzwinger für Kloster, Zeugemutter für Natur, Talmund für Echo, 
Hauptstürze für Hut, Schlachtgabe für Opfer, Pflanzherr für Vater. Er taufte sogar 
die antiken Gottheiten Apollo, Juno, Pallas Athene, Venus, Vulkan, Priapus auf 
Wahrsagegötze, Himmeline, Klugine, Lustine, Schmiedegötze, Gartengötze um. 

2) Über zwei andere venezianische Münzen, die Weltwörter wurden 
(Gazette, Marzipan), vgl. das Stichwort Gazette. Übrigens hat nicht nur die 
Schiffswerft Venedigs zum Weltwort Arsenal und seine Münzstätte zum Wort 
Zechine geführt, auch eine dritte venezianische Werkstätte, die Gießerei, hat 
sich in einem anderen Gattungsnamen erhalten: siehe das Stichwort Ghetto. 


32 



ARZT 

kommt vom griechischen zusammengesetzten Wort arch-iatros. 
Iatros bedeutet den ,, Heilenden 4 4 (daher Pädiatrie, Psychiatrie 
= Kinderheilkunde, Seelenheilkunde) und die Vorsilbe archi etwa 
Führer (wie in Archiepiskopos = Erzbischof, vgl. das Stichwort 
„Erz“). Archiatros, archiater bedeutet also Oberarzt und war der 
Titel der griechischen Leibärzte am Hofe der römischen Kaiser. 
Den Übergang von der griechischen Form zum heutigen „Arzt“ 
zeigt die althochdeutsche Form arzat. Arzenei (mittelhochdeutsch 
arzenie, Ableitung Wackemagels vom berühmten Arzt Archigenes 
von Kralles durchaus unglaubhaft) bedeutet ursprünglich nicht das 
Heilmittel allein, sondern die gesamte ärztliche Tätigkeit. („Me¬ 
dizin“ gebrauchen wir auch noch in beiderlei Bedeutung.) 

Das Althochdeutsche hatte aber auch noch ein anderes Wort für 
Arzt : lachi (und lachinon = heilen), es kommt über gotisch lekeis, 
Arzt von keltisch liaig, der Besprecher. Im Mittelhochdeutschen 
gab es noch das Zeitwort lachenen = besprechen und lachenere 
= Beschwörer. Im Neuhochdeutschen ist diese Wurzel nur noch in 
Eigennamen enthalten: Lachner, Lachmann. Im Schweizerischen 
finden sich allerdings auch heute noch Abkömmlinge jener keltischen 
Lehnworte: lachsnen = hexen, Lachsner = Besprecher. Im Re¬ 
gierungsbezirk Düsseldorf an der holländischen Grenze, hauptsäch¬ 
lich im Orte Breyell, lebt noch eine alte Krämersprache, die früher 
besonders von Hausierern und Schmugglern gebraucht worden ist, 
die sich selbst Hennese-Flick („schöne Sprache“) nennt und die 
man auch als Krämerlatein bezeichnet. In dieser sonderbaren 
Sprache, die heute mehr den Charakter einer künstlich gepflegten 
Geheimsprache hat, bedeutet „Läpper“ Arzt (auch in Zusammen¬ 
setzungen wie Trappertsläpper, Pferdearzt), was vielleicht auf die 
angeführte keltisch-gotische Wurzel weist. Von jener keltischen 
Wurzef leitet sich übrigens auch das englische leech, veraltete 
Bezeichnung für Wundarzt, übrigens auch für Blutegel ab. In Blüte 
ist noch die Nachkommenschaft der keltischen Wurzel in den 
skandinavischen Sprachen (im Dänischen heißt der Arzt hege, im 
Schwedischen läkare) und in den slawischen Sprachen, in denen 
(sprachweise mit kleinen lautlichen Abweichungen) lekar, lekars 
Arzt bedeutet, lekati, lekovati heilen, lek, leko Arznei, lekamia 
Apotheke. Die slawischen Völker sind offenbar viel mit gotischen 


2 Storfer 


33 



Ärzten in Berührung gekommen, aus welchem Umstand vielleicht 
auch zu erklären ist, daß manche Heilpflanzennamen der Slawen 
germanischen Ursprunges zu sein scheinen (z. B. libtschek aus Lieb¬ 
stöckel, hambuss aus Hahnenfuß, brst aus Bärwurz). 

Im frühen Mittelalter, als im Althochdeutschen noch beide Be¬ 
zeichnungen für Arzt nebeneinander bestanden, das griechische 
arzat und das keltische lachi, wurde insofern ein Unterschied ge¬ 
macht, als das erste Wort die vielfach aus der Fremde zugereisten 
wissenschaftlich gebildeten Ärzte, z. B. die Hofärzte der merowingi- 
schen Könige, bezeichnete, indes das Wort lachi Beschwörern und 
Heilkundigengalt 1 . Später hat allerdings an manchen Orten gerade das 
Wort Arzt einen üblen Beigeschmack bekommen. So wird um 17 5 ° 
aus Österreich berichtet, daß „Arzt“ - im Gegensatz zu Medicus, 
Physicus oder Doctor — etwas Verächtliches bedeutete, etwa wie 
Marktschreier. „Es müssen also die Sachsen und andere Herren, 
die gut Teutsch schreiben, gegenwärtig sich hüten, daß sie keinen 
österreichischen Medicum einen Arzt nennen; sie würden ihm da¬ 
durch eine schlechte Ehre erweisen.“ Noch 1827 schreibt Schmel- 
lers Bayrisches Wörterbuch zum Worte Arzt: „beim gemeinen 
Volk zunächst einer von der Art derjenigen, die früher auf Jahr¬ 
märkten ihre Apotheke aufschlugen und mit einem Hanswurst, 
wenn nicht in einer Person, doch in Compagnie ordinierten. 
Auch im schwäbischen Sprachbereich entwickelt sich der Unter¬ 
schied zwischen dem gelehrten ,,Doktor und dem ungelehrten 
„Arzt“; so heißt es z. B. in Dreytweins Chronik von Eßlingen: 
„Der Kranck was durch die grosenn Docktter verderbtt und sollt 
im ein schlechter (= schlichter) Arzt helffenn. 

Keine gelehrten Titel konnten aber verhüten, daß die Sprache des 
Volkes eine üppige Blütenmenge von Schimpf- und Spottnamen 
für den ärztlichen Stand hervorbrachte. Die sogenannten Schelten¬ 
wörterbücher verzeichnen eine stattliche Anzahl. Wir erwähnen 
z. B. plattdeutsch Bloodaftapper (Blutabzapfer) oder Swärensteker 
oder Dokter Hütentüt (der de Kranken dat Lok besüht). Flicker 
(nämlich Menschenflicker) heißt der Arzt schon in Luthers Tisch¬ 
reden. Feldscher (Feldscherer) hieß der niedere Chirurg im Kriege. 

1) Auch im alten Rom wurde das griechische archiater nur für die besonders 
am kaiserlichen Hofe wirkenden gelehrten Ärzte gebraucht, im Gegensatz 
zum einheimischen medicus im Volke. Später wurde unterschieden: archiater 
palatinus und archiater popularis. 


34 












In der Gaunersprache finden sich Bezeichnungen wie Heimschicker, 
Fürwitz, Bundermann (wohl von verbinden), ferner einige, die aus 
hebräisch-jüdischen Wörtern entstanden sind: Pökerer (von peigem 
= sterben), Parachschaber (von parach = Krätze, Grind), Rauf (von 
rof = der Heilende, enthalten in dem aus Spanien kommenden 
Judennamen Rappaport = Arzt aus dem Hafen, aus Porto). Schimpf- 
und Spottnamen mehr gelehrten Charakters sind Dr. Eisenbart, 
Hippopokratztes, Urinprophet, Pillificus, Purgantius, Stolpertus, 
Tinkturian. Besonders reich war stets (auch zuletzt im Weltkrieg) 
die Soldatensprache an Scherznamen für die Militärärzte und ihr 
Hilfspersonal. Einige von diesen älteren und neueren Bezeichnungen: 
Beinsäger, Gregorius (aus Chirurgus ?), Knochenschuster, Lakritzen¬ 
fähnrich, Schlangenmensch oder Bandwurmleutnant (Anspielung auf 
die Schlange an Äskulapstab), Pflasterschmierer, Tippeldrücker 1 , 
Pillenulan, Aspirinhengst, Leichenheinrich, Pipenzieher, Klistier¬ 
dragoner, Pißpottschwenker, Leibschüsselhusar, Bettpfannenhusar, 
Karbolstratege. Der Zahnarzt hieß bei den Soldaten Schnauzen¬ 
maurer, Maulschneider, Gebißklempner. Die Krankenschwestern 
figurieren im feldgrauen Wörterbuch je nach Statur als Karbol¬ 
mäuschen oder als Karbol Walküren, bzw. je nach Alter als Lysol¬ 
mäuschen, Lazarettpflaumen oder Spitalwachteln; die Pflegerinnen 
vom Nachtdienst bildeten die Schleichpatrouille. Die Schweizer 
Soldaten haben zu gleicher Zeit, auch ohne aktive Teilnahme am 
Weltkrieg, mancherlei Beiträge zur Soldatensprache geliefert; für 
die Angehörigen des Sanitätsdienstes z. B.: Jenseitsagent, Jodbaron, 
Latrineningenieur, Seelelöter, Himmelfahrtsportier, Fußpulver¬ 
artillerie. 

Von den gegen den ärztlichen Stand gerichteten Schimpfwörtern 
haben zwei ein selbständiges Dasein in der Sprache erlangt: Scharlatan 
und Quacksalber. Scharlatan (nicht vom scharlachroten Doktor¬ 
mantel, sondern von französisch charlatan, was auf italienisch 
ciarlare = schwatzen zurückgeht) war ein Schimpfwort für Ärzte 
in einer Zeit, als sie noch buchstäblich auf dem Markte schreien 
mußten, da es standesmäßigere Arten der Werbetüchtigkeit, z. B. 
in der Form wissenschaftlicher Betätigung, noch nicht gab. Heute 

i) Man vgl. damit aus der französischen Schweiz den imperativischen Spott¬ 
namen: le percefuroncle (der Stech-den-Furunkel). Andere Spottnamen für 
Chirurgen aus der Westschweiz: ecorcheur (Schinder), chaplebras (Schab-den- 
Arm), boucher froid (Kalter Metzger). 


3£ 





wird das Wort nicht mehr auf einen Stand beschränkt. Auf das 
Marktschreierische bezieht sich auch das Wort Quacksalber (hol¬ 
ländisch kwakzalver). Quacken (lautmalend) ist der sinnlose Lärm 
der Frösche: Quacksalber ist also ein Arzt, der mit sinnlosem Ge¬ 
schwätz seine Salben, seine Kunst überhaupt anpreist. 

Das Zusammenschrumpfen des dreisilbigen zusammengesetzten 
griechischen Wortes archiatros zum einsilbigen deutschen Arzt ist 
ein typisches Beispiel jenes Vorganges, den man als 

verdunkelte Zusammensetzung 

bezeichnet. Es gibt viele Beispiele dafür im Deutschen, sowohl 
unter den Wörtern, die zum germanischen Erbgut gehören, als 
unter den Lehn- und Fremdwörtern. Solchen Wörtern ist es 
meistens schwer anzusehen, daß sie Zusammenwachsungen dar¬ 
stellen. Einige Beispiele: 

Adler lautet im Mittelalter noch adel-are, der edle Aar und 
Sperber ist ursprünglich Sperling-Aar, von Sperlingen lebender 
Adler. 

Wimper kommt aus mittelhochdeutsch wintbra, althochdeutsch 
wintbrawa, die (nämlich um das Auge) sich windende Braue; ähn¬ 
licherweise wahrscheinlich Wimpel: das sich windende Tuch 
(angelsächsisch paell = Tuch). 

Zwar lautete mittelhochdeutsch noch ze wäre = in Wahrheit. 

Nest weist anscheinend auf zwei altindische Wörter: ni-sad, mit 
der Bedeutung Nieder-Setzung, Niederlassung. 

Neutral von lateinisch ne uter, keiner von beiden. 

Nein, nie, nicht sind ebenfalls verdunkelte Zusammensetzun¬ 
gen. In allen drei Fällen ist das Verneinungsadverb ni der erste Teil 
der Zusammensetzung, wobei wir im n-Laut, d. h. im Andrücken 
der Zunge an die Zähne, eine reflexartige Abwehr des Mundes 
gegen imerwünschte Speisen sehen dürfen. Der zweite Teil der 
Zusammensetzung ist bei nie (althochdeutsch nio, neo) „je“, nie 
ist also „n’je“. Bei nein wächst das Negativ-n mit dem unbestimm¬ 
ten Artikel „ein“ zusammen. „Nicht“ lautet althochdeutsch noch 
niwiht, neowiht und ist dort zusammengezogen aus ni eo wiht je, 
= nie je ein Ding, nie je etwas. (Das alt- und mittelhochdeutsche 
Hauptwort wiht = Wesen, Ding hat die Bedeutungsänderung zu 
unserem ,, Wicht 4 4 durchgemacht und lebt auch im Worte,, Wichtel¬ 
männchen 44 fort.) 


36 









Pilger, althochdeutsch piligrim, kommt von lateinisch peregrinus 
(Fremder, Wallfahrer), was eine Zusammensetzung ist: jemand, 
der über (per) Land (ager) geht 1 . (Pelerine bedeutet französisch 
Pilgerin, und da die Pilgerinnen große bequeme Schulterkragen 
trugen, im Deutschen auch dieses Kleidungsstück.) 

Schuster ist noch im Mittelhochdeutschen als zusammengesetztes 
Wort erkennbar: schuo-sutaere. Der erste Teil ist ein gemein¬ 
germanisches Wort (althochdeutsch scuoh, gotisch skohs, verwandt 
mit gotisch skewjan, einherschreiten); der zweite Teil ist eine Ent¬ 
lehnung aus dem Lateinischen: sutor = Schuhmacher (von diesem 
lateinischen Wort rühren die schwäbischen und schweizerischen 
Familiennamen Sutter, Sauter, Sütterlin ab). In der verdunkelten 
Zusammensetzung Schuster ist also die Bedeutung Schuh zweimal 
enthalten; wörtlich Schuh-Schuhmacher. 

Einen Rekord in der Verdunkelung der Zusammensetzung stellt 
das Wort Pferd dar. Dieses Wort ist die Verdichtung eines fünf- 
silbigen Wortes zu einem einsilbigen. Veredus 2 ist ein spätlateini¬ 
sches Wort mit der Bedeutung Kurierpferd, mit der griechischen 
Vorsilbe para verbunden bedeutete paraveredus Beipferd, Postbei¬ 
pferd. Aus diesem griechisch-lateinischen Mischwort wurde im 
6. Jahrhundert das althochdeutsche pfarifrid, pferfrit, das sich dann 
weiter zu Pferd verdichtete. Pferd wurde ursprünglich im Sinne 
von Pferd für den Reiseverkehr verwendet, im Gegensatz zu Roß 
= Streitpferd, Kampfpferd. Mit weniger Entstellung wurde aus 
paraveredus französisch palefroi, italienisch palafreno, englisch pal- 
frey = Zelter, geschmücktes Paradepferd. 

1) In Wien bezeichnet man als Pilger, mundartlich Pülcher, Pücher, eine 
Volkstype, eine wienerisch gemilderte Abart des „Apachen“. Übrigens hat 
das Wort, das den Pilger bezeichnet, auch in anderen Sprachen neben dem 
Hauptsinn auch eine geringschätzige Nebenbedeutung; italienisch pellegrino 
bedeutet auch die Laus, französisch pelerin auch einen verschmitzten Menschen 
(H. Hatzfeld: scheint an Gaunereien von Pilgern anzuknüpfen). 

2) Vielleicht ist veredus selbst auch eine verdunkelte Zusammensetzung: 
aus vehere = fahren und irgendeiner Urform von „Rad“ (z. B. altindisch 
ratha = Wagen); oder aus keltisch ve = bei und ralda = Reisewagen; nach 
anderer Deutung kommt veredus aber aus dem Persischen, von berd = tragendes 
Pferd (bar = tragen, urverwandt mit lateinisch ferre); für diese letzte Deutung 
spricht immerhin der Umstand, daß die Römer bei der Einführung der Pferde¬ 
post im Abendland ein persisches Vorbild hatten. Zimmern sieht in veredus 
ein semitisches Wort: das akkadische (babylonisch-assyrische) puridu = Eil¬ 
bote. 


37 







Besonders häufig sind verdunkelte Zusammensetzungen in der 
englischen Sprache, wo die Tendenz zur Verdichtung der Wörter 
stärker ist als in jeder anderen. Wir erwähnen bloß die beiden 
allgemein bekannten — als Simplizia wirkenden —Wörter Lord und 
Lady (aus hlaif-weard, Brotbewahrer und hlaif-dige, Brotkneterin). 
Als Beispiel der verdunkelten Zusammensetzung im Französischen 
nennen wir malade = krank aus vulgärlateinisch male habitum 
= sich übel gehabend. 

Das Gegenstück der verdunkelten Zusammensetzung bieten jene 
Wörter, die den Eindruck machen, zusammengesetzt zu sein, ohne 
daß sie — wortgeschichtlich gesehen — es wirklich wären, wie z. B. 
Hängematte (nicht von hängen und Matte, sondern vom indianischen 
hamaca), Felleisen (nicht von Fell und Eisen, sondern von fran¬ 
zösisch valise), Hebamme (nicht Amme enthaltend, sondern von 
althochdeutsch hevianna = die Hebende). Über solche Volks¬ 
etymologien s. Eingehenderes beim Stichwort „Hängematte“. 

ATTENTAT 

kommt von lateinisch tentare (versuchen, prüfen, angreifen) und 
der Vorsilbe ad (zu, an) und bedeutet wörtlich Anspannung, Ver¬ 
such. Unmittelbar gelangt das Wort Attentat aus dem Französischen 
ins Deutsche, wo es zuerst in den Zeitungen des Dreißigjährigen 
Krieges häufiger vorzufinden ist, ursprünglich nur in rechtlichem 
Sinne (Antastung, strafbarer Eingriff), seit den dreißiger Jahren des 
vorigen Jahrhunderts jedoch vornehmlich in dem Sinne Anschlag, 
Überfall, Gewaltanwendung, Mordversuch (und im übertragenen 
Sinne: Attentat auf die Ehre, auf die Verfassung usw.). Da Attentat 
selbst Versuch bedeutet, ist die nicht selten anzutreffende Bildung 
„Attentatsversuch“ nicht sehr glücklich und dem beim Volke 
gelegentlich vorkommenden Tautologien Jardingarten, Pläsier¬ 
vergnügen, egalgleich u. dgl. gleichzusetzen. Allerdings wird die 
Bedeutung Attentat = Mordversuch immer mehr abgeschliffen, 
und man verwendet das Wort jetzt auch für den vollzogenen 
Mord. Man liest z. B. oft, jemand sei einem Attentat zum Opfer 
gefallen. Ein wortgeschichtlich ähnlicher Fall, wo die ursprüngliche 
Bedeutung des Versuches dem allgemeinen Sinne Angriff, Rechts¬ 
bruch, Gewaltakt gewichen ist, liegt beim Worte Pirat = See¬ 
räuber vor; es kommt von griechisch peiran = versuchen, peirates 
= Versucher. 


38 





Als der ehemalige Bürgermeister Tschech in Berlin im Jahre 1844 
ein Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. verübte, wobei er übrigens 
nur das Kleid der Königin traf, entstand in Berlin ein Drehorgellied, 
das mit den Worten begann: ,,Sagt, wer war wohl je so frech, wie 
der Bürgermeister Tschech ... Er schoß unsrer Landesmutter 
durch das gnädge Unterfutter. In diesem „Schlager“ hieß es auch 
u. a.: ,,Duncker (so hieß der Polizeirat) hat es jleich erraten, daß 
er wollte attentaten“. Der Kehrreim des Liedes lautete: „So’n 
verfluchter Hochverräter, — Königsmörder, Attentäter — Hätt’ 
uns ja bei einem Haar — Erschossen ’s janze Königspaar.“ Und so 
war das Wort,,Attentäter“ entstanden. Es wurde vom unbekannten 
Dichter offenbar „um des Reimes willen“ erfunden, wohl auch 
unter scherzhafter Anlehnung an ,,Tat“, ,,Täter“, hat sich aber 
seither richtig eingebürgert und des komischen Beigeschmacks ent¬ 
ledigt. Einzelne Zeitungen gebrauchen übrigens, wie der Allgemeine 
Deutsche Sprachverein rühmend feststellt, schon seit Jahren „An¬ 
schläger“ statt Attentäter. 

Daß wir den, der ein Attentat begeht, einen Attentäter nennen 
— obschon die Endung -at vom Partizip eines lateinischen Zeitworts 
herrührt, wie in den Fällen Diktat, Traktat, Testat, wo keine 
Weiterbildung zu Diktäter, Traktäter, Testäter stattfindet —, geht, 
wie wir sahen, auf den Wortwitz eines Drehorgeldichters zurück, 
der die letzte Silbe von Attentäter in das Wort Täter hinüberführte. 
Hier ist also die Sprache mit einem legal gewordenen Worte be¬ 
reichert worden durch einen Vorfall, der in unzähligen anderen 
Fällen bloß einen vergänglichen Wortwitz erzeugt. Solche 

witzige Verschmelzungswörter 

erweisen sich als besonders geeignet, eine kurzschlußartige Ver¬ 
bindung herzustellen zwischen zwei einander zunächst fernstehenden 
Vorstellungen, und die Untersuchung dieses sprachlichen Vorgangs 
hat sich im besonderen auch nützlich erwiesen für die psychologische 
Erforschung des Witzes. Das Wort, das Heine in den „Bädern von 
Lucca“ seinem Hirsch-Hyacinth in den Mund legt, Rothschild habe 
sich ihm gegenüber ganz famillionär benommen, ist von Heymans, 
Lipps und Freud zum Ausgangspunkt von Betrachtungen über den 
Witz gewählt worden. Freud vergleicht solche Wortmischbildungen 
mit den Mischgebilden der Mythologien (Kentauren, Drachen) und 
der Traumes und erklärt die Technik des Wortwitzes aus dem 

39 




lustentbindenden Mechanismus der Ersparung von Vorstellungs¬ 
aufwand 1 . Vom Problem des tendenziösen Witzes führt ein kurzer 
Weg zu dem der sprachlichen Fehlleistung, des Versprechens 
(,,mein Fräulein, ich möchte Sie gern begleitigen“ — ,,da sind 
Sachen zum Vörschwein gekommen“). 

Ein besonders deutlicher Typus der Wortverschmelzung ist jener, 
wo ein Wort derart in ein anderes übergeht, daß das Ende des ersten 
Wortes gleichzeitig (d. h. ohne wiederholt zu werden) den gleich¬ 
lautenden Anfang des zweiten Wortes bildet, wo also z. B. Filigran 
und Granit zu Filigranit, spinat und natürlich zu spinatürlich wird. 
Diese Fälle ähneln jenem wortgeschichtlichen phonetischen Vor¬ 
gang, den man als Flaplologie (von griechisch haplos, einfach) 
bezeichnet: ein Laut oder eine Lautgruppe wird anstatt zweimal 
nur einmal ausgesprochen, indem der Hörer durch eine Art akusti¬ 
scher Täuschung den Laut (die Lautgruppe) nicht nur als zu dem 
vorangehenden, sondern auch zu dem folgenden gehörig auffaßt 
(Jespersen). Wir schreiben zwar ,,feststellen“, sprechen und hören 
aber gewöhnlich -st- nur einmal. So entstanden auch gewisse Eigen¬ 
heiten der englischen Aussprache: z. B. Glou(ce)ster, Lei(ce)ster. 
In anderen Fällen greift die Haplologie auch auf das schriftliche 
Wortbild über, und aus contre-role, vice-comte, Neuve-ville ent¬ 
stehen die Wörter controle, vicomte, Neuville; im Lateinischen 
nutrix, Stipendium aus nutritrix, stipipendium. Aus Bequemlich- 
keits- und Wohllautsgründen bedienen sich besonders moderne 
Fremdwortprägungen der Haplologie. Wir sagen und schreiben 
Mineralogie, Pazifist, Narzißmus, obschon es eigentlich Mineralo- 
logie, Pazifizist (oder Pazist), Narzissismus heißen müßte. 

In der Literatur begegnet uns die individuell willkürliche Wort¬ 
verschmelzung besonders als satirisches Stilmittel 2 . Johannes 

1) Übrigens ist der Traum nicht nur mit visuellen Mischgebilden bevölkert 
(z. B. mit Gestalten, die Züge verschiedener uns bekannter Personen in sich 
vereinigen), sondern auch mit akustischen, mit Mischwörtem. Freud selbst 
träumte z. B. einmal den Satz ,,das ist ein norekdaler Stil“ — mit Anspielung 
auf Nora und Ekdal, zwei Ibsensche Gestalten. Andere Traumanalysen finden 
in den Traumwörtern Maistollmütz, Autodidasker die Elemente Mais—manns¬ 
toll—Olmütz bzw. Autodidakt—Lasker. 

2) Wir beschränken uns hier in der Hauptsache auf die akzidentelle 
Verschmelzung zweier Wörter zu einem besonderen stilistisch-rhetorischen 
Zwecke und weichen dem allgemeinen Problem aus, das man — nach H. Paul — 
als Kontamination bezeichnet. ,,Unter Kontamination verstehe ich den Vor- 


40 



Scherr bezeichnet z. B. das Habsburgerreich, von der Wieder¬ 
eröffnung der von Kaiser Joseph II. abgeschafften Klöster schreibend, 
als Klösterreich. Eugen Dühring spricht einmal von Hinteressen. 
Aufkläricht (Aufklärung + Kehricht) ist ein geflügeltes Wort, das 
zuerst 1840 vom konservativen Historiker H. Leo gebraucht wurde. 
Bei Christian Morgenstern lesen wir u. a. Gymnaseweis, wesentiell, 
Dilettalent. Bei Hermann Löns: demokrätzig, millionärrisch, an- 
geautobt kommen. Das Schriftstellerpseudonym Klabund war aus 
dem Anfang von Klabautermann und dem Ende von Vagabund ge¬ 
bildet. Börries von Münchhausen gebraucht einmal das Wort 
Kaniballadiker. Franz Blei charakterisierte den Stil in Alfred Polgars 
kleinen Skizzen als Filigranit. Karl Kraus sprach im Weltkrieg von 
Patridioten und (anläßlich eines Gasangriffes) von einer chlorreichen 
Offensive. Bei Kraus finden sich auch die Verschmelzungswörter 
Psycholozzelech, Desperanto (vom umständlichen Stil Maximilian 
Hardens), Emeretrix (von einer alten Kokotte, einer emeritierten 
Meretrix), Wissenschaftlhüber (verschmelzend das bayrisch-öster¬ 
reichische Gschaftlhuber), Analphabetyaren (auf ungarischeRevolver- 
journalisten von geringer Bildung), und von einem in einen Balkan¬ 
staat entsandten Wiener Journalisten schrieb er, er sei mit dem 
Orienterpreßzug abgereist. Vor dem Kriege bezeichnete jemand 
— die Industrieherren morgenländisch selbstherrlicher ,,Pascha¬ 
wirtschaft“ bezichtigend — das Saargebiet als Saarabien. In den 

gang, daß zwei synonyme oder irgendwie verwandte Ausdrucksformen sich 
gleichzeitig ins Bewußtsein drängen, so daß keine von beiden recht zur Geltung 
kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich Elemente der einen mit 
Elementen der anderen mischen.“ Eine exzessive Überschätzung der Konta¬ 
mination, der Häufigkeit und Wichtigkeit dieser Erscheinung, legt Christian 
Rogge an den Tag, für den z. B. das Wort Fibel nicht eine Dissimilation von 
Bibel ist, sondern das Ergebnis von ,,Fabel“ + ,,Bibel“; für ihn ist brausen 
= brummen + sausen, klimpern = klingen 4- klappern, wimmern = weinen 
+ jammern, Striemen = Streifen + Riemen, Kringel = Kranz (oder Kreis) 
+ Ringel und Kranz selbst = Krone + Schwanz (in seiner Bedeutung: Schleppe). 
Daß manches Wort von einem anderen, etymologisch nicht verwandten Wort 
in Form und Inhalt beeinflußt worden ist (Quereinfluß), berechtigt noch 
nicht, zu behaupten, dieses zweite habe sich ganz oder teilweise dem ersten 
zugesellt. Nur auf die Verschmelzung zweier Worte in eines paßt es, schreibt 
Mauthner, daß synonyme Ausdrücke zusammenschmelzen; in weitaus zahl¬ 
reicheren Fällen lasse sich beobachten, daß die Verunreinigung oder An¬ 
steckung durch das Ineinander fließen zweier Sprachbilder erfolgt. Über einen 
Sonderfall des Quereinflusses, die Volksetymologie, siehe das Stichwort Hänge¬ 
matte. 


41 




ersten Tagen des Jahres 193^, vor der Saarabstimmung, wurden im 
Berliner Rundfunk die Statusquo-Anhänger als Statusquatschisten 
bezeichnet. Im Weltkrieg prägten die deutschen Feldgrauen die 
Ausdrücke Zirkus Salvarsani = Lazarett für Geschlechtskranke (Zirkus 
Sarasani 4- Salvarsan), Schubkartillerist = Armierungssoldat, Lauso¬ 
leum. Den Spottnamen Gonorrhöe de Balzac gab man in den Nach¬ 
kriegsjahren einem fruchtbaren Wiener Romanschriftsteller, dessen 
außerordentliche Begabtheit in der Schilderung zeitgenössischer 
Gesellschaftszustände den Vergleich mit dem Schöpfer der „Mensch¬ 
lichen Komödie“ nahelegte, obschon der die Grenzen der Porno¬ 
graphie oft streifende Hang dieses „neuen Balzacs“ zu erotischen 
Schilderungen sich für solche Bewertung hinderlich erwies. Bekannt 
war um die Jahrhundertwende der Spottnamen Cleopold für König 
Leopold II. von Belgien, dem man eine Beziehung zur Tänzerin Cleo 
de Merode nachsagte 1 . Im Berlin der Vorkriegszeit bezeichnete der 
Volksmund die Sodawasserverkäuferinnen als Sodalisken. Autri- 
richelieu und Millimetternich waren Scherzwörter für zwei öster¬ 
reichische Kanzler, von denen der eine Priester, der andere von 
kleinem Wüchse war. Ein boshafter Autor, der das Theatralische, 
Effekthascherische in Mahatma Gandhis Gebaren früher erkannte 
als andere, nannte den indischen Tribun Mahatma Propagandhi. Die 
Psychoanalyse ist einmal von einem Prager Literaten als Genital¬ 
mud verhöhnt worden. Der Romanist Spitzer, der — unter dem 
Eindruck der Psychoanalyse — aus dem Stil einzelner Autoren ge¬ 
wisse geheim wuchernde Vorstellungskomplexe zu erkennen ver¬ 
suchte (z. B. sadistische bei Barbusse, Interesse für Gebären und 
Entleeren bei Jules Romains), bekam von einem philologischen 
Fachgenossen den Vorwurf des Medizynischen zu hören. Der Rang 
eines poeta kalaureatus ist schon mehreren zum Wortwitz neigen¬ 
den Autoren angetragen worden. Als vor einigen Jahren in Wien 
die Deutschösterreichische Tageszeitung, kurz Dötz genannt, im 
„Briefkasten“ einer „neugierigen Braut“ eine anatomische Aus¬ 
kunft erteilte, die ziemlich obszön wirkte und jedenfalls stark über¬ 
trieben war, entstand das Witzwort von dem neuen Längenmaß, 

1) Staatssekretär von Kühlmann, der als Anhänger eines Verständigungs¬ 
friedens 1918 unter dem Druck der Obersten Heeresleitung zurücktreten mußte, 
galt in militärischen Kreisen als Ridikühlmann. In der Inflationszeit provozierte 
der kurzlebige Wiener Rikola-Verlag, die etwas lächerliche Gründung des Ban¬ 
kiers Ri-chard Ko-la, das Spottwort Ridikola. 


42 



dem Dötzimeter. Für einen Wiener Romanschriftsteller, dessen 
politische Gesinnung im Gegensatz steht zu seiner tschechelnden 
Aussprache und seinem slawischen Namen, ist der Spitznamen 
Horst-Wessely aufgekommen. Der Wiener Kritiker Liebstöckl be- 
zeichnete einen stark bejahrten Opernsänger unzart als Sklerosen¬ 
kavalier. Ein derber Frauenhasser gelangte aus der Verschmelzung 
der Wörter Frauenzimmer und Ungeziefer zum Ausdruck Frauen¬ 
ziefer 1 . In Feuilletons findet man oft Gelegenheitsprägungen, wie 
spinatürliche Ernährung, jaguartiges Lauem, mozärtliche Töne, pro¬ 
visionäre Begabung. Es mag Zusammenhänge geben, innerhalb 
welcher auch Wörter wie Krokodilemma, Dilettantalus, Papageiz¬ 
kragen, Hallunkination, Destillirium, kabeljauchzend einen witzigen 
Sinn haben können. Der Witzbold aus Überlegung wird zum vor¬ 
bereiteten Verschmelzungswort die Situation, in die es einigermaßen 
hineinpassen mag, suchen oder willkürlich herbeiführen. 

Zum Typus der VerschmelzungsWörter gehören auch gewisse, 
immer wiederkehrende stilistische Nachlässigkeiten oder 
grammatikalische Verstöße. 1904 hat ein Dresdner Schulmann 
in einer wissenschaftlichen Zeitschrift die Feststellung gemacht, 
daß einem preußischen Minister im Abgeordnetenhaus dreimal 
die Wendung ,,meines Erachtens nach“ entschlüpft ist. Man hört 
heute besonders in der Berliner Umgangssprache so häufig ,,nicht- 
destotrotz“ sagen (eine ursprünglich wohl scherzhafte Verschmel¬ 
zung von nichtdestoweniger und trotz alledem), daß man — ein¬ 
geschüchtert durch die Erfahrung, daß die Fehler von heute nicht 
selten Vorboten der Regeln von morgen sind — sich des Ge¬ 
dankens nicht erwehren kann, daß die Wörterbücher demnächst 
auch diesem üblen Bankert ihre Spalten werden öffnen müssen. 

Bei manchen VerschmelzungsWörtern könnte man sagen, daß 
einfach eine analoge Verwendung von bestimmten Nachsilben 
vorliegt. Gewiß ist bei Journaille (geprägt von Alfred v. Berger, 
in Umlauf gesetzt von Karl Kraus) oder bei Schnorreros zum Grund¬ 
wort nicht ein Stück eines anderen Wortstammes hinzugefügt, 
sondern nur die französische Endung -aille bzw. die spanische -eros. 
Aber da die Wurzel journ- auf -n endet, schnorr- auf -r, ist für den 

1) Das Motorrad, das einen zweiten Sitz (in Berlin den Soziussitz, in Wien 
die Pupperlhutschen) hat (auf dem man die zitternde Liebe oder Zitterliebste 
mitnimmt, auch Klammeräffchen oder mit zynischer Derbheit Sexualproviant 
genannt), wird manchmal scherzweise als Brautomobil bezeichnet. 


43 





Deutschen, dem doch diese beiden fremden Endungen nicht lebende 
Suffixe sind, in diesem Falle -aille (-naille) die Vertretung des be¬ 
kannten Fremdwortes Canaille, -eros (-orreros) die Vertretung des 
bekannten toreros, und man kann also auch in solchen Fällen (statt 
von einer Analogiebildung, einer Nachsilbenübertragung) von der 
Verschmelzung zweier Vorstellungen sprechen. 

Das Verschmelzungsprinzip kann auch in einer Weise auf zu¬ 
sammengesetzte Wörter angewendet werden, daß die Einzelwörter 
unversehrt bleiben: die Vorstellung, die mit dem zusammen¬ 
gesetzten Worte AB bezeichnet wird und mit der Vorstellung BC 
zunächst nichts zu schaffen hat, vereinigt sich mit dieser zu einer 
überraschenden neuen Vorstellung ABC. So bezeichneten die deut¬ 
schen Feldgrauen im Weltkrieg den Gasangriff als Gasmaskenball, 
Karl Kraus schrieb von Freudenhausbackenheit und von Unterleib¬ 
eigenschaft und Alfred Polgar nannte einmal eine hübsche, etwas 
dicke, sehr wienerische Schauspielerin die Obersschaumgeborene 1 . 

Manche Redensart verdankt ihre gegenwärtige Form einer Ver¬ 
schmelzung von zwei verschiedenen Redensarten. Wir 
hatten einen Schwanimus davon = einen Animus haben 4- es 
schwante uns 2 ; am Hungertuch nagen ist vermutlich das Ergebnis 
von: am Hungertuch nähen + (an den Hungerpfoten oder an leeren 
Knochen, trockner Brotrinde) nagen. Ich hörte vor kurzem, wie 
ein Gastwirt sich am Telephon bei seinem Fleischhauer beschwerte, 
das frühere Kalbfleisch und das jetzt gelieferte sei ,,Tausendundeine 
Nacht** (offenbar verschmolzen aus zwei verschiedenen Antithesen: 
,,Das verhält sich wie Tausend zu Eins“ — ,,Das unterscheidet sich 
wie Tag und Nacht**). 

Die Möglichkeit witziger Wortverschmelzungen besteht nicht 
nu,r im Deutschen. In der französischen Literatur findet man, 
wie zu erwarten, besonders bei Rabelais oft Beispiele dieser Wort¬ 
schöpfungsart: wir erwähnen z. B. seine Prägung sorbonagre aus 
Sorbonne und onagre (wilder Esel). Saint-Beuve verspottete die 
kleinmalerische Schilderung des alten Karthagos in Flauberts 
Salambbo als carthaginoiserie, wozu man wissen muß, daß man als 

1) Auch mancher der bekannten boshaften Aussprüche Nietzsches streift 
das Gebiet der Wortverschmelzung, z. B.: ,,Liszt oder die Schule der Geläufig¬ 
keit — nach Weibern“ ; ,,Schiller oder der Moraltrompeter von Säckingen“. 

2) Wobei — nach Rogge — auch ,,uns schwant“ selbst eine Verschmelzung 
aus ,,uns schwebt vor“ und ,,wir ahnen“ sein soll. 


44 



chinoiserie im Französischen nicht nur kleine chinesische Kunst¬ 
gegenstände bezeichnet, sondern auch die Pedanterie und (wohl 
zufolge des Anklangs an niaiserie) auch die Albernheit. Edmond 
Rostand gebraucht im Chantecler das Wort animalitarisme (animal 
+ militarisme). Unter dem Stichwort Kanaille behandeln wir auch 
die politischen Schlagwörter vaticanaille und radicanaille. Im 
Pariser Argot der Jahrhunderts wende bezeichnete man mit homme- 
lette (aus homme und Omelette) einen schlappen, energielosen 
Menschen. Nach Sainean gehören auch folgende Pariser Ausdrücke 
zu den Verschmelzungswörtern: alboche (aus allemand und boche), 
viscope = Kappe mit langem Schild (aus visiere und telescope), 
foultitude = Menge (aus foule und multitude). Esnault gebraucht für 
diesen Typus der Verschmelzungswörter die Bezeichnung chevauche- 
ment (,,imregelmäßiges Auf- oder Übereinanderliegen 4 ‘). 

In der englischen Sprachwissenschaft werden solche Ver¬ 
schmelzungswörter als blends (Mischlinge) bezeichnet. Thomas de 
Quincey machte einmal eine Bemerkung über die Neigung alter 
Menschen zur anectodage (anecdote + dotage = kindisches Gefasel); 
seither hat das Wort anecdotage mit den Doppelbedeutungen: 
i. Anekdotensammlung, 2. schwatzhafte Geistesschwäche im hohen 
Alter, ständigen Fuß in den englischen Wörterbüchern gefaßt. Der 
englische Mathematiker Dodgson hat in seinen humoristischen 
Kindertraumgeschichten (Alice in Wonderland), die er unter dem 
Decknamen Lewis Carroll schrieb, sich oft solcher Wortverschmel¬ 
zungen bedient. Im englischen Studentenslang gibt es folgende Aus¬ 
drücke für Mahlzeiten gemischten Charakters: brunch (breakfast 
-F lunch), tünch (tea -f lunch), tupper (tea -f supper), brupper 
(breakfast + supper). Nach Jespersen ist das englische (Karten¬ 
spielern auch in Deutschland bekannte) Wort flush = Aufwallung, 
plötzliche Errötung, eine Verschmelzung von flash = Blitz, Auf- 
lodem und blush = Schamröte, Verwirrung. Das Zeitwort squash 
= zerquetschen entstand wahrscheinlich aus der Verschmelzung der 
beiden sinnverwandten Zeitwörter squeeze und crash; ebenso 
grumble = knurren, brummen aus growl und rumble 1 . 

i) Die Untergrundbahnverbindung zwischen den Stationen Baker Street und 
Waterloo heißt im Londoner Volksmund Bakerloo. Der Name des Märchen¬ 
landes Mesopoloniki, von dem die englischen Frontsoldaten in Frankreich 
träumten (wegen des langen Transportes und weil sie dort weniger Gefahren 
vermuteten), weist auf Mesopotamien (und Polen ?) und Saloniki. 


4 5 




Eine nicht geringere Neigung zur Wortverschmelzung zeigt auch 
der amerikanische Zweig des Englischen. Was wir Wahlkreis¬ 
geometrie nennen, die mißbräuchlich willkürliche Abgrenzung der 
Wahlkreise zugunsten einer Partei, bezeichnet der Amerikaner mit 
dem Worte gerrymander: dem Namen von Eibridge Gerry, dem 
Gouverneur von Massachussets zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, 
ist die zweite Hälfte des Wortes Salamander angehängt 1 . In der 
amerikanischen Negerpresse, die bemüht ist, die afrikanische Her¬ 
kunft der amerikanischen Schwarzen in Ehren zu halten, ist die 
Bezeichnung Aframerican beliebt. Das amerikanische Wort doggery 
= Gesindel, gemeines Betragen ist wohl eine Verschmelzung aus 
dog = Hund und groggery = Schnapsladen. Für die elektrische Hin¬ 
richtung ist (aus electricity und to execute) das Zeitwort to electro- 
cute gebildet worden. Mencken bezeichnet solche amerikanische 
Verschmelzungen als portmanteau-words (Kofferwörter). 

Das Prinzip der Verschmelzungswörter war in den Vereinigten 
Staaten für die Benennung mancher neugegründeten Stadt 
maßgebend. Man hat Städte, die an der Grenze zweier Staaten ent¬ 
standen waren, in der Weise benannt, daß man dem Namen des 
einen Staates den Anfang, dem des anderen das Ende entlieh. So 
gibt es eine Stadt Calexico an der Grenze von California und 
Mexiko, eine Stadt Calada an der Grenze von California und Nevada, 
ein Kensee (Kentucky-Tennessee), Uvada (Utah-Nevada), Vershire 
(Vermont-New Hampshire), Virgilina (Virginia-North Carolina), Da- 
koming (Dakota-Wyoming), Tennelina (Tennessee-North Caro¬ 
lina) usw. Der Staat Colorado hat aus Gründen des Wohllautes in 
der Regel das Ende seines Namens für solche Verschmelzungsnamen 
an seinen Peripherien abgegeben, und der Bürger von Colorado, wenn 
er es nur weiß, wo die Nachbarn Utah, Kansas, Oklahoma an seinen 
Heimatsstaat grenzen, kann leicht wissen, daß er die Stadt Urado 
an der Westgrenze, Kanorado an der Ostgrenze, Oklarado am Ost¬ 
ende der Südgrenze zu suchen hat 2 . 

1) Aber warum gerade Salamander? Sollte dabei eine Rolle spielen, daß 
Salamander im Englischen — wegen des alten Glaubens, daß dieser Molch im 
Feuer leben kann — auch den (feuerfesten) Geldschrank bedeutet? 

2) In anderen Fällen befolgen solche ,,Mosaiknamen“ — so bezeichnet sie 
O. Springer in einer Studie über amerikanische Ortsnamen — nicht genau das 
Schema: Anfang des einen Staatennamens -}- Ende des anderen Staatennamens, 
sondern die amtlichen Abkürzungen der Staatennamen bilden die Stücke, 
die zusammengeschweißt werden. An der Grenze von Ala. (Alabama) und 


46 





Auch die Industrie bedient sich bei der Wahl von Marken - 
namen oft des Prinzips der Verschmelzungswörter. Hämokolade 
ist eine Verschmelzung von Hämoglobin und Schokolade. Die 
Wotanlampen sind zum Namen des germanischen Hauptgottes 
darum gelangt, weil für ihre Fäden eine Legierung der metallischen 
Elemente Wolfram und Tantal verwendet wird. Ähnliches gilt von 
einem anderen Glühlampennamen: Osram = Osmium + Wolfram. 
Das Präparat Tannismut besteht aus Tannin und Wismut. Nicht 
selten sind solche Fälle, wo der Erzeuger seinen eigenen Namen 
zum Verschmelzungswort beisteuert; so erklärt sich der Namen 
des Haarwaschmittels Pixavon = Pick + savon (= Seife) oder in den 
Likörstuben der Berliner Firma Mampe der „Mampediktiner“, der 
sich allerdings vom Benediktiner nicht ,,das bessere Teil“ (das 
,,bene-“) erwählt hat. 

AUFDRÖSELN 

Tröseln, drieseln = herumdrehen ist ein ostmitteldeutsches, be¬ 
sonders in Schlesien heimisches Wort, vielleicht verwandt mit dem 
ebenfalls mundartlichen trösen = langsam sein, woher Tröser oder 
Trösler = gedankenloser, traumverlorener (österreichisch: traam- 
hapeter) Mensch. Der Faden wird auf- und abgedröselt. Aufdröseln 
= fadenweise auf lösen kommt auch in westlicher gelegenen mittel¬ 
deutschen Gebieten, z. B. in Thüringen, vor. Dort dürfte sich 
Goethe das Wort angeeignet haben. Er gebraucht es häufig in 
der bildlichen Bedeutung von auflösen in Bestandteile, mühsam 

Ga. (Georgia) liegt z. B. die Stadt Alaga, an der Grenze von 111. (Illinois) und 
Mo. (Missouri) liegt Illmo, an der Grenze von Mississippi und Alabama Missala, 
an der Grenze von Texas und Louisiana (La.) Texla. Wieder in anderen Fällen 
vereinigt sich die amtliche Abkürzung des einen Staatennamens mit den ersten 
Buchstaben des anderen; z. B. in den Fällen Wycolo (Wyoming—Colorado), 
Kennvir (Kenntucky—Virginia). Es gibt sogar auf drei Staatennamen zurück¬ 
gehende Städtenamen; so weist z. B. der Namen der Stadt Kenova auf die 
Dreistaatenecke Kentucky, Ohio (O.) und West Virginia (W. Va.). Diese 
künstlichen Kombinationswörter gehören aber kaum noch in die Gruppe 
der VerschmelzungsWörter, sondern eher in das Gebiet der sogenannten 
Akü- (Abkürzungs-) Sprache, deren unzählige Beispiele aus Krieg und Frieden — 
wie Koflak (Kommandeur der Flugzeugabwehrkanonen), Bogohl und Kagohl 
(Bomben- bzw. Kampfgeschwader der Obersten Heeresleitung), Orgesch 
(Organisation Escherich), Schupo (Schutzpolizei), Gestapo (Geheime Staats¬ 
polizei), Gesolei (Ausstellung für Ge-sundheitswesen, So-ziale Fürsorge und 
Lei-besübungen) — allgemein bekannt sind. 


47 





zergliedern, auch tüfteln und es ist —wie Forscher am Goetheschen 
Wortschatz (Boucke, R. M. Meyer, P. Fischer) gezeigt haben — zu 
einem charakteristischen Goetheausdruck geworden. Es ist wohl 
kein Zweifel, meint Boucke, daß der synthetische Denker durch 
dieses wegwerfende Dialektwort seine Geringschätzung der auf¬ 
lösenden Analysis ausdrückte. (,,Trennen und Auflösen lag nicht 
in meiner Natur/ 4 ) Mit Anspielung auf die Newtonsche Farben¬ 
zergliederung: ,,aufgedröselt, bei meiner Ehr, siehst ihn (den 
Sonnenschein), als ob’s ein Strichlein war, siebenfärbig statt weiß. 44 
Auch spricht der Dichter von siebenfärbigen Dröseleien. 1804 
schrieb er an Wilhelm von Humboldt in bezug auf die Bühnen¬ 
bearbeitung des Götz: ,,auch habe ich wie ,Penelope 4 nun ein Jahr 
daran gewoben und aufgedröselt. 44 Im Sinne von analysieren ge¬ 
braucht Goethe das Zeitwort aufdröseln 1823 in einem Briefe an 
Ulrike von Levetzow: ,,so werden Sie jeden Tag von meiner 
Dankbarkeit durchwoben finden, die ich jetzt einzeln weder auf¬ 
dröseln möchte, noch könnte. 44 Bei anderer Gelegenheit gebraucht 
er aufdröseln vom ,,Erhöhen des Genusses durch immer wiederholte 
Erinnerung an voraufgegangene Liebesbeweise 44 (Fischer), und in 
einem Gedicht an Suleika im Westöstlichen Diwan heißt es: Tage 
währts, Jahre dauerts, daß ich neu erschaffen tausendfältig deiner 
Verschwendungen Fülle, aufdrösle die bunte Schnur meines 
Glückes. 

Von Goethe dürften sich das Wort aufdröseln zwei jüngere 
Klassiker angeeignet haben: es kommt gelegentlich in Rückerts 
chinesischer Liedersammlung ,,Schi-king 44 (Wir waren zwei ver- 
schiedenfarbge Fäden — wer hat uns aufgedröselt nur?) und bei 
Hebbel vor. 

AUFHEBENS MACHEN 

oder viel Aufhebens machen von etwas oder mit etwas kommt von 
den Gebräuchen der Fechtkunst und bezieht sich auf das — mitunter 
wichtigtuerisch wirkende — Zeremoniell bei Beginn des Kampfes, 
auf die gegenseitige Begrüßung und die Begrüßung der Zuschauer 
durch Aufheben der Waffen. In einem Drama Jakob Ayrers 
(um 1600 herum) heißt es: ,,nimmt eins (ein Schwert), macht ein 
Aufhebens, gibt dem Jungen eins, tun ein Gang zusammen. 44 Lessing 
war sich der seither ganz verblaßten Herkunft der Redensart noch 
bewußt, als er in einer seiner berühmten Polemiken schrieb: 


48 



,,Endlich scheint der Hauptpastor Göze nach so langem, ärgerlichem 
Aufheben, welches nur bei der schlechtesten Art von Klopffechtern 
in Gebrauch ist, zur Klinge zu kommen.“ Auch viele andere 

Redensarten beziehen sich auf das Fechten 

und die Turniersitten. Zu diesen gehört auch: es mit jemand 
aufnehmen. ,,Es“ ist ,,das Waffen“. (Waffe war noch bei Luther 
— wie auch das parallele und verwandte Wappen — sächlichen Ge¬ 
schlechts, und noch Uhland sagt im Klein-Roland bewußt alter- 
tümelnd: ,,Herrn Milons starkes Waffen“.) Die Waffen lagen vor 
dem Zweikampf auf dem Fußboden; sie ,,aufnehmen“ hieß: zum 
Kampf antreten. Auf den Beginn des Zweikampfes bezieht sich auch 
die Redensart mit jemand anbinden. Die Klingen wurden näm¬ 
lich vor Beginn ,,gebunden“, d. h. kreuzweise aneinandergelegt. 

Jemandem die Stange halten (,Jeder hält doch nur seiner 
Religion die Stange“, sagt der Tempelherr in Lessings Nathan) geht 
auf den gerichtlichen Zweikampf zurück. Im schwäbischen Land¬ 
recht heißt es: ir ietwedem sol der richter einen man geben, der 
eine Stange trage, die sol der über den haben, der da gevellet (zu 
Falle kommt). Wie beim Gericht hielt dann auch beim Turnier 
der Sekundant, der Stanger oder Stängler (später Grießwart) die 
Stange, stets bereit, zum Schutze des bedrohten Freundes mit ihr 
einzugreifen. Allerdings galt der auch schon als besiegt, zu dessen 
Schutz von weiterem Schaden die Stange bereits eingreifen mußte, 
und die Stange für sich begehren hieß, sich als besiegt bekennen. 
An die Tätigkeit der Sekundanten und Knappen erinnern auch die 
Ausdrücke beispringen, beistehen, Beistand leisten, unter die Arme 
greifen, auf die Beine helfen. 

Auf das Turnierwesen der Ritterzeit weisen ferner hin die 
Redensarten: mit offenem Visier kämpfen, für etwas in die Schran¬ 
ken treten, jemand in die Schranken fordern, in die Schranken 
weisen, Schranken setzen, ziehen, den (Fehde-)Handschuh hin¬ 
werfen, das Feld räumen, festen Fuß fassen, über den Haufen rennen, 
jemand übers Ohr hauen, eine Scharte auswetzen, sich eine Blöße 
geben, das Heft ergreifen, es fest in der Hand haben, aus der Hand 
geben, den (dem Angreifer entrissenen) Spieß umdrehen, mit 
jemand eine Lanze brechen, für jemand eine Lanze einlegen, je¬ 
mandem die Spitze bieten (d. h. ihm die Spitze des Schwertes ent¬ 
gegenhalten), ihn vor die Spitze fordern, etwas auf die Spitze treiben 


49 



(d. h. es zum Äußersten, zum offenen Kampf kommen lassen), die 
Spitze abbrechen (z. B. einem Vorwurf), etwas (ursprünglich den 
Wahlspruch) im Schilde führen, den Schild blank erhalten, in 
Harnisch geraten (es gibt geharnischte Reden, Proteste, Rückert 
schrieb sogar ,,Geharnischte Sonette“), vom Leder ziehen, in die 
Parade fahren, jemandem auf den Leib rücken, gerüstet sein, ent¬ 
rüstet sein (ursprünglich: entwaffnet, und daher aus der Fassung 
gebracht) usw. Hierher gehören nicht nur Redensarten, sondern 
auch übertragen gebrauchte Einzelwörter, wie rüstig, rüsten (z. B. 
zu einer Reise, einem Fest), sich wappnen (z. B. mit Geduld), aus- 
fallen, ausfällig sein, schlagfertig, verfechten (z. B. eine Ansicht), 
sattelfest, ausstechen (nämlich: mit der Lanze aus den Sattel), 
stichhaltig. Mit den Bräuchen in der altrömischen Arena hängt die 
Redensart ,,jemandem Sand in die Augen streuen“ zusammen. 
Pulverem ad oculos aspergere war ein Kniff der Gladiatoren, um 
den Gegner zu blenden und kampfunfähig zu machen. 

Die Redensart ,,im Stich lassen“ und den Ausdruck ,,fechten“ 
(= betteln), von denen es fraglich ist, ob sie mit dem Fechtwesen 
Zusammenhängen, behandeln wir unter eigenen Stichwörtern. 

AUSBADEN ETWAS, 

das Bad austragen, das Bad ausgießen bedeutet: für andere büßen 
müssen, die Folgen statt anderer auf sich nehmen müssen. I muaß 
allarweil für die anderen ’s Bad ausgiaß’n, raunzt der Wiener. Es 
ist ganz einerlei — ist bei Goethe zu lesen —, vornehm oder gering 
zu sein, das Menschliche muß man immer ausbaden. In Burkhard 
Zinks Augsburger Chronik heißt es: ich glaub warlich, die von 
Augssburg müessen das Pad ausbaden oder doch zahlen. Und in 
Fischarts Gargantua: Dann der einmal einsteigt, der muß das Bad 
ausbaden oder doch bezahlen. Ein altes Sprichwort lautet: wer 
zuerst einsteigt, badet zuerst aus. Bei Hans Sachs: du bist wohl 
auch so arm als ich, wer hat dich so gebadet aus. Hans Sachs ist es 
auch, der uns jene mittelalterliche Baderegel überliefert, auf der 
die Redensarten vom Ausbaden, Bad austragen, Bad ausgießen offen¬ 
sichtlich beruhen: es badeten in der Regel hintereinander mehrere 
Personen im selben Wasser, und wer zuletzt badete, hatte ,,das 
Bad auszutragen“, d. h. die Wanne zu entleeren. 

Eine andere Erklärung für ,,etwas ausbaden“, die nicht mit der 
Pflicht des zuletzt Badenden, sondern mit einem Hochzeitsbrauch 

50 





zusammenhängt, gibt Oppermann: Die Hochzeitsfestlichkeiten 
schlossen mit einer Nachfeier der Gäste; einige Gäste durften die 
junge Frau ins Bad begleiten, und diese mußten dann als Dank für 
diese Ehre den gesamten Gästen einen Schlußschmaus geben, den 
man „Ausbad“ nannte; ,,da das für sie kostspielig war, so kann 
man den Sinn unserer Wendung etw r as ausbaden müssen wohl be¬ 
greifen“. 

Eine dritte Erklärung gibt Weigand: ein unfreiwilliges Bad 
bis ans Ende erleiden. Für diese, sonst durchaus unbelegte Deutung 
aus dem Gedanken an die Unfreiwilligkeit eines Bades kann einzig 
ein Abenteuer Eulenspiegels ins Treffen geführt werden: ,,Da fiel 
Ulnspiegel in das Wasser mit großem spot, und badet redlichen in 
der Sal (Saale). Da wurden die bauren gar sehr lachen, und die 
jungen ruflften im fast nach, he he bad nur wol uss.“ 

AUSGEMERGELT 

Mergel (von lateinisch marga, margila, woher auch französisch 
marne) bedeutet: fette Düngererde. Die Mergeldüngung über¬ 
nahmen die Germanen von den Galliern. Schon Plinius spricht von 
einer Erdart, quod genus terrae Galli et Britanni vocant margam. 
,,Mergel macht den Vater reich und arm den Sohn“, lautet ein 
Bauernsprichwort und soll heißen, daß übermäßig gedüngter Acker 
zunächst wohl mehr trägt, nach gewisser Zeit aber dann unergiebig 
wird; er ist dann eben — ausgemergelt. In erweitertem Sinne be¬ 
deutet ausgemergelt: erschöpft, ausgedörrt. Bürger: ,,Unter ihm 
schwankten die ausgemergelten Schenkel.“ In Wien bedeutet aus¬ 
gemergelt: abgemagert; drastischer sagt man auch: ausgerinnet, 
ausgezuzelt. Eben weil ausgemergelt seiner Herkunft nach etwas 
bedeutet, was erst ausgemergelt worden ist, ist es einigermaßen 
ungewöhnlich, wenn auch nicht unzulässig, wenn ein Kritiker der 
,,Neuen Zürcher Zeitung“ von der zwölfjährigen Darstellerin des 
kleinen, armen, kranken, verhungerten und verprügelten Hannele 
(im Film ,,Hanneles Himmelfahrt“ nach Gerhart Hauptmann) 
schreibt: ,,Es gelingt dem hübschen Mädchen das Ausgemergelte 
und Fieberheiße nicht.“ 

Nach anderer Erklärung kommt ausmergeln nicht von Mergel, 
sondern von lateinisch medula, althochdeutsch marag, mittelhoch¬ 
deutsch marc: das Mark aus den Knochen ziehen, die letzte Kraft 
aus einem Lebewesen nehmen. Als Argument für diese Ableitung 



führt A. Götze an, daß — wie er mit unzähligen Beispielen aus der 
Literatur belegt — ausgemergelt in der überwiegenden Mehrzahl 
von Fällen von Menschen gesagt wird, nur gelegentlich von Tieren 
und ganz ausnahmsweise vom Ackerboden. Bemerkenswert ist dabei 
auch, daß vorzugsweise erschöpft durch Laster, Trunksucht, Un¬ 
keuschheit u. dgl. gemeint ist. Bei Magister Laukhart, 1799, ist z. B. 
wiederholt zu lesen: ausgemärkelte Straßennymphe, ausgemärkelter 
Onanist, ausgemärkelter Wollüstling. Demgegenüber hält Hans 
Sperber an der Ableitung aus Mergel fest; daß ausgemergelt dennoch 
in der Literatur hauptsächlich von Menschen gesagt wird, sei darin 
begründet, daß die Sphäre des Ackerbaues in der Literatur überhaupt 
wenig berücksichtigt wird. 

Von Mark kommt übrigens der leipzigische Ausdruck sich ab¬ 
marachen = sich bis zur Erschöpfung abarbeiten (z. B. ich bin ganz 
abmaracht). Ein anderer sächsischer mundartlicher Ausdruck „mer¬ 
geln“ hängt hingegen weder mit Mark noch mit ausgemergelt zu¬ 
sammen. Mergeln bedeutet im Sächsischen betasten und zermergeln 
= zerreiben (z. B. ein Rosenblatt), zerknüllen (z. B. eine Eintritts¬ 
karte), sinn- und vielleicht auch sprach verwandt mit dem ebenfalls 
sächsischen Zeitwort weigern, walchem = kneten, rollen (in Wien: 
walken und wuzeln, aus letzterem zerwuzelt). 

Neben den Ableitungen aus „Mergel“ und aus „Mark“ gibt es 
noch eine dritte, die im Worte ausgemergelt die Einwirkung von 
lateinisch marcor = Schlaffheit, mercidus = welk erkennen will; 
diese Herkunft könnte nur dann als möglich gelten, wenn der volks¬ 
tümliche Ausdruck ausgemergelt nachweislich aus gelehrten, me¬ 
dizinischen Kreisen in die allgemeine Sprache geflossen wäre, was 
aber keineswegs vermutet wird. 

AUTHENTISCH, EFFENDI 

Das griechische auto-s (selbst) weisen verschiedene Fremdwörter 
auf, z. B. Automat, von selbst handelnd; Autopsie, selbst Gesehenes, 
Augenschein; Automobil, von selbst Bewegliches; autonom, sich 
nach eigenen Gesetzen richtend; Autarkie, Selbstversorgung. Das¬ 
selbe was Autokrat = Selbstherrscher, bedeutet auch das griechische 
authentes; hievon die Fremdwörter authentisch, echt, zuver¬ 
lässig und Authentizität. Bei der Umwandlung der griechischen 
Doppelvokale taucht im Neugriechischen an Stelle des u das f auf, 
entsprechend der allgemeinen lautlichen Verwandtschaft zwischen 


£2 





u und v. So wird z. B. aus eleutheria (Freiheit) neugriechisch 
eleftheria. Das klassische authentes lautet im Neugriechischen (in 
der Ansprache, im Vokativ) Aftendi, und daraus wurde die be¬ 
kannte türkische Ansprache Effendi, im Sinne ,,mein Gebieter“, 
aber auch als Standesbezeichnung. 

Das Beispiel authentisch — Effendi zeigt uns, welch große Sinn- und 
Formverschiedenheit sich bei gleicher Wurzel schon beim kleinsten 
sprachgeschichtlichen Umweg ergeben kann. Ähnliche Beispiele: 
Balken und Balkon, Beryll, Brillant und Brille, Bezirk und Zirkus, 
Bollwerk und Boulevard, Börse und Bursche, Büttel und Pedell, 
Christ und Kretin (s. das Stichwort „Kretin“), Eidgenossen und 
Hugenotten, Email und Schmelz, Etappe, Stapel und Staffel, Flegel 
und Flagellant, Ionier und Gauner (s. ,,Gauner“), Muskel und 
Muschel (beides = Mäuschen, s. das Stichwort Musselin—Mussolini), 
Pferch und Park, Pfründe und Proviant, pirschen und Bersaglieri, 
Punkt und Spund, Schatz und Schachtel, Schinken und Schenkel, 
Strolch und Astrolog (s. „Strolch 4 *), tauchen und taufen 1 ; Wolke 
und Wolga (s. ,,Wolke“), wuchern und wachsen. Vgl. ferner die 
beim Stichwort ,,loyal, legal 44 angeführten Beispiele. 

BAGAGE, PLUNDER, PACK, TROSS, BAGATELLE 

Bagage = Gepäck, ursprünglich nur Heeresgepäck, gelangt Ende 
des 16. Jahrhunderts aus dem Französischen (vermutlich durch 
niederländische Vermittlung) ins Deutsche. Das französische bagage 
selbst geht auf das ältere bagues, Gepäck, zurück, dem das mittel¬ 
lateinische baga = Kasten, Sack vorangeht. Man hat versucht, das Wort 
noch weiter zurückzuverfolgen: auf altnordisch baggi = Bündel. 

Bis zum 16. Jahrhundert war das deutsche Wort für Heeres¬ 
gepäck: Plunder, ursprünglich vielleicht ein nur niederdeutsches 
Wort, mit der Bedeutung Kleidung, Bettzeug, Hausgerät. Daher 
die alte Bedeutung von plündern, Hausgerät wegtragen, sei es 
vom Feind in unerwünschter Weise, sei es vom Eigentümer selbst 
beim Übersiedeln. In der Schweiz wird in einzelnen Gegenden 
plündere noch heute im Sinne von Umziehen gebraucht; umenand 
plündere = von einer Wohnung in die andere ziehen. Zum Be¬ 
deutungsübergang von plündern = herumziehen zu Plunder = Beute 

i) Dem Zürcher Reformator Zwingli wird ein derber Ausspruch gegen 
die Wiedertäufer in den Mund gelegt: qui iterum mergit, iterum mergitur, 
wer wieder taucht (= tauft), wird wieder getaucht (= ertränkt). 


5 3 




verweise ich auf das Stichwort „marod“, wo die Entwicklung von 
der Vorstellung des lärmend und wüstend herumziehenden Katers 
zu der des Soldaten, der von seiner Truppe wegbleibt und marodi- 
siert (auch Beute macht) behandelt wird. Übrigens war Plunder 
auch die Bezeichnung der ordnungsgemäß von der Truppe als solcher 
nach Kriegsrecht gemachten Beute. 1393 heißt es im Sempacher- 
brief: nach dem Sieg ,,mag menlich plünderen und der Plunder sol 
ieklicher antwurten dien houptlüten und die sullent in under si 
nach marchzal gelich teilen“. 

Sowohl das ältere Wort Plunder als das Fremdwort Bagage 
haben BedeutungsVerschlechterungen mitgemacht. (Über pejora¬ 
tiven Bedeutungswandel s. das Stichwort niederträchtig.) Mit 
Plunder bezeichnet man jetzt wertloses Zeug, Trödelkram. 
Schwätz ken Plunder und ken Mist, sagt man in Appenzell. 
Schweizerisch ist auch die Wendung: het si Plünderli z’sämma g’no 
und isch g’gange. Besonders auch Bettzeug, Schmutzwäsche, zum 
Trocknen aufgehängte Wäsche bezeichnet man in der Schweiz als 
Plunder (,,kei Wunder, schißt d’Chatz ins Plunder“). Bagage hat 
neben seiner ursprünglichen Bedeutung Gepäck, Heeresgepäck jetzt 
auch die Bedeutung Gesindel. Im Französischen hat bagage diese 
zweite, verächtliche Bedeutung nicht angenommen, während im 
Deutschen das Wort immer seltener in seiner neutralen Bedeutung 
Gepäck verwendet wird, so daß sein Schimpfwortcharakter immer 
deutlicher im Vordergrund steht. Als Schimpfwort gehört es zu 
jenen Fremdwörtern, die in einem Teil des deutschen Sprachgebiets 
zu wahren Volks Wörtern geworden sind. Dies gilt im Falle von 
Bagage besonders für die schweizerischen und die bayrisch-öster¬ 
reichischen Mundarten. I jag’s ganz Bagoaschi zum Gugger (Kuckuck), 
wenn’s Wüeschtdue (Wüst-Tun) nipald ufhört, sagt der Basler. In 
Luzern bedeutet Bagauschi: nachlässige, dumme, nichtsnutzige 
Person 1 . In Bayern und Österreich ist Ös Pagaschi! eine beliebte 
Schelte. Die i-Endung läßt vermuten, daß das Wort aus dem 
Schweizerischen ins Bayrisch-Österreichische gelangt ist. Auch so¬ 
weit die Verwendung im ursprünglichen Sinne, also für Heeres¬ 
gepäck, in Frage kommt, hat die schweizerische Form öfters, auch 
im Schrifttum sich durchgesetzt. Eine Quelle aus 1620 belegt: 

1 ) Aus Luzern verzeichnet das Schweizerische Idiotikon auch: Bagabaunschi 
= alte Hexe. Sollte hier eine „Streckform“ von Bagaschi vorliegen? Oder 
Einfluß von rätoromanisch (und slawisch) baba = Großmutter, Hexe ? 


SA- 





Pakaschi packen sie. Eine aus 1630: soll keines Officiers oder 
Soldat en Bagagi wegen Schuld arretiert mögen werden. 

Verhältnisse im Heere, also innerhalb der ursprünglichen Sphäre 
des Wortes Bagage, sind es, aus denen die Wandlung des Wortes 
zu einem Schimpfwort zu erklären ist. Der aktive Krieger hatte 
eine Verachtung für die Leute, die den Truppen das Kriegsgepäck 
nachzuführen hatten. Sie bildeten gleichsam das niedere Gesinde 
des Heeres (man beachte den Schimpfwortcharakter der Ver¬ 
kleinerungsform Gesindel von Gesinde). Auch im Weltkrieg, wo 
der Train schließlich nicht jener undisziplinierte ,,faule Haufen 44 
war, wie etwa im Dreißigjährigen Krieg, wurde er mit mehr oder 
minder kränkenden Necknamen bedacht. Die deutschen Feldgrauen 
sprachen von Kolonne Prr, von Speckfahrern, bei den k. u. k. Truppen 
spottete man der Peitscherlhusaren. In einem Soldatenlied heißt es: 
,,Der Train, der Train, der trägt den Säbel nur zum Schein; damit 
er niemand damit tötet, ist in der Scheid er festgelötet. 4 4 Während 
diese moderne Verspottung des Trains sich nur auf die nicht un¬ 
mittelbar kriegerische Betätigung seiner Angehörigen stützt, hatten 
frühere Jahrhunderte gute Gründe, mit dem Namen der Heeres¬ 
bagage einen herabsetzenden Sinn zu verknüpfen. Beim Gepäck 
hielt sich ein wahres Gesindel auf: Marketender, Sudelköche (vgl. 
das Stichwort Pfuscher), Kommißmetzger, zusammengetriebene 
Schanzgräber, Quacksalber, Astrologen (vgl. das Stichwort Strolch), 
Dirnen usw., die alle unter der Aufsicht des Hurenweibels standen. 
Auch Marodeure, soweit sie die Verbindung zu ihrer Truppe noch 
nicht ganz aufgegeben hatten, hielten sich hinten an den Troß. 
Das Wort Troß (es kommt von französisch trousse = Bündel, woher 
auch unser Fremdwort trousseau = Wäscheausstattung, besonders 
der Braut), das im ig. Jahrhundert nur erst die Bedeutung Gepäck 
hatte, erklärt Simon Roths Fremdwörterbuch 1571: ,,Hauffen von 
losen bösen Huren und Buben, so ohn alle Besoldung dem Krieg 
nachlauffen. 4 4 Auch in Fronspergers Kriegsbuch vom Jahre 15-96 
wird das Troßgesinde auch mit der verächtlichen Bezeichnung 
,,Huren und Buben 44 belegt, und Wallhausens Corpus militare, ein 
Jahr vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges erschienen, stellt 
lapidarisch fest: die Bagage schadet einer Armee sehr viel. 

Die gleiche Bedeutungsverschlechterung wie Bagage hat auch das 
Wort Pack mitgemacht. Pack, Packen bedeutet ursprünglich nur 
Bündel, Ballen und dürfte aus den Niederlanden (mittelniederländisch 


SS 



pac) als ein Wort des flandrischen Wollhandels ins Deutsche 
gelangt sein. Das Wort ist verwandt mit englisch pack, französisch 
paquet, italienisch pacco, vielleicht besteht auch eine entfernte 
etymologische Beziehung zu mittellateinisch baga, zu welcher Sippe 
ja auch englisch bag = Tasche und unser oben behandeltes Bagage 
gehören. Als Schimpfwort (besonders gebräuchlich in Verbindungen 
wie gemeines Pack, Lumpenpack) hat das Lehnwort Pack nunmehr 
die gleiche Bedeutung wie das degradierte Fremdwort Bagage, so 
daß es als seine Verdeutschung gelten kann. Allerdings ist zu be¬ 
merken, daß das Scheltwort Bagage auch verträgt, scherzhaft oder 
sogar mit zärtlichem Beigeschmack angewendet zu werden (z. B. 
von Eltern auf ihre Kinder), was für Pack nicht zu trifft. Offenbar 
ist das scharfkantig ausgehende Wort Pack aus lautlichen Gründen 
das weniger milderbare Schimpfwort (man spricht von einem 
männlich-energischen Charakter einsilbiger Wörter). Schmeller 
führt auch das bayrische Schimpfwort Packlmensch = Bettelfrau, 
Hur an 1 . 

Mit dem Stammwort von Bagage, dem mittellateinischen baga 
= Kasten, Sack hängt wohl auch das Wort Bagatelle = Kleinigkeit 
zusammen, es dürfte seine französische Verkleinerungsform sein. 
Neben der Bedeutung kleiner, geringwertiger Päckchen bekam das 
italienische bagatella auch die Bedeutung Gaukelei. (Vielleicht liegt 
hier ein analoger Bedeutungswandel vor, wie jener, der — siehe die 
Fußnote — möglicherweise vom Paket Karten zum Ausdruck packeln, 
Packelei führt.) Im deutschen Schrifttum erscheint das Wort zuerst 
1611, und zwar in der Form Pagadelle. Wenn dieses Fremdwort auch 
nicht so volksmäßig geworden ist wie Bagage, ist es doch ebenfalls 
über die Kreise der Gebildeten hinausgedrungen; in Berlin hört 
man oft Wendungen wie: mich kannste nischt ang packedell be¬ 
handeln. Beachtenswert ist der Gebrauch von Bagatelle, den Rudolf 

i) Ob und wie das österreichische packeln, päckeln = heimlich tun 
(was habts den alleweil z’packeln), aber auch schärfer: intrigieren, schwindeln, 
in betrügerischem Einvernehmen handeln, mit Pack zusammenhängt, ist mir 
unklar. Es könnte einfach aus dem Sinn Pack = Gesindel abgeleitet sein, aber 
auch mit der Tätigkeit der Schmuggler Zusammenhängen, die die Waren auf 
mehrere kleinere Pakete aufteilen (elsässisch päckle = kleine Pakete machen); 
ebenso könnte man an den Schwarzkünstler oder den Falschspieler denken, 
an deren unbemerkten Manipulationen am Kartenpaket. Vielleicht liegt auch 
eine Beeinflussung der Bedeutungsentwicklung durch paktieren = verhandeln, 
Vertrag abschließen, vor. 




Fröhlich 185-1 in seinem anonym veröffentlichten Buch „Die ge¬ 
fährlichen Klassen Wiens‘ 4 verzeichnet: Pakkedell = Kleinigkeit 
wird in der Wiener Unterwelt auch als kräftig bestätigende Antwort 
(wie etwa heute berlinisch: na klar) gebraucht. Fröhlich gibt 
folgendes Beispiel. Fragt jemand in bezug auf eine sehr reiche 
Person: ist der Mann sehr reich ? so lautet die bejahende Antwort: 
Na, pakkedell. Im heutigen Wiener Slang würde die Antwort 
lauten: Na, Kleinigkeit. 

Im Französischen hat das Wort bagatelle noch einen Sondersinn 
auf erotischem Gebiete: Tändelei, Liebschaft. Der niedere Pariser 
Argot gebraucht sogar den Ausdruck faire la bagatelle für den Ge¬ 
schlechtsverkehr. 

BASTARD, BANKERT 

Bei den synonymen Hauptwörtern Bastard und Bankert = unehe¬ 
liches Kind ist die Endung etymologisch identisch. Es ist eine ger¬ 
manische Endung (mittelhochdeutsch herte, althochdeutsch harti, 
gotisch hardus), die sich im Französischen allgemein und im 
Deutschen oft (z. B. in Familiennamen Lenard, Burkard aus Lien¬ 
hart, Burckhart) zu -ard reduziert. Die Endung -hart, -ard bedeutet 
hart, stark, kühn und ist in vielen alten germanischen Namen 
enthalten, z. B. in Erhard (aus Herihart, der im Heere Starke), 
Klinkhart (der in der Klinge Harte), Reinhart (aus Reginhart, der 
in Ratschlägen Starke), Gerhard (der Speer-Kühne). Die Bedeutung 
„stark“ hat sich aber in dieser Endung zum Teil abgeschliffen und 
dient — ähnlich der Nachsilbe -ling — vielfach nur mehr zur Be¬ 
zeichnung einer Person, die irgendwas mit dem Wurzelwort zu 
tun hat, z. B. Neidhard = neidiger Mensch, französisch bavard, 
Schwätzer, criard, Schreier, lignard, Zeilenschinder, soulard, 
Säufer, communard, Anhänger der Kommün. Das Schimpfwort 
capitulard datiert seit 1870, seit der Kapitulation der Besatzung 
von Metz unter Marschall Bazaine. Wie aus den angeführten Bei¬ 
spielen hervorgeht, wird mit der Nachsilbe -ard vorzugsweise ein 
herabsetzender Sinn verknüpft 1 . Im allgemeineren Sinn wird durch 
die Zufügung der Silbe -ard, ebenso wie mit der Endung -ling 

1 ) Mit der Nachsilbe -ling hat -hart auch gemeinsam, daß es von der deutschen 
Gaunersprache als Wortbildungsendung bevorzugt wird. Wir nennen aus dem 
Rotwelsch z. B. die Hauptwörter Fluckart = Vogel, Huhn, Funkart = Feuer, 
Glatthart = Tisch, Grünhart = Feld, Foppart = Narr, Ruschart = Strohsack. 


51 






auch ein Abkömmling bezeichnet. Dementsprechend ist Bankert 
soviel wie Bänkling, Sohn der Bank, und Bastard etwa Sohn vom 
Sattel, vom „basto“. 

Bast (vielleicht auf eine indogermanische Wurzel bhos = flechten 
zurückzuführen) bedeutet die zum Binden oder Flechten geeignete 
innere Rinde. In romanischen Sprachen bedeutet das Wort außer¬ 
dem den Packsattel oder Saumsattel 1 , d. h. den Sattel mit zwei 
geflochtenen Körben, die beiderseits vom Tragtier herunter¬ 
hängen: mittellateinisch bastum, italienisch und spanisch basto, 
französisch bat. Auch in der schweizerischen und der oberelsässi- 
schen Mundart ist Bast = Sattel; man beachte z. B. die Redensarten 
aus dem Wallis: d’Hand am Bast ha (mit starker Hand regieren), 
er ist vam Sattel uPs Bast cho (Bedeutung: vom Regen in die 
Traufe? oder: vom feinen Reitsattel auf den Packsattel, vom Pferd 
auf das Maultier, also „heruntergekommen“, auf den Hund ge¬ 
kommen?). Das Packpferd heißt italienisch cavallo da basto, 
französisch cheval de bat. 

Fils de bast, Sohn des Saumsattels ist schon ein altfranzösischer 
Ausdruck für unehelicher Sohn. Daraus wurde bastard und bätard. 
Das Wort hatte nicht immer einen schimpflichen Klang und mit¬ 
unter wurde auch zu Ehren und Würden gelangten unehelichen 
Söhnen von Monarchen und Prinzen der Name Bastard zuteil. 
Viele alte Familien tragen in ihrem Namen die Erinnerung an die 
Abstammung von einem Bastarden. Die in England noch heute 
vertretenen altnormannischen Namen Fitzmaurice, Fitzjames, 
Fitzgerald bedeuten wörtlich: Sohn (von lateinisch filius, französisch 
Als) des Maurice, des James, des Gerard; solche Namen legten sich 
besonders uneheliche Söhne von Königen und Prinzen zu; Fitzroy 
ist der natürliche Sohn des Königs. 

Einzelne Sprachforscher haben sich mit der Ableitung des 
Bastarden vom Sattel nicht abfinden können. Schon Grimm ver¬ 
suchte eine germanische Zusammensetzung zu konstruieren: aus 
Bast und hart, mit dem Gedankengange, da Bast weich sei, bedeute 

i) Im deutschen Worte Saumsattel (sowie in Saumtier = Tragtier) ist nicht 
Saum = genähter Rand eines Gewandes (von einer indogermanischen Wurzel 
su = nähen) enthalten, sondern ein zweites, gleichlautendes Saum (althoch¬ 
deutsch soum), das von vulgärlateinisch sauma = Packsattel (neugriechisch 
samari) kommt. Saumsattel ist also eigentlich eine Tautologie wie Femgericht, 
Grenzmark, Sturmwind usw. 




bast-hart etwas Widerspruchvolles, Widernatürliches, Unechtes, 
wie es eben ein unehelicher („natürlicher“) Sohn sei. Einem Ber¬ 
liner Romanisten verursachte der Sattel als Ort der Zeugung 
Kopfzerbrechen; so was sei technisch gar nicht möglich. Dieser 
rationalistischen Phantasielosigkeit ist entgegenzuhalten, daß das 
Wort selbst nichts über einen wirklichen Zeugungsvorgang aus¬ 
zusagen hat, sondern nur darüber, wie sich die Volksseele ihn 
vorstellt bzw. wie sie ihn, im Gegensatz zur Loyalität des Ehebettes, 
anschaulich charakterisieren will. Das Schimpfwort „dich hat der 
Esel wohl im Galopp verloren“ läßt sich schließlich auch nicht 
wörtlich-technisch belegen. Im übrigen verhält es sich aber mit 
dem Saumsattel so, daß er wirklich ein Bett ersetzen konnte; 
wenn auch nicht auf dem Rücken des Tieres verbleibend. Die 
Mägde der Herbergen, in denen die Maultiertreiber rasteten, 
mußten gar nicht auf den Saumsattel gehoben werden. Es ist reich¬ 
lich belegt, daß die Maultiertreiber sich den Sattel nachts in die 
Herberge mitnahmen und ihn auf dem Boden als Kopfkissen be¬ 
nutzten. Wenn man sich an die derberotischen Abenteuer des 
Sancho Pansa bei Cervantes erinnert, weiß man, wie es in den 
Herbergen auf dem „basto“ zugehen konnte. Und wie in Spanien, 
hielten es die Maultiertreiber auch in der Provence mit den 
Mägden. 

Übrigens hat man für bastard = fils de bast auch die Vermutung 
ausgesprochen, der Ausdruck bedeute nicht ein im Sattel gezeugtes, 
sondern ein im Sattel geborenes Kind. Man vgl. damit einen pol¬ 
nischen Ausdruck für uneheliches Kind: „im Mais geboren.“ 

Daß Bankert das „auf der Bank gezeugte Kind“ ist — „mein 
Vater macht mich auf eine Penk“, heißt es in einem Fastenspiel 
des Hans Sachs —, wird auch durch die Nebenformen Bankkind, 
Banksohn, Bankeltochter, Bankbein, Bänkling bestätigt. Es gibt 
auch die Redensart „von der Bank gefallen“ = unehelich geboren. 
Im übrigen ist die Bank, ebenso wie der basto, der Packsattel nicht 
nur wörtlich, sondern vor allem als Symbol des außerehelichen 
Geschlechtsverkehrs aufzufassen. (Man denke z. B. an den berühm¬ 
ten russischen Gesellschaftsfilm „Bett und Sofa“, der das Zu¬ 
sammenleben einer Frau und zweier Männer in einer Stube schil¬ 
dert, wobei Bett und das Sofa bestimmte ethisch-rechtliche Kon¬ 
stellationen versinnbildlichen.) 

Schließlich noch einige kleine Feststellungen: Bastardfenster 


59 



nannte man früher ein Fenster, das weniger hoch als breit war (ge¬ 
wissermaßen ein unechtes Fenster); Batarde (von französisch 
bätard) war ein halbgedeckter Wagen (also gleichsam eine Kreuzung 
zwischen einem offenen und einem gedeckten Wagen); in einem 
Marchfelder Schriftstück aus dem Jahre 1788 ist von einer be¬ 
sonderen Karrengattung die Rede, die Bastardeiwagen heißt; 
in Graubünden hieß früher ein halbfetter Käse Bastardkäse; als 
Bankert bezeichnet der Schweizer die Frucht (z. B. Korn, Kar¬ 
toffel), die sich aus nur zufällig in die Erde gefallenen Samen ent¬ 
wickelt; in der Schweiz ist Bankert auch der Namen der letzten 
Garbe, sofern sie größer oder kleiner ausgefallen ist als alle anderen. 
In diesem Zusammenhang sei auch der Ausdruck Hurenkind aus 
der Buchdruckersprache erwähnt: so heißt die letzte Zeile eines 
Absatzes, wenn sie allein auf eine neue Seite gelangt (was als un¬ 
schön gilt und durchaus vermieden wird). 

Neben Bankert und Bastard erwähnen wir von deutschen Aus¬ 
drücken für das uneheliche Kind noch: schweizerisch Hübsch¬ 
kind, elsässisch Liebkind, bei Fischart in niederdeutscher Form 
Liffkindeken. 

BEISL 

heißt in Wien ein kleines, unansehnliches Gasthaus. Noch 1922 
erklärt der Wiener Polizeibeamte Petrikovits in einer für den 
Amtsgebrauch zusammengestellten Liste der Ausdrücke der Wiener 
Gauner-, Dirnen- und Zuhältersprache Beisl als ,,verrufene Schenke* *. 
Mittlerweile hat sich jedoch der zärtliche Beigeschmack des Wortes 
stärker erwiesen als der schimpfliche, sonst würde nicht manche 
Gaststätte, die zunächst im Volksmund Beisl hieß, sich nun selbst 
offiziell als Beisl bezeichnen. Den Ruhm des Wiener „Griechen- 
beisl“ (so, weil neben der griechisch-orthodoxen Kirche) haben 
in den letzten Jahren drei deutsche Filme in die Welt hinaus¬ 
getragen. Willi Forst muß, bevor er auf der „Atlantic“ (Titanic) 
untergeht, seinen reichsdeutschen Reisegenossen gerührt von jenem 
Beisl in der Wiener Altstadt erzählen; Emil Jannings ist als „Lieb¬ 
ling der Götter vom hohen C“ auf der Leinwand ebenso treuer 
Stammgast im Griechenbeisl, wie er es, wenn er in Wien weilt, 
im Leben ist; und jüngstens ist in dem Film nach Schnitzlers 
„Liebelei* * ebenfalls das Griechenbeisl zum Zusammenkunftsort 
der beiden Liebespaare erkoren worden. Dieserart weiß man nun 


60 


neuerdings nicht nur in Wien, was ein Beisl ist. Aber woher das 
Wort kommt, wissen selbst in Wien nicht viele. 

Beisl kommt von hebräisch bajis == Haus (arabisch bait, baby- 
lonisch-akkadisch bitn). Das Rotwelsch, die deutsche Gauner¬ 
sprache, der sich zum Teil auch die Handwerksburschen auf der 
Walz bedienten, war stets durchtränkt mit Wörtern hebräischen 
Ursprungs, zu diesen gehört auch Bais: das Haus, das Quartier, 
das Wirtshaus. Auch im Wörterverzeichnis, das der Konstanzer 
Hans, ein berüchtigter Mordgeselle, 1791 vor seiner Hinrichtung 
für die Polizei niedergeschrieben hatte, kommt Bais vor. Der Rot¬ 
welschsatz ,,zwei Kochern schefte e’me Bais, wo grandige Sochter 
zTeili schefte'‘ bedeutet: zwei Kluge (d. h. Betrüger, Diebe) be¬ 
finden sich in einem Wirtshaus, wo große Kaufleute sich zur Nacht 
aufhalten. Auch verschiedene Zusammensetzungen mit Bais weist 
das Rotwelsch auf: Balbais, Balbos heißt der Herr (Gott Baal!) 
des Hauses (mit dem Eigenschaftswort balbatisch, herrschaftlich), 
Bajeswinde = Haustür, Ezebais = Rathaus, Schombais '== Diebes¬ 
herberge, Schofelbais = Zuchthaus, Kontrafusbais = Theater. 

Aus dem Rotwelsch ist das Wort Bais in die Sprache der Hausierer 
auf dem Lande übergegangen (z. B. in die der Pfälzer Hausierer 
und in die der Killerthäler im Hohenzollemlande), aber auch in 
verschiedene süddeutsche Mundarten. Man hört in Baden und in 
der Schweiz noch oft das Wort Beize für Kneipe (Beizer für Wirt) 
und auch in Bayern nennt man eine kleine Dorfwirtschaft Beisei. 
In Wien ist das Wort fast Schriftdeutsch, jedenfalls allgemein be¬ 
kannt geworden. Wenn auch der Ausdruck Beisl in ähnlichen 
Formen an verschiedenen Stellen des oberdeutschen Sprach¬ 
gebietes gelegentlich vorkommt, so ist doch Wien der Ort, wo 
das Wort zur allgemeinen Verbreitung gelangt ist. ,,Worauf sich 
freilich die Stadt an der blauen Donau nicht viel einbilden darf", 
schrieb 1898 Prof. Valentin Hintner, dem das Wort Beisl auch 
folgende Beschwerde entlockt: ,,BaisI ist ein recht sprechendes 
Beispiel, wie auch Wörter gleich falschen Münzen in unheim¬ 
lichen, lichtscheuen Räumen geprägt werden, wie sie sich anfangs 
schüchtern in die Öffentlichkeit wagen, dann, wenn das gemeine 
Volk die lauchduftende Prägestätte nicht wittert, als gute Münze 
ausgegeben werden und dann von Hand zu Hand wandern. Kommen 
sie dann auf der Wanderung in bessere Kreise, so werden sie mit 
etwas Kulturseife gewaschen und mit Duft durchräuchert, so daß 


61 






auch der Anstand keinen Anstand nimmt, diese Münzen als all¬ 
gemein gangbar zuzulassen. “ 

Wie das Beisl zum Restaurant, verhält sich in Wien das Ts che - 
cherl zum Kaffeehaus. Das Wort hat nichts mit den Tschechen 
zu tun, sondern kommt — ebenfalls durch Vermittlung des Rot¬ 
welsch — vom hebräischen Zeitwort schachar = berauschen (wovon 
auch schiker = berauscht und deutsch und englisch Cider, franzö¬ 
sisch cidre, italienisch und spanisch cidro = Obstwein, besonders 
Apfelwein). Statt Tschecherl gebraucht man in Wien neuerdings 
die Rückbildung Tschoch. Die gleiche Rotwelschvergangenheit 
hat auch der ungarische Ausdruck ceherli in der Sprache der 
Budapester Falschspieler zur Bezeichnung kleiner Kaffeehäuser, 
in denen sie Zusammenkommen, und die Erklärung von V. Zolnay 
aus deutsch zechen, Zeche, Zecher (,,ceherli ist der Ort, wo 
man eine Zeche machen kann“), beruht auf einem Mißverständnis. 

BESCHEIDEN, DISKRET 

Scheiden kommt von gotisch skaidan = spalten, trennen, woher 
auch Scheit, Scheitel, Scheide, und ist verwandt mit griechisch 
schizo (enthalten z> B. in Schisma = Kirchenspaltung, oder in 
Bleulers moderner Prägung Schizophrenie = Seelenspaltung). 

Das Zeitwort bescheiden bedeutet in verstärktem Sinne: völlig 
spalten, ausschlaggebend scheiden, entscheiden. Das als Partizip 
selbständig gewordene Eigenschaftswort bescheiden bedeutet ur¬ 
sprünglich : klar, bestimmt. Vor etwa 700 Jahren hat ein unbekannter 
fahrender Dichter unter dem Pseudonym Freidank (mittelhoch¬ 
deutsch Vridanc = Freidenker) ein Lehrgedicht geschrieben, das er 
,,Bescheidenheit“ nannte. Man hat also darunter ,,Einsicht, Lebens¬ 
erfahrung“ zu verstehen. Auch bei Luther bedeutet Bescheidenheit 
noch ganz allgemein: richtiges Urteil, verständige Einsicht. Vor ihm 
hatte Meister Eckhart, der Mystiker, in seinen deutschen Schriften 
Bescheidenheit schlechthin gleichbedeutend mit griechisch krites 
= lateinisch judicium= Urteil gebraucht. Vermutlich ist es gerade 
Meister Eckhart, dessen große Bedeutung für die Entwicklung des 
deutschen Wortgebrauchs im Sinnbezirk des Seelischen nach¬ 
gewiesen ist, zuzuschreiben, daß neben dem ursprünglich vor¬ 
herrschenden intellektuellen Bedeutungsstrang im Begriffskom¬ 
plex Bescheidenheit der auf die Charaktersphäre absehende Be¬ 
deutungsanteil immer mehr an Raum gewann. Es ist kein Zufall, 


62 


meint Fritz Mauthner, daß gerade dieses Wort so demütig ge¬ 
worden ist. 

Jedenfalls waren die Wörter bescheiden und Bescheidenheit ge¬ 
lehrte Wörter, zu deren Einführung und Durchsetzung das latei¬ 
nische Wort discretio kirchlicher und philosophischer Texte Anlaß 
und Vorbild lieferte. Der mittelalterlichen Gelehrsamkeit ist die 
discretio die handelnd sich ausweisende ratio, sie unterscheidet, 
was vorzuziehen und was abzulehnen ist (Friedrich Neumann). 
Der althochdeutsche Vorläufer der Bescheidenheit ist die ,,unter- 
sceidunga“, so z. B. angeführt in der Tugendliste der ,,Bamberger 
Beichte**. ,,Diu unterscidunge“ — heißt es im St. Trudperter 
Hohelied (frühes Mittelhochdeutsch) — ,,ist muter allir tugende.“ 
Und in der Kaiserchronik des Pfaffen Konrad (n^o): ain waiser 
man der di underscidunge wol kunne verstan. In derselben Kaiser¬ 
chronik begegnen wir aber auch schon der jüngeren Verdeutschung 
der lateinischen discretio; es heißt dort einmal: der herre was 
dannoh haiden iedoh was er vil bescaiden. Die Verstandestugend 
der Bescheidenheit wird also hier — gleichsam als Ausnahme — 
einem Heiden zuerkannt. Derselbe Pfaffe Konrad ist auch der Über¬ 
setzer des Rolandsliedes aus dem Französischen und sagt dort 
einmal ebenfalls von einem Heiden: Marsilies ist vil bescaiden, 
er is der allerwisiste haiden. In der Übersetzung des Erec des 
Chrestien de Troyes nennt Hartmann von Aue den Tod un¬ 
bescheiden, weil er nicht versteht, die Richtigen auszusuchen. 
In den Ritterepen bedeutet bescheiden gewöhnlich: urteilsfähig, 
maßvoll, gebührend, züchtig, höfisch; das Adverb bescheiden 
(früher bescheindlich) etwa: im einzelnen, jedes Stück für sich 
in richtiger Ordnung, wie siclTs gebührt. Im Tristan ist Be¬ 
scheidenheit der intellektuelle Kern jener Tugend, die das deutsche 
Mittelalter die ,,maze“ (das Maß, das Maßvolle, das Maßhalten) 
nennt, ,,jenes Vermögen, in innerer Haltung und daraus fließend 
im äußeren Sichgeben eine bewußt gelenkte Vereinigung und Aus¬ 
gewogenheit der Kräfte herzustellen** (Jost Trier). 

Festzuhalten ist jedenfalls, daß Bescheidenheit im älteren Sinne 
vorherrschend eine Verstandesbezeichnung ist, und man kann grob¬ 
verallgemeinernd sagen, das ursprüngliche be-scheiden ist un¬ 
gefähr gleichbedeutend mit dem sprachlich eng verwandten 
ge-scheidt. Wie schon erwähnt, kommt Bescheidenheit im Sinne 
richtiges Urteil, Unterscheidungsfähigkeit noch bei Luther vor. 


63 





Aber sogar noch in Schillers Teil ist, wenn Baumgartner von Walter 
Fürst als bescheiden bezeichnet wird, oder ,,die bescheidenen 
Männer von Uri“ gerühmt werden, darunter gescheit, vernünftig 
zu verstehen. Übrigens wurde bescheiden um das Jahr 1600 herum, 
also zu jener Zeit, auf die sich die Tellsage bezieht, in Oberdeutsch¬ 
land auch als Attribut gebraucht (etwa wie jetzt ,,wohlgeboren“) 
für Personen, die weder Freiherren, noch Ritter, aber doch nicht 
ganz gemeine Leute waren, z. B. für städtische Magistratspersonen 1 . 

In einer Predigt des Abraham a Santa Clara heißt es, der Mann 
solle sich sein Weib erwählen, ,,mit einer gewissen Bescheidenheit, 
nicht geschwind und blind“ — gemeint ist: mit reifer Überlegung. 
Im § 162 der österreichischen Gerichtsordnung aus dem Jahre 
1781 heißt es, daß ,,die Meineidserinnerung der Bescheidenheit 
des Richters überlassen wird“ und es ist offenbar das ,,Ermessen“ 
des Richters gemeint (,,da sol ez hintz der Burger Bescheidenheit 
stan“, heißt es in alten schwäbischen Stadtrechten). In der Gegend 
von Nürnberg hört man von älteren Leuten auch heute noch sagen, 
,,er ist bescheiden“, in dem Sinne: er weiß Bescheid, er ist er¬ 
fahren. Unter einem ,,bescheidenen Tag“ versteht die ältere 
schwäbische Amtssprache einen festgesetzten Tag (,,Termin“). 

Für Bescheidenheit im modernen Sinne des Wortes hat Rückert 
in der ,,Weisheit des Brahmanen“ eine Definition gegeben, die 
sich wie ein Wortspiel liest, aber — wie es bei Wortspielen oft der 
Fall ist — auf die wirkliche sprachliche Entstehungsgeschichte hin¬ 
weist: ,,Bescheiden ist, wer sich bescheidet, wer bescheiden sich 
läßt und Grenzen ehrt, die ihn von andern scheiden.“ (Eine der¬ 
artige gehäufte Anwendung von Ableitungen aus derselben Wurzel 
bezeichnet man in der Stilistik als Annomination.) Nach Kants 
Definition ist Bescheidenheit die freiwillige Einschränkung der 
Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe anderer. Der krasse 
Widerspruch zwischen Lessings Satz ,,alle großen Männer sind be¬ 
scheiden“ und jenem Goethes ,,nur die Lumpe sind bescheiden“ 
klärt sich dadurch auf, daß Goethe wohl die falsche, geheuchelte 
Bescheidenheit meint, jene Übereitelkeit, der es schon der geist¬ 
volle La Rochefoucauld angesehen hatte, daß sie das Lob zurück¬ 
weist, weil sie wünscht, nochmals gelobt zu werden. Goethe ge¬ 
braucht übrigens bescheiden gelegentlich auch im Sinne von artig, 

1 ) Von ,,Bescheid“ kommt wohl auch die Bezeichnung Bschiderich für 
Beamte in der Gauner- und Handwerksburschensprache. 


64 





rücksichtsvoll, behutsam, vorsichtig, was bereits eine Annäherung 
an die Bedeutung des deutschen Fremdwortes diskret darstellt. 

In französisch modere und englisch moderate, mit welchen 
Eigenschaftswörtern diese Sprachen unser bescheiden oft wieder¬ 
geben, kommt vor allem das Maßhalten, die Mäßigung als Qualität 
der Bescheidenheit zum Ausdruck. Daneben haben aber sowohl 
die Franzosen als die Engländer auch das teilweise sinnverwandte 
Wort discret, und dieses ist sinngeschichtlich ähnlich wie be¬ 
scheiden gebildet: in dis-ctet ist das griechische krinein 1 = sichten, 
scheiden enthalten und dis-cret bedeutet wörtlich ent-schieden, 
unterschieden, auseinandergehalten. Im Mittelalter bedeutet homo 
discretus, wie das ältere deutsche „bescheiden“, einen Menschen, 
der alles richtig „unterscheidet“. Im Deutschen beschränkt sich 
die Bedeutung der Fremdwörter diskret, Diskretion auf taktvolle 
Verschwiegenheit und auf einige daraus entwickelte Sonder¬ 
bedeutungen, wie diskretes Stoffmuster (d. h. nicht schreiend, 
unauffällig), diskrete Begleitmusik u. dgl. 

IM BILDE 

In den meisten Wörterbüchern oder Sammlungen von Redensarten 
wird man die Wendung „im Bilde sein“ vergeblich suchen. Dies 
erklärt sich daraus, daß diese Redensart verhältnismäßig noch sehr 
jung ist. Sie entstand erst anfangs unseres Jahrhunderts in deutschen 
Generalstabskreisen und fand dann bald aus der Berliner Kriegs¬ 
akademie Eingang in weitere Offizierskreise, um schließlich in den 
allgemeinen Sprachgebrauch überzugehen. Auf der Kriegsakademie 
kam die Redensart folgendermaßen zustande: Bei taktischen und 
strategischen Aufgaben wurde zuerst die „Kriegslage“ angegeben 
(im k. u. k. Heere bildeten diese Angaben die „Annahme“); aus 
all diesen Angaben hatte man sich eine zutreffende Vorstellung von 
der Lage zu machen, in der man seine Verfügung treffen sollte. 
Bei unrichtiger Beurteilung der vorausgesetzten Lage, z. B. bei 

i) Das griechische Zeitwort krinein gehört zu der Sanskritwurzel kri 
= sieben, sichten, scheiden, von der heute eine große Nachkommenschaft 
lebt: Krise, Kritik, Kriterium, lateinisch certus = geschieden, sicher, gewiß, 
mit seiner ganzen Sippe, wie Zertamen (Ausscheidungswettbewerb), Zertifikat, 
Konzert usw., cretus = gesiebt (dazu auch der deutsche Namen der „gesiebten 
Erde“: Kreide), De-kret (Entscheidung, Verordnung), Sekret, Sekretär, Ex- 
kre-ment (Ausscheidung, Auswurf) usw. und das von uns oben behandelte 
diskret. Fraglich ist, ob auch die Sippe crimen, Kriminal usw. dazugehört. 


$5 


3 Storfer 





Unterschätzung irgendeines Umstandes, hieß es dann, man sei nicht 
im richtigen Bilde, d. h. man habe einen falschen Entschluß gefaßt, 
weil man sich aus den einzelnen Angaben kein richtiges Gesamtbild 
gemacht hatte. Daraus wurde abgekürzt: nicht im Bilde sein. Spater 
entwickelte sich daraus auch die positive Fassung der Redensart: 
im Bilde sein. Zur allgemeinen Verbreitung dieser militärischen 
Wendung hat besonders auch F. A. Beyerleins 1903 zuerst auf¬ 
geführtes Kasemenstück „Zapfenstreich“ beigetragen, in dem sie 
mehrmals vorkommt. 

Heute ist die ursprünglich nur militärische Redensart in allen 
Kreisen heimisch. „Mach dir ’n Bild“, sagt der Berliner im Sinne: 
stell dir nur vor. „Ich bin im Bilde“, versichert man, wenn man 
die überflüssigen Erläuterungen des anderen unterbinden will. „Ich 
bin über die dortigen Absatzverhältnisse bestens im Bilde“, betont 
der Geschäftsreisende, der sich um eine Stellung bewirbt. F. Herr¬ 
mann behandelt die Redensart unter den ,,modischen Erscheinungen 
des heutigen Deutsch“, billigt ihr aber zu, noch nicht in modischen 
Verruf geraten zu sein und zu den besseren Modeausdrücken zu ge¬ 
hören, die bereits in die gehobene Schriftsprache eingegangen sind. 
Thomas Mann schreibt z. B. in seiner „Pariser Rechenschaft“: 
„Dieser Ankunftschauffeur blieb der einzige, der uns übervorteilte, 
er forderte 1 £ Franken, keineswegs zuviel für unsere Begriffe, bevor 
wir im Bilde waren.“ 

Aus der Redensart „im Bilde sein“ wird gelegentlich auch um¬ 
gebaut: sich ins Bild setzen; z. B. „der Minister will sich über diese 
Frage zunächst eingehend ins Bild setzen“. Vermutlich ist hier auch 
ein Quereinfluß wirksam, ausgehend von anderen Ausdrücken, wie 
in Kenntnis setzen, sich oder jemandem etwas in den Kopf setzen. 
Ein heiterer Illustrator von Redensarten hat jedenfalls Gelegenheit, 
zu zeichnen, wie jemand sich ins Bild setzt, im Bilde ist und wie er 
schließlich — aus dem Rahmen fällt. 

BLICK, BLITZ, ABBLITZEN 

Blick bedeutet noch im Mittelhochdeutschen: heller Strahl, Glanz. 
Blitz lautete im Mittelhochdeutschen neben blitze auch blikz; vom 
k-Laut — allerdings umgestellt — ist auch jetzt noch eine Spur er¬ 
halten in der schweizerischen Form Blitzg. Dichter mit offenem 
Gefühl für den archaischen, sagen wir unbewußten Hintergrund 
des aktuellen Wortschatzes, verraten wiederholt ihr Verständnis 


66 







für den engen Zusammenhang zwischen den Begriffen und Bezeich¬ 
nungen Blick und Blitz. So schreibt Goethe im Werther: ,,Ein 
Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen / 4 
Blick steht hier statt Aufblitzen. Im Geldstag von Jeremias Gotthelf 
wird Kindern die Erscheinung eines Meteors erklärt: ,,Es wird ech 
der lieb Gott blickt ha.“ 

Die genauen sprachgeschichtlichen Beziehungen zwischen den 
beiden Formen Blick und Blitz (die mehr oder minder weitläufig 
mit bleich, blank, blinken und blecken verwandt sind und auf eine 
indogermanische Urwurzel bhlig = glänzen rückschließen lassen) 
stehen aber nicht eindeutig fest. Möglicherweise ist die Form Blick 
die primäre, und die Bedeutung Strahl wurde in übertragenem Sinne 
sowohl auf das Auge als auf die Gewittererscheinung bezogen. Das 
Wort Blitz ist aber wohl richtiger aufzufassen als Rückbildung aus 
dem Zeitwort blitzen (mittelhochdeutsch blikzen) und dieses 
wieder im Sinne von wiederholt, beziehungsweise intensiv blicken 
(strahlen). Die Beziehung blicken-blitzen entspräche also jener 
zwischen blinken und blinzeln (blinkezen), schlucken und schluch¬ 
zen, saufen (bedeutet ursprünglich schlürfen) und seufzen. Dieselbe, 
wiederholtes oder intensiviertes Tim kennzeichnende Nachsibe -zen 
kann nicht nur Zeitwörtern angehängt werden, wie es die Beispiele 
duzen, siezen, erzen (von du, sie, er) und ächzen, jauchzen, juchezen 
(von ach, juh, juchhe) bestätigen. 

Zum Worte Blitz bemerkt Fritz Mauthner: ,,Wir empfinden den 
Ausdruck als eine richtige metaphorische Schallnachahmung, 
obschon die Linguisten uns erzählen, das Wort hänge mit blaken 
und dem indischen bharg (Glanz) zusammen / 4 Der Eindruck 
Mauthners von einer Schallnachahmung ist mit der Ableitung der 
Wurzel durchaus vereinbar, denn die akustische Metapher, die 
Lautgebärde, liegt gar nicht in der Wurzel, sondern im Auslaut des 
Wortes Blitz. Besonders in den Mundarten zeigt es sich deutlich, daß 
die das wiederholte oder intensivierte Tun ausdrückende Endungen 
-zen, -etzen hauptsächlich — wie in obigen Beispielen ächzen, 
schluchzen usw. — hörbare Vorgänge bezeichnen. Den Reichtum 
der Volkssprache an solchen Bildungen kann man sich z. B. durch 
das Unger-Khullsche Steirische Wörterbuch bestätigen lassen 1 . 

i) Es verzeichnet u. a. auwetzen und wewetzen (d. h. wiederholt au bzw. 
weh rufen) = jammern; schmaungetzen = schmatzen; schnacketzen = mit der 
Zunge oder mit den Fingern schnalzen; schurgetzen oder grametzen = mit den 


3 


67 




Augenblick hatte ursprünglich nur die wörtliche Bedeutung: 
das Blicken der Augen. Erst im 14. Jahrhundert beginnt das Wort 
auch als Bezeichnung für einen kurzen Zeitraum Verwendung zu 
finden; in einer Predigt wird noch erläutert: in eime ougenblicke, 
also schiere so ein ouge uf unde zuo ist getan. 

Abblitzen, in der übertragenen Bedeutung jemand etwas ver¬ 
sagen, eine schroffe Abfuhr erteilen, ist seit 1838 belegt. Abblitzen 
bedeutete ursprünglich, daß das angezündete Schießpulver auf der 
Pfanne abbrennt, ohne daß der Schuß losginge. (Tieck 1834: das 
Schießpulver war nur von der Pfanne abgeblitzt). Vom Schießpulver 
wurde übrigens in der gleichen Bedeutung auch abpfuschen gesagt, 
und in diesem Zeitwort ist offenbar mehr der akustische Vorgang 
zum Ausdruck gelangt. Während früher abblitzen in übertragenem 
Sinne fast nur in der Redensart jemand abblitzen lassen gebraucht 
wurde, kommt neuerdings das Zeitwort häufig auch selbständig vor 
(,,da bin ich aber schön abgeblitzt 4 ‘) 1 . 

Aus der ursprünglichen Bedeutung von abblitzen, die sich auf 
das erfolglos verglimmende Schießpulver bezieht, entwickelte sich 


Zähnen knirschen; stigetzen, giketzen, gaketzen, meketzen = stottern; 
schnaufetzen, pfenechetzen = schnaufen, keuchen; raunketzen = brummen 
(und übertragen: unablässig sich beschweren, drängend bitten, vgl. das wiene¬ 
rische raunzen); gnautzen = keifen; grölletzen = heulen, grunzen, rülpsen; 
schlerketzen = mit der Zunge anstoßen; hüffelzen = weinen; zwirgetzen = leise 
pfeifen, zwitschern; scharretzen, karetzen, raketzen = knarren; hailetzen, 
lulletzen, wülletzen = almerisch singen; riegletzen = röcheln; rebelletzen 
= poltern; maungetzen, mucketzen = unterdrückte Töne von sich geben; 
kwegetzen, quenketzen = quietschen usw. Groß ist allerdings die Zahl auch 
solcher steirischer Zeitwörter auf -etzen, die sich nicht auf akustische Vorgänge 
beziehen, sondern die z. B. eine wiederholte Bewegung bezeichnen, wie 
schnepletzen = zappeln, zucken; schwapetzen = hin und her schwanken; 
wegetzen = beim Sitzen unruhig hin und her wetzen; lebletzen = Speisen 
rasch verschlingen; fledertzen = flatternd schweben; himmletzen = wetter¬ 
leuchten; hoketzen = hüpfen; nachtetzen = das Vieh nachts auf fremde Weide 
treiben; gaungetzen = taumeln; heilitzen = ausgleiten; helleratzen, schwei- 
metzen = sich planlos herumtreiben. — Während die Zeitwörter auf -etzen 
in der Volkssprache im allgemeinen Vorgänge bezeichnen, die durch das Gehör 
oder das Gesicht wahrgenommen werden, deutet die Endung -enzen (die wir 
im Anschluß an das Stichwort faul, faulenzen behandeln) auf Erscheinungen hin, 
die den Geruch und den Geschmack angehen. 

1) Fernzuhalten von abblitzen ist das schweizerische Hauptwort ,,die 
Ablitzi . Es bedeutet: nichtdurchsonntes Land, Schattenseite eines Berges 
und enthält (nach Greyerz) das Wort Litzi = Schattenseite (zu lätz = verkehrt 
und litzen = falten, umbiegen). 


68 










vielleicht der wienerische Ausdruck blitzen für Zeche prellen 
oder sich sonstwo von der Bezahlung drücken. Möglicherweise war 
es früher ein Kellnerausdruck; der Gast ist abgeblitzt wäre demnach 
ein Synonym des Wiener Kellnerausdrucks vom ,,abpaschenden 4 ‘ 
Gast 1 . Aus abblitzen = sich ohne Zahlung davonmachen wäre dann 
vereinfacht das auch transitiv verwendbare Zeitwort blitzen. Dabei 
kann das Objekt sowohl die Person sein, der man zahlen hätte 
sollen (,,zum ersten mal hat einer die Mizzl geblitzt“), als auch 
die Sache, für die man zahlen soll (,,eine von den drei Semmeln 
hat er blitzen wollen“), als auch den Betrag, den man zahlen sollte 
(,,die restlichen zwei Schilling hat er geblitzt“). Aus dem Wieneri¬ 
schen gelangte der Ausdruck auch in das ungarische Slang: bliccelni. 

Es ist aber auch möglich, daß blitzen = Zeche prellen oder all¬ 
gemeiner sich einer Verpflichtung entziehen, nicht eine Abkürzung 
der von der Pulverpfanne gewonnenen Redensart ist, sondern daß 
blitzen irgendwann auch allgemein betrügen bedeutet und vielleicht 
dem Rotwelsch angehört hat. Bemerkenswert ist jedenfalls folgende 
Stelle aus einem steirischen Steckbrief (1777) : ,,Blitzer d. i. solche, 
die in Städt- und Märkten mit dem Rock ohne Hemat herumgehen, 
sich allerley Krankheiten andichten und dadurch die Leute zum 
Mitleiden bewegen.“ Übrigens wird in der steirischen Mundart 
blitzen auch im Sinne von übermäßig trinken gebraucht. 

BLUSE 

Von den mit Indigoblau gefärbten Kitteln, die die Kreuzfahrer 
über ihre Rüstungen zogen, nahm man an, daß sie in der ägyptischen 
Stadt Pelusium hergestellt wurden; mittellateinisch pelusia wäre 
daher wörtlich pelusisches Gewand. Daraus kommt in verschiedenen 
europäischen Sprachen der Namen des Kleidungsstückes. Nach 
Deutschland kam das Wort 1827 aus Frankreich als Namen eines 
weiblichen Kleidungsstückes 2 . Später diente das Wort aber auch 
im deutschen Sprachgebrauch, wie schon in anderen Sprachen, auch 
zur Bezeichnung eines einfachen Militär- oder Fuhrmanns- oder 
Arbeiterrockes. Im Pariser Argot bedeutet la blouse das gemeine 

1) Ein anderer etymologischer Fall, der auch das Gebiet der Zechprellerei 
streift, wird unter dem Stichwort Fersengeld behandelt. 

2) In der Berliner Redensart ,,et wird ihn eklich in de Blusen rejen“ soll 
nicht das Kleidungsstück, sondern Blüten (englisch blossoms) gemeint sein; 
also: die Blüten werden ihm verregnet werden, d, h. er wird Schaden erleiden. 


69 




Volk; im zweiten Kaiserreich la blouse blanche einen als Arbeiter 
verkleideten Geheimpolizisten. In der Mitte des vorigen Jahr¬ 
hunderts galt die Bluse als das typische Arbeitergewand, so daß 
1848 Blusenmänner eine Bezeichnung für Revolutionäre war. Heine 
schrieb 1848 („Februarrevolution“): „Die Franzosen sind der 
Livree des Royalismus entwachsen und sie vertauschten dieselbe 
mit der republikanischen Blouse.“ 

Dies ist übrigens nicht das einzige Mal, daß man 

politische Bewegungen nach Kleidungsstücken 

benannte. Der Bauernaufstand in der Mitte des 14. Jahrhunderts 
in der Gegend von Beauvais hieß wahrscheinlich darum Jacquerie, 
weil die dortigen Bauern den kurzen Rock, jaque 1 genannt (daraus 
Jacke) trugen 2 . Im Jahre 1^02 war die mit Riemen versehene grobe 
bäuerliche Fußbekleidung, der Bundschuh, das Kriegs- und Wahr¬ 
zeichen der aufständischen schwäbischen Bauern, und so entstand 
der Ausdruck „einen Puntschu machen“ = sich verschwören, einen 
Aufstand machen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter 
Gustav III. standen sich in Schweden die Partei der Mützen und die 
Partei der Hüte gegenüber; die Mützen waren jene, die mit Ru߬ 
land sympathisierten, die Hüte hielten es mit Frankreich. Sans- 
culottes, Ohnehosen, hießen die Anhänger der großen französischen 
Revolution, weil die Leute des Volkes keine culottes, Kniehosen 
(sondern pantalons, lange Hosen) trugen. Übrigens war auch 
Carmagnole nicht nur der Namen eines Tanzes, sondern auch die 
Bezeichnung für den Revolutionär selbst, und zwar darum, weil 
die Jacke mit Schößen, mehreren Knopfreihen und Umlegkragen, 
wie sie von den in Paris lebenden Piemontesen aus Carmagnola 
getragen und die französisch carmagnole genannt wurde, gerade 
zur Zeit der Revolution in breiteren Bevölkerungskreisen beliebt 
wurde. Nach der Niederwerfung der achtundvierziger Bewegung 
standen in Wien die „Angströhren“ im Gegensatz zu den breit¬ 
krempigen Calabreserhüten; Angströhren, d. h. Zylinder, trugen 

1) Die ursprüngliche Bedeutung von jaque war Panzerhemd, Kriegswams, 
und das Wort geht vermutlich auf spanisch jaco zurück, das sich aus arabisch 
sakk entwickelt haben soll, woraus jedenfalls das Wort „Sack“ kommt. 

2) Nach anderer Deutung bezieht sich allerdings die Bezeichnung Jacquerie 
auf den Führer des Aufstandes Guillaume Caillet, der bei den Edelleuten den 
bäuerlichen Spottnamen Jacques Bonhomme hatte. 


70 










diejenigen, die besorgt waren, ihre politische Wohlgesinntheit zu 
betonen und den Verdacht demokratischer Verseuchtheit deutlich 
von sich zu weisen. Im Vorkriegsdeutschland hörte man oft die 
Sozialdemokraten Ballonmützen nennen. Allgemein bekannt sind 
die heutigen Bezeichnungen Schwarzhemden für italienische und 
englische Faschisten, Blauhemden für die Anhänger des Generals 
O’Duffy in Irland, Braunhemden für deutsche Nationalsozialisten 
usw. Das sprachliche Vorbild für diese Bezeichnung ist der Name 
Rothemden für die Freischärler Garibaldis. Übrigens ist gelegentlich 
dieser metonymische Vorgang der Bedeutungsübertragung (das 
Kleidungsstück nennen und seinen Namen meinen) auch umgekehrt 
worden: so nannte man in manchen Orten der Schweiz noch bis 
ins 20. Jahrhundert eine rote Bluse eine „Garibaldi“. 

Beispiele für die Übertragung von Kleidungsstückbezeichnungen 
auf Menschen außerhalb des politischen Gebietes (wie Blaustrumpf 
usw.) siehe beim Stichwort Domino. 

BONZE 

Bonzo ist ein japanisches Wort und bedeutet: Priester des Buddha. 
Das japanische Wort ist entweder verderbt aus busso = Frommer 
oder kommt von chinesisch fan-seng = religiöse Person. Nach 
Europa verpflanzten die Portugiesen das Wort, die — als Entdecker 
des Seeweges nach Ostindien und Gründer der ersten europäischen 
Niederlassung in China — im 16. Jahrhundert die wichtigsten Mittler 
zwischen dem Abendland und dem fernen Asien waren, wovon auch 
mehrere Spuren in der Wortgeschichte noch zeugen (Mandarin, 
Bajadere, Veranda usw.). 

Im deutschen Schrifttum kommt das Wort Bonze seit Mitte des 

17. Jahrhunderts vor, wobei man vier Phasen unterscheiden kann. 

1. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lautet es im Deut¬ 
schen Bonzier (Mehrzahl Bonzy) und bedeutet schlechthin einen 
buddhistischen Priester. 

2. Im Jahre 1732 definiert Hübners Lexikon: ,,Bonziers heißen 
in China die Pfaffen, welche sich selbst auf allerhand Art martern, 
um die Sünden derer zu büßen, die ihnen dafür Geld geben.“ Diese 
Definition deckt zwar nicht genau den Sinn, den das Wort im 

18. Jahrhundert bekommen hatte, wesentlich ist jedenfalls, daß in 
der Aufklärungszeit der Akzent auf das Abergläubische, auf das 
übertrieben Religiöse gelegt wurde. Immer mehr wurde das Wort 


7i 



zum Spottwört gegen bigotte Priester jedes Glaubensbekenntnisses. 
Wieland — durch den anscheinend die Form Bonze eingeführt war — 
unterschied 1782 ,,einen echten christlichen Pfarrherrn von den 
Pfaffen, Bonzen usw.“ Die Aufklärungszeit brachte auch Weiter¬ 
bildungen wie Bonzerei, Bonzenwesen, Bonzengift. (Ein Jahrhundert 
später schrieb Johannes Scherr, der kirchlichen Intrigen gegen 
Joseph II. gedenkend, von einem Bonzengegrunze.) 

3. Im 19. Jahrhundert wurde der Bonzenbegriff aus dem Re¬ 
ligiösen und Kirchlichen mehr in das Gebiet des Staats- und Ge¬ 
sellschaftswesens verschoben. Als Bonzen galten nun in respekt¬ 
loser Sprache die Vorgesetzten, Würdenträger (ungefähr das, was 
man bayrisch-österreichisch die Großkopfeten nennt). 

4. Neben diesem jetzt noch gültigen allgemeinen Sinn tritt im 
letzten Jahrzehnt noch ein engerer Sinn in die Erscheinung. Bonze 
ist im besondern ein mehr oder minder unfreundliches Spottwort 
geworden, mit dem Angehörige der Arbeiterbewegung ihre eigenen, 
in staatlichen und kommunalen Ämtern oder in der Gewerkschafts- 
bureaukratie tätigen Führer bezeichnen. Dieser Bezeichnung liegt 
gleichsam der Vorwurf zugrunde, die Führer seien verbürgerlicht, 
der Masse und ihren revolutionären Neigungen entfremdet. Die 
Bezeichnung Bonze ist schließlich auch von den Gegnern des 
Sozialismus als Schlagwort gegen dessen Führer aufgegriffen worden. 
Auch in dem bekannten Roman von Hans Fallada, ,,Bauern, Bomben, 
Bonzen*‘ sind mit Bonzen sozialdemokratische Verwaltungsbeamte 
gemeint. Auch Weiterbildungen hat das Schlagwort Bonze erfahren. 
So ist z. B. das Zeitwort,,umbonzen“ aufgekommen, in dem Sinne: 
die Bonzen einer Richtung durch solche einer andern ersetzen. Neu 
ist auch die Bildung ,,Bonzokratie <f . 

Der von einem englischen Zeichner eingeführte Name Bonzo 
für ein drolliges junges Hündchen, den Helden vieler gezeichneter 
Hundeabenteuer, ist vom Künstler willkürlich erfunden worden 
und hängt mit unserm Worte Bonze nicht zusammen. 

Das chinesisch-japanische Bonze hat, was die Herkunft anbelangt, 
nicht viel seinesgleichen im Deutschen. Es gibt nur wenige 

Wörter chinesischer oder japanischer Herkunft 

in den europäischen Sprachen. Selbst für Begriffe, die sich un¬ 
mittelbar auf die beiden ostasiatischen Reiche beziehen, haben wir 
oft Bezeichnungen, die die europäischen Sprachen sich aus dem 


72 





eigenen Sprachstoff oder aus gewissen durch Reisende aus anderen 
Teilen Asiens nach dem Fernen Osten verschleppten Wörtern ge¬ 
bildet haben. Unter einem eigenen Stichwort behandeln wir das 
Wort Mandarin, das ein von den Portugiesen aufgegriffenes alt¬ 
indisches Wort ist. Auch Kuli — wer assoziiert dieses Wort nicht 
sofort mit China? — ist kein chinesisches, sondern ein indisches 
Wort. Die Kulis sind ein entarteter Stamm der Radschputi in 
Gudscherat, deren Angehörige meistens Lastträger sind; nach 
anderer Ableitung soll Kuli im Tamulischen ,,mieten“ oder „Lohn“ 
bedeuten, jedenfalls haben die Portugiesen das Wort aus Indien 
nach China gebracht. Indisch but-kadah, Haus des Götzenbildes, 
sollen die Portugiesen zu pagoda, Pagode geformt haben, der Be¬ 
zeichnung für die charakteristischen mehrstöckigen Tempelbauten 
in China. Es gibt aber auch andere Ableitungen für Pagode: aus 
portugiesisch pagäo (heidnisch, paganus) oder aus chinesisch pai- 
ku-t’a = Turm der weißen Knochen. Umstritten ist ferner die 
chinesische Herkunft von Taifun, dem Namen des berüchtigten 
ostasiatischen Wirbelwindes. Manche sehen darin bloß eine Ab¬ 
wandlung von griechisch typhon = Ungeheuer, und man hat auch 
eine Etymologie aus dem Arabischen (tufan, aramäisch tufana, daraus 
portugiesisch tufao = große Flut) versucht. Die chinesische Her¬ 
kunft ist aber wahrscheinlicher: entweder, nach F. Hirth, aus tai- 
fung (Wind von Tai, d. h. von der Insel Formosa) oder aus kan- 
tonesisch tai-fung = großer Wind. 

Nur bei wenigen Wörtern ist die Ableitung aus dem Chinesischen 
ganz unbestritten. Eines von ihnen ist Satin. Arabische Händler 
sollen Seidenstoffe aus der Stadt Tschen-tung (jetzt Tschwan- 
tschan) in der Provinz Fokien nach Europa (vor allem nach Spanien) 
gebracht haben, und da die Araber jene Stadt Zaitun nannten, das 
Gewebe zaituni, entstand spanisch aceituni, setuni, italienisch 
zetanino, französisch zatony, satin. Aber es ist wahrscheinlicher, 
daß Satin auf ein kantonesisches Wort sse-tün = Seidenatlas zurück¬ 
geht und daß die Araber dieses Wort mit dem Namen der genannten 
Stadt vermengten. Übrigens kommt nicht nur das Wort Satin, 
sondern auch der allgemeine Namen der Seide in vielen europäischen 
Sprachen aus mongolisch-chinesischen Quellen. Mit chinesisch ssi, 
sse, mongolisch serke, mandschurisch sirghe, koreanisch sir hängen 
zusammen: altrussisch schelku, russisch scholk, litauisch schilkai, 
englisch silk = Seide, aber auch griechisch serikon und lateinisch 


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sericum, woraus mittellateinisch seta sericum, wörtlicher ,,se- 
risches“ Tierhaar, was zu althochdeutsch sida und zu Seide führt. 
Auch das Wort Sers che oder Serge (für verschiedene Futterstoffe in 
Wolle, Halbwolle, Seide usw.) weist über französisch serge auf 
denselben mongolisch-chinesischen Ursprung. Man darf nicht irre 
werden, wenn man mitunter liest, französisch serge, ebenso mittel¬ 
lateinisch seta sericum (der Vorgänger des deutschen ,,Seide 4 *) gehe 
auf den Völkemamen der Seres zurück; wohl nannten die Griechen 
und die Römer die Chinesen Seres, aber dieser Namen war eben 
aus der chinesischen Bezeichnung der Seide gebildet, bedeutete etwa 
Seidenvolk, Seidenerzeuger. 

Unzweifelhaft chinesischer Herkunft ist auch das Wort Tee. 
Zwei Formen sind nach Europa gedrungen. In der hochchinesischen 
Mundart, der sogenannten Mandarinensprache, heißt der Tee 
tschha (das Teeblatt tscha-je), und daraus entwickelte sich der 
Namen des Getränks in Indien, Persien, bei den Arabern, Portu¬ 
giesen und Russen und den anderen slawischen Völkern (tschaj). 
Zu allen anderen Europäern und zu den Malayen gelangte das Wort 
in der Lautform ,,tee“, wie es in der südchinesischen Mundart 
der Provinz Fokien gesprochen wird. Im Italienischen kommen beide 
Formen vor: te und ciä. Ebenso hat das Neugriechische sowohl 
tsai als teion. Die Engländer schrieben zuerst tay, gingen dann zu 
tea über und zur Aussprache ,,ti“; daß sie früher selbst beider 
Schreibweise tea noch ,,te“ gesprochen haben, geht auch daraus 
hervor, daß in Popes ,,Lockenraub“ tea sich auf away reimt. 

Aus dem Chinesischen kommt auch das deutsche Wort Kotau 
(besonders in der Redensart ,,vor jemand einen Kotau machen“ 
= sich überaus höflich oder unterwürfig benehmen). Zur Kaiserzeit 
mußte man in China vor dem Kaiser und seinen Vertretern Kotau 
machen, d. h. sich auf den Boden werfen und mit der Stirne den 
Boden berühren. Im Chinesischen bedeutet k’o-t’u wörtlich: Ab¬ 
schlag des Kopfes. Es handelt sich bei dieser Begrüßungsart um eine 
alte Sitte im Morgenland (von Herodot unter der Bezeichnung 
proskynesis beschrieben) mit der symbolischen Bedeutung: unter¬ 
würfig sein, bereit sein, sich den Kopf abhauen zu lassen. Die Eng¬ 
länder gebrauchten schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts das 
Hauptwort the kotow (zuerst kow-tow) und das Zeitwort to kotow. 
In Deutschland faßte das Wort erst Fuß, als wegen der 1899 er¬ 
folgten Ermordung des deutschen Gesandten in Peking ein chinesi- 


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scher Prinz einen Sühnebesuch in Deutschland machte. Mit dem 
Boxeraufstand hängt auch zusammen das Allgemeinwerden einer 
Lehnübersetzungaus dem Chinesischen: ,,das Gesicht wahren, 
das Gesicht verlieren“ (s. das eigene Stichwort darüber). 

Aus dem Japanischen stammen: Kimono (bedeutet im Japani¬ 
schen allgemein Kleid, Rock), Harakiri (bedeutet nicht, wie man 
früher deutete, ,,glückliche Reise“ — nämlich ins Jenseits, sondern 
wörtlich aus hara = Bauch, kiri = schneiden), Dschiu-Dschitsu, 
das nach der einen Deutung ,,zehn Kunstgriffe“ (ju jutsu), nach 
der anderen ,,sanfte Kunst“ bedeutet. Mikado (wörtlich ,,hohe 
Pforte“) gebrauchen die Japaner selbst gar nicht als Titel für ihren 
Kaiser. Zur Verbreitung des Wortes Geisha hat entscheidend die 
Operette von Sidney Jones (1896) beigetragen. (Da die in Japan zu 
Tanz, Gesang, Musik und gesellschaftliche Formen sorgfältig aus¬ 
gebildeten Geishas, die in Teehäusern auftreten oder bedienen, 
zum Teil auch der Prostitution dienen, schreibt Eitzen in seinem 
gedankenreichen Buche über Unzukömmlichkeiten mit Fremd¬ 
wörtern: ,,Auf Maskenfesten treten bei uns junge Damen der Ge¬ 
sellschaft gern als Geishas auf; würden sie gern als — Freuden¬ 
mädchen erscheinen?“ Ja, möchte man auf diese Frage antworten; 
es gehört zum tieferen Sinn des alten Maskenbrauchs, daß man 
auch sonst Verpöntes zur Schau tragen, darstellen kann; man er¬ 
scheint doch auch als Teufel oder Pirat, als Apachin oder Zigeunerin. 
Ferner liegt auch gerade darin eine der Kräfte, die Fremdwörter 
in der Sprache festhalten, daß unter einem fremden Namen manches 
geht, was unter dem einheimischen Schwierigkeit bereiten würde. 
Wer bestimmten Fremdwörtern den Garaus machen will, muß sich 
vorerst gegen jene Lebensverhältnisse richten, innerhalb deren jene 
Wörter dem Bedürfnis nach Mitteilung und Ausdruck offenbar in 
geeigneter Weise dienen.) 

BORNIERT 

In Thomas Manns klassisch gewordenen ,,Buddenbrooks“ heißt es 
von dem Latein unterrichtenden Pastor Hirte: ,,Seine Lieblings¬ 
redensart lautete grenzenlos borniert, und es ist niemals auf¬ 
geklärt worden, ob dies ein bewußter Scherz war.“ 

Grenzenlos borniert heißt wörtlich ,,grenzenlos begrenzt“, 
grenzenlos beschränkt. Borniert kommt von französisch borne, 
Markzeichen, Grenzstein, borner, Grenzen setzen, beschränken. 


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Dem Wort bome selbst dürfte ein verschollenes romanisches Wort 
bortina oder vortina — von vertere (wenden) — zugrunde liegen 
mit der Bedeutung: Ende der Ackerfurche, wo der Pflug gewendet 
wird. Im Deutschen hat borniert nur die Bedeutung ,,geistig be¬ 
schränkt“, und wenn man die Erinnerung an den ursprünglichen 
französischen Sinn vernachlässigt, mag man ungeniert von „grenzen¬ 
loser Borniertheit“ sprechen, denn „grün“ ist schließlich der 
lebendigen Sprache „goldener“ Baum, und wir dürfen ja auch vom 
blinden Seher Teiresias sprechen, von alten Junggesellen und alten 
Jungfrauen, von trockenem Humor, wenngleich lateinisch humor 
Feuchtigkeit bedeutet, von schwarzgekleideten Kandidaten, obschon 
für die römischen Amtsbewerber das weiße Gewand (toga candida) 
Vorschrift war, von eingefleischten Vegetariern (denn schließlich wird 
auch Kraut und Rüben einigermaßen zu Fleisch und Blut), von Messing¬ 
bügeleisen, silbernen Hufeisen (Eisen!), von Silbergulden (gülden!), 
von Goldplomben (plumbum = Blei) usw.; gar nicht zu sprechen von 
jenen Fällen, wo ein beabsichtigter rhetorischer Kniff, das sogenannte 
Oxymoron, vorliegt, wie z. B. beim öffentlichen Geheimnis (nach 
Horaz), beim beredten Schweigen, beim geschäftigen Müßiggang. 

Eine volkstümliche Art, jemanden als borniert zu bezeichnen, 
zeigt die Wendung: er ist aus Borneo, oder: Borneo ist sein 
Vaterland. Einer derartigen 

Anspielung durch Ortsnamen 

begegnen wir häufig in der Sprache. Sie entspricht der allgemeinen 
euphemistischen Neigung, Unangenehmes oder Anstößiges durch 
Andeutung zu mildem, aber auch einer zweiten Neigung, der zur 
Weitschweifigkeit und Ausschmückung, so daß man sagen kann: 
die aggressive Neigung hält sich, wenn ihr versagt ist, sich durch 
direktes Aussprechen des Schimpfwortes ganz „auszuleben“, da¬ 
durch schadlos, daß sie eine solche mildernde Umschreibung wählt, 
bei welcher sie wenigstens länger verweilen kann. Der abschwä¬ 
chende Charakter solcher Euphemismen durch geographische An¬ 
spielung ist daher auch sehr fraglich, und man müßte sie eigent¬ 
lich-eben wegen des, aus der sich breit machenden Umschreibung 
gezogenen Lustgewinns des Sprechenden — als Pseudoeuphemismen 
bezeichnen und zu den aggressiven Wortwitzarten zählen. 

Beispiele für Anspielung durch Ortsnamen finden wir schon im 
Altertum. So gibt es z. B. in den „Rittern“ des Aristophanes Diebe 


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aus Klopida (Anspielung auf das Zeitwort kleptein, stehlen, das 
in der modernen Prägung Kleptomanie enthalten ist) und einen 
Habgierigen aus Aitolia (aitein, Geld eintreiben); in Ludwig Seegers 
Übersetzung werden die Ortsnamen Stehlenau und Habsburg heran¬ 
gezogen. Im deutschen Schrifttum ist es vornehmlich Luther, der 
gerne mit Ortsnamen operiert; so heißt es z. B. bei ihm, Gott sei 
nicht ein Fürst von Eilenberg, sondern ein Fürst von Weilenberg, 
und wir sollen sein Fürsten von Anhalt. Von Luther wieder sagt 
sein Gegner, der Jesuit Weißlinger, er sei Advokat in Sauheim, 
Richter in Schweinfurt, er gehöre nach Mistingen, Scheißau oder 
Dreckberg. Auch andere Zeitgenossen Luthers charakterisieren oft 
mit Hilfe erfundener geographischer Bezeichnungen, z. B. das 
Schiff von Narragonien bei Sebastian Brant, die Mühle von Schwin¬ 
delsheim bei Thomas Murner. Aus jener bilderfreudigen Zeit 
stammt wohl auch der Spruch von den vier Festungstürmen dieser 
Welt: Goldberg, Neideck, Hohenzorn und Haderwick. Auch zur 
Zeit der Gegenreformation blühte noch die starke Vorliebe für 
derartige Umschreibungen. Beim Pater Abraham a Santa Clara, 
der den Bilderschmuck des Schwäbischen auf seiner Wiener Kanzel 
voll entfalten konnte, wimmelt es geradezu von Anspielungen durch 
Ortsnamen. Der verlorene Sohn ist bei ihm ein Irrländer, wer auf 
milde Gaben angewiesen ist, muß nach Betlehem reiten, der reiche 
Prasser heißt bei ihm Zacharias von Freßburg oder Samuel von 
Wampenau oder Daniel von Schlemmerhofen. Geradezu an die 
morgenländische Begeisterung des Hohenliedes für die detaillierten 
Reize der Braut erinnert die Stelle, wo Pater Abraham die Schönheit 
einer Frau mit Hilfe von geographischen Eigennamen schildert: 
die Wangen hat sie geerbt von Rosenheim, die Stirn hat sie geerbt 
von Glattau aus Schlesien, die Augen von Stemberg, die Lefzen 
(Lippen) von Rottenburg am Neckar, den Hals hat sie geerbt von 
Weißenau. Wenn uns auch die Vorsehung, predigt er ein anderes 
Mal, über Kreuznach, Bitterfeld und Dornburg führt, müssen wir 
unseren Blick doch auf Seligenstadt richten, wohin wir aber nicht 
gelangen, wenn wir uns unterwegs in Weinheim und Spielberg auf¬ 
halten oder zu lange in Magdeburg verweilen, 

Anfangs des 18. Jahrhunderts war ein Spruch im Umlauf über 
drei berühmte niederländische Friedensschlüsse: Nimwegen (1678) 
nimmt weg, Riswyk (1697) reißt weg und Utrecht (1713) ist außer 
Recht. 1791 erschien eine Münchhauseniade ,,Mr. Bockshorns Reise 


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nach Lügenfeld“, und diese Reise führte u. a. über Plauderfeld, 
Klatschhausen, Fraubasenberg, Hechlingen, Prahlhausen, Ver¬ 
sprechungsfeld, Rezensentental, Halunkendorf. 

In der Volkssprache hat sich die Sitte solcher Umschreibung mit 
Hilfe von Ortsnamen lange noch erhalten. Man sagt z. B. die Suppe 
ist in Brandenburg gewesen (ist angebrannt), aus Anhalt sein (kein 
Geld hergeben), aus Eylau oder Eilenberg sein (es immer eilig 
haben), nach Speyer appellieren (erbrechen, seekrank sein, in 
Berlin, im gleichen Sinne, einen Ortsnamen lautmalerisch heran¬ 
ziehend: Up-sala ist eine Stadt), nach Laufenburg appellieren (die 
Flucht ergreifen), aus Taubach sein (schwerhörig), aus Stumms- 
dorf (schweigsam); das ledige Mädchen sitzt noch auf der Wart¬ 
burg, der Streitsüchtige ist aus Hadersleben, der Geizige aus 
Haltfest oder aus Habsburg (habgierig), er stammt nicht aus 
Schenkendorf, sondern aus Greifswald, er ist von Nimwegen und 
nicht aus Gebersdorf, er ist nicht von Gibigen, sondern aus Nehmigen 
(bei den polnischen Juden heißt es: wer es is fün Nemerow, der 
is nit fün Geberow; Niemerow ist ein polnisches Städtchen, 
Geberow ist fingiert). In Wien ist gebucht worden für zahlen 
müssen, in die Tasche greifen müssen: nach Taschlowitz gehen 
müssen (ähnlich im Jüdischen: nach Kischinew fahren, von Keschene 
= Tasche). Von einem Mönche, der seinem Orden untreu geworden 
ist, sagt man: er ist von München nach Frauenhof gegangen. ,,Sie 
ist aus Flandern“ wird verständlich, wenn man weiß, daß das Zeit¬ 
wort flandem im Bayrischen die Bedeutung hat: flatterhaft sein. 
He is von Ulm = er ist ein Schwächling (von olm, olmig = morsch). 
Es ist aus Kostnitz = es ist wertlos; du bist ein rechter Windisch- 
grätz = ein windiger Geselle; er ist von Drangfurt = er drängt 
sich durch die Menge vor. Daß es in Gegenden, wo es Orte 
wie Dumnau (in Schlesien) oder Dummsdorf (in Sachsen) gibt, 
landläufig ist, von jemand zu sagen, er sei aus diesen Orten, ist 
leicht begreiflich. 

Auch die Spruchweisheit des Volkes bedient sich gerne 
solcher Verkleidung. Wir erwähnen nur die Sprichwörter: von 
Friesland (fressen!) geht der gerade Weg nach Ungarn (hungern!), 
von Sparenberg kommt man leicht nach Reichenbach. Mitunter 
bedient sich der Volksmund solcher Anspielung durch Ortsnamen 
auch in obszöner Absicht. So gibt es z. B. im Schwarzwald — unter 
Zerlegung des Namens des Dorfes Kniebis (auf der dortigen gleich- 


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namigen Hochebene) in „Knie“ und „bis“ — einen Spruch: „von 
Kniebis nach Freudenstadt ist’s nicht mehr weit“ 1 . Auch volkstüm¬ 
lichen Scherzfragen kommen Ortsnamen oft zugute. (Wohin ge¬ 
hören die Fallenden? Nach Anhalt. Wohin die Traurigen? Nach 
Freudenstadt.) Daß die Neigung zu solcher volkssprachlichen Ver¬ 
wendung von Ortsnamen auch heute nicht ausgestorben ist, zeigt 
z. B. der Umstand, daß in Wien im Jahre 1932 aus dem Namen 
des Vorortes Hacking die volkstümliche Bezeichnung Hakinger für 
Nationalsozialisten geprägt wurde; was vorne an Hakenkreuz an¬ 
klingt und an hacken (mundartlich: fest dreinhauen), hinten an 
Wikinger. 

Nicht nur im Deutschen sind solche Anspielungen der Volks¬ 
sprache durch Ortsnamen üblich. Im Holländischen ist z. B. 
gebräuchlich: van Domberg zijn = dumm sein, van Kleef zijn 
= geizig sein, am Gelde kleben (kleven), in Hongarije wonen 
= hungrig sein, te Melleghem geboren zijn = närrisch sein (mal 
= närrisch). Aus dem Dänischen erwähnen wir: nach Ferholm 
gehen = schlafen gehen (fjer= Feder), in Fjollerup geboren und in 
Tosserup getauft sein (fjol= Gewäsch, Unsinn, tosse = Tor, Narr). 
Der Engländer sagt: I am for Bedforshire, ich geh jetzt zu Bett, 
to come by Spillsbury, Unglück haben (to spill, verlieren). Im 
Italienischen heißt nach Legnano gehen Prügel (legnata) bekom¬ 
men, andare in Piccardia = gehängt werden (impiccato), andare a 
Piacenza = gefallen (piacere). Sehr üppig ist die Ausbeute aus dem 
Französischen. Nach Versailles gehen sagt man für umwerfen 
verser) mit dem Wagen, einen Ehemann nach Cornuailles schicken 
ist gleichbedeutend mit betrügen, Hörner (cornes) aufsetzen, nach 
Argenton gehen müssen bedeutet: Geld (argent) benötigen. Von 
einem Kinde, das im Begriffe ist, zu weinen, sagt man, es sei sur 
le pont de Sainte Lärme (lärme, Träne). Aller ä Rouen, nach Rouen 
gehen = sich ruinieren, zugrunde gehen, nach Cachan (Dorf bei 
Paris) = sich vor der Polizei verstecken (cacher), nach Krakau 
(Cracovie) = lügen (von craque = Lüge, Aufschneiderei). Vom 
Lügner heißt es auch prendre le chemin de Niort, den Weg nach 
Niort nehmen (nier = lügen). Wenn jemand in einer Gesellschaft 

1) Man vergleiche dazu eine Stelle bei Johann Christian Günther, wo der 
schlesische Lyriker einem Ehemann in der anzüglichen Art der sogenannten 
galanten Zeit zuruft: Du lenkst nach Liebenthal, läßt Berg und Hügel liegen, 
und darfst bei Haarburg auch dem offnen Passe traun. 


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eingeschlafen ist, so ist er parti ä Dormillon. In Asnieres auf- 
gewachsen sein = ein Esel (äne) sein. Envoyer a Mortaigne, jemand 
nach Mortaigne schicken = in den Tod (morte) schicken; gleich¬ 
bedeutend ist nach Patras schicken (von lateinisch ad patres, zu 
den Vätern). Aller ä Turin, nach Turin gehen = auf die Jagd gehen, 
wird spöttisch von einem erfolglosen Jäger gesagt (von tuer rien 
= nichts töten). Im Pariser Argot sagt man auch nach Waterloo 
gehen (Anspielung auf englisch water closet), und daraus wird auch 
der Euphemismus Waterloo für das Gesäß. In der französischen 
Buchdruckersprache bedeutet aller en Galilee, nach Galiläa gehen: 
den Satz auf das „Schiff“ legen (was die deutschen Setzer Schiff 
nennen, heißt im Argot ihrer französischen Berufsgenossen galee, 
was eine Nebenform ist von galere = Galeere). Die alte, aus dem 
17. Jahrhundert gebuchte französische Redensart Tenvoyer faire 
un petit voyage ä Jerusalem (jemand auf eine kleine Reise nach 
Jerusalem schicken) = ins Gefängnis sperren, hat nicht mit dem 
Lautbild des Ortsnamens zu tun, sondern gründet sich auf den Um¬ 
stand, daß es in Paris in der Nähe des Polizeigebäudes eine Rue de 
Jerusalem gab. 

BRENNEN, BRUNNEN, BORN 

Wie das englische Zeitwort bum kann auch das deutsche brennen 
sowohl transitiv als auch intransitiv gebraucht werden. Das Mittel¬ 
hochdeutsche unterscheidet noch brinnen = glühen, leuchten, 
brennen von brennen = brinnen lassen, d. h. anzünden. Ebenso 
unterschied das Gotische brinnen und brannjan. Es handelt sich 
um denselben Unterschied wie bei den neuhochdeutschen Zeitwort¬ 
paaren biegen und beugen, dringen und drängen, haften und heften, 
lauten und läuten, liegen und legen, reißen und reizen, saugen und 
säugen, sitzen und setzen, trinken und tränken, winden und wenden. 

Uber die übertragene Bedeutung von „abgebrannt“ ist unter 
eigenem Stichworte die Rede. Nach Verbranntem riechen oder 
schmecken heißt brenzein (vgl. die beim Stichwort faulenzen 
angeführten Zeitwörter fassenzen, hundenzen usw.), im Ober¬ 
deutschen brandein. (,,Es brandelt“, sagt man in Österreich in 
übertragenem Sinne, wenn jemand etwas erraten will und sich mit 
seiner Vermutung dem Geheimnis nähert; nach einem Gesell¬ 
schaftsspiel, in dem etwas Verstecktes gesucht werden muß und 
die Zuschauer dem Suchenden durch den Zuruf Feuer oder Wasser 


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angeben, ob er sich dem Versteck nähert oder sich von ihm ent¬ 
fernt.) Zur Sippe von brennen gehören auch die Wörter branden, 
Brandung, Brunst und auch Bernstein (eigentlich brennender Stein). 
Mit altirisch berbeim = ich koche, mittelirisch brennim = ich 
sprudle dürfte brennen auch verwandt sein. 

Zur deutschen Verwandtschaft von brennen gehören ferner auch 
die Hauptwörter Brunnen und Born. Das althochdeutsche brunno 
bedeutet Quelle, Quell wasser. Der Bedeutungszusammenhang 
zwischen brennen und Brunnen (welche Begriffe sich doch zuein¬ 
ander ,,wie Feuer und Wasser“ verhalten sollten) erscheint zu¬ 
nächst sonderbar, wird aber durchaus verständlich, wenn wir eine 
keltische Wurzel bren = wallen, sprudeln, siedeln voraussetzen. 
Der Begriff Brunnen würde sich demnach ursprünglich auf eine 
heiße Quelle bezogen haben. Gestützt kann dieser Bedeutungs¬ 
zusammenhang nach dem Hinweis von Ödön Beke auch durch eine 
Analogie werden, die eine nichtindogermanische Sprache, die 
ungarische bietet. Im Ungarischen bedeutet nämlich das Zeitwort 
forr: sieden, kochen, gären, wallen, das Eigenschaftswort forro: 
heiß (altungarisch auch wallend, wogend) und das Hauptwort 
forräs: das Sieden, das Gesprudel, die Wallung und — die Quelle. 

Born ist eine mittel- und niederdeutsche Nebenform von Brun¬ 
nen, die jetzt meist nur in gehobener Sprache verwendet wird 
(,,ein köstlicher Born edlen Humors“, ,,der Born der Weisheit“; 
vgl. auch über ,,Quickborn“ das Stichwort keck). 

Nicht nur bei der Doppelform Brunnen—Born (und den Eigen¬ 
namen Heilbronn und Heilborn), sondern auch bei dem Zusammen¬ 
hang von brennen mit englisch bum und bei der Deutung von 
Bernstein als Brennstein muß die schwankende Stellung des r in 
dieser Wortwurzel auffallen; es steht bald vor, bald nach dem Vokal. 
Es ist ein Beispiel jener wortgeschichtlichen Erscheinung, die man als 

Metathesis (Umstellung) 

oder gelegentlich auch als Schüttelform bezeichnet. Ein Konsonant, 
meistens das r, wechselt, gleichsam zufolge einer Schüttelung, 
seinen Platz in der Silbe und erscheint das eine Mal vor, das andere 
Mal nach dem Selbstlaut. Solche Metathesen zeigen die die gleiche 
Herkunft aufweisenden Synonyme Brett und Bord und die in der 
Bedeutung bereits ziemlich auseinandergeratenen Korb und 
Krippe. Durch Metathesis klärt sich auch die Verwandtschaft 


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zwischen fragen und forschen, zwischen dem slawischen kral 
= König und dem Namen Karls des Großen. Arabisch kermes, 
italienisch carmesino (woher auch unser Karmin und Karmesin) 
wird im Französischen zu cramoisi, im Englischen zu crimson 1 . 

In einer Reihe von metathetischen Personennamen erscheint die 
mittelhochdeutsche Wurzel berht (althochdeutsch beraht, englisch 
bright, verwandt mit neuhochdeutsch Pracht) = glänzend: Albert 
und Albrecht (der im Adel glänzende), Engelbert und Engel¬ 
brecht (engelgleich Glänzender), Gumpert und Gumprecht (der 
im Kampf Glänzende), Robert und Ruprecht (Ruhmglänzender), 
Lambert und Lamprecht (der im Lande Glänzende). Im Namen des 
Dichters Bert Brecht geben sich die beiden metathetischen Formen 
des altgermanisch Glänzenden ein Stelldichein. 

Auf metathetischer Grundlage ist auch die Verwandtschaft 
zwischen deutsch Roß und englisch horse, zwischen Kolben und 
club, fürchten und fright zu verstehen. Aus lateinisch formaticum 
= das Geformte (nämlich durch das Gefäß, in dem man die Milch 
gerinnen läßt) wurde zunächst französisch formage = Käse, was erst 
im 13. Jahrhundert zu fromage umgestaltet wurde. Ähnlicherweise 
wird das altfranzösische tourble (aus lateinisch turbula) erst in der 
Neuzeit zu trouble; im Deutschen ist diese Metathesis durch Trubel 
und turbulent vertreten. Aus dem lateinischen granum ergeben sich 
die deutschen Schüttelformen Korn und Kern. 

Die Neigung zur Metathesis ist besonders auch in der Kinder¬ 
sprache festzustellen. So verzeichnete z. B. Meringer bei einem drei¬ 
jährigen Kinde die Schüttelformen: Spuktabn für Buchstaben, 
Pischnat für Spinat. 

BUTTER, BUTTER AUF DEM KOPF, BUTTERN 

Boutyron, von wo das deutsche Butter kommt, ist ein griechisches 
Wort für eine skythische Erfindung. Die Skythen — wir wissen es 
vom berühmten Arzte Hippokrates — schüttelten Stutenmilch in 
hölzernen Gefäßen, bis oben Fett entstand. Von ihnen lernten es 
die Griechen. Sie verwendeten dazu Kuhmilch und bekamen ,,Kuh- 

1) Eine sonderbare Schüttelform stellt der Fischnamen Kabeljau dar. Die 
ursprüngliche Form zeigt niederländisch bakeljauw und spanisch bacallao. Sie 
geht auf lateinisch baculum = Stock (dazu deutsch Bakel = Prügelstock des 
Lehrers) zurück. Man beachte, daß der auf Stangen (Stöcken) getrocknete 
Kabeljau auch im Deutschen Stockfisch heißt. 


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quark“, griechisch boutyron. Es ist aber auch möglich, daß schon 
das skythische Wort irgendwie ähnlich wie butiron gelautet hatte 
und daß die Griechen die griechischen Wörter bous = Rind und 
tyros = Käse nur hineindeuteten. (Vgl. über „Volksetymologien 4 ‘ 
den Exkurs nach dem Stichwort „Hängematte 44 .) Von den Griechen 
übernahmen auch die Römer das Wort. Plinius berichtet: e lacte 
fit et butyrum, barbararum gentium laudatissimus cibus, aus Milch 
wird auch Butter gemacht, der barbarischen Völker überaus herr¬ 
liche Speise. Unter Barbaren meinte Plinius wohl die Germanen, 
die das Geheimnis der Butterbereitung ebenfalls kannten; sie be¬ 
nutzten aber die Butter hauptsächlich zum Schmieren der Haare 
und des Leibes. Die alten Juden kannten die Butter nicht; wohl 
gebraucht Luthers Bibelübersetzung das Wort Butter für Abrahams 
und für Davids Zeiten, aber im Urtext ist wohl Sahne gemeint. 

Der alte germanische Name für Butter ist anko. Das Wort ist 
wahrscheinlich urverwandt mit altindisch anj = schmieren und 
lateinisch unguere = salben, unguentum = Salbe. Im Althochdeut¬ 
schen kommt statt anko auch kuo-smero und anc-smero vor. Anc- 
smero war eigentlich eine Bezeichnungsdoppelung, denn Schmer 
(althochdeutsch smero) bedeutete ebenso wie Anke: Fett, Butter 
(gehört zum Zeitwort schmieren; vgl. englisch smear = Schmier, 
Salbe; schwedisch, dänisch smör = Butter). In alemannischen Mund¬ 
arten kommt das Wort Anke heute noch vor, Schmer hat die 
Schriftsprache in der Zusammensetzung Schmerbauch noch erhalten. 
Die germanischen Wörter Anke und Schmer traten gegenüber dem 
griechisch-römischen Fremdwort Butter zurück, als die Germanen 
von Mönchen gallischer Klöster eine von den Römern mittlerweile 
verfeinerte Art der Butterbereitung lernten. Während bis dahin 
die Anke ein halbflüssiger Brei war, hauptsächlich zum Einschmieren 
des Körpers verwendet, lernten die Germanen im 7. Jahrhundert, 
wie man durch Waschen und Kneten feste Butter bekommt. 
Früher noch als im Gebiete des heutigen Deutschlands hatte die 
römische Art, Butter (französisch beurre) zu bereiten, in Gallien 
Eingang gefunden. Auch die Kelten Kleinasiens (Galater) kannten 
nach Plutarchs Zeugnis die Butter. 

Die Redensart Butter auf dem Kopf haben bedeutet: schlech¬ 
tes Gewissen haben, etwas auf dem Kerbholz haben (etwa wie man 
in manchen Gegenden Bayerns und Sachsens sagt: Dreck am Stecken 
haben). Der Vorläufer dieser Redensart ist die Luthersche Wendung 


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,,steht da wie Butter in der Sonne“, in dem Sinne: nicht bestehen 
können, vergehen müssen, z. B. aus Scham, aus Verlegenheit; der 
Schweizer kennt noch heute den Ausdruck: sta (stehen) oder hocke 
oder sitze, wie der Butter an der Sunne. Der Redensart ,,Butter 
auf dem Kopf haben“ liegt auch ein Sprichwort zugrunde: ,,wer 
Butter auf dem Kopf hat, soll nicht in die Sonne gehen“. Das 
Sprichwort und seine redensartliche Abkürzung ,,Butter auf dem 
Kopf“ sind erst in den letzten Jahrzehnten in die allgemeine Schrift¬ 
sprache eingedrungen; die Redensart scheint besonders von süd¬ 
deutschen, hauptsächlich österreichischen Autoren häufig verwendet 
zu werden. Die Wörterbücher von Grimm, Heyne, Sanders, Paul 
und viele Sammlungen von Redensarten kennen die ,,Butter auf 
dem Kopfe“ noch nicht 1 . Das der Redensart zugrunde liegende 
Sprichwort findet sich in verschiedenen Sprachgebieten. In 
Mecklenburg heißt es: wecker Botter uppen Kopp hätt, mött nich 
in de Sün goan. Im Rheinland: wer Butter em Kopp hätt, moß us 
de Sonn blieve. Holländisch: die een hooft van boter heeft, moet 
bij geen’ oven körnen, wer ein Haupt aus Butter hat, soll nicht 
zum Ofen gehen. Ähnlichen Sinnes französisch: si tu as la tete de 
buerre, ne te fais pas boulanger. In der Pariser Verbrechersprache 
bedeutet avoir du beurre sur la tete, Butter auf dem Kopfe haben: 
sich vor der Polizei verbergen müssen. Vidocq, der vom Verbrecher 
und Galeerensträfling zum Polizeipräfekten avancierte, und nach 
ihm Le Roux de Lincy äußerten die Meinung, die Redensart sei 
hebräischen Ursprungs und durch die Verbrecherwelt vermittelt 
worden. Der Warnung des Volkssprichwortes, mit Butter auf dem 
Kopfe nicht in die Sonne zu gehen, liegt aber wohl eher der länd¬ 
liche Brauch zugrunde, Lasten auf dem Kopf zu tragen. In einem 
Korb, den sie auf dem Kopfe trägt, bringt die Bäuerin ihre Erzeug¬ 
nisse auf den Markt. Auf die Butter muß sie dabei besonders achten. 
Scheint die Sonne darauf, so kann ihr die zerfließende Butter leicht 
über das Gesicht laufen 2 . Man sagt daher im Rheinland, wenn man 


1) Max Mayr erwähnt zwar die „Butter auf dem Kopf“ in seinem Buch 
„Wiener Redensarten“, 1929, fügt aber hinzu: „Man kann sich kaum denken, 
welcher Gedankengang zu einer solchen Redensart geführt haben mag.“ 

2) Es sei hier an eine Szene aus dem Don Quichote erinnert: Sancho Pansa 
bewahrt im Helme seines Herrn Käse und dieser beginnt „im pathetischesten 
Augenblick“ (Thomas Mann) auf dem Kopf zu schmelzen und Augen und Bart 
mit Sauermilch zu begießen. 


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ausdrücken will, jetzt sei es warm: nau geht de Butter dor de 
Körf — nun geht die Butter durch den Korb. 

Übrigens hat man zur Erklärung der Redensart von der Butter 
auf dem Kopf auch einen Brauch herangezogen, der im ig. Jahr¬ 
hundert in französischen Städten galt. Verkäuferinnen, die der 
Butter zur Gewichtserhöhung Rüben o. dgl. beigemengt hatten, 
wurde die Butter auf die Haare gepreßt, und sie mußten nun so¬ 
lange auf dem Pranger stehen, bis die ganze Butter geschmolzen 
und auf sie herabgeflossen war. 

Das Zeitwort buttern bedeutet, transitiv gebraucht, Butter be¬ 
reiten, intransitiv zu Butter werden, auch übertragen verwendet, 
z. B. in der Redensart ,,das will nicht buttern“ für ergebnislose 
Arbeit. Wo’s nicht bottert, da bottert’s nicht, kannst reinschieten, 
lautet ein ostpreußisches Sprichwort. Sonderbarerweise bedeutet 
buttern in Berlin auch schlecht arbeiten (,,butter man so weiter, 
dann wirste schon zu wat kommen“), verbuttern bedeutet ver¬ 
geuden, und rinbuttem: etwas in ein Geschäft (meist aussichtslos) 
hineinstecken. Aus Berlin dürfte auch die junge Redensart alles 
in Butter (etwa im Sinne: alles ist sehr fein, alles geht sehr glatt, 
alle Schwierigkeiten oder Zwistigkeiten sind beseitigt) ihre Lauf¬ 
bahn angetreten haben; die Herkunft der Redensart ist wohl in der 
Sphäre der Küche zu suchen: alles mit feiner Butter (nicht mit 
Margarine oder Schmalz) zubereitet. 

Das berlinische buttem = schlecht arbeiten läßt an pariserisch 
mains de beurre = ungeschickte Hände denken; offenbar entscheidet 
hier die Anschauung Butter = weich, haltlos, kraftlos. Im übrigen 
herrscht in der französischen Umgangssprache die Gedankenver¬ 
knüpfung zwischen Butter und Bequemlichkeit, Leichtigkeit, Vorteil 
vor. (Man vgl. damit in der deutschen Buchdruckersprache ,,Speck“ 
= Arbeitserspamis, Gewinn.) Faire son beurre gebraucht man in 
dem Sinne: sein Glück machen. C’est un buerre = das ist sehr 
leicht. Für die Vermehrung des Einkommens gibt es den Ausdruck: 
avoir du beurre dans les epinards (Butter im Spinat haben). Beurre 
wird im Pariser Argot auch für Geld gebraucht. Anfangs des i 9 . Jahr¬ 
hunderts hieß der Bankier im Argot auch beurrier. Avoir Passierte 
au beurre, die Butterschüssel haben = Glück haben. Auch accaparer 
Passiette au beurre, die Butterschüssel an sich reißen, wird in über¬ 
tragenem Sinne gebraucht. Aristide Bruant, der berühmte Mont¬ 
martre-Sänger, buchte 1901 in seinem Argotwörterbuch als 



Bezeichnung des Zuhälters: le baigne-dans-le-beurre (der Bad-in- 
Butter), offenbar eine Anspielung auf leicht erworbenes Geld, be¬ 
hagliches Leben. 

Das Bild der Butterbereitung im Stoßbutterfaß blieb nicht ohne 
Einfluß auf den Wortschatz. Buttern bedeutet nicht nur Butter 
machen, Butter schlagen, sondern bat — bei leicht erkennbarer 
Vergleichsgrundlage — auch sexuale Bedeutung. Der alte Volks¬ 
brauch, daß jener, der einem jungen Mädchen die Ehre geraubt 
hatte, zur Strafe dafür buttem mußte, ist wohl als eine symbolische 
Vergeltungsstrafe aufzufassen. In Abschwächung der derbsexuellen 
Symbolik bedeutet buttem auch schäkern, flirten. 

Auf den symbolischen Zusammenhang zwischen der primitiven 
Art der Butterbereitung und der Vorstellung des Geschlechts¬ 
verkehrs beruht wohl auch der volkstümliche Wiener Ausdruck 
pudern = coire. Allerdings notiert Victor Borde in seiner Samm¬ 
lung argentinischer Volksausdrücke el polvo (wörtlich Pulver) 
= Geschlechtsakt und echar un polvo (ein Pulver ausschütten) 
= coire und vermutet darin eine Analogie zum wienerischen pudern. 
Angesichts der Häufigkeit der symbolischen Zusammenhänge zwi¬ 
schen den Bezeichnungen des Geschlechtsverkehrs und denen 
sonstiger primitiver Tätigkeiten und Werkzeuge 1 möchte ich aber 
an meiner Deutung pudern = buttem festhalten 2 . Als Analogie 
führe ich aus dem Italienischen an: sburrare, wörtlich ,,ausbuttern' ‘, 
Butter aus sich lassen, gebräuchlich in dem Sinne: den Samen er¬ 
gießen, woraus das Postverbale, das rückgebildete Hauptwort 
sburro = männlicher Same. Dazu stellt der römische Sprachforscher 
Vittore Pisani in Parallele das lateinische Zeitwort inrumare = den 
Samen hineingießen (so z. B. in erotischen Texten des Catullus und 
des Martialis), das er mit einer indogermanischen Wurzel ruma 
= „Rahm“ in Verbindung bringt. 


1) Es sei auch darauf verwiesen, daß einzelne Forscher das lateinische Di- 
minutivum mentula = männliches Glied mit dem Namen des Feuerbringers Pro¬ 
metheus (Pramanthas) in Verbindung bringen, der die indogermanische Wurzel 
manth = sich hin- und herbewegen enthält; dieses Zeitwort bezieht sich wohl 
nicht nur auf das Hin- und Herbewegen des männlichen Holzteiles auf dem 
weiblichen bei der Feuerbereitung, sondern auch auf die quirlende Bewegung 
des Butterstempels im Butterfaß. 

2) Man beachte auch einen Ausdruck des Pariser Argots für den homo¬ 
sexuellen Verkehr: battre le beurre dans un etron (in einem Kothaufen Butter 
schlagen). 


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CHATEAUBRIAND 

als Namen einer Beefsteakart hat sich aus der Sprache der französi¬ 
schen Speisekarte über den ganzen Erdball verbreitet und ist jeden¬ 
falls heute auch in Kreisen bekannt, in die der sonstige Ruhm des 
1848 gestorbenen Dichters der in Rührung schwelgenden Ge¬ 
schichten „Atala“ und „Rene“ nicht mehr gedrungen ist. „Diesem 
großen Schriftsteller und schlechtgelaunten Denker“, schreibt 
Lepelletier, „verbleibt wahrhaftig eine ungeheuere, dauernde 
Volkstümlichkeit, verbleibt der in Scheidemünzen von Gasthaus 
zu Gasthaus wandernde Ruhm, einem berühmten Beefsteak Tauf¬ 
pate gestanden zu haben. Ihm ist dieser Ruhm beschieden, ihm, 
der sich selbst nur von Milchspeisen, Weihrauch und Reminiszenzen 
nährte. O Ironie, o Dank der Völker! Ein Beefsteak mit Kartoffeln 
ist vielleicht alles, was eines Tages übrigbleibt von einem Atlas an 
Gedanken, einem Archimedes der Philosophie. Eine Welt trug er 
in seinem gewaltigen Gehirn, und er träumte davon, mit Hilfe 
seiner Feder eine zweite erstehen zu lassen, und das ganze Ergebnis: 
ein Name auf der Speisekarte. C’est la gloire.“ 

Aber man muß hinzufügen: es liegt nicht nur eine Ungehörigkeit 
gegen den Vicomte de Chateaubriand, den erhabenen Schwärmer, 
vor, der, ohne selbst jemals viel von den Freuden der Tafel gehalten 
und verstanden zu haben, unter die lukullischen Namen der Speise¬ 
karte gezerrt wurde, wie ein Asket in einen ausgelassenen Masken¬ 
trubel, sondern es ist auch eine Ungerechtigkeit gegen den wirk¬ 
lichen Erfinder jener Beefsteak-Zubereitungsart, daß sein Name der 
Nachwelt unterschlagen wird. In Wirklichkeit gebührt nämlich der 
kulinarische Ruhm einem Herrn Chäbrillon, der ein berühmter 
Koch war, aber offenbar in weiteren Kreisen doch nicht so berühmt, 
daß die Pariser Restaurateure nicht vorgezogen hätten, seinen Na¬ 
men bei der Benennung des von ihm eingeführten Bratens so zu 
verunstalten, daß er sich zu Chateaubriand verwandelte. 

UNTER EINER DECKE STECKEN 

Wenn heute zwei unter einer Decke stecken, so wollen sie dies 
geheim halten, denn die Redensart zielt ja gerade auf geheimes 
Einverständnis hin: der Gedankenleser auf der Bühne steckt unter 
einer Decke mit seinem Helfer im Publikum, der Einbrecher mit 
dem treulosen Wächter. Ursprünglich aber war es, gerade in ent¬ 
gegengesetzter Weise, für die, die unter einer Decke steckten, 


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wichtig, daß Zeugen dies bestätigen konnten. Die öffentliche ,,Be¬ 
schreitung des Ehebettes“, der sogenannte ,,Bettsprung“, war ein 
alter germanischer Brauch, der sich durch das ganze Mittelalter 
erhielt. Eltern und Verwandte geleiteten das neue Ehepaar ins Braut¬ 
gemach, und erst wenn sie sahen, daß eine Decke das Paar beschlug, 
galt der Rechtsakt als erfüllt, war es eine vollkommene Ehe und 
die güterrechtliche Einigung vollzogen: ,,ist das Bett beschritten, 
so ist das Recht erstritten.“ Kaiser Friedrich III. zog bei seiner 
Vermählung vor dem ganzen versammelten Hofe die Decke über 
sich und Lenore, zum großen Staunen der spanischen Hofdamen, die 
dieses Brauches unkundig waren. Aber der Bettsprung entwickelte 
sich dann immer mehr zu einer bloß symbolischen Förmlichkeit, 
und seit dem 16. Jahrhundert begab sich das junge Ehepaar nicht 
mehr entkleidet, sondern völlig angezogen unter die gemeinsame 
Decke, um das öffentliche Zeremoniell des Bedeckens zu erfüllen. 

DERB 

im heutigen Sinne geht auf zwei voneinander unabhängige germani¬ 
sche Wortstämme zurück. Althochdeutsch derp, angelsächsisch 
theorf, altnordisch thjarfr bedeutet ungesäuert, nicht aufgegangen, 
vom Brot nämlich, und in weiterem Sinne hart, trocken, nicht 
locker; auf Menschen übertragen bedeuten diese Formen: gemein, 
niedrig. Entscheidend beeinflußt ist jedoch die Bedeutungsentwick¬ 
lung von einem anderen germanischen Worte: altfriesisch und 
mittelniederdeutsch derve bedeutet ,,geradezu“, altsächsisch derbi 
,,kräftig, feindlich, ruchlos“, altnordisch djarfr ,,kühn“. 

Nicht verwandt ist das Wort derb mit biderb und darben. Diese 
beiden Wörter gehören zur Sippe von ,,dürfen“ : biderb und bieder 
(mittelhochdeutsch bi-derbi) bedeutet eigentlich brauchbar, d. h. 
,,be-darf“-entsprechend und darben heißt bedürfend sein. 

Von unserem derb kommt hingegen das Zeitwort verderben, 
das als ,,derb werden lassen“, d. h. unbrauchbar machen, aufzu¬ 
fassen ist. Das Bayrische kennt auch die Form abderben = dürr 
werden (de Baam dirwt ab). In dieser Mundart hat dementsprechend 
das Eigenschaftswort derb auch die Bedeutung dürr, mager (si is 
so derb, daß d’nix als Haut und Ban sigst). Der Österreicher Castelli 
verzeichnet auch das Hauptwort Derbling als Bezeichnung für etwas, 
das nicht emporkommen will, eine Pflanze, die nicht wächst, einen 
Teig, der nicht aufgeht. 


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Derb gehört nach Bouckes Nachweis zu den von Goethe bevor¬ 
zugten Eigenschaftswörtern. Es bedeutet bei ihm nicht so sehr roh, 
grob, als tüchtig, kräftig. So spricht z. B. der Dichter vom ,,derben, 
tüchtigen Halten auf einer verständigen Gegenwart 4 4 . In Dichtung 
und Wahrheit stellt er der zarten Naivität des Neuen Testaments 
die ,,derbe Natürlichkeit 44 des Alten gegenüber, und im gleichen 
Werke ist von den ,,tüchtigen, derben, von Naturfülle glänzenden 
Bildern 44 der Niederländer die Rede. Winckelmann wird in einem 
Briefe Goethes neben Redlichkeit und Rechtlichkeit auch Derbheit 
nachgerühmt. In der ,,Schweizerreise 44 1797 bezeichnet der Dichter 
die auf Glasmalereien von Bülach dargestellten Männer des 16. Jahr¬ 
hunderts als derbständig, was wohl eine Verdichtung ist aus derb 
und beständig oder bodenständig. 

DOMINO 

Domino, sowohl im Sinne des Maskenmantels als in dem des be¬ 
kannten Spieles, kommt von lateinisch dominus = Herr, Gebieter. 
Die Bedeutungsübergänge klären sich wie folgt auf: Domino war 
in Italien beim niederen Volke die Bezeichnung für den Geistlichen. 
Das Wort wurde dann auf ein Kleidungsstück der Priester über¬ 
tragen und bezeichnete den ihnen zur Winterstraßentracht gestat¬ 
teten Oberkörperkragen mit Kapuze. Eine weitere Übertragung 
führte Ende des 16. Jahrhunderts zur Bedeutung: die ganze Figur 
einhüllender weitarmiger Seidenmantel, den eine maskierte, aber 
nicht kostümierte Person über ihrem ordentlichen Gewand trug, 
um an diesem nicht erkannt zu werden. Vom großen Schalk 
Rabelais erzählt eine Anekdote, er habe sich auf seinem 
Sterbebett so einen Maskenmantel anziehen lassen, denn es stehe 
in der Heiligen Schrift: ,,beati qui moriuntur in Domino. 44 
(Auch ein drittes Kleidungsstück heißt übrigens Domino: der 
Schleier, den die Frauen in der Gegend von Arras, im Nord¬ 
westen Frankreichs, beim Kirchenbesuch zu Ehren des Herrn, des 
Dominus, tragen.) 

Die Übernahme des Namens des Priesters zur Bezeichnung eines 
zunächst priesterlichen Kleidungsstückes stellt einen Typus der Be¬ 
deutungsübertragung dar, der in der Wortgeschichte selten ver¬ 
treten ist. Ein ähnliches Beispiel zeigt das Wort Pelerine von fran¬ 
zösisch pelerin = Pilger (aus lateinisch peregrinus). Häufiger ist der 
umgekehrte Vorgang, jener, wo nicht ein Kleidungsstück nach 


89 




seinem Träger, sondern ein Mensch nach einem Kleidungsstück 
benannt wird; man denke nur an die allbekannten Beispiele nach 
Art von Blaustrumpf, Rotkäppchen, Stadtfrack, Blaujacken, Kandidat 
(nach der weißen Toga, der toga candida, der römischen Amts¬ 
bewerber), Caligula (wörtlich Soldatens tiefeichen, so nannte man 
den späteren Kaiser, der als Kind in großen Stiefeln unter den Sol¬ 
daten herumstapfte) usw . 1 * * 

Nicht ganz einfach ist die Erklärung, wie es zum Namen des 
Dominospieles kam. Nach einer alten Anekdote haben die Bene¬ 
diktiner vom Monte Cassino an diesem alten orientalischen Spiel 
Gefallen gefunden und es im geheimen in den Zellen gespielt. Um 
den wachsamen Prior zu täuschen, mußte jeweilen der Verlierer 
während der ganzen nächsten Partie Gebete murmeln, beginnend 
mit Dixit Dominus oder Domino meo. Daher blieb, selbst als 
bereits auch der Prior an diesem Spiele Freude fand und ganz Italien 
dem Spiele huldigte, als Bezeichnung des Spieles der Namen Domino. 
Ernst zu nehmen ist diese Erklärung nicht. Auch Prof. Harder, sonst 
sehr vorsichtig, führt eine unwahrscheinliche Deutung an: man habe 
das Spiel Domino genannt, weil die Rückseite der Steine schwarz sei 
wie die Wintermäntel der Geistlichen. Tausende von Dingen, die 
schwarz sind, und bei denen es zu ihrem Wesen gehört, daß sie 
schwarz sind (während dies für die an sich unwichtige Rückseite 
der Dominosteine nicht zutrifft), wurden nicht Domino genannt, — 
warum gerade dieses Spiel ? Wahrscheinlich bekam das Spiel diesen 
Namen, weil der, der sich zuerst aller Steine entledigt hatte, , ,Herr‘ 4 , 
,,dominus 4 ‘ geworden war. (Es gibt in der Geschichte der ,,ernsten 44 
und der Kinderspiele mehrere Beispiele dafür, daß der Namen des 
Spieles selbst identisch ist mit jenem Namen, den der Gewinner 
oder der Verlierer bekommt.) Für die Erklärung des Namens des 
Dominospieles aus dem des Gewinners spricht auch der Umstand, 
daß das Wort Domino noch heute im Spielverlauf selbst das „Aus¬ 
werden“ bedeutet: ,,ich bin domino“, sagt jener, der als erster 
seinen letzten Stein auslegt. Man vergleiche damit, was ältere 
englische Slangwörterverzeichnisse berichten: als es in Heer und 
Flotte Englands noch eine Prügelstrafe gab, pflegte der Delinquent 
beim letzten Schlag „domino“ zu sagen. 

i) Weitere Beispiele für die Übertragung von Kleidungsstückbezeichnungen 

auf Personen und Bewegungen (auf politischem Gebiete) s. im Anschluß an das 

Stichwort Bluse. 


90 





Aus dem englischen Slang ist auch der Ausdruck the dominoes 
für die Zähne. Offenbar gibt das weiße Elfenbein auf der Vorderseite 
der Dominosteine und ihre parallele Anordnung bei der Auf¬ 
bewahrung die Vergleichsgrundlage ab. Auch in der Pariser Volks¬ 
sprache wird domino für Zähne gebraucht. (Ungalant bemerkt dazu 
Hector France, ein Lexikograph des Pariserischen, daß besonders 
die Zähne alter Engländerinnen durch ihre Länge an Dominosteine 
erinnern 1 .) Aus der Gleichung domino = Zahn gehen weitere 
Pariser Argotausdrücke hervor: jeu de domino (Dominospiel) = Ge¬ 
biß, jouer des dominos (Domino spielen) = essen. Ein Zahnlückiger 
ist einer, qui boude aux dominos, einer, der beim Dominospiel 
„schmollt“, paßt, d. h. den passenden Stein nicht hat. Schließlich 
sei noch erwähnt, daß der Sarg im Pariser Argot wegen der läng¬ 
lichen Form auch Dominoschachtel, boite aux dominos, heißt. 

DUMDUM 

Dämdäm bedeutet persisch und hindostanisch: Hügel, Erdwall, er¬ 
höhter Batteriestand und ist auch der Namen eines militärischen 
Lagers unweit von Kalkutta, das 1783—18^3 Hauptquartier des be¬ 
rühmten bengalischen Artilleriekorps der Engländer war. Dort 
wurden zuerst Geschosse mit stumpfem Vorderende hergestellt. 
Solche Geschosse reißen stärkere Wunden als die spitzauslaufen¬ 
den. Die Engländer benannten derartige Infanteriegeschosse nach 
jenem Artillerielager und schrieben dumdum, damit englisch richtig 
dämdäm gelesen werde. Zufolge der englischen Schreibweise ge¬ 
langte das Wort mit unrichtiger Aussprache ins Deutsche. Allgemein 
bekannt wurde es während des Burenkrieges, in dem immer wieder 
Anklagen auftauchten, die englischen Soldaten verwendeten mit 
dem Taschenmesser abgestumpfte Infanteriegeschosse. 

Der bei „Dumdum“ beobachtbare Vorgang, daß ein Wort in 
der Schreibweise mit dem Vokal -u- international wird, weil ein¬ 
fach die Schreibweise übernommen wird, mit der die Engländer 
die originalindische Aussprache festhalten wollen, liegt noch bei 
drei anderen internationalen Wörtern vor. Die Inder nennen eine 
gewisse Ichneumonart mangus, die Engländer übernehmen die 

1) Lange vorstehende Zähne heißen übrigens im Pariser Argot auch dents 
ä Panglaise, englische Zähne (oder touches de piano, Klaviertasten); man pflegt 
für die (angebliche) Häufigkeit langer Zähne in England die Aussprache des eng¬ 
lischen Zahnlautes th verantwortlich zu machen. 


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Bezeichnung und schreiben zur Erzielung der indischen Aussprache 
mungoose, woraus deutsch Mungo wird. Aus persisch-indisch 
päng = fünf wird durch englische Vermittlung Punsch, welches 
Getränk nach seinen ursprünglichen fünf Zutaten benannt ist. Mull 
als Bezeichnung eines musselinartigen feinen Baumwollgewebes, das 
besonders als Verbandstoff allgemein bekannt ist, kommt von 
indisch malmal, und auch in diesem Falle läßt sich die ganze Welt 
durch die Engländer das indische a als u vormachen. Außerdem 
haben die stets auf Kürze bedachten Engländer, die bis zum Ende 
des 18. Jahrhunderts noch mulmull schrieben, das Wort zum Ein¬ 
silber mull gekürzt. Auch der oben behandelten Geschoßbezeich¬ 
nung hätte diese typische englische Kürzung leicht widerfahren 
können, so daß wir dann heute von Dum-Geschossen sprechen 
würden. 

Die Festhaltung der Aussprache des Vokals beim Übergang des 
indischen a zum englischen u und andererseits die Festhaltung des 
Buchstabenbildes u beim Übergang der indischen Wörter aus dem 
Englischen in eine andere europäische Sprache zeigt, daß der Über¬ 
gang aus dem Indischen ins Englische sich in Indien hauptsächlich 
auf akustischem Wege vollzog, d. h. durch Vermittlung des münd¬ 
lichen Verkehrs im alltäglichen Wirtschaftsleben, im Soldaten¬ 
leben usw., indes die Wortübernahme aus dem Englischen ins 
Deutsche und in andere europäische Sprachen sich im wesentlichen 
visueller Wege bediente, d. h. durch Vermittlung der Literatur, 
der Tagespresse, der Geschäftskorrespondenz erfolgte. Nur neuer¬ 
dings ist im Rundfunk und im Tonfilm den akustischen Vermittlungs¬ 
möglichkeiten ein Zuwachs an Wirksamkeit erstanden. Es bleibt 
abzuwarten, ob diesen neuen Faktoren dem überhandnehmenden 
Einfluß des geschriebenen Wortes gegenüber eine derartige Be¬ 
deutung zukommt, daß sie auch durch wortgeschichtliche Tat¬ 
sachen bezeugt werden wird. 

EISBEIN 

Mag auch an der Zubereitung von ,,Eisbein mit Sauerkohl und 
Erbsenpüree 4 ‘ (scherzhaft: mit Lehm und Stroh) etwas spezifisch 
Norddeutsches sein, das dabei verwendete Fleisch ist doch nichts 
anderes als jenes, das im Südwesten Schweinsfüße, in Sachsen 
Schweinsknochen, in Württemberg Knöchle, in Bayern und in 
Österreich Schweinshaxen oder Schweinsstelze heißt. Das unmittel- 


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bar an Knochen haftende Fleisch erfreut sich einer besonderen 
Wertschätzung; so sagt z. B. ein allgäuisches Sprichwort: Gras vom 
Stein, Fleisch vom Bein ist das Beste. Wie kommt es aber zum 
merkwürdigen Namen „Eisbein“? 

Eis kommt von altfriesisch und angelsächsisch is, altnordisch iss 
(verwandt mit afghanisch asai = Frost). 

Bein geht vermutlich auf eine indogermanische Wurzel bhei 
= schlagen zurück (daraus auch armenisch bir = Knüppel). In den 
germanischen Sprachen war die ältere Bedeutung des Wortes 
„Bein“: Knochen. Wenn Tristan im Gedichte Gottfrieds von 
Straßburg einen so heftigen Schlag bekommt, „daz ime daz fleisch 
und daz bein durch hosen und durch halsperc (= Panzerhemd) 
schein“, so ist nicht von der Extremität, sondern von den Knochen 
die Rede. Im Faust bedeutet „Tiergeripp und Totenbein“ tierisches 
und menschliches Skelett. Stein und Bein schwören heißt, auf Altar 
und Reliquien (Heiligenknochen) schwören. Bein ist gleich Knochen 
in Zusammensetzungen wie Nasenbein, Schlüsselbein, Fischbein 
( = Walfischknochen) usw., auch in mundartlichen Redewendungen: 
„Geh, riach zu dem Baan *, sagt man z. B. im Wienerischen drohend, 
indem man einem die Faust vor die Nase hält; ähnlich, aber mit 
dem Worte Knochen, in Berlin: „Dia wer ’k mal ’n Bündel Knochen 
unter die Neese halten.“ Die neuere Bedeutung von Bein ist be¬ 
sonders der Fuß (die ganze Extremität) bzw. der Unterschenkel. 
(Jedenfalls meint man, wenn man einer Frau schöne Beine nach¬ 
rühmt, nicht ihr Skelett.) 

Der deutschen Zusammensetzung Eis-Bein entspricht das englisch- 
mundartliche icebone und das dänische isben; beide Bezeichnungen 
werden hauptsächlich für den Hüftknochen verwendet. Diese spät 
entstandene Bedeutung hat die vergleichende Sprachforschung zu 
einer gekünstelten Ableitung verführt; ischion heißt griechisch 
Hüftgelenk (daraus der bekannte Namen des Hüftwehs, Ischias), und 
Eisbein sei eine verderbte Form von ischion. Diese phantasievolle 
Deutung des Eisbeins fand aber doch nicht allgemeine Zustimmung. 

Die Lösung der lange offengebliebenen Frage, wie die Silbe Bein 
zum Eis kommt, wurde schließlich vom Germanisten Hans Sperber 
gefunden. Auf dem ganzen nordgermanischen Gebiet wurden einst 
die Röhrenknochen größerer Tiere, besonders die Fußknochen der 
Pferde, gespalten, glattgeschliffen und als Schlittschuhe verwendet. 
Schon in der Edda werden „Eisknochen“ erwähnt. Ausgrabungen 


93 





in Skandinavien haben derart hergerichtete Knochen in großer An¬ 
zahl zutage gefördert, und selbst aus neuerer Zeit sind sie nachweis¬ 
bar. In Schweden waren auf dem Lande solche Schlittschuhe vor 
gar nicht langer Zeit noch in Gebrauch. Sie hießen dort isläggar, 
wörtlich Eisschenkel. Übrigens fand man auch in der Schweiz 
Schlittschuhe aus Pferdeknochen; in Bern wird ein solches Exem¬ 
plar, annähernd 30 cm lang, auf bewahrt. Nebenbei sei auch er¬ 
wähnt, daß in Theodor Storms Novelle ,,Auf der Universität 44 
davon die Rede ist, man könne Schlittschuhlaufen auf Kalbs¬ 
knöchelchen erlernen. 

Eisbein bedeutet also ursprünglich den zum Eisläufen verwend¬ 
baren Knochen, d. h. Röhrenknochen, Schenkelknochen, und über¬ 
tragen das an solchem Knochen sitzende Fleisch. Den Freunden des 
Berliner Leibgerichtes kann der Nachweis, daß das Eisbein nicht 
mehr mit dem Ischias zusammenhängt, sondern mit dem Eislaufsport, 
jedenfalls willkommen sein. 

EISVOGEL, HALKYONISCHE TAGE 

Eisvögel sind eine aus etwa 200 Arten bestehende Vogelfamilie. 
Der europäische Eisvogel oder Königsfischer (alcedo 1 ispida) ist ein 
gnomartiges, kurzbeiniges, kleinschwänziges, buntgefiedertes Tier, 
das sich von Wasserinsekten und kleinen Fischen nährt. Oft muß 
der Eisvogel stundenlang auf Beute spähen, erblickt er sie, taucht 
er plötzlich kopfüber ins Wasser und verfehlt mit seinem langen 
Schnabel kaum sein Ziel. Der Eisvogel heißt beim Volke auch 
Wasserhienche (Luxemburg), Waterheinchen (Westfalen), Wasser- 
amstel (Elsaß), Blauamseli (Schweiz), Wasserspecht (Steiermark) 
und vielerorts Martins vogel, angeblich weil er um Martini herum 
(11. November) auftaucht. In Frankreich wird er martin-pecheur, 
Martin der Fischer, genannt. 

Was die Silbe Eis im deutschen Namen Eisvogel bedeutet, ist 
nicht einwandfrei geklärt. Es stehen mehrere Deutungen zur Wahl. 
Vielleicht bezieht sich der Name auf das winterliche Leben dieses 
Vogels (Suolahti). Oder: es erinnert sein bläulich-grünliches Ge¬ 
fieder an die Farbe des stehenden Eises. Oder nach Kluge: an die 


1) Von lateinisch alcedo, griechisch halkyon kommt wohl auch elcovan, 
der rumänische Namen dieses Vogels. Aber manche deuten ihn türkisch: aus 
jel = Wind und kowan = jagen, verfolgen. 


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Farben des Eisens 1 , demnach althochdeutsch isarno-vogel, also 
eigentlich Eisenvogel, und nur unter dem Eindruck der Sage, der 
Vogel hecke im Winter, auf is-aro = Eis-Aar umgedeutet. Wieder 
eine andere Auffassung (z. B. in Konrad von Megenbergs Buch der 
Natur) hört aus dem Rufe des Vogels isi-isi heraus; nach Brehm 
schreit der Eisvogel aber tit tit oder si si. Vielleicht aber ist im 
Worte Eisvogel „Eis“ entstellt aus dem lateinischen Namen ispida 
oder hispida = rauh. 

Viele abergläubische Volksüberlieferungen knüpfen sich an 
den Eisvogel. Er schützt, er ist Regenkünder, Eisprophet, man hielt 
sich in manchen Gegenden Böhmens Eisvögel als Glücksbringer in 
Käfigen, tote Eisvögel mit goldenen Ringen um den Hals werden in 
seidene Tücher gehüllt im Hause bewahrt, das Herz des Eisvogels 
wird gegen Epilepsie gegessen. In schwäbischen Gegenden ge¬ 
braucht man gelegentlich das Wort Eisvogel auch als Bezeichnung 
eines halben Regenbogens; offenbar weil man aus solchem halben 
Regenbogen auf ein gewisses Wetter schließt, dessen Künder auch 
der Eisvogel selbst ist. 

Der Eisvogel gehört zu jenen Vögeln, die einst in der Symbolik 
eine große Rolle spielten, wie der scharfblickende Adler, die weise 
Eule, der prophetische Rabe, der sich für seine Jungen die Brust 
aufschlitzende Pelikan und der aus der Asche wiedererstehende 
sagenumwobene Phönix. Zur Zeit, als die Bürgerhäuser noch 
Hausschilder aufwiesen, gehörte auch der Eisvogel zu den bürger¬ 
lichen symbolischen Wappentieren. Nach so einem Haus, das im 
Schild einen Eisvogel zeigte, heißt noch heute eine Wiener Straße 
Eisvogelgasse. Übrigens gibt es im Prater in Wien auch ein altes 
Gasthaus „Zum Eisvogel“, dem eine gewisse volkskundliche Be¬ 
deutung zukommt: es ist eine alte Sitte, daß die Firmlinge nach der 
kirchlichen Zeremonie vom „Göden“, dem Taufpaten, zu einer 
„Jause“ beim „Eisvogel“ geführt werden. 

Die Zugehörigkeit des Eisvogels zu den typischen Symboltieren 
geht auf eine Sage zurück, die aus dem Altertum stammt. Keyx, 
der Sohn des Phosphor, des Morgensterns (Heosphoros), Königs 
von Trachin in Thessalien, hatte Halkyone, die Tochter des Wind¬ 
gottes Äolus, zur Frau. Die Ehegatten, glücklich in ihrer grenzen¬ 
losen Liebe zueinander, nannten sich in übermütigem Stolz Hera 

i) Übrigens soll (Grimm) Eisen und Eis auf eine gemeinsame Urbedeutung 
(gotisch eisan == glänzen) zurückgehen. 


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und Zeus. Dies erregte der Götter Mißfallen, und sie ließen Keyx 
bei einem Schiffbruch umkommen. Verzweifelt stand Halkyone auf 
einer hohen Klippe am Meeresufer, die Wiederkehr des Gatten er¬ 
hoffend. Als sie plötzlich seine Leiche heranschwimmen sah, stürzte 
sie sich ins Meer hinunter 1 . Die Götter, die die Szene verfolgten, 
wurden von diesem Beweis der Gattenliebe gerührt und verwandel¬ 
ten Halkyone noch während ihres Sturzes zum Vogel. Und in dem 
Augenblicke, da Halkyone den Gatten erreichte, war auch er zum 
Leben erwacht und zum Vogel verwandelt, so daß sie beide sofort 
davonflattem konnten. Sie bauten sich ein Nest an einer Stelle, die 
über das Meer hing, und nach der Paarung brütete Halkyone sieben 
Tage. Äolus aberzog, während seine Tochter brütete, im Interesse der 
erwarteten Enkel alle Winde ein. Daher heißen windstille, in über¬ 
tragenem Sinne ruhige, ungestörte Tage ,,halkyonische Tage“. 
Als die ursprünglichen halkyonischen Tage der Sage galten nach 
einzelnen alten Berichten die kürzesten Tage des Jahres, also die 
Woche um Weihnachten herum; nach anderer Überlieferung sind 
es ungefähr die Tage der dritten Februarwoche. In Lukians Dialog 
,,Der Eisvogel und die Verwandlung“ heißt es: ,,Während seiner 
Heckzeit genießt die ganze Welt die den Seefahrern so angenehmen 
halkyonischen Tage, die sich mitten im Winter durch das heiterste 
Wetter auszeichnen.“ Die Übersetzung ist von Wieland, und er 
war es auch, durch den sich das Schlagwort von den halkyonischen 
Tagen in der deutschen Literatur durchsetzte. Den Theologen galt 
allerdings schon vorher ,,derWintervogel Halkyon“ als das Sinnbild 
der Kirche in den Stürmen der Welt. So erbittet z. B. 1622 Jakob 
Herrenschmid von Gott für die Kirche ,,die erwünschte Halcyonia 
oder EyssvÖgelins Tag“. (Ähnlicherweise verdeutschte sich später 

1) Dieses mythologische Element, das plötzliche Hinunterstürzen scheint mit 
der Art dieses Vogels, nach geduldigem Warten plötzlich auf die im Wasser 
erspähte Beute loszustürzen, im Zusammenhang zu stehen. So verstehe ich 
auch die Bemerkung des großen Buffon, die mythologische Geschichte des 
Vogels Halkyon sei ein Enblem seiner Naturgeschichte. Hier möchte ich auch 
erwähnen, daß, während das ausgehende 19. Jahrhundert die angeblich wind¬ 
stillen Tage während der Heckzeit des Vogels zur schlagwortartigen Redens¬ 
art über halkyonische Tage heranzieht, im Altertum der Vogel auch als Symbol 
des Schmerzerduldens und des Klagens Verwendung fand. Lukianos legt 
in seinem Dialog „Der Eisvogel“ dem Sokrates folgende Worte in den Mund: 
„Ich für meinen Teil, du melodische Dulderin Halkyone, werde die Geschichte 
deines zärtlichen Klagens meinen Kindern so überliefern, wie ich sie von meinen 
Voreltern empfangen habe.“ 


96 





auch Turnvater Jahn das Wort von den halkyonischen Tagen: er 
spricht in seinen „Denknissen“ von „Eisvogeltagen, wo der Geist 
in ruhiger Pflege der Zeit sich am Leben erwärmt“.) 

Im Französischen findet man nur selten, heute fast gar nicht 
den Ausdruck les jours alcyoniens; in anderer Zusammenstellung 
war das Eigenschaftswort halkyonisch in Frankreich kaum gebraucht 
worden. Hingegen wird im Englischen halcyone auch allein im 
Sinne von still, ruhig verwendet; der Gebrauch geht wohl auf 
Chaucer zurück, der die Ehegeschichte von Halkyone und Keyx 
dem Ovid nacherzählt. In Shakespeares Heinrich VI. wird Saint 
Martin’s summer und halcyon days als gleichbedeutend verwendet: 
„Erwartet Martins-Sommer, Halkyon-Tage, nun ich in diese Kriege 
mich begebe“, sagt dort die Jungfrau dem Dauphin. 

Bei keinem Autor war das Schlagwort von den halkyonischen 
Tagen so bevorzugt wie bei Friedrich Nietzsche, dem Lärmmeider, 
dessen Gedanken in der Windstille reiften, der sich am besten in 
des Engadins erhabener Luft fühlte. Was „wir Halkyonier“, 
schreibt Nietzsche in der ,, Fröhlichen Wissenschaft‘‘, , ,bei Wagnern 
vermissen: la gaya scienza“. Von halkyonischer Selbstgenügsamkeit 
spricht Nietzsche, von halkyonischem Lächeln, vom halkyonischen 
Himmel Nizzas, vom halkyonischen Element, aus dem Zarathustra 
geboren ist. Das erhabene Idyll von dem in klarer Winterluft 
brütenden Vogel, um dessen willen die Meere in Ehrfurcht still 
daliegen, hat auch auf den Dichter Otto Erich Hartleben tiefen 
Eindruck gemacht. Ein 1904 erschienener Gedichtband Otto Erichs 
führt den Titel „Der Halkyonier“ und enthält auch ein Gedicht 
„Halkyonische Tage“, — „das sind die Tage dann, da Menschen 
auf der Erde dastehen mit frischem Trost und stolzer Gebärde . . .“ 
Auch seiner Villa am Gardasee gab der Dichter den Namen Halkyone. 

In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Schlagwort von den 
halkyonischen Tagen aus dem Schrifttum fast ganz verschwunden. 
Für Windstille hat unsere Zeit nicht mehr viel übrig. Nur in der 
Himmelskunde bewahrt noch der Namen des Sternes Alkyone, des 
hellsten der Pleiaden, das Andenken an die treue Gattin der Sage. 

ELEMENT 

In der Naturphilosophie des Altertums galten — wie bei Empedokles 
zuerst angeführt — Feuer, Wasser, Luft und Erde als die vier Grund¬ 
stoffe. Die Griechen nannten sie stoicheia. Bei Lucretius taucht das 


4 Storfer 


97 




Wort elementa auf, das dann, von Cicero übernommen, allgemein 
wurde. Man liest oft die Erklärung (u. a. von Heindorf vertreten), 
elementum sei zu deuten als 1-m-n-tum; 1, m, n bilden im alten 
lateinischen Alphabet mit zwanzig Buchstaben den Anfang der 
zweiten Reihe, und mit diesen Buchstaben soll der Unterricht be¬ 
gonnen haben. An dieser Ableitung aus 1 -m-n hält das Klugesche 
Wörterbuch auch in seiner neuesten Auflage fest. Dieser Etymologie 
des Wortes hat W. Schulze in der Berliner Akademie 1904 mit 
Recht entgegengehalten, daß die Namen der genannten drei Buch¬ 
staben bei den Römern gar nicht el, em, en gelautet haben. Eine 
andere Erklärung, die von Trendelenburg und Vossius, sieht in 
elementum eine Verderbung von alimentum (Nährmittel, daraus 
heute Alimente); Element wäre also etwas, woraus ein anderes 
genährt wird, erwächst. Auch diese durchaus willkürliche Deutung 
muß neben der von Diels gegebenen zurücktreten. Elementum, 
führt Diels aus, ist keine lateinische Bildung, sondern wurde auch 
in der klassischen Zeit als gelehrtes Fremdwort empfunden. Wie 
man aus den Schriften des Kirchenvaters Hieronymus weiß, gab man 
in Rom den Kindern, um durch das Spiel das Lesenlernen zu fördern, 
Spielbuchstaben in die Hand. Diese waren aus Elfenbein. Der Elefant 
hieß griechisch elephas (ein Wort, das aus irgendeiner barbarischen 
Sprache ins Griechische gelangt war). Die Elfenbeinbuchstaben 
werden elepanta geheißen haben, woraus dann wohl über elepenta 
elementa wurde. Der Vergleich des naturphilosophischen Begriffs 
der Elemente für die Urbestandteile, aus denen alle Dinge zu¬ 
sammengesetzt sind, mit den Buchstaben, aus denen sich jedes ge¬ 
schriebene Wort zusammenfügt, ist naheliegend. Übrigens bedeutet 
auch das ältere griechische Wort für die Grundstoffe, stoicheia, 
etwas wie Buchstaben, nämlich genau: der Reihe nach Aufgestelltes. 
Chr. Rogge, der den Hinweis von Diels auf die Buchstaben aus 
Elefantenbein gutheißt, fügt noch hinzu, daß bei der Entstehung des 
Wortes elementum aus elephas auch die Angleichung an das Wort 
rudimen tum (Unterricht, erster Versuch, Anfangsgrund, Ansatz) 
mitgespielt haben dürfte. Daß Quintillan die Wörter elementa und 
rudimenta ziemlich gleichbedeutend verwendete, soll diese An¬ 
nahme stützen. 

Sprachreinigem ist das Fremdwort Element (Eduard Engel: 
„schwammiges Allerweltswort“) ein Dom im Auge, ohne daß es 
ihnen bisher gelungen wäre, ein geeignetes Ersatzwort durchzu- 


98 






drücken; die Naturwissenschaften könnten Element und seine 
Weiterbildungen wie elementar usw. nur schwer entbehren. In 
geschickter Weise hat sich die ungarische Sprache das Fremdwort 
einverleibt: elem = Element, elemi = elementar, elemez = in Ele¬ 
mente zerlegen, klingt urungarisch. 

Die Redensart in seinem Elemente sein, hat sich ursprüng¬ 
lich wohl auf den Fisch (,,im Wasser“) bezogen. Eine Weiter¬ 
entwicklung dieser Redensart liegt vermutlich vor, wenn Element 
im Schwäbischen gelegentlich mit der Bedeutung ,,Lieblingsspeise“ 
gebraucht wird: ,,Weib, heut hast mei Element g’kocht“ (oder 
diesmal doch von lateinisch alimentum = Speise ?). 

ENTE, SEESCHLANGE, GRUBENHUND, TATAREN- 
NACHRICHT, LATRINENPAROLE 

Schon bei Luther kommt die Redensart von ,,blaw Enten pre¬ 
digen“ vor (,,blau“ bedeutet hier märchenhaft, imaginär, wie in: 
blaue Blume, blauer Dunst), auch bei seinem Widersacher Thomas 
Murner ist (in der Narrenbeschwörung, 1^22) zu lesen, ,,es sein 
alsam nur blaw Enten, das die Pfaffen hon erdacht“, und ihr Zeit¬ 
genosse Paracelsus spricht von ,,blaw enten arbeit“. Luther spricht 
außerdem von heiligen Lügenden, später kommen Lug-Enten auch 
bei Fischart und in Christian Reuters Schelmuffsky (1696) vor. 
Der engere Sinn ,,falsche Zeitungsnachricht“ entsteht erst um die 
Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihren Erfrischungsraum im deutschen 
Reichstagsgebäude nannten die Parlamentsberichterstatter der Vor¬ 
kriegszeit in scherzhafter Selbstbezichtigung Ententeich. 

Die Erklärungen dafür, warum eine falsche Zeitungsnachricht 
,,Ente“ genannt wird, lassen sich in drei Gruppen ordnen. Die 
einen gehen vom Wortlaut ,,Ente“ aus, die anderen wollen in 
Anekdoten von bestimmten lügenhaften Erzählungen über 
Enten des Ausdrucks Herkunft finden, und die Erklärungen der 
dritten Gruppe haben es auf gewisse Eigenschaften dieses 
Vogels abgesehen. 

Zu den Deutungen der ersten Gruppe gehört vor allem jene, die 
Ente von Legende ableitet. Sie verkennt, daß das Luthersche Wort 
Lügende ein Kalauer ist, wie er dem Geschmack seiner Zeit ent¬ 
sprach, und sieht im Wortspiel eine wirkliche Etymologie. Nach 
einer anderen, jüngeren Erklärung kommt Ente von En-Te, d. h. 


1 




N. T. = Neues Telegramm. Diese beiden Erklärungen sind schon 
darum hinfällig, weil der ganz anders lautende französische Namen 
des Vogels, canard, unabhängig vom deutschen Wortlaut (d. h. ohne 
etwa eine sogenannte Lehnübersetzung zu sein) ebenfalls die Neben¬ 
bedeutung lügenhafte Erzählung hat. (Zu bemerken ist, daß das 
Französische außer dem Ausdruck canard = Ente, lügenhafte Nach¬ 
richt, noch verschiedene Redensarten mit canard hat: donner des 
canards = Lügen zum besten geben ist eine alte Wendung, ebenso 
bailleur des canards = Aufschneider. Vendre ä quelqu’un un 
canard, jemand eine Ente verkaufen, bedeutet seit dem 17. Jahr¬ 
hundert täuschen, übervorteilen; zur vollständigen Redensart soll 
noch dazu gehört haben: . . . ä moitie, d. h. jemand eine halbe 
Ente verkaufen — und sie für eine ganze ausgeben. Auch einen 
falschen Ton in einer musikalischen Aufführung bezeichnet der 
Franzose als canard.) 

Viel Anklang finden in etymologischen Schriften Anekdoten von 
lügenhaften Erzählungen über Enten, die den Anlaß zu der Sonder¬ 
bedeutung von ,,canard“ und „Ente“ geliefert haben sollen. So 
findet man oft als Ursache einen aus dem Jahre 1804 datierten 
phantastischen Bericht des Brüsselers Egyde Robert Comelissen 
über die Gefräßigkeit der Enten angegeben. Er berichtete, daß 
einmal von zwanzig Enten eine samt Federn und Knochen zerhackt 
den neunzehn anderen vorgesetzt worden sei; die neunzehn hätten 
alles gefräßig vertilgt, dann wurde sofort eine der neunzehn zer¬ 
hackt und von den anderen achtzehn verzehrt usw.; binnen kurzem 
blieb schließlich eine allein am Leben, und diese hatte demnach 
nun Fleisch und Blut und Knochen und Federn aller anderen neun¬ 
zehn im Leibe. Diese Aufschneiderei war angeblich als Persiflage 
der prahlerischen Siegesbulletins Napoleons gedacht. (Verdrehte 
man doch damals den Namen des Pariser Amtsblattes „Moniteur“ 
zu „Menteur“, Lügner, und sagte, il ment comme le Moniteur, 
er lügt wie der Moniteur.) Jedenfalls kann aber das Comelissensche 
Geflunker nicht die Quelle der Gleichung Ente = falsche Nachricht 
sein, denn diese ist viel älter. Ein lügenhafter Bericht über Enten 
liegt schon aus dem Jahre 1550 vor, das Kräuterbuch des Adam 
Lonicer, das von einem wunderbaren Baum in Schottland erzählt, 
auf dem Enten wachsen. In alten Schilderungen Grönlands soll von 
Enten die Rede sein, die aus Muscheln zur Welt kommen. Auch 
holländische Seefahrer sollen im 16. Jahrhundert berichtet haben, 


roo 











auf offenem Meere mit Muscheln besetzte Holzstämme schwimmen 
gesehen zu haben, aus denen junge Enten entstanden. Eine andere 
alte Fabel weiß von Enten zu erzählen, die von Bäumen am Ufer 
ihre Eier ins Meer fallen lassen, wo dann die Küken zur Welt 
kommen. Ein 1700 zu Würzburg erschienenes naturwissenschaft¬ 
liches Werk des Jesuiten Ignaz Zink gibt den Bericht des Jesuiten 
Schott wieder, daß in Schottland, auf den Hebriden und in einigen 
Gegenden Indiens an den Bäumen Enten wachsen, die, wenn sie 
ausgereift sind, abfallen und davonfliegen. In Paris kursierte um 
1780 herum im Kreise der Enzyklopädisten die Anekdote von einem 
Akademiker, der in einer Sitzung über naturwissenschaftliche Ver¬ 
suche berichtete, die er auf seinem Landgute angeblich vorgenom¬ 
men hatte. Er habe einem halben Dutzend Enten die Köpfe ab¬ 
geschlagen und sie sofort wieder aufs Wasser gesetzt, worauf sie 
noch eine Zeitlang auch ohne Kopf herumschwammen. Aber, warf 
Condorcet, der ständige Sekretär der Akademie, dazwischen, konn¬ 
ten denn die kopflosen Enten die Beine bewegen? — Ja, das konnten 
sie. — Also, da konnten sie doch unterschreiben . . . Diese politische 
Anspielung Condorcets wurde dann mit viel Behagen herumerzählt. 

Ein 1776 in Paris erschienenes Industrielexikon beschreibt ein 
Verfahren, wilde Enten zu fangen. Eine in einem Abführmittel ge¬ 
kochte Eichel wird an einem dünnen, starken Faden befestigt und 
ins Wasser geworfen. Eine gefräßige Ente schluckt bald die Eichel, 
die aber hinten rasch wieder zum Vorschein kommt; dann schnappt 
eine zweite Ente die Eichel usw. Ein Mann in der Nähe von Gue 
de Chaussee, weiß das Lexikon zu berichten, habe bereits zwanzig 
schwimmende Enten auf diese Weise auf seine Schnur bekommen, 
als die Enten plötzlich aufflogen; sie rissen den Mann mit sich in 
die Höhe, der Faden riß schließlich, und der erfolgreiche Vogel¬ 
fänger brach sich das Bein. Diese Entengeschichte hat Bürger 1786 
seiner Verdeutschung von Rasps englischem Münchhausenbuch ein¬ 
gefügt. Aber auch jenes Pariser Industrielexikon von 1776 hat die 
famose Jagdgeschichte nicht selbst in die Welt gesetzt. Schon von 
Eulenspiegel erzählte man sich Ähnliches, allerdings sind es bei ihm 
Hühner, die sich an der Schnur aneinanderreihen; im 15-79 er¬ 
schienenen französischen Schwankbuch von Philippe d’Alcripe sind 
es wieder Kraniche, indes im 167^ zu Düsseldorf erschienenen 
Abenteurerroman ,,Der verkehrte und wiederbekehrte Soldat Adrian 
Wurmfeld von Orsoy 4 4 Enten die Opfer des Tricks sind. Jedenfalls 


101 



war g e g en Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit von Bürgers Münch¬ 
hausen, die Vorstellung von den Enten, die den geschluckten Köder 
von sich geben, so daß der Faden mit dem Speckstück hinten wieder 
geschnappt werden kann, schon ganz geläufig. Aus dieser Zeit kennen 
wir auch ein deutsches Pamphlet gegen die spekulative Philosophie, 
dessen Titelkupfer diese Aneinanderfädelung darstellt und folgende 
Unterschrift aufweist: „Speck-cul-anten“ (cul ist französisch zu ver¬ 
stehen, anten = mundartlich Enten). 

Jene, die in einer dieser Fabeleien über Enten die Erklärung des 
Ausdruckes suchen, neigen mitunter auch zur Annahme, daß irgendwo 
auch eine assoziative Verbindung zwischen der Vorstellung der 
weiterwandemden Nahrung in der Entenjagdfabel und jener der 
von einer Zeitung in die andere gelangenden falschen Nachricht 
besteht. 

In die dritte Gruppe gehören jene Erklärungen, die von Eigen¬ 
schaften der Ente selbst ausgehen. Her gehört vor allem die 
Meinung Grimms, der Ausdruck beziehe sich auf entenartig „gleich¬ 
sam fortschwimmende, wieder auftauchende' 4 Fabeln und Ge¬ 
schichten. Diese Erklärung kann nicht ganz befriedigen, obwohl zu 
bemerken ist, daß in einem anderen Falle die Fortbewegungsart 
der Ente auf dem Wasser wirklich die Grundlage zu einer metaphori¬ 
schen sprachlichen Bezeichnung abgibt: das bekannte Kinderspiel, 
einen flachen Stein in so kleinem Winkel zu werfen, daß er in mög¬ 
lichst vielen Sprüngen über die Oberfläche des Wassers hüpft (und 
das in verschiedenen Gegenden des deutschen Sprachgebietes unter 
den Namen Butterbemmche schmieren, Froschhüpferles machen, 
Steinschnalzen lassen, Wellehupser, Spätzli machen, Schiffle 
schmeißen, die liebe Frau lösen, die Braut über See jagen, jung- 
ferlen, plattein usw. bekannt ist), nennt man französisch faire des 
ricochets oder faire un canard (eine Ente machen), englisch ducks 
and drakes (Enten und Enteriche), ungarisch kacsäzni (enteln). Die 
deutschen Bezeichnungen dieses Kinderspieles ziehen zwar nicht die 
Ente heran, aber andere deutsche metaphorische Wendungen haben 
die Fortbewegungsart der Ente vor Augen: man watschelt wie eine 
Ente, man geht wie eine lahme Ente 1 ; in Oberbayem bezeichnet 

i) „Lahme Enten“ ist in Amerika ein politischer Fachausdruck für den 
nach der Wahl des neuen eine Zeitlang noch tagenden (doch in seinen Ent¬ 
schlüssen moralisch gelähmten) alten Kongreß; lames ducks bedeutet außer¬ 
dem im englischen Börsenjargon auch Spekulanten, die kaufen, was sie nicht 


102 










man die beweglichen Wellen eines Sees mit „anteln“. Noch vor 
Grimm hatte Gutzkow die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen 
der Fortbewegungsart der Zeitungsente und jener des Schwimm¬ 
vogels gedacht: 1842 schreibt er in seinen ,,Briefen aus Paris 44 
von Enten als ,,jenen kleinen Novitätenartikeln, die aus einem 
Journal in das andere springen 4 4 . Das Unter- und Wiederauftauchen 
der Ente hatte übrigens auch Goethe einmal in einem Gespräch 
mit Eckermann zu einem Gleichnis veranlaßt, nicht über Zeitungs¬ 
lügen allerdings, sondern über das Fortleben des römischen Rechts, 
,,das gleich einer untertauchenden Ente sich zwar von Zeit zu Zeit 
verbirgt, aber nie ganz verlorengeht und immer einmal wieder 
lebendig hervortritt 44 . Das Untertauchen der Ente wird jedenfalls 
als besonderes Merkmal empfunden, und die englische Bezeichnung 
für diesen Vogel, das Hauptwort duck (niederdeutsch Dücker) ist 
mit dem Zeitwort duck = ducken, tauchen eng verwandt. 

Plausibler als der Hinweis von Gutzkow und Grimm auf die 
Fortbewegungsart ist die Hypothese, daß eine andere Eigen¬ 
schaft der Ente, ihre Stimme, ihr lautes, unruhiges, dem mensch¬ 
lichen Ohr besonders unsinnig erscheinendes Geschnatter den 
Anlaß zum Ausdruck Ente = falsche, unvernünftige Zeitungsnach¬ 
richt gegeben habe. Die Sprache liebt es, albernes Gerede der 
Menschen mit Ausdrücken zu belegen, die auf die lautmalerische 
Bezeichnung von Tierlauten, der Stimme der Frösche, Enten, Gänse, 
zurückführen, wie quacken (Quacksalber), quatschen, schnattern. 

Es darf vermutet werden, daß die Sonderbedeutung falsche Nach¬ 
richt sich zuerst in Frankreich an den Namen des Vogels geknüpft 
hat. Dafür spricht vor allem die Bedeutungsentwicklung, die das 
lautmalerische Wort cancan — so hört und so bezeichnet der 
Franzose das Schnattern der Ente, übrigens auch das Geschrei des 
Papageis — im Französischen genommen hat. Das Wort cancan 
wurde nicht nur gegen Mitte des 19. Jahrhunderts der Namen eines 
wilden und lärmenden Modetanzes, sondern hat schon vorher auch 
eine journalistische Sonderbedeutung bekommen. Die ,,Can- * 
cans 44 , boshafte liederartige Verse mit allerlei Formen der Ironie 
in Prosa mischende Blätter, spielten, wie Prof, d’Ester in der Zeit¬ 
schrift „Zeitungswissenschaft 44 (1933) ausführt, im politischen und 

bezahlen, oder verkaufen, was sie nicht liefern können. Auch in deutschen 
Redensarten ist oft von lahmen Enten die Rede, z. B.: porzelt hinnerschich und 
vörderschich (nach hinten und nach vorne) wie e lahm’ Ent (frankfurterisch). 


103 





literarischen Leben Frankreichs zur Zeit des Bürgerkönigtums eine 
gewisse Rolle. Der andere, letzten Endes ebenfalls auf das Enten¬ 
geschnatter zurückgehende journalistische Sonderausdruck canard 
= Fabelei, falsche Nachricht hat sich allerdings als dauerlebiger er¬ 
wiesen, und auch die Auswirkung über das Französische hinaus 
blieb ihm nicht versagt. Wir dürfen annehmen, daß der Ausdruck 
Ente im Sinne von Zeitungsente im Deutschen eine erst im 19. Jahr¬ 
hundert, bei der hohen Entwicklung der Tagespresse, unabhängig 
von den älteren Lug-Enten und blauen Enten wirksam gewordene 
Lehnübersetzung aus dem Französischen darstellt. 

Eine besonders glückliche Zeitungsente war jene, die die See¬ 
schlange ausgebrütet hatte und dadurch ein edleres Geschlecht 
begründete. Seeschlange ist der klassische Fachausdruck für eine 
phantastische Zeitungsnachricht. Wohl ist schon beim Propheten 
Ezechiel eine Seeschlange angedeutet, und seit dem 16. Jahrhundert 
taucht in Schilderungen phantasiereicher Seefahrer öfters so ein 
Ungeheuer auf. Dem französischen Journalisten Leon Gozlan blieb 
es aber Vorbehalten, ein Exemplar in den Dienst der Tagespresse 
zu stellen. 1830 berichtete er im ,,Constitutionei“ von der Sichtung 
einer Seeschlange, und wenn es ihm später an sensationellem Stoff 
mangelte, erhob dieses gefällige Reptil sein ungeheuerliches Haupt 
neuerlich aus den Wogen. Von Zeit zu Zeit bestätigten dann auch 
andere Zeitungen die Existenz des Seewunders. Von den natur¬ 
geschichtlichen Eigenschaften der Seeschlange war jedenfalls die 
bemerkenswerteste jene, daß sie — offenbar aus Dankbarkeit für 
die gute Presse — sich mit Vorliebe im Hochsommer, in der so¬ 
genannten Sauregurkenzeit, sehen ließ. Als Gustav Freytag seine 
,,Journalisten“ zuerst aufführen ließ (185-4), gebrauchte er schon 
die Seeschlange als feststehenden Begriff: ,,Als wir dir die Ehre 
erwiesen, dich mit der Verfertigung der Nippessachen für das Blatt 
zu betrauen, da war die Meinung nicht, daß du die ewige große 
Seeschlange durch die Spalten unserer Zeitung wälzen solltest.“ 
(Ordnungshalber sei übrigens vermerkt, daß die Berichte über das 
lange Seeungeheuer mit Schlangenleib und schnaubendem Drachen¬ 
kopf von der Wissenschaft nicht einhellig in das Reich der Fabeln 
verwiesen werden. Der holländische Zoologe Prof. A. C. Oudemans 
hat in einem dickleibigen Buch 160 Berichte über Seeschlangen 
aus der Zeit von 15-00 bis 1900 sorgfältig wiedergegeben. Und was 
die Schiffskapitäne seit 1900 über ihre Visionen zu Protokoll ge- 


104 






geben haben, hat C. R. Haines 1931 in der Londoner ,,Quarterly 
Review“ gläubig zusammengetragen. Im Jahre 1933 hat das Un¬ 
geheuer von Loch Ness in Schottland das ,,Problem“ wieder einmal 
aufs Tapet gebracht.) 

Die journalistische Menagerie wäre hier unvollständig, erwähnten 
wir nicht neben dem Vogel Ente und dem Amphibium Seeschlange 
auch ein Säugetier, den Grubenhund. Im Bergbau ist Hund oder 
Hunt, auch Grubenhund, der Namen eines kleinen Förderwagens. 
Im November 1911, einige Tage nach einem Erdbeben im Mährisch- 
Ostrauer Kohlenrevier, veröffentlichte eine Wiener Tageszeitung 
eine Zuschrift aus dem Leserkreise, in der es neben vielem anderen 
Unsinn hieß, daß der im Laboratorium schlafende Grubenhund 
schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen 
größter Unruhe gab. Seither heißen solche von Ungereimtheiten 
strotzende Veröffentlichungen, mit denen eine Zeitung einem satiri¬ 
schen Einsender aufsitzt, Grubenhunde. Der Einsender in jenem 
klassischen Falle und in unzähligen späteren war der Wiener 
Ingenieur Artur Schütz. Von Karl Kraus’ genialer Zeitkritik beein¬ 
flußt, hatte es Schütz bei seinen vielen köstlichen Grubenhunden 
nicht etwa auf einen einfachen Aufsitzer, einen Jux, abgesehen, 
vielmehr ist für ihn ,,der Grubenhund das Symbol der Verulkung 
vorgetäuschten Universal Wissens, der Protest gegen die angemaßte 
Autorität der Druckerschwärze“. 

Aufsehen und Unruhe erregende falsche Zeitungsnachrichten 
nennt man Tatarennachrichten. Heute wird dieser Ausdruck 
nur mehr selten gebraucht, und ist dies der Fall, so empfindet man 
darin eine Anspielung auf die einstigen Tatareninvasionen in Europa 
und versteht darunter durch Übertreibung alarmierende Nach¬ 
richten. Aber der Ausdruck ist noch gar nicht so alt und geht auf 
einen konkreten Vorfall zurück. Im Oktober 18^4 nahm von Wien 
aus ein Telegramm den Weg durch die Weltpresse des Inhalts, die 
Verbündeten hätten das schon lange belagerte Sebastopol nun end¬ 
lich eingenommen. ,,Diese Nachricht“ — hieß es im Telegramm — 
,,brachte ein Tatar an Omer Pascha nach Bukarest.“ (Man muß 
dazu wissen, daß sowohl die Russen als auch die Türken ihre Eil¬ 
boten mit Vorliebe aus den an der Grenze angesiedelten Tataren¬ 
stämmen rekrutierten, so daß Tatar damals fast gleichbedeutend mit 
Eilbote war; auch die ausländischen Gesandten bei der Hohen Pforte 
hatten solche Tataren in ihren Diensten.) Unmittelbar nach der 




ersten Wiener ,,Tatarendepesche“ (von der später behauptet wurde, 
sie sei um eines Börsenmanövers willen in die Welt gesetzt worden) 
traf bei der ,,Augsburger Allgemeinen Zeitung“ ein weiteres Tele¬ 
gramm ein, das von einer ,,zweiten Tatarennachricht an Omer 
Pascha“ berichtete, von einer großen Anzahl russischer Gefangener, 
versenkten russischen Linienschiffen usw. In ganz Europa, besonders 
auf seinen Börsen, entstand große Aufregung, aber an den Nach¬ 
richten war nichts wahr, Sebastopol ergab sich erst elf Monate später. 
Seither nennt man phantastische Falschmeldungen, die in der Presse 
oder in den Wandelgängen der Börsen auftauchen, Tatarennach¬ 
richten. Gelegentlich gebraucht man auch den doppelgenähten Aus¬ 
druck Tatarenente. 

Die Zurückführung des Ausdrucks Tatarennachricht auf Presse¬ 
telegramme erinnert uns an das Gleichnis ,,er lügt wie telegra¬ 
phiert“. Es geht auf einen Ausspruch von Bismarck zurück, der 
am 13. Februar 1869 im preußischen Herrenhause über Mißbräuche 
durch die Verbreitung tendenziöser Nachrichten sprach. Er variierte 
damit das ältere lügen wie gedruckt (so z. B. bei Chamisso). 
Übrigens verzeichnet de la Mesangere schon 1821 in seinem Wörter¬ 
buch der französischen Sprichwörter mentir comme un joumaliste 
(lügen wie ein Journalist). In Frankreich waren besonders die Über¬ 
treibungen der amtlichen Schlachtberichte Napoleons noch in Er¬ 
innerung (mentir comme un bulletin; das Wortspiel mit dem Namen 
der amtlichen Zeitung, Moniteur-menteur haben wir schon er¬ 
wähnt). Auch in Spanien sagt man mentir mäs que el Gaceta (oder 
que el Gobierno). In der Rheinprovinz sagt man: he lügt wie ennen 
Börgermeister; in der Schweiz: wie eine Leichenrede (ich nekrolog, 
du nekrologst . . .). Ein Chevalier de Cailly machte über einen 
lügnerischen Advokaten ein Epigramm, in dem er versicherte, 
jener lüge plus ferre qu’une oraison funebre, ausgepichter als eine 
Trauerrede. Beliebt ist im Französischen auch mentir comme un 
arracheur de dents, lügen wie ein Zahnbrecher (auf Jahrmärkten, 
der verspricht, schmerzlos zu ziehen). Die Redensart lügen, daß 
sich die Balken biegen, erklärt sich nach Borchardt-Wust¬ 
mann ,,am einfachsten aus der Vorstellung, daß Lügen eine Last sei“. 
Er log ihr einen ganzen Lastwagen voll, heißt es im Simplicissimus. 
Bei Fischart lügt ein Schneidergeselle, ,,daß die Werkstatt kracht“, 
andere, ,,daß die Klöster brechen“. Beim Schweizer Reformations¬ 
dichter Niklaus Manuel ist zu lesen: ,,Sie stond am kanzel ietz und 

106 








liegend (lügen), daß sich ganze wend und bollwerk biegend.“ Die 
Siebenbürger Sachsen sagen: e lecht, dat sich de ierd bigt. In Ost¬ 
preußen heißt es: er lügt kleene Steener ut de Erd oder daß ihm 
die Nase schief steht. In Frankfurt: daß der Parrthorn (Pfarrturm) 
wackelt. 

Im Weltkrieg entstand der Sonderausdruck Greuelnachricht. 
Man bezeichnet damit nicht schlechthin Nachrichten über Greuel¬ 
taten, sondern — gleichsam abgekürzt — falsche Greuelnachrichten, 
Nachrichten über erlogene Greueltaten. Aus der Soldatensprache 
des Weltkrieges führen wir an: Latrinenparole, Hinterfront¬ 
befehl oder Kolonnenmärchen = unoffizielle, unverbürgte Nach¬ 
richt, Gerücht, Falschmeldung. In Offizierskreisen hieß es auch 
A. E. G. (= allgemeines Etappengeschwätz). Bei der Marine hieß 
das zweifelhafte Gerücht: Gallionszeitung. In der österreichischen 
Armee war der geläufigste Ausdruck für diesen Begriff: Fahr¬ 
küchenbefehl. In solche Bezeichnungen wie (Train-) Kolonnen¬ 
märchen, Fahrküchenbefehl war nicht nur eine gewisse Verächtlich¬ 
keit hineingelegt, man hatte andererseits in der vordersten Front 
wirklich die Erfahrung gemacht, daß ,,die dort hinten“ bei der 
Küche, beim Train von bevorstehenden Veränderungen, Kriegs¬ 
handlungen, Truppen Verschiebungen früher ,,Wind bekommen“. 
Aus der Soldatensprache der im Weltkrieg aufgebotenen und 
Grenzdienst versehenden Schweizer Armee erwähnen wir: Havas 
(Namen der amtlichen französischen Nachrichtenagentur) = Ge¬ 
rücht. 

Bezeichnenderweise hat auch bei den englischen Soldaten das 
zweifelhafte Gerücht als Latrinennachricht gegolten: latrine 
rumour. Brophy und Partridge in ihrem Buche über den Slang der 
britischen Soldaten bemerken dazu: ,,Solche Gerüchte wurden mit 
der Latrine assoziiert, denn diese Buden waren praktischerweise die 
einzigen Orte, an denen der gemeine Soldat verhältnismäßig sicher 
war vor seinen Vorgesetzten. Folglich verweilte er lange dort, las 
dort Zeitungen, schwatzte, übte Einbildungskraft und Leichtgläubig¬ 
keit.“ Weitere Synonyme des britischen Soldaten-Slangs sind: 
cookhouse rumour, ration-dump-yam, transport-tale. Wir sehen 
also im Englischen wie im Deutschen bei der verächtlichen Be¬ 
zeichnung der Gerüchte im Felde das Heranziehen von Küche, 
Bagagetrain, Latrine. Eine gegenseitige sprachliche Beeinflussung 
über den Stacheldraht kann wohl nicht vorausgesetzt werden, 


107 



vielmehr ist an analoge Bildungen bei mehr oder minder überein¬ 
stimmenden sachlichen und seelischen Voraussetzungen zu denken. 
Die leider noch ausstehende vergleichende Behandlung der ver¬ 
schiedenen Soldatensprachen wird derartige Analogien gewiß in 
nicht unerheblichem Ausmaße feststellen können. 

ERRUNGENSCHAFT 

Das Wort Errungenschaft taucht zuerst 1^82 im Landrecht der 
Kurfürstlichen Pfalz auf. Es dürfte in der pfälzischen Kanzlei ge¬ 
schaffen worden sein zur Verdeutschung eines mittellateinischen 
Rechtsausdruckes. Acquaestus (davon französisch acquet und eng¬ 
lisch acquest) oder genauer acquaestus conjugalis oder bona in 
matrimonio acquisita war die Bezeichnung für das in der Ehe von 
den Gatten aus eigener Kraft erworbene Vermögen im Gegensatz 
zur Erwerbung durch Mitgift, Erbschaft, Schenkung. Dabei ist zu 
beachten, daß das lateinische Zeitwort acquirere besonders ein 
mühevolles Erwerben bezeichnet. Im Jahre 1624 erscheint das Wort 
Errungenschaft zum ersten Male in einem Wörterbuch. Vor Schaf¬ 
fung dieses Wortes behalf sich die deutsche Rechtssprache mit Um¬ 
schreibungen. So heißt es in ,,Der Statt Wormbs Reformation“, 
1-5-42 : ,,was zwey ehelich gemechte durch ir beider geschicklichkeyt 
fleiz und arbeyt miteinander erobert und gewonen hatten es sei 
liegens oder farends.“ 

Bis zum 19. Jahrhundert gehört das Wort Errungenschaft nur 
der Rechtssprache an. 1814 finden wir es erstmalig, bei Görres, des 
juristischen Sinnes entledigt vor. Aber erst in der hochpolitischen 
Atmosphäre des Jahres achtundvierzig bemächtigt sich der all¬ 
gemeine Sprachgebrauch dieses bis dahin seltenen und ungewöhn¬ 
lichen Wortes und erhebt es zu einem mit positiven und negativen 
Gefühlswerten behafteten Schlagwort. Der geistige Verkehr von 
Stadt zu Stadt vollzog sich im Frühjahr 1848 sehr schnell, Gedanken¬ 
gänge zündeten geschwind vom Main an die Spree, von der Donau 
an den Rhein hinüber, und bei Schlagwörtem, die innerhalb weniger 
Tage und Wochen in allen Gauen des deutschen Sprachgebietes 
Wurzel faßten, läßt sich kaum mehr mit Gewißheit feststellen, wo 
jedes einzelnen Ausgangspunkt eigentlich war. Am wahrschein¬ 
lichsten ist es, wie R. F. Arnold erkannt hat, daß Wien der Ort 
war, wo das Schlagwort von den Märzerrungenschaften richtig 
flügge wurde. 


108 



Man sprach vorzugsweise von Errungenschaften in der Mehrzahl 
und meinte damit die den Regierungen abgetrotzten freiheitlichen 
Zugeständnisse. Friedrich Hebbel, der damals in Wien lebte, be¬ 
richtete in der ,,Augsburger Allgemeinen Zeitung“ vom i^. Marz 
über die Wiener Märztage. Am 13. März, nach dem Sturze Met¬ 
ternichs, verhieß Kaiser Ferdinand in einer Proklamation, die For¬ 
derungen der Bevölkerung zu erfüllen. „Das sind Errungenschaften“, 
schrieb Hebbel, „denen gegenüber sich jede Aufregung legen muß.“ 
In Berthold Auerbachs 1849 veröffentlichtem, aber bereits 1848 
geschriebenem „Tagebuch aus Wien“ ist zu lesen: „Es ist jammer¬ 
voll, daß solches noch bestehen kann, daß diese Komödie mit dem, 
was man hier weitbauschig ,die Errungenschaft 4 nennt, so umspringt 
wie früher mit latschigen Hausknechten und all den vermoderten 
Gelichtern. 4 4 Die Stelle, die sich auf die satirische Einstellung des 
Komödiendichters Nestroy zur revolutionären Bewegung bezieht, 
zeigt jedenfalls, daß der Schwabe Auerbach das „weitbauschige 44 
Schlagwort als neu und wienerisch empfand. Auch Robert Blum, 
der im Herbst in Wien hingerichtete Vertreter der Frankfurter 
Nationalversammlung, hatte in einer Rede von den „gesamten Er¬ 
rungenschaften unseres Daseins 44 gesprochen. 

Aber auch in Berlin sprach man bereits von Errungenschaften, 
Märzerrungenschaften, und wessen Herz nicht bei der Volks¬ 
bewegung war, legte in das Wort einen verächtlichen Sinn hinein. 
So schrieb z. B. Moltke, der spätere Generalfeldmarschall, ver¬ 
bittert an seine Frau: „Die meisten Offiziere gehen in Zivil, eine 
Errungenschaft der neueren Zeit. 44 Als im Herbst Wrangel in Berlin 
einmarschierte, kehrte man höhnend den Spieß um und sprach von 
Novembererrungenschaften. So hieß es in einer Rede Ludwig von 
Gerlachs im Dezember 1848: „Daß die goldene Zuverlässigkeit 
der preußischen Armee sich neu bewährt hat, das ist eine der 
inhaltsschwersten Novembererrungenschaften. 44 Mit bitterer Trauer 
sprach man dann auf der anderen Seite gelegentlich von März- 
verlorenschaften (Gutzkow). 

Wenn, wie wir sahen, gelegentlich auch versucht worden ist, 
das Wort Errungenschaft auch für die Ergebnisse der reaktionären 
Politik in Anspruch zu nehmen, seine revolutionäre Herkunft und 
Anrüchigkeit wurde zunächst nicht vergessen, und es ist bemerkens¬ 
wert, wie heftige Haßgefühle es noch Jahre später auslösen konnte. 
In der Sitzung der damals noch ganz jungen Kaiserlichen Akademie 


109 



der Wissenschaften in Wien vom 29. Mai 18^2 hielt ihr erster 
Präsident, der Orientalist Hammer-Purg stall, einen Vortrag 
über die Vielsprachigkeit, in dem er den Sprachenreichtum Öster¬ 
reichs rühmte und mit der zehnzüngigen Lilie der persischen 
Dichtung verglich. In dieser Akademierede findet sich ein affekt¬ 
voller Ausfall gegen das ,,ebenso sprachwidrige als lächerliche 
Wort Errungenschaft, welches eine Sprachmißgeburt staatsumwälzen¬ 
den Gelichters ist“. Daß das Wort nicht auf den Barrikaden oder an 
den aufgeregten Kaffeehaustischen des ,,tollen Jahres“ entstanden 
war, sondern mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, 
wußte Hammer-Purgstall offenbar nicht. 

Seit 1848 und der darauffolgenden Reaktionsperiode ist der 
politisch-tendenziöse Charakter des Wortes Errungenschaft allmäh¬ 
lich verblaßt. Man ist nicht überrascht, von Errungenschaften der 
Krebsforschung oder der Radiotechnik sprechen zu hören, und auch 
keine politische Partei, mag sie rechts stehen oder links oder wo 
immer, verschmäht heute Errungenschaften. 

Wenn auch das Bild des Wortes Errungenschaft sich vor den 
Augen Hammer-Purgstalls durch ,,der Parteien Haß und Gunst“ 
verwirrte, so muß immerhin zugegeben werden, daß das von ihm 
als ,,spachwidrig“ empfundene Wort eine ganz ungewöhnliche 
Bildung darstellt. Es hat zwar 

die Nachsilbe -Schaft 

(ihre Vorfahren sind das selbständige althochdeutsche Wort scaf 
= Beschaffenheit und mittelhochdeutsch ,,die Schaft“ = Geschöpf, 
Gestalt, Beschaffenheit) nichts Ungewöhnliches an sich, auffällig 
ist aber die Verbindung mit einem Partizip. Wir kennen Sammel¬ 
begriffe, wie Nachkommenschaft, Einwohnerschaft, Bürgerschaft, 
Studentenschaft, Burschenschaft, Dienerschaft, Mannschaft, Tumer- 
schaft, und verstehen darunter eine Gesamtheit von Nachkommen, 
Einwohnern, Bürgern usw. In anderen Fällen, wie Nachbarschaft, 
Kameradschaft, meinen wir sowohl eine Mehrzahl von Nachbarn, 
Kameraden als auch abstrakt die Beziehung zwischen den einzelnen 
Gliedern dieser Gesamtheiten. Der Zustand des Feind-, Knecht-, 
Bereitseins ist Feindschaft, Knechtschaft, Bereitschaft. 

Daneben finden wir in großer Anzahl auch andere Bildungen, 
die sich in keine dieser Gruppen einordnen lassen und anders auf¬ 
zufassen sind, wie Landschaft, Grafschaft, Ortschaft, Liegenschaft, 


110 


Erbschaft, Botschaft, Gesandtschaft, Gewerkschaft, Kundschaft 1 , 
Eigenschaft, Leidenschaft, Wissenschaft, Rechenschaft, Wirtschaft, 
Anwartschaft, Liebschaft, Bürgschaft 2 . 

In keinem dieser Beispiele aber ist die Silbe -schaft dem Partizip 
eines Zeitwortes angehängt. Würden wir angesichts von Errungen¬ 
schaft = das, was errungen worden ist, dem auf dem Gebiete des 
Wortbildungswesens stets gegenwärtigen Drang nach Analogie¬ 
suchen nachgeben, so suchten wir doch vergeblich auf dem Fund¬ 
amt die Gefundenschaft (das, was gefunden worden ist), in den 
Archiven die Geschriebenschaft, in den Mühlen die Gemahlen¬ 
schaft usw. Zwei Beispiele, die übrigens untereinander gleich¬ 
bedeutend sind, vermag die deutsche Sprache immerhin noch zu 
bieten: Verlassenschaft und Hinterlassenschaft ist das, was 
der Verstorbene verlassen, hinterlassen hat. (Bemerkenswerterweise 
stellen diese beiden Wörter vermögensrechtliche Begriffe dar, zu 
denen ja auch Errungenschaft in der ältesten Bedeutung gehörte 3 ). 
Auch bei den beiden Beispielen Verlassenschaft und Hinterlassen¬ 
schaft muß man sich jedoch auf den Ein wand gefaßt machen, es stehe 
gar nicht fest, daß in diesen Wörtern, wie bei Errungenschaft, das 


1) Manche der mit -schaft gebildeten Hauptwörter ertragen noch eine 
Weiterbildung durch andere Nachsilben. So gelangen wir durch eine zweite 
Nachsilbe -er zu den Hauptwörtern Kundschafter, Botschafter, Wirtschafter, 
durch -lieh zu den Eigenschaftswörtern freundschaftlich, genossenschaftlich, 
landschaftlich, herrschaftlich, leidenschaftlich, wissenschaftlich, wirtschaftlich. 
Die drei letztgenannten Eigenschaftswörter lassen sich durch eine weitere 
Endsilbe -keit wieder zu Hauptwörtern verwandeln: Leidenschaftlichkeit, 
Wissenschaftlichkeit, Wirtschaftlichkeit — Wörter, bei denen das quantitative 
Mißverhältnis zwischen dem eigentlichen Wortkörper und den drei Suffixen 
schon auffällig wird. Zu Zeitwörtern lassen sich Hauptwörter auf -schaft, wie 
es scheint, nur in zwei Fällen umbilden: kundschaften und wirtschaften. 

2 ) Im Falle des Wortes Petschaft liegt nicht das Suffix -schaft vor, nur eine 
lautliche Angleichung. Petschaft kommt von tschechisch peöet = Siegel. Durch 
Vermittlung der Prager Kanzlei wurde das Wort im 14. Jahrhundert zunächst 
als petschat ins Mittelhochdeutsche entlehnt. 

3) Hier wäre auch das bereits ausgestorbene Wort Verfangenschaft an¬ 
zuführen, das ebenfalls vorzugsweise im erbrechtlichen Sinne gebraucht worden 
ist. In der älteren schwäbischen Amtssprache bedeutete Verfangenschaft: 
Einengung, besonders in vermögensrechtlichem Sinne, das Verfangensein, 
die Herausnahme aus dem freien Verfügungsrecht. Zu den rechtlichen Fach¬ 
ausdrücken zählen auch die ebenfalls veralteten Hauptwörter Lehenschaft 
= das Recht der Lehnsherren an dem verliehenen Gut, bzw. das verliehene Gut 
selbst, und Währschaft = Besitzübertragung, Garantieleistung. 


I 1 1 




Partizip vorliegt, rein formal könne man in Verlassen- und Hinter¬ 
lassen- auch den Infinitiv sehen. Bei Verwandtschaft andererseits 
mag strittig sein, ob das eigentliche Partizip vorliegt oder das zum 
Hauptwort erhobene. Zudem wäre auch im ersten Falle die Analogie 
zu Erungenschaft erst dann vollständig, wenn Verwandtschaft etwas 
bezeichnete, was verwandt (verwendet) worden ist. Als Analogon 
zu Errungenschaft läßt sich also nur das schon erwähnte Verloren- 
schaft anführen, aber dieses Wort ist eben bewußt, gleichsam wort¬ 
spielartig, der Errungenschaft als Gelegenheitsprägung nachgebildet. 
Dasselbe gilt vom Worte Versprochenschaft, das Johannes Scherr 
sich gelegentlich erlaubte. 

ERZ 

in Erzader, Erzgebirge, Erzgehalt usw. einerseits und Erz in Erz¬ 
engel, Erzlump usw. andererseits sind sprachgeschichtlich nicht 
identisch und sind miteinander nicht im entferntesten verwandt. 

Erz in seiner mineralogischen Bedeutung kommt von althoch¬ 
deutsch aruz, eruzzi, das selbst dunkler Herkunft ist, vielleicht mit 
lateinisch aes, aeris zusammenhängt (oder mit aes rüde = rohes 
Metall), nach anderer Deutung aber auf die im Altertum als Waffen¬ 
fabriksort bekannte etruskische Stadt Arretium (jetzt Arezzo) 
weisen soll. Es wird auch die Möglichkeit einer vorgermanischen 
Form arud oder orud erwogen, die zu sumerisch urud = Kupfer 
in Beziehung gesetzt wird. 

Das andere Erz kommt vom griechischen archi = der Erste, 
Oberste, Führende, verwandt mit arche = Ursprung, Anfang, Herr¬ 
schaft, woraus unsere Fremdwörter archaisch, Archäologie, Archiv 
(letzteres verdeutschte die „Fruchtbringende Gesellschaft“ im 
17. Jahrhundert mit Erzschrein, daher Archivar: Erzschreinhalter). 
Archi ist als Vorsilbe enthalten in Wörtern wie Archangelos (Führer¬ 
engel, Erzengel), Archiepiskopos (Erzbischof), Archimandrit (Kloster¬ 
vorsteher), Architekt (Haupthandwerker), als Nachsilbe in Patriarch 
(Erzvater), Monarch usw. Unter dem Titel Archipoeta gedenken 
wir eines weinseligen Schwaben aus dem 12. Jahrhundert, des 
lateinischen Verherrlichers des Vagantenlebens, dessen richtiger 
Name nicht bekannt ist. Unsichtbar ist die Vorsilbe archi auch im 
deutschen Worte Arzt enthalten, denn dieses ist eine Verdichtung 
aus griechisch archi-iatros, Oberheilender. (Das griechische arche 
= Anfang, Herrschaft hat aber nichts mit Noahs „Arche“ zu tun; 


1 n 




dieses letztere Wort beruht auf der lateinischen Übersetzung der 
Bibel, der Vulgata; es ist das lateinische arca = Verschluß, das auch 
im Fremdwort arkanisch = geheim fortlebt; Luther schrieb noch 
,,Noahs Kasten“.) 

Die Vermittlung der griechischen Wurzel archi ins Deutsche 
besorgte vor allem das Kirchenlatein. Schon im Althochdeutschen 
wurde aus archi: erzi, z. B. in erzi-bischof. Andere moderne 
Sprachen haben das griechische archi ohne lautliche Umwandlung 
bewahrt, z. B. im Französischen archiduc (Erzherzog), archipretre 
(Erzpriester), daneben auch für moderne Begriffe: archicomble 
= vollständig besetzt, archimillionaire = mehrfacher Millionär, archi- 
pret = erzbereit. (Nous sommes archiprets, wir sind erzbereit, uns 
fehlt auch nicht ein Gamaschenknopf, soll der Kriegsminister 
Marschall Leboeuf 1870 bei Ausbruch des deutsch-französischen 
Krieges gesagt haben.) Auch das Englische verwendet die Vorsilbe 
arch gelegentlich in modernen Zusammensetzungen, wie arch-mock, 
Hauptspaß; arch-fool, Erznarr; arch-felon, Erzschurke 1 . 

Eine derartige Verwendung der Vorsilbe in Kraftausdrückenist 
besonders im Deutschen heimisch. Der Teufel hieß auch Erzrebell. 
Das 1839 in Arnstadt anonym erschienene Schimpfwörterbuch von 
Paußner zählt fast 100 Schelten auf, die mit Erz beginnen, wie z. B. 
Erzbube, Erzkujon, Erzheuchler, Erzmetze, Erzschafkopf, Erztölpel, 
Erzwucherer. In einem Gedicht von Robert Prutz heißt es: ,,So 
nehmet euch Erznarren doch, Erzbischöfe, Erzjesuiten, Erzgenies, 
Erzdemagogen, Erzhalunken, Erzpoltrons.“ Auch Eigenschafts¬ 
wörter gibt es, wie erzfaul, erzdumm, erzbigott, erzliberal, erz¬ 
grimmig. Thomas Mann bezeichnet die Kapitelüberschriften im 
Don Quichote als erzhumoristisch. 

Im römisch-deutschen Reich gab es Erzämter, und das waren 
nicht etwa Behörden für den Bergbau, sondern führende, hohe 
Ämter. Diese Erzämter wurden mit der Zeit erblich, so war der 
Herzog von Sachsen jeweilen der Erzmarschall, der Markgraf von 
Brandenburg der Erzkämmerer. Gewisse Kirchenfürsten führten den 

1) Daß die Vorsilbe vielfach zur Verstärkung negativ wertender Wörter ge¬ 
braucht wird, führte dazu, daß sich ein Hauptwort archness (also etwa ,,Erz- 
heit“) mit der Bedeutung Schalkheit, Mutwille entwickelt hat. Übrigens wurde 
im Englischen auch arch selbst als Hauptwort im Sinne von Haupt, Anführer 
verwendet (z. B. in Shakespeares Lear: the noble duke, my master, my worthy 
arch and patron comes to-night). 


11 3 




Titel Erzkanzler. Wenn man Bismarck den „eisernen Kanzler“ 
nannte, so klang das zwar an die alte Bezeichnung Erzkanzler an, 
dennoch ist in diesem alten Titel nicht das metallische Erz, sondern 
der Abkömmling des griechischen archi zu sehen. Die assoziative 
Verknüpfung zwischen den beiden etymologisch zu trennenden 
„Erz“ ist begreiflich schwer zu vermeiden. So schrieb z. B. der 
nationalsozialistische Gauleiter der Kurmark am 3. Dezember 1933 
in der Wochenschrift „Der märkische Adler“ über den 1921 er¬ 
mordeten Staatsmann Erzberger (dessen Namen zweifellos von Erz¬ 
berg, d. h. Erz enthaltender Berg, abzuleiten ist): „Scham erfüllt 
uns, daß sich Deutschland einmal von dieser Kreatur vertreten ließ, 
die Erzberger hieß, anstatt sich Erzlump nennen zu lassen, wie es 
ihm der Herrgott aufs Gesicht geschrieben hat.“ Daß die häufige 
Verwendung der Vorsilbe Erz- in Scheltwörtern ihr die Fähigkeit, 
auch freundlich zu wirken, doch nicht genommen hat, zeigt der 
Umstand, daß der österreichische Erzherzog Eugen, der nach dem 
Zusammenbruch des Habsburgerreiches mehr als ein Jahrzehnt in 
Basel lebte, dort die familiäre Bezeichnung ,,der Erzi“ bekam. 

FANATISCH 

Vom lateinischen ,,fas“, dem göttlichen Recht Entsprechendes 
(davon nefas, Unrecht) und fanum, heiliger Ort (hiervon auch 
profan, vor, d. h. außerhalb des Heiligtums befindlich, also un¬ 
heilig, gemein) kommt das lateinische Zeitwort fanari = von einer 
Gottheit begeistert rasen, daher in den meisten Kultursprachen die 
Begriffe Fanatiker = wütender Glaubensschwärmer, fanatisch, 
Fanatismus. Das Zeitwort fanatisieren kam in der französischen 
Revolution auf, als die Bauern der Vendee gegen die Republik 
aufgewiegelt wurden. 

Sprachreiniger wollen fanatisch durch schwärmerisch, begeistert, 
überspannt, in den meisten Fällen jedoch durch eifernd ersetzt 
wissen. Für das Hauptwort Fanatiker, findet Moszkowski, wäre 
Eiferer, wenn auch nicht ein vollwertiger, so doch ein in man¬ 
chen Fällen leidlich ausreichender Ersatz. Beim Eigenschaftswort 
fanatisch schaffe aber die Übersetzung eifernd bereits eine Begriffs¬ 
lücke: man könne eifern, ohne fanatisch zu sein. Im „Eifer“ sei 
nichts mehr zu spüren von der Verfolgungswut, die im Fanatismus 
steckt. Wie flau klingt, meint Moszkowski, „bis zum Eifer“ gegen 
das brennende „bis zum Fanatismus“; „bis zur Wut“ aber wäre 








nur eine Viertelsübersetzung, da drei Viertel des Begriffs Fanatismus 
in den Motiven, in der Überzeugung ruhe, während die Wut nur 
die Hitze ausdrückt, nicht aber den Grund der Hitze. 

FAUL, FAULPELZ, FAULENZEN 

Faul ist verwandt mit gotisch fuls, altindisch puj = verwesen, grie¬ 
chisch pythein, stinken lassen, lateinisch pus, Eiter, putidus, stin¬ 
kend; letztere führen zu einer reichen romanischen Wortsippe, 
z. B. französisch puer, stinken, putain, Dirne, putois, Iltis, pustule, 
Eiterbläschen; verwandt ist auch deutsch Pustel, nicht hingegen 
die lautnachahmende Wortfamilie ,,pusten, Puste“ (vgl. dazu auch 
das Stichwort „Pfuj“). Auch das deutsche ,,Pfütze 4 ‘ gehört nach 
Kluge nicht zu puj = verwesen, pythein = stinken, sondern kommt 

— ebenso wie italienisch pozzo und französisch puits = Brunnen 

— von lateinisch puteus = ausgestochener Brunnen (zu putare = 
schneiden, enthalten in „amputieren“). Nur als Scherz zu werten 
ist die Etymologie von Weber-Demokritos: „das Wort faul kommt 
vielleicht vom faulos der Griechen (schlecht, untauglich), und sein 
Gegensatz ist spudaios (wacker, tätig), woher vielleicht auch das 
deutsche Wort sich sputen kommt.“ 

Die ursprüngliche Bedeutung von „faul“ aus puj = verwesen 
gehört also gleichsam der organischen Chemie an, das Wort be¬ 
deutet das von bakterieller Zersetzung Ergriffensein organischer 
Stoffe. Wir sprechen von faulem Fleisch, faulen Fischen, faulen 
Eiern, faulem Obst, wobei wir auch Geschmack und Geruch der 
faulen Dinge als faul bezeichnen. 

Weitere Bedeutungen ergeben sich im Wege der Übertragung. 
Zunächst sei der Übertragung auf anorganische Stoffe gedacht. Ver¬ 
wittertes, morsches Gestein wird besonders in der bergmännischen 
Sprache als faul bezeichnet: faule Felsen, faule Gänge. Faulerde 
(oder Blätterkohle) ist der Namen einer Braunkohlenart. Besonders 
in der Schweiz wird der Ausdruck faul gebraucht von weichem 
Tonschiefer, der an der Luft bis in die dünnsten Blätter sich spaltet 
und endlich in Tonerde zerfällt. Auf dieser mineralogischen Be¬ 
deutung beruht der Namen des Faulhorns im Berner Oberland, 
das aus stark verwittertem Kalkstein der Juraformation besteht. 

Ein weiterer Übertragungsschritt führt zur Bedeutung: sich nicht 
von der Stelle bewegend, träge. Den Zusammenhang mit der ur¬ 
sprünglichen Bedeutung der Fäulnis belegt u. a. der verstärkte 



Ausdruck für Trägheit: stinkfaul. Aber faul im Sinne von träge 
wird nicht nur auf Menschen und Tiere angewendet. So wurden 
z. B. Geschütze, die wegen ihres großen Umfanges schwer beweg¬ 
lich waren, bzw. nur in großen Abständen ihre Geschosse schleudern 
konnten, als faul bezeichnet. Faule Mette hieß ein braunschweigi¬ 
sches Geschütz im Mittelalter, und besonders berühmt war die faule 
Grete des Burggrafen Friedrich von Brandenburg, mit der er 1414 
die Schlösser der aufständischen märkischen Edelleute bombardierte. 

Als Brücke für die Bedeutungsübertragung von ,,in Verwesung 
begriffen“ zu ,,träge, arbeitsscheu“ mochte die Vorstellung der 
stehenden und nur im geringen Maße der Erneuerung teilhaftig 
werdenden, daher Fäulnisvorgänge in ihrer Tier- und Pflanzenwelt 
begünstigenden Gewässer gedient haben, für die sowohl die Fäulnis 
im chemischen Sinne als die Faulheit (Unbeweglichkeit) im über¬ 
tragenen Sinne galt. Im Berner Oberland gibt es einen Faulen See, 
und das westliche Seitenbecken des Asowschen Meeres heißt Faules 
Meer (Gniloje More). 

Aus der Zoologie kennen wir Bezeichnungen wie Faultier, Faul¬ 
vögel. Besonders reich ist die Ausbeute auf dem Gebiete der volks¬ 
tümlichen Pflanzennamen. Der Name Faulbaum wird nicht nur für 
die Frangula gebraucht, sondern auch für die Ahlkirsche, die Alpen¬ 
heckenkirsche und die Eberesche; in allen diesen Fällen dürfte 
das leicht morschende Holz die Bedeutungsgrundlage bieten. Wir 
erwähnen ferner die zur Familie der Primulazeen gehörende Pflanze 
Anagallis arvensis, der man verschiedene Heilkräfte, besonders auch 
gegen Geisteskrankheiten, zuschreibt, und die man am häufigsten 
Gauchheil nennt (weil sie den Gauch, d. h. den Narren, heilt); 
diese Pflanze führt u. a. auch die volkstümlichen Namen: Fuli Lies 
(in Mecklenburg), Faule Minna (Anhalt), Fulenzchen, Fulelschen, 
Faule Magd (Thüringen), Fäuli Gredl (Österreich), und zwar 
darum, weil sie morgens erst spät ihre Blüten öffnet (aus dem 
gleichen Grunde heißt sie auch in der Schweiz Nüniblüemli oder 
Zehniblüemli, im Schwäbischen Neunerle). 

Eine zweite Übertragungsphase führt beim Worte faul auf das 
moralische Gebiet: von der Bedeutung ,,träge, arbeitsunwillig“ 
zu ,,unnütz, unlauter, falsch, übel“. Wir sprechen von faulen (ober¬ 
faulen) Geschäften, faulem Geschwätz, faulem Zauber, faulen Aus¬ 
reden (wofür bildlich und dabei auch in die organochemische 
Sphäre der ursprünglichen Bedeutung regredierend: faule Fische), 











wir trauen nicht dem faulen Frieden. In der Schweiz ist gebräuch¬ 
lich: fuler Schelm, fuler Chetzer. Ein Luzerner Sprichwort lautet: 
Je näher bi Rom, je füler der Christ. Sebastian Franks Ausspruch: 
„Der fäulsten Sau gehört alweg der größte Dreck“, ist sowohl 
wörtlich als ins Moralische übertragen aufzufassen. Scheinbar anti¬ 
moralisch klingt das schwäbische Sprichwort: faule Weiber machen 
einen reichen Mann — aber das soll eine witzige Paradoxie sein, 
und unter faulen Weibern sind nicht arbeitsscheue zu verstehen, 
sondern verwesende, d. h. verstorbene, die von den Ehemännern 
beerbt werden. Beachtenswert ist auch der Ausdruck „fauler 
Strick“ für einen faulen Menschen. Wie durch die allgäuische 
Redensart, „erläßt nach wie ein fauler Strick“ belegbar, ist „fauler 
Strick“ ursprünglich wirklich ein Strick und kein Mensch. (Vgl. 
auch Galgenstrick unter dem Stichwort Galgen.) 

Weder die Engländer noch die Franzosen kennen gemeinsame 
Ausdrücke für faul im Sinne von verfault, verdorben und faul als 
Gegensatz von fleißig. Sie gebrauchen in den Fällen der ersten Be¬ 
deutungsgruppe meistens rotten, putrid bzw. pourri, in denen der 
zweiten meistens lazy, idle, slothful, bzw. paresseux. 

Die häufigste hauptwörtliche Bezeichnung für einen faulen 
Menschen ist heute im Hochdeutschen: Faulpelz. In der Refor¬ 
mationszeit gab es eine Redensart: dies hat er zu Freiburg im 
faulen Pelz erlernt. In Freiburg soll es anfangs des 16. Jahrhunderts 
ein Wirtshaus „zum faulen Pelz“ gegeben haben, und vom Satiriker 
Thomas Murner wurde gesagt, er habe seine Kunst „in Freiburg 
im faulen Pelz erschnappt“. Wurzbach konnte noch 1864 eine 
Heidelberger Brauerei „zum faulen Pelz“ notieren. In der zu¬ 
sammengezogenen Form Faulpelz ist das Wort erst im 19. Jahr¬ 
hundert aus dem Schweizerischen ins Schriftdeutsche gelangt. Die 
Bezeichnung Faulpelz entstand offenbar aus der Abkürzung der 
schweizerischen Redensart: den Faulpelz haben = auf der faulen 
Haut liegen. Nicht gerade wahrscheinlich, doch keineswegs aus¬ 
geschlossen ist ein Zusammenhang zwischen den Ausdrücken Faul¬ 
pelz und Bärenhäuter. (Die Redensart auf der Bärenhaut 
liegen, ist im 16. Jahrhundert entstanden und wurde besonders 
auf Landsknechte angewendet. Es liegen ihr wohl folgende zwei 
Mitteilungen des Tacitus zugrunde: daß die Germanen mit Fellen 
bekleidet waren und daß sie im Frieden faulenzten.) Besser be¬ 
gründet als durch den Hinweis auf den Begriff des „Bärenhäuters 4 


117 




erscheint mir aber die Deutung des Wortes Faulpelz aus der 
Schimmelschichte, die den verfaulenden Gegenstand wie ein Pelz 
überzieht. Da wir mit dem Ursprung des Ausdrucks in der Schweiz 
zu rechnen haben 1 2 , ist es angesichts der sich immer wieder be¬ 
stätigenden Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit der alemannischen 
Mundarten einfacher, in der Bezeichnung des faulen Menschen als 
eines Faulpelzes eine auf die Schimmelschichte abzielende volks¬ 
tümliche Metapher zu sehen, als an eine kulturgeschichtliche An¬ 
spielung zu denken. 

,,Faulenzen erweitert des Teufels Grenzen 44 , predigt Pater 
Abraham in Wien. Das Zeitwort faulenzen (das Adelung in seinem 
Wörterbuch 1774—1786 noch zu den Wörtern des niederen Stils, 
der ,,geringen Schreibart“ zählt) hat man unrichtigerweise erklären 
wollen, als sei es aus einem Hauptwort ,,der Faulenz 442 hervor- 
gegangen, welches selbst zusammengezogen sein soll aus ,,fauler 
Lenz 44 (Lenz ist Lorenz oder Leonhard, ähnlich wie Bosnickel, 
Zornickel, der boshafte, der jähzornige Nickel, d. h. Nikolaus, 
Matz aus Matthias, Metze aus Mechthild, Rüpel aus Ruprecht); 
aber in faulenzen ist die Endung -enzen enthalten, und dieses Zeit¬ 
wort bedeutet eigentlich: nach Fäulnis riechen. 

Mit -enzen werden im Deutschen aus Haupt- oder Eigenschafts¬ 
wörtern Zeitwörter gebildet mit der Bedeutung: schmecken, 

1) Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sich uns für die vielfache Ver¬ 
wendung der Ausdrücke faul, Faulpelz, faulenzen immer wieder Belege aus 
dem Schweizerischen auf drängen. Es ist für den Fleiß des unter schwierigen 
Verhältnissen lebenden und hart schaffenden Alpenvolkes bezeichnend, daß es 
eine besondere Neigung hat, die Trägheit reichlich mit Schimpfnamen zu be¬ 
legen. Faulpelz ist nicht das einzige Wort. Zahlreich sind die Namen, mit 
denen man in verschiedenen Revieren des deutschschweizerischen Sprach¬ 
gebietes den Faulen bezeichnet: Schoföpfel, Hosetrumper, Lahmarsch, Täri- 
märi, Lärbsch, Lempi, Schleerpi, Päscheler, Füdeler, Schlunggi, Düggeler, 
Döseler, Tappi, Plampi, Glanggi, Trallari, Trammei; weibliche Faulpelze 
schimpft man: Trantsch, Knieppe, Lötsch, Hootsch, Schlarpe, Blättere, 
Trüech. Auch Redensarten über die Faulheit gibt es reichlich in der Schweiz: 
faul wie Geismist; schafft wie en a’bundes (angebundenes) Pferd; ’s Schaffe ist 
em e Gspaß, aber er gpaßet nid gern; der Fulenz und der Liederli sind bedi 
gleichi Brüederli. 

2) So ein Hauptwort taucht wohl im Mundartlichen gelegentlich auf, man 
vgl. das bereits angeführte ,,der Fulenz und der Liederli“ aus dem Schweize¬ 
rischen oder das schwäbische Sprichwort,,jeder Hof trait (verträgt) ein Faulenz, 
aber der Bauer därfs net selber sei“, — aber ich vermag in diesem ,,Faulenz“ 
nur ein Postverbale, eine Rückbildung aus dem Zeitwort faulenzen zu sehen. 

118 








riechen nach dem im Grundwort Genannten. Faulenzen ist genau 
genommen das einzige Wort der Schriftsprache, in dem 

die Endung -enzen 

noch enthalten ist. Aber wir kennen viele veraltete Zeitwörter 
bzw. mundartliche, auch solche, die von einem Autor zu vorüber¬ 
gehendem oder einmaligem Gebrauch geschaffen wurden, die nach 
Art von faulenzen gebildet sind. 

Einige Beispiele: Fassenzen sagt man von Wein, der nach dem 
Fasse schmeckt, müchenzen oder müffinzen für schimmelig riechen, 
schwebelenzen ist nach Schwefel riechen, wildenzen oder wil- 
derinzen nach Wild schmecken, hundinzen nach Hund riechen, 
rauchenzen nach Rauch; aus dem Zeitwort brandenzen = nach 
Brand riechen oder schmecken wird das schriftsprachliche brenzein 
und daraus das Eigenschaftswort brenzlig. Bockenzen bedeutet 
stinken wie ein Bock; in Wielands Lukianübersetzung ist von einem 
bocksenden Bauernlümmel die Rede. 

Nicht nur wörtlich schmecken oder riechen nach etwas kann 
die Endung -enzen bezeichnen, auch zu übertragenen Bedeutungen 
verhilft sie. So z. B. bedeutet in der Bergmannssprache bergenzen: 
sich nach Bergmannsart verhalten. In Fischarts Gargantua bedeutet 
türkenzen: sich wie ein Türke benehmen. Ein Lieblingswort der 
protestantischen Polemik im 17. Jahrhundert war papenzen = sich 
papistisch verhalten (,,es papstelt 44 ). Auch andere Zeitwörter mit 
-enzen wurden geprägt zur Bezeichnung des Verhaltens zugunsten 
oder nach Vorbild einer anderen Nation, der Nachäffung fremder 
Sprachart usw. Gottsched bezeichnet Anglizismen als brittenzende 
Sprachschnitzer. Leibniz gibt in seinen Unvorgreiflichen Gedanken 
zu, ,,daß mit diesen Frantz- und Fremdentzen auch viel Gutes bey 
uns eingeführet worden 44 . Jean Paul verhöhnt in der Vorschule 
der Ästhetik ,,die Deutsch-Franzosen, die Juden-Deutschen, die 
Papenzenden, die Griechenzenden, kurz die Zwischengeister der 
Geistlosigkeit 4 4 . Judenzen wurde gebraucht sowohl für Sprechen 
mit jüdischer Betonung (,,jüdeln 44 ) als für judenfreundliches Ver¬ 
halten (Philosemitismus). Turnvater Jahn schreibt einmal, wer 
jüdische (= biblische) Vornamen seinen Kindern gebe, verriete ein 
judenzendes Gemüt. 

In der schlesischen Mundart wurde die Endung -enzen zu -inzen: 
groß tuen, prahlen, wie ein feiner Herr auftreten heißt herminzen, 





gewärmter Gänsebraten schmeckt federinzig, alte Butter ist altinzig, 
mit altem Fett zubereitete Bäckereien fettinzen. 

Ähnliche wortbildende Wirkung wie -enzen hat die süddeutsche 
Endsilbe -ein (z. B. in hundein, wildein, jüdeln, anheimeln). 

FECHTEN 

im Sinne von betteln, besonders in bezug auf Handwerksburschen 
auf der Walz, wird gewöhnlich erklärt durch den Hinweis auf die 
Sitte verabschiedeter Soldaten im 16. und 17. Jahrhundert, im 
Lande herumzuziehen und ihre Fechtkunst gegen Entgelt zur Schau 
zu stellen (Klopffechter) oder Fechtunterricht zu erteilen. Meist 
wird hinzugefügt, daß es ehemalige Teilnehmer des Dreißigjährigen 
Krieges waren, deren Fechtdarbietungen zum übertragenen Sinn 
von „fechten“ führten, aber der Ausdruck kommt in diesem Sinne 
schon drei Jahrhunderte vorher beim Berner Fabeldichter Ulrich 
Boner vor. 

Sicher ist also der Ausdruck älteren Ursprungs und hängt vielleicht 
nicht mit dem Waffengebrauch zusammen. Am Berchtentag im 
Januar gab es früher in den Alpenländern allerlei auf die germanisch¬ 
heidnische Zeit zurückgehende Gebräuche; so hatten die Armen 
an diesem Tage Anspruch, bewirtet zu werden. In der nördlichen 
Schweiz z. B. zogen bis ins 16. Jahrhundert am Berchtentag wei߬ 
gekleidete Knaben und Mädchen in den Dörfern herum und be¬ 
kamen in den Häusern süßen Wein. In Oberbayern gingen Frauen 
zu dritt „bechten“ und bekamen Obst und Gebäck; im Elsaß 
gingen Kinder bechten. (Man vgl. dazu das im Erscheinen begriffene 
einzigartige und in der wissenschaftlichen Welt mit Recht schon 
international berühmte, von zwei Basler Forschern, Bächtold- 
Stäubli und Hoffmann-Krayer, ausgezeichnet betreute „Handwörter¬ 
buch des deutschen Aberglaubens“.) Es wäre also nicht aus¬ 
geschlossen, daß das „Fechten“ der Handwerksburschen sich 
sprachlich von jenem „Bechten“ am Berchtentag ableitet. Wesent¬ 
lich weniger hat für sich die Deutung Wackernagels, der das Fechten 
der Handwerksburschen als „pfechten“ = visieren (mittelhoch¬ 
deutsch pfehten, von pfaht = factum) aufgefaßt hat. 

Neuerdings ist noch eine vierte Etymologie von fechten auf den 
Plan getreten. Sie fußt auf einem rheinischen mundartlichen Aus¬ 
druck. Südöstlich von Köln bedeutet „fech“ sowohl ein Stück 
Butterbrot oder einen Brotrest als einen Handwerksburschen. „Da 


1 2o 






küt (kommt) ainr fun de Fech“, hört man sagen. Dazu gehört das 
Zeitwort fechten = Brot betteln gehen; in manchen Gegenden be¬ 
deutet das Zeitwort auch: Waldbeeren sammeln; in Köln, auf 
Kinder angewandt: naschen, nach Leckereien suchen. 

Schließlich möchte ich auch zu bedenken geben, daß das Zeitwort 
fechten im Schweizerischen heute noch eine aus dem Mittelhoch¬ 
deutschen erhalten gebliebene Nebenbedeutung hat, die für die 
Entstehung des Ausdrucks fechten = betteln bestimmend hätte sein 
können. Wie mittelhochdeutsch vehten, bedeutet in der Schweiz 
fechten außer dem Kämpfen mit der blanken Waffe auch: sich leb¬ 
haft bewegen, nach einem Ziele streben, sich anstrengen, eifrig 
arbeiten. Im Idiotikon finden sich Belege wie: mer muend fechte, 
we-mer’s Heu wend vor-em Regen ie bringe, wir müssen fest 
arbeiten, wenn wir das Heu vor dem Regen einbringen wollen; 
tue-di nüd aso fechten, streng dich nicht so an. Bei Jeremias Gott¬ 
helf sagt ein Mädchen, daß es abends, wenn die Knechte schon 
lange im Nest sind, noch in der Küche flehtet. In einer schweizeri¬ 
schen Quelle aus dem Jahre 15-57 heißt es: ficht an das selbig Ort, 
so fast (schnell) du magst. Ein Bedeutungsübergang von ,,eilen, 
streben“ zu ,,bettelnd wandern“ wäre nicht undenkbar. 

FEDERLESENS MACHEN 

,,Nicht so vieles Federlesen! Laß mich immer nur herein; denn 
ich bin ein Mensch gewesen“, heißt es an der Pforte des Paradieses 
bei Goethe im Westöstlichen Diwan. Und in Schillers Fiesko: 
Nicht viel Federlesens, Heide! Viel Federlesens machen heißt 
seit Mitte des 17. Jahrhunderts: viel Umstände machen, sich um 
Förmlichkeiten kümmern. Heute wird die Redensart häufiger mit 
negativem Vorzeichen gebraucht: nicht viel Federlesens machen 
= kurzen Prozeß machen. Federlesen oder Federklauben hieß ur¬ 
sprünglich: höhergestellten Personen die Federn vom Kleide ab¬ 
lesen, um sich durch solche Dienste einzuschmeicheln. Ein alter 
Volksspruch sagt: wer nit viel Glissnens, Fäderlesens kan, der ist 
zu Hof kein werder Man. Sebastian Frank schreibt 15-41 über ,,Lieb- 
koser und Fäderleser, ihren Herren die Oren melckend, lupffend 
und unter alle Ellenbogen Küsslin (Kissen) schiebend“. 

Eine andere Erklärung der Redensart zieht es vor, auf das Rupfen 
der geschlachteten Gänse und Enten zurückzugehen. Die Federn 
werden sorgfältig nach ihrer Güte, je nachdem ob sie kiellos sind, 




dünnen oder starken Kiel haben, gesondert, und diese mühselige 
Arbeit sei das Federlesen. Auf diese Sorgfalt verzichten, heiße dem¬ 
nach: nicht viel Federlesens machen. Ein weiterer Umstand, der 
zur Erklärung der Redensart vom Federlesen herangezogen worden 
ist (und zwar vom Grimmschen Wörterbuch): der Raubvogel ver¬ 
zehrt das ergriffene Fluhn, ohne vorerst umständlich Federn zu 
rupfen. 

Dafür, daß von diesen drei Erklärungen die erste die richtige ist, 
die die Redensart vom Verhalten des Schmeichlers ableitet, spricht 
u. a. auch das synonyme deutsche Volks wort Pflaumenstreicher 
(z. B. im Sprichwort ,,Pflaumenstreicher sind alle falsch“), das 
nichts mit dem Obst zu tun hat, da die Wegstreicher der Flaum- 
federchen, also die Federlesensmacher, gemeint sind; ferner auch 
der Umstand, daß schon die Griechen ein Zeitwort krokydizein 
(Flocken ablesen, von krokys, Flocke, Fädchen) mit der über¬ 
tragenen Bedeutung ,,schmeicheln“ kannten. Theophrastos, der 
Schüler Platos und Freund des Aristoteles, schildert ausführlich einen 
Schmeichler, der auf der Straße seinen Gönner begleitet: ,,während 
er spricht, nimmt er ihm eine Flocke vom Kleide; und hat jenem 
der Wind etwa einen Strohhalm ins Haar geweht, so nimmt er ihn 
weg.“ Übrigens ist auch aus griechisch krokys = Fädchen und 
legein = lesen ein Hauptwort Krokylegmus gebildet worden. Lessing 
verwendet es in dem Sinn von Kleinigkeitskrämerei und bezeichnet 
damit sein eigenes Verhalten Winckelmann gegenüber, den er aus 
lauter Verehrung so aufmerksam gelesen habe, daß er auf einige 
kleine Ungenauigkeiten gestoßen sei, die pedanterweise mitzuteilen 
— das sei eben sein Krokylegmus — er sich nicht enthalten könne. 

FERSENGELD GEBEN 

Die spöttische Umschreibung der Flucht, man zeige ,,die Höhlung 
des Fußes“, kannte schon das Altertum: ton koilon tou podos 
deixai, sagten die Griechen, volam pedis ostendere die Römer. 
Im Deutschen wird das Bild weiter ausgeschmückt. Im Mittelalter 
lautete die Umschreibung: mit der versen gesegenen. Seit dem 
13. Jahrhundert fixiert sich die Redensart in der Form: Fersen¬ 
geld (mittelhochdeutsch versengelt) zahlen oder geben. Dies 
bedeutet, daß zum griechisch-römischen Bild noch die Vorstellung 
vom Zahlen dazugekommen ist, und dieser nicht ohne weiteres ein¬ 
leuchtende Umstand hat verschiedene Erklärungsversuche auf den 


122 









Plan gerufen. Man vermutet z. B. in der Redensart den Einfluß 
gewisser altgermanischer Rechtsnormen, die Geldbußen vor¬ 
schreiben. Nach alemannischem Recht mußte jener, der in der 
Schlacht seine Mitkämpfer verließ, also dem Feind ,,die Fersen 
zeigte 44 , ioo Solidi Strafe zahlen. Nach dem niederdeutschen 
Sachsenspiegel durfte jeder leibeigene Wende sein Eheweib ver¬ 
stoßen, mußte aber dafür, daß er ,,das Weib mit dem Rücken an¬ 
sah 44 (Grimm), an seinen Gutsherrn 3 Schilling ,,Fersengeld 44 (die 
versne pennige) entrichten. Ein anderer Zusammenhang zwischen 
,,Fersen zeigen 44 und ,,Geld zahlen 44 ergibt sich in der Sphäre des 
Wirtshauses. Aber es kann heute nicht mehr festgestellt werden, 
ob die Redensart vom Fersengeld geben aus dem Rechtsleben auf 
das Zechprellen erst übertragen worden ist (eben weil das alte 
kombinierte Bild für die Bezeichnung des Zechers, der die Flucht 
ergreift, wenn es zum Zahlen kommt, sich ganz gut geeignet hat), 
oder ob die Redensart gar nicht von wirklich bezahlten altgermani¬ 
schen Geldbußen herrührt, sondern vielmehr ironisch für das 
Nichtbezahlen der Zeche, für das Reagieren mit der Ferse statt 
mit der Hand erfunden worden ist. Auf Zechprellen beziehen sich 
jedenfalls die Zeilen in Thomas Murners Schelmenzunft: do der 
wirt wolt haben gelt, mit meynen ferssen b’zahlt ich das, was an 
der Kerben zeichnet was. Bei Luther heißt es allgemein: Fleisch, 
Tod und Teufel müssen fliehen und Fersengeld geben. 

Eine sonderbare Möglichkeit zur Erklärung dessen, wie das Geld 
in die Redensart vom Fersengeld geben hineinkommt, wird bei 
Borchardt-Wustmann zugelassen: ,,Vielleicht verglich der Volks¬ 
witz die schnell abwechselnd sichtbar werdenden Fersen des Ent- 
springenden mit springenden Geldstücken. 44 Wie immer es sich 
aber mit der Entstehung der Redensart verhält, sicher ist, daß sie 
richtig festen Fuß im Bereich des militärischen Lebens gefaßt hatte 
und von dort aus in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen 
war. Während der Reformationskriege und zur Zeit des Dreißig¬ 
jährigen Krieges waren Fersengeld und Hasenpanier die volkstüm¬ 
lichsten Wortsymbole zur Umschreibung der Flucht. 

Fischers Schwäbisches Wörterbuch gibt die Bedeutung der 
Redensart ,,einem Fersengeld geben 44 wie folgt an: ,,ihm auf die 
Fersen treten, um ihn zu schnellerem Gehen anzutreiben 44 ; also 
nicht: fliehen, sondern: zum Fliehen veranlassen. Durchaus aus¬ 
geschlossen ist eine derartige Bedeutungsverschiebung (d. h. daß 


123 




der Fliehende ursprünglich das Fersengeld gar nicht gegeben, sondern 
bekommen hatte) gewiß nicht. 

Das Heranziehen der Ferse in bildlichen Bezeichnungen des 
Fluchtergreifens finden wir auch im Französischen: montrer les 
talons, jouer de l’epee ä deux talons (die Fersen zeigen, sich des 
zweifersigen Schwertes bedienen). Auch der Engländer zeigt auf 
der Flucht ,,ein gutes Paar Fersen* 4 (shows a good pair of heels). 
In der gleichbedeutenden englischen Redensart to give leg-bail 
(eine Schenkelbürgschaft leisten) zeigt sich die gleiche Verquickung 
der Vorstellungen von der Flucht und vom Nicht-ordentlich-Zahlen 
wie in der deutschen Redensart. Eine ungarische Redensart sagt 
vom Fliehenden, er ,,drohe dem Feinde mit der Ferse“. 

FLAMMERI 

Wenn der an seine „Möhspeis“ (Mehlspeise) gewöhnte und dies¬ 
bezüglich keinen Spaß verstehende Wiener in Berlin zum Ab¬ 
schluß der Mahlzeit Flammeri (auch Wackelpeter oder Wonne¬ 
kleister genannt) vorgesetzt erhält (,,zittre nicht, ich freß dich 
nicht“), weiß er nicht, worüber er mehr staunen soll: über das 
Gericht selbst oder über seinen Namen. Fragt er nach der Her¬ 
kunft des Wortes Flammeri — beim Dessert erwacht gewöhnlich 
der etymologische Appetit —, so bekommt er meistens eine jener 
in Berlin beliebten falschen Ableitungen aus dem Französischen 
(wie z. B. Schorlemorle aus toujours Tamour) zu hören. Dem¬ 
nach käme Flammeri aus flan de riz = Reisfladen. 

In diesem Irrtum lasse man sich aber auch durch das sonst so 
verläßliche große Wörterbuch von Sachs-Villatte nicht bestärken. 
Flammeri kommt vielmehr von englisch flummery, und dieses Wort 
ist keltischer Herkunft. In Wales ist flummery ein Gericht aus 
gegorenem Gerstenmehl; in Cheshire und Lancashire ist es ein 
Gericht aus Gerstenkleie, Honig und Ale oder Milch. Der Name 
geht auf wallisisch llymru zurück, was scharfes Gemisch bedeutet 
(von llym = scharf, sauer). Flummery bedeutet aber nicht nur 
diesen Brei, sondern auch allgemein pappige Kinderspeise, und im 
übertragenen Sinne auch fades Zeug, leeres Gerede. Papperlapapp. 
Der amerikanische Publizist Mencken sprach z. B. einmal von den 
,,bombastic flummeries“ der USA.-Präsidenten. 


124 



FLÖTEN GEHEN 

Ein niederdeutsches Sprichwort sagt: ,,De de moder to fründe 
hett, geit mit de dochter floiten“, wer mit der Mutter Freund¬ 
schaft hält, dem gelingt es, mit der Tochter zu verschwinden. Im 
Rheinischen heißt blede gehen: sich still davonmachen. Das 1854 
veröffentlichte Gaunerwörterbuch der Wiener Polizeidirektion er¬ 
klärt ,,blöde scheften“ (scheften = gehen) als Verschwinden (z. B. 
,,die Labohne scheft blöde, nun können die Genover einschabbem“, 
der Mond ist verschwunden, nun können die Diebe einbrechen). 
In der deutschen Schriftsprache bedeutet flöten gehen nicht sosehr 
verschwinden und abhanden kommen, als: zugrunde gehen. (Der 
älteste Beleg wird für 1743 in Hamburg gebucht: fleuten gan.) 
Der Sinn dieser Redensart ist jedenfalls nicht zweifelhaft, sie macht 
einen ganz einfachen Eindruck, es sind übrigens noch keine zwei 
Jahrhunderte, daß sie zum erstenmal im Schrifttum aufgetaucht 
ist, — aber ihre Entstehung verursacht den Sprachforschern nicht 
wenig Kopfzerbrechen. Es gibt mehr als ein Dutzend Ableitungen 
dieser Redensart. 

Führen wir zunächst jene an, die sich an das Musikinstrument 
Flöte halten. Ohne Anspruch, als ernste Erklärung zu gelten, er¬ 
zählt ein Bechsteinsches Märchen von drei Musikanten, die aus¬ 
gezogen waren, die Schätze eines Zauberschlosses zu gewinnen. 
Geiger und Trompeter erleiden bald Fiasko, und sie ziehen sich 
ins Wirtshaus zurück. Mittlerweile gewinnt der Flötenbläser 
Königstochter, Schloß und Schätze. Die beiden Kameraden warten 
vergeblich in der Schenke auf den Dritten, und schließlich resi¬ 
gnieren sie, er sei flöten gegangen. Emst gemeint ist aber die Er¬ 
klärung von Borchardt-Wustmann und Sohns: flöten gehen heiße 
ursprünglich mit seiner Flöte gehen, um sich durch die Welt zu 
schlagen (also etwa wie fechten). Das Grimmsche Wörterbuch gibt 
für flöten gehen = verschwinden ,,die natürlich scheinende und 
schöne Deutung aus dem sich verlierenden Flötenlaut* ‘. (Gilt aber 
das allmähliche Verhallen nicht auch vom Ton anderer Instru¬ 
mente?) H. Schräder argumentiert wie folgt: flöten = pfeifen (auch 
ohne Instrument); pfeifen drückt aber Verachtung aus, z. B. ik will 
di was fleutgen, ich pfeif dir was; in Friesland sagt man: ich setze 
dich auf den Daumen und pfeif dich nach Ägypten (un fleid di na 
Ägypten). Demnach wäre flöten gehen = weggeblasen werden, d. h. 

I2£ 




verschwinden. Andresen schließt sich in der Hauptsache dieser Er¬ 
klärung an und denkt auch an trotzige Jungen, die vom Lehrer 
Schelte bekommen haben und beim Verlassen der Schule ihrem 
Ärger durch flöten (= pfeifen) Luft, buchstäblich Luft, machen. 
Flöten gehen wäre also in diesem Falle: aus der Schule ver¬ 
schwinden. Und als letzte der Erklärungen, die an der Flöte fest¬ 
haken, die von Richter-Weise: flöten gehqji = auf dem letzten Loch 
der Flöte spielen, d. h. dem Ende, dem Tode nahe sein. 

Aber viele andere Sprachforscher versuchen es, ohne die Flöte 
auszukommen. Wenn wir absehen von der Erklärung K. O. Erd¬ 
manns aus ,,valeten gehen 44 (von Handwerksburschen, die Valete 
= lateinisch ,,Lebet wohl 4 4 sagen, wenn sie auf die Wanderschaft 
gehen) greifen fast alle flötenlose Ableitungen auf niederdeutsche 
oder niederländische Sprachelemente zurück. Fromann und Wöste 
weisen auf vloten = schwimmen hin; vloten gan wäre also etwa: 
über See gegangen. Sandvos leitet flöten gehen aus niederdeutsch 
verleden gan = verloren gehen ab; andere verweisen auf nieder¬ 
ländisch pleiten gan = vor Gericht gehen, prozessieren, wobei zur 
Entstehung der Redensart flöten gehen wohl auch die Auffassung 
nötig ist, prozessieren sei gleichbedeutend mit Schaden leiden, 
zugrunde gehen. In der holsteinischen Mundart wurde der Aus¬ 
druck flütten gan = Ort verändern, umziehen (dänisch flytte, 
schottisch flite = ausziehen) ausfindig gemacht, und auch für diese 
Wurzel werden (z. B. von Andresen) die Vaterschaftsrechte am 
Ausdruck flöten gehen reklamiert. Man denkt auch an fleeten (was 
mit flott, Flotte, Floß zusammenhängt) = fließen; flöten gehen 
demnach: wegfließen, unwiederbringlich wie das Wasser des 
Flusses. Gutmacher erinnert daran, daß fleeten = fließen im Nieder¬ 
deutschen auch der volksmäßige Ausdruck für Harnlassen ist; er ist 
flöten gegangen sagt man also von jemand, der sich zum bewußten 
Zweck entfernt hat. (In Ostpreußen: ,,hei pößt söck weg 44 — von 
einem, der sich unter dem Vorwand eines Bedürfnisses wegschleicht.) 
Eine andere Deutung bringt flötengehen in der Weise mit fleeten 
= fließen in Verbindung, daß die Redensart mit niederdeutsch 
Fleet = städtischer Kanal Zusammenhänge: weil den dort waschen¬ 
den Frauen über dem eifrigen Schwätzen die Wäsche flöten gehe. 

Daß man alle diese zum Teil sehr gekünstelten Erklärungen wagen 
konnte, ehe es die richtige gab, ist begreiflich. Merkwürdig ist nur, 
daß mancher Sprachforscher an seiner Erklärung noch festhält, ob- 


126 








gleich die (u. a. von den Wörterbüchern Weigands und Heynes 
vertretene) Herkunft der Redensart jetzt schon einwandfrei fest¬ 
steht. Flöten gehen kommt von jenem hebräischen Worte 
peletah, Flucht, von dem auch die Ausdrücke Pleite (Ruin, 
Bankrott) und pleite gehen stammen. Während im Fall von Pleite 
das hebräisch-ostjüdische Element durch die fränkisch-oberdeutsche 
Gaunersprache in die deutsche Umgangssprache eingedrungen ist, 
kommt im Falle des Flötengehens das hebräische Element über den 
Umweg Portugal—Holland—Niederdeutschland ins Hochdeutsche. 
Peletah lautete in der Aussprache der portugiesischen Juden feletah. 
Die niederländischen Judengemeinden waren hauptsächlich von 
Flüchtlingen von der iberischen Halbinsel bevölkert. Ihr Idiom 
beeinflußte die Sprache der Amsterdamer Geschäftsleute. Von 
Holland kommt auch feleta ins Niederdeutsche. 17 ss wird als 
hamburgische mundartliche Redensart notiert: ,,Dat Geld ist 
fleuten gähn. 4 ‘ Die portugiesische Verwandlung des Wortes hat 
eine fein und deutsch anmutende Lautform ermöglicht, und so 
konnte das spanisch-jüdische flötengehen literaturfähig werden, 
indes das sozusagen identische ostjüdische pleitegehen mit der 
Zugehörigkeit zur niederen Umgangssprache vorlieb nehmen muß. 

FUGGER, FUGGERN, SO WIE FUGGERS HUND 

Ein altes Sprichwort lautet: wer gäbe, so lang man nähme, der 
vergäbe sich vor Nacht, wenn er auch dreier Fugger gut hätte. 
Reichtum und Macht der Fuggers, dieser seit dem 14. Jahrhundert 
bekannten, später geadelten Augsburger Kaufmannsfamilie, die im 
16. Jahrhundert eigene Münzen schlagen lassen durfte, Päpsten und 
Monarchen Geld leihen und Kaiserwahlen beeinflussen konnte, war 
sprichwörtlich und fand mancherlei Niederschlag in den europäischen 
Sprachen. Rabelais, der gerade in jenem Jahre zum Priester geweiht 
wurde, als das rollende Fuggergeld die Kaiserwahl zugunsten Karls V. 
entschied, gebrauchte wiederholt das Gleichnis: reicher als les Foucres 
(auch les Fouques) d’Auxbourg. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts 
wurde der Eigennamen Fugger in Deutschland wie ein gewöhn¬ 
liches Hauptwort mit der Bedeutung Großhändler, reicher Mann, 
Wucherer gebraucht. Zur scheltwortartigen Verwendung des Fa¬ 
miliennamens Fugger ging besonders von Luther der Anstoß aus, 
dessen Gegner von den Fuggers bekanntlich kräftig unterstützt 
wurden. Gott, schreibt Luther einmal, gibt wohlfeiler und borgt 


127 




freundlicher , ,denn die fucker und hendler auf erden thun‘ 4 . Und in 
seiner Schrift „An den Christlichen Adel deutscher Nation“ heißt 
es, man solle „warlich auch den fuckem ein zäum in maul legen“. 
Mittlerweile sind die Wörter Fucker, fuggern in der Schriftsprache 
untergegangen, aber sie leben teilweise noch in Mundarten fort. Im 
schwäbischen Franken z. B. bedeutet fuggern: Handel treiben, 
schachern. Fuggern sagt man dort besonders auch von der Frau, die 
Gegenstände des Haushalts hinter dem Rücken ihres Mannes ver¬ 
kauft. Auch aus der Schweiz, besonders aus Luzern, wird ein Haupt¬ 
wort Fuger, gewöhnlich ,,der riche Fuger“, im Sinne reicher Mann 
gebucht. Im Luzernischen gibt es auch ein Zeitwort: fuckeren, im 
Sinne handeln, tauschen, mit dem Nebenbegriff des unredlichen 
Gewinnsuchens. Im Elsaß wird besonders der kleine Tauschhandel 
der Kinder fuckere genannt. 

Der appellative Gebrauch des Eigennamens Fugger beschränkt 
sich nicht auf die deutsche Sprache. Das Holländische kennt den 
Ausdruck een rijke fokker (vielleicht hängt auch der Namen des 
berühmten holländischen Flugzeugkonstrukteurs damit zusammen), 
spanisch fücar (kommt bei Cervantes vor) und portugiesisch fucaro 
=* Millionär, sehr reicher Mann. Auch in einer nicht indogerma¬ 
nischen Sprache hat der schlechte Ruf der Fugger Spuren hinter¬ 
lassen. Das große Augsburger Bank- und Handelshaus, das im i £. und 
16. Jahrhundert die Bergwerke Spaniens, Tirols und Kärntens in 
Händen hatte, ließ sich auch von Wladislaus II. und Ludwig II., den 
beiden letzten ungarischen Königen vor Beginn der Türkeninvasion 
und der Habsburgerherrschaft, die Goldbergwerke und das Münz¬ 
recht Ungarns verpachten und erwarb auch das Recht auf gewisse 
Abgaben. Die nicht sehr zartfühlenden Vertreter und Unterpächter 
jener größten Firma des europäischen Frühkapitalismus erfreuten 
sich in Ungarn geringer Beliebtheit und das Wort fukar, das zunächst 
die allgemeine Bedeutung Zoll- und Steuerpächter hatte, bekam den 
Sinn: geldgieriger Mensch. So wie auch das Wort „Geiz“ den Be¬ 
deutungsübergang von dem ursprünglichen Sinn Habgier zu dem von 
Knauserei durchgemacht hat, verschob sich auch die Bedeutung von 
ungarisch fukar weiter und heute bedeutet fukar nicht einen Hab¬ 
gierigen, sondern, gleichlautend als Haupt- und Eigenschaftswort: 
Geizhals, geizig. 

Eine ältere deutsche Redensart, die heute kaum noch gebraucht 
wird, lautet: es so machen, wie Fuggers Hund. Die Erklärung 


128 








für diese Redensart findet sich nach Schmellers Hinweis in Luthers 
Tischreden. Der Hund eines Fuggers sei abgerichtet gewesen, das 
für seines Herrn Küche bestimmte Fleisch Tag für Tag in seinem 
Korb von der Fleischbank zu tragen. Er vergriff sich nie an dem 
anvertrauten Fleisch und konnte sich auch die durch den Fleisch¬ 
geruch herbeigelockten fremden Hunde vom Leibe halten. Eines 
Tages fielen sie aber in großer Überzahl über ihn und den Fleisch¬ 
korb her. Als er sah, daß alles Bellen und Beißen nichts mehr nützte 
und seine Würste und Braten unrettbar den Hunden verfallen war, 
besann er sich nicht lange und —hielt eben auch mit beim Schmause. 
In der Weltgeschichte hat es schon manchmal der Mächtige mit dem 
Schwächeren, den er eine Zeitlang vor anderen schützte, so ge¬ 
halten ,,wie Fuggers Hund“. 

AUF GROSSEM FUSS LEBEN 

= einen kostspieligen Lebenswandel haben hängt mit der Geschichte 
der Fußbekleidung zusammen. Schnabelschuhe, d. h. Schuhe mit 
langen, vom emporgehobenen Spitzen, trug man schon im Altertum. 
(Von ihren klassischen Vorfahren haben auch die Neugriechen von 
heute den Schnabelschuh in ihre Nationaltracht, zur Fustanella, 
dem faltigen Röckchen, übernommen.) Im Mittelalter kam diese 
Fußbekleidung an den Höfen wieder auf und wurde gegen Ende 
des Mittelalters große Mode, besonders in Frankreich, wo die 
Überlieferung besteht, Gottfried Plantagenet, Graf von Anjou hätte 
die Schnabelschuhe in Mode gebracht; ihm selbst sei daran gelegen 
gewesen, einen häßlichen Auswuchs auf einem seiner Füße zu ver¬ 
bergen. (Dieselbe kostümgeschichtliche Anekdote wird auch auf 
den englischen König Heinrich II. und auf einen Grafen Fulko von 
Angers bezogen.) Das Gehen war übrigens durch jene langen Spitzen 
so erschwert, daß besondere Vorkehrungen getroffen werden 
mußten (z. B. wurden besondere zweiabsätzige Holzsohlen, in 
Deutschland Trippen genannt, um die Schnabelschuhe geschnallt; 
auch wurde oft die Spitze des Schnabels durch ein dünnes Kettchen, 
dessen anderes Ende am Knie oder an den Fesseln befestigt war, 
hochgehalten.) Begreiflicherweise erschwerten die langen Schuh¬ 
spitzen das Niederknien, und die päpstliche Kurie hat daher wieder¬ 
holt (z. B. im Jahre 1367) Verbote gegen sie ausgesprochen; 
übrigens hat auch Karl VIII. 1490 ein solches Verbot für Frankreich 
erlassen. 


S Storfer 


129 




In Frankreich nannte man die Schnabelschuhe souliers ä la pou- 
laine, wobei es nicht klar ist, ob an einen Vergleich mit dem er¬ 
höhten Hinteren der Henne (poule) oder mit dem Schiffsbug, 
Schiffsschnabel (poulaine) zu denken ist. Nach anderer Deutung sind 
die souliers ä la poulaine ,,Schuhe nach polnischer Art“. Polaine 
oder Poulaine ist nämlich die alte Schreibweise von Pologne, und 
in England hießen die Schnabelschuhe seit dem 14. Jahrhundert 
tatsächlich crackowers, was auf die alte polnische Königsstadt 
Krakau hinzuweisen scheint. 

Hinsichtlich der Länge der Schuhspitzen wurde auf eine gewisse 
ständische Abstufung geachtet. Im Frankreich Philipp Augusts 
(Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts) war die Länge des 
Schuhschnabels je nach der gesellschaftlichen Stellung auf 6,12 oder 
24 Zoll bemessen (nach Spencers ,,Herrschaft des Zeremoniells“). 
Im 14. Jahrhundert hatte der Schuh eines französischen Prinzen 
(eigentlicher Schuh und Schnabel zusammen) die Länge von etwa 
2^2 Fuß, also etwa 80 cm. Ein Baron durfte es sich bis zu 
2 Fuß leisten, ein Chevalier bis zu 1 1 / 2 Fuß. Bürger durften mit 
Schuhen von 1 Fuß Länge vorlieb nehmen. Aus unzähligen Ver¬ 
ordnungen jener Jahrhunderte gegen den Luxus in der Kleidung 
geht hervor, daß man in allen Schichten trachtete, vornehmer zu 
erscheinen, als es einem nach geschriebener oder ungeschriebener 
Übereinkunft zukam, und wer ,,auf großem Fuß lebte“, war ent¬ 
weder jemand, der sehr vornehm war, oder jemand, der besonders 
vornehm zu erscheinen trachtete. Die Redensart ,,auf großem Fuß 
leben“ im heutigen Sinne stellt also eine Übertragung aus dem 
Wörtlich-Konkreten ins Seelische, Sittliche dar; und wenn wir 
heute scherzhaft die Redensart auf jemand an wenden, der große 
Füße hat, so findet eine Rückübertragung aus dem Abstrakten ins 
Konkrete statt. 

Auf die Sitte der Schnabelschuhe weist auch eine französische 
Redensart hin: avoir du foin dans ses bottes, wörtlich Heu in seinen 
Schuhen haben = reich sein. Der lange, spitzige Teil der Schnabel¬ 
schuhe, wohin der Fuß nicht hinreichte, wurde nämlich mit Heu 
ausgestopft, damit die Spitze sich gut halten sollte, und wer Heu 
in seinen Schuhen hatte, war also ein vornehmer Herr, dem das 
Recht auf lange Schnabelschuhe zustand. Daneben gibt es noch die 
französische Redensart etre sur un grand pied dans le monde (auf 
großem Fuße in der Welt sein) = eine große Rolle in der Welt spielen. 


130 







GABEL 

Im bekannten englischen Film „Das Privatleben Heinrichs VIII. 
sieht man den König Geflügel mit den Händen essen, und der Zu¬ 
schauer will in dieser überall viel Heiterkeit auslösenden Einzelheit 
die hemmungslose Gier des lebensfrohen Renaissancefürsten er¬ 
kennen. Aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aß in Eng¬ 
land noch niemand mit der Gabel. 64 Jahre nach Heinrichs Tod, 
im Jahre 1611, beschreibt der Engländer Thomas Corgate unter 
dem Titel Crudities (Roheiten) seine Italienreise, und er ist erstaunt 
und entzückt über die vornehme Art der Florentiner, mit Gabeln 
zu essen. Er nahm auch aus Florenz einige Gabeln nach London mit, 
wo man ihm dann den Beinamen Furcifer, Gabel träger, anhängte. 

Auch nach Deutschland kam die Eßgabel erst im 17. Jahrhundert. 
Das Wort „Gabel“ (althochdeutsch gabala, verwandt mit alt¬ 
indisch gabhasti = Deichsel, wozu auch lateinisch gabalus = gabel¬ 
förmiger Galgen) gab es im Deutschen allerdings auch früher, aber 
es bedeutete zunächst nur eine Wagendeichsel oder ein zwei- oder 
mehrzinkiges landwirtschaftliches Gerät (Heugabel, Mistgabel); 
die Kelten kannten auch ein gabelförmiges Kampfgerät. Zum 
Essen wurde noch keine Gabel verwendet. Das Fleisch nahm man 
aus der gemeinsamen Schüssel mit den Fingern heraus; Hauptsache 
war, daß man überhaupt „sich viel herausnehmen“ könne, 
was nicht etwa als Wortspiel zu verstehen ist, sondern wörtlich, 
denn der Ursprung dieser Redensart weist wirklich auf die Ent¬ 
nahme der Speisen aus der gemeinsamen Schüssel hin. Auch bei 
Naturvölkern vermissen wir im allgemeinen den Gebrauch der 
Gabel zum Essen. Nur die Fidschi-Insulaner kannten schon die E߬ 
gabel, ehe ein Europäer noch den Fuß auf ihre Eilande setzte. 
Beim Verzehren von Menschenfleisch bedienten sich die Fidschi¬ 
leute stets großer Gabeln aus Kasuarinenholz, denn aus religiösen 
Gründen (Tabu) scheuten sie die mittelbare Berührung des Menschen¬ 
fleisches. Wahrscheinlich aßen sie also schon fein säuberlich mit 
der Gabel zu einer Zeit, als im zivilisierten Abendland der Fein¬ 
schmecker Lucullus, der vorbildliche Petronius, Dante und 
Beatrice, Petrarca und Laura, Kaiser und Päpste das Fleisch noch 
mit ihren angeborenen „fünfzinkigen Gabeln“ anfaßten. Erst gegen 
Ende des Mittelalters kam die Gabel als Tischgerät in Konstantinopel 
auf, woher sie bald nach Italien gelangte. Sie diente zuerst noch nicht 


5 




unmittelbar dem einzelnen Teilnehmer an der Tafel. Die Diener 
legten mit ihr das Fleisch aus der Hauptschüssel auf die Teller der 
einzelnen Gäste vor. Und auch so blieb der Gebrauch der Vor- 
legegabel auch in der Renaissance noch lange eine vornehme 
Seltenheit. Dann beginnt allmählich, wenn auch zunächst nur ver¬ 
einzelt auch der Gebrauch der Eßgabel. Nun konnte man Braten 
essen und dabei die Finger sich rein bewahren. Trotz dieses Vor¬ 
teiles setzte sich der allgemeine Gebrauch des neuen Geräts nicht 
leicht durch. Selbst von der Kanzel wurde gegen sie gepredigt: 
eine Beleidigung Gottes sei die Scheu davor, seine Gaben mit den 
Fingern anzufassen. Die Kongregation des heiligen Maurus unter¬ 
sagte ihren Mitgliedern ausdrücklich den Gebrauch der Gabel. Der 
Deutsche Moscherosch zählt sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts 
zu den ,,welschen Possen“ 1 . 

Das geometrische Schema der Gabel, das Auslaufen in (parallele 
oder auseinanderstrebende) Zinken, gibt zu verschiedenen sprach¬ 
lichen Wendungen Anlaß. Ein Weg gabelt sich, es gibt Gabeläste, 
Gabelgeweihe, auch eine Gabelantilope. Die zu einem V-förmigen 
Knochen verwachsenen Schlüsselbeine der Vögel heißen Gabel¬ 
knochen (furcula). Im Schachspiel gibt man mit dem Bauern eine 
Gabel, wenn man schräg vorwärts nach rechts und links zwei 
Figuren gleichzeitig angreift. Die Artillerie schießt sich mit Hilfe 
der Gabel ein, d. h. mit Hilfe von beabsichtigten Kurz- und Weit¬ 
schüssen, innerhalb deren sie dann das Ziel richtig berechnet. 
Gabeln heißt in der Gaunersprache schwören, wegen der Form der 
zum Schwur gestreckten Finger. Auch die Volkssprache kennt 
diesen Ausdruck. So gibt es z. B. im Plattdeutschen die Redensart: 
wenn ik mein Recht man erst up der Gaffel (auf die beiden Schwör¬ 
finger) hebbe. In der Gaunersprache heißt der Scharfrichter auch 
Gabler, und das erinnert daran, daß die Römer mit gabalus einen 

1) Zu beachten ist auch, daß der Gabel in der Völkerpsychologie ein Ele¬ 
ment der Unheimlichkeit anhaftet (im Gegensatz zum Löffel, zu dem der 
Mensch gleichsam eine familiäre, gemütliche Beziehung hat; vgl. das Stichwort 
Löffel). Daher spielt die Gabel auch eine gewisse Rolle im Aberglauben. 
Sticht man mit einer Gabel in den Dampf der Milch, so sticht man Gott, 
heißt es in der Schweiz. In Mecklenburg: greift man mit einer Gabel in ein 
Gefäß mit Milch, so schädigt man den Euter der Kuh, die die Milch gab. Wer 
mit der Gabel auf den Tisch schlägt, ruft die Not. Auch zum Tönen darf man 
sie nicht bringen, sonst glaubt der Teufel, man rufe ihn. (Vgl. das ,,Handwörter¬ 
buch des deutschen Aberglaubens“.) 


132 







gabelförmigen Galgen bezeichnet haben. Auch der Mensch selbst 
ist, als zweibeiniges Wesen, eine Gabel: „Die Gabel, die man 
braucht zum Gehen 5 ‘, heißt es in Dantes Inferno, und König Lear 
spricht vom „armen, nackten zweizinkigen Tier“. 

GALGEN 

In Frankfurt a. M. fällt es auf, daß in den Straßennamen ein be¬ 
sonderer Kult mit dem heiligen Gallus getrieben wird (Gallus¬ 
straße, Gallusanlage usw.). Der Ire Gallus hat wohl in deutschen 
Landen das Christentum verbreitet, aber weitab vom Main, am 
Bodensee; der Namen des von ihm gegründeten Sankt Gallen weist 
noch auf ihn hin. Die Frankfurter Straßen haben nichts mit jenem 
Heiligen des 7. Jahrhunderts zu tun. Gallus ist in diesem Falle ein 
Euphemismus, ein verhüllender und beschönigender Ersatz für 
Galgen. Die bereits im 14. Jahrhundert in Frankfurt verzeichnete 
Galgengasse (vicus patibuli) wurde im 18. Jahrhundert zur Gallus¬ 
gasse verfeinert. Gleichzeitig wurde über den Galgenhäuserbrunnen 
das Bildnis des heiligen Gallus gestellt. Auch in Zeitz in Sachsen 
stieß sich das Volksempfinden am ,, Galgen tor“, darum hieß es dann 
harmloser: Kalktor 1 . Ein Hügel bei Gotha mit dem Namen Gaiberg 
war auch einmal ein Galgenberg. Dasselbe gilt vom Kahlenberg bei 
Zug und Luzern 2 . 

Weniger leicht hatte es der Galgenhof in Nürnberg vor dem 
Frauentor, seinen peinlichen Namen loszuwerden. 1^92 taufte ihn 
sein Eigentümer Christoph Glockengießer auf Glockenhof um. Die 
Ratsherren zogen ihn wegen dieser Eigenwilligkeit zur Verant¬ 
wortung, anerkannten nicht seine Rechtfertigung, die Ersetzung 
des „abscheulichen Namens sei niemands nachteilig oder beschwer¬ 
lich“, und bestanden darauf, daß er „dieselbigen Wortt (nämlich 
den neuen Namen) ausleschen lassen soll“. Aber schließlich mußte 
der Namen Galgenhof doch weichen 3 . 

1) Angeblich hängt auch die frühere hamburgische Bezeichnung Hoheluft- 
Chaussee mit einem einstigen Galgenstandort zusammen. Über das Assoziieren 
vom Gehenktwerden mit Luft und Wind vgl. S. 136. 

2) Flurnamen, die das Wort Galgen (oder Nebenformen wie Gallen, 
Gallus) enthalten, sind überhaupt häufig anzutreffen. Allein im schwäbischen 
Sprachgebiet sind etwa 110 Galgenberge gezählt worden, daneben unzählige- 
mal Galgenbronn, Galgenbrück, Galgenäckerle usw. 

3) Übrigens ist aus der Abscheu vor dem Galgen nicht nur um die Be¬ 
seitigung des Wortes Galgen, sondern auch wegen des Standortes des Galgens 


133 




1 


In früheren Zeiten war es nicht so leicht möglich, das Wort 
Galgen — wie den Strick aus dem Hause des Gehenkten — aus dem 
täglichen Sprachgebrauch zu bannen, dazu war die Einrichtung 
selbst räumlich und zeitlich zu gegenwärtig. Begriff und Wort 
kannten schon die alten Germanen. Tacitus berichtete von ihnen, 
daß sie Verräter und Überläufer auf Bäumen aufknüpften. Dabei 
war es die schwerere Strafe, am dürren Holz zu hängen; ,,auf den 
grünen Zweig zu kommen“ war gleichsam eine Auszeichnung 
für den Delinquenten * 1 2 . Bevorzugt wurde der germanische Baum, 
die Eiche, daher ,,Hang-Eiche“, auch „Hangebaum“. Die Goten 
gebrauchten das Wort galga von Christi Kreuz. Die Urbedeutung 
ist wahrscheinlich Baum, Ast. Man vermutet eine Verwandtschaft 
mit litauisch zalga, armenisch dzalk = Stange. Die althochdeutsche 
Form ist galgo, kalgo 3 . Hierher gehört galge in den skandinavischen 


selbst mancher Streit ausgefochten worden. Dominik Müller, der witzige 
Poet der Basler, schildert in einem Gedicht einen Galgenstreit aus dem 14. Jahr¬ 
hundert. Johann von Arguel zu Basel mag den Galgen auf dem Lysbüchel 
nicht, er hat Besitztümer rings und findet, so ein Galgen stehe dagegen herz¬ 
lich schlecht. Denn wo so nah die Gehenkten baumeln im Wind, da ist es nicht 
wohnlich. Er setzt es durch, daß des Klosters Sankt Alban Grund fürs Gerüste 
bestimmt wird, und nun war dort der Hanfgerechtsame luftiges Reich. Aber 
auch die Mönche wollen die Affenschande nicht dulden und sorgen dafür 
schlauerweise, daß der Galgen morscht, und einmal bricht er unter der hoch¬ 
notpeinlichen Last zusammen. Der Arguel fürchtet bereits, daß der Galgen 
auf sein Besitztum zurückverlegt wird und errichtet heimlich bei Nacht auf 
dem Klostergrund ein Dreibein aus wetterfesten Stein — und der hält stand, 
so viele man auch henkt. Erst lange nach Arguels Tod erreichten die Mönche 
vom Rat der Stadt des grausigen Gestells Verschwinden von ihrem Grund. 

1) Nach anderer Auffassung soll die Redensart auf keinen grünen Zweig 
kommen = es zu nichts Rechtem bringen auf eine Form der altgermanischen 
Besitzübertragung zurückgehen, wonach dem Käufer vom Verkäufer eine 
Scholle des verkauften Grundstückes mit einem hineingesteckten Zweig 
übergeben werden mußte. Nach Seiler ist aber der grüne Zweig in der Redens¬ 
art nur das Sinnbild des Blühens und Gedeihens. („Grün“ ist ja auch „des 
Lebens goldner Baum“.) Auch mit Hiob i£, 32 wird der grüne Zweig in 
Verbindung gebracht. 

2) Ob nicht auch der Namen der siebenbürgischen Gemeinde Galgo (im 

Komitate Szolnok-Doboka) zu dieser Wortsippe gehört? Vielleicht haben die 
Wanderzigeuner die germanische Wurzel in diese, deutsche Ansiedelungen 
nicht aufweisende Gegend Siebenbürgens verschleppt. In einem 1726 in Dresden 
erschienenen Buche, das die Beschreibung des Zuchthauses zu Waldheim und 
auch ein Wortverzeichnis der Verbrechersprache enthält, finde ich jedenfalls 
für Galgen als zigeunerisch angegeben: galgo. (Oder ist an die slawische Wurzel 




134 





Sprachen und das englische gallows. Im alten deutschen Schrifttum 
wechseln die Formen Galg, Galge, Galige, Galigen ab. ,,Du pist 
ein Loter und ein Pueb, der Galig ist dein Eribtail“, heißt es in 
einem Fastnachtsspiel. 

Die Phantasie des Volkes beschäftigte der Galgen und das Hängen 
begreiflicherweise sehr lebhaft, und das drückt sich auch im Reich¬ 
tum sprachlicher Wendungen aus. Auf den Galgen spielt z. B. die 
Redensart an: er muß herhalten — nämlich seinen Kopf, damit er 
gehängt wird. Wer am Galgen vertrocknen soll, ersäuft nicht im 
Wasser, lehrt das Sprichwort. (Bei Abraham a Santa Clara: was an 
Galgen gehört, findet in Donau kein Grab.) Der Familiennamen 
Streckfuß kommt vermutlich von einem Vorfahren, der am Galgen 
endete. Unzählig sind die Umschreibungen für den Galgen, wie 
etwa Feldglocke, Kloster zu den dürren Brüdern, zum schwarzen 
Rabenzweig. Solchen Umschreibungen begegnen wir auch in 
Schillers Räubern. Roller spricht von der Sakramentsleiter, auf der 
er in Abrahams Schoß steigen sollte, und zu Spiegelberg sagt er: 
Moriz, Moriz, nimm dich in acht vor dem dreib einigen Tier. (Das 
für sieben Delinquenten * 1 bestimmte Gerüst bestand nämlich in der 
Regel aus drei senkrechten Balken, die mit Querpfosten verbunden 
waren. Jean Paul spricht in der satirischen Schilderung eines Galgen¬ 
jubiläums vom ,,dreibalkigen Telegraph**; die drei Pfeiler nennt 
er ,,die Eckpforten der Sittlichkeit“; der Galgendreizack sei ,,die 
trinomische Wurzel der städtischen Sittlichkeit“. Dieser dreisäulige 
Galgen hieß auch „Hochgericht“ im Gegensatz zum einfacheren 
Schnell-, Wipp- oder Kniegalgen.) Auch ungarische Ausdrücke sind 
auf die Dreizahl zurückzuführen: so gibt es die Schelte haromfa 
gyümölcse („Dreibaumsobst* ‘) für einen galgenwürdigen Menschen. 

Aus Wörterbüchern und Sammlungen von Redensarten läßt 
sich eine lange Liste „witziger** Bezeichnungen des Hängens 

kal = Kot, Lehm zu denken ?) Im Spanischen bedeutet übrigens galgo Wind¬ 
hund (aus canis gallicus, gallischer Hund, da die Römer, die zunächst nur das 
Pirschen kannten, die Hetzjagd von den Kelten lernten) mit vielen über¬ 
tragenen Anwendungen, z. B. echale un galgo = hole ihn der Teufel. 

i) Daher ist sieben „die Galgenzahl“ und „sieben machen einen Galgen 
voll“. Ein Galgenvolk sagte man noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
scherzhaft für eine Gesellschaft von sieben Personen. Über die Siebenzahl 
gingen die deutschen Galgen selten hinaus und der Luzerner Ratsherr Hans 
Schürpf machte große Augen, als er auf seiner Pilgerfahrt nach Jerusalem 
1447 in Rhodos 63 Türken an einem Riesengalgen baumein sah. 





zusammenstellen, ,,ein rechtes Stück vom Kriegs- und Siegshumor 
unserer Vorfahren 4 4 (Hildebrand). Nur einige seien hier aus der Fülle 
ausgebreitet: er muß mit dem hänfnen Gaul oder mit dem dürren 
Baum reiten, eine Hanfsuppe essen, durch einen Ring gucken, in 
ein hänfnes Schnupftuch niesen; er wird mit einem hänfnen Kragen 
verziert, zu einer hänfnen Bratwurst zu Gast gerufen, mit Seilers 
Tochter getraut, mit Jungfer Strick kopuliert, erwürgt an einer 
Brezel, die der Seiler gebacken hat; er muß an einer hänfnen Holz- 
birn würgen, am grünen Baum in Hanf ersaufen, die Luft über sich 
zusammenschlagen lassen, ein lustiges Ginkele-Gankele machen; 
er wird mit des Seilers Halstuch beschenkt; er wird Abt bei den 
dürren Brüdern; er will sehen, was da fleucht, nicht was da kreucht; 
er stirbt an der Halskrankheit, er verdirbt an der hänfnen Sucht; 
er tritt mit dem Kopf in den Stegreif, er hebt an zu traben, wenn 
der Wind weht; er macht einen Bammelmann, er ist am Strick 
zu Schaden gekommen, er ist an einer Halskrankheit gestorben; 
er wird mit einem Spieß erschossen, daran man Kühe bindet; er 
muß sich mit den Krähen durch ein Pfund Hanf beißen; er wird 
zum Lufttrocknen aufgehängt, als Schwengel in der Feldglocke ge¬ 
braucht, er wird mit Jungfer Hänfin einen lustigen Sprung von der 
Leiter tun; er geht mit den vier Winden zum Tanz, er muß im 
Wind 1 rechtsum und linksum exerzieren; er hängt an der Herberge 
zu den drei Säulen als Bierzeichen aus, er ist zum Feldbischof erhöht 
und gibt den vorbeigehenden Leuten mit den Füßen den Segen usw. 
Hebel spricht vom gefährlichen Gang, wenn einen die Strickreiter 
ergreifen, bei Goethe (Sprüche in Reimen) heißt es: er gibt den 
vier Winden Tritte. ,,Ist es nicht wunderbar 44 , ruft H. Schräder 
aus, ,,daß unser Volk über diesen einen Gegenstand ein halbes 


i) Die Gedankenverbindung zwischen dem Gehenkten und dem Wind 
hat tiefere völkerpsychische Begründung. Es gehörte zum Wesen dieser 
Hinrichtungsart, daß der Gehenkte nach seinem Tode eine Zeitlang hängen 
blieb, preisgegeben den Winden. Das Hängen, schreibt F. Byloff, ist jene 
Art des Menschenopfers, das sich an den Windgott richtet. Der am dürren 
Ast einer Eiche aufgezogene Verbrecher wird nicht nur bildlich, sondern in 
Wirklichkeit den Lüften und ihren Bewohnern ausgeliefert (,,den Vögeln des 
Himmels zur leckeren Speise“). Der germanische Obergott Wotan ist ur¬ 
sprünglich ein Elementardämon des Windes gewesen und sein heiliger Vogel ist 
der Rabe (die „Galgentaube“). Hier sei auch die abergläubische Vorstellung 
angeführt, daß Selbstmord durch Erhängen schlechtes Wetter hervorruft; ,,jetzt 
holt den Schuster der Teufel“, ist eine Redensart bei Windwetter. 


136 



Schock witziger, freilich spöttisch-derbe verhüllender Redensarten 
gefunden hat, die doch jedenfalls von feiner Beobachtung und großer 
Phantasie Zeugnis ablegen 1 .“ 

Vielleicht ist aber solcher Stolz auf einen überlegenen Reichtum 
der deutschen Sprache an Umschreibungen des Gehenktwerdens 
gar nicht begründet. Denn einige Redensarten dieses Schlages ver¬ 
mag bei näherem Zusehen immerhin auch das Französische aufzu¬ 
weisen 2 , z. B. il se balance au bout d’un ficelle, er schaukelt am 
Ende einer Schnur, il garde les moutons k la lune, er hütet die 
Mondschafe, il donne la benediction avec sa pieds, er erteilt mit 
seinen Füßen den Segen, daher ist der Gehängte eveque de la 
Campagne, Feldbischof; on lui a donne une cravate de chanvre, 
man hat ihm eine Hanfkrawatte gegeben, il file sa corde, er spinnt 
seinen Strick, d. h. er wird dem Galgen nicht entgehen, il est 
chatouilleux de la gorge, er ist kitzlig am Halse, d. h. er ist reif, 

1) Was dem Galgen recht ist, kann dem Henker billig sein. Auch seine 
Vorstellung übt auf den synonymenbildenden Trieb der Volkssprache einen 
kräftigen Reiz aus. Else Angstmann hat in einer umfangreichen und gründlichen 
Heidelberger Dissertation (1926) die volkstümlichen deutschen Namen des 
Henkers gesammelt. Einige seien aus der großen Fülle hier angeführt. Meister 
Abkürzer, Meister Auweh, Meister Balz (aus Balthasar), Meister Benedix (auch 
Luther nennt den Henker so, von benedicere = segnen), Dolcher, Tolman, 
Dallinger (über Rotwelsch aus hebräisch talah = auf hängen), Diler, Tiller (von 
Diele = Brett, der Vorgängerin der Guillotine), Freimann (an das Freimanns¬ 
loch im Salzburgischen knüpfen sich Schatzgräber- und Scharfrichtersagen), 
Gabler (von lateinisch gabalus = gabelförmiger Galgen), Halbmeister (da er 
nicht die Rechte des ehrlichen Handwerksmeisters genoß), Hämmerlein 
(,,dieser Name, eine euphemistische Umschreibung des Teufels, dann auch 
des Henkers, ist eigentlich eine verblaßte Personifikation des Hammers des 
germanischen Donnergottes“, der Galgen: „Meister Hämmerleins Gerüst“), 
Kofler, Kafler, Kaviller (rotwelsch: Abdecker), Meister Knüpfauf, Meister 
Kurzab, Marterer, Nachrichter, Peinlein, Rumpfrecker, Scharfkoch, Scharf¬ 
richter, Schürpfer, Weiziger (althochdeutsch wizi = Strafe, Qual), Zwicker. 
Auch der Namen der Verfasserin jener Studie kommt im älteren Niederdeutsch 
als Henkersbezeichnung vor: Angstmann (z. B. in einer Zerbster Ratsrechnung 
von 152g: „1 gülden 8 gr dem angestmanne, als ehr den spitzbuben zur stadt 
aussteupt“). Es war vermutlich ein Fall von „Verpflichtung des Namens“, daß 
Else Angstmann sich den Henker zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit wählte. 
Kluges Etymologisches Wörterbuch zitiert in seiner neuen Auflage ihre vor¬ 
treffliche Arbeit beim Stichwort henken, verschreibt aber den Verfassernamen 
zu „Angermann“ und stellt damit eine neue Assoziationsbrücke zum Revier 
des Schindangers her. 

2) Man vgl. auch die unter dem Stichworte Guillotine angeführten franzö¬ 
sischen Ausdrücke. 


137 






gehängt zu werden. Jemanden hängen heißt faire danser sous la 
corde, ihn unter dem Strick tanzen lassen oder faire regarder par 
un fenetre de corde, durch ein Strickfenster schauen lassen. Der 
Strick heißt auch cravate de chanvre oder collier de chanvre, Hanf¬ 
krawatte, hänfnes Halsband; der Galgen selbst ist l’arbre sans 
feuilles, der Baum ohne Blätter, auch kurz le sans-feuille oder 
jambe-en-Fair, Bein-in-die-Luft. Andere, ältere Argotausdrücke 
für den Galgen: bequille (Krücke), giffle, fourdolle, credo, turterie. 
Auf der Doppelbedeutung von noyer (als Zeitwort = ertränken, als 
Hauptwort = Walnußbaum) beruht das Wortspiel: noyer sur un 
noyer, jemand auf einem Walnußbaum ertränken. Graf Bonneval, 
der berühmte Abenteurer, der unter Prinz Eugen gegen die Türken 
kämpfte und schließlich türkischer Pascha wurde, schreibt in seinen 
Erinnerungen für gehängt werden immer: mourir verticalement 
(senkrecht sterben) 1 . 

In Merimees durch die Oper berühmt gewordener Novelle 
,,Carmen“ warnt die Zigeunerin Don Jose davor, sich mit ihr 
einzulassen, ,,sonst könnte es geschehen, daß sie dich an eine Witwe 
mit Hanfbeinen verkuppelt“. Auch die Guillotine heißt übrigens 
im Pariser Volksmund La Veuve. Bei Victor Hugo heißt einmal der 
Galgenstrick veuve. Im Londoner Slang ist die Frau des Gehenkten 
die Hanfwitwe (hempen widow); er selbst tanzt über dem Nichts 
(dances upon nothing). Auch im Englischen ist von einer hänfnen 
Krawatte (hempen crawat) die Rede. 

Übrigens weist im Zusammenhang mit dem Galgen schon das Alter¬ 
tum beschönigende Umschreibungen auf. Die Römer nannten den 
Galgen manchmal Graecum Pi, da sie offenbar eine Ähnlichkeit zwi¬ 
schen seiner Form und der des großen griechischen Pi (]J) sahen 2 . 
Wenn der Grieche jemand an den Galgen wünschte, so sagte er 
apag eis korakas, scher dich zu den Raben. 

Reichlich ist das Wort Galgen auch in Zusammensetzungen ver¬ 
treten. Da ist vor allem das Wort Galgenstrick bemerkenswert. 
Allerlei Aberglauben knüpfen sich an den Strick des Gehenkten; 

1) Man vgl. eine ,,Ortsneckerei“ unter den slowakischen Juden gegen die 
Einwohner der Stadt Neutra, die sich keines guten Rufes erfreuen: in Neutra 
gehe man zum Leichenbesuch auf Leitern. 

2) Man vgl. damit eine alte ungarische Umschreibung des Hängens: hosszu 
bötüt csinallattak belölle, einen langen Buchstaben machte man aus ihm. Hier 
wird allerdings nicht der Galgen, sondern der Gehenkte (daher Langgestreckte) 
einem Buchstaben verglichen. 


138 



man kann Krankheit mit ihm heilen, von Spielern wird er als glück¬ 
bringend geschätzt (la corde du voleur porte bonheur); wer auf¬ 
fallendes Glück hat, von dem heißt es, er habe den Strick des Ge¬ 
henkten in der Tasche, avoir la corde de pendu dans sa poche. 
(Die französischen Henker, die an Abergläubige kleine Stücke vom 
Strick verkauften, kamen um ein gutes Einkommen, als die Guillotine 
eingeführt wurde 1 .) Im übertragenen Sinn bedeutet das Wort 
Galgenstrick auch den, der den Galgen verdient; daher ist die 
Lösung des bekannten Rätsels, das mit dem schwungvollen Satze 
endet: ,,von dem Zweiten umschlungen schwebt das Ganze zum 
Ersten empor“: Galgenstrick. Weitere Zusammensetzungen mit 
Galgen: Galgenberg (der Galgen stand immer an auffällig erhöhter 
Stelle) 2 , Galgenvogel (eigentlich der Rabe, aber auch die Raben¬ 
speise, d. h. der Gehenkte, bzw. der des Galgens Würdige), 
Galgenmännlein (der Alrauneaberglauben ist in letzten Jahrzehnten 
durch einen erfolgreichen Unterhaltungsroman wieder sehr bekannt 
geworden), Galgenzierde, Galgengesindel, Galgengelichter, Galgen¬ 
physiognomie, Galgenmahlzeit (Henkersmahlzeit), Galgenfrist (d. h. 
die sehr kurze), Galgenreue (d. h. die zu späte, bei Lichtenberg und 
Jean Paul heißt sie Galgenbekehrung), Galgenfreude (z. B. in 
Jeremias Gotthelfs „Uli“ für Schadenfreude) und Galgenhumor 
(der sich zum Teil auch in diesen Wortbildungen selbst betätigt). 

Zu erwähnen ist noch, daß auf verschiedenen Sondergebieten 
Gegenstände, die einen Querbalken aufweisen, auch den Namen 
Galgen tragen. Es gibt einen Galgen beim Ziehbrunnen, bei 

1) In Böhmen schützt der Strick des Gehenkten vor Blitz. In vielen 
Gegenden wird, damit die Tauben an den Schlag „gefesselt“ werden, am Ein¬ 
gang der Strick eines erdrosselten Menschen aufgehängt. Der mannigfache 
Strickaberglaube hängt gewiß mit dem Schlingenmotive zusammen, daß eine 
große Rolle im Glauben und Brauch der Völker spielt (Monographie von 
Scheftelowitz). Schon Plinius lehrt, daß man sich gegen Fieber einen Strick, 
der von einem Kreuze herrührt, um den Hals binden soll. In Tirol hängt man 
einem an Bräune Erkrankten eine rote Schnur, mit der eine Kreuzotter er¬ 
würgt wurde, um den Hals. Zwecks Heilung einer Halskrankheit wurde an 
der oberen Lahn einem Leichnam mit einem Stricke die Hände zusammen¬ 
gebunden, worauf der Kranke den Strick lösen und ihn drei Tage auf der 
bloßen Haut tragen mußte. 

2) Verführt vom lautlichen Anklang hat man oft das Golgatha des Neuen 
Testaments mit dem „Galgenberg“ sprachlich gleichgesetzt. Es besteht aber 
keine sprachliche Verwandtschaft. Golgatha bedeutet hebräisch Schädel, und 
der Hügel bei Jerusalem hieß so wegen seines schädelförmigen Aussehens. 


139 





Schleusen, im Dachstuhl, bei Webereigeräten usw. In der Schweiz 
bedeutet ,,Galgen“ auch Hosenträger. In einem schweizerischen 
Dokument aus dem Jahre 167^ wird den Mannspersonen das Tragen 
,,deren mit allerhand gefärbten Seiden gestebete (gesteppte) und 
geblüemte Gälgen verboten“. (Vergleichsgrundlage: die an dem 
Träger, wie an einem Galgen herunterhängenden Hosen ? oder von 
dem bei der alpenländischen Tracht die zwei Stränge des Hosen¬ 
trägers verbindenden Querstreifen ?) Dazu ist zu beachten, daß auch 
das englische Wort für Galgen, gallows die Nebenbedeutung 
Hosenträger hat. Auch französisch potence =? Galgen bedeutet neben 
dem Hinrichtungsgerät auch harmlosere Gegenstände, z. B. ver¬ 
schiedene T-förmige Träger in der Technik, den Arm einer Lampe, 
die Krücke (daher die französische heraldische Bezeichnung des 
Krückenkreuzes — das man in Österreich jetzt Kruckenkreuz 
nennt — croix potencee, wörtlich Galgenkreuz). 

Zur Erklärung der Redensart falsch wie Galgenholz wird 
meistens angeführt, es sei alles verächtlich, was mit dem Galgen 
zusammenhängt, und so sei eben auch etwas, das aus Galgenholz 
geschnitzt worden ist, aus schlechtem Holz, falsch. Eine andere 
Erklärung zieht das Kreuz Christi heran. Splitter davon wurden im 
Mittelalter in zahlreichen Kirchen des Abendlandes gezeigt (Richter- 
Weise: ,,in solcher Menge, daß man aus ihnen Hunderte von 
Kreuzen hätte Zusammentragen können“). Im Heiligen Lande und 
in der Levante bestand ein schwunghafter Handel mit angeblichen 
Splittern vom echten Galgen auf Golgatha, so daß schließlich die 
Reliquien, die fromme Pilger für ihre heimatlichen Kirchen mit¬ 
brachten, nicht viel Glauben fanden und sogar zur Entstehung der 
Redensart ,,falsch wie Galgenholz“ Anlaß gaben. Eine dritte 
Deutung der Redensart will etwas von einem Hessen namens Fritz 
Galgenholz im i£. Jahrhundert wissen, den der Landgraf wegen 
Spionage für den Feind hinrichten ließ. Wenn es überhaupt diesen 
Mann gab, empfehle ich, lieber anzunehmen, jener Verräter 
habe eben wegen seiner Falschheit den Übernamen Galgenholz 
bekommen. 

GAS 

Das Wort Gas ist erst Ende des 18. Jahrhunderts anläßlich der 
Berichte über die ersten Luftschiffahrtsversuche in Frankreich, den 
1783 erfolgten Ballonaufstieg der Brüder Mongolfier, aus der Fach- 


140 




spräche der Chemie in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch 
gelangt, nachdem Campes Vorschläge ,,Dunstluft“ und ,,Luftgeist“ 
nicht durchzudringen vermochten. Wieland plauderte 1783 im 
Oktoberheft seiner Zeitschrift ,,Merkur“ ironisch über jene Ver¬ 
suche und über die „Aeropetomanie“ der Pariser; er gebraucht 
dabei die Ausdrücke ,,brennbare Luft“ und ,,der Gaz“ ab¬ 
wechselnd. 

Das Wort Gas ist oft fälschlicherweise auf das mundartliche 
,,gäscht, gischt, gest“ (von einem älteren Zeitwort: jesen, Ver¬ 
gangenheit: jas) = gären in Verbindung gebracht worden. Das Wort 
ist aber vom Brüsseler Arzte und Alchemisten Baptista von Helmont 
(gest. 1644) künstlich konstruiert worden: hunc spiritum, in- 
cognitum hactenus, novo nomine Gas voco — diesen bisher un¬ 
bekannten Geist nenne ich mit neuem Namen: Gas. ,,Gewiß eine 
der willkürlichsten Worterfindungen, die jemals gemacht wurden“, 
sagt dazu Wundt, und der Mystiker Helmont selbst schrieb, er 
habe das Wort ,,mit paradoxer Freiheit“ (paradoxi licentia) ge¬ 
schaffen. 

Aber so weit ist es mit der Freiheit nicht. Freud hat bereits in 
seinen ersten Untersuchungen des Assoziationsvorganges, die ihn 
zur Begründung der psychoanalytischen Lehre geführt haben, nach¬ 
gewiesen, wie schwer es ist, etwa auch nur ein einzelnes Wort 
willkürlich und zusammenhanglos, undeterminiert auszusprechen. 
Wenn man einen Dichter daraufhin analysiert, warum er einen 
bestimmten Namen für seinen Helden gewählt hat, einen Fabrikan¬ 
ten, welchen Markennamen er für sein Erzeugnis prägt, zeigt sich 
jeweils die ,,Überdeterminierung“, die aus mehreren Quellen 
herrührende Begründung. 

So überdeterminiert ist auch die Erfindung des Wortes Gas. 
Der Alchimist Helmont meinte, Gas sei eine Materie, die dem 
Chaos der antiken Auffassung (Plato; Lukas 16, 26) am nächsten 
verwandt sei. Chaos bedeutet griechisch Leere, Kluft (von chainein 
= klaffen), vielleicht ist auch das deutsche ,,gähnen“ damit weit¬ 
läufig verwandt. Paracelsus, der als Vorgänger Helmonts angesehen 
werden kann, gebraucht Chaos im Sinne von Luft, leichter Dunst, 
feiner Geist. In der holländischen Aussprache klingt übrigens g 
und ch (Gas und Chaos) sehr ähnlich. 

Gas klingt aber auch an Blas an. Blas (gebildet aus dem Zeitwort 
blasen) war ein hypothetischer Begriff Helmonts, er verstand 






darunter die kalte Luft, die von den Sternen ausgehe. „Gas et Blas 
nova quidem sunt nomina a me introducta.“ 

Und die dritte Quelle: mit Wundt darf man annehmen, daß 
auch das Wort Geist den Flamen Helmont bei der „willkür¬ 
lichen“ Erfindung des Wortes Gas beeinflußt hat. 

Vielleicht hat übrigens Helmont, dem die Feinheit und Leichtig¬ 
keit des von ihm beschriebenen „Gas“ vorschwebte, bewußt oder 
unbewußt auch an das gerade zu jener Zeit aus Frankreich allgemein 
in Mode gekommene dünne Gewebe Gaze gedacht. (Die Herkunft 
dieses Wortes ist semitisch; es kommt entweder aus arabisch 
kazz = Rohseide oder von der Philisterstadt Gaza in Palästina, wo 
dieses feine Gewebe angeblich erzeugt wurde.) 

In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß auch das Wort 
Ozon eine von einem Chemiker eingeführte künstliche Bildung 
ist. Friedrich Schönbein schuf 1840 das Wort zur Bezeichnung 
einer Modifikation des Sauerstoffes (O) unter Zugrundelegung des 
griechischen Zeitwortes ozein = riechen, duften. Ozon ist also 
das Riechende. (Verwandt: lateinisch oleo = stinken, französisch 
odeur = Geruch.) 

GAUNER 

In seinem 185-8 erschienenen, grundlegenden (die Gaunersprache 
betreffend allerdings unzulänglichen) Werk über das deutsche 
Gaunertum hat der Lübecker Polizeidirektor Av£-Lallemant das 
Wort „Gauner“ als Abkürzung von Zigeuner aufgefaßt. Andere 
haben Gauner in Zusammenhang gebracht mit rotweisch Gannef 
= Dieb (in Berlin neuerdings in breiterer Bedeutung: der Ganowe, 
die Ganowen), was auf das gleichbedeutende hebräische gannab 
zurückgeht. Eine dritte Etymologie versucht das italienische 
ingannare = betrügen heranzuziehen. Alle drei Ableitungen sind 
aber abzulehnen, zumal da die ursprüngliche deutsche Form gar 
nicht Gauner, sondern Jauner, Joner ist. Dabei ist j nicht etwa 
die norddeutsche Abänderung für g, denn gerade in Südwest¬ 
deutschland taucht das Wort zuerst auf, und zwar mit dem Anlaut j. 
Für die Mitte des 15-. Jahrhunderts ist in Südwestdeutschland und 
in der Nordwestschweiz rotwelsch junen, verjunen = spielen, ver¬ 
spielen bezeugt. So schreibt die Basler Chronik um 1430: so sy 
(die Vaganten) trunken werden, so hebet sich ein junen, das ist 
ein spilen, mit den rüblingen, das sint würffel. Für 1490 ist gebucht 


142 






Juoner mit der Bedeutung Spieler, Falschspieler mit Würfeln und 
Karten. Erst im 18. Jahrhundert wird die Bedeutung auf alle Arten 
von Eigentumsverbrechen erstreckt, auf Diebstahl, Betrug, Falsch¬ 
münzerei usw. Besonders die heimatlos herumziehenden Strolche 
hießen Jauner. Neben dem Ausdruck Rotwelsch war für die Sprache 
der ,,unehrlichen Leute 44 das Wort Jänisch oder Jenisch gebräuch¬ 
lich, und zwar besonders in Österreich (für die Wiener Kellner¬ 
sprache 1740 gebucht), gelegentlich aber auch in elsässischen und 
schwäbischen Mundarten, einmal auch bei Jean Paul. ,,Jenischer 
Adel 4 4 war eine scherzhafte Gesamtbezeichnung für Bettler, Diebe, 
fahrende Leute, herumziehende Fländler. Dieses jänisch, jenisch 
war aus Jauner, Joner gebildet. In der Literatur kommt Gauner 
zuerst 17J3 bei Lessing vor, aber Schiller spricht noch 17^1 in den 
Räubern von Jaunern, Jaunerhorde; ,,der Herr traut meiner 
Jaunerparole ohne Handschrift 44 , heißt es im Fiesko; dort wird der 
Mohr auch ,,ein drolligster Jauner 44 genannt. Neben Jauner kommt 
aber bei Schiller auch Gauner schon vor; in den Räubern heißt 
es einmal: ,,du (Spiegelberg) bist wohl der erste Gauner, der über 
den hohen Galgen weggesehen hat; auch bezeichnet der Pater Karl 
Moor als Gaunerkönig. 

In der Erkenntnis, daß der Anlaut j der ursprüngliche ist, hat 
man die oben erwähnten Ableitungen von Zigeuner bzw. von 
Gannef als unbefriedigend angesehen und den Ursprung des deut¬ 
schen Wortes anderswo gesucht, wobei alle Ableitungsversuche zu 
hebräischen Wurzeln zu führen scheinen. Meistens sieht man 
im hebräischen Zeitwort janah = niederschlagen, (beim Geschäft) 
drücken (Partizip joneh), neuhebräisch jono = betrügen, den Vor¬ 
fahren des deutschen Wortes. Alfred Landau hat jedoch eine neue 
überraschende Erklärung gegeben. Er führt Gauner auf hebräisch 
jawan = Grieche zurück; daraus wurde im jüdischen Jargon 
jowen = schlaues, hinterlistiges Volk. Daß jawan, der hebräische 
Name der Griechen mit dem Namen Ionier zusammenhängt, dürfen 
wir um so eher annehmen, als der Namen der Ionier ursprünglich 
Iawones lautete. Unter den Griechen waren besonders die Ionier 
die Träger der Handelsbeziehungen im Orient, und die Verall¬ 
gemeinerung des Begriffs ,,Ionier 44 zu ,,Grieche 44 durch das 
Hebräische ist daher nicht verwunderlich. Das Wort Gauner wäre 
demnach ein entarteter Zwillingsbruder des Wortes Ionier, wie 
etwa Strolch von Astrolog. (Über andere solche ungleiche 


i43 



Wortbrüder siehe die Stichwörter ,,authentisch, Effendi“ und 
,,loyal, legal“ 1 .) 

Zum Verständnis des Umstandes, daß aus dem hebräischen Namen 
des griechischen Volkes im Jüdischen und durch Vermittlung des 
Rotwelsch in der neuhochdeutschen Schriftsprache ein Schimpfwort 
geworden ist, muß daran erinnert werden, daß der Grieche seit 
jeher einen zweifelhaften Leumund bei anderen Völkern hatte. 
Schon Cicero spricht abfällig von griechischer Treue (graeca fides). 
Mangels Vertrauenswürdigkeit nur gegen Barzahlung kaufen können, 
heißt bei Plautus: mit griechischem Kredit handeln (graeca fide 
mercari). Traue keinem Schritt der Griechen, sagt Iphigenie bei 
Euripides. Im 4. Jahrhundert beklagt sich der hl. Hieronymus, daß 
die Christen von den Heiden ,,Griechen“, d. i. Betrüger, genannt 
werden. Wenn man einen Türken fragt, ,,wirst du Wort halten“, 
antwortet er beleidigt ,,ich bin doch kein Grieche“; bei den 
türkischen Zigeunern heißt der Grieche Balamo, d. h. Betrüger. 
In Frankreich hatte grec im 16. Jahrhundert die Bedeutung: listiger, 
schlauer Hofmann. Später wurde grec in Frankreich — und dagegen 
konnten wiederholte griechische Proteste bei Herausgebern fran¬ 
zösischer Wörterbücher nichts ausrichten — gleichbedeutend mit 
Falschspieler. Im 18. Jahrhundert, das so reich war an herum¬ 
ziehenden vornehmen Abenteurern größeren und kleineren For¬ 
mats, machte man in Frankreich viel böse Erfahrungen mit Falsch¬ 
spielern, und das Bedürfnis nach einer prägsamen Bezeichnung 
solcher zweifelhafter Glücksritter war gegeben. Und so stellte der 
schon auf das Altertum zurückschauende üble Leumund der Griechen 
der französischen Sprache das Wort zur Bezeichnung des Falsch¬ 
spielers zur Verfügung. Es ist für die Griechen, schreibt Nyrop, 
ein geringer Trost, daß die meisten berüchtigten ,,Griechen“ der 
Rokokozeit eigentlich — Italiener waren. Für den um die Mitte 


1) Der Landauerschen Etymologie gegenüber ist immerhin zu bemerken, daß 
die sprachliche Assoziierung zwischen den Begriffen ,,Grieche“ und „Be¬ 
trüger“ zwar — wie die obigen Belege zeigen — bei verschiedenen Völkern 
feststellbar ist, daß aber gerade bei den Juden die hohe Schätzung des griechi¬ 
schen Geisteslebens deutlicher im Vordergrund steht, als der Gedanke an 
griechische Hinterlist. Chochmass-juwon = griechische Philosophie klang früher 
sehr achtungsvoll im jüdischen Mund. In Rußland wurde von den Juden dann 
allerdings das Wort jawan, juwon allgemein zur Bezeichnung der griechisch- 
orthodoxen Christen, d. h. der Russen, verwendet, und chochmass-juwon bekam 
die verächtliche Bedeutung: russische Bauerndummheit. 


144 






des 18. Jahrhunderts in Frankreich bereits festgelegten Sinn des 
Scheltwortes „grec“ zeugt u. a. ein 17^8 (mit Druckangabe 
London) erschienenes französisches Buch: Histoire des grecs ou 
de ceux, qui corrigent la fortune au jeu (Geschichte der Griechen, 
das ist jener, die im Spiel das Glück korrigieren). In erweitertem 
Sinne bedeutet seit dem 19. Jahrhundert grec in der französischen 
Umgangssprache auch allgemein: falsch; so z. B. grec marquis, 
grec colonel, grec anglais im Sinne: falscher Marquis, falscher 
Oberst, falscher Engländer. In der Bretagne hat grec auch die Be¬ 
deutung: habgieriger Egoist; etre grec = geizig, grausam sein. 
Auch im englischen Slang heißen Falschspieler greeks oder levants 
(Levantiner = Christen des Morgenlands). Bei französischen Schrift¬ 
stellern findet man übrigens für Gauner, Falschspieler als Ersatz 
für grec manchmal auch die Umschreibung peloponesien. 

GAZETTE 

Dank Friedrichs des Großen oft herangezogenem, weniger oft be¬ 
folgten Ausspruch, daß Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, 
nicht genieret werden müssen, hat sich die Kenntnis des Fremd¬ 
wortes Gazette = Zeitung in Deutschland erhalten. Der König 
kannte das Wort vor allem aus dem Französischen. Ungefähr zur 
gleichen Zeit, aus der die ältesten politischen Zeitungen Deutsch¬ 
lands stammen (1601 Augsburg und Straßburg), erschien in Frank¬ 
reich ,,La Gazette“, ,,gleich witzig durch den Gegenstand wie 
in der sprachlichen Form“, wie der bekannte Münchner Zeitungs¬ 
historiker Prof. d’Ester schreibt. Das Wort Gazette wurde zur Be¬ 
zeichnung für eine Mischung von mehr oder weniger genauen 
Nachrichten, satirischen und politischen Bemerkungen. 1631 
gründete Th6ophraste Renaudot die erste französische politische 
Zeitung ,,Gazette de France“, die sich selbst wie folgt charak¬ 
terisierte: bref donc, soit en mal soit en bien, la Gazette n’ignore 
rien — kurz gesagt, im Guten wie im Bösen, nichts übersieht die 
Gazette. Im Jahre 1771 ließ in Paris der berühmte Pamphletist und 
,,Revolverjoumalist“ Thevenau de Morande einen „geharnischen 
Gazetier** erscheinen (Le Gazetier cuirasse). 

Nach Frankreich war das Wort aus Italien gekommen, wo gazzetta 
dell novitä, kurz gazzetta, schon im 16. Jahrhundert gleichbedeutend 
mit Zeitung war. Es ist naheliegend, das italienische Wort als eine 
Verkleinerungsform aufzufassen. Schmeller und Körting sahen in 



gazzetta das Diminutiv von gazza == Elster, „indem die ersten Zei¬ 
tungen etwa geschwätzigen Elstern verglichen worden wären“. Auf 
die Ableitung von Gazette aus dem Namen der Elster gründet sich 
jene Strophe in Giambattista Castis „Animali parlanti“ (Sprechende 
Tiere, 1792— 99), wo als die ersten Zeitungsgründer die Elstern 
bezeichnet werden (che la gazze sian le prime, che standesser le 
gazette), diese verlogenen, schwatzhaften und käuflichen Tiere 
(bestie mendaci, garrule e venali). Boshaften Leuten mag vielleicht 
bei dieser Etymologie der belustigende Gedanke kommen, daß im 
Wappen der siebenten Großmacht die Ente das Feld nun mit einem 
anderen Vogel, der Elster, teilen müßte, zumal da die Elster nicht 
nur als geschwätzig 1 , sondern auch als diebisch gilt, aber jene Vogel¬ 
etymologie ist aus der Luft gegriffen; auch die Nebenbedeutungen 
von gazette im Französischen: Klatschbase, abgedroschene Ge¬ 
schichte, haben sich nicht aus dem italienischen Namen der ge¬ 
schwätzigen Elster, sondern erst aus dem Begriff der Zeitung ent¬ 
wickelt. Ganz kurios ist die Ableitung von gazzetta im alten etymo¬ 
logischen Wörterbuch des Portugiesischen von Francisco Solano 
Constancio: von deutsch ,,Ganz-Zeit“ ! 

Gazzetta war der volkstümliche Namen einer in Venedig zuerst 
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geprägten Scheide¬ 
münze, die auch in Dalmatien und in der Toskana und sogar in 
der Levante im Umlauf war. Sie galt zwei Solidi, und das war der 
Preis der ersten Zeitungen, die in Venedig erschienen. So mußte 
man z. B. in Venedig 1^36 je eine Gazzetta zahlen für die hand¬ 
schriftlichen Nachrichten über den Krieg mit Soliman II. Der Namen 
der Münze wurde auch zum Namen der Zeitung selbst, ein seltener 
Typ der Bedeutungsübertragung vom Preis auf die Ware 2 . 


1) Er babbelt wie e Atzel (schwatzt wie eine Elster), sagt man in Frankfurt. 
Und im Französischen: bavard comme une pie borgne, schwatzhaft wie eine 
einäugige Elster. 

2) Teilweise diesem Übertragungstypus gehört das Wort Marzipan an, 
das mit Gazette auch gemeinsam hat, daß es ein venezianischer Münzennamen 
orientalischer Herkunft ist, der in übertragener Bedutung von Venedig aus 
Weltgeltung erlangt hat. Marzipan ist nicht persisch märzäban (Markgraf), 
noch lateinisch Marci panis (Gebäck zu Ehren des heiligen Markus), noch 
Martis panis (Märzbrot, d. h. Neujahrsbrot, da das alte römische Jahr mit März 
begann), hat auch mit griechisch maza = Kuchen nichts zu tun, sondern stammt 
nach Kluyvers Beweisführung von arabisch mauthaban = sitzender König (zu 
wataba = ruhig sitzen). Eine zur Zeit der Kreuzzüge in der Levante verbreitete 


146 




In der venezianischen Redensart aver gazzetti (= Geld haben) ist die 
ursprüngliche Bedeutung von gazzetta auch heute noch erhalten 
geblieben. 

Die Etymologie von Gazette = Zeitung kann bei der Zurück¬ 
führung unseres Fremdwortes auf die alte venezianische Scheide¬ 
münze nicht stehen bleiben. Wie kam es zum Namen jener Münze? 
Nach dem bisherigen Stand der Forschung scheint das italienische 
Wort gazzetta als Namen jener Münze die Verkleinerung von alt¬ 
persisch gaza = Schatz, Reichtum, Kronschatz * 1 zu sein. (Wahr¬ 
scheinlich ist auch Ghaza, der Namen der einstigen Philisterstadt 
in Südpalästina, mit dem persischen gaza = Schatz gleichzusetzen; 
von diesem palästinensischen Ortsnamen leitet sich vermutlich das 
Wort Gaze ab, die Bezeichnung für lose gewebte, durchscheinende 
Stoffe aus Seide, Baumwolle usw., wenn es nicht aus arabisch kazz 
= Rohseide kommt.) 

INS GEBET NEHMEN, KURZ ANGEBUNDEN, ZU 
PAAREN TREIBEN 

Ins Gebet nehmen (= streng anfassen, in scharfe Zucht nehmen) 
deutet man gewöhnlich: den Tadel für jemand mit ins Gebet 
schließen, in den Text der Predigt nehmen, oder: dem reuigen 
Sünder nach der Beichte vorbeten. Angesichts der verwandten Aus¬ 
drücke abkanzeln, die Leviten lesen, den Text lesen, eine Straf¬ 
predigt halten ist diese Kombination wohl naheliegend, dennoch 
hängt die Redensart ,,ins Gebet nehmen“ mit beten und Gebet 
nicht zusammen. Gebet ist hier vielmehr entstellt aus „Gebett“, 
der niederdeutschen Form von Gebiß. Der Bauer nimmt das un¬ 
gehorsame oder übermütige Pferd ins Gebiß, d. h. er knebelt ihm 
die Eisenstange ins Maul 2 . In der Schweiz hört man manchmal das 

Münze hieß so, da sie eine sitzende Christusgestalt zeigte. Daraus wurde ma- 
tapan und marzapan, der Namen einer venezianischen Münze, ferner auch ein 
Hohlmaß. Die Süßigkeit bekam den Namen Marzipan, weil sie in Schachteln 
mit Fassungsraum eines marzapane in den Handel kam. Einen dritten Fall, wo 
ein arabisches Wort als venezianischer Münznamen international bekamst ge¬ 
worden ist, sehen wir im Worte Zechine (s. das Stichwort Arsenal). 

1) Persisch gaz-bar bedeutet Schatzträger, Schatzmeister, und daraus kommt 
nach Lokotsch der Namen des einen „Königs aus dem Morgenland“ und aus 
Kaspar dann, weil es eine komische Figur war, Kasperle. 

2) Brinkmann, der in seinem verdienstvollen, leider Torso gebliebenen 
Werke über Metaphern viele auf das Pferd bezügliche Redensarten anführt, 


147 




Zeitwort chlemmbiise in dem Sinne: jemand streng behandeln, d. h. 
ihm das Klemmgebiß anlegen. Derselbe Vergleich mit der strengen 
Behandlung des Pferdes liegt ja auch dem Ausdruck zügeln (oder 
im Zaum halten) zugrunde, auch Redensarten wie ,,die Zügel 
lockern“, „die Zügel schießen lassen“. Im Simplizissimus des 
Grimmelshausen ist zu lesen: ,,verhängte derowegen meinen Be¬ 
gierden den Zügel“. Ähnliche Bilder gibt es auch in anderen 
Sprachen. Bei Cicero heißt z. B. refrenare libidines: Begierden 
zügeln (von frenum, Gebiß). Der Spanier sagt: poner frene a las 
leviandados, den Ausschweifungen das Gebiß anlegen. 

Die strenge Behandlung des Tieres ist auch für eine andere 
Redensart die Vergleichsgrundlage. Kurz angebunden wird das 
Tier, d. h. das weidende Pferd, damit es keine großen Sprünge 
macht. Kurz angebunden 1 im übertragenen Sinne hieß daher zu¬ 
nächst: streng gehalten. Doch entwickelte sich daraus die Be¬ 
deutung: zurückhaltend, wortkarg, abweisend. In letzterem Sinne 
sagt Faust vom Gretchen: „Wie sie kurz angebunden war, das ist 
nun zum Entzücken gar.“ (Ein französischer Übersetzer des Faust 
dachte bei kurz angebunden wohl an „hochgeschürzte“ Röcke und 
gab jene beiden Zeilen so wieder: et la jupe courte, d’honneur, 
c est ä ravir, ihr kurzer Rock, auf Ehre, entzückend ; zufolge dieses 
Mißverständnisses des Übersetzers ist angeblich das Gretchen in 
der Pariser Oper einmal in kurzem Röckchen gespielt worden.) 
Eine Parallele zum deutschen Ausdruck „kurz angebunden“ sei aus 
der argentinischen Vulgärsprache angeführt; in ihr heißt es von 
einem Manne, der längere Zeit zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit 
gezwungen ist, esta a palo, er ist angepflockt, ein ursprünglich auf 
den Camps gebrauchter Ausdruck, wo die jungen Pferde vor dem 
Zureiten längere Zeit mit einem ganz kurzen, kräftigen Lederriemen 
an einen Pfahl angebunden werden, damit ihre Wildheit gebrochen 
wird. 

Mit dem Pferde hängt auch die Redensart zu Paaren treiben 
zusam men. Nur als Kuriosum kann Adelungs Deutung gelten: „die 

hat an die Dazugehörigkeit der Redensart „ins Gebet nehmen“ nicht gedacht; 
offenbar, weil er, vorwiegend auf romanische Sprachen achtend, den deutschen 
Mundarten (und den aus ihnen zu erklärenden Entstellungen von Redensarten) 
zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. 

i) Borchardt-Wustmann: „Denken könnte man bei dem Bild an das junge 
Bäumchen, das zu kurz oder zu tief angebunden, jedem Windstoß nachgibt.“ 
Die Erklärung mit dem angebundenen Pferd gibt sich jedoch viel zwangloser. 


148 





getrennten Paare einer Prozession durch Gewalt wieder hersteilen.“ 
Zu Paaren treiben lautete ursprünglich: zum Baren treiben, und 
damit ist auch die Herkunft der Redensart aufgezeigt. Barn, Baren 
(wie Bahre, Bürde, Gebaren, Gebärde, gebären, entbehren, Gebühr 
und auch griechisch pherein, lateinisch ferre zu einer indo¬ 
germanischen Wurzel bher = tragen) ist ein veraltetes, in der 
Schweiz und im Elsaß heute noch vorkommendes Wort, das die 
Krippe, den erhöhten Futtertrog bezeichnet. In althochdeutschen 
Texten heißt die Krippe im Stall zu Betlehem: barn. In Fischarts 
,,Bienenkorb“ ist die Rede von Ketzern, die man „zum parren 
bringen“ wolle. Welcher kein ross am paren hat, sagt Hans Sachs, 
derselbig soll zu fuss laufen. Das wilde Pferd, das aus dem Stall 
ausgebrochen ist, wird wieder zur Krippe, „zum Baren getrieben“. 
Es muß sich also nicht etwa um den Spaziergang einer Töchterschule 
handeln, wo die Gouvernante streng auf die Ordnung der Zweier¬ 
reihen schaut, man kann auch ein einzelnes Wesen zu ,,Paaren“ 
treiben. Übrigens hat man auch an die Barren der ritterlichen 
Turniere gedacht: zu Paaren treiben hieße demnach: den Tumier- 
gegner an die Schranken drängen, daß er sich ergeben mußte. 
Der Zusammenhang mit Pferd und Stall ist weitaus wahrschein¬ 
licher 1 . 

Weitere Ausdrücke, die mit dem Pferd Zusammenhängen, sind: 
Anstrengung, angestrengt (d. h. im Strange eingespannt), am gleichen 
Strange ziehen (Bismarck: ,,Ich glaube nicht, daß der Herr Ab¬ 
geordnete Richter mit mir an demselben dynastischen Strang zieht“ 
— eine Anwendung, über die sich monarchiefeindlicher Spott leicht 
hermachen kann), wenn alle Stränge reißen, über die Stränge hauen 
(das mutwillige Pferd gerät beim Ausschlagen mit den Hinterbeinen 
leicht aus dem Geschirr, d. h. über den Strang; hingegen beziehen 
wir die Redensart ,,über die Schnur hauen“ aus dem Leben des 
Zimmermanns, der über den Balken, um ihn gradlinig zu behauen, 
eine Schnur zieht und aufpassen muß, nicht darüber zu hauen 2 ), in 
den Sielen sterben (d. h. mitten in der Arbeit; die Sielen, verwandt 

1) Eine andere Etymologie bei Kluge-Götze: zu Paaren (barn) sei zurück¬ 
zuführen auf mittelhochdeutsch bere = sackförmiges Fischernetz, und diese 
Deutung stützt sich auf die Erklärung der Redensart durch Tappius 1539: 
,,Ins Netz treiben, so einschließen, daß es kein Entrinnen gibt.“ 

2) In der plattdeutschen Redensart: ut de Schnor treden (aus der Schnur 
treten) ist das von Pferd und Wagen genommene Bild vielleicht durch die andere 
Redensart aus dem Zimmermannsleben quer beeinflußt. 


149 




mit Seil, sind die Riemen der Zugtiere), sich vergaloppieren, 
Scheuklappen haben, sich auf die Hinterbeine stellen, umsatteln 
(= Beruf wechseln), der Hafer sticht ihn, ausgelassen (sind die Tiere, 
die man nach langem Stallaufenthalt ins Freie läßt), die Köpfe 
zusammenstecken, durchgehen, fest eingespannt sein, abgespannt 
sein, ausspannen, abspenstig machen (im 18. Jahrhundert: jemandem 
das Gesinde abspannen), auf den Zahn fühlen (dem Pferde, um sein 
Alter festzustellen — oder sollte das Bild vom Zahnarzt genommen 
sein, der den Herd des Schmerzes sucht?). 

Auf das Reiten beziehen sich ferner die bildlichen Wendungen: 
kurz halten, anspomen, Kopf über Hals (fliehen), aus dem Stegreif 
(etwas erledigen, wie der Reiter, der dabei nicht vom Pferde steigt, 
also im Steigbügel, im Stegreif verbleibt), sattelfest sein, herunter¬ 
gekommen sein (nämlich vom Pferd, wenn man keines mehr hat), 
sich aufs hohe Roß setzen, hochtrabend (ursprünglich wohl von 
Pferden gesagt, die trabend die Beine hochheben, aber auch den 
Reiter ins Auge fassend, der stolz die Fußgänger überragt; schon 
im Griechischen sagte man im übertragenen Sinne logos hippo- 
bamanos, berittene, d. h. stolz tuende, schwülstige Rede, im 
Gegensatz zu logos pezos, zu Fuß gehende, d. h. schlichte Rede; 
15-24 nannte Hieronymus Emser, der ,,Bock von Leipzig“, seinen 
ehemaligen Hörer und Freund Luther einen ,,freveln und hoch¬ 
trabenden-Geist“). Das französische monter sur ses grands chevaux 
(auf seine großen Pferde steigen) = laut, mit Zorn sprechen 
gründet sich auf den Unterschied zwischen den der schweren 
Rüstung gewachsenen Tumierpferden und den kleineren Zeltern. 

GEMÜT, GEMÜTLICHKEIT 

„Und doch ist jede Wortüberlieferung so bedenklich. Man soll sich, heißt es, 
nicht an das Wort, sondern an den Geist halten. Gewöhnlich aber vernichtet 
der Geist das Wort oder verwandelt es doch dergestalt, daß ihm von seiner 
früheren Art und Bedeutung wenig übrig bleibt.“ (Goethe, Farbenlehre.) 

,,Die Deutschen“, liest man in Goethes ,,Sprüchen in Prosa“, 
,,sollten in einem Zeitraum von dreißig Jahren das Wort Gemüt 
nicht aussprechen, dann würde nach und nach Gemüt sich wieder 
erzeugen.“ In manchem philosophischen Gedankengang gründet 
sich alles nur auf den schwer faßbaren Begriff des Gemüts, so daß 
man sich an den Ausspruch Christian Morgensterns erinnert, 
Philosophien seien ,,Schwimmgürtel, gefügt aus dem Korke der 
Sprache“. Die Bedeutungsgeschichte der Wörter Gemüt und Ge- 


I£Q 





mütlichkeit stellt jedenfalls ein Stück deutscher Geistesgeschichte 
dar. Gemüt (althochdeutsch gimuati, mittelhochdeutsch gemüete 
und gemuot, mittelniederdeutsch gemode) bedeutet ursprünglich 
schlechthin Seele — im Gegensatz zu Leib. Des Galenus geradezu 
psychoanalytische These übersetzt Johannes Fischart im 16. Jahr¬ 
hundert: ,,Nach des Gemüts Sitten und Gestalt — auch der Leib 
sich sittet und halt, — das Gemüt ziecht wie es will den Leib.“ 
Im 17. Jahrhundert schreibt Joh. Balth. Schupp, daß Alexander 
,,ein groß Gemüthe bei einem kleinen Leibe“, Karl der Dicke aber 
,,nur einen großen Leib bei einem kleinen Gemüthe“ hatte. Neben 
diesem allgemeinen Sinn Gemüt = Seele im Gegensatz zum Leibe 
kehrte das Wort im Laufe der Entwicklung immer mehr Sonder¬ 
bedeutungen hervor. Es bekam u. a. den Sinn Charakter; z. B. 
ein redliches Gemüt, ein männliches Gemüt, ein niedriges Gemüt; 
ein Sprichwort lautet: ,,Der Fuchs verkehrt seine Haut, aber nicht 
sein Gemüt.“ Weitere Nuancen: etwa wie Herzhaftigkeit (daher 
,,tapferes Gemüt“), wie Seelenverfassung (daher ,,gemütskrank“), 
Stimmung. Für Stimmung selbst hatte sich Adelung vergeblich 
bemüht, das Wort ,,Gemütsstellung“ einzuführen. (Dazu Jean 
Paul: ,,Noch liegt das Wort bei ihm und wird nicht gangbar. Ich 
schlage es den Komikern zur Nutzung und Verbreitung vor; ihnen 
sind ja dergleichen Erfindungen ein schöner Fund.“) Bei Goethe 
finden wir Gemüt sowohl ganz allgemein, im Sinne der Gesamtheit 
der seelischen Kräfte (z. B. in der Iphigenie: ,,so wende meinem 
Freunde dein Gemüt, dem würd’geren Manne zu“), als in der 
engeren Bedeutung Interesse, Teilnahme, Verständnis (z. B. heißt 
es im Egmont von König Philipp: ,,er hat kein Gemüt gegen uns 
Niederländer“). 

Vielfach wurde Gemüt im Sinne von Geist gebraucht. Im 
17. Jahrhundert heißt es in den ,,himmlischen Liedern“ des 
Johannes Rist: ,,Herr Jesu Christ, mein Bruder von Gemüthe“ 
(= Bruder im Geist). Bei Kant ist das Geistige, die Vorstellungs¬ 
welt, die Ideen, der Verstand im Begriff des Gemüts schon in¬ 
begriffen. 

Anfangs des 19. Jahrhunderts bemächtigten sich aber — und 
dagegen kam auch ein Goethe nicht auf — die Romantik und die 
damals sogenannte Deutschtümelei des Begriffes Gemüt, er wurde 
als spezifisch deutsch erklärt und in Gegensatz zum Geist ge¬ 
bracht. Ganz neu war die Verlötung der Begriffe Deutschtum und 



Gemüt damals allerdings nicht (Moscherosch schrieb schon 1644: 
,,nun sind ein teutsches festes Gemüth und ein schlipferiger welscher 
Sinn anderst nicht als Hund und Katzen gegeneinander gerichtet“), 
aber erst anfangs des 19. Jahrhunderts wurde das deutsche Gemüt 
zum dauernden Belang. Gleichzeitig wurde den Wörtern Geist und 
Idee das sprachliche Adelspatent entzogen. Statt von der Idee von 
Gott sprach man nun vom Gemüt als Sitz der Religion. Gemüt 
hatte nun im Gegensatz zu dem an der äußeren Erfahrung orientierten 
Intellekt das ,,innere Leben“ zu bezeichnen. Fichte wünscht, der 
künftige Gelehrte solle ,,im einsamen Nachdenken die verborgene 
und ihm selber unbewußte eigentümliche Tiefe seines Gemüts in 
das Licht der Sprache erheben“. Und nach Schlegel ist die ,,eigent¬ 
liche Lebenskraft der inneren Schönheit und Vollendung das Ge¬ 
müt“ 1 . Gemüt, tiefes Gemüt, treues Gemüt galt als gleichbedeutend 
mit deutschem Wesen. Die deutsche Innerlichkeit wurde dem 
französischen Esprit gegenübergestellt, und Arndt hält den Fran¬ 
zosen vor, daß ihnen ,,die schwärmerische, nordische Tiefe des 
Gemüts“ fehle (übrigens auch ,,die volle südliche Naturkraft“ 2 ). 
Gegen das Schlagwort des Gemüts war selbst Goethes Opposition 
nicht aufgekommen. 180^ beklagte sich Goethe über eine Kunst, 
die ,,durch Frömmelei ihr unverantwortlich Rückstreben be¬ 
schönigt . . . Gemüt wird über Geist gesetzt“. 

Begreiflicherweise bediente man sich auch im Weltkrieg gerne 
des Schlagwortes vom Gemüt. Die Münchner ,,Jugend“ eröffnete 
z. B. ihren Jahrgang 1917 mit einem Gedicht, dessen Kehrreim 
lautete:,, Gesprengt, versenkt wird feste, — doch immer mit Gemüt. * ‘ 
Auch in der nationalen Erhebung von 1933 läßt man dem Gemüt 
Ehre widerfahren; im ,,Völkischen Beobachter“ vom 11. August 
äußerte sich z. B. Dr. EmstNobbe, Generalintendant des Deutschen 


1) Schon früher hatten sich Mystiker innig empfundener Definitionen des 
Gemüts beflissen. „Ein Kraft ist in der Seele“, schreibt Meister Eckhardt, 
,,die heißet das Gemuete, die ist der Ufenthalt geistlicher Forme und ver¬ 
nünftiger Bilde.“ Jakob Boehme bezeichnet das Gemüt als ,,der Seele Wagen“, 
,,das Herz des Willens“. 

2) Andererseits fehlt es auf französischer Seite nicht an Spöttern über den 
Gemütsbegriff. So schreibt z. B. Prosper Merimee 18^4 aus Innsbruck in einem 
Briefe an Jenny Dacquin, die berühmte „Unbekannte“, über die Tiroler 
Damen: „Sie haben riesige Füße, tragen unpassende Hüte, himmelblaue 
Stiefeletten und apfelgraue Handschuhe. Diese Eigenschaften machen vorwiegend 
das aus, was die Eingeborenen Gemüt nennen und worauf sie sehr stolz sind.“ 








Nationaltheaters in Weimar: ,,Wir Deutschen wurzeln im Gemüt. 
Das Wort allein, dem man einen lächerlichen Klang zu geben 
versuchte, jagt schon unseren Feinden einen geheimen 
Schrecken ein. Uns selbst aber gibt es durch ewige Zeiten hin¬ 
durch die Ahnung des Wunderbaren.“ 

War Gemüt das reine dicke Gold der Dichter und Denker, so 
wurde für den deutschen Alltagsmenschen als flache Scheidemünze 
das Schlagwort Gemütlichkeit in Umlauf gesetzt. Zunächst hatte 
gemütlich allerdings nur bedeutet: ,,das Gemüt betreffend.“ Ge¬ 
mütlich im Sinne von herzlich, Seelen voll häben um 1723 die 
Herrenhuter aufgebracht, aus deren Schriften dann dieser Sinn in 
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allmählich in das allgemeine 
Schrifttum hinübersickerte. ,,Es sind erhaben ob Raum und Zeit 
die Ritter von der Gemütlichkeit“, heißt es mit viel Behagen in 
einem Kommerslied von Adolf Krummacher. 

Görres verhöhnt 1814 die Gemütlichkeit als Modebegrilf der 
Deutschtümler: ,,Sie werfen ihre Augen herum nach einem solchen 
Mischkünstler und Giftmischer, der es verstände, den neuen Jargon 
zu reden, von Volkstum und volkstümlich, von Gemütlichkeit und 
der Herrlichkeit Teutschlands, von den Volksrechten und der 
Frömmigkeit teutscher Nation und von den raubgierigen Fremden.“ 
Und in den zwanziger Jahren schreibt Grabbe in ,,Scherz, Satire, 
Ironie und tiefere Bedeutung“: ,,Die Wörter genial, sinnig, gemüt¬ 
lich werden so ungeheuer gemißbraucht, daß ich schon die Zeit 
sehe, wo man, um einen entsprungenen, über jeden Begriff erbärm¬ 
lichen Zuchthauskandidaten vor dem ganzen Lande auf das Unaus¬ 
löschlichste zu infamieren, an den Galgen schlägt: N. N. ist sinnig, 
gemütlich, genial.“ Ursprünglich nur das zu ,,Gemüt“ gebildete 
Eigenschaftswort, bekam „gemütlich“ eine Färbung ins Behagliche, 
und — wie Rudolf Hildebrand im Grimmschen Wörterbuch in 
seiner mit Recht berühmten meisterhaften Art formuliert — „ge¬ 
mütlich heißt nun auch, wer vor lauter Gemüt die Strenge des 
Denkens, wie die Entschiedenheit des Tuns scheut und dem Emst 
des Lebens aus dem Wege geht oder ihn ganz übersieht, um nicht 
aus seinem gemütlichen Behagen hinausgetrieben zu werden“. 
Sächsische und süddeutsche, besonders aber österreichische Gemüt¬ 
lichkeit („des heiteren Völkchens am Donaustrand“) wird daher 
heute tadelnd fast Öfter als rühmend angeführt; schon der Wiener 
Achtundvierziger Moritz Hartmann spricht in der Reimchronik des 




Pfaffen Maurizius in einem Stoßgebet von „tödlichen Gemütlich¬ 
keiten 4 Und drei Jahrzehnte später höhnt Theodor Vischer im 
„Auch Einer 44 über die Vettermichelsgemütlichkeit. 

Nur der Mutterbegriff Gemüt bleibt nach wie vor als deutsches 
Allgemeingut unantastbar und unverletzbar. Es fällt daher anderen 
Sprachen auch ziemlich schwer, Gemüt und Gemütlichkeit aus dem 
Deutschen zu übersetzen. Der Engländer z. B. muß für Gemüt je 
nach dem Zusammenhang feeling, soul, heart, mind, disposition, 
nature, kind setzen. Gemütlich muß in fremden Sprachen mit 
Synonymen, wie bequem, anheimelnd, behaglich, angenehm, 
freundlich, heiter, gutmütig, häuslich, vertraulich, zugänglich, 
leutselig, unförmlich, sentimental wiedergegeben werden. Die 
Redensart „es geht nichts über die Gemütlichkeit 44 z. B. übersetzt 
das englische Wörterbuch von Muret-Sanders: nothing like ease 
and comfort 1 2 ; das französische von Sachs-Vilatte: rien de tel que 
d’avoir ses aises. An unseren Sprachgrenzen, „da hört sich die 
Gemütlichkeit auf 4<2 . 

DAS GESICHT WAHREN 

gehört zu den Redensarten der neuesten Zeit, die gleichsam vor 
unseren Augen und Ohren entstanden sind, allerdings ohne daß 
dieser Vorgang von anderen als zwei, drei Sprachforschern beachtet 
worden wäre. Im Jahre 1908 wurde eines Abends in einer deutschen 
Kleinstadt ein Stadtverordneter wegen öffentlicher Trunkenheit 
festgenommen. Als er am nächsten Morgen nüchtern entlassen 
wurde, raffte er seine ganze stadtväterliche Würde zusammen: 
„Da ich nun einmal hier bin, wünsch ich die Arrestantenzellen zu 
inspizieren. 44 Eine Zeitung berichtete darüber unter der Über¬ 
schrift: „Er wahrt sein Gesicht 44 , und die kleine Nachricht 
mitsamt der Überschrift machte die Runde durch die deutsche 
Presse. Noch im gleichen Jahre kehrte dann diese mit einem Schlage 

1) Comfort ist anfangs des 19. Jahrhunderts aus England ins Französische 
gedrungen. Französische Schriftsteller haben sich oft gegen dieses Modewort 
gewendet; z. B. Sarcey: „Comfort ist das Wort eines egoistischen Volkes, das 
sein Ideal in der Befriedigung des Appetits und der physischen Bedürfnisse sieht; 
bien-etre ist der französische Ausdruck.“ 

2) Das gilt aber nicht für die Grenze nach Ungarn. In kedely und keddlyes 
hat das Ungarische richtige Entsprechungen für die deutschen Wörter Gemüt 
und gemütlich. Es ist offenbar ein Fall von vollkommener Begriffsentlehnung 
ohne Wortentlehnung. 



verbreitete Wendung auch in anderen Zusammenhängen in der 
deutschen Presse wieder. Damals veröffentlichte der ,,Daily Tele¬ 
graph 4 4 ein aufsehenerregendes und beunruhigendes Interview mit 
Wilhelm II. über das deutsch-englische Verhältnis, und hätte dann 
nach einiger Zeit der Kaiser nicht öffentlich erklärt, er werde die 
Politik des Reichskanzlers nicht mehr durch persönliche Einmischung 
stören, so hätte Deutschland, so las man damals in einzelnen Zei¬ 
tungen, vor aller Welt ,,das Gesicht verloren 44 . 

Die Philologen, die so unvermittelt eine vorher ganz unbekannte 
Redensart in den Zeitungsspalten auftreten sahen, standen zunächst 
einem Rätsel gegenüber. Da sich zeigte, daß englische Zeitungen 
zu gleicher Zeit to save the face, französische sauver la face ge¬ 
brauchten, beschuldigten polternde Wustleute zunächst die deut¬ 
schen Journalisten und Politiker, die sich dieses ,,Modewortes 44 
bedienten, sie äfften wieder einmal den westlichen Nachbarn nach. 
Die Erörterungen, die sich auf Anregung von Wülfling in der Zeit¬ 
schrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins an die Redensart 
knüpften, brachten es aber bald an den Tag, daß sie weder englischen 
noch französischen Ursprungs sei, sondern — chinesischen. Schon 
früher hatten Forschungsreisende und Missionäre in Schilderungen 
Chinas gelegentlich die chinesischen Ausdrücke ,,das Gesicht 
wahren, das Gesicht verlieren 44 angeführt, aber erst der Expeditions¬ 
feldzug der europäischen Großmächte gegen die aufständischen 
,,Boxer 44 brachte es mit sich, daß der chinesische Ausdruck nach 
Europa verschleppt wurde. In allen Kriegen werden aus der Sprache 
der fremden Zivilbevölkerung Wörter und Redensarten auf¬ 
geschnappt. Während sich aber sonst meistens nur Wörter der all¬ 
täglichen Dingwelt in die Umgangssprache der Soldaten einnisten, 
hat in diesem Falle ein Feldzug dazu geführt, daß eine abstrakte 
Redensart, die mit einem wesentlichen und tiefverwurzelten 
Charakterzug eines Volkes zusammenhängt, in einen anderen Erdteil 
verpflanzt worden ist. Ein rheinischer Missionar in China, Pater 
HÖtzel in Tungkun, beschrieb ausführlich, welchen Wert für den 
Chinesen die Wahrung des Gesichtes hat. Die Wirklichkeit hat für 
den Sohn der Mitte weniger Wert als der Schein. Wenn nur dieser 
gewahrt wird, ist alles gut. Gibt einer das Gesicht auf, so ist es 
gleichsam sittlicher Selbstmord, der oft zum wirklichen führt. Die 
Welt, die jeder Chinese um sich her bereitet und bereiten muß, 
besteht absichtlich und grundsätzlich aus Schein. Wahrhaftigkeit 


155 



und UnWahrhaftigkeit sind nur verschiedene Mittel, ihn zu wahren. 
Ist der Schein gewahrt, so betrachten alle Beteiligten, auch jene, 
die sich wissentlich durch den Schein täuschen ließen, die Sache 
als vollkommen erledigt. Das Verlieren des Gesichtes ist eben ein 
Versagen in der ständig geübten Meisterschaft, den Schein zu 
wahren. Pater Hötzel protestiert übrigens gegen die Aufnahme der 
Redensart ,,das Gesicht wahren* 4 in die deutsche Sprache, da sie 
sich auf eine uneuropäische Art der Heuchelei beziehe. Der Aus¬ 
druck dürfe höchstens für chinesische Verhältnisse gebraucht werden. 

Mittlerweile hat sich aber die Redensart ganz durchgesetzt. 
Vom Boxerkrieg bis 1908 war noch eine Frist von acht Jahren 
nötig, bis die zunächst nur gelegentlich zwischen „Gänsefüßchen“ 
angeführte chinesische Redensart in Deutschland und in Europa 
allgemeingültig wurde. In Deutschland setzte sie sich dank des ge¬ 
schilderten Arresterlebnisses jenes Stadtverordneten schlagartig 
durch. Den alten chinesischen Sinn, den Schein zu wahren, auch 
um den Preis einer zwar nicht verkannten, doch geduldeten Lüge, 
diesen ursprünglichen Sinn hat das Schlagwort bei uns allerdings 
fast ganz eingebüßt. Auch dürften die Schilderungen über diese 
Sonderart konventioneller Heuchelei für das chinesische Volk heute 
nicht mehr ganz zutreffen. Groß sind die politischen, wirtschaft¬ 
lichen und geistigen Umwälzungen, die sich in China in den letzten 
zwei Jahrzehnten vollzogen haben, und manche der alten Tugenden 
und Untugenden ist mittlerweile verblaßt, um neuen Platz zu 
machen, die die Berührung mit Europa hervorsprießen läßt. Wenn 
man aber vernehmen will, was die Wahrung oder der Verlust des 
Gesichtes für den Chinesen vor ein, zwei Menschenaltem noch 
bedeutet hat, der lese z. B. die in den Vorkriegsjahren geschriebenen 
romanhaften Schilderungen von Eugen von Binder-Krieglstein aus 
der Mandschurei, ,,aus dem Lande der Verdammnis“. Binder- 
Krieglsteins Diener, der verlogene Halunke Tuan-fu-tscheng — er 
verdiente, neben klassisch gewordene Gestalten von Rabelais, 
Cervantes und Shakespeare eingereiht zu werden —, versteht es, 
durch alle Gaunereien hindurch das Gesicht zu wahren, und in dem 
Augenblicke noch, da er als Raubmörder hingerichtet werden soll, 
schleudert er grinsend dem Mandarin ein raffiniert ausgedachtes 
Schimpfwort ins Gesicht, um das eigene nicht zu verlieren, wenn 
schon der Kopf verloren werden muß. 

Über Wörter chinesischen Ursprungs s. das Stichwort Bonze. 



GHETTO 

Das Zusammenwohnen der Juden in bestimmten Stadtteilen (z. B. 
in Rom in Trastevere) kommt schon im Altertum vor, aber fest¬ 
stehende Namen für diese Quartiere entstanden erst im Mittelalter. 
In Deutschland bürgerte sich das durch Mauern und Tore ab¬ 
gesperrte Judenviertel im 13. Jahrhundert ein. Die heutige Juden¬ 
gasse in Straßburg führt z. B. ihren Namen seit mehr als 700 Jahren; 
er ist seit 1233 belegt (auch in den lateinischen Formen: vicus 
judaeorum, inter judaeos und apud judaeos). Im mittelalterlichen 
Italien hießen diese Viertel zunächst judaca oder judacaria, in 
Spanien juderia, in Frankreich juiverie, carriere des juifs, in Süd¬ 
frankreich carriere, juzatoria. 

Der Namen Ghetto taucht zuerst in Venedig auf: für das Stadt¬ 
viertel, in das die venezianischen Juden im Jahre 15-16 vereinigt 
wurden (geto nuovo). Der älteste schriftliche Beleg des Wortes 
ist wohl die vor kurzem vom Romanisten Curt Sigmar Gutkind 
nachgewiesene Mitteilung des venezianischen Geschichtsschreibers 
Marin Sanuto aus dem Jahre 15:31, daß im „geto“ von Venedig eine 
jüdische Theatertruppe spiele, daß aber der Rat der Zehn den 
Christen den Besuch der Vorstellungen verbiete. (Bekanntlich ist 
heute auch in Berlin Nichtjuden verboten, die Theaterveranstaltun¬ 
gen des Jüdischen Kulturbundes zu besuchen.) In Rom wurde 15^6 
ein Ghetto errichtet, zufolge der Bulle „cum nimis absurdum“ 
Pauls IV., jenes Papstes, der auch als erster einen „Index“ der 
verbotenen Bücher aufstellte. 

Für die sprachliche Herkunft des Wortes Ghetto gibt es mehrere 
Erklärungen. Die Ableitung von talmudisch-hebräisch ghet = Ab¬ 
sonderung, Scheidung (woraus auch im heutigen Judendeutsch 
„sich getten“ = sich scheiden lassen) wird von vielen Sprach¬ 
forschern, darunter auch von Littre, vertreten. Eine andere Hypo¬ 
these, die Ghetto mit griechisch geiton = Nachbar in Verbindung 
bringt, hat kaum etwas für sich. Unbegründet erscheint auch die 
Annahme Saineans, Ghetto sei ein Stutzwort aus italienisch borghetto 
(kleiner Marktflecken). Sonderbar ist die Ableitung bei Lokotsch: 
Ghetto von arabisch kubli = koptisch, ägyptisch, so daß Ghetto mit 
den Wörtern Zigeuner, ungarisch cigäny, spanisch gitano, englisch 
gipsy verwandt wäre. J. Joffe hat 1926 in der jüdischen Festschrift 
für den Sprachforscher Alfred Landau für 15-62 die lateinische 

l S7 




Bezeichnung „ghectus“ für das Judenquartier in Rom belegt und 
glaubt daraus folgern zu dürfen, daß es sich eigentlich um das 
deutsche Wort,,gehegt, eingehegt“ handelt; ein Teil der römischen 
Juden habe damals deutsch gesprochen, sie dürften das abgeschlos¬ 
sene Judenviertel als „g’hegt“ bezeichnet haben, und darauf beruhe 
nach Joffe der lateinische bzw. italienische Name Ghetto. 

Am annehmbarsten klingt die Erklärung, daß Ghetto ursprünglich 
,,Gießerei“ bedeutet (von italienisch gettare, ghettare = gießen, zu 
lateinisch jactare) und daß das Viertel, das den Juden in Venedig 
zugewiesen wurde, nach einer benachbarten Kanonengießerei schon 
früher so geheißen haben mochte. ,,Ghetto“ nach einer veneziani¬ 
schen Gießerei wäre also sprachgeschichtlich neben die Wörter 
,,Arsenal“ nach den venezianischen Werften und „Zechine“ nach 
der venezianischen Münzstätte (s. das Stichwort Arsenal) zu stellen. 

In deutschen Texten erscheint das Wort Ghetto seit 1627, 
zunächst nur auf die Judenviertel in Italien bezogen. 

GRISETTE, LORETTE 

,,Von allem, was Paris hervorgebracht“, schreibt Jules Janin, ,,ist 
zweifellos das Pariserischeste die Grisette. Sie können lange 
herumreisen auch in den fernsten Ländern und Sie werden wohl 
auch anderswo Triumphbogen, königliche Gärten und Museen, 
Prälaten und Kapitäne finden, aber nirgends etwas so junges, 
heiteres, so frisches, zartes, so feines, flinkes, so genügsames, wie 
das Ding, das man Grisette nennt.“ Schon Lafontaine dichtete: 
Une grisette est un tresor — car sans se donner de la peine — et 
sans qu’aux bals on la promene — on en vient aisement ä bout — on 
lui dit ce qu’on veut — bien souvent rien du tout. (Eine Grisette 
ist ein Schatz, denn ohne daß man sich viel Mühe gäbe und sie auf 
Bälle herumführte, kommt man leicht ans Ziel, man sagt ihr, was 
man will, oft sogar nichts.) 

Grisette bezeichnet seit etwa 1600 in Frankreich ein junges 
Mädchen aus dem Arbeiterstande. Daß das Wort einen gewissen 
erotischen Beigeschmack hat (einen ,,galanten“, um in der Aus¬ 
drucksweise der Entstehungszeit zu verbleiben), geht schon aus den 
oben angeführten französischen Stellen hervor. Auch die Über¬ 
lieferung, mit der man die Bezeichnung Grisette sprachlich deuten 
will, bewegt sich auf galantem Gebiete. Die vornehmen und reichen 
Kavaliere des ancien regime hatten unbeschadet ihrer Beziehungen 


* 5 * 




zu Damen ihres Standes oft auch ein Verhältnis mit einem ,,süßen 
Mädel 4 4 , einem Mädchen aus dem Volke, einer Näherin oder sonst 
einer jungen Arbeiterin. Damit nicht geklatscht werde, durfte der 
Lakai des Adeligen, wenn er an das Mädchen einen Brief brachte, 
nicht die Livree tragen, die den Absender verraten hätte können, 
sondern ein neutrales graues Gewand. Darum seien dann die Send¬ 
boten grisons und die Empfängerinnen grisettes genannt worden. 
Richtiger ist aber die Ableitung des Ausdruckes Grisette von der 
grauen Farbe der unscheinbaren und billigen Kleider, die die 
Pariserinnen aus dem Volke am Werktage trugen 1 ; den an den 
Luxus und an die Farbenprächtigkeit ihres Standes gewöhnten 
Aristokraten der galanten Zeit mußte die graue Erscheinung der 
jungen Arbeiterinnen jedenfalls charakteristisch erscheinen. Übrigens 
ist das Wort grisette auch im Sinne graues Hauskleid gebraucht 
worden; als Bezeichnung eines grauen Kleiderstoffes war das Wort 
grisette bereits im 12. Jahrhundert bekannt. (Die Benennung der 
Trägerin nach dem Kleidungsstück gehört zu jenem Typus der 
Bedeutungsverschiebung, den wir unter den Stichwörtern Bluse 
und Domino mit mehreren Beispielen belegen.) 

Im Deutschen ist Grisette nur als ein auf Paris bezügliches Fremd¬ 
wort gebraucht worden. 1719 erklärt das Teutsch-französische 
Wörterbuch von Frisch Grisette als ,,eine Weibsperson in Grau 
gekleidet, item eine solche Person von schlechtem Stand 44 . 1806 
erklärt Heubergers Fremdwörterbuch das Wort: ,,Mädchen, das 
unter der Hand das Gewerbe einer Lustdirne treibt. 44 

Auch das Wort Lorette wird im Deutschen nur in bezug auf 
Pariser Verhältnisse gebraucht. ,,Lorette 44 , schreibt Balzac, ,,ist 
ein dezentes Wort, erfunden zur Bezeichnung eines Mädchens, 
dessen Stand schwer zu bezeichnen ist und das die Akademie in 
ihrer Schamhaftigkeit und angesichts des Alters ihrer vierzig Mit¬ 
glieder versäumt hat zu definieren. Wenn ein neues Wort auftaucht 
für einen gesellschaftlichen Begriff, den man ohne Umschreibung 
nicht nennen kann, so ist sein Glück gemacht. Auch das Wort 
Lorette fand Eingang in alle Gesellschaftskreise, selbst in jene, in 
die eine Lorette selbst nie ihren Fuß setzen könnte. 44 In Mode 

1) Eine andere Etymologie gibt Delesalle in seinem Argotwörterbuch 1896. 
Grisette soll Zusammenhängen mit gigolette = in Tanzkneipen sich herum¬ 
treibendes Mädchen, und mit guinget = Schenke, guingette = Tanzkneipe, und 
auch Mädchen, das Tanzkneipen besucht. 






gebracht wurde das Wort Lorette hauptsächlich durch den Schrift¬ 
steller Nestor Roqueplan um 1840 herum 1 . Der Ausdruck hängt 
mittelbar mit dem Namen des italienischen Wallfahrtsortes 
Loretto zusammen. In der nach der Kirche benannten Rue de 
Notre-Dame-de-Lorette wohnten nämlich vor einem Jahrhundert 
sehr viele Prostituierte. (Eine ähnliche Bezeichnung nach einem 
Straßennamen: „Grabennymphen“ im Wien der Biedermeierzeit.) 

GUILLOTINE 

Im letzten Jahrzehnt der Regierung Ludwigs XVI. wurde in Pariser 
Ärztekreisen viel darüber diskutiert, welche Hinrichtungsart die 
humanste sei. Einig war man sich darin, daß die damals übliche 
Art, das Hängen, durch eine weniger grausame 2 ersetzt werden 
müsse. An diesen Besprechungen nahm neben den berühmten 
Ärzten Antoine Louis, Sekretär der Akademie für Chirurgie, 
Philippe Pinel, dem Psychiater, der dann später den Geisteskranken 
als erster die Ketten abnahm, wie viele zeitgenössische Stiche, Ge¬ 
mälde und Skulpturen es wörtlich darstellen, dem auch als Philosoph 
namhaften Pierre Cabanis auch der weniger berühmte Doktor 
Joseph-Ignace Guillotin teil, dessen Namen dann in dem eines neuen 
Hinrichtungsgerätes fortleben sollte. Erfunden hat nicht er den 
Apparat mit dem schräg gestellten Messer, das, gelockert, mit seinem 
Gewichte niedersaust. So ein Fallbeil sehen wir bereits im 16. Jahr¬ 
hundert auf einem Kupferstiche Albrecht Dürers, einen Men¬ 
schen darstellend, der eben unter einem Fallbeil steht. Auch viele 
andere Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert (z. B. von d’Alde- 
grever, Bonasini) gibt es von dieser Köpfmaschine, die unter ver¬ 
schiedenen Namen in Deutschland („Diele“, „Hobel“, „welsche 

1) Eine Begriffsabgrenzung zwischen Grisette und Lorette findet sich 
bei Pierre Dufour, dem Geschichtsschreiber der Prostitution (18 5* 1—£4): 
„Die charakteristischeste Eigentümlichkeit der Pariser Grisette war, daß 
die Liebe noch einen Wohnsitz in ihrem Herzen hatte, und daß sie an das Ver¬ 
hältnis, das sie einging, die ganze Innigkeit ihres Wesens, den ganzen Emst 
ihrer Leidenschaft setzte. Mit der Lorette begann eine neue Rassenbildung 
des Pariser Kurtisanentums. Die Lorette wurde zum eleganten Modeprodukt, 
das aus allen gemütlosen und berechnenden Eigenschaften der heutigen franzö¬ 
sischen Jugend zusammengeknetet zu sein schien . . . Bald aber ging das Loretten- 
tum in der Kokotte auf.“ 

2) Besonders die Ungeschicklichkeit und Roheit der in der Provinz als 
Scharfrichter herangezogenen Abdecker gab Ursache zur Kritik. 






Falle“, „Dolabra“), Italien („mannaia“) und Schottland (,,maid“) 
in Verwendung stand. Es hat sich also im Paris Ludwigs XVI. nicht 
um eine neue Erfindung, sondern um Neueinführung einer alten 
gehandelt. Der König selbst prüfte auch das Modell und — nicht 
ahnend wohl, in welche Berührung er in Bälde mit der Maschine 
kommen werde — vergewisserte er sich, daß es rasch funktionierte 
und das Haupt zweifellos sofort vom Rumpf trennte. 

Nachdem in der Öffentlichkeit bereits Jahre vorher vom Projekt 
die Rede war, wurde diese Hinrichtungsart von der gesetzgebenden 
Nationalversammlung auf Grund des chirurgischen Gutachtens 
des schon genannten Dr. Louis am 20. März 1792 amtlich ein¬ 
geführt. Das Gerät wurde unter Louis’ Aufsicht vom deutschen 
Klavierbauer Tobias Schmitt 1 angefertigt und ein halbes Jahr 
später wurde mit ihm die erste Hinrichtung vollzogen; an einem 
Raubmörder namens Jacques Pelletier. Einige Monate später fand 
die Hinrichtung des Königs statt. Es ist ein später Treppenwitz 
der Geschichte, der erste, den die Jakobiner durch die neue Köpf¬ 
maschine hinrichten ließen, sei der brave Doktor Guillotin gewesen. 
Richtig ist vielmehr, daß er die Maschine nicht erfunden, sondern, 
wie auch andere angesehenere und ausschlaggebendere seiner ärzt¬ 
lichen Kollegen, nur empfohlen hatte, und daß er 1814 als Sechs¬ 
undsiebzigjähriger eines natürlichen Todes starb, und daß die 
Guillotine überhaupt nicht als Werkzeug der Revolution, sondern 
noch unter dem Königreich ihr Walten angetreten hatte. 

Nach jenem Doktor Louis, der der Nationalversammlung das 
Gutachten über die neue Maschine erstattet hatte, nannte man sie 
anfangs Louisette oder Petite Louison. Aber im Volksmund 
war die Verknüpfung zwischen dem neuen Hinrichtungsgerät und 
dem Namen des harmlosen Doktor Guillotin bereits vollzogen, ehe 
die Maschine noch eingeführt war. In aristokratischen Kreisen fand 
man, Hinrichtungen dürfen und sollen grausam sein, und es sei ein 
Zeichen von umstürzlerischer Gesinnung, aus Humanitätsduselei 
Reformen anzustreben. Ein Spottgedicht in der royalistischen Zeit¬ 
schrift ,,Actes des Apotres“ begann mit den Zeilen: Guillotin — 
medecin — politique — imagine un beau matin, — que prendre est 

1) Schmitt blieb auch in der Folge der Fabrikant der Guillotinen, wurde 
bald sehr reich, entwickelte sich trotz vorgerückten Alters zum Lebemann und 
gab schließlich der Tänzerin Charmeroi Gelegenheit, das viele Geld rasch zum 
Verschwenden und zum Verschwinden zu bringen. 


161 


6 Storfer 







inhumain — et peu patriotique (Guillotin, politisierender Arzt, 
kommt eines schönen Tages auf den Gedanken, hängen sei unhuman 
und wenig patriotisch). Auch ein Gassenhauer verknüpfte den 
Namen Guillotins mit dem Fallbeil, denn am 14. Dezember 1789 — 
also zweieinhalb Jahre vor der Einführung der neuen Maschine, 
etwa drei Jahre vor ihrem ersten Walten — schrieb die Chronique 
de Paris von einem Lied, in dem die von Monsieur Guillotin 
empfohlene Köpfmaschine la Guillotine genannt wird. Das ist wohl 
das erste Auftreten dieser Bezeichnung, die bald das Übergewicht 
über Louisette und Louison erlangte. Im Jahre 1801, als das neue 
Gerät bereits eine gewaltige Arbeitsleistung hinter sich hatte, 
schlug der vielseitige Journalist Mercier den Namen decaput vor, 
denn ,,die ganze Nation müsse den Bürger Guillotin vor dem be¬ 
leidigenden Anschlag von Seite der Vulgärsprache schützen“. 
Einige Jahre vorher fand man allerdings noch, es sei eine Ehre, 
der Köpfmaschine seinen Namen leihen zu dürfen, und diese Ehre 
wollte man einem Größeren zukommen lassen. Es wurde ein Antrag 
eingebracht, das Instrument zu Ehren Mirabeaus Mirabelle zu 
nennen, aber die Nationalversammlung lehnte dies ab. (Der Namen 
der Pflaumenart Mirabelle ist übrigens mit dem Namen des Grafen 
Mirabeau insofern verwandt, als dieses Obst aus der Heimat des 
Grafen, aus der Gegend des Städtchens Mirabeau, stammt oder 
wenigstens nach diesem Ort benannt ist.) 

«Natürlich gab es angesichts des starken Anreizes, den die Hin¬ 
richtungen für die Phantasie des Volkes bedeuteten, auch viele 
Umschreibungen für die Guillotine. Wir erwähnen z. B. das „na¬ 
tionale Rasiermesser“ (rasoir national), wie die revolutionäre 
Zeitung Pere Duchene schrieb, und das Nationalfenster (fenetre 
nationale) oder das rote Fenster (fenetre rouge). Die Guillotine 
hieß auch Abbaye de Saint-Pierre (Sanktpetersabtei), wahrscheinlich 
auf Grund des Wortwitzes Saint-Pierre = cinq pierres = fünf Steine; 
es sollen nämlich vor dem Gefängnistor auf der Place de la Roquette 
fünf in das Pflaster eingelassene große Steine die Stelle der Guillotine 
bezeichnet haben. Weitere volkstümliche Namen sind la mecanique, 
la bourrique ä Robespierre (R.-s Esel), les lunettes (Brille). Heute 
ist die volkstümlichste französische Bezeichnung für die Guillotine: 
la Veuve, die Witwe. Der Ausdruck wurde allgemein bekannt 
1887, als Jules Jouy im berühmten Cabaret Chat Noir ein (Octave 
Mirbeau gewidmetes) Gedicht „La Veuve“ vortrug. Gelegentlich 


162 






wurde auch ausgeschmückt: la Veuve Rasibus. Weitere Volksaus¬ 
drücke für die Guillotine verzeichnet der bekannte Argot-Chan¬ 
sonnier Aristide Bruant in seinem 1901 erschienenen Argotwörter¬ 
buch: Abbaye de Monte-ä-rebours, de Monte-ä-regret (Abtei zum 
Schlachtviehwagen, zum Armensünderkarren), bascule (Schaukel, 
Klappe), bequilleuse (von bequille, Krücke), deux mäts (Zwei¬ 
master), faucheuse (Mäherin), glaive (Schwert). Auch für die Be¬ 
zeichnung des Hingerichtetwerdens durch die Guillotine gibt es 
drastische Umschreibungen: mettre la tete ä la fenetre, cracher 
dans le sac, etemuer dans le son, den Kopf zum Fenster hinaus¬ 
stecken, in den Sack spucken, in die Kleie niesen, baiser la veuve, 
coucher avec la femme ä Charlot, die Witwe küssen, mit Charlots 
Weib schlafen, jouer ä la main chaude avec les soubrettes ä Charlot, 
Heißhand spielen mit den Stubenkätzchen Charlots (la maine chaude 
ist das auch in Deutschland, besonders unter Matrosen bekannte 
Spiel, wo man den Kopf in den Schoß eines anderen versteckt und 
erraten muß, wer von den Mitspielenden einem hinten einen Schlag 
versetzt hat). 

Im deutschen Schrifttum kommen zur Zeit der französischen 
Revolution neben ,,Köpfmaschine“ oder ,,Guillotins Schlacht¬ 
messer“ auch ironische Verdeutschungen wie ,,Gleichheitssichel“ 
vor. Die Bezeichnung Fallbeil stammt von Johann Heinrich Campe. 

HAGESTOLZ, KADETT 

Unter Hagestolz verstehen wir heute nicht den älteren, unver¬ 
heirateten Mann schlechthin, sondern einen Junggesellen mit auf¬ 
fälligen Charakterzügen des Ledigenstandes. Ganz klar ist es nicht, 
welche besonderen Züge dabei das Wesentliche sind, das eine Mal 
spielt der Ausdruck auf komische Schrullen an, das andere Mal auf 
ein irgendwie extremes — sei es durch abweisende Sprödheit, sei 
es durch außerordentlich lebhaftes Interesse gekennzeichnetes — 
Verhalten gegen das andere Geschlecht. E. T. A. Hoflfmann be¬ 
schreibt einmal einen alten Hagestolz, ,,alle Gebrechen seines 
Standes in sich tragend, geizig, eitel, den Jüngling spielend, 
verliebt, geckenhaft“ 1 . Der Psychoanalytiker Hitschmann, ein 

1) Wenn auch die alten Junggesellen im Volksglauben nicht in dem gleichen 
Maße als spottwürdige Erscheinungen gelten wie die alten Jungfrauen, sind 
auch sie von einer gewissen Unheimlichkeit umgeben. Und analog den Strafen, 
denen die Seelen der hingeschiedenen alten Jungfrauen ausgesetzt sind (sie müssen 

163 


6 * 





begeisterter Verfechter der Ehe, sieht fast in allen Junggesellen die 
neurotische Voraussetzung: ,,sie können nicht heiraten und 
glauben, es nicht zu wollen“; dem Scheine nach tragen zwar die 
meisten Junggesellen, die ,,unbekannten Neurotiker“, ihr Los 
durchaus leicht, aber ,,viel Groll einsamer Stunden erscheint unter 
Sarkasmus schlecht verhüllt; hinter Eigenbrötelei und Verschroben¬ 
heit verbirgt sich heimliches Leiden“. Welche Schilderung immer 
man vom Begriff des Hagestolzen gibt, stets wird man dabei von 
den Vorstellungen ,,hager“ und ,,stolz“ mitbeeinflußt. Hager, 
empfindet man irgendwie, ist der typische Junggeselle, weil ihm 
die Wärme des Familienherdes und die Pflege fehlt, er träumt 
gewiß auch schlecht wie jene Hageren, vor denen Cäsar (bei 
Plutarch und bei Shakespeare) sich fürchtet, und stolz ist der 
Hagestolz, weil er früher aus törichtem Stolz versäumt hat, sich 
um die Gewinnung einer Lebensgefährtin anzustrengen, und weil 
er jetzt seine eigentliche Unzulänglichkeit hochmütig verbirgt. 
Don Quichote sei z. B. solch ein ebenso hagerer wie stolzer Jung- 

Und doch haben die Wörter hager und stolz mit dem Hagestolz, 
dessen Begriffsinhalt sie offenkundig stark beeinflussen, der Wort¬ 
herkunft nach nichts zu schaffen. Hagestolz kommt von althoch¬ 
deutsch hagustalt und bedeutet wörtlich Hagbesitzer. Hag ist ver¬ 
wandt mit Hecke und bedeutet ursprünglich Domgebüsch, Ein¬ 
friedung des Grundeigentums, und dann das Grundstück selbst. 
Der zweite Teil in hagustalt kommt von gotisch staldan = besitzen. 
Um zu verstehen, wie hagustalt = Hagbesitzer zugleich den un¬ 
verheirateten Mann bedeuten kann, muß man auf eine Einrichtung 
des altgermanischen bäuerlichen Erbrechts zurückgreifen. Die 
schroffe Handhabung des Erstgeburtsrechts in der patriarchalischen 
Landwirtsfamilie ist uns schon aus dem Alten Testament bekannt. 
(Man denke nur an das erfolgreiche Bemühen Jakobs, Esau um die 
Vorteile der Erstgeburt zu bringen.) Auch bei den germanischen 
Bauern erbte der erstgeborene Sohn allein den Hof. Der jüngere 



in Bayern das Sterzinger Moos nach Fingerspannen ausmessen, in Wien den 
Stephansturm abreiben, in Paris der heiligen Katharina Zöpfe flechten, anderswo 
Kibitzen Gamaschen stricken, Frösche nach Jerusalem treiben, Hosenlätze 
kauen), gilt auch von den Junggesellen, daß sie nach dem Tode Wolken schieben 
müssen oder Felsen abreiben, Steinblöcke einsalzen, Nebel schichten, Ameisen 
Ringe durch die Nase ziehen, schwarzen Gänsekot zu weißem Wachs kauen usw. 


164 







Sohn — wenn er es nicht vorzog, auszuwandem, ins Gefolge eines 
adligen Herrn zu treten, in späteren Zeiten städtischer Handwerker 
zu werden oder Landsknecht oder gar sich zu den fahrenden Leuten, 
den „unehrlichen“, zu schlagen — bekam vom Vater ein ganz 
kleines Nebengut hinterlassen, ein kleines Grundstück ohne die 
Hofgerechtsame, eben einen Hag. Dieser Zwergbesitz trug kaum 
etwas, war eigentlich nichts mehr als eine isolierte selbständige 
Wohnstätte für den jüngeren Sohn, so daß er wenigstens in dieser 
Hinsicht von den gewöhnlichen Knechten des älteren Bruders 
unterschieden war. Dem erstgeborenen Sohn war die Verpflichtung 
auferlegt, die jüngeren Brüder, soweit sie auf dem Hag verblieben 
waren und ihm dienten, zu verpflegen. 

Die wirtschaftliche Lage der nicht ausgewanderten jüngeren 
Söhne war jedenfalls derart, daß sie nicht daran denken konnten, 
eine eigene Familie zu gründen. Sie saßen in ihrem Hag und blieben 
ledig. Lastete früher des Vaters Macht auf ihnen, so blieben sie 
jetzt auch nach seinem Tode in ihrer Selbständigkeit behindert; 
der ältere Bruder nahm nun des Vaters Stelle ein. Wem das nicht 
paßte, mußte sich nur von der Scholle lossagen und als junger Mann 
in die Welt ziehen. So erklärt sich der doppelte Sinn des alten 
Wortes hagustalt: Junggeselle und Kriegersmann. Bereits in alt¬ 
hochdeutschen Glossen bezeichnet hagustaltlip das ehelose Leben, 
und Hagustalten heißen im altsächsischen Heliand die unverheirateten 
Gefolgsleute der hohen Herren. Angelsächsisch heagsteald und alt¬ 
nordisch haukstaldr bedeuten Jüngling, Krieger. 

Charakteristisch dafür, daß man im Nichterben das Hauptmerkmal 
des Begriffes Hagestolz erblicken muß, ist der Umstand, daß in 
einzelnen Gegenden Deutschlands, z. B. im Nellenburgischen in 
Schwaben, früher auch die unehelichen Söhne Hagestolze hießen. 
In anderen Abzweigungen des Wortes herrscht wieder das Merkmal 
der Ehelosigkeit vor: in einzelnen schwedischen und norwegischen 
Mundarten bedeutet hogstall und haugstalt auch den Witwer; der 
altfranzösische Abkömmling von hagustalt, das Wort hetaudeau, 
bedeutete Kapaun (Bedeutungsübertragung: von der Ehelosigkeit aus 
erbrechtlichen Gründen auf die „Ehelosigkeit * 4 zufolge Kastration). 

Es ist bekannt, von welch entscheidender Auswirkung am Anfang 
der Kulturentwicklung die Bereitschaft der Söhne zur Rebellion 
gegen den Vater war, und wie der jeweilige schuldgefühlbeladene 
Zusammenbruch dieser Urrevolution durch den Übergang der 




Vaterrolle auf einen überlegenen Sohn bedingt war. So rettete sich 
stets wieder die patriarchalische Ordnung, die Einrichtung der Ehe 
und die Einheit des Grundbesitzes. Hat die Tendenz zur Nicht¬ 
aufteilung, zur Unantastbarkeit des Besitzes selbst auf Kosten der 
gleichen Behandlung der Nachkommen im Bauernstand ihren 
Niederschlag im Worte Hagestolz gefunden, so deutet die Herkunft 
des Wortes Kadett auf eine ähnliche Erbrechtsgesinnung beim 
Adel hin. Cadet bedeutet französisch ursprünglich den jüngeren 
Sohn. Da in weniger reichen Adelsfamilien nur für den Erstgeborenen 
Aussicht auf eine standesgemäße Erbschaft bestand, widmeten sich 
die jüngeren Söhne — soweit sie nicht Priester wurden — dem 
Soldatenstand. Diese cadets wurden in Frankreich gewöhnlich zu 
besonderen Verbänden vereinigt. (Den Ruhm der Gascogner Ka¬ 
detten hat Rostand in seinem „Cyrano“ erneuert.) Aus Frankreich 
drang das Wort in verschiedene europäische Sprachen ein, entweder 
mit der Bedeutung von jungen Knaben, die auf den Militärberuf 
vorbereitet werden, oder für bereits im Militärdienst stehende 
Offiziersanwärter. 

Im Argot der Handwerksburschen, das sich zum Teil mit der 
Gaunersprache deckt, ist ein Kadett ein junger Handwerksbursche, 
alter Kadett = alter Stromer, Rheinkadetten = Pennbrüder am 
Rhein, Bruchkadett = zerlumpter Handwerksbursche. Das Rot¬ 
welsch kennt auch den Ausdruck Schlitzkadett für Prostituierte. 
Im Berlinischen sagt man wegwerfend: mit die Kadetten wer ik 
schon fertich. Im New Yorker Slang bezeichnet man Zuhälter und 
Mädchenhändler als cadets. 

Kadetten nannte man im vorbolschewikischen Rußland die Partei 
der ,,Konstitutionellen Demokraten 4 * nach den Anfangsbuchstaben 
Ka De. 

HALALI, OLE 

Die Parforcejagd, bei der das Wild zu Tode gehetzt wird (im 
Gegensatz zur Pirschjagd, wo ihm aufgelauert wird), gelangt um 
1700 herum nach Deutschland; damit zugleich das Wort Halali 
für den weidmännischen Ruf am Ende der Hetzjagd, d. h. die Horn¬ 
fanfare zur Bezeichnung des Ortes, an dem sich das gehetzte Wild 
stellt oder von der Hundemeute festgehalten wird. Man hat ver¬ 
sucht, Halali als ein französisches Satzwort zu deuten: ha, lä lit 
= ha, da liegt es (das erlegte Tier). Stichhaltiger ist aber die zuerst 


166 





vom französischen Orientalisten Devic aufgestellte, dann vom 
Deutschen Lokotsch gestützte Hypothese: sie sieht in ,,Halali“ 
einen Abkömmling des sogenannten Tauhid (,,Einsmachung“), des 
bekannten arabischen Glaubensbekenntnisses und Schlachtrufes ,,la 
ilah illa’llah“, es gibt keinen Gott außer Allah (nach Koran 2, 2^6 1 ). 
Wie auch in vielen anderen Fällen, vermittelt auch diesmal die 
Maurenherrschaft in Spanien das Eindringen des arabischen Wortes 
in die abendländischen Sprachen. ,,Lelies“ nannten die Spanier, 
jenen Koranspruch verderbend und verkürzend, den Kriegsruf der 
Mauren, mit denen diese in die Schlacht gingen. Aus ihm ent¬ 
wickelte sich auch das spanische Wort alarido mit der allgemeinen 
Bedeutung Schlachtlärm, Geschrei, Geheul, Tumult. Auf dieses 
alarido geht dann vielleicht das französische Halali zurück. 

So einleuchtend auch die Ableitung des Halalirufes aus dem 
arabischen Glaubensspruch der Mohammedaner erscheint, möchte 
ich immerhin zu bedenken geben, ob das Halali nicht auch auf die 
Zugehörigkeit zu den aus Naturlauten hervorgegangenen Interjek¬ 
tionen (wie ,,hallo“) angesehen werden kann. Jedenfalls ist festzu¬ 
stellen, daß im klassischen Griechisch alala, alalai etwa unserem 
Hallo und Hurra entspricht; alalai kommt als Vogelstimme bei 
Aristophanes, in Lysistrata und in den Vögeln, vor und alalytos 
= Kriegsgeschrei steht nicht weniger als achtmal bei Homer (z. B. 
Ilias i, 149 und 4, 436). Mit dem Rufe alala sprang nach der Sage 
Athene in voller Rüstung aus dem Haupte des Zeus. Zu erwähnen 
ist auch der Schlachtruf der Römer: alala, alala 2 . 

Internationaler Bekanntheit erfreut sich die spanische Inter¬ 
jektion ole. Spanische Volkstänze bekommt man auf Bühnen und 
in Vergnügungsstätten aller Erdteile zu sehen, und ob es nun echte 
Söhne und Töchter Spaniens sind, die sie vorführen, oder nichtechte, 
niemals versäumen die Tänzer, wenn sie die temperamentvolle Vor¬ 
führung jäh beenden, den Ole-Ruf auszustoßen. Das Wörterbuch 

1) Es mag wie eine blasphemische Travestierung gelten, daß der Spruch, 
mit der sich die große Welt des Islams zum Eingottesglauben bekennt, in einem 
Jagdvergnügen Verwendung findet. Das Halali wirkt aber wesentlich weniger 
deplaciert im Weidmannshandwerk, wenn wir an die kultisch-archaischen 
Hintergründe der Jagd denken, wie sie Marie Bonaparte in ihrer Studie über 
Kopftrophäen aufdeckt, die Parforcejagd aus der im Unbewußten aufbewahrten 
Erinnerung an das kollektive Totenopfer der Urhorde deutend. 

2) Aus diesem bildete de Quincey in seinen „Bekenntnissen eines Opium¬ 
essers“ das Hauptwort alalagmos. 


167 





der spanischen Akademie verzeichnet dieses Wort mit drei Be¬ 
deutungen: i. Interjektion der Ermunterung und des Beifalls, 
2. als männliches Hauptwort die Bezeichnung eines bestimmten 
andalusischen Tanzes, 3. Bezeichnung für die zu diesem Tanz ge¬ 
hörige Tanzmelodie. Nach der spanischen Akademie kommt ole von 
arabisch waliah = durch Gott. 

Gegen diese Etymologie hat sich neuerdings ein amerikanischer 
Romanist, C. C. Rice vom Catawba-College, gewandt. Sie sei aus 
phonetischen Gründen abzulehnen. Nach seiner Meinung kommt 
ole von lateinisch hoc illi = dies für ihn. Dieser lateinische Ausruf 
soll zur römischen Zeit bei den Stiergefechten gebraucht worden 
sein. Waren die Zuschauer mit einem Stierkämpfer überaus zu¬ 
frieden, so warfen sie ihm mit dem Rufe ,,dies für ihn“ Geschenke 
in die Arena. Aus diesem hoc illi soll sich das ole entwickelt haben. 

Im übrigen ließ sich wohl auch das ole mit lautmalerischen indo¬ 
germanischen Wurzeln in Verbindung bringen. Ich erwähne z. B. 
das griechische Zeitwort ololuzein = laut aufschreien; es gehört zu 
altindisch ululi = heulen, zu dessen Verwandtschaft wohl auch die 
deutschen Vogelnamen Eule und Uhl zählen. 

HÄNGEMATTE 

hat seiner sprachlichen Herkunft nach weder mit Hängen noch mit 
Matte etwas zu schaffen. Die von der Schiffsmannschaft verwendeten 
Schlafsäcke aus Segeltuch (die übrigens, wenn sie gut zusammen¬ 
geschnürt sind, auch als Rettungsbojen dienen können) haben ähn¬ 
liche Schlafgelegenheiten gewisser Indianervölker zum Vorbild. 
Die europäischen Seefahrer, zuerst die Spanier, sahen bei den Ein¬ 
geborenen der mittelamerikanischen Inseln und der tropischen Teile 
Südamerikas an mehreren Enden aufgehängte Netze, die aus Pflanzen¬ 
fasern (meist der Agave) geknüpft waren. Gelegentlich wurden 
solche Netze auch als Sänften oder Tragbahren verwendet. Mit der 
Einrichtung des hängenden Bettes 1 übernahmen die Europäer von 
den Eingeborenen auch seine Bezeichnung: hamaka. Welcher indiani¬ 
schen Sprache dieses Wort ursprünglich angehört haben mag, läßt 
sich heute schwer feststellen. In Frage kommt entweder eine der 
auf den mittelamerikanischen Inseln gesprochenen Karaibensprachen 
oder die Sprache irgendeines Volkes, das zu den Aruaken oder 

1) Übrigens soll schon Alkibiades eine Art von Hängematte für Benutzung 
auf Kriegsschiffen konstruiert haben (Harder). 


168 





Arawaken gehört, zu jener großen und begabten Völkerfamilie, die 
auf den Inseln und in Südamerika nördlich des Amazonenstromes 
heimisch war, und der die Welt u. a. auch die Baumwolle und den 
Tabak verdankt. Zu den Aruaksprachen gehörte auch die jetzt 
bereits ausgestorbene Tainosprache auf Haiti, und es spricht manches 
dafür, daß die Entlehnung des Wortes hamaca durch die Spanier 
gerade auf dieser Insel erfolgte. Allerdings geht aus den Berichten 
der Seefahrer und Eroberer des 16. Jahrhunderts hervor, daß viele 
voneinander durch weite Abstände getrennte Völker im Archipel 
und in Südamerika das Wort hamaca oder ähnlich lautende Namen 
verwendeten, doch ist es möglich, daß die Spanier selbst die Be¬ 
zeichnung dieser in der Neuen Welt vielerorts gebräuchlich ge¬ 
wesenen Schlafgelegenheit von einem Indianervolk zum anderen 
verschleppt hatten. (Am Orinoko, in der Chaymasprache, bestand 
für die Hängematte das Wort Chinchorro, dieses Wort setzte sich 
aber bei den Europäern nicht durch.) 

Die Spanier übernahmen unverändert das indianische Wort 
hamaca (es ist bei Las Casas, den berühmten Gefährten der ersten 
Entdecker, wiederholt verzeichnet), die Portugiesen kürzten es zu 
maca. Italienisch wird amaca geschrieben. Im Englischen heißt die 
Hängematte hammock; bei Tennyson kommt hammock-shroud vor 
(shroud = Gewand, Leichentuch) im Sinne: Segeltuch, in dem der 
Leichnam ins Meer versenkt wird. Auch die französische Seemanns¬ 
sprache entfernt sich nicht weit vom indianischen Vorbild: sie 
nennt die Hängematte hamac (mit einer ähnlichen Kürzung wie tabac 
aus indianisch tabaco). 

Im deutschen Schrifttum findet sich 1509 die erste Beschreibung 
der Hängematte. In der in jenem Jahre zu Straßburg erschienenen 
Übersetzung der Amerigo Vespuccischen Beschreibung der ,,Nüwen 
Welt von wilden nackenden Leüten* 4 heißt es von den Eingeborenen: 
,,sy schlaffen in etlichen grossen game vo seyde wurme gemacht 
(die Annahme, es handle sich um Seide, war natürlich falsch) und 
yn de lufft gehenckt.“ taucht in einem deutschen Buch auch 

der Namen dieser indianischen Schlafstätte auf. In der zu Hagenau 
gedruckten Reiseschilderung ,,Indianische Historia“ des Niclaus 
Federmann des Jüngeren von Ulm heißt es: ,,liess etliche der 
krancken in Hamacos, also heissen die Indianische beth, tragen.“ 
Neben Hamacas und indianischen Betten finden sich in alten (meist 
übersetzten oder nach fremdsprachigen Werken kompilierten) 


169 




deutschen Reiseschilderungen auch folgende Bezeichnungen: han¬ 
gende Betten, baumwolline Hotzen, Schlafgam, brisilische (brasi¬ 
lische) Bette, Schlafnetze, schwebende Bette, Hängenetze. Erst im 
Jahre 1627 sehen wir zum erstenmal das indianische Wort hamaka 
der heutigen deutschen Form angenähert: in der zu Koburg ge¬ 
druckten ,,West-Indianischen Reisse“ des Johann Georg Aldenburg, 
wo von Mönchen die Rede ist, die sich ,,auff Portugalesischen 
Senfften oder Hengmatten durch Slaven“ in eine brasilische Stadt 
tragen ließen. Während also, wie oben gezeigt, im Spanischen, 
Portugiesischen, Französischen und Englischen das Bewußtsein, daß 
es sich um ein exotisches Wort handelt, unangetastet verblieben ist, 
schlägt die deutsche Form des Lehnwortes Brücken zu zufällig ähn¬ 
lich lautenden germanischen Wurzeln. Genau gesprochen, hat sich 
diese Umwandlung nicht im eigentlichen Deutschen selbst voll¬ 
zogen, sondern im Holländischen. Und zwar kann man bei der Um¬ 
deutung des Wortes durch die Holländer zwei Phasen unterscheiden. 
Im 16. Jahrhundert, als die Holländer in Westindien Fuß faßten, 
schmuggelten sie in das indianische Wort den Buchstaben ,,g“ ein 
und schrieben hangmak. Im 17. Jahrhundert unterlag dann auch der 
zweite Teil des holländischen Wortes der volksetymologischen Ver¬ 
fälschung und es ergab sich die Form hangmat. Die deutsche Sprache 
übernahm nun im 17. Jahrhundert, unbeschadet des Umstandes, 
daß sich einzelne deutsche Reisebeschreibungen noch immer an die 
indianische Form hielten, die holländische Fassung. So kam es zu 
den deutschen Bezeichnungen Hengmatten und Hangmatten (so z. B. 
in der ältesten deutschen Übersetzung des Robinson Crusoe), 
woraus sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die heutige Form 
Hängematte ergab. Das ältere Wort der deutschen Seemannssprache 
für die Schlafgelegenheit der Schiffsmannschaft, Kumbeers oder Kom- 
behrs (aus holländisch kombaars), wurde durch Hängematte verdrängt. 

Die Wandlung des indianischen hamaka zum deutschen Hänge¬ 
matte ist ein typisches Beispiel für jenen wortgeschichtlichen Vor¬ 
gang, den die Wissenschaft (mit einen 185-2 von Förstemann ein¬ 
geführten und später durch eine Monographie Andresens allgemein 
bekannt gewordenen Ausdruck) als 

Volksetymologie 

bezeichnet. Der Vorgang besteht, allgemein gesprochen, darin, daß 
die eigentliche Lautform eines Wortes so umgestaltet wird, daß es 


170 



an irgendein anderes erinnert, und zwar so, als ob es der Herkunft 
nach mit ihm verwandt wäre. Wie das Beispiel Hängematte zeigt, 
kann sogar eine Beziehung zu zwei etymologisch eigentlich nicht 
dazugehörigen Wörtern (hängen, Matte) vorgetäuscht werden. Vor 
einigen Jahren ging durch die Zeitungen ein Scherz über eine mi߬ 
verstandene Aufschrift im Schaufenster eines Musikalienladens: 
Salonalbumserien. Der Verfasser erzählte, er hätte sich zunächst 
darüber Gedanken gemacht, was „Salonal-Bumserien“ seien, und 
hätte schließlich angenommen, Bumserie sei eine Vervolkstüm- 
lichung des Fremdwortes Jazz, was angesichts der wichtigen Rolle 
des Schlagwerks für diesen Musikstil nicht unangemessen erschien. 
Somit sei auch die Bedeutung des ganzen Wortes geklärt gewesen: 
Salonalbumserie = Salon-Jazz. Handelt es sich nun bei dem Leser 
jenes zusammengesetzten Wortes wirklich um jemand, der die 
Fremdwörter Album und Serie nicht kennt, so ist eine derartige 
Zweiteilung und Deutung in der Tat nicht unmöglich. Was im ge¬ 
schilderten Fall als Scherz oder vorübergehender individueller Irr¬ 
tum vor sich ging, ist im Grunde genommen nicht sehr verschieden 
von jener in der Wortgeschichte aller Sprachen häufig auftretenden 
Erscheinung, die man als Volksetymologie bezeichnet. 

Die eine Voraussetzung für die Volksetymologie ist, daß das Volk 
mindestens einen Bestandteil des ihm begegnenden Wortes nicht 
versteht, und zwar entweder, weil es sich um fremden Sprachstoff 
handelt (wie im Falle hamaka) oder weil ein veraltetes, seltenes 
oder in der Form stark gewandeltes Wort der eigenen Sprache 
verkannt wird. Die zweite Voraussetzung ist, daß das unverstandene 
Element lautlich an irgendein bekanntes Wort anklingt, zu dem 
auch eine, wenn vielleicht auch nur lockere, Bedeutungsbeziehung 
hergestellt werden kann. Das Volk will eben nicht, „daß der Name 
leerer Schall sei“ (Andresen). So wird aus althochdeutsch hevianna 
= die Hebende (d. h. die Kinderaushebende) das Wort Hebamme, 
in welches also das sprachlich gar nicht verwandte Wort „Amme“ 
(althochdeutsch amma = nährende Mutter) hineingefälscht ist, hin¬ 
eingefälscht werden konnte wegen des lautlichen Anklangs und 
wegen der gemeinsamen Zugehörigkeit zu jenem Begriffsbezirk, 
der die allerfrüheste Kindheit umgibt. Nur durch Volksetymologie 
gelangt die Silbe Maul in die Wörter Maulbeere und Maulwurf. 
Im ersten Fall zufolge der mißverstandenen Dissimilation von alt¬ 
hochdeutsch murberi (lateinisch morum), im zweiten Fall, weil im 




spätalthochdeutschen moltwerf, wörtlich Erdaufwerfer, das alte 
Wort molt (verwandt mit Müll, vertreten in zermalmen) nicht mehr 
verstanden worden ist. Das Maul hineinzubringen war zu ver¬ 
lockend, und darüber, daß schließlich jedes Obst mit dem Maul 
gegessen wird und daß der Maulwurf in der Erde nicht mit dem 
Maul, sondern mit den Pfoten wühlt, ließ sich der Genius der 
Sprache keine grauen Haare wachsen. 

Zu Ende des Mittelalters gelangte das Wort valise, die franzö¬ 
sische Bezeichnung des Mantelsackes, nach Deutschland, zunächst in 
der Form velis; anfangs des 17. Jahrhunderts war die volks¬ 
etymologische Umdeutung auf Felleisen bereits vollzogen. Ebenso 
volksetymologisch verschleiert ist die romanische Herkunft der 
Wörter Armbrust und Abenteuer. Muß denn nicht Teils Arm den 
Bogen an die Brust drücken, um den Pfeil abzuschießen ? Dennoch 
kommt das Wort Armbrust in Wirklichkeit von mittellateinisch 
arballista oder arcuballista (zu arcus, Bogen, und ballista, Schleuder¬ 
gerät), und die welschen Eidgenossen haben denn auch keinen An¬ 
laß, an den Arm und an die Brust zu denken (französisch arbalete, 
italienisch balestra). Und wenn auch als Abenteuer ein Vorgang 
bezeichnet wird, bei dem der Abend einem leicht teuer zu stehen 
kommen kann, ist dieses Wort doch nur aus französisch aventure 
umgestaltet, das von lateinisch advenire =j hinzukommen, sich 
ereignen abzuleiten ist. 

Nicht selten legen die falschen Ahnen dem volksetymologisch 
gewandelten Worte neue Verpflichtungen auf. Das Wort benimmt 
sich so, als ob der durch ein Mißverständnis vorgetäuschte Stamm¬ 
baum echt wäre, nimmt Rücksicht auf die vermeintlichen Ver¬ 
wandten, d. h. die Volksetymologie beeinflußt die weitere Be¬ 
deutungsentwicklung des Wortes. Im Falle Hängematte steht es 
z. B. so, daß auf den Wortbestandteil Matte zwar keine Rücksicht 
genommen wird (schließlich ist ein Netz durchaus keine Matte), 
aber das ,, Hängen 4 ‘ ist ein Begriffsmerkmal geworden, und auf jene 
geflochtenen Sänften, in denen man sich tragen ließ und die in den 
alten Berichten auch hamakas hießen, ist unser Wort nicht mehr 
anwendbar. Eher drückt die deutsche Sprache bei Silbergulden und 
silbernen Hufeisen, bei weiblichen Bootsmannschaften und ein¬ 
gefleischten Vegetariern ein Auge zu, als daß sie zuließe, daß eine 
Sänfte, die zum Tragen und nicht zum Hängen ist, Hängematte heiße. 
Und wenn im Mittelhochdeutschen sin fluot auch nur bedeutet hat: 


172 




große, allgemeine Flut (jenes ausgestorbene Wort sin ist noch er¬ 
halten in Singrün = Immergrün), so vergegenwärtigt uns das Wort 
Sündflut, auch in der Schreibweise Sintflut, stets, daß Gott Noahs 
Zeitgenossen um ihrer Sünden willen strafen wollte, und man müßte 
daher den Nebenschwingungen der Wörter ganz taub gegenüber¬ 
stehen, um nicht zu empfinden, daß unsere Sündflut sich z. B. mit 
dem französischen deluge in den Gefühlswerten nicht ganz deckt. 
Trostvoll ist die Vorstellung vom ewigen Frieden des Verblichenen 
im Friedhof, aber noch im 16. Jahrhundert hieß die Begräbnis¬ 
stätte nicht so stimmungsvoll, sondern Freithof, mittelhochdeutsch 
vrithof, was von althochdeutsch freidjan = schonen, einfrieden 
kommt. Der Friedhof ist also ursprünglich ein eingefriedeter Hof. 

Einöde sollte eigentlich nur Alleinheit bedeuten, mit der Öde 
hat das Wort etymologisch nichts zu tun. Althochdeutsch einoti 
heißt allein, einsam, und die Endung -oti lebt noch — jeweilen ein 
wenig gewandelt — als Endung vieler anderer Wörter, wie Kleinod, 
Armut, Heimat. 

Beim Brosamen fassen wir den kleinen Brotbrocken gleichsam 
als kleinsten Teil, als Samen des Brotes auf, aber in althochdeutsch 
brosma (noch heute schweizerisch Prosme) ist weder Brot noch 
Samen enthalten; es ist mit brechen verwandt. 

In Seehund erscheint der Bestandteil „See“ so echt, daß er auch 
zu weiteren analogen Bildungen wie Seelöwe, See-Elefant Anlaß 
bietet; aber in Wirklichkeit hat das Wort Seehund nichts mit der 
See zu tun: die Robbe hieß altnordisch selr, althochdeutsch selho, 
mittelhochdeutsch sele, daher im frühen Neuhochdeutsch noch 
Seel oder Seelhund, als auch dänisch saelhund, schwedisch själhund. 
Auch im englischen seal = Robbe, Seehund ist die alte germanische 
Wurzel noch erhalten. 

Meltau ist der Namen eines grauen und weißen Überzuges, den 
Pflanzen, besonders ihre Blätter, im Sommer oft aufweisen und den 
gewisse Schmarotzerpilze verursachen. Man denkt an ein dichteri¬ 
sches Bild: wie wenn vom Himmel Mehl wie Tau die Pflanzen 
befallen hätte. Aber bevor diese Metapher noch gedacht werden 
konnte, gab es das griechische Wort miltos = Rotbrand (des Ge¬ 
treides), von dem sich unser Meltau und das gleichbedeutende 
englisch mildew vermutlich ableitet. (Es wird aber auch an lateinisch 
mel = Honig gedacht und von anderer Seite auch an Mehl von 
mahlen festgehalten.) 


i73 




Das Rebhuhn hat zu Lebzeiten nichts mit den Reben des Weines 
zu tun, sein Name kommt von russisch rjabka = buntes Tier, 
Reitersalbe ist aus holländisch ruitzsalve (Räudesalbe) um¬ 
gewandelt, Grünspan ist kein Span und kein Gespinst, sondern 
etwas Grünes aus Spanien, es ist die Lehnübersetzung von mittel¬ 
lateinisch viride hispanicum, so genannt, weil Kupferoxyd als 
Kunsterzeugnis aus Spanien in den Handel kam. Der Rosen- 
montag, der Tag vor dem Faschingsdienstag, führt einen duftigen 
Namen, schmückt sich aber etymologisch gesehen zu Unrecht mit 
der Königin der Blumen: noch im 18. Jahrhundert hieß am Nieder¬ 
rhein dieser Tag der Ausgelassenheit Rasenmontag, rasender Mon¬ 
tag (vom rheinischen Zeitwort rasen, rosen = tollen). In Wetter¬ 
leuchtenist ,,Leuchten“ die volksetymologische Umdeutung eines 
veralteten Zeitworts mit der Bedeutung hüpfen, springen, erhalten 
noch in ,,locken wider den Stachel“ (s. dieses Stichwort) und in 
,,frohlocken“. Unter dem Stichwort Hagestolz lese man nach, 
daß sein Träger weder hager noch stolz war, sondern ein Hag¬ 
besitzer. In Beispiel und Kirchspiel ist der zweite Bestandteil 
nicht unser heutiges Spiel, sondern ein veraltetes germanisches Wort 
spei = Rede, das im Englischen als Zeitwort to spell = buch¬ 
stabieren, entziffern und als Hauptwort spell = Zauberwort (gospel 
= Gotteswort, Evangelium) noch fortlebt. Beim Eindringen von 
neuen Fremdwörtern in mindergebildete Volksschichten sind 
volksetymologische Umgestaltungen an der Tagesordnung. So macht 
der Wiener aus Chauffeur = Kraftwagenlenker (das eigentlich 
Heizer bedeutet und die lateinischen Wurzeln calor = Wärme und 
facere = machen enthält) das Wort Schaffer, als ob es vom Zeit¬ 
wort schaffen käme und ein Synonym von Schaffner wäre. Mit 
Recht bemerkt übrigens Eitzen, daß zur Verdrehung von Fremd¬ 
wörtern, die man oft eher als Volksetymogeleien bezeichnen 
könnte, manchmal ein ganz besonderes Motiv führt: absichtliche 
Fremdwortverdrehungen, die sich auf unsicherem Grund zwischen 
Witz und nicht zu überbietender Albernheit bewegen, haben oft 
den Zweck, die ungenaue Kenntnis des Fremdwortes zu bemänteln, 
dem Fremdwort ein Schnippchen zu schlagen, ja es obendrein noch 
lächerlich zu machen. So kommt es zum ,,Umgewend’ten Na- 
polium“ für Unguentum Neapolitanum (neapolitanische Salbe), 
dem Paradebeispiel aller ,,Plaudereien“ über Volksetymologie in 
Tageszeitungen. 


i74 






Schließlich erwähnen wir ein volksetymologisches Beispiel aus 
dem Französischen, wo ein deutsches Wort der Hörangleichung 
verfällt. Aus dem deutschen Sauerkraut (alemannisch surchrut, 
suchrut) wurde französisch choucroute mit Anklang an chou 
= Kohl (aus lateinisch caulis, woher auch das deutsche Kohl, 
italienisch cavolo, welch letzteres nebst fiore = Blume cavolfiore 
und deutsch Karfiol ergibt). Zu den französischen Volksetymologien 
zählen auch die bekannten Wörter bonheur und malheur; es 
handelt sich bei diesen Bezeichnungen von Glück und Unglück 
nicht um eine gute und eine schlechte Stunde, die zweite Wort¬ 
hälfte geht nicht auf lateinisch hora = Stunde zurück, sondern auf 
augurium = Vorbedeutung. 

HEP, HEP 

Im Jahre 1843 schrieben ,,Die Grenzboten 44 in einem Rückblick: 
,,Der große furor teutonicus von 1819 hat auch seine Marseillaise 
ertönen lassen, das berühmte Hep, Hep, welches damals durch ganz 
Deutschland scholl. 4 4 Auch seither hat die Schlagwortforschung 
nichts zutage gefördert, was veranlassen könnte, das Geburtsjahr 
dieses Hohn- und Hetzrufes gegen die Juden anders anzusetzen; er 
ist zweifellos im Jahre 1819 allgemein bekannt geworden. Am 
2. August jenes Jahres wendeten den Hephepruf Würzburger 
Studenten gegen Professor Brendel, den Verteidiger der Juden¬ 
emanzipation, an. Es gibt auch bereits aus jenem Jahre einen Frank¬ 
furter Stich, der die Frankfurter judenfeindlichen Ausschreitungen 
darstellt, mit der Unterschrift Hepp, Hepp! Auch legte man sich 
bereits im Jahre seines Entstehens die Frage nach der sprachlichen 
Herkunft des Hephep vor. Der Historiker Stägemann schrieb damals 
in einem Brief: ,,Die Judentumulte sind wunderlich und gehässig. 
Das heb, heb fängt auch hier in Berlin schon an gang und gäbe zu 
werden ... Es ist nichts weiter als das im Oberdeutschen gewöhn¬ 
liche heb’, heb’! statt halt, halt! wie wir Niederdeutschen sagen. 
Heb den Dieb ist in Würzburg gebräuchlich wie bei uns Halt den 
Dieb! 44 Eine volkstümliche Erklärung wollte sogar wissen, daß die 
Juden, als Jesus am Kreuze emporgezogen wurde, heb’, heb’! 
gerufen hätten — anscheinend in deutscher Sprache. Eine dritte 
Deutung sieht in Heb die Abkürzung von Hebräer, also ein Stutz¬ 
wort wie etwa Mob aus mobile, Sarg aus Sarkophag, Vamp aus 
Vampir. Nach einer vierten Auffassung soll sich der Hohnruf aus 

l 7S 




dem Rufe entwickelt haben, mit dem sich die jüdischen Hausierer 
auf dem Lande früher angekündigt hatten. Eine fünfte Erklärung: 
das Losungswort bei den Judenverfolgungen von 1819 se i bereits 
früher bekannt gewesen als Feldruf der berüchtigten Räuber¬ 
bande des bayrischen Hiesels in der zweiten Hälfte des 18. Jahr¬ 
hunderts, und zwar sei das ,,Heb!“ der Räuber zusammengezogen 
gewesen aus den Anfangsbuchstaben von ,,Her Eure Batzen!“ (In 
einem pfälzischen Volkslied hieß es :,,Macht euch nicht mausig — 
Hiesel machts grausig — Klopft auf die Kopp — Hep, Hep! 4 *) 

Den meisten Anhang fand die Erklärung, die wir nun an sechster 
Stelle anführen. Der Hephepruf gehe auf die Judenverfolgungen 
während der ersten Kreuzzüge zurück und verdanke seine Ent¬ 
stehung den drei auf den Fahnen der verfolgenden Würgerbanden 
stehenden Buchstaben H. E. P. mit der Bedeutung Hierosolyma est 
perdita — Jerusalem ist verloren. Diese Erklärung hat mit der 
vorigen, die die Bande des bayrischen Hiesels heranzieht, gemein¬ 
sam, daß sie im Hetzruf Hep eine Zusammensetzung aus Anfangs¬ 
buchstaben sieht, ihn also in jene lange Reihe der Akrostichon¬ 
wörter von ichthys (Jesous Christos Theou Hyios Soter) bis Hapag, 
Ufa und Avus stellt. Trotz der Häufigkeit derartiger Analogien muß 
man die Ableitung des deutsch-volkstümlichen Hephep aus einer 
lateinischen Formel, noch dazu mit Überspringen eines keinerlei 
Zwischenbelege aufweisenden halben Jahrtausends, als unhaltbar 
ablehnen. (Nach einer alten Anekdote sollen übrigens Juden auf das 
Hephep mit Jepjep repliziert haben: Jesus est perditus.) 

Der in der Etymologie besonders vom rumänisch-französischen 
Sprachforscher Sainean verfochtene Grundsatz, vor allem stets nach 
einheimischen, also hauptsächlich mundartlichen Quellen Ausschau 
zu halten, statt zeitlich und räumlich weit hergeholte lexikalische 
Zusammenhänge gleichsam zu errechnen, dieser ebenso schlichte 
wie fruchtbare Grundsatz verhilft auch beim Forschen nach der 
Herkunft des antisemitischen Hephep auf die richtige Spur. Sie 
führt uns zur siebenten Deutung: Hephep ist der mitteldeutsche 
Lock- und Neckruf für Ziegen. Die Ziege (auch Habergeiß 
genannt oder kurz Haber, von lateinisch caper) heißt in bayrischen, 
thüringischen und hessischen Mundarten auch Heppe und hieß im 
16. Jahrhundert auch Hippe, Hippele, Hipplein. Als besonderes 
Merkmal der Ziege gilt dem Volke ihr Bart. (Im Spanischen z. B. 
bedeutet barbudo sowohl starkbärtig, als Ziege.) Der lange Bart der 


176 



Juden wurde als Ziegenbart verhöhnt. Bezeichnenderweise heißen 
die ästigen Arten der Pilzgattung Clavaria im Volksmund nicht nur 
Ziegenbart, sondern auch Judenbart. Insbesondere galt der Ziegen¬ 
bart als die Barttracht der Rabbiner und der jüdischen Lehrer, 
daher gebrauchten in Süddeutschland mitunter auch die Juden 
selbst untereinander den Spitznamen „Gaisrebbele“. So wie man 
ja auch vielfach die Schneider mit der die Stimme der Ziege wieder¬ 
gebenden Silbe meck, meck verhöhnte, rief man in manchen 
Gegenden Mittel- und Süddeutschlands auf den Dörfern den „ziegen¬ 
bärtigen“ Juden oft neckend hep, hep zu. Durch die antisemitische 
Bewegung des Jahres 1819 wurde dieses bereits vorgebildete Spott¬ 
wort nur allgemein bekannt gemacht, ähnlich wie im Weltkrieg 
gewisse bis dahin wenig bekannte Volkswörter, z. B. französisch 
boche, deutsch Katzelmacher, plötzlich Eingang in die Schrift¬ 
sprache fanden. Mit dem Hephepruf haben die zwei genannten 
Kraftausdrücke aus dem Weltkrieg auch das gemein, daß sie ur¬ 
sprünglich mehr oder minder harmlose Spottworte waren, aus denen 
erst in der Atmosphäre bestimmter historischer Vorgänge plötzlich 
eine Haßbedeutung hervorlodert. 

Anschließend sei hier bemerkt, daß das Wort Antisemit relativ 
jungen Datums, kaum älter als ein halbes Jahrhundert ist. Nach 
R. M. Meyer hat es Wilhelm Marr 1879 als Kampfwort geprägt, 
das dann aus dem Deutschen rasch in andere europäische Sprachen 
überging. 1880 gründete bereits der Hofprediger Adolf Stöcker 
die ,,Antisemitenliga“; bald darauf wandte sich schon Nietzsche 
heftig gegen die „Antisemiterei“. Im Jahre 1880 ist auch eine 
scherzhafte Verdeutschung des neuen Ausdrucks versucht worden: 
es erschien in Berlin ein komisches Epos unter dem Titel ,,Der 
Antiverjüdelungs verein* *. 

HOCHSTAPLER 

Im Jahre 1806 schrieb Turnvater Jahn: ,,Hochstapler habe ich noch 
in keinem Wörterbuch gefunden; wir haben nun leider ein Mal 
die Sache, also müssen wir auch ein Wort dafür besitzen. “ Die 
Bedeutung des Wortes war aber damals nicht ganz die heutige. 
Während das entscheidende Merkmal jetzt die Täuschung in bezug 
auf Abstammung, Rang, Reichtum u. dgl. ist, lag früher beim 
Begriff des Hochstaplers das Gewicht auf dem Umstand des raffi¬ 
nierten Betteins. Rudolf Fröhlichs 1851 anonym erschienenes 


177 





Buch „Die gefährlichen Klassen Wiens“ definiert den Hochstapler: 
,,ein gefährlicher Bettler, der mit falschen Attesten über erlebte 
Unglücksfälle oder dergleichen und, indem er gewöhnlich adlige 
Namen und Titel sich beilegt, vorzüglich die höheren Stände brand¬ 
schatzt.“ Diese Erklärung für Hochstapler (oder Steifbettler) über¬ 
nimmt drei Jahre später fast wörtlich das Gaunerwörterbuch der 
Wiener Polizeidirektion. Da Hochstapelei früher schlechthin vor¬ 
nehme Bettelei bedeutete, so hießen Studenten, die auf Wander¬ 
schaft mit Musikdarbietungen bettelten, adelige Emigranten, die 
Unterstützung beanspruchten — auch wenn sie wirklich Studenten 
oder wirklich polnische Grafen waren, — Hochstapler. 

Stapler bedeutete: wandernder Bettler. Die Herkunft des 
Wortes ist umstritten. Nach der einen Erklärung ist der Stapler 
(ältere Form Stabuler) einer, der mit dem Stabul (Bettelstab) von 
Haus zu Haus wandert. Nach der anderen Erklärung kommt stapeln 
— einherschreiten 1 von der Wurzel stap, mit Füßen treten (wovon 
auch Stapfen, Fußtapfen, Staffel, Stapel, aufstapeln, Stufe, Etappe, 
stampfen, Stempel). Jedenfalls weisen beide Ableitungen auf das 
Herumwandern hin, und wenn, genau genommen, nur eine die 
richtige sein kann, so wird wohl auch die andere Wurzel die sprach¬ 
liche Fixierung begünstigt haben. 

HOFFART 

könnte in seiner jetzigen Form zur Vermutung verleiten, es sei aus 
Hof und Art zusammengesetzt und bedeute ursprünglich die stolze 
Art des Höflings. Aber das Wort lautete im Mittelhochdeutschen 
hochvart, der erste Teil ist hoch (althochdeutsch hoh, gotisch 
hauhs), der zweite Teil vart ist identisch mit der zweiten Silbe in 
Wohlfahrt. Dieses -fahrt ist aber nicht das Fahrt von fahren (gotisch 
faran = wandern) aus der Familie Fähre, Furt, fertig usw., son¬ 
dern kommt von einem mittelhochdeutschen Zeitwort vam = leben, 
das seither untergegangen ist und nur noch in den Wörtern Wohl¬ 
fahrt und Hoffart fortlebt. Hoch bedeutet hier also etwa erhaben 
(wie in Hochamt) oder vornehm (wie in englisch high life, was 
eigentlich dem Wortlaut nach dasselbe bedeutet wie Hoffart, oder 
im Worte Hochstapler, s. dieses Stichwort). Aus der Bedeutung 

i) Man vgl. die ältere (1824 gebuchte) österreichische Redensart ,,er stap- 
pelt alle Kirchen a“ von einem eifrigen Kirchengänger; bei Castelli 1847: 
,,alli Wiartshaisa aschdapln“. 


178 









,,vornehmes Leben“ entwickelte sich zunächst die von edlem Stolz, 
und erst dann bekam das Wort Hoffart einen tadelnden Sinn (wie z. B. 
im Sprichwort ,,Hoffart kommt vor dem Fall“). 

Lautgeschichtlich bemerkenswert ist beim Worte Hoffart die 
Verwandlung des ch, des Endlautes von hoch, zu f. Ähnliche Er¬ 
scheinungen, die man unter dem Namen 

Assimilation (Angleichung) 

zusammenfaßt, begegnen wir in den Wortgeschichten dieses Buches 
häufig, und es empfiehlt sich daher, über solche lautliche Ent¬ 
wicklungen, wie die von Hochfart zu Hoffart, einiges im Zusammen¬ 
hang zu sagen. 

Man begründet es mit einer Bequemlichkeitstendenz der Sprache, 
daß zwei Konsonanten, die aneinandergeraten, möglichst gleich¬ 
gemacht werden. Man spricht von einer rückschreitenden 
(richtiger wäre: rückwirkenden) Angleichung, wenn der erste 
Konsonant sich dem zweiten fügt. Dies war der Fall bei Hochfart— 
Hoffart. Weitere Beispiele: Dattel aus daktylos; nennen (in gotisch 
namnjan, altsächsisch nemnian, ist das m von ,,Name“ noch ent¬ 
halten); Zwilling aus zwinilinc; Forelle aus Forenle'(Verkleinerung 
von Forene, mundartlich noch erhalten, z. B. in der Schweiz als 
Fome, in Bayern als Fehrne, althochdeutsch forhanna); schwäbisch 
Stuggert statt Stuttgart, frankfurterisch Schillerhäuser, kossber statt 
Schilderhäuser, kostbar 1 . Eine rückwirkende Assimilation liegt auch 
bei Stanniol aus lateinisch stagnum, bei italienisch colonna, fran¬ 
zösisch colonne = Säule, aus lateinisch columna vor 2 . Sehr häufig 
verfallen so einer rückschreitenden und zur Konsonantendoppelung 
führenden Angleichung griechische und lateinische Vorsilben. So 
hat sich z. B. das d von ad dem Anlaut des zweiten Wortteiles 
angeglichen, ,,ad-similiert“, in Affekt, Akkord, Allianz, Annonce, 
approbieren, arrogant, Assessor, Attribut; das in erscheint assimi¬ 
liert in illegal, immanent, irrational; cum in Kolleg, Korruption; 


1) In frankfurterisch Leckkuchen (statt Leb-, das zu Laib gehört oder zu 
lateinisch libum = Kuchen) stellt die rückschreitende Assimilation gleichzeitig 
eine volksetymologische Beziehung (zu ,,lecken“) her. 

2) Im Deutschen kommen beide Formen als Fremdwörter vor: sowohl 
assimiliert Kolonne (z. B. eine Ziffernkolonne in der Tabelle, kaufmännisch 
als Agentenkolonne, militärisch als Marschkolonne) als auch unassimiliert 
Kolumne (= Seite in der Fachsprache der Buchdrucker und der Journalisten). 


179 






dis in Differenz, diffamieren; sub in Surrogat, Suffix; syn in Symme¬ 
trie, Syllogismus. 

Bei der fortschreitenden Angleichung paßt sich der zweite 
Konsonant dem ersten an: so entstanden die Wortformen dumm, 
Imme, krumm, Lamm, Zimmer, bei denen das Doppel-m das Er¬ 
gebnis einer Assimilation von ,,mb“ oder ,,mp“ darstellt,* die alt¬ 
hochdeutschen Entsprechungen lauten tumb, imbi, chrump, lamb, 
zimbar. Im Bereich des Nieder- und Mitteldeutschen hat sich der 
Wandel von mb zu mm schon in der mittelhochdeutschen Zeit 
vollzogen, im Oberdeutschen verzögerte sich dieser Vorgang, und 
einzelne mundartliche Spuren bewahren hier noch das Andenken der 
unassimilierten Vorformen (z. B. österreichisch Lamperl = Lämm¬ 
chen). Aus der Assimilation von n zu 1 entstehen Wortformen mit 
Doppel- 1 : Elle, Müller (aus elina, mulinari). 

In den bisherigen Beispielen weist das Assimilationsergebnis stets 
einen doppelten Konsonanten auf. In anderen Fällen kommt bloß 
eine Anähnlichung zustande: der der Assimilation verfallende 
Konsonant verwandelt sich zu einem solchen, bei dem die Be- 
wegung der Sprechwerkzeuge ähnlich eingestellt ist wie bei jenem 
Konsonanten, von dem die assimilierende Wirkung ausgeht. Vor 
allem besteht die Neigung, den Zahnlaut n vor den Lippenlauten b 
und p zum Lippenlaut m zu verwandeln. Man spreche hinter¬ 
einander em-pe oder em-be aus und dann vergleichsweise en-pe 
oder en-be, und man wird erkennen, daß eine viel geringere Ver¬ 
änderung der Mundstellung bei der Bildung von b oder p nach m 
notwendig ist als bei der Bildung von b oder p nach n. Daher wird 
z. B. ein n zu m vor b in Himbeere aus mittelhochdeutsch hindber 
(nordenglisch hindberry), Hamburg, Württemberg aus Hohenburg, 
Wirtenberg. Solcher rückwirkender Anähnlichung unterliegen z. B. 
auch die Vorsilben in- (Imbiß, imbezill, impertinent), ent- (empfeh¬ 
len, empfinden, empfangen aus ent-fehlen, ent-finden, ent-fangen), 
syn- (Sympathie, Symbol). Eine häufige Assimilation ist ferner die 
Verwandlung eines sogenannten Verschlußlautes, wenn er vor einem t 
zu stehen kommt, zu einem sogenannten Reibelaut. So sehen wir 
die Wandlung des b zu f in schreiben - Schrift, geben - Gift; des g 
zu ch in tragen—Tracht, schlagen — Schlacht, pflegen—Pflicht. 

Man spricht von Assimilation auch in jenen Fällen, wo die An¬ 
gleichung oder Anähnlichung innerhalb eines Wortes nicht in der 
unmittelbaren Nachbarschaft erfolgt, indem man eben annimmt, 






daß es z. B. eine vom anlautenden m ausgehende Wirkung ist, die 
aus dem ursprünglichen Meßner das Wort Meßmer entstehen läßt, 
oder eine Wirkung des auslautenden r, die das Wort Klistier in 
der Volkssprache zu Kristier werden läßt. Das Ergebnis einer 
solchen rückwirkenden Anähnlichung auf Distanz soll auch das 
wienerische Karmonadl sein (aus französisch carbonnade = auf 
Kohlen zubereitetes Rippenstück). 

Wenn von der Assimilation die Rede ist, muß auch einer ent¬ 
gegengesetzten Erscheinung, der 

Dissimilation (Ausweichung, Entähnlichung) 

gedacht werden. Dieser Vorgang spielt eine große, wenn auch nicht 
immer durchsichtige Rolle in der Wortgeschichte, und H. Gram¬ 
mont hat daher die Dissimilation in einer ihr gewidmeten Mono¬ 
graphie aus einem darwinistischen Gedankengang als ,,das Gesetz 
des Stärkeren“ bezeichnet. Die Dissimilation ist eine Änderung der 
Lautform eines Wortes zur Vermeidung dessen, daß das Wort zwei 
vollkommen übereinstimmende oder sich sehr nahestehende Laute 
enthalte. Diese Änderung der Lautform besteht darin, daß der eine 
der übereinstimmenden Laute (gewöhnlich der erste) entweder in 
einen anderen Laut übergeht (ausweicht) oder ganz ausfällt (ent¬ 
weicht). So liegt z. B. eine Ausweichung des ersten t zu k vor, 
wenn das italienische tartufulo (das übrigens auch ohne Dissimilation 
unser ,,Trüffel“ ergibt) im Deutschen zu Kartoffel wird. So wird 
finster aus dinstar (aus d ein f). Aus den romanischen Sprachen 
führen wir zwei Beispiele an, wo von zwei 1 das erste zu r dissimiliert 
wird: aus lateinisch lusciniola wird französisch rossignol und aus 
griechisch melimelon = Honigapfel, Quitte wird portugiesisch 
marmelo, woraus dann im Französischen und daraus auch in vielen 
andern Sprachen Marmelade. Die Wandlung des 1 zu n zeigen 
Knoblauch aus Kloblauch (zu klieben = spalten 1 ), mundartlich Nilje 
(z. B. in niljeschlank) aus Lilie und französisch Niveau aus lateinisch 
libellum. (Wenn wir z. B. sagen, der Feldmesser habe das Niveau 

i) H. Sperber betrachtet gewisse Dissimilationen gleichsam als „festwerdende 
Sprechfehler“, bei denen die neue Form weniger Aufwand an Artikulations¬ 
energie und Aufmerksamkeit erfordert. „Wenn immer wieder statt des ur¬ 
sprünglich richtigen Kloblauch die dissimilierte Form Knoblauch gesprochen 
wurde, bis sich diese leichter sprechbare Form schließlich durchsetzte, so hat 
sich hier die individuelle Trägheit mit Erfolg gegen die der großen Masse geltend 
gemacht, die wohl der letzte Grund des Widerstandes gegen Neuerungen ist.“ 


i 8 i 




mit der Libelle geprüft, begegnet sich die dissimilierte Form mit 
der ursprünglichen.) Das Wort Fibel entstand dadurch, daß von 
den beiden b in Bibel (von griechisch biblia = Bücher) das erste in 
ein f auswich, und genau umgekehrt das Wort Blachfeld dadurch, 
daß von den beiden f in Flachfeld das erste in ein b auswich. 

Die weniger häufige Form der Dissimilation ist jene, die in einem 
gänzlichen Ausfall eines der beiden übereinstimmenden Laute be¬ 
steht. So sehen wir den Ausfall des ersten von zwei r in folgenden 
drei Beispielen: Köder lautete im Mittelhochdeutschen noch kerder; 
weitverbreitet ist in den Mundarten die Form Mader statt Marder; 
aus althochdeutsch fordoron, mittelhochdeutsch vordem, wurde 
im 14. Jahrhundert fodern, und erst ein halbes Jahrtausend später 
wurde durch das heutige Zeitwort fordern die Dissimilation rück¬ 
gängig gemacht. Im Ungarischen ist eines von zwei r ausgefallen bei 
mozsar (zs zu sprechen wie französisch j) aus deutsch Mörser und 
bei bibor aus Purpur. 

Zwei Typen des Lautwandels, die der Assimilation und der Dis¬ 
similation nahestehen, kommen besonders häufig vor und haben 
auch besondere wissenschaftliche Namen: Lambdazismus und Rhota¬ 
zismus (nach den griechischen Buchstaben Lambda und Rho). 

Lambdazismus 


versteht man die Wandlung des r zu l 1 . So wird Maulbeere aus alt¬ 
hochdeutsch murberi (zu lateinisch morum); so wird aus lateinisch 
turtur deutsch Turtel(taube); aus mortarius Mörtel (umgekehrt 
zieht es die ungarische Sprache bei demselben lateinischen Wort 
vor, das erste r in 1 zu verwandeln: malter). Aus lateinisch pere- 
grinus wird französisch pdlerin, deutsch Pilger 2 ; aus Barbier wird 


1) Dieser Vorgang beruht anscheinend auf der Neigung zu einem bestimmten 
Aussprachefehler, zur 1 -ähnlichen Aussprache des r (griechisch traulizein). Man 
kann das 1 , schreibt R. Kleinpaul, überhaupt als ein unvollkommenes, in der 
Bildung zurückgebliebenes r betrachten, das in den indogermanischen Sprachen 
erst nach und nach geduldet und anerkannt ward, gleichsam als Kinder-r, das 
man anfangs noch gar nicht als besonderen Buchstaben gelten ließ. 

2) Christian Rogge, in seinem Drange, überall Bestätigungen seiner gewiß be¬ 
achtenswerten These von der assoziativen Beeinflussung und der Hörangleichung 
(,,Täuschung durch den Ohrenschein“) zu sehen, meint aber kühn, die 
Wandlung des ersten r von peregrinus zu 1 gehe bei französisch pelerin auf 
den Einfluß von „aller“ = gehen, bei deutsch Pilger auf den Einfluß von 
,,Wallfahrt“ zurück. 


182 






mundartlich Balbier; aus deutsch Berchfrit, Bergfried („bergende 
Einfriedung* 4 , Befestigung, Schutzturm) wird sowohl deutsch Bei¬ 
fried, als französisch belfroi (auch assimiliert zu beffroy) und englisch 
belfry = alleinstehender Turm, Glockenturm, Warte; aus mittel¬ 
lateinisch paraveredus (Pferd) wird französisch palefroi, italienisch 
palafreno, englisch palfrey (= Zelter, Prunkpferd) 1 . Besonders häufig 
verwandelt das Ungarische in seinen Lehnwörtern eines von zwei r 
zu einem 1 ; so wird aus deutsch Bürger, Krämer, Barbier, Erker, 
Pranger, Burggraf, Vorreiter ungarisch polgär, kalmär, borbely, 
erkely, pellenger, porkoläb, fullajtär; ebenso Gergely, Borbala, 
Geliert aus Gregor, Barbara, Gerhart. 

In allen bisher angeführten Beispielen von Lambdazismus handelt 
es sich darum, daß von zwei r des ursprünglichen Wortes eines in 
ein 1 ausgewichen ist, so daß man hier vom Lambdazismus als einem 
Sonderfall der Dissimilation sprechen kann. In anderen Beispielen 
jedoch (wie z. B. bei der Umwandlung von Dörfer zu Tölpel oder 
von griechisch leirion zu lateinisch lilium = Lilie) erzielt die Um¬ 
wandlung eines r zu 1 gerade das Gegenteil, nämlich das nunmehrige 
Vorhandensein von zwei übereinstimmenden Lauten, von zwei 1 , 
in einem Worte, so daß also der Lambdazismus in diesen Beispielen 
gleichsam ein Sonderfall der Assimilation ist. 

Ein dritter Typus des Lambdazismus ist jener, wo weder eine 
Angleichung noch eine Entähnlichung vorzuliegen scheint, wo also 
ein r sich in ein 1 umwandelt, ohne daß ein erkennbarer Anlaß 
durch einen anderen Laut des Wortes geboten wäre: so wird aus 
lateinisch prunum unser Pflaume, aus Kirche (griechisch kyriakos 
= Heiligtum) alemannisch Kilche (übrigens auch noch zu Chille 
assimiliert), aus Sant Erasmo im Italienischen San Elmo, aus deutsch 
Frühstück, Panzer ungarisch fölöstököm, päncel. Ein weiteres Bei¬ 
spiel für die Verwandlung eines lateinischen r zu 1 im Italienischen, 
Alemannischen und Ungarischen: italienisch salvietta, schweizerisch 
Salvältli, ungarisch szalveta = Serviette (von der lateinischen Wurzel 
serv-). Da das Chinesische kein r hat und es in Fremdwörtern durch 
ein 1 ersetzt (z. B. Kilissetu, Eulopa für Christus, Europa), wimmelt 
es in der Sprache des modernen Chinesen, der sich viele von den 


i) Auch bei französisch flibustier = Seeräuber (übertragen: Industrieritter) 
liegt die Dissimilation des ersten von zwei r vor; das Wort kommt nämlich 
von deutsch Freibeuter bzw. holländisch vrijbuiter. 


183 







internationalen Wörtern des Abendlandes aneignet, von Lambdas 
zismen 1 . Jedenfalls kann es im Chinesischen keinen 

Rhotazismus 

geben. Mit diesem Fachausdruck bezeichnet man die auf einer all¬ 
gemeinen (aber wissenschaftlich bisher nicht näher geklärten 2 ) 
Neigung beruhende Wandlung des s zu r. Besonders in der lateini¬ 
schen Wortgeschichte spielt der Rhotazismus eine große Rolle. 
Amor, arbor, color, labor gehen auf Formen wie amos, arbos, 
colos, labos zurück. In anderen Fällen bricht das r erst in den 
Biegungsformen ein: corpus-corporis, flos-floris, genus-generis, 
mos-moris, scelus-sceleris. Im Deutschen entstehen durch Rhotazis¬ 
mus die Zeitwörter küren aus kiesen, nähren aus gotisch nasjan 
(daher noch ge-nesen), frieren aus mittelhochdeutsch vriesen (daher 
noch Frost), verlieren aus mittelhochdeutsch Verliesen (daher noch 
Verlies = Ort, wo man verloren geht, Verlust, englisch to lose). 
Daß das r in der Hilfszeitwortform „war“ auf ein s zurückgeht, 
zeigt die noch erhalten gebliebene Form „gewesen“. Manchmal 
läßt sich das Vorliegen eines Rhotazismus am leichtesten dadurch 
aufweisen, daß man die Entwicklung desselben Wortstammes in 
zwei Sprachen verfolgt. Typisch sind z. B. englische Wörter angel¬ 
sächsischer Herkunft, die ein r aufweisen, wo das deutsche Wort 
das ältere s noch beibehalten hat: wir erwähnen Eisen—iron und 
Hase hare. Von rhotazistisch gewandelten Eigennamen nennen wir 
Etruria aus Etrusia, Arthur aus Artus. Doppelt rhotazistisch ist 
Aurora aus Ausosa; in den mit Ausosa—Aurora urverwandten 
Wörtern griechisch Eos und deutsch Osten ist das s unverwandelt 
geblieben. 

HUNGER 

Wir kennen althochdeutsch hungar, gotisch huhrus (Zeitwort 
huggrjan), aber die vorgermanische Geschichte der Wortwurzel ist 
ganz im Dunkeln. Man hat versucht, das Wort Hunger mit griechisch 
kankanos = dürr, brennend, und litauisch kanka = Qual in Verbin¬ 
dung zu bringen. 


_ 0 ^ as auch von der zum großen Teil von Chinesen gesprochenen 
Mischsprache Pidgin-Englisch, wo z. B. ploper (aus proper) = recht. 

2) Manche erklären den Rhotazismus aus einer Abneigung des Griechischen 
und Lateinischen gegen ein s zwischen zwei Vokalen. 


184 










Hunger gehört zu jenen Empfindungen, in deren Umschreibung 
die Sprache besonders reichhaltig ist. Dichterisch klingt die heute 
meistens nur noch scherzhaft gebrauchte Redensart: am Hunger¬ 
tuche nagen. Hungertuch (auch Fastentuch oder Fastenlaken, im 
Niederdeutschen Smachtlappen) ist ein schwarzes oder blaues Tuch, 
das man in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters in der Zeit 
von Aschermittwoch bis Ostern in den Kirchen vor den Altar 
hängte, um ihn für die Gläubigen unsichtbar zu machen. Damit 
sollte der Ausschluß aus dem Paradies versinnbildlicht und die 
Fastenzeit angezeigt werden. In der Sprache der Kirche heißt das 
Tuch in Anbetracht der vierzigtägigen Dauer der Fasten velum 
quadregesimale. In der Sammlung für deutsche Volkskunde in Berlin 
wird ein 7 Meter breites und 4 Meter hohes Hungertuch aus der 
Kirche in Telgle bei Münster in Westfalen mit schachbrettartig 
angeordneten 33 gestickten viereckigen Bildern auf bewahrt. Das 
berühmteste Hungertuch ist das Zittauer mit 108 Temperafarb- 
bildem, 1472 von einem Gewürzkrämer gestiftet. Zahlreich sind 
noch Hungertücher in Kärnten erhalten, darunter wohl das älteste, 
das Fastentuch des Gurker Domes. In einzelnen westfälischen Ge¬ 
meinden kommt die Verhängung des Altars während der Fastenzeit 
heute noch vor. 

Die bildliche Wendung ,,am Hungertuch nagen** für Not leiden 
ist jüngeren Datums und entbehrt nicht einer Beimengung scherz¬ 
hafter Übertreibung. Bei Hans Sachs heißt es noch: am Hungertuch 
nähen, flicken. Das ,,Nagen** kommt vielleicht auch aus einer 
Verschmelzung mit der in der Provinz Sachsen und in Hannover 
gebuchten Redensart ,,Hungerpfoten nagen oder saugen“ (der 
Bär saugt angeblich im Winter bei Nahrungsmangel an seinen 
Pfoten). 

Kohldampf schieben ist die verbreitetste volkstümliche 
Redensart für Hunger leiden. Die Herkunft ist ungeklärt. Die Ab¬ 
leitung aus russisch golod = Hunger läßt sich nicht stützen. Wahr¬ 
scheinlicher ist eine etymologische Beziehung zwischen ,,Kohl¬ 
dampf** und dem Rotwelschausdruck ,,es kollert mich** = ich bin 
hungrig. Bis dahin nur ein Ausdruck der Gauner- und Kunden¬ 
sprache, fand die Redensart ,,Kohldampf schieben** im Weltkrieg 
allgemeine Verbreitung durch die von selbstironisierendem Galgen¬ 
humor geradezu strotzende Sprache der Feldgrauen. Die ,,Gulasch¬ 
kanone hieß auch ,,Kohldampfabwehrkanone** (in Anlehnung an 

i8£ 



die Flugzeugabwehrkanonen, an die das nach oben gerichtete Ofen¬ 
rohr der fahrbaren Feldküche erinnerte). Im Rotwelsch, z. B. in 
der schwäbischen Gaunersprache, wurde auch Kohl oder Dampf 
allein gesagt. Auch finden sich Ausdrücke, wie Koller, Kolter, 
kollerig, es kollert mich, wahrscheinlich lautmalerisch, in dem 
Sinne: es knurrt mir der Magen. (Il sent crier les entrailles, er fühlt 
die Eingeweide schreien, sagt der Franzose.) Aus der Vagabunden¬ 
sprache ist auch aufgezeichnet worden: Windsuppe essen, Luftklöße 
schnappen. Trockenes Brot essen hieß in der Soldatensprache auch: 
ein trockenes Polster schieben oder einen Scheibling inhalieren. 
Auch die Soldaten der im Weltkrieg mobilisierten Schweizer Armee 
nannten den Hunger Kohldampf; daneben hatten sie noch die Aus¬ 
drücke Schatten im Ranzen und Schaben im Bauch. Der heftige 
Hunger heißt in der Schweiz der „g’ragete Hunger“ (g’raget, von 
ragen, recken, bedeutet eigentlich steif, starr). Es zeert mer oder 
es ist mer zeerig, heißt es in der Simmentaler Mundart, im Berner 
Oberland. In Darmstadt kann man von einem Hungrigen hören: 
mir ist so zweierlei. (Die alte Frankfurter Redensart ,,das Darm¬ 
städter Piano spielen* * = kein Geld haben hängt vielleicht mit den 
Vorstellungen Hunger und Darm zusammen; über solche An¬ 
spielungen durch Ortsnamen s. den Exkurs nach dem Stichwort 
borniert.) Im Berlinischen nennt man den Hunger auch Gibbel, in 
Ostdeutschland ist der Ausdruck Janker verzeichnet worden. Mir 
hungert, daß mir der Bauch schlackert, ich möchte vor Hunger 
kleine Steine fressen, em hungert, dat em de Sei öm Liw pipt, sind 
ostpreußische Redensarten 1 . 

Auch auf dem Marchfeld in Niederösterreich wird, wie in der 
letztgenannten ostpreußischen Wendung, der Hunger akustisch 


i) Der Reichtum an Ausdrücken über den Hunger ist nicht etwa eine Eigen¬ 
heit der deutschen Volkssprache allein. Aus dem französischen Argot z. B. 
erwähnen wir die Wendungen: le drapeau noir flotte sur la marmite, die 
schwarze Fahne weht über dem Kochtopf, se brosser le ventre, sich den Bauch 
bürsten, avoir Pestomac dans les talons, den Magen in den Fersen haben, 
voir defiler les dragons, die Drachen vorbeiziehen sehen, claquer du bec, mit dem 
Schnabel klappern, danse du ventre, Bauchtanz, danser devant le buffet, vor 
dem Anrichtetisch tanzen, declarer le ballon, den Ballon (Bauch) kundtun, 
avoir la bide comme une affiche, den Bauch haben, wie ein Plakat (so flach), 
faire la balle elastique, einen (hohlen) Gummiball machen, se taper sur la 
lanterne, sich auf die (leere) Laterne klapsen, n’avoir rien dans le battant (le 
battant, wörtlich das Schlagende = Herz), jouer du fifre, auf der Querpfeife 


i 86 












umschrieben: ich höre Elfeläuten oder der Krauthansl schreit. Eine 
andere österreichische Umschreibung des Hungergefühls buchte 
Castelli 1847: der Fabian * 1 blagt mi. In Tirol bezeichnet man den 
plötzlich auftretenden Heißhunger mit Schwächegefühl und Auf¬ 
stoßen von Wasser, den „gachen“ Hunger auch als Wasserspeibe 
oder Wasserblöde (in Kärnten Wasserpleade). Ein allgemein öster¬ 
reichischer Ausdruck für heftigen Hunger ist Mo da, Mader; so 
verzeichnet Sonnenleithner 1824: i bin schon modri; und Castelli 
1847: haind hab i an fiarchtaligen Moda. Dieses Moda oder Mader 
darf man als den Tiernamen Marder agnoszieren. Es dürfte eine 
Abkürzung von Marderhunger, einem Synonym von Wolfshunger, 
vorliegen. Sonst wird der Marder meist in Gleichnissen über Kraft, 
Energie, Gesundheit herangezogen; z. B. im Egerländischen: dear 
gäiht aan wöi a Staanmodara, der geht an (die Sache) wie ein Stein¬ 
marder. In der Schweiz kennt man die Redensarten: schreie >vie-n-e 
Marder, schwitze wie-n-e Marder. Das Volk liebt es, den heftigen 
Hunger jenem der Tiere zu vergleichen. Schon die Römer sprachen 
von ,,hündischem“ Hunger: appetitus caninus oder appetentia 
canina (französisch faim de chien, englisch dog-appetite). Auch sonst 
finden wir in römischen Überlieferungen die Auffassung, daß der 
heißhungrige Mensch gleichsam ein Tier in sich beherbergt: vermis 
lacertae similis in stomacho hominis habitat. (Übrigens finden wir 
bei den Römern den Hunger auch personifiziert, in der Figur der 
Farnes; man vgl. damit den altsächsischen Heliand, in dem der 
Hunger als fürchterlicher Krieger durch die Lande zieht.) 

Während im Österreichischen der Tiemamen Marder (Moda) 
schon allein den Heißhunger bezeichnet, werden sonst Tiemamen 
nur gleichnisweise verwendet zur Kennzeichnung des starken 
Hungers. Man ist hungrig wie ein Köter, wie ein Wolf, wie ein 
Bär, wie ein Löwe, wie eine Hyäne, wie ein Geier. Um auch 
Beispiele aus einer anderen Sprache zu geben: in Spanien sagt man, 
man habe Hunger oder fresse como un animal (wie ein Tier), un 
cebon (Mastferkel), gorrino (Spanferkel), pavo (Truthahn), carcoma 


spielen, avoir les crochets oder les dents bien longues, lange Zähne (Eckzähne) 
haben, avoir mal aux dents, Zahnschmerzen haben, lire Ia gazette, Zeitung 
lesen (besonders mit der Bedeutung: nichts zu essen haben, während andere, 
denen man zusieht, essen). 

1) Ein personifizierter Quäler ist auch der Schmalhans (z. B. bei Grimmels¬ 
hausen: ,,so hätte mich auch der Schmalhans trefflich gequält.“) 


187 








(Holzwurm), lombriz (Bandwurm). Es gibt natürlich auch Gleich¬ 
nisse ohne Tiere, z. B. im Schwäbischen: hungrig wie e Pommer, 
wie der Pfaff am Ostertag. Allgemein volkstümlich ist: hungrig 
wie ein Scheunendrescher. Ein schweizerisches Sprichwort lautet: 
En Tröscher (Drescher), an Wöscher (Wäscher), en Rätscher (Hanf¬ 
brecher) und en Hund frössend alli Stund. 

Ein sonderbares und, wie es scheint, bisher nicht gebuchtes 
Wiener Unterweltswort für Heißhunger ist Flamoh. Ohne aller¬ 
dings einen zwingenden Beweis dafür erbringen zu können, möchte 
ich die Vermutung aussprechen, daß dieses wienerische Flamoh von 
rumänisch flämänd = hungrig kommt. (Während rumänisch foame 
= Hunger von lateinisch fames kommt, geht flämänd wahrscheinlich 
auf lateinisch flammabundus = brennend zurück, wobei flämänd 
wohl gleichzeitig unter dem Einfluß von flammare und von fames 
steht.) Vor dem Weltkrieg stationierten meistens einige Bataillone 
siebenbürgischer Regimenter mit rumänischer Mannschaft in Wien. 
Es ist also gut denkbar, daß das Wort Flamoh in der niederen Wiener 
Umgangssprache ein Hinterbleibsel der rumänischen Infanteristen 
ist. Es gehörte dann ebenso unter die ,,verba castrensia“, die Heer¬ 
lagerworte, wie z. B. das allgemein bekannte Wiener Volkswort 
„Tschick“ = Zigarren- oder Zigarettenstummel, das ebenfalls ein 
romanisches Wort ist (lateinisch ciccum = etwas Kleines, ein 
Mundvoll, französisch chique und italienisch cicca = Kautabak, 
Zigarrenrest), das zur Zeit der österreichischen Herrschaft in Nord¬ 
italien durch die Truppen,, dislokationen“ des k. k. Heeres in 
deutschösterreichische Sprachgebiete verschleppt wurde. 

Sehr häufig begegnen wir dem Worte Hunger als Bestandteil von 
deutschen Flurnamen. Es handelt sich gewöhnlich um Orte, die 
bei Dürre austrocknen: Hungeracker, Hungerbühl, Hungertobel. 
Die Flurbezeichnung Hungerberg kommt allein in Württemberg 
über hundertmal vor. Hungerbach ist ein Bach, der nur in nassen 
Zeiten Wasser führt. Hungerquellen, Hungerbrunnen fließen nur 
bei anhaltendem Regen und gelten dann in schwäbischen Landen 
als Vorboten von Mißernte und Teuerung. Hungersteine sind Felsen 
oder große Steine, die in dürren Sommern, bei niedrigem Wasser¬ 
stand in den Flüssen (z. B. in der Elbe bei Bodenbach-Tetschen) 
sichtbar werden. 

Viele Pflanzenarten führen beim Volke neben anderen auch den 
Namen Hungerblume, Hungerblümchen. Diese Pflanzen lassen sich 


188 



in bedeutungswissenschaftlicher Hinsicht in zwei Gruppen teilen: 
i. solche, die nur geringe Bedürfnisse haben, auf sandigem Boden 
oder auf Felsen gleichsam hungernd leben können, zu diesen 
gehören z. B. das an Felsen und Mauern wachsende Mauerhunger¬ 
blümchen, die auch Hungerblume genannte Steinkresse (Teesdalea 
nudicaulis) und das auf steinigem oder sandigem Boden gedeihende 
Frühlingshungerblümchen (Erophila); 2. solche, die als Unkraut 
oder Schmarotzer Nutzpflanzen schädigen, also für die Menschen 
oder Haustiere eine Hungergefahr bedeuten können. Aus diesem 
zweiten Gedanken erklärt sich, daß sowohl die blaue Kornblume 
als das ebenso lästige Unkraut Chrysanthemum segetum den Volks¬ 
namen Hungerblume führen. Hungerblume heißt auch der das 
weidende Vieh schädigende scharfe Hahnenfuß (Ranunculus acer). 
Der dreiblättrige Ehrenpreis (Veronica triphyllos) ist trotz seines 
schönen Namens ebenfalls ein Unkraut, hat daher auch den volks¬ 
tümlichen Namen blaues Hungerblümchen. Hunger- oder Mutterkorn 
ist ein an Getreide-, hauptsächlich Roggenblüten schmarotzender 
Schlauchpilz. 

Der bekannte Romanist Prof. Leo Spitzer war im Kriege bei der 
österreichischen Zensurstelle für die Korrespondenz der italieni¬ 
schen Kriegsgefangenen tätig und hat nach Kriegsende über die 
Redewendungen, mit denen die mangelhaft verpflegten Gefangenen 
versuchten, der wachsamen k. u. k. Zensur zum Trotz ihren An¬ 
gehörigen in Italien mitzuteilen, daß sie Hunger litten, ein ganzes 
Buch geschrieben. Es ist geradezu aufregend für den Psychologen 
sowie für den Soziologen. Vor allem ist das Material auch aufschlu߬ 
reich für die Psychologie der Entstehung von Redensarten und von 
Gruppen- und Geheimsprachen. Oft erscheint in jenen Briefen wie 
eine harmlose Bekannte eine Signora Mehofa (me ho fame, habe 
Hunger) oder noch gekürzter eine Kusine Mefa, und gebildete 
Italiener teilen mit, daß sie im Lager viel mit Ugo zusammen sind, 
der übermütig ist und keine Ruhe gibt (Anspielung auf jenen Grafen 
Ugolino, dessen Höllenqualen Dante eindringlich schildert). Manche 
Kriegsgefangene preisen die Reinlichkeit im Lager (man benötige 
keine Servietten) oder die guten Gesundheitsverhältnisse (keine 
Verdauungsstörungen), oft ist von der Musik die Rede, die im Lager 
getrieben wird (soll das Rumoren des leeren Magens andeuten). 
Raffiniert war, wenn in der Absenderangabe die Unkenntnis der 
richHgen deutschen Schreibweise vorgetäuscht wurde, indem man 


189 





statt Kriegsgefangenenlager schrieb: Kristche-fame-ladre (Christus, 
welcher räuberischer Hunger!). Die Üppigkeit der Hungerum¬ 
schreibungen zeugt mitunter von einem wahrhaften Delirium. Die 
Möglichkeit, die Zensur zu täuschen, war bei dieser Heftigkeit der 
Umschreibungen ziemlich gering, sie erfolgten jedoch selbst ohne 
praktischen Zweck, auch ohne Hoffnung auf Beförderung der Briefe, 
lediglich ,,zum künstlerischen Abreagieren der Affekte 44 , — ,,die 
Phantasie übertölpelt den anfänglich logisch gewappneten Schreiber 4 4 . 
Wenn man diese Tausende von Kriegsgefangenenbriefen liest, ersieht 
man jedenfalls, daß der leere Magen zwar ungern studieren mag, 
aber überaus sprachschöpferisch ist. 

HUSAR 

ist ein internationales Wort zur Bezeichnung einer leichten Kaval¬ 
leriegattung, die auch äußerlich durch gewisse typische Uniform¬ 
stücke und reiche Verschnürung gekennzeichnet ist. Husar kommt 
vom gleichbedeutenden ungarischen Wort huszär, und man liest 
oft (auch in den neuesten Auflagen der etymologischen Wörter¬ 
bücher von Kluge-Götze 1934, Bergmann 1923, Wasserzieher 1930), 
daß das Wort auf magyarisch husz = zwanzig zurückzuführen sei, 
weil die Gutsherren seit König Matthias Korvins Zeiten auf je 
20 Leibeigene bzw. auf je 20 Fußsoldaten je einen berittenen stellen 
mußten 1 . Diese Etymologie ist überholt. Huszär kommt noch vor 
König Matthias vor, u. zw. in der Bedeutung Räuber. Ein lateini¬ 
sches Dokument aus 1432 richtet sich ,,contra huzarones et allios 
nonnullos malefactores 44 (Räuber und sonstige Übeltäter), und in 
einem anderen aus dem Jahre 1443 finden predones aut Huzarij hungari 
(ungarische Räuber oder Husaren) Erwähnung 2 . Das ungarische 

1) In Ungarn bekommt man übrigens manchmal auch eine volksetymologische 
Erweiterung zu hören: huszär sei zusammengesetzt aus husz (20) und är (Preis), 
weil nämlich zwanzig der Preis eines sei, d. h. weil der Husar in der Schlacht 
erst um das Leben von zwanzig Feinden sein eigenes verkauft. 

2) Im 16. Jahrhundert oft in der Zusammenstellung hu^r». (hitvany) huszär 
= gemeiner (schlimmer bzw. untergeordneter) Husar. Auch ein anderes 
ungarisches Wort zeigt den Bedeutungsübergang vom fremdsprachigen Namen 
einer berüchtigten Räuberart zu einer gleichsam gereinigten und geadelten 
Bezeichnung: das Wort levente — jetzt gleich Jungkampe, Jungritter und 
Bezeichnung einer ungarischen Jugendorganisation zur Förderung der Wehr¬ 
fähigkeit — bedeutete einst den Freibeuter in den östlichen Mittelmeer¬ 
gegenden, in der ,,Levante“. 


190 





Wort ist eine Entlehnung des serbisch-kroatischen husar, gusar, 
im älteren Südslawisch hursar, kursar, was auf neugriechisch kursaris, 
goursaris = Räuber, Freibeuter zurückgeht. Hierher gehört auch 
mittellateinisch cursarius = Unternehmer von Streifzügen. All 
diesen Wörtern liegt zugrunde das lateinische Zeitwort currere 
= laufen, das Stammwort der Fremdwortsippe Kurs, Kurier, 
kurrant, Exkurs, Diskurs, Rekurs, Sukkurs, Konkurs, Konkurrenz, 
Korridor, Korso usw. Das Wort Husar ist also auch ein naher 
Vetter vom italienischen corsaro, unserem Korsar = Seeräuber, 
Seeräuberschiff und bildet gleichsam die südslawisch-magyarische 
Nebenlinie. 

Daß die Bezeichnung für Räuber die einer Waffengattung wurde, 
erklärt sich daraus, daß König Matthias aus den sogenannten szegeny 
legenyek (,,arme Burschen“), den außerhalb des Gesetzes lebenden, 
herumstreifenden Bauemburschen leichte Kavallerietruppen bilden 
ließ, die den Namen Husaren beibehielten. Einen ähnlichen Be¬ 
deutungsübergang von Räuber zu Soldat, bewaffneter Diener, zeigt 
auch das Wort Heiduck (ungarisch hajdü). 

Als Kuriosum erwähnen wir eine phantasievolle Ableitung des 
Wortes Husar von K. F. in der ,,Frankfurter Zeitung“ vom 23. No¬ 
vember 1915: in Husar sei das tschechische Wort Hus = Gans 
enthalten, Husar, etwa Gänsemann, sei in der Reformationszeit der 
Spottnamen für die gefürchteten kroatischen Reiter gewesen, viel¬ 
leicht weil die Hälse der gestohlenen Gänse aus den Satteltaschen 
dieser Soldaten hingen. Nicht minder phantastisch ist eine andere 
Ableitung von Husar: aus französisch huissier = Türsteher. 

In deutschen Texten taucht das Wort Husar — zuerst als Husar, 
Husser, Husseer, Hussam, Hussein — in der ersten Hälfte des 
16. Jahrhunderts auf. Man übernahm zuerst das Wort, aber noch 
nicht die Einrichtung, d. h. man nannte in Deutschland die noch 
nach früherer Art gepanzerten und schwer bewaffneten Reiter ge¬ 
legentlich so. Mit diesem neuen Namen war kein guter Ruf für 
seine Träger verbunden. 1^46 handelt ein ,,Pasquillus novus der 
Husseer‘ ‘ darüber, ,,was sie für grausamkeit mit jren rauhen verhem, 
brennen und morden begangen, . . . wie sie mit kreyssenden weybern 
und anderen Junckfrawen barbarisch genug gehandelt“. Im Dreißig¬ 
jährigen Krieg wurden die kaiserlichen Husaren, wie Hoyer und 
Transfeldt berichten, wegen ihrer (etymologisch gewissermaßen 
gerechtfertigten) Räubereien von den Schweden nicht als Soldaten 



betrachtet: bei Gefangennahme wurden sie nicht, wie andere, gegen 
Lösegeld entlassen, sondern nach Schweden in Bergwerke ver¬ 
schickt. Zur Bezeichnung der typischen Kleidungsstücke der 
Husaren gebrauchte man in Deutschland Wörter ungarischer Her¬ 
kunft: die verschnürte Pelzjacke hieß Dolman (im Deutschen 
bereits seit i$oo belegt), aus ungarisch dolmany, das aus türkisch 
dolaman = roter Mantel der Janitscharen kommt; die hohe Pelz¬ 
mütze hieß Kalpak, ebenfalls ungarisch-türkisch. Der Namen der 
Attila, der verschnürten Jacke — in Ungarn auch für den Rock der 
nationalen Magnatengalatracht verwendet —, kommt nicht vom 
Namen des großen Hunnenkönigs, wie man es in Ungarn meistens 
annimmt, sondern wie venezianisch atilä, italienisch attillato von 
mittellateinisch attillamentum = Ausrüstung. (Daß es sich um ein 
romanisches Wort handelt, belegen auch die Zeitwörter italienisch 
attillare, spanisch atildar, portugiesisch atilar, provenzalisch atilhar 
= niedlich, fein, schmuck machen.) 

Husar ist im Deutschen ein volkstümliches Wort geworden, 
es wird in Redensarten verwoben, zu Gleichnissen herangezogen. 
Schlagen wir z. B. im Schwäbischen Wörterbuch nach und wir 
finden u. a.: flucht wie ein Husar, einfältig wie die Husaren; eine 
Dime ist ein gespaltener Husar (in Ostpreußen: Schlitzhusar — ein 
Spottname für Frauenzimmer), der Branntwein heißt Husarenkaffee; 
es gibt im Schwäbischen Hausnamen zum Husarendavid, zum 
Husarenschuster, den Wirtshausnamen Husarenbeck, Flurnamen 
wie Husarenäcker, Husarenkappe, Husarensprung, Husaren wiese; 
Husarenstöcke sind Kohldistel, gewisse Riedgräser heißen wegen 
der federbuschartigen Blüten- und Fruchtstände Husaren, und 
die Hauben- oder Schopfmeise wird auch Husarenmeise genannt. 
Bibelhusaren und Ölberghusaren sind in Österreich Spottnamen 
für Wehrverbände, denen man vorwirft, unter klerikalem Einfluß 
zu stehen. Aus den Kantonen Basel, Thurgau, Zürich verzeichnet 
das Schweizerische Idiotikon für Husar auch die übertragene 
Bedeutung: Mannweib, derbe, wilde, barsche, aber zu männ¬ 
licher Arbeit tüchtige Weibsperson. Die Schweizer sagen auch 
Chuchihusar in dem Sinne, wie man sonst Küchendragoner 
sagt. Allgemein sind Ausdrücke wie ,,ein richtiges Husaren¬ 
stück“, ,,Husarenbravour“ u. dgl. Schopenhauer schreibt in den 
Parerga einmal, in der Gesellschaft habe die Husarencourage den 
Primat. 


192 





Auch bei anderen Völkern zeugen viele sprachliche Wendungen 
von dem Eindruck der Husaren truppe und ihrer Wesensart auf die 
Phantasie des Volkes. So hat im Französischen vrai hussard die 
Bedeutung echter Haudegen, flotter Kerl; les hussards de la veuve, 
die Husaren der Witwe sind der Scharfrichter und seine Gehilfen; 
ä la hussard, nach Husarenart = frech; vivre a la hussard = nach 
Husarenart, d. h. vom Plündern leben; nach Aristide Bruant wird 
im französischen Argot des 19. Jahrhunderts der Absinth auch 
pur6e ä la hussard, Husarenbrei genannt, und ein sehr starker 
Absinth heißt auch kurz hussarde. 

Einen ähnlichen Fall von sprachlichen Spuren im Deutschen und 
Französischen, die auf den lebhaften Eindruck einer Reitertruppe 
zurückgehen, erörtern wir unter dem Stichwort „Krawatte 44 (von 
Kroaten!). 


JANHAGEL 

Es ist jede etymologische Frage in eine Reihe von Unterfragen zu zerlegen, um 

Beweis und Gegenbeweis zunächst für diese zu erbringen. Hugo Schuchardt. 

Das Wort Janhagel ist seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 
bekannt und taucht zuerst im niederdeutschen Sprachgebiet auf. 
Es war ein Scheltwort für einen rohen Haufen, wurde besonders 
als Spottnamen für Hamburger Bootsleute verwendet. Schriftsteller 
des 18. und 19. Jahrhunderts gebrauchten gelegentlich für Pöbel 
statt Janhagel auch Hans Hagel, was aber wohl als eine scherzhafte 
Zerlegung anzusehen ist und keineswegs als etymologischer Beleg 
gelten darf. Als witzige Zerlegung des merkwürdigen Wortes ist 
auch jener Satz Heines aufzufassen, wo er über die Eintragung der 
Touristen im Brockenbuch spottet: ,,Herr Johann Hagel will sich 
auch mal als Schriftsteller zeigen/ 4 Gelegentlich ist übrigens auch 
vornehmer Pöbel (,,süßer Pöbel 44 ) als ,,Hans von Hagel 44 gekenn¬ 
zeichnet worden. 

Wenn wir absehen von einer unhaltbaren Gleichsetzung von 
Janhagel mit dem Volks wort Hackel-packel = Pöbel und von dem 
Versuch, das Wort in Verbindung zu bringen mit Hagen = Zuchtstier 
(wonach also Janhagel eine Parallele von John Bull wäre) und auch 
absehen von einer sonderbaren Auslegung des Wortes Janhagel 
durch H. Schräder (,,der Ausdruck ist so übel nicht, weil er 
auf die Menge des Volkes anspielt, die so zahlreich wie Hagelkörner 


7 Storfer 


193 




und auch oft soviel Unheil anstiftet“ 1 ), so gibt es für die Her¬ 
kunft dieses Wortes bisher eigentlich nur eine einzige Deutung. 
Meinungsverschiedenheit unter den Sprachforschern besteht nur 
insofern, als die einen jene einzige Deutung als gesichert und be¬ 
friedigend ansehen, indes die anderen sich damit begnügen, sie 
mangels einer besseren als möglich anzusprechen. Diese Deutung 
beruht auf drei an sich richtigen Voraussetzungen. 

1. Das Wort Hagel dient in deutschen Flüchen zum Ausdruck 
der Verwunderung: alle Hagel, Herrgottshagel, Donner und Hagel; 
andere Flüche lauten z. B. de Hagel sla hem (niederdeutsch: der 
Hagel soll ihn . . .). 

2. Als Spitznamen von einzelnen Menschen und Menschentypen 
wird oft ein Lieblingsausdruck oder Lieblings fluch herangezogen. 
Wir erinnern an Herzog Heinrich „Jasomirgott“; Katzelmacher 
schimpfte man in Österreich die Italiener nach der einen Deutung 
darum, weil sie den obszönen Fluch cazzo häufig gebrauchen; in 
südfranzösischen Mundarten war caraca früher ein Spottname für 
die Spanier, weil sie das obszöne Fluchwort carajo immer bereit 
haben; le goddam (so z. B. bei Beaumarchais) war früher ein fran¬ 
zösischer Spitznamen für den Engländer, im Volksmund wurde 
godon daraus; das Wort bigott soll nach einer seiner Deutungen 
aus der Schwurform ,,bei Gott“ hervorgegangen sein. In japanischen 
Hafenorten nennt man englische und amerikanische Matrosen 
damuraisu h’to, — aus dem englischen Fluch damn your eyes und 
japanisch h’to = Leute. Nach Jespersens Mitteilung kamen an ver¬ 
schiedenen Punkten der Erde volkstümliche Bezeichnungen der 
Franzosen aus der Formel dis-donc (sag doch!) zustande: während 
der napoleonischen Kriege wurden die Franzosen in Spanien als 
didones bezeichnet, auch in Amerika gibt es für sie das Spottwort 
ding-dongs, und in Java nennt man einen Franzosen orang-deedong 
(orang=Mensch). Tacitus berichtet von einem Hauptmann, der die 

i) Ich weiß nicht recht, ob auch F. Harder, wenn er schreibt, daß in Jan¬ 
hagel ,,Hagel im Sinne von hergelaufenes Volk steht“, an eine metaphorische 
Beziehung zwischen der Vorstellung der Eiskörner und jener des Pöbels denkt. 
Es scheint jedenfalls schwer zu fallen, das Wort Janhagel von der Vorstellung 
des Hagels fernzuhalten, und dieser Hagel ist es offenbar, der über die Stilblüten¬ 
beete jenes Reporters eines Wiener Journals niederging, der in einer Schilderung 
der blutigen Ereignisse vom Februar 1934 allen Ernstes schrieb, Vizekanzler 
Fey habe „seine Dispositionen mitten im Janhagel der Geschosse ge¬ 
troffen“. 


194 





Soldaten peitschen ließ und, wenn die Rute zerbrach, nur rief ,,cedo 
alteram“, eine andere her, und danach den Namen Cedo alteram 
führte. Nach seiner Lieblingswendung heißt in Reuters Stromtid der 
Färber Johann Meinswegen. In einer Novelle von Heinrich Hansjakob 
heißt ein Flößer Gwest, weil er sich oft rühmte: ich bin in Frankreich 
gwest. Im Weltkrieg hießen die polnischen Bauern, von denen man 
immer wieder die Anrede pani = Herr hörte, bei den deutschen Feld¬ 
grauen einfach ,,die Panjes 4 \ Die Soldaten südslawischer Nationalität 
wurden im Österreichisch-ungarischen Heere, besonders von den 
Ungarn, als Tschuesche bezeichnet, nach dem Zuruf cuje = hör zu; 
das k. u. k. Infanterieregiment 44 von Kaposvär hieß im ungarischen 
Volksmund Rossz-seb-Regiment, seine Angehörigen kurz rossz-seb 
(d. h. Böse-Wund), weil sie sich eines gleichlautenden Fluches mit 
Vorliebe bedienten. In Ungarn heißt der Geschäftsreisende vigec, 
nach der deutschen Frage ,, Wie geht’s ?“, mit der unterwegs einander 
begegnende Geschäftsreisende in früheren Zeiten sich begrüßten; ein 
anderes volkstümliches Wort ist in einigen Gegenden Ungarns: 
vartapiszli (wart ein bißchen) für Zollbeamte. Von der Redensart 
,,das weiß Gott 44 kommen die Familiennamen Kodweis (Schillers 
Mutter hatte diesen Mädchennamen) und Wisgott. In Panama heißen 
die des Englischen unkundigen Einheimischen spigotties, weil sie 
auf englische Ansprachen mit no spigotty (no speak) antworten. 
Aus ähnlichen Gründen waren in Siebenbürgen, als es noch zu 
Ungarn gehörte, die rumänischen Bauern für die Ungarn die 
Nuschtju (weiß nicht, kann nicht). Der Gedanke an die bekannte 
Anekdote vom Herrn Kannitverstan in Hebels Schatzkästlein ist 
naheliegend. Auch Zürihagel, ein Übername der Zürcher, soll 
darauf zurückzuführen sein, daß der Gebrauch von Fluchworten, 
wie Hagel, beim Hagel, Hundshagel, Donnerhagel usw., an den 
Zürchern seit alters her gerügt worden ist, — wir hätten also im 
Zürihagel einen nahen Verwandten des nördlicheren Janhagel. 
(Aber diese Deutung ist falsch: Zürihagel oder Züribieterhagel ist 
in Wirklichkeit eine Variante von Zürihegel, und Hegel — in der 
ursprünglichen Bedeutung: grobes Taschenmesser, Klappmesser — 
ist ein schweizerisches Scheltwort für Grobiane und Narren.) 

3. Zur Bezeichnung eines Menschentypus wird der geläufigste 
christliche Vorname Johann in vielen Sprachen häufig verwendet. 
Wir nennen nur John Bull, Yankee (aus holländisch Janneke, Ver¬ 
kleinerung von Jan), Jean Bete (für einen dummen Kerl), Jean- 

*9S 


7 




Foutre (für einen Spitzbuben), Jean-Foudre („Donnerhans“ für 
einen Maulhelden), im Ungarischen der Possenreißer Paprika 
Jancsi, der Hirt Kukorica Janos (der Held eines Märchenepos von 
Petöfi), Borsszem Janko (Pfefferkorn-Hänschen), im Deutschen 
Hans im Glück, Hans Dampf in allen Gassen, Fabelhans (so nannten 
die Wiener den Pater Abraham a Santa Clara), Hanswurst, Schmal¬ 
hans (der bekannte Küchenmeister), Prahlhans usw. (In Grobian 
und Schlendrian vermag ich aber nur eine latinisierende Endung 
und nicht, wie einzelne Forscher, den Taufnamen Jan zu erkennen.) 

Angesichts dieser drei wortgeschichtlichen Erscheinungen wäre 
also Janhagel eine Bezeichnung des Pöbels geworden, weil man 
einen groben, ungebildeten Mann, der häufig flucht, also auch das 
Wort Hagel oft gebraucht, als einen „Johann mit dem Hagelfluch“ 
sich dachte, daher Janhagel nannte. 

Als restlos befriedigend vermag ich diese Ableitung nicht anzu¬ 
sehen. Die angeführten drei Voraussetzungen sind zwar an sich 
richtig, aber zur zweiten ist zu bemerken, daß die Benennungen 
nach einem Lieblingsausdruck in Wirklichkeit seltener sind, als sie 
angeführt werden, oft handelt es sich, wie wohl wahrscheinlich bei 
bigott und Katzelmacher, sicher bei Zürihagel, um eine nachträg¬ 
liche Erfindung zur Rechtfertigung eines unverstandenen Namens. 
Und was die dritte Voraussetzung anbelangt, die besondere Neigung 
zur appellativen Verwendung des Vornamens Johann, so muß uns 
die merkwürdige Reihenfolge in der angeblichen Zusammen¬ 
setzung Jan-Hagel stutzig machen. Wenn auch gelegentlich die 
Reihenfolge Hansnarr, Hanswurst 1 vorkommt, so müßte, wenn Jan 
in Janhagel der Vornamen wäre, die weitaus üblichere Bildung 
doch Hageljan, Hagelhans sein. Dies entspräche dem Typus 


i) Im 16. Jahrhundert, in denen Hanswurst zuerst auftritt (1^19 in 
Sebastian Brants Narrenschiff, Rostocker Bearbeitung, 1^41 in Luthers Schrift 
„Wider Hans Worst“) konkurriert auch noch die andere Reihenfolge: im 
„Wiltbad“ von Hans Sachs, 1550 , heißt ein komischer Diener Wursthans. 
Sollte nicht überhaupt Wursthans die ursprüngliche Form gewesen sein und 
Hans Wurst daraus nur konstruiert worden sein, um aus einem Gattungsbegriff 
wieder eine konkrete Person zu machen, die man so auf die Bühne stellen 
konnte ? Wie wenn ein Possenautor einen Prahlhans oder einen Bummelfritzen 
unter seinen Figuren mit dem bürgerlichen Namen Hans Prahl oder Fritz 
Bummel ausstattete. Die gleiche Vermutung mag auch gegenüber der Bezeich¬ 
nung Hannes Schmal gelten, die in einem Volkslied des Dreißigjährigen Krieges 
im Sinne von unserem Schmalhans auftritt. 


196 






Prahlhans, Fabelhans, Schmalhans, Laufhansel (Spottnamen für kaiser¬ 
liche Fußsoldaten im ungarischen Kurutzenkriege 1704—06), 
Hemdenmatz (von Matthias), Bosnickel (Nikolaus), Wurzelsepp, 
Gänseliesel, Brilliantenede, Meckerfritze (= Nörgler), Zigarrenfritze 
(-Verkäufer), Trödelfritz, Bummelfritz, Suppenkaspar, Zappelphilipp, 
Struwwelpeter (diese drei aus Heinrich Hoffmanns berühmtem 
Kinderbuch), Miesepeter, Nörgelpeter, Umstandspeter, Quatsch¬ 
peter, Dreckpeter, Glückspeter, Sannepeter (Schürzenjäger, der 
den Su-sannen nachläuft, elsässisch), Prozeßhansl, Streithansl, Zom- 
hansl, Duselhans (bei Chamisso), Schnapsgredl, Zappelsuse, Pfennig¬ 
liese, Schnatterliese, Flennliese, Jammerpepi, Quatschmichel, Mist- 
joggel, Freßjoggeli, Spieljoggeli (in der Schweiz für ein verspieltes 
Kind), Schmierjockel und Simpelfranz im Pfälzischen, in Thüringen 
Lachbärbel, Zimperlieschen, Quatschkarlin che, im Steirischen 
Schneekaterl (= Schneerose), Plaudermirl und Tratschkatel (letzteres 
bezeichnet dort auch die Elster), Turfkaroline (eine bekannte Figur 
der Rennplätze im Vorkriegswien), Blumentoni (eine Verkäuferin 
im heutigen Wien), Harfenjule (eine Berliner Straßenmusikantin 
um die Jahrhundertwende 1 ); hierher gehören auch im Weltkrieg 
aufgezeichnete volkstümliche Geschütz- und Geschoßnamen wie 
Gurgelaugust, Flankenaugust, Stottermax, Radauede, Schleichmarie 
u. dgl., ferner häufig vorkommende Familiennamen wie Junghans, 
Kleinhans, Großhans, Grotjahn, Langhans, Kleinmichel usw. 

Auffallend ist schließlich das Fehlen jedes Beleges dafür, daß das 
Wort Janhagel ursprünglich Bezeichnung für Einzelpersonen ge¬ 
wesen sei, in welchem Falle doch allein die Auffassung von Jan 
als Vorname gerechtfertigt wäre; vielmehr bedeutete das Wort, 
soweit bekannt, immer eine Mehrheit von Menschen. 

Jedenfalls ist die Deutung Janhagel = Pöbel aus Johann Hagel so 
unsicher, daß ich hier versuchen darf, eine andere — allerdings 

1) Eine Reihe von Lokal typen mit Namen derartiger Konstruktion werden 
für Frankfurt gebucht: Schneckenlene hieß eine Kuchenverkäuferin, es gab 
zwei Branntweinvetteln mit Namen Hoppmarianche und Schnapsmarie (über 
die letztere ist in Frankfurt sogar ein Buch erschienen). Die Molkworfmarianne 
jagte in Offenbach auf Maulwürfe. Bei Friedrich Stoltze kommen die Namen 
Greinels, Flennels, Tränenmadelen vor. Frankfurter Schelten sind ferner: 
Bauernorschel, Missionsbärwel (für eine Betschwester), Drämlies (verträumte 
Liese). Sachsenhausener Spitznamen (nach Askenazy): Heidelbeerhans, Lach¬ 
hannes, Muckefritz. Frankfurterisch ist auch Frau Ajas Schmeichelname für 
den jungen Goethe: Häschelhans, 


197 




zunächst auch nicht beweisbare — Hypothese zur Diskussion zu 
stellen. Ich verweise auf eine alte judendeutsche Redensart: ,,was 
das jam haggodel ausgeworfen.“ Der Ausdruck bedeutet: Auswurf, 
minderwertiges Zeug, Gesindel. Jam Haggodel selbst bedeutet 
hebräisch: das große Meer. Die Redensart geht auf eine alttesta¬ 
mentarische Szene zurück. Nachdem das Rote Meer die Ägypter 
verschlungen hatte, warf es ihre Leichen gleich wieder ans Ufer. 
Damit — so deutet es der Talmud — jeder Jude seinen früheren 
ägyptischen Zwingherm tot sehe und nun von aller Furcht befreit 
sei. Wenn nun, wie ja belegt ist, die deutschen Juden den Satz 
,,was das jam haggodel ausgeworfen hat“ im Sinne von Auswurf, 
minderwertige Menge gebraucht haben, so erscheint angesichts 
gewisser Kanäle, die vom Judendeutsch zur neuhochdeutschen 
Schriftsprache führten, nicht ausgeschlossen, daß aus jam haggodel 
der Ausdruck Janhagel = Pöbel entstand. Merkwürdig ist übrigens, 
daß Abraham Tendlau, der Sammler judendeutscher Redensarten, 
bei der Aufzeichnung der Jam-haggodel-Redensart nicht an das 
deutsche Janhagel dachte. 

JINGO 

ist ein in England entstandener — außerhalb Englands mehr oder 
minder verächtlicher — Ausdruck als Bezeichnung für überhitzte 
englische Chauvinisten, imperialistische Kriegshetzer, Hurra¬ 
patrioten. Es fand besonders als Schlagwort gegen die Außen¬ 
politik der Tories Verwendung. Im Weltkrieg las man in 
Deutschland oft die Ausdrücke Jingos, Jingostimmen, Jingo¬ 
presse (ebenso wie ,,gelbe Presse“ in bezug auf die Vereinigten 
Staaten 1 ). 

Zur Erklärung dieses Ausdrucks muß man auf den Namen des 
angelsächsischen Heiligen Gingulph zurückgreifen. Sein Namen 
kehrt verderbt in der fluchartigen Bekräftigungsformel ,,by Jingo“ 
wieder (schon für 1670 bezeugt, sie findet sich auch in Goldsmiths 
Vikar von Wakefield, 1766). Nach anderer Auffassung ist Jingo 

1) Gelbe Presse, yellow press oder yellow journalism wird seit 189^ auf 
jede Zeitung des prononcierten Yankeetums gesagt. In The World (New York) 
erschien nämlich damals eine Reihe von Bildern, in denen ein Kind mit einem 
gelben Hemd vorkam. Dieses von R. F. Outcault gezeichnete yellow kid 
machte die drolligsten Aussprüche und war sehr volkstümlich. Später überging 
das gelbe Kind in das New York Journal, 





aus Jesus verderbt 1 . Eine dritte Deutung besagt, es sei das baskische 
jinko = Gott von englischen Seeleuten aufgeschnappt worden. 

Im Jahre 1877, während des russisch-türkischen Krieges, sang ein 
junger Sänger namens MacDermatt in einer Londoner Music-Hall 
ein patriotisches Lied, das mit den Worten begannWe dont’t 
want to fight, but by Jingo, if we do — wir wünschen nicht, uns 
zu schlagen, aber, bei Jingo, wenn wir es tun, wir haben Schilfe, 
haben Männer, wir haben auch Geld, wir haben den Bär schon 
einmal geschlagen, wir werden ihn wieder schlagen, und die Russen 
kriegen nicht Konstantinopel. Dieses Lied wurde rasch volkstüm¬ 
lich bei den Soldaten und der Bevölkerung, und schon am Weih¬ 
nachtstage 1877 gebrauchte Sir George Trevelyn in einer Rede an 
seine schottischen Wähler das Wort Jingoism. Um die Jahrhundert¬ 
wende, zur Zeit der Burenkriege 2 , war jenes Lied bereits ein alt¬ 
ehrwürdiges Kriegslied, und das Wort Jingo war zu einem Symbol 
geworden und hatte auch schon, besonders außerhalb Englands, 
die eingangs erwähnte kritische Färbung angenommen. 

KAFFER, TÖLPEL USW. 

Die schnoddrige Bezeichnung Kaffer hat aus der alten Gaunersprache, 
dem Rotwelsch, über die Studentensprache und über einzelne 
Mundarten, besonders das Schwäbische, Eingang in die allgemeine 
deutsche Umgangssprache gefunden. Kaffer ist die geringschätzige 
Bezeichnung eines unbedeutenden Menschen, kann weitergehend 
auch Dummheit oder niedrige Gesinnung beinhalten. Das Wort 
kommt nicht — wie man eine Zeitlang vermutete — vom Zeitwort 

1) Solche Verderbungen in Flüchen — Kompromisse aus dem Fluch¬ 
verbot und dem Fluchbedürfnis — sind sehr häufig: in deutschen Flüchen z. B. 
Sapperment für Sakrament, Potz (in Potztausend) und Deixel (in Pfuideixel) 
für Gott und Teufel, im Französischen bleu für dieu (sacrebleu) usw. 

2) Auch der Burenkrieg hat den englischen Wortschatz im Sinnbezirk des 
Patriotischen mit einem neuen Fachausdruck bereichert. Die Buren hatten 
die englische Besatzung der südafrikanischen Stadt Mafekings lange bedrängt 
und die ganze Welt, zumal die britische, verfolgte aufgeregt die Nachrichten 
über die Belagerung. Als dann Mafeking befreit wurde, fanden in ganz England 
begeisterte Siegesfeiern statt. Seither sind die englischen Wörterbücher durch 
das Zeitwort to maffick = laut jubeln, Siegesfeiern abhalten, bereichert. 
Gleichsam, als wäre die Endung -ing im Namen der Stadt Mafeking das -ing 
der englischen Konjugation. Die Philologie nennt einen derartigen Wort¬ 
bildungsvorgang, wo aus dem längeren Wort ein kürzeres gebildet wird, als ob 
dieses neue Wort die eigentliche Wurzel wäre, backformation, Rückbildung. 


199 




n 


gaffen und hat auch nichts mit jenen südafrikanischen Eingeborenen 
zu tun, die ebenfalls Kaffern heißen. (Sie nennen sich selbst Aba- 
ntu = Menschen und haben den Namen Kaffern von den Arabern 
bekommen, von arabisch kafir = Leugner, nämlich Gottesleugner, 
Ungläubiger.) Was das deutsche Schimpfwort Kaffer anbelangt, so 
hat sich, wie in vielen anderen Fällen, das Rotwelsch auch hier die 
Wortwurzel aus dem Hebräischen geholt. Hebräisch kafar (assyrisch 
kapru, aramäisch kapro, neuhebräisch kafri) = Dorf. Die herum¬ 
ziehenden Angehörigen der Gaunerzunft waren voller Haß und 
Verachtung für die Dorfbewohner, und Bauer war für sie ein 
Schimpfwort. Das Wort Kaffer erscheint in der Gaunersprache auch 
in verschiedenen Zusammensetzungen: Kafferkitt (Bauernhaus), 
Kaffernfänger (Bauernfänger), Kaffernkrone (Bauernfrau), Kaffem- 
benkl (Bauernsohn), Kaffemschei (Bauernmädchen) usw. Aus Kaffer 
= Bauer wurde rückgebildet Kaff = Dorf. Ein heißer Kaff ist ein 
Dorf, in dem man erfolglos bettelt; einen Kaff abnehmen, abdalfen, 
abklopfen bedeutet: ein Dorf bettelnd durchwandern. Auch im 
Berlinischen bedeutet Kaff ein Dorf, ein elendes Nest. Kaff hat 
gelegentlich auch eine allgemeinere Bedeutung, etwa: wertloses 
Zeug, Unsinn (,,das ist alles Kaff“). 

Im Vorurteil gegen die Landbewohner begegnen sich die Nicht¬ 
bodenständigen, ob fahrender Ritter oder Landsknecht, Scholar 
oder Strolch, mit den seßhaften Städtern. Dieses Vorurteil, das aus 
mangelndem Verständnis für bäurische Denkart Dorfbewohner mit 
geistiger Minderwertigkeit gleichsetzt, drückt sich noch in vielen 
anderen Wortbildungen nach Art von Kaffer aus: 

Agroikos bedeutet griechisch bäurisch, aber auch roh, un¬ 
gebildet. 

Im jüdischen Slang (auch in der Sprache der Rabbinerschulen) 
bedeutet amhorez: Unwissender (von hebräisch am ha-arez, Land¬ 
bewohner, wörtlich Volk des Landes). 

Das deutsche Tölpel ist eine lautliche Abart von ,,Dörfler“. 
(Hingegen ist Tölpel nicht wurzelverwandt mit ,,Tolpatsch“, was 
auch nicht, wie behauptet wurde, von venezianisch-friaulisch tolp, 
tolpon = Baumklotz kommt, sondern von ungarisch talp, Sohle, 
talpas, breitfüßiger Fußsoldat; eine volkstümliche Anlehnung von 
talpas — Tolpatsch an Dörfer — Tölpel — tölpisch, schwäbisch talpet, 
dalpicht, talpisch = dumm, imgeschickt, plump ist allerdings nicht 
abzuweisen.) 


2oo 




Das französische vilain (bäurisch, häßlich, gemein) kommt von 
villa Landsitz, village Dorf. Die deutschen Soldaten haben im Kriege 
1870/71 aus dem französischen paysan (Landmann) als Schimpfwort 
für die Franzosen Pisang gebildet. 

Englisch villain = Schurke war ursprünglich das französische 
vilain, das im Altenglischen die Bedeutung Leibeigener hatte. 
Englisch boor (auch der Namen der Buren, der holländischen An¬ 
siedler in Südafrika) bedeutet sowohl Bauer als auch Lümmel, Flegel. 

Das englische clown kommt von mittellateinisch colonus (Bauer, 
Siedler, Kolonist). Im alten englischen Theater hatte der clown die 
Charakterrolle des witzig-pfiffigen Einfaltspinsels (also Typus: 
Totengräber in Hamlet, Sancho Pansa, der brave Soldat Schwejk); 
der clown ist dann in den Zirkus verdrängt worden, wo er das Erbe 
des Bajazzo antrat. Übrigens weisen auch die deutschen Fastnachts¬ 
spiele des i£. Jahrhunderts die Gestalt des einfältigen Bauern auf, 
meistens unter dem Namen Ackertrapp. 

Dorfbewohner mit schimpflichem Beigeschmack sind auch die 
Heiden, und zwar sowohl lateinisch pagani (von pagus = Dorf, 
flaches Land, weil die Nichtchristen zur Zeit, als das Christentum 
Staatsreligion wurde, hauptsächlich in den Dörfern lebten), als auch 
deutsch Heiden, d. h. Heidebewohner. 

Bemerkenswert ist die Entstehung des ungarischen Wortes 
ärmäny = Intrige, Kabale. Im Mittelhochdeutsch sagte man statt 
,,armer Mann 44 auch arm-man, was besonders eine Bezeichnung 
für den leibeigenen Bauer war. Im 16. Jahrhundert, als viel Soldaten 
deutscher Zunge nach Ungarn kamen, bildeten sich die ungarischen 
Soldaten aus dem deutschen arm-man das Wort armänyos zur Be¬ 
zeichnung der von ihnen verachteten und als pfiffig verschrienen 
Bauern. Anfangs des 19. Jahrhunderts wurde daraus in Verkennung 
der Abstammung das Hauptwort armany = Schlauheit, Intrigue ge¬ 
bildet und, als ob es ein altes heidnisches, magyarisches Wort wäre, 
in Beziehung gebracht zu Ahriman, dem Gott des Bösen in der 
altpersischen Göttersage. 

Aus Wörterbüchern der französischen Soldatensprache im Welt¬ 
krieg ist zu ersehen, daß die ,,Poilus“ die Namen von landwirtschaft¬ 
lichen Produkten mit Vorliebe zur Bezeichnung des Bauern selbst 
verwendeten, und daß diese Wörter außerdem auch die Bedeutung 
Kopf und Dummkopf hatten. So bedeuteten in der französischen 
Schützengrabensprache patate, trufife, tomate, betterave, haricot, 


2oi 







noix (Kartoffel, Trüffel, Tomate, Runkelrübe, Erbse, Nuß) in 
geringschätzigem Sinne: Bauer, Kopf und Idiot. 

Das Gegenstück zum sprachlichen Mißbrauch des Begriffes des 
Bauers für die Bildung von Wörtern herabsetzenden Sinnes ist die 
Ableitung rühmender Eigenschaftswörter von den Begriffen Stadt 
und Hof. So kommt von lateinisch urbs = Stadt: urban = fein¬ 
gebildet, umgänglich. Und von Hof kommt nicht nur höfisch (im 
Französischen courtois von cour), sondern auch hübsch, was eine 
Nebenform von höfisch ist (im 12. Jahrhundert mittelfränkisch noch 
hövesch). 

UM DES KAISERS BART STREITEN 

Mit der Wendung „um des Kaisers Bart streiten“ bezeichnet man 
einen müßigen Streit über eine belanglose Frage 1 . Die Redensart, 
erklärte man früher, gehe darauf zurück, daß einmal unter den 
Gelehrten ein heilloser Streit sich darüber entsponnen habe, ob 
die römischen Kaiser Bärte getragen haben. Nach anderer Deutung 
gab es in der Reformationszeit zwischen deutschen Gelehrten ein 
großes Gezänke darüber, ob Karl der Große einen Bart gehabt habe; 
die Frage sei von rechtlicher Bedeutung gewesen, da es auf die Echt¬ 
heit eines Siegels mit des Kaisers Kopf auf einem umstrittenen Doku¬ 
ment ankam. Nach einer dritten Erklärung soll die Redensart an 
einen unfruchtbaren Streit erinnern, in dem es sich darum handelte, 
ob der durch den Tisch gewachsene Bart des Kaisers Barbarossa im 
Kyffhäuser rot sei, da er doch Rotbart heiße, oder weiß, da er doch 
ein Greis sei 2 . 


1) Allerdings neigt man gelegentlich auch dazu den Sinn der Redensart ab¬ 
zubiegen, sie gleichsam als Variante jener vom Streit um das Bärenfell (nämlich 
um das Fell des gar nicht erlegten Bären) zu verwenden; mitbestimmend ist 
dabei die Vorstellung, daß nichts schwerer und kühner sei, als sich ein Haar 
aus des Kaisers (des Sultans) Bart zu holen. Die Verwirrung zwischen der Vor¬ 
stellung vom belanglosen Streit und jener vom Streit um einen nicht erreich¬ 
baren, hypothetischen Gegenstand, den keiner der Streitenden besitzt, findet 
sich z. B. in einer sprichwortvergleichenden Abhandlung von M. C. Wahl, wo 
als französische Entsprechung des Streits um des Kaisers Bart angeführt wird: 
on se batte de l’6pee, qui est encore chez le fourbisseur, man rauft um das 
Schwert, das noch beim Schmied ist. — In der Schweiz hat unsere Redensart 
auch eine Variante: um’s Chaisers Bart spiele, d. h. um nichts, ohne Einsatz. 
(Ähnlich im Elsässischen.) 

2) Zu dieser Erklärung würde allerdings die in Württemberg gebuchte 
Redensart passen: Kümmer du di um’s Kaisers Bart, daß er net grau wird. 


202 





Aber mit keinem Kaiser hat die Redensart etwas zu tun, und sie 
lautete ursprünglich: um den Geißbart streiten. Sie ist die Über¬ 
setzung einer Redensart aus dem römischen Altertum. Horatius 
schildert in einer seiner Episteln Tischgespräche, harmlose Diskus¬ 
sionen um der Geselligkeit halber, z. B. darüber, welcher Gladiator 
der geschicktere sei, welche der Straßen nach Brundisium vorzu¬ 
ziehen sei u. dgl., und so was nennt der Dichter: um die Ziegen¬ 
wolle streiten. Gemeint ist nämlich: ob man die Haare der Ziege 
ebenso wie die des Schafes als Wolle bezeichnen könne. Während 
im Deutschen der Geißbart (schwäbisch Geißenbart) sich zum 
Kaiserbart verfälschte, haben die entsprechenden italienischen, 
englischen und holländischen Redensarten den ursprünglichen 
Wortlaut bewahrt: disputare della lana caprina und to contend about 
a goat’s wool und twisten om een geitenhaar. Merkwürdig ist, 
daß man die deutsche Redensart bis in die jüngste Zeit mit Kaisern, 
den römischen, mit Karl dem Großen oder mit Barbarossa in Ver¬ 
bindung bringen wollte und nicht auf die Deutung Geißenbart kam, 
obschon die römische Wendung von der Ziegen wolle in vielen 
Stellen des deutschen Schrifttums einen Nachklang hinterließ. So 
z. B. schrieb im 13. Jahrhundert Hugo von Trimberg: umb geiz 
wollen kriegen. Und Luther: ,,Sie fechten für die Winkelmesse und 
sagen selbst, es sei eine nichtige Sache und Geißwolle. Ich wollt’ sie 
lehren dieß Geißfell kennen und Haare aus der Wolle machen . 11 
Die obenerwähnte Horazstelle übersetzt übrigens Voß wie folgt: 

,,jener Haderer dort um die Wolle des Geißbocks.“ 1 

Es gibt übrigens auch eine andere Redensart gleicher Bedeutung 
aus dem Altertum, die griechische Wendung „um des Esels Schatten 
streiten“ (peri onou skias). Dieser Redensart wird eine Anekdote 
unterlegt. Ein junger Athener hatte einen Esel nebst dem Eseltreiber 
gemietet, um nach Megara zu reiten. Unterwegs wurde Rast ge¬ 
macht, und der Jüngling wollte sich in des Esels Schatten legen. 
Doch der Eseltreiber, der selbst im Schatten liegen wollte, bestritt 
ihm das Recht: er hätte ihm bloß den Esel, nicht seinen Schatten 
vermietet. (Der Prozeß um des Esels Schatten wurde von Wieland 

1) Das Ziegenhaar als etwas typisches Wertloses spielt auch in anderen 
Redensarten eine Rolle, z. B. in einem Frankfurter spöttischen Neujahrs wünsch: 
Winsch Ihne viel Glick zum neue Jahr, e Barrick (Perücke) von Gaasehaar, e 
Kopp voll Grind un alle Jahr e Kind. — Zu Geißbart vgl. auch das Stichwort 

,,Hephep“. 


203 




in den Abderiten verwertet.) Die griechische Redensart gelangte 
auch ins Lateinische (de asini umbra rixari) und Italienische (dis- 
putar dell’ombra dell’asino). 

KANAILLE 

Im Italienischen entstand aus cane (lateinisch canis) = Hund der 
Sammelbegriff: canaglia = Hundepack. Der Weg in den deutschen 
Wortschatz führt über französisch Canaille. Anfangs des 17. Jahr¬ 
hunderts war es im Deutschen ein Sa mm el wort für Gesindel, seit 
Abraham a Santa Clara (Judas 1689) ist die Anwendung auf den 
einzelnen gemeinen Menschen vorherrschend, wobei die ur¬ 
sprüngliche Mehrzahlform ,,die Canaille 4 ‘ dazu führte, daß es, als 
Einzelform aufgefaßt, hauptsächlich als Schelte für weibliche 
Personen Verwendung fand. Die französische Endung -aille 
(italienisch -aglia) geht auf lateinisch -alia zurück, bekannt auch 
aus unseren Fremdwörtern Naturalia, Personalia, Repressalien, 
Genitalien, Viktualien oder aus modernen makkaronischen Bil¬ 
dungen wie Fressalien. Wenn es auch Fälle gibt, wo italienische 
und französische Wörter auf -aglia und -alia keine verächtliche Be¬ 
deutung haben (wie battaglia, bataille = Schlacht, muraglia, muraille 
= Mauerwerk, maraviglia, merveille = Wunder, übrigens ebenso spa¬ 
nisch batalla, muralla, maravilla), so hat doch diese Endung im mo¬ 
dernen Italienisch und Französisch überwiegend einen pejorativen, 
d. h. bedeutungsverschlechtemden Charakter 1 . Man beachte z. B. ita¬ 
lienisch bruzzaglia = Gerümpel, gentaglia, plebaglia = Pöbel, pover- 
aglia = Bettelvolk, soldataglia = Soldateska, französisch rimaille 
= schlechte Reimerei, moinaille = Mönchsgesindel, bleusaille 
(wegen der blauen Uniform) = Rekrutenpack. Im Pariser Argot futaille 
(Faß) = altes Weib, sogar nousaille für nous (wir). In Frankreich 
bedient sich im besonderen auch das politische Temperament gerne 
der Schimpfworte auf -aille. In einem Pariser Volkslied aus dem 
Jahre 1789 reimt sich auf Canaille mitraille, womit Geistlichkeit 
gemeint war (von mitre = Bischofsmütze), unbeschadet des Um¬ 
standes, daß mitraille selbst außerdem einen Kartätschenschuß sowie 
auch altes Eisen bedeutet. Der Pariser Argot weist als Schimpfwort 
für Priester auch das Wort cl£ricaille auf. 

1) Eine andere pejorative Endung der romanischen Sprachen ist z. B. italie¬ 
nisch -accia, französisch -asse, -ace; z. B. donnaccia = Weibsvolk, populace 
= Pöbel, t 4 tasses = welke Brüste. 


204 




Auch im deutschen Schrifttum blieb die drastische Endung -adle 
nicht müßig. Von Eugen Dühring sind die Neubildungen Diplo- 
maille und Intellectuaille. Bei Karl Kraus findet sich auch 
Generaille. Er ist es auch, der anfangs dieses Jahrhunderts das 
Wort Journaille in Umlauf gesetzt hat. Er sagt selbst darüber aus: 
,,Ein geistvoller Mann hat mir neulich, da wir über die Verwüstung 
des Staates durch die Preßmaffia klagten, diese für meine Zwecke 
wertvolle Bezeichnung empfohlen, die ich hiemit dankbar dem 
Sprachgebrauch überliefere“; der geistvolle Mann war Alfred 
von Berger. Übrigens führt Chautards Werk über die französische 
Gaunersprache joumaille als Nebenform von joumee = Tag auf. 

Bei diesen deutschen Schimpfwörtern auf -aille kann man nicht 
schlechthin nur von der pejorativen Endung -aille sprechen. So¬ 
sehr ist ja dem Deutschen diese Funktion der französischen Endung 
nicht vertraut; vielmehr ist für uns -aille ein Stück vom bekannten 
Kraftausdruck Canaille. Intellectuaille, Joumaille sind also gewisser¬ 
maßen witzige Zusammenziehungen von intellektueller Canaille, 
von journalistischer Canaille, also Beispiele von Verschmelzungs¬ 
wörtern (nach Art von famillionär, poeta kalauraetus, Frauenziefer), 
die wir an anderer Stelle behandeln (S. 39ff). Zweifelsohne liegen 
solche Verschmelzungen auch bei folgenden französischen Beispielen 
vor, die ja in sich das Wort Canaille zur Gänze aufweisen: vati- 
canaille (findet sich bei antiklerikalen französischen Schriftstellern) 
und radicanaille (zur Zeit des Boulanger-Rummels wurde die fran¬ 
zösische radikale Partei so beschimpft). 

KECK, QUICK, FRECH 

Das Handwörterbuch von Sanders-Wülfling erklärt „keck“: voll 
leichtsinnigen, zuviel wagenden, gleichsam die Gefahr heraus¬ 
fordernden Übermutes. Und „frech“ erklärt es: etwas drohend 
Entgegenstehendes nicht achtend; übermütig-kühn; mit verwegener 
Sicherheit mehr als recht wagen; in dem, was man sich erlaubt, 
die Grenzen des Anstandes, der Ordnung, der Sitte mißachtend, 
namentlich auch das Schamgefühl ohne Scheu verletzend. 

Bei beiden Wörtern, die heute miteinander sinnverwandt sind, 
zeigt ihre Vergangenheit, daß ein starker Bedeutungswandel vor 
sich gegangen ist. Ursprünglich waren die beiden Wörter keines¬ 
wegs sinnverwandt. Keck bedeutet eigentlich lebendig, und der 
ursprüngliche Sinn von frech ist gierig. 


20 ^ 



Keck geht auf althochdeutsch chec, mittelhochdeutsch quec, 
kec = lebendig zurück. Das Wort ist verwandt mit altindisch jiva, 
griechisch bios (enthalten in vielen Fremdwörtern, wie Biologie), 
lateinisch vivus (enthalten in Vivat, Vivisektion usw.). Der alte 
Sinn keck = lebendig hat noch in der mundartlichen Verwendung 
des Wortes gelegentlich Spuren hinterlassen. Vor allem wird aber 
die Bedeutungsbeziehung zur Vorstellung des Lebendigen bewahrt 
durch die aus dem Mittelhochdeutschen erhalten gebliebenen Neben¬ 
formen von keck: queck und quick. Die Quecke (auch Queck- 
weizen genannt) ist ein sehr lebhaft wucherndes Unkraut, den 
queckigen Acker muß der Bauer mit der Queckenegge oder dem 
Queckenhaken bearbeiten, aus den Wurzeln der Quecken wird der 
Quecken trank, ein blutreinigendes Mittel, gebraut. Erquicken be¬ 
deutet eigentlich neu beleben, Quecksilber ist lebendiges, d. h. 
bewegliches Silber (französisch vif argent). Verquicken bedeutet 
ursprünglich nur: mit Quecksilber verbinden (amalgamieren), daraus 
dann: innig verbinden. Quickborn (so heißt auch ein Dorf bei Ham¬ 
burg und ein anderes unweit von Dömitz an der Elbe) bedeutet 
einen lebendigen Brunnen, d. h. einen heißen Sprudel, eine Heil¬ 
quelle (so wie der Ortsnamen Heilbronn). Auch der Wiesbadener 
,,Kochbrunnen 4 ‘ ist eine Verderbung von „Quickbrunnen“. 

Das englische Schwesterwort von keck, das Eigenschaftswort 
quick, hat besonders die Bedeutung schnell, hurtig hervorgekehrt. 
Doch ist in mancher Wendung noch die alte Bedeutung lebendig 
bewahrt; z. B. bedeutet to cut to the quick: ins lebendige (Fleisch) 
schneiden. Quick anatomy ist ein veralteter Ausdruck für Vivisektion; 
quick wird gelegentlich auch für schwanger verwendet (to be quick 
with child), und das Zeitwort to quick bedeutet, je nachdem, ob 
vom Kind oder von der Mutter die Rede ist, Leben zeigen oder 
Leben fühlen. Übrigens tritt auch in der deutschen Schriftsprache 
gelegentlich das Eigenschaftswort quick im Sinne von lebendig auf. 
Turnvater Jahn spricht von quicker Jugend, quicker Regsamkeit, 
bei Freiligrath ist zu lesen „wie ein Vogel flügg und quick“, 
und Fontane spricht von einem quicken Frag- und Antwort¬ 
spiel. Der Vorstellungsgehalt der Schnelligkeit ist wohl ma߬ 
gebend für den Umstand, daß in Deutschland Automatenbüfetts 
gelegentlich den Namen Quick tragen. (Hier erwähnen wir auch 
einen Film, in dem der flinke Hans Albers einen Clown namens 
Quick spielt.) 


206 





Aber nicht nur die Nebenformen queck und quick weisen noch 
Beziehungen zum ursprünglichen Bedeutungsbezirk Bios-vivus-Leben 
auf, auch das Wort keck, wenn auch seine schriftsprachliche Be¬ 
deutung stark eingeengt ist, verfügt in den Mundarten noch über 
eine größere Skala von Bedeutungen, in denen die ursprüngliche 
Vorstellung ,,lebendig“ noch mitschwingt. Insbesonders die ober¬ 
deutschen, elsässischen, schweizerischen, schwäbischen und bay¬ 
risch-österreichischen Mundarten lassen eine Reihe solcher Be¬ 
deutungsnuancen erkennen, die mehr oder weniger in allen diesen 
Mundarten vertreten sind, so daß wir diese Sonderbedeutungen für 
das ganze oberdeutsche Gebiet zusammenfassend behandeln können. 
In erster Reihe ist zu nennen: 

a) Die Bedeutung: lebenskräftig, lebensfrisch, rüstig, gesund, 
z. B. schweizerisch: die chechste und die zächste Lüt; 

b) die adverbiale Bedeutung: getrost, sicher, z. B. schweizerisch: 
du chast di chech verla, ebenso österreichisch: auf den darfst di 
keck verlassn, oder in den ,,Briefen des Eipeldauers“: das därfens 
keck glaubn; 

c) stramm, festgebaut von Menschen, Tieren, Sachen, z. B. 
schweizerisch: e checks Par Arme; 

d) entschlossen, zuversichtlich, herausfordernd, z. B. im schwäbi¬ 
schen Sprichwort: klein und keck stoßt dem Größte di Nas in Dreck; 

e) dicht, fest, zähe, hart; im Schwäbischen ist unter kecker 
Butter, keckem Speck, keckem Fleisch feste Butter usw. zu ver¬ 
stehen (,,mach ainen kecken Ayertaig“, heißt es in einem alten 
Kochrezept); schweizerisch: de Chäs söli e Bitz checher si (der 
Käse sollte ein wenig kecker, d. h. fester sein); wenn in ober¬ 
deutschen Mundarten von ,,kecken Brüsten“ gesprochen wird, so 
vereinigt sich die Bedeutung ,,fest“ mit den oben behandelten 
übertragenen Bedeutungen ,,zuversichtlich, herausfordernd“; 

f) in der schwäbischen imd schweizerischen Formel ,,ich bin 
so keck“ (nämlich dies oder das zu tun) entspricht ,,keck“ dem 
Worte ,,frei“ (ich bin so frei . . .); 

g) im Schwäbischen kommt auch der Gebrauch von keck mit 
der Bedeutung von bunt vor, z. B. ein kecker Kittel (man vgl. weiter 
unten den Gebrauch von ,,frech“ für grelle Farbenzusammen¬ 
stellungen) ; 

h) in Österreich gibt es auch ein Hauptwort ,,die Keckn; 
z. B. kärntnerisch: ,,dem seine Keckn“ = seine Kühnheit. 


207 




Wenn auch das schriftsprachliche Eigenschaftswort keck auf ein 
wesentlich engeres Bedeutungsfeld angewiesen ist, bleibt ihm auch 
dort noch eine kleine Bewegungsfreiheit: auch bei der ein¬ 
geschränkten Bedeutung von keck = wagend, übermütig bleibt noch 
die Frage offen, ob keck im einzelnen Falle mit rühmendem oder 
mit tadelndem Beigeschmack behaftet ist. Gretchen will an Faust 
die vornehme Abstammung daraus erkannt haben, daß er sich, als 
er sie ansprach, keck benahm. In Württemberg gilt keck nicht als 
Tadel, auch in der Schweiz wird keck in günstigem Sinne ver¬ 
wendet, und auch in Berlin wird das Wort zwar nicht häufig, aber 
jedenfalls besonders im Sinne von mutig und keinesfalls tadelnd 
gebraucht. Für Wien hingegen hat Kretschmer in seiner ,,Wort¬ 
geographie 4 f notiert: „Das ist eine Keckheit — gilt in Wien als 
gerichtlich verfolgbare Beleidigung.“ Seit dem Erscheinen seines 
Buches sind allerdings anderthalb Jahrzehnte verstrichen, so empfind¬ 
lich sind diesem Worte gegenüber heute auch jene Wiener nicht 
mehr, denen es besonderes Vergnügen macht, zur Feststellung 
dessen, daß dies oder jenes Wort eine Beleidigung sei, möglichst 
oft „einen Richter zu brauchen 44 . 

Frech geht zurück auf althochdeutsch freh, gierig, begehrlich, 
habsüchtig (gotisch faihufriks, viehgierig, d. h. habgierig), damit 
verwandt angelsächsisch free = verwegen, altnordisch frekr = gierig. 
Aus gierig entwickelte sich der Sinn kampfgierig, daher angel¬ 
sächsisch freca = Held (daraus altenglisch freak = Mann), und alt¬ 
französisch frique, neuprovenzalisch fricaud = munter, lebhaft. Aus 
altfranzösisch frique leitet sich nicht nur friquet = Feldsperling ab 
(man vgl. das deutsche Gleichnis: frech wie ein Spatz), sondern 
auch unsere dem Französischen entnommenen Speisenkartenfremd¬ 
wörter Frikassee, Frikandeau, ursprünglich wohl etwa „be¬ 
gehrenswerte Speise 44 . (Die Übertragung der Wurzel friquet vom 
gierig Begehrenden auf das gierig Begehrte ist in der Wortgeschichte 
nichts Außergewöhnliches; übrigens hat auch das Eigenschaftswort 
„begehrlich 44 in der neuhochdeutschen Schriftsprache sowohl die 
aktive Bedeutung begehrend als die passive begehrenswert.) Be¬ 
zeichnend und den ursprünglichen Sinn „gierig 44 noch durch¬ 
scheinen lassend ist z. B. die Verwendung von „frech 44 bei Heinrich 
Hetzbolt von Wizensee (um 1300); er spricht von einem Mädchen, 
„alse freche sach ich nie, so suverlich, daz stet als ez welle spreche: 
ja trutz, wer tar küssen mich? 44 


2o8 


Wie bei keck, so haben sich in den Mundarten, besonders in den 
südwestdeutschen, auch bei frech mehrere ältere Bedeutungs¬ 
nuancen erhalten. Im Schweizerischen bedeutet z. B. frech zunächst 
herzhaft, kühn ohne tadelnden Beigeschmack, daraus entwickelte 
sich die Bedeutung gesund, blühend, gut gewachsen, z. B. ,,gottlob, 
er wird alli Tag frecher 44 . (Bergmann: einer der seltenen Fälle, 
wo sich aus einem geistigen Begriff ein sinnlicher entwickelt hat.) 
Gelegentlich kommt in der Schweiz auch ein Hauptwort ,,die 
Frechi 44 vor, z. B. er chnellt enzwei vor Frechi (er platzt geradezu 
vor Gesundheit). In Oberhessen ist ein freach oder freachfarb 
Mädchen ein frisch aussehendes, von Gesundheit strotzendes 
Mädchen. Der Bam (Baum) — heißt es beim Niederösterreicher 
Castelli — had an frechn Waxdum. Auch im Elsässischen wird frech 
auch von einer üppig treibenden Pflanze gesagt; das Wort wird aber 
dort auch im Sinne von grell gebraucht (von unpassenden Farben¬ 
zusammenstellungen eines Kleiderstoffes). Sebastian Franck und 
Johannes Fischart sagten vom Erdreich: frech und feist und meinten: 
fruchtbar; bei Hans Sachs heißt es von der Natur im Frühling: frech 
und grün. Mathesius, Luthers Tischgenosse zu Wittenberg, spricht 
sogar von einem frechen Magneten (d. h. einem stark anziehenden). 

Bemerkenswert ist die vom allgemeinen Gebrauch im neuen 
Schrifttum stark abweichende individuelle Verwendung des Eigen¬ 
schaftswortes frech durch Goethe. Bei ihm lebt gewissermaßen 
die mittelhochdeutsche Bedeutung gierig, kampfgierig, mutig, 
leidenschaftlich auf. Selbst in solchen Goethestellen, wo ein 
tadelnder Beigeschmack des Wortes zugegeben werden kann, ist 
die gleichzeitig vorhandene Bewunderung nicht zu verkennen. In 
diesem Sinne ist das Wort zu verstehen, wenn Goethe Diderots 
Dialog ,,Rameaus Neffe 44 oder Byrons Don Juan als frech bezeichnet, 
oder von einem Gedicht in des Knaben Wunderhorn sagt, es sei 
frank und frech. (Nicht ohne Absicht ersetzt hier der Dichter in 
einer ständigen Redensart das sprachlich gar nicht verwandte frei 
durch frech.) Gelegentlich gebraucht allerdings Goethe frech auch 
im Sinne von rücksichtslos, keine Bedenken habend, z. B. 1788 
in einem Briefe: das Herz wird in einem fremden Lande leicht kalt 
und frech; oder im Tasso: zerstörte frech mein eignes Selbst. 

Zu bemerken ist noch, daß den Familiennamen Frick, in dem 
andere eine Kurzform für Friedrich sehen, Oppermann als nieder¬ 
deutsche Lautgestaltung von ,,frech 44 auffaßt. 





KEKS, BISKUIT 

Das englische Wort cake (Mehrzahl cakes) dürfte nordgermanischen, 
vermutlich isländischen Ursprungs sein 1 . Im Deutschen bedeutet 
dieses Wort, das im Englischen für Kuchen schlechthin verwendet 
wird, nur ein bestimmtes, fabriksmäßig hergestelltes, feines 
trockenes Gebäck. Seine grammatikalische und orthographische 
Form verursachte lange Zeit Verlegenheiten. Das Dekret des 
Duden, ,,der Kek, die Keks“, wurde jedenfalls nicht befolgt. Im 
Jahre 1903 setzte eine große Cakes- und Biskuitfabrik in Bielefeld, 
bedrängt von Fremdwortbekämpfern, einen Preis von tausend Mark 
für die Verdeutschung von Cakes aus. Um den Preis bewarben sich 
15 349 Personen, die insgesamt etwa £000 verschiedene Wörter 
vorschlugen. Ein Beweis, wie das aus Sprachsachverständigen zu¬ 
sammengesetzte Preisgericht ausführte, für ,,die unerschöpfliche 
Fülle von Möglichkeiten, die unsere Sprache zur Benennung eines 
neuen Erzeugnisses deutschen Gewerbefleißes bietet“. 102 Be¬ 
werber hatten unabhängig voneinander das Wort,,Knusperchen“ 
vorgeschlagen, und für dieses entschied sich das Preisgericht. Die 
Bielefelder Knusperchenfabrik konnte sich aber nicht lang der Ruhe 
erfreuen. Von allen Seiten regten sich Widersprüche gegen das 
Knusperchen, am lebhaftesten aus Bayern, wo man das Wort als 
besonders fremdartig und lächerlich empfand. Die Fabrik setzte 
daher frische tausend Mark aus, und diese wurden im zweiten Wett¬ 
bewerb auf jene drei Bewerber aufgeteilt, die den Vorschlag 
Re schling machten. Aber Reschling konnte die Fabrik ebenso¬ 
wenig durchsetzen als vorher Knusperchen, und auch der Vorschlag 
von W. Eitzen, ,,der Knups, die Knupse“, verhallte. Neuerdings 
hat sich die Form der Keks, die Kekse durchgesetzt. Solcher Fälle, 
wo aus der englischen Mehrzahl eine deutsche Einzahl wird, gibt 
es mehrere. Aus der englischen Mehrzahlform cokes wurde deutsch: 
der Koks. Aus slip, Mehrzahl slips, wurde deutsch: der Schlips. 
(Übrigens bedeutet slip im Englischen alle möglichen Schleifen, 
Möbelüberzüge, Kleidungsstücke, nur die Krawatte nicht.) Aus 
englisch rib = Rippe, Mehrzahl ribs, wurde deutsch Rips, die Be¬ 
zeichnung für ein bestimmtes Stoffgewebe. 

1) Orientalisten bringen allerdings cakes (auch deutsch ,,Kuchen“) 
mit persisch kak, aramäisch ka‘ka, arabisch ka‘k, die Brotarten bezeich¬ 
nen, in Zusammenhang und ziehen auch griechisch kakeis, altägyptisch k’k* 
heran. 


2 10 






Cakes bedeutet im Englischen einfach Kuchen. Was wir Keks 
nennen, sind in Amerika crackers und in England biscuits. Was 
andererseits in Amerika biscuits heißt, das nennen die Eng¬ 
länder rolls, und das sind unsere Semmeln, Brötchen, Wecken 
Strippen. 

Das Wort Biskuit ist verwandt mit dem deutschen ,,kochen“, 
es kommt nämlich von lateinisch coquere und spätlateinisch 
coquina = Küche (über althochdeutsch chohhon, altfriesisch koka) 
und hängt im weiteren vielleicht auch mit den skandinavischen 
Vorfahren des englischen cake zusammen. 

Aus lateinisch bis coctum (zweimal gekocht, zweimal gebacken) 
entstand das italienische biscotto, und im Deutschen findet sich 
schon um 1260 im Tannhäuser piscot. Im 17. Jahrhundert legt 
Abraham a Santa Clara Christus die Worte in den Mund: ,,Das 
Himmelreich ist gleich einem Sauerteig und nicht einem süßen 
Biscottenteig.“ Wenngleich in oberdeutschen Mundarten auch 
heute noch von Biskoten, auch Pischotten gesprochen wird, hat 
sich in der Schriftsprache seit dem letzten Jahrhundert die franzö¬ 
sische Form Biskuit eingebürgert. Biskuit bedeutet dem Wortlaute 
nach dasselbe wie Zwieback, wird aber nur für bestimmte Gebäck¬ 
arten verwendet. Industriell erzeugt in länglicher Form, werden 
Biskuits in Kartons eng aneinandergereiht verpackt, und daraus 
leitet sich wahrscheinlich der bis zum Weltkrieg noch sehr beliebte 
wienerische Ausdruck ,,Bischgotterlfahren“ ab; wenn man zu dritt 
in einer Pferdekutsche, in einem Fiaker oder einem Einspänner 
spazieren fuhr, saßen alle drei auf der einen Sitzseite in der Fahrt¬ 
richtung, der mittlere, der nicht genug Platz hatte, ganz nach vorne 
gerückt. So eine Bischgotterlfuhr — man konnte gut sehen und gut 
gesehen werden — galt als sehr ,,fesch“. Tempo und Dimensionen 
des Kraftwagens haben aber dem Brauch und dem Wort ein Ende 
bereitet. Zahlreiche Karikaturen von Zivilgigerln und von Feschaks 
in Uniform überliefern aber noch den Anblick der Bischgotterlfuhr 
aus der schwarzgelben Zeit. 

Im französischen Soldatenargot ist biscuit (auch biscaille) der 
Spottnamen eines Soldaten, der nach Ablauf seiner Dienstpflicht 
freiwillig weiterdient (Kapitulant, im k. u. k. Österreich „Länger¬ 
diener“). Dieser Spottnamen biscuit ist vielleicht in dem Sinne zu 
deuten: jemand, der sich zum zweiten Male backen läßt; vielleicht 
ist es aber nur eine Anspielung auf das militärische Notbrot, den 


2 11 



Zwieback. (Das ungarische Spottwort für den freiwilligen weiter¬ 
dienenden Unteroffizier ist zuppäs, ein Hinweis auf die Universal¬ 
speise des Soldaten, die Suppe.) Übrigens hat biscuit im Pariser 
Argot noch verschiedene Bedeutungen: es bezeichnet einen ver¬ 
abschiedeten Matrosen (wohl eine Anspielung auf den Schiffs¬ 
zwieback), ist auch der Spitznamen für den Arbeitgeber 1 und bedeutet 
auch ein Geldstück (diese Doppelbedeutung: i. Schiffszwieback, 
flacher Kuchen, und 2. Geld, hat auch das Wort galette). Hierher 
gehört wohl auch der Argotausdruck biscotte für eine flache Mütze, 
obschon einzelne französische Autoren (z. B. Chautard) das Wort 
mit viel Phantasie auf deutsch „Bischofsmütze** zurückführen 2 . 

Aus dem englischen Slang erwähnen wir den im Weltkrieg bei 
den „Tommies** aufgekommenen Ausdruck biscuits für die kleinen 
viereckigen Matratzen, die in Soldatenlagem Verwendung fanden, 
und von denen je drei das Bett eines Mannes bildeten. Diese 
Matratzen waren offenbar so hart wie der Armeezwieback, den die 
Soldaten übrigens, eben wegen seiner Härte, auch dog biscuits, 
Hundekuchen, nannten. 

KEUSCH 

Keine Schwierigkeit macht es, unser keusch auf althochdeutsch 
chuski = enthaltsam, mäßig zurückzuführen (woraus dann mittel¬ 
hochdeutsch kiusche = mäßig, ruhig, sittsam, schamhaft; aus mittel¬ 
niederdeutsch kusch: dänisch und schwedisch kysk). Die Unsicherheit 
tritt erst ein, wenn wir das althochdeutsche chuski weiter zurück¬ 
verfolgen wollen. Matthias Höf er hat 1815- in seinem Wörterbuch 
der oberdeutschen Mundart „als Stammeswort vorläufig das 
hebräische chus = schonen, sich erbarmen** angenommen. „Dieser 
Begriff sehet teils Mäßigung verschiedener Affekte heraus, als des 

1) Bei diesen Spottwörtem des Pariser Argots ist aber der etymologische 
Zusammenhang mit dem gebackenen Biskuit fraglich, vielleicht muß man auf 
das mundartliche bisco = Ziege zurückgreifen. 

2) Rabelais gebraucht auch ein Zeitwort biscoter zur Bezeichnung des Ge¬ 
schlechtsverkehrs. (Was machen die Mönche? Ilz biscotent vos femmes. An 
anderer Stelle: biscoter une vefve, eine Witwe.) Spitzer glaubt, daß die Vor¬ 
stellung „zwei“ die Grundlage für die Übertragung auf den Geschlechtsakt 
bildet (wie im geflügelt gewordenen Rabelaiswort faire la beste a deux dos, 
das Tier mit den zwei Rücken machen). Eine andere Erklärungsmöglichkeit 
für biscoter = coire sieht Spitzer in der Zwischenvorstellung „wie ein Biscuit 
kochen“ = gut kochen = gut bedienen. 


212 







Zornes, der Rachsucht, der geilen Begierde, der Wollust im Essen 
und Trinken, teils Schwachheit von seiten desjenigen, dessen man 
schonen soll.“ So ergeben sich nach Höfer die Bedeutungen von 
keusch: i. nüchtern; 2. sittsam, manierlich, sofern sowohl die 
äußerliche Gebärde, als die innerliche Begierde gehörig beschränkt 
werden; 3. rein, sauber, nett, eigentlich, was geschont und sorg¬ 
fältig in gutem Stande erhalten wird; 4. in der österreichischen 
Volkssprache: dünn, zart, schwach. 

Diese Etymologie des verdienstvollen Höfer — sie trägt alle 
Merkmale der spekulativen Wortgeschichte — hat keine Bestätigung 
gefunden, die hebräische Hypothese ist wohl ganz auszuschalten. 
Wesentlich besser begründet ist die Annahme, keusch sei verwandt 
mit küren = wählen (enthalten in Kurfürst = wählender Fürst, in 
auserkoren usw.) und mit dessen Nebenform kiesen = prüfen, ver¬ 
suchen, prüfend wählen (welche Wörter mit lateinisch gustus 
== Geschmack, das Kosten verwandt sein sollen). Demnach wäre die 
Grundbedeutung von althochdeutsch chuski etwa: prüfend, d. h. 
nicht blindem Trieb folgend. 

Richtiger dürfte es jedoch wohl sein, mit Kluge in keusch einen 
Abkömmling von lateinisch conscius = bewußt zu sehen. Die 
Vermittlung dürfte ein nicht erhalten gebliebenes vulgärlateinisches 
Wort besorgt haben, etwa coscius lautend und mit der Bedeutung 
tugendhaft, unschuldig. 

Neben der schriftsprachlichen Bedeutung (Sanders-Wülfling 
definiert: züchtig, rein, zunächst in bezug auf das Geschlechtliche, 
dann verallgemeinert: rein, unbefleckt, reiner Liebe geweiht) 
haben sich in Mundarten noch besondere Anwendungsmöglich¬ 
keiten des Eigenschaftswortes keusch entwickelt. In hessischen 
Gegenden nennt man z. B. einen in üblem Zustand befindlichen 
Weg einen unkeuschen Weg. Aus der Bedeutung unkeusch = unrein 
im sittlichen Sinne hat sich offenbar die Anwendung im Materiellen 
ergeben, — es ist hier der seltene Fall, wo eine Übertragung aus 
der Sphäre des Ideellen, des Abstrakten auf Konkretes, Stoffliches 
erfolgt. In österreichischen Mundarten wird keusch vielfach im Sinne 
von fein, dünn, gebrechlich, schwach gebraucht. Höfergibt 
die Beispiele: ein keusches Zeug (dünner Stoff) zu einem Anzug, 
der Bub ist noch zu keusch zu einer solchen Arbeit. Hügel ver¬ 
zeichnet 1873 als wienerisch: der Sessel ist a Bisserl z’keusch aus- 
gfallen. Man vgl. dazu aus Kärnten: de Stuol hat keuscha Füesse. 


213 





Wortgeschichtlich besonders merkwürdig ist das Wort Keusch- 
lamm, der deutsche Namen der Pflanze Vitex agnus castus. Die 
Früchte dieses im Orient und in Mittelmeerländern, besonders in 
Italien blühenden Strauches galten schon im Altertum als Mittel 
zur Abtötung der fleischlichen Begierden. Griechisch hieß dieser 
Strauch agnos, diesen Namen übernahm Plinius imverändert und 
schuf damit einen Anlaß zur Verwechslung des Namens mit lateinisch 
agnus = Lamm. Aber noch ein zweites Mißverständnis sollte in die 
Geschichte dieses Wortes hineinpfuschen. Das griechische Agnos 
wurde mit griechisch hagnos = unbefleckt verwechselt (wobei wohl 
die griechische Schreibweise des h-Lautes das Mißverständnis um 
den Anlaut begünstigt hatte), so daß die Pflanze im Lateinischen 
noch den Beinamen castus = rein, keusch erhielt. Vermutlich hat 
sich der Glaube an die antiaphrodisische Wirkung der Frucht, 
beziehungsweise ihrer im Mittelalter unter dem Namen Mönchs¬ 
pfeffer zu Gewürz verarbeiteten Kerne erst aus dem mißverstandenen 
Namen entwickelt, wie in vielen anderen Fällen des sogenannten 
Namenaberglaubens, dessen typischeste Beispiele übrigens auf dem 
Gebiete der Heiligenverehrung zu finden sind (z. B. der heilige 
Blasius als Schutzpatron der Blasenleidenden). Die gehäuften Mi߬ 
verständnisse bei der Entstehung des lateinischen Namens Vitex 
agnus castus pflanzten sich auch in der deutschen Lehnübersetzung 
weiter, die — in der Form keusch lamp — zuerst im 14. Jahrhundert 
auftntt. Nicht zu Unrecht spricht Fritz Mauthner vom „Parade¬ 
stück der Zufallsübersetzungen“. 

Das bayrisch-österreichische Hauptwort Keusche = kleines 
Bauernhaus in den Österreichischen Alpen 1 (in Kärnten nach Lessiak 
besonders das Häuschen, wo die „Auszügler“, d. h. die vom Aus¬ 
gedinge lebenden Alten, wohnen, entsprechend nach Greyerz dem 
schweizerischen „Stöckli“) hat nichts mit dem obigen Eigenschafts¬ 
wort keusch zu tun, sondern kommt nach Weigand aus slowenisch 
kajza = Gehäuse. 

KLUFT 

im Sinne von Spalte und Kluft im Sinne von Kleidung sind ver¬ 
schiedener Abstammung. 

1) Nach einer steirischen Verordnung von ij S 4. heißt der Landmann, der 
mit weniger als 4 Schillingen beansagt ist oder weniger als £ fl. 22 1 L kr an 
Rustikalsteuer zahlt, ein Keuschler, sein Wohngebäude wird zum Unterschiede 
von Bauernhäuser Keusche genannt. 


214 









Von einer indogermanischen Wurzel glubh (dazu griechisch 
glyphein, aushöhlen, lateinisch glubere, ausschälen) stammen die 
deutschen Zeitwörter klauben (zerpflücken, zerspalten, althoch¬ 
deutsch klubon) und klieben (spalten, althochdeutsch chliuban). 
Vom letzteren das Hauptwort Kluft = Spalte, Höhle, Zange, Schere 
(dazu auch die Nebenform Kluppe = Klemmzange, auch ein Gerät, 
um den Umfang von Baumstämmen zu messen). 

Kluft im Sinne von Gewand ist trotz der Anfangsbuchstaben nicht 
verwandt mit Kleid (englisch cloth), sondern kommt aus dem 
Hebräischen, und zwar entweder von chiluf = Rinde, Schale (man 
vgl. wienerisch Schal’n = Anzug, Mehrzahl Schäler, und berlinisch 
Schale = Gewand, z. B. schnieke Schale) oder aus chalifoth 1 * * = ver¬ 
schiedene Gewänder, Wechselgewänder. Jedenfalls entstand aus 
dem hebräischen Wort im Rotwelsch des 14. und i$. Jahrhunderts 
Klafott = Kleidung, das im neueren Gaunerdeutsch zu Kluft ge¬ 
worden ist. Das Wort ist auch in verschiedene deutsche Mundarten 
eingegangen, auch in die Studentensprache, in der sich ,,Klüftchen“ 
schon 1793 gedruckt vorfindet. Stramm in Kluft sein heißt in der 
Sprache der Handwerksburschen: fein gekleidet sein. Kluftier 
(sprich Kluftjeh) heißt in der Sprache der Unterwelt der Herren¬ 
kleiderverkäufer, Kluftenmuldel der Kleiderschrank, Klufterei die 
Kleider, Klafottfetzer oder Kluftpflanzer der Schneider, Klafte das 
Frauenkleid. Treefe Kluft heißt gestohlene Kleider (,,ich bring 
dich mit deiner treefen Kluft in den Katen“, d. h. ins Gefängnis). 
In der Sprache der Klesmer, der auf dem Lande herumziehenden 
jüdischen Musikanten in Polen und im Vorkriegsrußland, bedeutet 
Klift den Überzieher oder den Pelzmantel. 

KNORKE 

Im dritten Kriegsjahr tauchte in Berlin der Kraftausdruck knorke 
auf. An diesem vielumstrittenen Worte ist sogar schon problematisch, 
zu welcher grammatikalischen Wortart es gehört. Hermann Am¬ 
mann sieht in seinem Buche ,,Die menschliche Rede“ (192^) in 
knorke vor allem das Ausrufwort: ,,So ; wie es dasteht, wirkt es 
unmittelbar als Urlaut, als Interjektion, wie früher tiptop, und wird 
auch als solcher gebraucht. Man sagt aber auch schon ,det is knorke 4 , 

1) Dieses hebräische chalifoth ist verwandt mit arabisch chila 1= Ehren¬ 

gewand, woraus über spanisch gala die in vielen Kultursprachen enthaltenen 

Wörter Gala, galant, Galanterie. 


2i 5 







gebraucht das Wort also als Prädikat, ... und schließlich wird, 
wenn das Wort lange genug in Geltung bleibt, auch die attributive 
Form nicht ausbleiben. So ist ja auch die Interjektion tiptop heute 
soweit adjektiviert, daß man von einem tiptopen Hute, einer tip- 
topen Sache sprechen kann.“ Die in Aussicht gestellte Umwandlung 
zum deklinierbaren Eigenschaftswort ist bisher nicht eingetreten, 
und sollte sie noch kommen, so wird sie wohl, wie ich glaube, 
aus lautlichen Gründen zum Zusammenfließen mit dem Eigenschafts¬ 
wort knorrig führen müssen (berlinisch knorrjer, -e, -es, z. B. in 
einem 191 o an den Polizeipräsidenten gerichteten Vers der Berliner 
Droschkenkutscher: ,,wir sind ein Volk, ein knorrjes, Herr von 
Borries!“). Heute ist das Wort knorke nicht mehr so in Schwung 
wie in seiner Glanzzeit 1923—1927, aber es ist immerhin erhalten 
geblieben, hat auch in Wörterbüchern Eingang gefunden, wird auch 
im neuen ,,Brockhaus“ gebucht. 

Mit sehr gut, vorzüglich, fein ist der Sinn dieses saftigen Eigen¬ 
schafts- und Umstandswortes nur schwach wiedergegeben. Es gibt 
davon auch steigernde Weiterbildungen, wie vollknorke, edel¬ 
knorke. Ein Berliner Kabaretthumorist hat knorke unter die 
Synonyme der Berlinismen dufte, paffte, schnieke wie folgt ein¬ 
gereiht : Gute Menschen und ooch Schufte — kannten nur den Aus¬ 
druck dufte, — unsere junge Generation — ist bedeutend weiter 
schon: — wenn ich ’ne Zigarre paffte — sage ich: det Ding is 
schnaffte. — Wenn ’ne Pulle ich entkorke — sage ich: der Wein 
is knorke. — Wenn ich eene Maid bekieke — sage ich: Mensch, 
die is schnieke.“ Andere Berliner Synonyme sind Schnulle, Klasse, 
Saft, Sahne, Puppe — eigentlich Hauptwörter, die emphatisch als 
Eigenschafts- oder Umstandswörter gebraucht werden. So ein 
adverbial als Kraftausdruck verwendetes Hauptwort ist auch ,,die 
Schnuppe = glimmendes Ösel am Docht, in übertragenem Sinne 
= etwas Kleines, Wertloses, Gleichgültiges (,,das ist mir schnuppe“). 
Der Duden gibt übrigens an, ,,knorke“ sei im Niederdeutschen 
gleichbedeutend mit ,,schnuppe“. 

Der Etymologie ist knorke eine knorrige Nuß. Zuschriften, die 
der ,,Berliner Westen“ 1926 (von Pfarrer Lichtenstein) und der 
,,Vorwärts“ 1927 bekamen und veröffentlichten, lüfteten nicht den 
Schleier. Nach Munkepunke (A. M. Meyer) soll knorke als gefühls¬ 
mäßige Improvisation der Kabarettsängerin Claire Wald off ent¬ 
standen sein; diese urberlinisch schaffende Künstlerin soll einmal 


216 







ermüdet nach einer Tasse Kaffee verlangt haben, ,,aber knorke“ 
(also stark). In einem Artikel von Erich Czech-Jochberg über m 
Dr. Joseph Goebbels in der ,,Umschau“ vom 22. Juni 1933 steht 
ein Satz, von dem es nicht ganz klar ist, ob er dem wirkungsvollen 
nationalsozialistischen Redner die Erfindung des Wortes knorke zu¬ 
schreiben will oder ob er ihn bloß charakterisieren will durch den 
Hinweis auf die Verwendung des volkstümlichen Kraftausdruckes 
in seinen Reden. 

Im Jahre 1931 hat sich auch Mauermann, der verdiente ,,Hüter 
des Berliner Wortschatzes“, in einem Brief an den Herausgeber 
der ,,Literatur“ zur Entstehung von knorke geäußert. Als man im 
Krieg das Bedürfnis nach einem neuen Kraftwort fühlte, habe sich 
völlig von selbst ergeben, daß man auf eine im Unbewußten noch 
lebendige Wortwurzel, auf ,,kn“, zurückging. Vom süddeutschen 
Knödel bis zum norddeutschen ,,Knust“ finde man diese Wurzel 
in volkstümlichen Wörtern. Bestellt sich der Berliner ein Eisbein, 
so soll ,,recht viel dran“ sein, dann muß es einer knolligen, 
knorrigen Baumwurzel gleichen. Es ist also ,,knorrig“ oder mund¬ 
artlich ,,knorke“. Ein Ringen nach einem etwas Derbes, Ergiebiges 
ausdrückenden Wort habe also im Jahr 1916, als man anfing, um 
seinen Magen besorgt zu sein, den Ausdruck knorke geschaffen. 
,,Das Kraftwort knorke ist der Schöpferlaune einer mit Spannung 
geladenen Berliner Atmosphäre zu danken und weist organisch auf 
die Wurzel kn.“ Plausibel, doch nicht zwingend! 

Andere Autoren vermuten in knorke einen Familiennamen. 
Ein Budiker im Norden von Berlin soll zur Anpreisung seiner Fleisch¬ 
klöße ein Schild ausgehängt haben: ,,Knorkes Buletten 1 sind die 
besten.“ Eine jener bequemen etymologischen Fabeln, in denen 
zur Erklärung eines etymologisch spröden Wortes eine Person 
gleichen Namens erfunden wird. Die Zerstörung der Legende war in 
diesem Falle relativ leicht; Prof. Agathe Lasch hat in allen in Frage 
kommenden Jahrgängen des Berliner Adreßbuches gründlich herum¬ 
geschmökert und konnte einen Familiennamen Knorke nicht finden. 

1) Über die Abgrenzung der verschiedenen Bezeichnungen für gehacktes 
Fleisch (Fleischklöße, Bratklops, Königsberger Klops, deutsches Beefsteak, 
Buletten, Brisoletts, Frikandellen, Fleischpanzl, Fleischlaberl usw.) in begriff¬ 
licher wie in geographischer Hinsicht vgl. man Kretschmers Wortgeographie 
1918, obschon gerade in der von der Schriftsprache ziemlich gemiedenen kulina¬ 
rischen Sphäre schon in 15—20 Jahren nicht unerhebliche begriffliche und geo¬ 
graphische Grenzverschiebungen haben eintreten können. 


217 




Wenn aber auch die Erklärung des Ausdruckes knorke aus einem 
♦ Berliner Familiennamen 1 entkräftet ist, steht immerhin fest, daß es 
ein Hauptwort„Knorr 44 gibt, und auch dessen Verkleinerungsform 
Knorke (,,-ke 44 ist die norddeutsche Verkleinerungssilbe, z. B. in 
den Eigennamen Lemke = Lämmchen, Mörike = Mohrrübchen). 
Der Knorr 2 oder der Knorren ist etwas Hartes, Knorriges, bedeutet 
einen Knoten, einen Auswuchs an Bäumen, Steinen, Körpern. Eine 
oberdeutsche Nebenform lautet Knorz. Die Verkleinerungsform ,,der 
(oder das) Knorrke 44 bucht Frischbiers Preußisches Wörterbuch 3 aus 
der Gegend von Insterburg, Darkehmen und Nordenburg als Bezeich¬ 
nung von Sternchen oder Knöcheln, mit denen Kinder spielen. 

Damit wäre jedenfalls erwiesen, daß das Wort knorke dem Wort¬ 
laut nach bereits bestand, ehe es als Berliner Modewort auftrat; 
aber die Entstehung des Berliner Ausdruckes ist damit noch nicht 
geklärt, denn ein Zusammenhang mit dem älteren mundartlichen 
Wortgebrauch ist nicht ersichtlich. Hoffen wir, daß die echten 
Geburtsdokumente des Wortes knorke einmal noch ans Tageslicht 
gelangen werden, damit es nicht dazu verurteilt ist, in den Spalten 
der Wörterbücher auf die Dauer ein Kaspar-Hauser-Dasein zu führen. 

KORB GEBEN 

Die Redensart ,,einen Korb geben 44 hat man früher fälschlicher¬ 
weise mit der Rolle in Zusammenhang gebracht, die der Korb im 
Strafzeremoniell der alten Germanen spielte. Sie huldigten nach 
Tacitus dem Grundsatz, die Schuldigen bei Bestrafung von Frevel¬ 
taten zur Schau zu stellen, bei Schandtaten jedoch dem öffentlichen 

1) Knorr (also ohne -ke) kommt als Familiennamen in Berlin allerdings 
vor. Das Berliner Adreßbuch 1917 weist etwa 200 Personen namens Knorr auf, 
daneben 1 Knor, 2$ Knorre, 1 Knörk, 10 Knörck, 1 Knörrcke, £ Knörrchen 
(nur keinen Knorke). Der Familiennamen Knorr ist nicht auf Norddeutschland 
beschränkt. Bei Nestroy (,,Einen Jux will er sich machen“) kommt eine 
Wiener Modistin Madame Knorr vor. Das Wiener Adreßbuch 1934 weist nicht 
weniger als 46 Wohnungsinhaber namens Knorr auf; dazu kommt noch ^mal 
Knor, imal Knörr, 3mal Knorre und sogar 3 Knörlein, was geradezu das ober¬ 
deutsche Knorke ist. Übrigens kommt Knorr als Bezeichnung von Bergen und 
Gipfeln gewisser Form nach Greyerz wiederholt im bayrisch-österreichischen 
Sprachgebiet vor. 

2) Bei Lessing sagt Nathan: Nur muß der eine nicht den andern mäkeln, 
nur muß der Knorr den Knubben hübsch vertragen. (Auch der Knubben 
gehört in die knollig-knotig-knüppelige Gesellschaft.) 

3) Ostpreußisch ist auch gnoren = knurren, knorrig = mürrisch. 


218 









Anblick zu entziehen. Feiglingen, die in den Sümpfen ertränkt 
wurden, wurde daher noch ein Korbgeflecht über den Kopf ge¬ 
worfen. Für ein anderes Strafzeremoniell mit einem Korb liefert 
u. a. eine Augsburger Chronik aus dem Jahre 159^ den Beleg: 
,,Dieweil auch die Becker grossen Betrug übten, liesse der Rat 
einen Schnellgalgen mit einem Korb zurichten über die Lachen . . 
auf welche die gesetzt sollten werden, so solche Betrügereien 
brauchten, und wann sie also lang genug dem Schauspil darauf ge¬ 
sessen, alsdann in das unflätige, kotige Wasser herab gestossen 
worden.“ Auch auf diesen Brauch geht die Redensart vom Korb¬ 
geben nicht zurück. Und schließlich liefert auch die römische Sitte, 
bei Hochzeitsmahlen ärmeren Verwandten, die man nicht einladen 
wollte, ein Körbchen mit Speisen (sportuli) ins Haus zu senden 
oder vor die Türe zum Abholen bereitzustellen, nicht die Vor¬ 
geschichte unseres Korbgebens. 

Der Redensart vom Korbgeben liegt ein anderer alter Brauch 
zugrunde, der so sonderbar erscheint, daß es schwer fiele, an ihn 
zu glauben, wäre er nicht ausreichend belegt. Es handelt sich um 
eine Sitte unter Liebesleuten, die bis auf die Minnesängerzeit zurück¬ 
geht und an das in den bayrisch-österreichischen Alpen auch jetzt 
noch übliche ,,Fensterin“ erinnert. Es wird mehrfach berichtet, 
daß Burgfrauen den heimlich Geliebten in einem Korbe zu sich 
heraufziehen ließen, aber auch, daß andere einen unbequemen Lieb¬ 
haber einen mit leicht durchbrechbarem Boden versehenen Korb 
hinabließen und so Durchfallen und Absturz des Betrogenen herbei¬ 
führten. An Stelle eines Abschiedbriefes bekam also der nachts vor 
dem Fenster erschienene Liebhaber einen Korb mit heimtückisch 
lockerem Boden, und wehe ihm, wenn er dieses Liftdefektes nicht 
rechtzeitig gewahr wurde. In Schwänken wird von boshaften Damen 
erzählt, die den Kavalier auf halber Höhe hängen ließen, damit bei 
Tagesanbruch jeder ihn sehe. So erzählt z. B. Thomas Murner das 
in der Renaissance wiederholt literarisch bearbeitete Abenteuer des 
Zauberers Virgilius: eine schöne Magd, um die der Römer buhlte, 
beschied ihn, er sollte nachts zu ihrem Fenster kommen, ,,da wolt 
sy ein korb aber Ion — darin soll er sich setzen schon — er thet das 
selb on allen argwon. — Als sy in halber uff hyn zoh — das lüstig 
wyb von dannen floh — und liess in hangen an der wend — das er 
offlich da ward geschendt — und yederman das selber seyt — das er 
do hing umb wybs bescheid.“ Virgils Abenteuer ist auch wiederholt 


219 







bildlich dargestellt worden, u. a. durch einen Holzschnitt von 
Albrecht Altdorfer. Es soll auch vorgekommen sein, daß eine 
besonders Schnöde mit Hilfe ihrer Zofe (oder einer Winde, wie 
alte Holzschnitte es darstellen) den Verehrer in einem untadeligen 
Korb bis zu einer gewissen Höhe emporzog und ihn dann fallen 
ließ; ,,sie zog ihn auf bis an das Dach, ins Teufels Nam fiel er 
wieder rab“, heißt es über den ,,Schreiber im Korb“ in einem 
Lied des 16. Jahrhunderts. ,,Sünd em de Scheinen (Schienbeine) 
ok blau V‘ fragt man in Holstein noch heute über einen abgewiesenen 
Freier. (Man vgl. damit die holländische Redensart: eene blauuwe 
scheen lopen, sich ein blaues Schienbein erlaufen.) 

Jedenfalls war der alte Sinn der Redensart vom Korbgeben früher 
noch allgemein bekannt; schildert doch auch der volkstümliche 
Hans Sachs einmal so ein Durchfallen durch den Korb. Allerdings 
verschwindet aus dem Volksbewußtsein allmählich die Vorstellung 
der hohen Burg, und an die Stelle der heroischen Tragikomik tritt 
eine kleinbürgerlich-bäuerliche, ebenerdige Burleske. Das Durch- 
den-Korb-Fallen-lassen wird ein derber Schabernack, etwa nach Art 
jener Streiche, mit denen lustige Weiber sich für die plumpen 
Zudringlichkeiten eines Falstaff, eines Sancho Pansa rächen. So finden 
wir z. B. im Pugillus facetiarum 1608 zwei Frauen abgebildet, einen 
Korb haltend, durch den ein Mann durchfällt; darunter sein Aus¬ 
spruch in Makkaroni - D euts ch: Armer Mannus ego, per corbem 
fallere cogor. Im Pugillus 1637 als Seitenstück dazu auch eine Frau, 
die durch den Korb fällt. 

Im 17. und 18. Jahrhundert wurde das Verfahren wesentlich ge¬ 
mildert. Man schickte dem unerwünschten Bewerber einfach als 
Symbol einen Korb ohne Boden. In dieser zweiten Geschichtsphase 
des Korbgebens muß es wohl als Zeichen rücksichtsvoller Höflich¬ 
keit gegolten haben, das Verletzende einer unmittelbaren Ablehnung 
durch symbolische Kundgabe zu vermeiden. In diesem Sinne schreibt 
Piccander: ,,Damit ein Mädgen nur nicht allzu mürrisch (= un¬ 
höflich) sey, so pflegt sie einen Korb von ihren eigenen Händen dem, 
der ihr Hertz verlangt, an dessen Statt zu senden.“ Die dritte ge¬ 
schichtliche Phase des Korbgebens besteht dann darin, daß auch die 
symbolische Korbübergabe entfällt und der Korb nur noch ein ge¬ 
sprochenes Sinnbild bleibt. Statt Korbkriegen heißt es in einigen 
norddeutschen Gegenden auch: die Kiepe kriegen („Matz heft de 
Kiepe kregen“). In Schlesien sagt man makkaronisierend korbisieren 


220 









1 


statt Korb bekommen; übrigens steht schon 1657 in den Facetiae 
facetiarum „korbissare“ im Sinne von Durchfallen beim Examen. 
In der Oberpfalz wird ein abgeblitzter Freier noch heute in der 
Weise verspottet, daß man ihm einen Korb steckt, d. h. einen Korb 
mit einer Strohfigur hinstellt. Vielleicht hängt damit irgendwie auch 
zusammen, daß in der Eifel ein Ungetreuer, der ein Mädchen sitzen 
läßt, durch einen bodenlosen Korb kriechen muß. In Thüringen hört 
man die Redensart: einen Korb kann man schon bekommen, aber 
einen Boden muß er haben. 

Offenbar hängt mit dem Korbkriegen auch die Redensart unten 
durch sein sowie auch der Ausdruck durchfallen für Nicht¬ 
bestehen einer Prüfung zusammen. In der ,,Historia vom reichen 
Mann und armen Lazaro“ (1555) des Johann Krüginger (Criginserus 
Vallensis) erzählt ein Student in Versen, daß ihm, als er an der 
Universität zu Narragon Prüfung ablegen wollte, ,,die Artes kamen 
quer so in seinem Kopf“, daß er durchfiel: ,,da ich nun meinte, 
zu promovim / Setzt mich in Korb, lies mir hoffieren j Pietsch 
fiel ich durch den Korb hinweg / Und lag hienieden im Dreck.“ 
Auch in Holland wird Durchfallen bei der Prüfung und Korb¬ 
kriegen symbolisch in Beziehung gesetzt. Übrigens ist die hollän¬ 
dische Redensart ,,door de mande vallen“ (durch den Korb fallen) 
auch auf dem berühmten Gemälde des Bauern-Brueghel über die 
niederländischen Sprichwörter (im Kaiser-Friedrich-Museum zu 
Berlin) dargestellt. Am rechten Rand des Bildes hängt in einem 
Korb ein nackter Narr, der Boden des Korbes ist durchgebrochen, 
der Mann ist gerade im Begriff, ,,durchzufallen“. Im Holländischen 
hat sich übrigens die Bedeutung der Redensart etwas verschoben: 
door de mande vallen heißt etwa: sich rechtfertigen wollen, aber 
sich in seinen eigenen Worten verwirren und nicht weiter können. 

In einigen südlichen Gegenden Frankreichs ist das Nüsse¬ 
geben das Symbol für die Abweisung eines Heiratsantrages. Der 
Bewerber erscheint mit zwei Freunden im Hause des Mädchens. 
Nachdem der Heiratsantrag gestellt worden ist, wird stundenlang 
gegessen, getrunken, geplaudert, gescherzt. Wenn zum Schluß als 
Nachspeise eine Schüssel mit Nüssen aufgetragen wird, gilt der Antrag 
als stillschweigend abgelehnt. Daher die Redensart donner des noix. 
Im Beam sagt man donner de la citrouille (einen Kürbis geben). 

In Ungarn sagt man kosarat kapni, einen Korb bekommen, oft 
auch einen leeren (üres) Korb bekommen, aber die Redensart ist 


221 



einfach aus dem Deutschen übersetzt 1 , ohne daß die realen sitten¬ 
geschichtlichen Vorgänge, die ihr zugrunde liegen, in Ungarn erlebt 
worden wären, und so steht man der Redensart mangels der Er¬ 
innerung an den alten Brauch fremd gegenüber, versucht sie durch 
das Bild des leeren Korbes für den abgewiesenen Bewerber zu 
rechtfertigen. Eine um 1820 erschienene Sammlung von ungarischen 
Redensarten (Dugonics) erzählt übrigens als Entstehungsgeschichte 
ein Märchen von einem alten Korbmacher, dessen wunderschöne 
Tochter den vielen vornehmen Bewerbern kleine Körbchen zum 
Andenken schenkte. 

Mit dem Volksbrauch einer symbolischen ,,Korberteilung“ hängt 
auch eine andere ungarische Redensart zusammen. Der Freier legt 
seinen buntgestickten Mantel (szür) in der Küche ab und unterhält 
sich dann in der Stube mit den Hausbewohnern. Wenn er beim 
Weggehen seinen Mantel nicht mehr in der Küche findet, sondern 
auf der Außenseite des Hauses unter dem Vordach aufgehängt, so 
weiß er, daß er abgewiesen worden ist. Die Redensart kitettek a 
szüret (man hat seinen Mantel hinausgestellt) hat aber mit der Zeit 
ihre Bedeutung verallgemeinert; jetzt bedeutet sie: man hat ihn 
hinausgeworfen, man hat ihn auf die Straße gesetzt. 

KRAWATTE 

Das Wort Krawatte kommt vom Namen des kroatischen Volkes. 
Die Kroaten nennen sich selbst heute Hrvati. Der ältere Name 
lautete Chorwaten, Chrowaten, Chrobaten. Vielleicht besteht eine 
Verwandtschaft mit dem Namen der Karpathen; Kroaten bedeutet 
slawisch etwa: Bewohner des Bergrückens, des chrbet. Dieser 
zahlenmäßig kleine südslawische Stamm spielte seit dem Vordringen 
der osmanischen Macht in Europa eine ziemlich große Rolle in der 
Kriegsgeschichte. An der Grenze des Habsburgerreiches angesiedelt, 
waren die Kroaten dort in alle kriegerischen Ereignisse verwickelt, 
sie wurden aber auch auf entfernten Kriegsschauplätzen verwendet, 
und Rolle und Ruf dieser ,, Grenzer 4 4 erinnern in mehr als einer 
Hinsicht an die Kosaken. Kroatische Reiterverbände wurden, vor 
der eigentlichen Armee oder in deren Flanke, besonders zu Auf¬ 
klärungszwecken verwendet, und mit ihnen wurde der eigentliche 
Typ der leichten Kavallerie geschaffen. Die Kroaten trugen ein 

1) In gebildeten Kreisen Ungarns gab es schon im 16. Jahrhundert die bild¬ 
liche Redensart: kidölni a kosarböl (aus dem Korb fallen). 


222 









leinenes Tuch um ihren Hals, das vorne zusammengesteckt wurde. 
Das Halstuch der Offiziere war aus Musselin oder Seide. Während 
des Dreißigjährigen Krieges bekamen französische Offiziere diese 
Halstracht der Kroaten in Deutschland zu sehen, sie schienen Ge¬ 
fallen an ihr zu finden, denn mancher von ihnen beeilte sich, sie 
nachzuahmen. Zu gleicher Zeit schritt man in Frankreich dazu, 
leicht bewegliche Kavallerieverbände zu Aufklärungszwecken auf¬ 
zustellen. Das Beispiel der kaiserlichen Kroaten truppe schwebte 
offenbar bewußt in Paris vor, denn man nannte die neuen Reiter 
cravates royaux (königliche Kroaten). Auch kopierte man die Hals¬ 
binde der Originalkroaten und man nannte auch diese Binde selbst 
cravate. So wurde seither das Wort Krawatte ganz international, 
besonders als diese Halsbindenart in der zweiten Hälfte des 18. Jahr¬ 
hunderts als allgemeine männliche Tracht Verbreitung fand. Die 
sprachliche Identität von Kroate und Krawatte wird in manchen 
Sprachen deutlicher bewahrt als im Deutschen. Im Italienischen z. B. 
heißt die Binde nicht nur cravatta, sondern auch croatta. Übrigens 
heißt es auch in einem deutschen Liede (in einer i 8 o$ erschienenen 
Sammlung von Handwerksliedern): ,,Haben noch einen harten 
Stand — Bis nunter ins Krawattenland.“ 

Vom nachhaltigen Eindruck, den die tapferen, aber auch un¬ 
geschliffenen, undisziplinierten und selbst in Freundesland hem¬ 
mungslos hausenden Kroaten im 17. Jahrhundert in Mittel- und 
Westeuropa machten, zeugt auch eine andere sprachliche Bildung. 
Im Nordwesten Deutschlands, besonders in Holstein, aber auch in 
Ostpreußen und Schlesien, nennt man noch heute ein wildes, aus¬ 
gelassenes KindKrabate, Krabatke, Krabutke, Krabaute, und ähn¬ 
lich im Dänischen. Man hat zwar versucht, diesen Ausdruck mit 
,,Krabbe“ und ,,krabbeln“ in Verbindung zu bringen (so z. B. 
Andresen), aber man muß den Etymologen Nyrop, Sohns, Berg¬ 
mann recht geben, denen der Zusammenhang mit den berüchtigten 
Kroaten unzweifelhaft erscheint. Es ist die Vermutung ausgesprochen 
worden, daß man als ,,kleine Krabaten“ zuerst die unehelichen 
Kinder bezeichnete, die die Mütter an den Durchzug der drauf¬ 
gängerischen kroatischen Soldaten erinnerten. Aber es bedarf gar 
nicht so einer konkreten Deutung. Durchziehende Kriegsvölker 
(z. B. Vandalen, Hunnen, Tataren) hinterließen oft ihre Namen als 
Gattungsnamen, die dann leicht zu Schimpfwörtern wurden. Nach 
dem Dreißigjährigen Krieg ist in Deutschland das Wort Kroate 


223 




(dänisch crabateme) oft im Sinne von Räuber, Rohling, Wildling 
gebraucht worden, und das Wort wurde dann auch abgeschwächt 
verwendet als zärtliches Schimpfwort, mit denen z. B. Mütter 
muntere, wilde Knaben riefen. Die Verwendung eines Schimpf¬ 
wortes als Zärtlichkeitsausdruck (sowohl im Verhältnis von Mutter 
zu Kind als unter Liebesleuten) ist eine bekannte psychologische 
Tatsache. Wir begegnen ihr übrigens auch bei der Namengebung 
für Hunde, Pferde und sonstige Haustiere. 

Für die Verwendung des Wortes Kroate als Gattungsname gibt 
es auch sonst viele sprachliche Belege. Der Mensch is ko Krowot, 
lautet ein Wiener Sprichwort, und es soll sagen: man ist doch kein 
ordinärer Mensch und hat höhere Ansprüche. In Wien war Ende 
des 17. Jahrhunderts Krawattendörfel ein Beinamen der übel 
beleumdeten Vorstadt Spittelberg; es sollte mit dem Namen an¬ 
gedeutet werden, daß die billigen Quartiere dieses Stadtteiles (der 
übrigens erst vor anderthalb Jahrzehnten aufgehört hat, der Haupt¬ 
sitz der Wiener Prostitution zu sein) so schlecht seien, daß nur 
anspruchslose zugereiste ,,Kroaten“ (gemeint waren slowenische 
und bosnische Hausierer mit Stöcken, Messern, Teppichen, Kinder¬ 
spielzeug) dort Unterkunft nehmen können. 

Auch in Ludwigsburg in Württemberg gab es ein „Kroaten- 
dörflein“; so hieß seit 1709 der an das Schloß sich anschließende 
Ortsteil, vermutlich an ein Truppenquartier anknüpfend. Auch sonst 
zeugen im schwäbischen Sprachgebiet Ortsbezeichnungen vom 
lebhaften Eindruck, den die kroatischen Truppen hinterließen. So 
verzeichnet das Schwäbische Wörterbuch u. a. als Namen von Orts¬ 
teilen: Krawatt, Kroatennest, als Flurnamen: Croatenäcker, Kra¬ 
wattentobel, Krawattenbauer. Auch sei auf ein schwäbisches Volks¬ 
lied hingewiesen: Annele, Annele wehr di - s’ kommt e Herd' 
Soldate — se hant so lang Kittele an — und sehet wie Kroate. Ähn¬ 
liche Spuren im schwäbischen Volksmund hinterließen übrigens 
auch die ungarischen Reiter. (Vgl. das Stichwort ,,Husar“.) 

Auch in der französischen Gaunersprache gibt es Aus¬ 
drücke, die auf den Namen der Kroaten unmittelbar zurückgehen; 
in anderen Redensarten wird der Name der Krawatte, der Hals¬ 
binde, schon selbständig verwendet. Im Pariser Argot bedeutet z. B. 
cravate verte (grüne Krawatte) den Zuhälter, ein cravate rouge 
(einer mit einer roten Krawatte) ist der durch das Fallbeil Hin¬ 
gerichtete. Im Cant, der englischen Verbrechersprache, ist die 


224 







hempen cravat (die hänfne Krawatte) das Galgenseil. Auch die Ver¬ 
knüpfung der Vorstellungen Hals und Krawatte führt zu Redensarten. 
Prendre quelqu’un ä la cravate (jemand bei der Krawatte fassen) und 
faire le coup de cravate (den Krawattengriff machen) = erwürgen. 
Im Deutschen wird Krawattenmacher im Sinne von Halsabschnei¬ 
der = Wucherer gebraucht. Krawattengeschäfte machen bedeutet in 
Berlin: wucherisch Vorgehen („se habn ihn de Kravatte zujezogen“). 

KRETIN, IDIOT 

Unter dem Stichwort „Kaffer“ betrachteten wir eine Anzahl von 
Wörtern verschiedener Sprachen, die ursprünglich „Dorfbewoh¬ 
ner“ bedeuten und in denen später die Bedeutung Dummkopf vor¬ 
herrscht; hier wollen wir zwei weitere Wörter behandeln, die 
ursprünglich keinen herabsetzenden Sinn hatten, heute aber gleich¬ 
bedeutend mit „schwachsinnig“ sind: Kretin und Idiot. 

Um zu verstehen, wie aus französisch chretien (Christ, 
griechisch: christos, der Gesalbte) cretin wurde, muß man sich 
jenen evangelischen Grundsatz vergegenwärtigen, daß die Armen 
im Geiste, die, die „einfältigen Herzens“ sind, selig sind, denn 
ihrer ist das Himmelreich. Johannes Hus zitierte einen Kirchen¬ 
vater, als er auf dem Scheiterhaufen sah, wie ein Bäuerlein noch 
ein paar Scheite Holz herbeischleppte: „oh heilige Einfalt“. Daß 
die Schwachsinnigen und Geistesgestörten die besonderen Schütz¬ 
linge der Götter sind, ist übrigens eine Auffassung, die das Christen¬ 
tum auch mit vielen primitiven Religionen teilt. Selbst bei den 
Griechen hieß der Wahnsinn hiera nosos, heilige Krankheit. 
Christiani ist im Mittelalter eine mitleidsvolle Bezeichnung für die 
Armen, die viel zu leiden haben, insbesondere für die Leprakranken. 
Und was die Schwachsinnigen anbelangt, so sind sie als Christen 
getauft, also sicher des Heils, aber andererseits unzurechnungsfähig, 
können daher nicht sündigen; sie sind gleichsam dauernd im Zustande 
der Gnade. Man nannte sie in Frankreich mancherorts innocents 
(Unschuldige), im Mittelalter allgemein benedicti (Gesegnete), fran¬ 
zösisch benet, was heute übrigens, abweichend von benit = geweiht, 
nur noch Dummkopf bedeutet 1 , indes der etwas veralteten 

i) H. Hatzfeld sieht nicht im Glauben an den Anspruch der Geistesschwachen 
und Einfältigen auf die Seligkeit die Ursache der Bedeutungsverschlechterung, 
sondern nimmt an, daß benet zunächst die Frommen und dann die „stupiden 
Frömmler“ bezeichnet hat. 


8 Storfer 


22 £ 




Nebenform benoit in der reinen Schriftsprache diese schonungslose 
Sinnverschlechterung erspart geblieben ist 1 . Auch das deutsche 
„selig“ ist von der Degradierung verschont worden, aber der Vetter 
dieses Wortes, das englische silly (altenglisch saelig, mit der Bedeu¬ 
tung : selig, unschuldig) gilt heute auch nur noch einem Einfaltspinsel. 
Übrigens ist die Bedeutungsverschlechterung von einfach, offen, 
gut zu dumm, schlecht eine in vielen Sprachen vorkommende Er¬ 
scheinung. Simpel macht in vielen Sprachen diese Verschiebung mit 
(im Deutschen z. B. einfältig); nur das holländische eenvoudig be¬ 
deutet nach wie vor nur schlicht. Im Deutschen hat übrigens schlicht 
mit der Bedeutungsverschlimmerung auch einen Lautwandel durch¬ 
gemacht, so daß jetzt schlicht und schlecht nebeneinander stehen. 
Ein typisches Beispiel für die Entwertung des Begriffes gut ist das 
französische Wort bonhomme, wörtlich guter Mensch, gutmütiger 
Kerl, aber auch Tropf, Einfaltspinsel. 

Die Fixierung des Wortes chretien—cretien auf die von Geburt 
aus Schwachsinnigen scheint sich in den Alpengegenden Frankreichs 
und der romanischen Schweiz vollzogen zu haben. In Deutschland 
taucht Kretin in diesem Sinne zuerst 1798 bei Kant in bezug auf 
Schwachsinnige in den Tälern des Kantons Wallis auf. 

Man hat übrigens versucht, statt deutsch Kretin = französisch 
chretien = Christ andere Ableitungen zu finden. Eine von diesen 
beruht auf einem seltsamen Mißverständnis. Der Sprachreiniger 
Campe schlug als Verdeutschung für Kretin, an die angebliche 
blasse Gesichtsfarbe der Schwachsinnigen denkend, „Weißling“, 
oder mit einem lautlichen Anklang an das französische Wort cr6tin, 
„Kreidling“, vor. Diese Erfindungen bürgerten sich zwar nicht 
ein, ermöglichten aber, daß der französische Sprachforscher Littr£ 
später auf sie hereinfiel. Er leitete das Wort Kretin von der an¬ 
geblich kreideblassen Gesichtsfarbe der Schwachsinnigen in den 
deutschsprachigen Alpentälem und von deren angeblichen deut¬ 
schen Namen Kreidling ab. Im Nachtrag seines Wörterbuches 
rückte Littr6 von diesem Irrtume ab, da ihm inzwischen bekannt 
wurde, daß man in der Gironde crestin und crestine sagte, so daß 
er die Ableitung cretin von Christ nunmehr anerkannte. Sachs- 
Villattes französisch-deutsches Wörterbuch gibt noch fälschlicher¬ 
weise Kreidling als die Quelle von cretin an. 

1) Im Pariser Argot allerdings bedeutet benoit den Zuhälter (belegt u. a. 
durch ein Bettlerlied Jean Richepins). 


226 









Unhaltbar ist übrigens auch die in der psychiatrischen Literatur 
gelegentlich angeführte (merkwürdigerweise sich auch in allen 
Auflagen des Brockhaus forterbende) Ableitung des Wortes Kretin 
von romanisch cretina (Kreatur). Wohl nur als Wortwitz gemeint 
ist die Stelle bei C. J. Weber, dem ,,deutschenDemokritos 44 : ,,Schon 
Apostel Paulus nennt seine Kreter faule Bäuche, woher vielleicht 
die Cretins stammen, welche die Faulheit selbst sind. 44 Übrigens hat 
Weber mit einer ebenfalls unhaltbaren Etymologie den Namen der 
Insel Kreta in Verbindung gebracht mit Kreide (das in Wirklichkeit 
von lateinisch terra creta, gesiebte Erde kommt) und ist dadurch in die 
Nachbarschaft jener falschen Ableitung Kretin von Kreidling geraten. 

Bekanntlich besteht der Kretinismus nicht nur in einer geistigen 
Unterentwicklung, sondern weist auch körperliche Mißbildungen 
auf, wie Kropf, Schädelverbildung, kurze, krumme Beine usw. Auf 
die gestörte Gehfunktion weist das erst seit einigen Jahrzehnten 
allgemeiner bekannte österreichische Wort Trottel hin (von 
gotisch trudan kommt ,,treten 44 mit den Nebenformen trotten 
= traben und trotteln = mit kurzen Schritten gehen). Mit der Gang¬ 
art hängt vielleicht auch das sinnverwandte österreichische Tepp 
zusammen, das aus tappen — schwerfällig gehen, wanken (hilflos 
herumtappen) zu erklären wäre. (Man vgl. auch ungarisch balga, 
balgatag = töricht, albern von bolyong = wankend herumirren.) 

Beruhen die herabsetzenden Wörter Kaffer, Tölpel usw. auf dem 
Dünkel der Städter dem Landmann gegenüber, so nährt sich der 
üble Sinn im Worte Idiot von der Verachtung, die der Politiker 
für den Privatmenschen, der Gelehrte für den Laien empfindet. Das 
griechische idiotes kommt von idios = eigen (woher auch Idiom 
= Eigentümlichkeit, besonders in sprachlicher Hinsicht, Mundart; 
für Dialektwörterbücher auf wissenschaftlicher Grundlage ist auch 
heute noch der Namen Idiotikon gebräuchlich). Idiotes bedeutet 
griechisch: der Eigene, der Privatmann, der Unpolitische, der in 
Staatsangelegenheiten Unkundige, der Laie. Das Wort ist dann im 
Mittelalter und in der frühen Neuzeit besonders in Gegensatz zum 

Herder nannte noch Sokrates einen Idioten, und Seume bezeichnete 
sich selbst so. Erst um 1800 herum bekam im deutschen Sprach¬ 
gebrauch Idiot den Sinn von Dummkopf, Schwachsinniger. Mit 
diesem Nebensinn wurde das Wort im Englischen allerdings bereits 
4-—5 Jahrhunderte früher behaftet. 



8 * 


22 7 



KUTSCHE 

ist offenbar gleicher Herkunft wie französisch und spanisch coche, 
italienisch cocchio, englisch coach, holländisch koets, schwedisch 
kusk, polnisch kocz, ungarisch kocsi usw. 

Die heute von den meisten Etymologen vertretene Ableitung 
dieses geradezu internationalen Wortes gründet sich auf den Namen 
der ungarischen Gemeinde Kocs (sprich Kotsch) im Komitate 
Komarom, unweit von Györ (Raab). Gegen Ende des i_§\ Jahr¬ 
hunderts taucht in Ungarn zuerst die Bezeichnung kocsi szeker, 
d. h. Kocser Wagen auf. Fuhrleute aus Kocs waren es nämlich nach 
Simonyi, die im 15-. und 16. Jahrhundert den Verkehr zwischen 
Wien und der ungarischen Hauptstadt bestritten. Nach anderer 
ungarischer Erklärung habe man die großen Reisewagen in Kocs 
gebaut. Die Kunst des Wagenbaues war wohl zu jener Zeit in Ungarn 
sehr entwickelt, denn als im Jahre 14^6 die Gesandten des jugend¬ 
lichen Königs Ladislaus ,,des Nachgeborenen‘‘ an den Hof Karls VII. 
nach Tours kamen, brachten sie der zur Braut ausersehenen Prin¬ 
zessin Madeleine als Geschenk einen ungarischen Wagen mit 
(branlant et moult riche), der viel Beachtung fand. 1^18 erscheint 
die Bezeichnung zuerst in einem deutschen Texte: der aus Rußland 
heimkehrende Gesandte Herberstein berichtet, daß er nach Wien 
gefahren sei ,,auf Kolzschi Wägnen, die man also nent nach ainen 
Dorff bey zehn meillen dieshalb Ofen“. In den Rechnungsbüchern 
des ungarischen königlichen Hofes aus den Jahren 1494—149 ^ heißt 
der Fuhrmann currifer de Koch (ch ist in der alten ungarischen 
Orthographie wie tsch zu lesen). Von Wien aus, wo man auch 
Gotschi-Wagen schrieb, scheint die Weiterverbreitung des Wortes 
erfolgt zu sein. Um 1^09 wurde von Kardinal Ippolito d’Este, der 
mit acht Jahren Erzbischof von Ungarn wurde, der ,,cochi“ in 
Italien eingeführt. i$2o ist der carro da coccia (in Toskana der 
cocchio) in Italien schon gut bekannt. In Frankreich erscheint das 
Wort coche gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, es wird auch bei 
Rabelais erwähnt. 1^48 geht der Spanier d’Avila ungarische Her¬ 
kunft des Wortes an; Calderon gebraucht coche im Sinne von Trag¬ 
sessel. Im Englischen kommt coach seit 1556 vor. 

Ist auch die Ableitung aus dem ungarischen Ortsnamen heute 
am häufigsten vertreten, unbestritten ist sie doch nicht. Eine 
romanistische Ableitung aus cocca, concha = Muschel (wegen der 
muschelähnlichen Form des Wagens) wird man ohne weiteres 


228 





abweisen dürfen. Schmeller bemerkt zu,, Kutsche“, daß man, ,,wenn 
nicht Namen und Sache aus der Fremde nach Deutschland ge¬ 
kommen sind, glauben möchte, daß durch dieses Wort eigentlich 
der hutschende, d. h. schwankende, zwischen den Vorder- und 
Hinterrädern aufgehangene Sitz bezeichnet sei“. Etwas besser ge¬ 
stützt sind die Ableitungen aus slawischen oder aus turkotatarischen 
Wurzeln. Nachdem man Kutsche schon früher mit polnisch kasz, 
tschechisch kos (daher ungarisch kas, kosär) = Korb abzuleiten ver¬ 
sucht hat, präsentieren die Slawisten Dobrowsky und Titz eine besser 
begründete slawische Ableitung. Das Wort sei ursprünglich 
tschechisch kotec und bedeute Aufbau, und dann wohl auch das mit 
einem Aufbau versehene Gefährt. Für ein slowakisches koczy gibt 
es schon für das Jahr 1440 einen Beleg aus Kosice (Kassa) und für 
1469 einen aus dem Archiv von Rosenberg, also Belege, die um ein 
bzw. um zwei Menschenalter älter sind als der erste ungarische. Die 
Verbindung mit dem Ortsnamen Kocs sei volksetymologisch nur so 
zu erklären, daß jener Ort an der vielbefahrenen Strecke Ofen—Wien 
lag und sein Namen daher den Reisenden allgemein bekannt wurde. 

Lokotsch sieht in Kutsche ein Wort türkischer Herkunft. 
Türkisch kos bedeutet Wagenburg, Gesinde, Truppe. Daraus wurde 
kleinrussisch kos = Kosakenlager, kosewoj = Schirrmeister, polnisch 
kosz = Tartaren- oder Kosakenlager, russisch koscej = Kriegs¬ 
gefangener, Diener. Die Gefangenen türkischer Herkunft scheinen 
in Rußland und Polen als Pferdeknechte und Fuhrleute verwendet 
worden zu sein, ,,daher wohl auch letzten Endes deutsch Kutscher“. 

Für alle Fälle aber, d. h. selbst wenn das Wort Kutsche auch nicht 
mit dem Dorfe Kocs Zusammenhängen, sondern slawischer oder 
türkischer Herkunft sein sollte, scheint festzustehen, daß die Vor¬ 
aussetzungen für seine westeuropäische Verbreitung erst auf der 
Strecke Ofen—Wien eingetreten sind und daher Wien, wenn auch 
nicht der etymologische, so doch der kulturgeschichtliche Ausgangs¬ 
punkt dieses international gewordenen Wortes ist. Das Wienerische 
selbst allerdings hat den Ausdruck Kutsche nicht behalten, nur die 
Zusammensetzung Hofkutsche und die Weiterbildungen Kutscher 
und kutschieren (mit volkstümlichen Anwendungen wie Kutscher- 
gschpiel = ordinäres Kartenspiel, umma- oder umanandkutschieren 
= planlos herumirren usw.). Der volkstümliche Wiener Kutscher¬ 
typus führte aber nicht den Namen Kutscher, sondern Fiaker 
(s. weiter unten). 


229 



Anschließend wollen wir noch einige 

Wagenbezeichnungen 

betrachten. Das Wort Wagen selbst (althochdeutsch wagan) geht 
auf eine indogermanische Wurzel wegh = ziehen, fahren, sich be¬ 
wegen zurück, woher auch lateinisch vehere = führen. Das Wort 
Wagen = Fahrzeug entspricht also dem lateinischen vehiculum, 
unserem Fremdwort Vehikel 1 , und gehört daher in dieselbe, stark 
ausgebreitete Wortsippe wie wiegen, Wiege, gewiegt, überwiegen, 
Gewicht, wichtig, Wucht, Weg (auch das Umstandswort und die 
Vorsilbe weg), wegen, verwegen, bewegen, unentwegt, aufwiegeln 
(intensiviertes bewegen), wackeln, wagen, wägen, erwägen, Wagnis, 
Woge, vehement, Invektive usw. 

Karren ist keltischen Ursprungs, wie mehrere europäische 
Wörter, die sich auf Fahren und Reiten beziehen. (Auch das veredus 
in paraveredus — woraus unser Pferd, s. S. 37 —ist vermutlich kelti¬ 
scher Flerkunft). Wie es auch bei vielen anderen keltischen Wurzeln 
der Fall ist, spielt auch diesmal das Lateinische die Rolle des Ver¬ 
mittlers zu den neueren Sprachen. Aus dem Keltischen kommt 
lateinisch carrus = vierrädriger Wagen (daraus entwickelt sich 
übrigens auch französisch charrue = Pflug), und dieses carrus gelangt 
zu Beginn der christlichen Zeitrechnung zu den Germanen, wird 
zu althochdeutsch männlich karro oder weiblich karra und behauptet 
sich im Raume von Köln und Trier sowie östlich von beiden, 
während der Süd westen von Karch (mittelhochdeutsch karrech, 
karrich) im Sinne zweirädriger Wagen eingenommen wird (Kluge- 
Götze). Friedrich Maurer veranschaulicht in seinem gedanken¬ 
reichen Buche über die Volkssprache gerade an der Mundartgrenze 
zwischen Karren und Karch in Südhessen die Bedeutung des Ver¬ 
kehrs als sprachgestaltender Kraft; er beruft sich auf die Feststellung 
von Frings, daß Karch von dem norddeutschen Karren durch den 
rheinaufwärts ziehenden Verkehr gegen Süden hin abgedrängt 
worden ist. 

1) ,,Vehikel“ hat allerdings heute einen größeren Bedeutungsumfang als 
Wagen, wir verstehen darunter jedes Beförderungsmittel auf dem Festland, 
also beipielsweise auch ein Fahrrad, meistens aber mit einem humoristischen 
Anklang, den das französische vehicule nur gelegentlich, das englische vehicle 
überhaupt nicht hat. Außerdem bedeutet aber das Wort im Französischen und 
im Englischen auch allgemeiner Träger (z. B. einen Krankheitsträger) und ein 
Bindemittel im übertragenen Sinne. 


230 








Aus carrecta, der mittellateinischen Form von carrus, wird 
carretta, in Deutschland im 16. Jahrhundert als Carette = Reise¬ 
wagen entlehnt. Das Wort hat seither in deutschen Mundarten, 
namentlich in mittelhochdeutschen, eine verächtliche Bedeutung 
bekommen. Aus carrus entwickelten sich auch die mittellateinischen 
Nebenformen carruca und carrocium, aus denen italienisch carroccio 
und carroccia wurde. So nannte man die Fahnenwagen, die die Mai¬ 
länder um das Jahr 1000 herum einführten, damit im Gefecht die 
Fahnen gesicherter und weiter sichtbar seien. (Da Pferde leicht 
scheuen, spannte man vor diese carroccias, auf denen mächtige 
Fahnenmaste befestigt waren, Ochsen ein.) Wolfram von Eschenbach 
übernahm das Wort in der Form Karrasche (im Parzival), bezeich- 
nete allerdings damit einen Wagen, auf denen die Speiseschüsseln 
bei Festen gezogen wurden. Die Entwicklung dieses Fremdwortes 
in Deutschland ergibt die Formen: Karratsche, Karrotsche im 
13. Jahrhundert, um 1600 herum neu entlehnt Carotze und ein halbes 
Jahrhundert später unter französischem Einfluß Karosse, nunmehr 
mit der Bedeutung Prunkwagen. Eine Weiterbildung von Karosse 
ist Karosserie = Oberbau des Kraftwagens. 

Equipage für vornehme Pferdekutsche ist ein Wort, das jetzt 
nicht mehr häufig gebraucht wird, da der Kraftwagen den Gegen¬ 
stand selbst fast ganz verdrängt hat. Wer weiß, daß lateinisch equus 
Pferd bedeutet, kommt nicht in Verlegenheit, wenn er eine Ver¬ 
mutung über die Herkunft des französischen Wortes Equipage 
äußern soll. Dennoch ist das lateinische equus in Equipage nicht 
enthalten. (Equus ist überhaupt ohne jeden Einfluß auf den fran¬ 
zösischen Wortschatz, cheval = Pferd kommt vom gleichbedeuten¬ 
den vulgärlateinischen caballu, woher auch deutsch Gaul.) Equipage 
stammt von der germanischen Wurzel skip = Schiff 1 . 

Chaise ist heute im Deutschen kaum noch gebräuchlich. Bei 
Goethe (Wanderjahre) findet sich noch ,,Reisechaise“, bei Schiller 

1) So erklärt sich auch, daß im Französischen und im Englischen equiper 
und verwandte Wörter hauptsächlich Begriffe aus der Schiffahrt bezeichnen, — 
ohne daß sie sich auf eine berittene Marine bezögen. Französisch equiper heißt 
ein Schiff ausrüsten, oder allgemeiner ausrüsten überhaupt, equipage ist die 
Schiffsmannschaft, Schiffsausrüstung, dann überhaupt jedes Reisegerät, ferner 
der Aufzug eines reisenden Herrn mit Gefolge, auch eine Jagdgesellschaft mit 
den Hetzhunden, sogar die Hundekoppel allein. Im Englischen bedeutet equipage 
die Ausrüstung eines Schiffes, eines Heeres, das Teegeschirr, die Nähausrüstung. 
Der germanischen Urbedeutung skip = Schiff besonders nahe liegt das englische 


231 





(Der Neffe als Onkel) „Postchaise“. Im Jahre 1719 poltert ein 
Autor, nun sei „aber ein Wagen eine Chaise, eine Hure eine Dame 
und ein Schelm ein Politicus“. Chaise für Halbkutsche ist am Ende 
des 17. Jahrhunderts aus dem Französischen entlehnt, wo es (ebenso 
wie chaire = Stuhl) von griechisch-lateinisch cathedra kommt. 
(Während chaire = Stuhl heute nur mehr für besondere Fälle ver¬ 
wendet wird, für den päpstlichen Stuhl, für einen Lehrstuhl usw., 
bedeutet chaise den Stuhl im allgemeinen.) Den Übergang zur 
deutschen Bedeutung Wagen vermittelt chaise ä porteurs = Trag¬ 
sessel, Sänfte. Auch unser Fremdwort Chaiselongue enthält das 
französische Wort chaise. 

Slawischen Ursprungs sind die Wagennamen Kalesche, Britschka 
und Droschke. Kalesche kommt von polnisch koloska = Räder¬ 
fahrzeug und dieses von kolo = Rad. In einem deutschen Hausbuch, 
1604, heißt es: „ein klein Wegelein mit vier kleinen Raden, da 
man nur ein Pferd vorspannet, in Polen nennt mans eine Kalesse.“ 
Comenius, dem als Tschechen wohl das tschechische kolesa vor¬ 
schwebte, schrieb 1644 in einem deutschen Text calesse. Aber 
schon einige Jahre vorher taucht in Deutschland die Form Calleche 
auf, die dann sowohl die allgemein gewordene deutsche Form 
Kalesche als das französische caleche bestimmte. 

Für ein leichtes Bauemfuhrwerk ist in West- und Ostpreußen 
sowie bei den Deutschen in den nordöstlichen Gebieten des ehe¬ 
maligen Österreichs der Ausdruck Britschka oder Britschke ge¬ 
bräuchlich. Es liegt ihm polnisch bryczka, die Verkleinerungsform 
von bryka = Wagen, zugrunde. (Im Krieg nannten die deutschen 
Feldgrauen die kleinen Wagen — in der k. u. k. Verkehrssprache 
die „ 1 . ü.“, d. h. die „landesüblichen“ Fuhrwerke — der polnischen 
Bauern „Panjewagen“; ebenso sprach man von Panjepferden, 
Panjehäusern usw., und die polnischen Bauern wurden auch kurz 
die Panjes genannt, weil sie einen mit Panje = Herr ansprachen.) 

Droschke kommt von russisch droschki (nur Mehrzahl), pol¬ 
nisch dorozka oder drozka, tschechisch drozka. Die Etymologie 
des slawischen Wortes ist nicht sichergestellt. Es kommt entweder 
von russisch dorogu, polnisch draga = Weg (in diesem Falle ist 

Wort esquif = Boot. Beachtenswert ist — angesichts des Übergreifens der 
Vorstellung Schiff in die allgemeinere Bedeutungssphäre Ausrüstung, Ge¬ 
rätschaft —, daß in Bayern die Gesamtheit der landwirtschaftlichen Geräte 
„Geschiff und Geschirr“ heißt. 


232 





die ursprüngliche Bedeutung wohl Straßenfahrzeug) oder vom 
Worte drog, womit die Verbindungsstange zwischen Vorder- und 
Hinterrädern bezeichnet wurde, und in diesem Fall war wohl zuerst 
ein nichtgefederter Wagen gemeint, der nur so eine einfache Ver¬ 
bindungsstange aufweist. Mit der Bedeutung leichter Mietswagen 
erscheint in einem deutschen Text Troska zum erstenmal in Riga 
1784. Für Berlin ist Troschke 1815- belegt. Dann wurde bald 
Droschke daraus. (Heine 1822 in seinen Berliner Briefen: ,,Hier 
gleich am Tore stehen Droschken. So heißen unsere hiesigen 
Fiaker. “) Droschke wurde in Berlin das gangbarste Wort für den 
mietbaren großstädtischen Personenwagen und führt zu Zusammen¬ 
setzungen wie Droschkenkutscher, Droschkengaul usw. 

Seinen eigenen Namen hat Berlin einem Reisewagen für große 
Überlandfahrten geliehen. Das weibliche Hauptwort Berline für 
Reisewagen mit rückschlagbarem Verdeck — wie sie zwischen Berlin 
und Paris verkehrten — bürgerte sich zuerst in Frankreich ein, 
anfangs des 18. Jahrhunderts; erst gegen Ende des Jahrhunderts 
gelangt das Wort ins Deutsche. Im Französischen wurde aus berline 
weitergebildet berlingot = Halbberline, Wagen ohne Vordersitz, 
in weiterem Verlauf der Bedeutungsentwicklung verächtlich: 
minderwertiger Wagen, so wie man im Deutschen Kasten oder 
Kiste sagt; im Weltkrieg gebrauchten die französischen Soldaten 
berlingot im verächtlichen Sinne für Automobil und für Flugzeug, 
auch als Spottnamen für Flugfeldkommandanten. 

In Berlin (nicht etwa im niederösterreichischen Krems an der 
Donau oder in einem der anderen Orte namens Krems) entstand 
die Wagenbezeichnung Kremser. Der Hofagent und preußische 
Kriegskommissar Kremser erhielt die Erlaubnis, Wagen zum öffent¬ 
lichen Gebrauch zu stellen, die „auf eisernen Achsen laufen und 
auf Federn ruhen sollen“. Die ersten zehn „Kremser“ wurden am 
20. Mai i 82£ am Brandenburger Tor aufgestellt. Kremser, d. h. 
lange, vielsitzige, seitwärts offene Mietwagen mit Verdeck für Land¬ 
partien gab es in Berlin bis in die jüngste Zeit. Ein ärmerer Ver¬ 
wandter des Kremsers war im Vorkriegswien der Zeiserlwagen. 
Es waren eigentlich für Lastenbeförderung bestimmte lange Leiter¬ 
wagen, auf denen man mit Bänken primitive Sitzgelegenheiten schuf. 
Sie dienten größeren Gesellschaften in wohlfeiler Weise zu Ausflugs¬ 
zwecken ; auf dem Sitz neben dem Kutscher fuhr oft ein Drehorgel¬ 
mann mit, wie heute bei den Gesellschaftsrundfahrten im Autobus 


233 



ein Flügelhornspieler, der den Wienerwald mit Schubertweisen 
illustrieren zu müssen glaubt. Auch in der Nachkriegszeit tauchten 
im Wiener Stadtbild bei Straßenbahnstreiks solche improvisierte 
Zeiserlwagen auf. Zeiserl heißt im Österreichischen der Zeisig, es 
ist aber unklar, ob die Wagenbezeichnung mit dem Vogelnamen 
zusammenhängt. (Vielleicht derart gemeint, daß die Passagiere auf 
diesem Wagen so nebeneinander sitzen wie die Vögel auf dem Baum¬ 
ast ?) Schmeller denkt an mundartlich Zeisler = Mensch, der immer 
eilt, Zeislerei = eilfertiges Tun; Zeiserlwagen wäre demnach also 
vor allem ein Eil wagen. Gaheis aber denkt an lateinisch cisium 
= Reisewagen: ,,An dieses um die Endung verkürzte Wort hat sich 
als zweiter Bestandteil die Verdeutschung angeschlossen, und aus 
dem cisi-Wagen wurde durch Volksumdeutung der Zeisel oder 
Zeiserl wagen, wobei auch ein grüner oder gelber Anstrich des 
Fuhrwerks mitgeholfen haben mag. 1 ‘ 

Landauer ist die Bezeichnung für eine seit Anfang des 18. Jahr¬ 
hunderts vorkommende Wagenform: im Inneren des Wagens sind 
die beiden für je zwei Personen bestimmten Sitzflächen einander 
gegenüberstehend angeordnet, und das Verdeck kann in Hälften 
vor- und rückwärts auseinandergeschlagen werden. Unbegründet 
ist die Behauptung, der Name Landauer gehe darauf zurück, daß 
Kaiser Joseph I. zum erstenmal eine derartige pomphafte, offene 
Kutsche benutzt habe, als er 1702 zur Belagerung von Landau fuhr. 
Das Wort hat nichts mit einer Belagerung zu schaffen, auch ist diese 
Wagenart nicht zuerst in der rheinpfälzischen Stadt hergestellt wor¬ 
den, wie es in ,,Hermann und Dorothea“ gelegentlich heißt, noch ist 
dieser Wagentypus die Erfindung eines Engländers namens Landow, 
das Wort ist vielmehr morgenländischer Herkunft. Aus sanskrit 
hindola oder andola entstand durch persische Vermittlung arabisch 
al andul = die Sänfte. Von den Mauren haben die Spanier ihr lando 
(ursprünglich leichter, mit Maultieren bespannter viersitziger 
Wagen), daraus dann allgemein europäisch landau, landon. Im Deut¬ 
schen siegte über dieses anfängliche Landau schließlich die Form 
Landauer, eben wegen jener verbreiteten, aber falschen Verbindung 
mit der Belagerung von Landau. Auch die Engländer und die Fran¬ 
zosen haben für diesen Wagentypus die Bezeichnung landau. Die 
Landauerform, bei der der Gegensitz verkleinert und daher weniger 
bequem wurde, hieß Halblandauer, französisch landaulet, kleiner 
Landauer. In neuester Zeit nahm die Kraftwagenindustrie das Wort 


234 



Landaulet für eine Wagenart in Anspruch; man bezeichnet so 
jene (heute nur noch für Kraftdroschken verwendete) Form, bei 
der der Führersitz vom Fahrgastraum durch eine Zwischenwand 
getrennt und ein Teil des Verdecks rückwärts herabklappbar ist 1 . 

Kabriolett geht auf lateinisch caper = Ziegenbock zurück, wo¬ 
von nicht nur französisch chevre = Ziege und andere romanische 
Namen dieses Tieres sich ableiten, sondern auch deutsche mund¬ 
artliche Bezeichnungen des Tieres: Hippe, Hipplein, Haber (Haber¬ 
geiß ist eigentlich ,,Ziege-Ziege“). Capriola bedeutet im Italieni¬ 
schen Bocksprung, und auch im Deutschen sagt man Kapriolen 
machen, besonders vom sich bäumenden („bockenden“) Pferde 
und auch in übertragenem Sinne. Eine andere italienische Form des 
Wortes für Bocksprung, Capriccio, führt über französischen Um¬ 
wegen zu unserem Fremdwort Caprice = Laune, Grille, sonderliche 
Eigenart, wovon dann kapriziös, sich kaprizieren. In Wien nennt 
man zierliche kleine Kissen Kapritzpolsterl, vielleicht weil man sie 
sich irgend einmal als Attribut der kapriziösen Dame im Boudoir 
gedacht hat, oder weil man sie je nach Laune an beliebigen Orten 
verwenden kann. In Steiermark hießen die Haarschnörkel beim Ohr, 
wie sie einmal die Frauenhaarmode zeigte, Kapritzen; Kapritzen- 
jackel ist eine veraltete steirische Bezeichnung für wunderliche, 
launenhafte Menschen. Auf dem Vergleich mit dem springenden 
Ziegenbock beruht auch der Namen cabriolet, Kabriolett für einen 
leichten, mit einem Pferd bespannten, zweirädrigen und daher bei 
rascher Fahrt auf nicht ebenem Boden gleichsam Bocksprünge 
machenden Personenwagen. Seit etwa 18^0 wird im Deutschen 
auch Cab, die abgekürzte englische Form von cabriolet, gebraucht 2 . 

1) Die viertürige Innensteuerlimusine hat in Amerika den Namen Sedan 
bekommen. Dieser Bezeichnung liegt englisch sedan = Sänfte, Tragsessel zu 
gründe, das seinerseits vom Namen der französischen Stadt Sedan kommen soll 
(warum?), obschon eine Beziehung zur indogermanischen Wurzel sed- (sitzen) 
naheliegender erscheint. 

2) In Frankreich verstand man unter cab einen „englischen“ Wagen, wo 
der Kutscher auf einem erhöhten Sitz hinter der Herrschaft sitzt. Überhaupt 
ist England das Land, das im 19. Jahrhundert auf dem Gebiete der Wagen¬ 
moden tonangebend war. Wir nennen hier einige englische Bezeichnungen 
für gewisse Wagentypen, auch wenn sie nicht alle in die Sprachen des Kon¬ 
tinents gedrungen sind, weil sie immerhin zu gewissen Zeiten als fremde Be¬ 
zeichnungen nicht unbekannt waren. Der Hamson (nach dem gleichnamigen 
Erfinder, 1803—1831) hat zwei hohe Räder und den Kutschersitz hinter dem 
Verdeck. Der Phaethon (nach dem Sonnenwagen des griechischen Mythos) 


23 £ 




Als in Wien die Cabs zuerst auftauchten, nannte sie der junge Erz¬ 
herzog Max, der spätere Kaiser von Mexiko, in seinen Reiseskizzen, 
185-2, ,,unsichere Beförderungsmaschinen“, und fügte hinzu, die 
Einführung der Cabs sei ein geschichtlich wichtiger Moment, einer 
der vielen Todesstöße, die ,,die Kultur des aufgeklärten Zeitalters“ 
den überlieferten gemächlichen Einrichtungen versetze. Neuerdings 
verwendet man das Wort Kabriolett für eine bestimmte Form des 
Kraftwagens (geschlossener Wagen mit nach hinten herabklappbarem 
Verdeck und versenkbaren Seitenfenstem). 

Der Fiaker heißt nach dem heiligen Fiacrius, der nach der Sage 
ein schottischer König oder ein irischer Edelmann war, jedenfalls 
im 7. Jahrhundert nach Frankreich kam, in Breuil bei Meaux im 
Departement Brie ein Fremdenhospiz gründete und einen schönen 
Garten anlegte, aus welchem Grunde er nach seinem 670 erfolgten 
Tode besonders als Patron der Gärtner verehrt wurde. Im 17. Jahr¬ 
hundert gab es in Paris in der rue St. Antoine (nach anderer Auf¬ 
zeichnung in der rue St. Martin) ein Haus, das auf der Stirnseite 
ein Bildnis des heiligen Fiacrius aufwies und daher Hotel St. Fiacre 
hieß. In diesem Hause wohnte zur Zeit Ludwigs XIV. ein gewisser 
Nicolas Sauvage, der im Jahre 165-0 das Privileg erhielt, Miets¬ 
kutschen zu halten. Er ließ sie zuerst vor seinem Hause auf Passagiere 
warten. Gleich nach Beginn seines Unternehmens hatte er mit einer 
sofort entstandenen Konkurrenz einen Prozeß vor dem Parlament 
zu bestehen. Der Prozeß führte dazu, daß man dann streng unter¬ 
schied zwischen voitures de place, auf öffentlichen Plätzen haltenden 
Wagen, und zwischen voitures de remises, Mietwagen, die nur auf 
Bestellung aus dem Schuppen kamen. Die Pariser Bevölkerung nannte 
aber bald alle öffentlichen Mietskutschen nach dem Aufstellungs¬ 
platz des ersten Llnternehmers vor dem Hotel St. Fiacre ,,voitures 
de St. Fiacre“ oder kurz fiacres * 1 . In der Qualität sind die anfangs 

ist ein leichter zweispänniger Wagen. Der Tilbury trägt den Namen eines 
Wagenbauers. Der Stanhope ist ein leichter offener Wagen (nach Rev. Fitzroy 
Stanhope), der Boscet-car ist ein Korbwagen, dieBarouche (aus italienisch 
baroccio) eine vierrädrige, offene Sommerchaise, der Dogcart ein zwei¬ 
rädriger Einspänner, der nicht etwa von einem Hunde gezogen wurde, sondern 
unter dem Sitz einen besonderen Platz für den Jagdhund hatte. 

1) Der heilige Fiacre kommt auch sonst im französischen Wörterbuch vor. 
Faire le saint Fiacre de village (den heiligen Fiacre des Dorfes machen) = den 
Dummen spielen. Verschiedene Krankheiten, gegen die man diesen Heiligen 
anrief (Durchfall, Hämorrhoiden, u. a.) hießen mal de Saint-Fiacre. Nach 


236 





sorgfältig gebauten und ausgestatteten Pariser Mietskutschen dann 
sehr heruntergekommen, und um die Mitte des 18. Jahrhunderts 
werden die fiacres in der berühmten Enzyklopädie von Diderot und 
d’Alembert als ,,schlechte Equipagen 44 bezeichnet. Das Wort fiacre 
erhielt sich lange in Paris, und die ersten Kraftwagen nannte man 
dort fiacres electriques. ln Berlin wurden Mietskutschen, Fiaker, 
zuerst 1739 auf Anregung des Abenteurers Pöllnitz, des späteren 
Oberzeremonienmeisters Friedrichs des Großen, eingeführt. Der 
König hat selbst gelegentlich solche Fiaker benützt. Später wurde 
in Berlin das Wort Fiaker durch das aus den baltischen Gebieten 
eingedrungene slawische Wort Droschke verdrängt. Besser hielt 
sich das Wort im bayrisch-österreichischen Sprachgebiet. Eine 
große Rolle spielte der Fiaker, Wort und Sache, im Wien der 
Vorkriegszeit. ,,Der Fiaker“ bedeutete sowohl die Mietskutsche 
als deren Kutscher, der übrigens meistens auch der Eigentümer war. 
Über die Grenzen Wiens hinaus wurde das ,,Fiakerlied“ bekannt 
(,,... weil i a echter Fiaker bin“). Es gibt auch verschiedene 
Nebenbedeutungen, z. B. ,,Fiaker“ als Bezeichnung für ein Glas zur 
Hälfte mit heißem schwarzen Kaffee und zur anderen Hälfte mit 
„Schlagsahne“ gefüllt. Als Erklärung dafür hört man: weil das ein 
Lieblingsgetränk der Fiaker gewesen sei; oder: schwarz und weiß 
wie der Rappen und der Schimmel des Fiakers (was aber gar nicht 
zum Begriff des Fiakers gehörte, denn z. B. auch im Fiakerlied ist 
von zwei herben Rappen die Rede). Vom zweipferdigen Fiaker 
unterschied man den „Einspänner“. Auch das Wort Einspänner 
hat übertragene Bedeutungen; so bestellt man z. B. in Wiener Gast¬ 
häusern oder Kaffeehäusern einen „Einspänner 44 , wenn man von 
einer Würstchenart, die gewöhnlich paarweise verabreicht wird 
(z. B. ein Paar Frankfurter, Raaber, Krainer usw.), nur ein Stück 
haben will. Eine Zeitlang gebrauchte man in Wien für einen elegan¬ 
ten Mietwagen auch die Bezeichnung Komfortabel (von englisch 
comfortable = bequem, behaglich); im Ungarischen wurde daraus 
vereinfacht: konflis. 

Dulaures Geschichte von Paris heißt übrigens das Fuhrwerk nach einem anderen 
Fiacre, nach einem Barfüßermönch dieses Namens, der in der Kirche Notre- 
dame-des-Victoires begraben liegt. Dieser Mönch sei nach seinem Tode so 
verehrt geworden, daß sein Bild zur Abwehr von Unglück auf alle öffentliche 
Mietskutschen geklebt wurde, daher ihr Name fiacres. Im Pariser Argot der 
80er Jahre bezeichnete man mit fiacre auch das Gesäß, z. B. in der Wendung: 
filer un coup de pied dans le fiacre, einen Fußtritt in den Fiaker geben. 


237 




Man beachte ferner das Stichwort Omnibus, und über die 
Wagenart Batarde den vorletzten Abschnitt bei dem Stichwort 
Bastard. 

LAUNE 

kommt von lateinisch luna = Mond. Im Mittelhochdeutschen be¬ 
deutete lune die Zeit des Mondwechsels. Es ist ein alter Aber¬ 
glauben, daß das Schicksal des Menschen vom Mond abhänge; daher 
nannte man z. B. Mißgeburten, die man dem mißgünstigen Ver¬ 
halten des Mondes zuschrieb, ,,Mondkälber 441 . Von der aus Babylon 
stammenden Einteilung des Mondmonats in vier siebentägige Phasen 
kommt auch die magische Bedeutung der Zahl Sieben. Im Mond¬ 
wechsel 1 2 sah man die Voraussetzung von jähen Glücks- und Stim¬ 
mungsänderungen, und so bedeutete schon im Mittelalter das 
deutsche lune neben dem Mondwechsel auch die Veränderlichkeit 
des Glücks und nahezu auch das schon, was wir heut unter Laune 
verstehen. Mitbestimmend für diese Bedeutungsentwicklung dürfte 
auch gewesen sein, daß der Mond mit seinen wechselnden Phasen 
geeignet erscheint, Sinnbild der Unbeständigkeit zu sein; der Narr 
ist wandelbar wie der Mond, heißt es in den Sprüchen des Jesus 
Sirach. Vielleicht ist bedeutungsgeschichtlich auch die Stimmungs¬ 
labilität während der in mondmonatlichen Abständen auftretenden 
Menstruation heranzuziehen. Im Französischen bedeutet la lune den 
Mond und die Mehrzahl dieses Wortes, les lunes, außerdem auch 
die Gemütsstimmung. (Madame a ses lunes aujourd’hui, seufzt die 
Zofe.) Im Englischen bezeichnet lunatic den Gemüts- oder Geistes¬ 
kranken (nicht etwa nur den Mondsüchtigen). Aus dem Italienischen 
führen wir an lunatico (Synonym von fastidioso) = launisch. 

Die heute kaum noch empfundene sprachliche Beziehung zwischen 
Laune und luna = Mond war noch zur Zeit unserer Klassiker nicht 
ganz verblaßt. Im zweiten Teil des Faust finden wir die figura 
etymologica: ,,die keusche Luna launet grillenhaft . 44 Auch Herder 
spürt noch Fremdwortartiges im Worte Laune. ,,Ich bin ein 
Deutscher 44 , schreibt er, ,,und frage also, was Laune ist, und da 

1) Lucina, der Namen der Geburtsgöttin, hängt wohl auch mit Luna zu¬ 
sammen und mit dem Aberglauben, Mondlicht erleichtere die Geburt. 

2) Der Mond ist überhaupt das Sinnbild des Wandels, des Wankelmuts. 
Comme la lune est variable, pensee de femme est variable, ist ein alter fran¬ 
zösischer Spruch. 


238 



scheint das Wort in unserer Sprache ursprünglich eine böse Be¬ 
deutung zu haben. Launisch 1 ist doch ein Provinzialausdruck unter 
dem Volk, der mehr als unwillig und weniger als zornig und auf 
eine eigensinnige Art unaufgeräumt bedeutet.“ Herder sagt auch 
über das Wort, daß es ,,ganz von gesellschaftlicher Natur und also 
eher im lebendigen Umgänge als in Schriften zu buchen sei“; aber 
schon der Philosoph Kant, Herders älterer Zeitgenosse, gebraucht 
das Wort in wissenschaftlichem Zusammenhänge (,,launenhaft“ ist 
nach ihm ein Mensch mit unberechenbaren, oft jäh wechselnden 
Stimmungen und Einstellungen). Der junge Lessing übersetzt einmal 
aus dem Englischen, aus einem Text des 17. Jahrhunderts, humour 
mit Laune und bemerkt dazu: ,,ich erinnere zugleich, daß ich 
Humor, wo ich das Wort übersetzen will, durch Laune gebe 2 , weil 
ich nicht glaube, daß man ein bequemeres in der ganzen deutschen 
Sprache finden wird.“ Später rückte er von dieser Übersetzung ab. 
Neben humour hat das Englische für Laune im Sinne plötzliche An¬ 
wandlung noch die Wörter caprice (von lateinisch capra = Ziege, 
wegen der Sprünge der Ziege), whim (wahrscheinlich skandinavischer 
Herkunft) und freak. 

Neben dem schriftdeutschen Wort Laune aus lateinisch luna gibt 
es auch sinnverwandte mundartliche Ausdrücke, die sich aus dem 
deutschen Worte Mond selbst ableiten. So finden wir im Schweizeri¬ 
schen das Hauptwort Möni = Laune, Einfall (wenn en d’Möni 
a’chumt) und das Eigenschaftswort mönig = übelgelaunt 3 . 

LÖCKEN, WIDER DEN STACHEL 

Im Neuen Testament (Apost. 9, 5) heißt es einmal, der hartnäckige 
Widerstand des Saulus gegen das Evangelium werde nur ihm selber 
Qual bereiten. Es wird dabei ein Bild angewendet, das in Luthers 

1) Der neuere Sprachgebrauch hat zu einer Differenzierung von launig und 
launisch geführt. Den ersten Begriff färbt die Vorstellung der guten Laune 
(launig daher: froh, scherzend), indes den zweiten die üble Laune charakterisiert 
(launisch daher : wankelmütig, schlechtgelaunt). 

2) Humor für Laune kommt übrigens mundartlich auch im Deutschen vor; 
z. B. „dein schiacher Humor“ (deine schlechte Laune) in Anzengrubers 
, ,Z’widerwurz’n‘ ‘. 

3) Abzulehnen ist die Auffassung von Schröder, daß Lafune, die Bezeichnung 
für den Mond im deutschen, besonders schwäbischen Rotwelsch eine sogenannte 
Streckform von lateinisch-französisch luna, lune ist; die Herkunft dieses Rot¬ 
welschausdruckes von hebräisch lebhana, jüdisch lewone = Mond ist nicht 
anzuzweifeln. 


239 






Übersetzung „wider den Stachel locken“ heißt. Es handelt sich um 
eine im klassischen Altertum geläufige Vorstellung (griechisch: pros 
kentra laktizein, lateinisch: contra stimulum calcitare). Der „Sta¬ 
chel“ ist ein Knüttel, der am dickeren Ende mit einem eisernen 
Spaten versehen war, der dazu diente, die an die Pflugschar sich 
hängende Erde abzukratzen; am dünneren Ende hatte der Stab eine 
scharfe Eisenspitze, die man zum Antreiben des trägen Zugtieres 
benützte 1 . Versuchte nun der mit dem Stab angeeiferte Ochse sich 
zu wehren, auszuschlagen, kam er um so schmerzhafter mit dem 
Stachel in Berührung. Die durch Luther aufgenommene deutsche 
Redensart „wider den Stachel locken“ bedeutet demnach: sich 
erfolglos und schmerzhaft gegen einen Zwang wehren. Richtig faßt 
Burkhard Waldis das Bild auf: ,,Die sich wölln wider Gott auff 
lenen und widern scharpffen Stachel lecken: den bleibt er in der 
fersen stecken.“ Der Dichter Platen hingegen scheint in der Redens¬ 
art das Zeitwort lecken in neuhochdeutschem Sinne vermutet zu 
haben, wenn er in einem Gedichte schreibt: „leckt den Stachel 
unverhohlen, beißt euch ein mit kindscher Rache.“ 

Das Zeitwort locken = mit den Füßen ausschlagen, hat nicht nur 
mit lecken (lateinisch lambere) nichts zu tun, auch nichts mit 
locken = zum Näherkommen verführen. Es handelt sich um ein 
veraltetes Zeitwort: mittelhochdeutsch leichen, locken, gotisch 
laikan = springen, hüpfen, tanzen. Erhalten hat sich dieses sonst 
ausgestorbene Zeitwort nicht nur in der Redensart gegen den Stachel 
locken (also: wie ein Ochs ohnmächtig gegen den Stachelstock 
springen), sondern auch in den Wörtern Wetterleuchten (richtig 
Wetterleich = Wettertanz, springendes Wetter) und frohlocken 
(froh hüpfen, freudig springen). 

LÖFFEL 

kommt von althochdeutsch leffil, lepfil und ist verwandt mit lecken 
(lateinisch lambere und lingere, griechisch leichein, lapein und 
laphussein). Die Grundbedeutung von Löffel ist: Gerät zum Ein¬ 
schlürfen einer Flüssigkeit. Wenn man einen Hund und seine Zunge 
beim Trinken beobachtet, neigt man zur Annahme, daß lecken, 
schlürfen, Löffel und wohl auch Lippe (oberdeutsch Lefze) 

i) In Ungarn, wo man vorwiegend mit Ochsen und nicht mit Pferden 
ackert, hat sich eine Bezeichnung dieses Stachelstockes erhalten: ösztöke; 
daraus wird das Zeitwort ösztökel = aneifern, antreiben, zu etwas bewegen. 


240 





lautmalerische und dadurch zum Teil sogar bewegungsnachbildende 
Wörter sind; Wundt spricht in solchen Fällen von nachahmenden 
Lautgebärden. 

Nicht immittelbar mit Löffel, sondern mit dem verwandten 
Laffe (ursprünglich: junges, unerzogenes, noch leckendes und 
schlürfendes Kind) hängt das veraltete Zeitwort löffeln zusammen. 
Es bedeutete: sich laffenmäßig benehmen, besonders auch Frauen 
gegenüber, flirten, poussieren u. dgl. Gottsched schreibt: ,,von 
Laffen kömmt lälfeln, d. h. sich laffenmäßig bezeigen, besonders 
beim Frauenzimmer, kühn und verliebt tun.“ Auch eine gereimte 
Definition haben wir für löffeln aus dem 18. Jahrhundert: ,,Es ist 
die Löffeley zwar wohl dem Lieben ähnlich — Man küsset, leckt 
und drückt und thut verzweiffelt sehnlich — Jedoch der wahre 
Zweck sieht auf die Ehe nicht — Es ist zum Zeitvertreib und Wollust 
abgericht“ (Picander). Abraham a Santa Clara hat in seiner wort¬ 
witzigen Art eine unmittelbare Beziehung zwischen Löffel und 
löffeln hergestellt: wo man den Löffel allzustark gebraucht, bleibe 
das Löffeln nicht aus; gemeint ist, daß Exzesse im Essen auch zu 
erotischen Ausschweifungen führen. ,,Löffelknecht“ war ungefähr, 
was in einer späteren Zeit ,,Poussierhengst“ hieß. In oberdeutschen 
Mundarten nahm das Zeitwort löffeln auch andere Bedeutungs¬ 
nuancen an. So bedeutet in der Simmentaler Mundart im Berner 
Oberland verlöffeln: durch Laffenartigkeit, Dummheit etwas ver¬ 
absäumen, verlieren. In schwäbischen Mundarten bezeichnet Löffler 
auch herumziehende, unzünftige Spengler und Keßler (Zigeuner) 
oder Hausierer mit Holzlöffeln (Italiener); das Wort wurde auch 
allgemein als Schimpfname für verachtete Gewerbe und für fahrendes 
Volk verwendet. 

Wenn man bedenkt, daß dem Messer auch außerhalb der Mahlzeit 
so viele Aufgaben im menschlichen Leben zukommen, und daß die 
Gabel erst sehr spät in Gebrauch kam, wird man verstehen, daß der 
Löffel das volkstümlichste Eßgerät ist und daher die Eignung hat, 
die Nahrungsaufnahme und das Leben überhaupt in der Sprache zu 
versinnbildlichen. So umschreibt z. B. der Elsässer das Sterben: er 
het de Leffel uf de Sit gelejt, oder de Leffel eweg schmisse. Auch 
der Münchner sagt: hat scho wieder aens d’Leffel weggeworfe. 
Et heft wedder ener den Löpel hengeleggt, sagt man in Ostpreußen, 
wenn man die Sterbeglocke läuten hört. Auch französisch: avaler 
sa cuiller (seinen Löffel schlucken) = sterben. 


24 1 



Ein besonderer Ehrenplatz ist dem Löffel in der Vorstellnngsweit 
des Soldaten eingeräumt. Mit der Gabel ist’s eine Ehr, mit dem 
Löffel kriegt man mehr, sagt ein altes Volkssprichwort. Der Löffel 
ist gleichsam das Universaleßgerät des Soldaten. Schon in den 
Manövern der Friedenszeit war der Löffel dem deutschen Soldaten 
,,ans Herz gewachsen“, und war das Manöver zu Ende, so gab es 
ein symbolisches Fest: das Löffelverbrennen oder Löffel¬ 
vergraben. Im Weltkrieg hatte der deutsche Feldgraue den Löffel 
im Stiefelschaft stecken, bei der k. u. k. Infanterie war er in der 
Regel in den Windungen der Wickelgamaschen festgemacht. Der 
Löffel war zu aller Zeit und in allen Landen ein hochgeschätzter 
Begleiter des Fußsoldaten, und die Soldaten des französischen 
Konvents steckten sich die Löffel sogar in die Kappe neben die 
Kokarde, was ihnen bei den Aristokraten den Spottnamen Löffel- 
garde eintrug. Auch in Leipzig wurde das Spottwort Löffelgarde 
heimisch, als man die 1806 nach der Schlacht von Jena in Sachsen 
einziehenden Franzosen sah, die ihren Eßlöffel meist an den Drei¬ 
master gesteckt hatten. Übrigens trug auch bei den Janitscharen 
jeder Mann den hölzernen Löffel an der Filzkappe. (Die ganze 
Gliederung dieser osmanischen Elitetruppe baute sich auf das Ver- 
pflegssystem auf; der Kommandant einer Oda — etwa Bataillon — 
hieß z. B. Tschorbadschibaschi, oberster Suppenmacher.) 

Eine Bezeichnung Löffelbande, Löffelgesellschaft hat es übrigens 
schon lange vor der französischen Revolution einmal gegeben. Im 
Jahre 1^27 haben 60 savoyische Edelleute zu Borsenay einen Bund 
gegen die Republik Genf geschlossen. Beim Gründungsmahl sollen 
die Ritter geprahlt haben, Genf ebenso leicht aufzulöffeln wie die 
Speisen, an denen sie sich gerade ergötzten. Diese Liga sei daher 
Löffelbande genannt worden und ihre Mitglieder, deren Anzahl 
allmählich auf 2000 gestiegen war, trugen als Abzeichen einen Löffel 
am Hut oder am Halse. (Der Republik Genf hat übrigens die gro߬ 
sprecherische Drohung nicht geschadet, mit Fribourgs und Solo¬ 
thurns Hilfe zerstreute sie die Löffelbande.) 

Beim weidmännischen Ausdruck Löffel für die Ohren des Hasen 
ist die äußere Form die Grundlage der Bedeutungsübertragung. 
Nach auffälligen Ohren haben auch der Löffelhund und die Löffel¬ 
maus (eine Hamsterart) ihre Namen; nach der löffelartigen Schnabel¬ 
form die Löffelente und der Löffelreiher. Auf der Metapher 
Löffel = Ohr beruht vielleicht auch der von Osenbrüggen 1874 


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festgehaltene schweizerische Ausdruck Löffelschleife. Man 
schickte aus der deutschen Schweiz Knaben und Mädchen für einige 
Zeit in die welschen Kantone, damit ihnen ,,die Löffel geschliffen 
werden“, d. h. damit sie sich ,,feine Manieren“ aneignen. 

An die Gleichung Löffel = Ohr könnte man auch bei der Redens¬ 
art über den Löffel halbieren denken, denn in zwei deutschen 
Umschreibungen der Übervorteilung ist ausdrücklich vom Ohr die 
Rede: einen übers Ohr hauen, einem das Fell über die Ohren ziehen. 
Aber ,,über den Löffel halbieren“ hat nichts mit dem Ohr zu tun 
und ist auch nicht etwa bloß eine Ausweitung des Ausdrucks bar¬ 
bieren, einseifen = betrügen. Die Redensart führt in die ländliche 
Barbierstube früherer Zeiten zurück. Kam ein alter zahnloser Mann 
mit runzliger Backe, um sich den Bart abschaben zu lassen, so hatte 
es der Bader nicht leicht, zumal da er doch gleichzeitig Geschichten 
erzählen und zum Fenster hinausspähen mußte. Da steckte er dem 
alten Bäuerlein einen ziemlich großen Holzlöffel in den Mund, daß 
sich die schlaffe Wange wölbe und das Rasieren leichter sei. Sehr 
fein und ein Zeichen besonderer Sorgfalt und Schätzung war es also 
nicht, jemand über den Löffel zu barbieren. So bekam die Redensart 
zunächst den Sinn: jemand ohne viel Umstände, ohne besondere 
Rücksicht behandeln. Daraus dann verschärft: übervorteilen, be¬ 
trügen. Die ursprüngliche, d. h. wörtliche Auffassung des Löffels 
in dieser Redensart zeigt u. a. eine Stelle in Eichendorffs Novelle 
,,Aus dem Leben eines Taugenichts“: ,,Hab ich euch nicht gestern 
übern Kochlöffel barbiert und in die Nase geschnitten, daß ihr mir 
den Löffel morsch entzwei gebissen habt?“ Im Schwäbischen be¬ 
kommt die Redensart ,,über den Löffel barbieren“ oft auch den 
Zusatz: ,,und dazu ins Gesicht spucken“. Auch sagt man dort statt 
,,über den Löffel“ gelegentlich auch ,,über den Daumen hal¬ 
bieren“. 

Im Südwesten Deutschlands gibt es auch die Redensart friere 
wie e Löffelkörbl, d. h. (mit den Zähnen) klappern wie die 
Löffel in einem Körbchen. 

LOYAL, LEGAL 

Loyal ist dem Französischen entnommen und kommt von loi = Ge¬ 
setz, das wieder aus lateinisch lex stammt. Loyal bedeutet also 
wörtlich ,,gesetzlich“, also genau dasselbe wie das unmittelbar dem 
Lateinischen entnommene legal. Der deutsche Sprachgebrauch 


2 43 



1 


räumt aber dem Worte loyal einen besonderen, engeren Sinn ein; 
oft wird es als Synonym von ,,kulant“ oder „fair“ gebraucht. Loyal 
ist man z. B., wenn man in einem Prozeß gutmütig genug ist, einen 
Irrtum des Gegners nicht auszunützen. Loyal dem Monarchen gegen¬ 
über kann auch ein republikanischer Politiker sein. Überhaupt ist 
Untertanentreue, früher auch Wohlgesinntheit genannt, häufig der 
Hauptinhalt des Wortes loyal. Im Französischen 1 aber kann loyal \ 

neben diesem besonderen Sinn auch allgemein all das bedeuten, was 
wir mit den Eigenschaftswörtern „legal“, „gesetzlich“ aus- 
drücken. Im Deutschen kann man also — scheinbar ganz wider¬ 
spruchsvoll — sagen: der Gerichtsvollzieher benahm sich so loyal, 
daß man sein Benehmen nicht mehr als legal bezeichnen kann. 

Oder: der Kammerherr scheute im Interesse seines Monarchen vor 
dem illegalen Schritt nicht zurück; nichts ging ihm über die Loyali¬ 
tät. Oder: die Opposition wendet im Kampf gegen die Regierung 
reichlich auch nichtloyale Mittel an, überschreitet dabei aber nie¬ 
mals die Grenzen der Legalität. (Aus der Illoyalität kann die Re¬ 
gierung der Opposition nur einen Vorwurf machen, gegen Illegalität 
stehen ihr gesetzliche Maßnahmen zur Verfügung.) Man könnte das 
Verhältnis loyal—legal mit dem zwischen dem „Billigen“ und dem 
„Gerechten“ vergleichen: die Billigkeit ist, nach Kants Ausspruch, 
ein „Recht ohne Zwang“. 

Solcher Fälle, wo y 

das Fremdwort in zwei Formen 
vorkommt und je nachdem, zu welchem Zeitpunkt oder über 
welchen Umweg es Eingang ins Deutsche gefunden hat, von ver¬ 
schiedener Bedeutung ist, gibt es viele. Einige Beispiele: 

Ähnlich wie im Falle legal —loyal liegt es bei real und reell. 

Real unmittelbar aus dem Lateinischen bedeutet im Deutschen 
wirklich, wirklichkeitsentsprechend, sachbezüglich, indessen das 
über den französischen Umweg ins Deutsche eingedrungene reell 
ehrlich, anständig bedeutet. Auch hier kennt das Französische diesen 
Unterschied nicht, hat es doch nur das eine Eigenschaftswort reel. 

Aus lateinisch bilanx (Zweiwaagschaliges) kommt durch Ver¬ 
mittlung des Italienischen Bilanz (im Deutschen schon 1662, in 

1) Französisch 14 gal stand lange unbeeinflußt neben loyal (bieder) und scheint 
den Einfluß dieses Scheidewortes erst erfahren zu haben, als die normannische 
Aussprache 16 al neben loyal hoffähig wurde und so eine größere Klangähnlich¬ 
keit mit legal gegeben war (H. Hatzfeld). 

244 


■ 




Sprengs Wechselpraktik, gebraucht für ,,Zusammenfügung aller 
Partiten so wol in credito als in debito“), als auch über das Fran¬ 
zösische balance = Gleichgewicht. (Balance wird nicht nur wört¬ 
lich, d. h. im körperlichen Sinne gebraucht, denn schon für 1701 
ist ,,balance of power“ als ein Grundsatz der britischen Politik 
belegt, und 1702 ist schon von einer ,,Balance von Europa die 
Rede, dem Vorbild des später viel verwendeten Schlagwortes vom 
europäischen Gleichgewicht. Zu Goethes Zeiten allerdings und von 
Goethe selbst wird Balance hauptsächlich mit Bezug auf Seiltänzer, 
Akrobaten und Jongleure gebraucht.) 

Von lateinisch brevis (kurz) kommt in germanischer Form (über 
althochdeutsch briaf) der Brief und unter Beibehaltung der lateini¬ 
schen Form das Breve, kurzes päpstliches Schreiben. (Zu unter¬ 
scheiden ist von Breve das Wort Brevier = das die täglichen Pflicht¬ 
gebete des katholischen Geistlichen enthaltende Gebetbuch, von 
breviarium == Auszug, kurzes Verzeichnis.) 

Von lateinisch pluma (Flaumfeder) kommt sowohl unser Wort 
Flaum (über althochdeutsch pfluma), als über französischen Um¬ 
weg unser Fremdwort Plumeau = mit Federn gefüllte Decke (im 
Französischen selbst hat sich die Bedeutung dieses Wortes ver¬ 
schoben zu: Federbesen, Flederwisch). 

Von lateinisch circulus (Verkleinerungsform von circus) kommt 
unser Lehnwort Zirkel, aber über französischen Umweg auch unser 
Fremdwort Cercle. 

Von lateinisch laqueus (Strick als Schlinge aus lacio = ich locke) 
kommt sowohl unser Latz = geschnürter Kleidungsteil, wie Brust¬ 
latz, Hosenlatz (über italienisch laccio, altfranzösisch laz = Schnür- 
band), als auch das internationale Wort Lasso = Fangschlinge (über 
spanisch lazo). 

Von lateinisch Status (Stand) kommt altfranzösisch estat, neu- 
französisch etat, und dieses französische Wort wird zweimal ins 
Deutsche entlehnt. Einmal im 17. Jahrhundert, zu Staat ver¬ 
deutscht, und das zweitemal im 18. Jahrhundert mit Beibehaltung 
der französischen Form Etat, diesmal aber mit Bedeutungsein¬ 
schränkung auf den Haushaltsplan eines Staates oder einer anderen 
Gemeinschaft. Daileben sogar gebräuchlich als dritte Form das 
originallateinische Status im Sinne von Zustand (in Österreich z, B. 
üblich: der Status, d. h. die geschäftliche Lage, die Bilanz eines 
Unternehmens). 


24 £ 


$ 





In drei Formen und mit drei Bedeutungen lebt heute das grie¬ 
chische Wort apotheke im Deutschen fort: Apotheke = Medika- 
mentenladen, Butike = kleiner Laden, Schenke, elende Hütte 
(über französisch boutique, Laden) und Bodega = spanische Wein¬ 
stube. 

Weitere Beispiele für Doppelformen (oder sogar dreifache) mit 
verschiedener Bedeutung aus einer fremden Wurzel: Partei und 
Partie, Major, Maire und Meier, Hospital, Spittel und Hotel, 
Keller und Zelle, Kumpan und Kompagnon, Slawe und Sklave, 
Kompott (aus Obst) und Kompost (Dünger), Kerker und Karzer, 
Falter und Pavillon (s. das Stichwort Schmetterling), Linie und 
Leine, Pfalz und Palast, Trumpf und Triumph, Teint, Tinte und 
Tinktur, Metall und Medaille, Predigt und Prädikat, Teppich und 
Tapete, Kolonne und Kolumne, Tulpe (noch bei Lessing Tulban, 
bei Goethe Tulbend) und Turban, Halm und Schalmei, Sopran und 
Souverän, Küste und Kotelett, Libelle und Niveau (über diese 
„Dissimilation“ s. das Stichwort Hoffart), Ziegel und Tiegel 
(lateinisch tegula), Alarm und Lärm (aus italienisch alParme, zu 
den Waffen), Dichter und Diktator (von lateinisch dictare = her- 
sagen), Segen und Signal (von signum = Zeichen), Opfer und Oper 
(oder Opfer und Offert?), proben und prüfen, Pulver und Puder, 
Parabel und Parole, Quadrat und Karree, Pacht und Pakt, Möbel 
und mobil, attachieren und attackieren, Sirup und Sorbett (von 
arabisch scharbat = Getränk, das Englische weist neben syrup und 
sorbet noch eine dritte Form auf: shrub = Fruchtsaft), Ziffer, Chiffre 
und Zero (von arabisch sifr = leer), Zither und Gitarre von (grie¬ 
chisch kithara) usw. Man vgl. auch die Stichworte Strolch (Astrolog), 
Kretin (Christ) und Husar (Korsar) und die beim Stichwort „authen¬ 
tisch, Effendi“ angeführten Beispiele. 

Die Erscheinung der zweimal in die Sprache aufgenommenen 
fremden Wurzel mit zwei Formen und zwei Bedeutungen kennen 
auch andere Sprachen. So wird z. B. im Französischen aus 
lateinisch causa = Grund, Sache im Französischen sowohl cause 
— Ursache, Angelegenheit, Prozeß, als auch chose = Sache, Gegen¬ 
stand, Begebenheit; aus cathedra: chaire = Lehnstuhl, Kanzel und 
chaise: Sessel; aus lateinisch nativus: natif (eingeboren) und nai’f; 
aus lateinisch major: majeur (höher, beträchtlich, mündig) und 
maire (Bürgermeister); aus lateinisch digitus: doigt (Finger) und 
d6 (Fingerhut). 


246 



Besonders reich ist das Englische an solchen Doppelformen. 
Wir geben einige Beispiele. Aus griechisch zelos: jealous, eifer¬ 
süchtig, und zealous, eifrig; aus lateinisch dignitas: dainty, Lecker¬ 
bissen, und dignity, Würde; aus griechisch kophinos: coffin, Sarg, und 
coffer, Koffer; plane mittelbar aus dem Lateinischen bedeutet flach, 
eben, dieselbe Wurzel, über den französischen Umweg ins Englische 
gelangend, erzeugt das Wort plain = klar, deutlich; auch die von 
uns eingangs behandelte deutsche Bedeutungsabweichung von loyal 
und legal findet sich mit derselben Unterscheidung im Englischen 
wieder, wobei aber im Englischen noch ein dritter Abkömmling 
der lateinischen Wurzel bekannt ist, das auf einem normannischen 
Umweg entstandene und hauptsächlich in Schottland als poetischer 
Ausdruck weiterlebende Eigenschaftswort leal = treu, selig. 

Aus dem Ungarischen führen wir zwei Beispiele an: aus 
griechisch eleemosyne (altslawisch almuzino) alamizsna = Almosen 
und elemözsia = VerpflegsVorrat; aus türkisch kylavus: kalauz 
= Führer, Schaffner, und kalöz = Seeräuber. 

MANDARIN, MANDARINE 

Das Wort Mandarin, mit dem viele europäische Sprachen einen 
hohen chinesischen Beamten bezeichnen, ist gar nicht chinesisch. 
Es liegt ihm das Sanskritwort mantrin = Ratgeber, Minister zu¬ 
grunde, das wohl auch im byzantinisch-griechischen und russischen 
Archimandrit (Oberabt) enthalten ist. Die portugiesischen See¬ 
fahrer hörten das Wort in Indien, formten es — an ihr mandar = be¬ 
fehlen denkend — zu mandarin um und wendeten es auf ihren 
Handelsfahrten auf chinesische Verhältnisse an. Aus dem Portugiesi¬ 
schen dringt das Wort in andere europäische Sprachen; ins Deutsche 
gelangt Mandarin 1630. Die Chinesen selbst gebrauchen das Wort 
Mandarin nicht, der Beamte heißt bei ihnen kuan (wen-kuan der 
Zivil-, wu-kuan der Militärbeamte). 

Der Namen der Apfelsinenart Mandarine (citrus nobilis) hat mit 
Mandarin == chinesischer Beamter nichts zu tun, obschon man es 
vermuten könnte angesichts des Umstandes, daß die Apfelsine nicht 
nur sprachlich ein China-Apfel (Apfel de Chine) ist, sondern von 
den Portugiesen um 1500 herum tatsächlich aus Südchina nach Europa 
gebracht wurde. Die Mandarinen, die man erst im 19. Jahrhundert 
kennenlemte, gedeihen am besten auf Mauritius, und diese Insel heißt 
bei ihren Eingeborenen Mandara. Daraus wurde als Name der 


247 



Frucht italienisch mandarino, englisch mandarin, holländisch man- 
darijn. 

In der Textilsprache Österreichs heißt jenes Gewebe, das sonst 
in der Textilindustrie Eskimo oder Moskawa genannt wird (ein 
besonders für Mäntel verwendetes Streichgarndoppelgewebe von 
bestimmter Bindung), Mandarine. Warum? 

MAROD 

In vielen Fällen, wo Franzosen malade, 6clope, fatigue, harasse, 
indispose, die Engländer ill, unwell, tired sagen und nicht daran 
denken, das beiden Sprachen gemeinsame Wort maraud heranzu¬ 
ziehen, gebrauchen wir im Deutschen marod: im Sinne von leicht 
krank, unwohl, erschöpft. Da bin ich armes Schindluderchen wieder 
marode, schrieb einmal Heinrich Heine. Und eine schwäbische Volks¬ 
strophe lautet: Mei Schatz is marode, wohl obe am Knui — i will 
ihn kuriere von elfe bis drui. Mit sonderbar abweichender Bedeu¬ 
tung finden wir das Wort marod in einer Skizze von Tartaruga, diesem 
vorzüglichen und einzigartigen Kenner der heutigen Wiener Volks¬ 
sprache : sie hat si gar net marad gemacht=sie hat nicht spröde getan. 

In der österreichisch-ungarischen Armee war das Wort besonders 
geläufig. Täglich führte man die Soldaten, die sich krank meldeten, 
zur „Marodenvisite*‘, nicht ohne sie vorher in das „Marodenbuch“ 
eingetragen zu haben, manche von ihnen behielt der Arzt im 
„Marodenzimmer“, man meldete täglich die Zahl der „Maroden“ 
(d. h. der dienstunfähigen, aber im Stand der Truppe verbliebenen 
Soldaten) usw. Im Siebenjährigen Krieg hießen die österreichischen 
Feldspitäler „Marodenhäuser“. Bei diesen amtlichen Bezeichnungen 
haftete an dem Ausdruck marod nichts Verächtliches. Im 16. und 
17. Jahrhundert war marodieren in der Hauptsache ein militäri¬ 
scher Begriff. Die Schlappmacher bezeichnete man als Marodeure. 
Man verstand aber darunter nicht nur Soldaten, die wegen Krank¬ 
heit oder Entkräftung von ihrer Truppe zurückblieben, sondern auch 
Reiter, die ihr Pferd verloren hatten und ihrer Truppe nicht folgen 
konnten, und schließlich auch die Soldaten, die Entkräftung oder 
Verletzung vortäuschten, um als Nachzügler plündern zu können. 
Die Marodeure hießen übrigens früher auch Ausläufer, Säusenger 
(die die Säue sengen?), Immenschneider (d. h. Bienenkorbplünderer) 
und es hieß von ihnen, sie führten das blaue Fähnlein; Kirchhof 
schreibt 1602: „welche aber sich heimlich von dem rechten Zug 


248 



zur Seiten ausdrehen und (vor Zeiten hieß es das blaue Fähnlein 
geführt) ihrem Mausen nachhängen.*‘ Unter den Begriff des Maro¬ 
deurs fielen nicht nur plündernde Nachzügler, sondern auch Einzel¬ 
gänger, die sich als Verwundete ausgaben und bettelten (rufflers 
hießen solche Bettler im 16. Jahrhundert in England). 

Da man von Marodieren hauptsächlich in bezug auf freiwillig oder 
unfreiwillig abgesprengte, disziplinlose Soldaten sprach, war es 
naheliegend, auch die etymologische Aufklärung des Wortes inner¬ 
halb der militärischen Sphäre zu versuchen. Einige Spuren führen 
zum Dreißigjährigen Krieg. Grimmelshausen schildert im Simplizis- 
simus die Soldaten des kaiserlichen Regimentskommandanten Graf 
von Merode als des Marschierens unfähig: ,,und so man eine oder 
mehr Kranke und Lahme auf dem Markt, in den Häusern und hinter 
den Zäunen und Hecken antraff und fragte: Wes Regiments, so war 
gemeiniglich die Antwort: von Merode. 4 ‘ Daher käme das ver¬ 
allgemeinerte Spottwort Merodebruder. Arthur Bechtold weist 
aber darauf hin, daß es im Dreißigjährigen Krieg auch einen 
schwedischen Obersten Werner Graf von Merode gab und be¬ 
zieht das Schimpfwort Merodebrüder auf dessen wallonische Mann¬ 
schaft. Im Jahre 163^ hatte das merodische Regiment des schwedi¬ 
schen Obersten einen Aufstand gemacht, und diese , ,merodischen 
Meutinierer* ‘ wnrden für vogelfrei erklärt und waren daher als 
Desperados allseits sehr gefürchtet. 

Die Entstehung des Ausdrucks Merodebrüder mag so richtig er¬ 
klärt sein, aber das Marodieren heißt weder nach dem kaiserlichen 
noch nach dem schwedischen Grafen Merode so, schon einfach aus 
dem Grunde, weil das Wort lange vor dem Dreißigjährigen Krieg 
schon bestand 1 . 

1) Daß gerade die Soldaten eines Obersten Merode viel marodierten, ist 
ein Zusammentreffen, für das ich eine Analogie aus dem Weltkriege kenne. 
Die k. u. k. Soldaten eigneten sich an der Ostfront den Ausdruck sabralieren 
für stehlen, plündern an; die polnischen Bäuerinnen antworteten nämlich auf 
die Frage nach Lebensmitteln stets: niema nie, Moskale wszystko zabrali, wir 
haben nichts, alles hat der Russe weggenommen (,,Der Schwed ist kommen, 
hat alles mitgenommen“, sang man im Dreißigjährigen Krieg). Als im Herbst 
1916 Südostsiebenbürgen von den Mittelmächten zurückerobert wurde, rich¬ 
teten nach einiger Zeit ungarische Dorfgemeinden des Szeklerlandes Beschwerde 
an das 1. Armeekommando, die Husaren eines bestimmten Regiments hätten 
zu wenig Respekt vor dem Privateigentum der Zivilbevölkerung, ihrer Land¬ 
leute, bekundet. Die schriftliche Rechtfertigung, die das Armeekommando 
von jenem Husarenregiment einholte, unterschrieb dessen Kommandant, 


249 



Es besteht heute gar kein Zweifel darüber, daß marod, marodieren 
französischen Ursprungs ist. Maraud, marault taucht zuerst im 
i Jahrhundert in einem dem großen Dichtervagabunden Francois 
Villon zugeschriebenen Texte im Sinne Bettler, Lump, Vagabund 
auf. Vielleicht ist das Hauptwort maraude == Vagabondage für die 
Bezeichnung des Verhaltens selbst (en maraude sein) der ältere Aus¬ 
druck und die Personenbezeichnung maraud erst daraus entwickelt. 
Jedenfalls ist im 16. Jahrhundert die Wortsippe bereits mit vielen 
Ableitungen vertreten: marauder = plündern, marodeur = Plün¬ 
derer, maraudaille = Gesindel usw. Auch heute noch bedeutet 
maraud im Französischen und Englischen (in welchen Sprachen, 
wie einleitend gesagt, die harmlose, nicht verächtliche Anwendung 
für leicht krank nicht vorkommt) einen Plünderer oder einen 
Lumpen, einen Taugenichts. Im Pariser Argot bedeutet maraud auch 
einen eingebildeten Kerl, faire le maraud = sich wichtig machen. 
Um die Jahrhundertwende hatte maraud in der französischen Ver¬ 
brechersprache auch die Bedeutung: intelligent. Marauder heißt 
auch das Langsamfahren der Lohnkutscher oder jetzt der Taxi¬ 
chauffeure, die, statt sich auf dem Standplatz einzureihen, auf diese 
Weise Fahrgäste finden (,,angeln“) wollen. Früher sagte man in 
Frankreich marauder vom Postkutscher, der unterwegs, ohne Wissen 
des Postmeisters, Fahrgäste aufnahm, ohne dann über das Fahrgeld 
abzurechnen. 

Mit der Ablehnung der Deutung Marod—Merodebrüder und das 
Zurückführen unseres Wortes marod auf das in der französischen 
Volkssprache des i £. Jahrhunderts zuerst auftauchende marault ist die 
etymologische Frage nicht gelöst, sondern nur in die Romanistik 

Oberst von — Zäbräczky. Wie leicht könnte es nun geschehen, daß im 23. Jahr¬ 
hundert ein Erforscher der Soldatensprache im Weltkriege den feldgrauen 
Ausdruck sabralieren, aus Unkenntnis des Polnischen, mit dem Namen jenes 
Husarenobersten erklären wird, so wie man den Ausdruck marod zehn Menschen¬ 
alter nach dem Dreißigjährigen Krieg fälschlich an einen Grafen Merode 
knüpft. 

In diesem Zusammenhang sei noch eine volksetymologische Umgestaltung 
von marode durch ungarische Soldaten mitgeteilt. Marode hieß ungarisch (als 
Haupt- und Eigenschaftswort) marödi. Wegen des Anklangs an das Zeitwort 
marad = bleiben sagte man in manchen ungarischen Regimentern deutscher 
Kommandosprache statt marödi auch maradi, etwa: Bleiber, Zurückbleiber, 
Rückständiger; statt marodibunk (= Marodebuch, nicht -Übung) sagte man 
maradibunk oder maradikönyv (das Buch mit den Namen jener, die nicht zur 
Übung ausrücken müssen, sondern in der Kaserne bleiben dürfen). 







verschoben. Und dort hat die Deutung des Wortes maraud viel 
Kopfzerbrechen verursacht. Wieder einmal enthüllt sich das Elend 
der älteren Etymologie. Die wichtigsten Herkunftserklärungen für 
maraud seien hier angeführt. Wir können unter ihnen zunächst eine 
semitische und eine lateinische Gruppe unterscheiden. In die erste 
gehört A) die Ableitung von Menage und Rönsch aus hebräisch 
marud = Bettler, obdachlos Herumirrender, B) die von portugiesi¬ 
schen Autoren vertretene Ableitung aus arabisch maruda = unver¬ 
schämt (daraus portugiesisch maroto und spanisch malroto, lieder¬ 
licher, zerlumpter Herumtreiber, und C) die von Mahn aus arabisch 
maraba, maridun = Rebell. Mahn ist auch in der zweiten Gruppe, 
in jener der Etymologien aus dem Lateinischen vertreten, denn 
später sah er D) in maraud das lateinische morator = Zögerer, näm¬ 
lich zögernder, d. h. zurückbleibender Soldat, was uns an die (in 
der Fußnote mitgeteilten) ungarische volksetymologische Ver¬ 
knüpfung mit marad = bleiben erinnert. E) Wesentlich ernster zu 
nehmen ist der Versuch Meyer-Lübkes, maraud in Verbindung zu 
bringen mit malade = krank (malade selbst kommt aus vulgär¬ 
lateinisch male habitus). F) Brügge und Körting deuten maraud aus 
lateinisch malaldus, Nebenform von malus = schlecht. G) Diez 
wollte maraud von male ruptus oder von marrir = betrüben, sich 
verirren ableiten. Mit einigen weiteren maraud-Etymologien (u. a. 
wurde sogar der Frauennamen Marie herangezogen) wollen wir uns 
nicht aufhalten. 

Es ist Saineans Verdienst, auf die Volkssprache hingewiesen zu 
haben, als auf die eigentliche Quelle so vieler Wortbildungen, mit 
deren Deutung aus papieren konstruierten lexikalischen Zusammen¬ 
hängen die Wissenschaft sich oft krampfhaft abmüht 1 . Auch das 
Wort maraud entpuppte sich im Saineanschen Verfahren als ein 
schlichtes Volkswort, um dessen willen man weder Araber noch 
Römer aus versunkenen Jahrhunderten heraufbeschwören muß. 
Maraud ist ein mittelfranzösischer Volksausdruck für Katze, und 

i) Der oft zu selbstgefällige Ton und das nicht seltene Überszielhinaus- 
schießen in Saineans ,,Sources indigenes“ darf nicht zur Verkennung seiner 
großen Leistung führen. Zünftige Romanisten haben im allgemeinen — von 
den Ausnahmen sei Spitzer genannt — Saineans Arbeiten ziemlich unfreund¬ 
lich aufgenommen: mit eisiger Kühle oder mit scharfem Spott. Gamillscheg 
spricht sogar von einem „wissenschaftlichen Bolschewismus“, einer „be¬ 
dauerlichen, in ihrer Auswirkung hoffentlich noch einzudämmenden Verirrung 
der heutigen sprachwissenschaftlichen Forschung“. 






zwar offenbar darum, weil das Weibchen, um zur gegebenen Zeit 
den Kater auf sich aufmerksam zu machen, Töne von sich gibt, die 
nach französischer Auffassung mit mrou-mrou wiedergegeben werden. 
Marauder heißt also das Schreien und im weiteren Sinne auch das 
Herumtollen der Katzen bei Nacht, insbesondere ihr Herumbalgen 
beim Liebesspiel. Übertragen sagt man aller en maraude auch vom 
Kater, der nachts im Garten herumstreift oder auf dem Felde nach 
Hasen und Kaninchen jagt und dabei die Kulturen verwüstet. Von 
hier ist der Übergang zur Bedeutung Herumstrolchen und Plündern 
schon ohne weiteres verständlich. 

Übrigens weist auch die deutsche Sprache einen bedeutungs¬ 
geschichtlichen Zusammenhang zwischen der Bezeichnung eines 
Lautes der Katzen und einer Bezeichnung des Betteins auf. Das seit 
dem 18. Jahrhundert als Gaunerausdruck verwendete Zeitwort 
schnurren = bettelnd herumziehen (nämlich mit Schnurrpfeifen), 
seither unter jüdischem Lauteinfluß besonders in der Nebenform 
schnorren bekannt, ist wortgeschichtlich identisch mit der Be¬ 
zeichnung des Katzenschnurrens. 

MAYONNAISE, MAJOLIKA 

Im Jahre 17^6 setzte sich Marschall Louis Fran<pois Armand du 
Plessis, Herzog von Richelieu, der Großneffe des berühmten 
Kardinals, nachdem er einen großen Sieg über ein englisches Ge¬ 
schwader erfochten hatte, in den Besitz der befestigten Stadt 
Mahon auf der Baleareninsel Menorca, welche Stadt etwa zwei¬ 
tausend Jahre vorher — wie auch aus ihrem Namen ersichtlich — 
vom Punier Mago, Hannibals jüngstem Bruder, gegründet worden 
war. In Paris gab es große Feste zur Eroberung von Mahon. Die 
Pompadour schmückte den Degen des heimgekehrten Admirals mit 
einer seidenen Schleife, und dieser noeud ä la Mahon blieb eine 
Zeitlang Mode in Paris. Die Sauce (aus Eidotter, Öl, Zitronensaft 
oder Essig usw.), mit der sich damals ein Pariser Koch bei dem 
großen Siegesmahl hervortat, bekam den Namen Mahonaise, woraus 
später, zur Vermeidung des unfranzösischen h-Lautes, Mayonnaise 
wurde. Allerdings soll schon der römische Kaiser Heliogabalus diese 
Tunke zum Hummer erfunden haben, und man kann ein gewisses 
sprachgeschichtliches Unrecht darin erblicken, daß diese römische 
Erfindung nun mittelbar nach dem Namen eines Erzfeindes, eines 
Karthagers, benannt ist. 


25 2 



Auch die andere der Balearen, die Insel Mallorca, hat der Kultur¬ 
welt ein Wort geliefert. Von Mallorca, auch Majorka genannt, 
gelangten im i£. Jahrhundert nach alter maurischer Technik an¬ 
gefertigte glacierte Tongefäße unter dem Namen Majolika nach 
Italien, von wo aus Sache und Wort sich bald in Europa verbreiteten. 
(In Italien war die Stadt Faenza bei Ravenna — in Schillers Teil 
Favenz genannt — die bedeutendste Stätte dieser Tonwarenkunst, 
daher heißt das Majolika auch Fayence.) 

MAZAGRAN 

ist ein erfrischendes Getränk, das man im Sommer in unseren 
Kaffeehäusern bestellen kann. In ein hohes Glas, das zur Hälfte mit 
Eisstücken gefüllt ist, wird heißer Kaffee gegossen, der dann — zum 
Staunen physikalischer Laien — im selben Augenblick ganz kalt wird. 
Mazagran ist also bei uns kalter, gewässerter schwarzer Kaffee. 
Mancherorts wird übrigens auch ein wenig Likör beigemengt. Der 
Name geht auf den des Dorfes Mazagran in Algier zurück. Im Jahre 
1840 verteidigten 123 Franzosen mehrere Wochen hindurch ein 
Blockhaus bei Mazagran gegen eine große Übermacht von Arabern. 
Der Name Mazagran war damals in Frankreich in aller Leute Mund, 
und kurz nach dem Entsatz des Blockhauses tauchte in Paris die 
Bezeichnung Mazagran auf für schwarzen Kaffee, der in einem großen 
Glase aufgetragen wird. Nachher verursachte es den Wortforschem 
viel Kopfzerbrechen, festzustellen, warum gerade Kaffee nach dem 
algerischen Fort benannt wurde. Der holländische Romanist Timmer- 
mans klügelt: ,,Die Araber erhielten einen Stoß, der sie an ihren 
Brauch erinnert, die Kaffeekörner in einem Mörser zu zerstoßen.“ 
Aber es handelt sich doch nicht darum, woran die Araber erinnert 
wurden, sie sind es doch nicht, die ein Getränk Mazagran tauften, 
sondern die Franzosen. Die Entstehung der Bezeichnung ist anders 
zu erklären. In den Berichten über die Entbehrungen der Besatzung 
hieß es auch, sie hätte zuletzt fast gar keine anderen Nahrungsmittel 
als Kaffee gehabt, und dieser sei ohne Milchzusatz aus großen Wasser¬ 
gefäßen getrunken worden. Unter dem Eindruck dieser Schilderun¬ 
gen nannte man dann in Paris den im großen Glase servierten 
schwarzen Kaffee — zur Unterscheidung von dem milchhaltigen in 
der Tasse einen Mazagran. Wird dem Mazagran auch etwas Schnaps 
beigemengt, so heißt er in Frankreich ,,gloria“ (u. a. bei Balzac 
belegt). 


2£3 




MIEKRIG 

Miekrig = kränklich, schwächlich ist angesichts der günstigen 
Resonanz, deren sich der berlinische Wortschatz erfreut, im 
Begriff, auch außerhalb der Reichshauptstadt vielerorts in die 
Umgangssprache des Volkes Aufnahme zu finden. Die Etymologie 
im ,,Richtigen Berliner“ von Meyer-Mauermann, miekrig komme 
von griechisch mikros = klein, muß vorerst mit einem Fragezeichen 
versehen werden. In einem Gedichte aus Otto Brauns, des ,,Früh¬ 
vollendeten“, Nachlasse ist allerdings — über die Zeit vor Kriegs¬ 
ausbruch — zu lesen: ,,Das große, milde, kühne Wetter, das von 
Miekrigkeit uns löst, das von Kleinheit uns befreit, war noch nicht. 4 4 
Miekrig erscheint hier also gleichsam als Synonym von klein, und 
das scheint die Etymologie von mikros zu stützen. Wenn man aber 
Kinderstube und Bildungsgang des jungen Otto Braun kennt, der 
jedenfalls mit dem griechischen Wörterbuch mindestens so viel 
Berührung hatte als mit dem Berliner Slang, wird man das Zeugnis 
jener Verszeilen für die griechische Etymologie nicht hoch ein¬ 
schätzen. Übrigens kenne ich noch einen anderen Beleg, der für 
die Deutung von miekrig aus mikros zu sprechen scheint. Im 
Berner ,,Mattenenglisch 44 , diesem sonderbaren Sprachgewächs, in 
dem sich die alemannische Mundart eines Berner Stadtteiles mit 
Verbrecherslang und Schülerscherzsprache kreuzt, bedeutet mig- 
gerig: klein. 

Wenn man schon bei der Deutung des berlinischen miekrig das 
Griechische in seine Kombinationen einbezieht, könnte man 
übrigens auch in Versuchung geraten, einen Zusammenhang mit 
Migräne zu suchen. Migräne kommt von griechisch hemikrania 
= ,,den halben Schädel betreffendes 44 (Schmerzgefühl). Aber weit 
und breit keine richtige Bestätigung für eine derartige Annahme! 

MUSSELIN, MUSSOLINI 

Der Musselin (deutsch auch Nesseltuch genannt) ist nach der Stadt 
Mosul am Tigris benannt, wo er angeblich zuerst erzeugt wurde. 
Die Italiener nannten zuerst dieses Gewebe mussolino oder mussolo, 
dann gelangte der Name ins Französische, und anfangs des 18. Jahr¬ 
hunderts übernimmt Deutschland das französische musseline. 

Der Familiennamen Mussolini bedeutet offenbar Musselinweber, 
doch reklamieren einzelne deutsche Familiennamenforscher den 


2 £4 







Namen des italienischen Staatsmannes für die deutsche Sprache. 
So wurde behauptet, der Name Mussolini sei eine Italienisierung 
von Mäuslein, und sein heutiger Träger stamme — wie im Deutschen 
Herold 1927 auseinandergesetzt wird — aus dem nassauischen Ritter¬ 
geschlecht Muselin (Mäuslein). Der Duce wäre demnach auch der 
Namens verwandte von David Müslin, einem berühmten Berner 
Prediger im 18. Jahrhundert, und von zwei deutschen Vorkämpfern 
der Reformation im 16. Jahrhundert, die ihren Namen nach dem 
Geschmack der Zeit latinisiert hatten, von dem aus Sachsen stam¬ 
menden Andreas Musculus und dem Lothringer Wolfgang Musculus. 
Von lateinisch musculus = Mäuschen stammen auch die deutschen 
Wörter Muskel und Muschel, so daß diese — falls die Ableitung des 
italienischen Namens vom deutschen Mäuslein zu Recht besteht — 
gleichsam die Übersetzung von Mussolini darstellen. 

Nach einer anderen deutschen Hypothese soll die Familie Mussolini 
aus Tirol, aus dem Orte San Pietro Mussolino im Lämmertal stammen, 
der einst deutsch Sankt Peter in Mösele hieß. 

NAIV 

Ferdinand Avenarius, der in seinem Kunstwart oft die Fremdwörter 
befehdete, schlug einmal für naiv gefühlsjung, für blasiert ge¬ 
fühlsgreis vor. Wären diese Vorschläge durchgedrungen, so be¬ 
stünde jetzt neben der derben Abschleifung beider besonderen Be¬ 
deutungen auch eine ständige Verlockung zum Irrtum, Naivität und 
Blasiertheit seien schlechthin Gegensätze. (Als Gegensatz von naiv 
kann eher ,,raffiniert“ angesehen werden.) Ebensowenig Aussicht, 
allgemein befolgt zu werden, hat das Beispiel Börries von Münch¬ 
hausens, der (in der Sammlung ,,Garbe“, 1933) statt naiv das platt¬ 
deutsche ,,unbedarft“ verwendet. Im 18. Jahrhundert hat Ludwig 
Friedrich Hudemann für naiv ,,einfältig“ vorgeschlagen, da ,,zwar 
ein Gedanke an und für sich hoch und dabey einfältig seyn kann, 
in Ausdruck aber nohtwendig klein und schlecht erscheinen müsse, 
wo er das praedicatum naif verdienen soll“. 

Das im Deutschen von Geliert eingeführte Wort naiv ist dem 
Französischen entnommen, wo es lateinischer Herkunft ist: nativus, 
in der mittelalterlichen Form naivus, bedeutet angeboren (von 
nascor, geboren werden). Im Französischen konkurrieren die 
Formen naif und natif. Naif ist die ältere Form und kommt schon 
im 11. Jahrhundert im Sinne von ,,gebürtig“ vor; les naiffs sind im 




Gesetz des Guillaume die ortsgeborenen Leibeigenen. Seit dem 
14. Jahrhundert heißt dann ,,gebürtig aus . . im Französischen 
natif, welches Eigenschaftswort dann im 18. Jahrhundert, offenbar 
beeinflußt von italienisch nativo, die Bedeutung angeboren, natür¬ 
lich annahm. Allgemein verständlich scheint aber dieser Bedeutungs¬ 
übergang nicht gewesen zu sein, denn Rousseau, der im Emile von 
einer serenite native, einer natürlichen Heiterkeit spricht, glaubt 
hinzufügen zu müssen: ich gebrauche das Wort in einer italienischen 
Auffassung, mangels eines französischen Synonyms, und es macht 
nichts, wenn ich damit Unrecht tue, wenn ich nur verstanden werde. 
Um eben diesen geistigeren Sinn der angeborenen Natürlichkeit 
von der gewöhnlichen Bedeutung ,,gebürtig aus . . zu unter¬ 
scheiden, griff man auf die ältere Form naif zurück und erfüllte 
diese mit dem neueren, abstrakten Begriffsinhalt. Schon Montaigne 
hatte in der Einleitung seiner Essais von ihrer ,,naiven“ Form 
gesprochen. Nicht alles, was echt ist, ist naiv, schreibt Diderot, 
aber alles, was naiv ist, ist echt. Und Diderot selbst wird von 
Voltaire, dem gewiß nicht naiven, als naiv bezeichnet (in einem 
Briefe an d* Argen tal: daß Diderot ein guter Mensch ist, ich glaube es, 
denn er ist naiv). Heute ist im Französischen die Scheidung zwischen 
natif = gebürtig, angeboren, und naif in unserem Sinne ganz durch¬ 
geführt. (Nicht durchsichtig ist die Verwendung des Wortes naif 
in der französischen Buchdruckersprache, so z. B. in Balzacs „Ver¬ 
lorenen Illusionen“, zur Bezeichnung des Chefs einer Buch¬ 
druckerei.) 

Mit Recht hat Schopenhauer das Fremdwort naiv als unübersetz¬ 
bar bezeichnet, und Richard Dehmel apostrophiert es in einem 
Briefe: „Naiv, o dieses verdammte Fremdwort, es ist doppel- 
züngiger als alle Schlangen der Welt.“ Es ist mehr als doppelzüngig. 
Das eine Mal bedeutet es natürlich, echt, ungekünstelt, das andere 
Mal herzlich, aufrichtig, dann ursprünglich, primitiv oder un¬ 
schuldig, arglos, ahnungslos, oder gemütvoll, empfänglich oder 
unmittelbar, unberechnend, unüberlegt oder unwissend, un¬ 
erfahren, leichtgläubig, kindisch, einfältig, albern usw. Die Naivität 
eines Menschen kann uns rühren und kann uns ärgern; sie kann 
ehrliche Bewunderung erwecken und auch ausgelacht werden. Im 
Jahrhunderte Rousseaus, dank der These, daß der Mensch von 
Geburt aus „gut“ sei, standen die positiven Seiten der Naivität im 
Vordergrund, und damals geschah es auch, daß das Wort naiv sich 


2*6 


bei unseren Klassikern den Eingang in die deutsche Sprache erzwang. 
Herder verteidigte das Wort lebhaft gegen Th. Abbt, der Einwen¬ 
dungen gegen das ,,barbarische, undeutsche, vollends unnötige Wort 4 4 
erhob. Naiv ist man nach Herder, wenn man ist, ,,wie man ist, wie 
man aus den Händen der Natur kam, neu oder im Deutschen: sich 
selbst treu, ungezwungen, in seiner ordentlichen Konsistenz . 44 

Schopenhauer nennt die Naivität das Ehrenkleid des Genies, ,,die 
gewöhnlichen Köpfe dürfen sich nie erlauben, naiv zu sein, bei 
Strafe ihre Gemeinheit in ihrer traurigen Blöße zu zeigen 44 . Auch 
die Tiere bezeichnet Schopenhauer, da sie der Verstellung nicht 
fähig seien, als naiv; daher gewähre ihr Anblick Ergötzen. Carl 
Julius Weber widmet in seinem Demokritos drei Kapitel dem 
Naiven, von dem er zwei Hauptarten unterscheidet, die rührende 
und die lächerliche, versucht sich auch in Definitionen, verlegt sich 
aber in der Hauptsache auf die Schilderung des Naiven durch Bei¬ 
spiele. Schließlich ist der Hinweis auf typische Naivitäten, wie z. B. 
auf den Stoßseufzer jenes Schweinehirten, der sich König zu sein 
wünschte, um seine Schweine hoch zu Pferde hüten zu können, 
oder auf den Ausruf des frischbekehrten Frankenkönigs Chlodewig 
bei Anhören der Leidensgeschichte Christi, ,,ach, wär ich nur mit 
meinen Franken dort gewesen 44 , nicht weniger wert als irgendeine 
verwickelte Definition 1 . 

Schiller bringt die dichterische Naivität in seiner bekannten Ab¬ 
handlung in Gegensatz zum Sentimentalischen (,,dort weht lautere 
Natur, hier wird verlassene Natur gesucht 44 ). Für ihn ist Naivität 
,,eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird 44 , worunter 
man auch etwas wie Infantilismus 2 im neueren medizinischen Sinne 
verstehen könnte. 


1) ,,Einfalt im Äußeren, Würde und Wichtigkeit im Inneren, einfacher 
Ausdruck eines schönen Gedankens, die Unbesorgtheit der Unschuld um falsche 
Auslegung, Zuversicht und Offenherzigkeit bei Unwissenheit des Weltgebrauchs, 
welche nicht Dummheit, sondern Herzensgüte und Vertrauen zum Grunde 
haben, machen das Naive des sittlichen Charakters, das an das Rührende und 
Erhabene grenzt.“ 

2) Heinrich Schüchterer, der 1910 dem Typus der weiblichen Naiven im 
deutschen Drama des 18. lahrhunderts eine eigene theatergeschichtliche Studie 
gewidmet hat, definiert dort als naiv einen Menschen, ,,der in irgendeiner 
Beziehung auf der Stufe des Kindesalters zurückgeblieben ist, ein Umstand, 
der sich der Mitwelt durch unverhältnismäßige Unwissenheit in eben dieser 
Beziehung, durch Worte und Handlungen äußert.“ 


9 Storfer 


2 HJ 




Nach Kant — von dem übrigens Schopenhauer sagt, daß Naivität 
ihm abgehe — ist Naivität ,,eine edle oder schöne Einfalt, welche 
das Siegel der Natur auf sich trägt“, „ein Betragen, wo man nicht 
acht darauf hat, ob man von anderen beurteilt wird“. Anspruchs¬ 
voller beschreibt er an anderer Stelle Naivität als den ,,Ausbruch 
der der Menschheit ursprünglichen Aufrichtigkeit wider die zur 
anderen Natur gewordenen Verstellungskunst“. 

Eine Naivendarstellerin tut gut daran, um nicht verwirrt zu 
werden, naiverweise nicht an alle diese philosophischen Definitionen 
zu denken. Die Franzosen, denen wir doch das Wort naiv ver¬ 
danken 1 , kennen übrigens auf dem Theater keine ,,Naive“. Dieses 
Rollenfach heißt bei ihnen ingenue (eigentlich: offenherzig, harm¬ 
los, von lateinisch ingenuus, von freien Eltern geboren). Der 
französische Ausdruck Agnes = naives Mädchen (faire 1 5 Agnes = die 
Agnes machen, d. h. Naivität Vortäuschen) hängt wahrscheinlich 
nicht unmittelbar mit griechisch hagnos = keusch zusammen, sondern 
ist eine Anspielung auf die Agnes in Molieres ,,Schule der Frauen“, 
die der Vormund gewaltsam in Unschuld erhalten will, da er sie 
selbst zu heiraten beabsichtigt. Bei der Namenwahl durch Moli&re 
dürfte allerdings der Gedanke an die heilige Agnes 2 mit im Spiel 
gewesen sein; bekanntlich wird diese Heilige, die unter Diolectian 
aus Liebe zur Jungfräulichkeit im 13. Lebensjahr den Opfertod er¬ 
litt, als Vorbild der makellosen Unschuld verehrt. Im Rheinland 
wird der Namen Agnes oft als Spottwort für junge Frömmle- 
rinnen verwendet 3 . 


1) Dem Naiven, schreibt Weber-Demokritos, ist seine Naivität Natur, nicht 
so den Franzosen, die es in Unnatur am weitesten brachten, daher auch 
Geßners Ruf durch Europa nicht von Deutschen, sondern von Franzosen aus¬ 
ging, denen das Phänomen am meisten auffallen mußte. 

2) Der Frauennamen Agnes kommt von griechisch hagnos = unbefleckt, 
keusch, und die Richtung der Heiligenverehrung wird wohl wie in vielen 
anderen Fällen auch in diesem von der Lautform des Namens beeinflußt worden 
sein. (Schon Luther erkannte z. B., daß der heilige Valentin es seinem Namen 
zu verdanken hat, daß ihm in Deutschland Gewalt über die fallende Sucht 
zugeschrieben wird, und daß abergläubische Weiblein [superstitiosae mulierculae] 
vom heiligen Vinzenz nur wegen des Anklangs an das deutsche Zeitwort 
finden Hilfe beim Wiedererlangen verlorener Gegenstände erwarten. Viele 
derartige Beispiele gibt Nyrop: z. B. hilft nach deutschem Volksglauben der 
heilige Blasius gegen Blasen-, der heilige Augustinus gegen Augenkrankheiten, 
der heilige Lambertus gegen Lahmheit.) 

3) Im Elsaß aber; Angenes = stets klagendes, nörgelndes Mädchen. 


2 £ 8 







Das Wort naiv mit seinen vielen Bedeutungen zwischen erhabener 
Unschuld und lächerlicher Albernheit ist geradezu ein Schulbeispiel 
für jene Erscheinung, die die Sprachwissenschaft als Vieldeutigkeit 
oder Polysemie bezeichnet. Die Ansichten über den Wert dieser 
Eigenschaft vieler Ausdrücke gehen auseinander. Mit einer gewissen 
Begeisterung schreibt z. B. Michel Breal in seinem Essai de Seman- 
tique: ,,Je mehr Bedeutungen ein Ausdruck anhäuft, um so mehr 
muß man voraussetzen, daß er verschiedene Seiten einer geistigen 
und sozialen Regsamkeit darstellt. Man sagt, Friedrich II. habe in 
der Vielseitigkeit des Wortgebrauchs eine Überlegenheit der fran¬ 
zösischen Sprache erblickt. Er wollte ohne Zweifel sagen, daß diese 
vieldeutigen Wörter den Beweis für eine fortgeschrittenere Kultur 
lieferten. 44 Aber nicht zu Unrecht bemerkt dazu K. O. Erdmann: 
,,Polysemie ist sicherlich ein Zeichen für Blühen und Wachstum 
einer Sprache; sie ist ein Zeichen für die Regsamkeit und An¬ 
passungsfähigkeit des Volksgeistes. Aber sie bleibt deshalb doch 
die Quelle zahlloser Irrtümer und ewiger Mißverständnisse. 44 

NEUNUNDNEUNZIGER 

ist eine volkstümliche Schelte für den Apotheker. Früher hatte 
dieses Scheltwort eine allgemeinere Bedeutung. 1691 erklärt 
Stielers Wörterbuch ,,Neunundneunziger 44 als ,,proditores, syco- 
phantae 44 , Verräter, Verleumder. In Schwaben sind die Einwohner 
mehrerer Dörfer von ihren Nachbarn Neunundneunziger gescholten 
worden. Dann wurde das Wort eine beliebte Schelte für ver¬ 
schiedene Berufe, für Tischler, für Lehrer und besonders für 
Apotheker. Die Apotheker, so erklärte man den Ausdruck, ver¬ 
kaufen ihre Waren mit einem Gewinn von 99 von Hundert (daher 
auch die Schelte ,,Prozentenkrämer 44 ). Daß die Apotheke als der 
Laden gilt, wo man besonders teuer kauft, bezeugen auch sonst 
verschiedenste Redensarten, z. B. das ist die reinste Apotheke. 
Man spricht auch von einer Apothekerrechnung; französisch c’est 
un compte d’apothicaire 1 , während der Engländer vorzieht, von 
doctor’s bill zu sprechen. 

Jean Paul, der den Ausdruck Neunundneunziger im Sinne geriebener 
Heuchler ebenfalls verwendet, erklärt ihn wie folgt: ,,Da nach den 

1) In Frankreich erschien 1553 ein besonderes Buch über „Mißbräuche und 
Betrügereien“ der Apotheker: Declaration de Abuz et Tromperies que font 
les Apoticaires. 

9* 


2 £9 







englischen Gesetzen jedes Schiff mit hundert Seelen einen Schiffs- 
prediger haben muß, so laden die Ostindienfahrer, um ihn zu er¬ 
sparen, nur neunundneunzig.“ Wenn der Ausdruck wirklich daher 
kommt, so ist für seine Entstehung anscheinend eine praktische 
Erwägung bestimmend, ähnlich jener, die einen Pachtvertrag nicht 
auf mehr als 99 Jahre abschließt, damit die Ersitzung vermieden 
wird, oder jener, die Kaufleute veranlaßt, den Preis einer Ware 
z. B. mit 9£ Pfennig oder mit 9 Mark 90 anzusetzen. In Wien gibt 
es jetzt eine Kleinkunstbühne, die sich ,,Theater der 49“ nennt 
und nur für 49 Besucher Platz hat; dieses Unternehmen unterliegt 
nicht dem Konzessionszwang, der nur für Aufführungen vor 
und mehr Besucher gilt. 

Zur Bezeichnung Neunundneunziger für Apotheker führt Carl 
Julius Weber in seinem Demokritos die Berechnung eines Apo¬ 
thekers an: wenn man im Worte ,,Apotheke“ für A die Zahl 1 
setzt, für p i£ usw., entsprechend der Stelle im Alphabet, so ergibt 
sich eine Zahlenreihe, deren Summe 99 ist. (Es wäre aber gewiß 
falsch, auf diesen netten ,,kabbalistischen“ Zufall die Etymologie 
des Ausdrucks zu gründen.) 

Bei Borchardt-Wustmann ist neben der Deutung, die Apotheker 
verdienten 99 Prozent, auch eine andere angeführt: der Apotheker 
heiße Neunundneunziger, weil er sehr viele Mittel kennt, aber 
doch nicht die Macht hat, sie zu verordnen. ,,Neunundneunzig“ 
wäre also eine Umschreibung für ,,sehr viel“, eine Übertreibungs¬ 
zahl — mit der Einschränkung: ,,aber nicht genug“. Sonst werden 
als hyperbolische Zahlen runde Zahlen, wie hundert, tausend, ver¬ 
wendet (man vgl. das Stichwort Tausendgüldenkraut über Tausend¬ 
füßler, Tausendkünstler, tausend Küsse usw.). Es scheint aber neben 
der allbekannten Neigung zu großen runden Zahlen auch eine genau 
entgegengesetzte in der Völkerpsychologie zu bestehen, das Streben, 
der runden Zahl auszuweichen. Irgendeine allgemeinmenschliche 
abergläubische Vorstellung muß der Scheu vor der runden Zahl 
zugrunde liegen. Nach den Vorschriften des Alten Testaments gab 
es eine Körperstrafe, die aus der Verabreichung von 39 Stockhieben 
bestand. Bei den Indem gab es 101 Hiebe. 101 ist auch die Zahl 
der Kanonenschüsse bei festlichen Gelegenheiten, z. B. bei Prinzen¬ 
geburten. Die oldenburgische Stat Jever sandte Bismarck jährlich 
zum Geburtstag 1 o 1 Kiebitzeier. Im Orient vermeidet man Schuld¬ 
scheine über eine runde Summe; die Schuldscheine lauten gewöhnlich 


260 








über 1001 Rupien, über ioooi Rupien u. dgl. Vielleicht aus 
ähnlichem Grunde heißt es auch „Tausendundeine Nacht“. 

Es ist übrigens auch eine deutsche Redensart gebucht worden: 
„alle neunundneunzig treiben“ mit der Bedeutung allerlei Lieder¬ 
lichkeiten, Allotria treiben. Ein ostpreußisches Sprichwort lautet: 
die Weiber haben neunundneunzigerlei List und noch ’nen Sack voll. 
Im Elsässischen ist Neunundneunziger auch die Bezeichnung für einen 
Krummbeinigen — vielleicht, weil seine Beine nicht grad sind wie 
die i-er? 

NIEDERTRÄCHTIG 

Vom Zeitwort tragen (althochdeutsch tragan), dessen Verwandt¬ 
schaft mit lateinisch trahere = schleppen nicht gesichert ist, kommt 
das mehrdeutige Hauptwort Tracht, z. B. in der Bedeutung der 
Art, sich in Kleidern zu tragen (Volkstracht, malerische Tracht), 
oder etwas bezeichnend, was man auf einmal tragen kann (eine 
Tracht Holz, scherzhaft übertragen auch: eine Tracht Prügel), dabei 
auch auf der Bedeutungsgrundlage des Tragens im Mutterleibe 
(daher eine Tracht Hunde, d. h. soviel junge Hunde, als eine Hündin 
auf einmal „geworfen“ hat). Aus Tracht entwickelt sich das Eigen¬ 
schaftswort trächtig, nicht nur mit seiner üblichsten Bedeutung 
schwanger, sondern auch allgemeiner: fruchtbar (z. B. bei Goethe: 
wirkt ein Wort so mächtig, ist der Gedanke trächtig). Auch im 
Sinne tragfähig wird trächtig gebraucht, z. B.: das Schiff ist so und 
soviel Tonnen trächtig. 

Aus trächtig ergeben sich auch zwei zusammengesetzte Eigen¬ 
schaftswörter: hochträchtig und niederträchtig. Hochträchtig 
= sich hoch tragend, nach Hohem trachtend, hochmütig. Abraham 
a Santa Clara nennt einmal die stolze Pflanze Rittersporn hoch¬ 
trächtig. Niederträchtig hat ursprünglich nur die Bedeutung 
niedrig (man sprach daher von niederträchtigen Rindern, nieder¬ 
trächtigen Stühlen und meinte niedrige Rinder, Stühle), sich niedrig 
tragend, und —auf das seelische Gebiet übertragen—herablassend. 
Mit dem Urteil „unser Landesfürst ist ein gar niederträchtiger 
Herr“, führt Strigl aus, sprach der Untertan nicht etwa eine 
Majestätsbeleidigung aus, sondern ein Lob. Er wollte damit sagen, 
der Fürst sei nicht hochmütig, sondern im Gegenteil herablassend, 
leutselig. Das gegen Ende des i£. Jahrhunderts entstandene Eigen¬ 
schaftswort niederträchtig behielt lange die Bedeutung herablassend. 


261 



Erst im 18. Jahrhundert kommt es — offenbar über die Assoziations¬ 
kette willfährig, nachgiebig, demütig, unterwürfig, knechtisch, skla¬ 
visch—zur Bedeutung: gemein, ehrlos, von schändlicher Gesinnung. 
Erst nachdem das Eigenschaftswort niederträchtig diese Bedeutungs¬ 
verschlechterung durchgemacht hat, kam es anfangs des 19. Jahr¬ 
hunderts auf dem Wege einer sogenanntenRückbildung (backforma- 
tion) zur Entstehung des Hauptwortes Niedertracht. 

Die Bedeutungsentwicklung von ,,niederträchtig“ ist ein typisches 
Beispiel für Sinnverschlechterung, deren Häufigkeit in der Wort¬ 
geschichte Anlaß gegeben hat, von einem pessimistischen Zug 
im Leben der Sprache zu reden. Einige charakteristische Fälle von 

pejorativem Bedeutungswandel 

seien aus der großen Anzahl hier noch angeführt: 

Albern (althochdeutsch ala-wari) bedeutet ursprünglich ,,all¬ 
wahr“, wahrhaftest, allzu offen, gütig. Es ist bei dieser Sinn¬ 
verschlechterung dieselbe Verachtung für die listlose Aufrichtigkeit, 
für die Arglosigkeit am Werke, die auch auf mehrere Nuancen des 
Wortes naiv (vgl. dieses Stichwort) abfärbt. ,,Die deutsche Sprache 
hat einmal einen tollen Witz gemacht und mit dem Wahrheitsbegriff 
Schindluder getrieben“, bemerkt Fritz Mauthner zum Bedeutungs¬ 
wandel von albern 1 . Auf einer ähnlichen Verachtung der Harmlosig¬ 
keit, die man doch sonst als Tugend preist, beruht die Bedeutungs¬ 
verschlechterung bei den Eigenschaftswörtern 

einfältig und schlecht, die ursprünglich nichts anderes be¬ 
deuten als: einfach und schlicht. Das ,,-fähig“ in einfältig hat un¬ 
mittelbar nichts mit ,,Falte“ zu tun, sondern kommt von griechisch 
-paltos und ist mit der Silbe -fach in einfach ganz gleichbedeutend 
(daher zwischen vielfach und vielfältig nicht jener Unterschied, wie 
der zwischen einfach und einfältig). Der Gebrauch der beiden gleich¬ 
bedeutenden Endungen, der griechischen und der germanischen, 

1) Es wäre natürlich plump und gehässig, aus dieser bedeutungsgeschicht¬ 
lichen Tatsache dem Geist der deutschen Sprache einen besonderen Strick zu 
drehen, ihr etwa den Kult der ,,nordischen List“ vorzuwerfen. Andere Sprachen 
bekunden durch ähnliche Fälle von Bedeutungswandel nicht minder diese Ge¬ 
ringschätzung und Verachtung des Aufrichtigen, wie sie z. B. das französische 
Sprichwort zeigt: franchise est la vertu du sot, Offenheit ist die Tugend der 
Dummen. Man vgl. übrigens unter dem Stichwort ,,perfid“ unsere Stellung¬ 
nahme gegen Versuche, wortgeschichtliche Erscheinungen als Belastungszeugen 
gegen den Charakter eines Volkes aufmarschieren zu lassen. 


262 






ermöglicht es der deutschen Sprache, einfach und einfältig ganz 
auseinanderzuhalten, während z. B. im Englischen und im Franzö¬ 
sischen simple für beide Bedeutungen herhalten muß. 

Gemein hat ursprünglich nur die Bedeutung: allgemein, gemein¬ 
sam. Wir sagen auch heute noch ohne irgendwelchen üblen Bei¬ 
geschmack Gemeinsinn, gemeinnützig, gemeinverständlich, ge¬ 
meines Recht, und auch im militärischen Sinne ist ,,der Gemeine“ 
nicht etwa ein Schimpfwort. Gemeine Leute waren ursprünglich 
die Unparteiischen, d. h. die, denen die Streitenden gemeinsam 
Vertrauen entgegenbrachten. Wenn Luther die katholische Kirche 
als gemeine Kirche bezeichnete, dachte er nicht im geringsten daran, 
sie zu schmähen, er übersetzte nur genau das griechische Wort 
katholisch, das von kata holu = im ganzen, im allgemeinen kommt. 
Aber zu Luthers Zeiten begann bereits die Verschlechterung des 
Begriffs gemein. Karl Bergmann bringt diesen Vorgang geistes¬ 
geschichtlich mit dem Humanismus in Verbindung. In der Bedeu¬ 
tungsentwertung dieses Wortes spiegle sich der Niedergang des 
mittelalterlichen Genossenschaftswesens. ,,Es kam die Gestalt des 
auf seine Bildung stolzen Gelehrten auf, der sich nicht genossen¬ 
schaftlich eingeengt fühlte, sondern eine selbständige, freie Per¬ 
sönlichkeit war.“ Diesen ,,Individualitäten“ mußte der ,,gemeine“ 
Mensch verächtlich sein, und so mußte auch das Wort gemein all¬ 
mählich seinen guten Klang einbüßen. Die im 19. Jahrhundert ein¬ 
setzende große antiindividualistische Bewegung, der Sozialismus, 
brachte den Begriff ,,gemein“ sprachlich nur durch Abkömmlinge 
der entsprechenden lateinischen Wurzel (z. B. in den Wörtern 
Kommün, Kommunismus) wieder zu Ehren. Hildebrand weist 
darauf hin, daß es vornehmlich die Zeit der Klassiker war, in der 
der verächtliche Sinn im deutschen Worte gemein die Oberhand 
gewann. Schiller übernahm gemein im Sinne von niederträchtig von 
Kant und bildete das Wort in seinem ästhetischen und dichterischen 
Gebrauch ganz persönlich aus (z. B. ,,ein gemeiner Kopf wird den 
edelsten Stoff durch eine gemeine Behandlung verunehren“). Es ist 
wohl auch kein Zufall, daß Goethe seinen großen Weimarer Ge¬ 
nossen als erhaben über das Gemeine bezeichnet. 

Ordinär, Ordinärpreis gebraucht der deutsche Buchhändler in 
seiner Fachsprache für den Ladenpreis, den ordentlichen Preis. Das 
ist aber auch wohl der einzige Fall im Deutschen, in dem man 
ordinär ohne üble Bedeutung, im Sinne von ordentlich, regelmäßig 


263 



noch gebrauchen kann. Kein Angeklagter wünscht vor den ordinären 
Richter zu gelangen, kein Vater verlangt, daß seine Kinder eine 
ordinäre Verpflegung bekommen, kein Truppenführer fordert von 
seinen Leuten ein ordinäres Marschtempo, keine Wirtsfrau wünscht 
sich einen ordinären Zimmerherrn. Und doch bedeutet ordinaire 
im Französischen, woher unser Wort entnommen ist, nichts anderes 
als ordentlich. Früher ist diese ursprüngliche Bedeutung gelegent¬ 
lich auch im Deutschen noch vorgekommen. So steht bei Goethe 
ordinäre Post für ordentliche Post, und bei Jeremias Gotthelf findet 
sich der schweizerische Ausdruck Ordinäri für die Table-d’hote- 
Mahlzeit. Auch im Englischen ist die durchaus vorherrschende Be¬ 
deutung von ordinary nur „ordentlich“, nur in seltenen Fällen 
entspricht das Wort dem Sinne des deutschen ordinär, z. B. an 
ordinary fellow = ein ordinärer Kerl. Deutlicher tritt diese Be¬ 
deutungsverschlechterung in der amerikanischen Nebenform von 
ordinary, im Worte ornery auf, z. B. bei Mark Twain: yo’ ornery 
eye tole on you, dein gemeiner Blick hat dich verraten. 

Klepper (vom Klappern der Flufe wahrscheinlich) ist noch vor 
drei Jahrhunderten ohne Geringschätzung für Pferd gebraucht 
worden, und ebensowenig war ursprünglich ein herabsetzender Sinn 
verknüpft mit dem Worte Mähre (enthalten in Marschall, althoch¬ 
deutsch marahscalc = Mährenschalk, d. h. Pferdeknecht). 

Pfaffe hat erst seit der Reformationszeit den verächtlichen Sinn 
angenommen. 

Gift verrät seine ursprüngliche Bedeutung „Gabe“ noch in der 
Zusammensetzung Mitgift. 

Spießgeselle hatte ursprünglich die Bedeutung: Waffengefährte, 
Kriegskamerad und verschlechterte sich erst um die Mitte des 18. Jahr¬ 
hunderts zu: Gefährte im bösen Tun, Komplice. 

Dirne hat in süddeutschen Mundarten auch heute noch den ur¬ 
sprünglichen Sinn: Dienerin. Das derbe berlinische Nutte für 
Prostituierte bedeutet ursprünglich nur ein ärmliches oder halb¬ 
wüchsiges Mädchen 1 . M e n s c h im Sinne unmoralisches Frauenzimmer 


i) „Besonders im Französischen“, schreibt Nyrop, „haben die Ausdrücke 
für junges Mädchen sich in rasender Eile abgelöst: bachele, mescine, touse, 
garce, fille sind alle nacheinander degradiert worden. Daraus darf man aber 
sicherlich keinen Schluß auf die Moral der Franzosen ziehen; das einzige, was 
man daraus schließen könnte, wäre, daß sie Euphemismen in hohem Maße 
mißbrauchen. ‘ ‘ 


264 






konnte begreiflicherweise den allgemeinen Begriff Mensch nicht 
außer Kurs setzen und unterscheidet sich von diesem wenigstens 
durch das sächliche Geschlecht. 

Oft ist es der Gebrauch von euphemistischen Umschreibungen, 
die die BedeutungsVerschlechterung auf dem Gewissen haben. Wenn 
man einst, um keusche Ohren nicht zu verletzen, das Haus der 
Prostituierten als Bordell, den Abort als Klosett bezeichnet hat, 
so haben sich im Laufe der Zeit auch diese Hüll- oder Glimpfwörter 
selbst diffamiert und wirken nunmehr auch anstößig, obschon Bordell 
eigentlich nur ein kleines Haus, Klosett eigentlich nur einen ge¬ 
schlossenen Raum bezeichnet. 

Über keck (ursprünglich lebhaft) und frech (ursprünglich gierig) 
vgl. das Stichwort keck, über Bagage (ursprünglich nur Gepäck) 
und Plunder (ursprünglich nur Kleidung, Hausgerät) das Stichwort 
Bagage. Unter ,,Kaffer * 4 vgl. die Bedeutungsverschlechterungen 
Dörfer-Tölpel, vilain, clown usw. Vgl. auch das Stichwort ,,Kretin, 
Idiot** (eigentlich Christ und Privatmann) und ,,Schimpf** (ur¬ 
sprünglich Scherz, Kurzweil, Spiel). 

Wie das Wort Schimpf selbst sind auch viele Schimpfwörter erst 
spät zu ihrem jetzigen, arg kränkenden Sinn gekommen. So bedeutet 
Luder ursprünglich nur Lockspeise, Schurke ist eigentlich der 
Schürende (es ist von althochdeutsch fiurscurgo = Feuerschürer 
auszugehen, was eine Bezeichnung des Teufels war). Die Tatsache, 
daß Wörter mit herabsetzendem Sinn in ihrer Vergangenheit oft 
neutralen, harmlosen oder gar lobenden Charakters waren, wird 
nicht selten in Ehrenbeleidigungsprozessen ausgenützt. Die Ver¬ 
teidigung zieht dann Sachverständige der Sprachgeschichte und der 
Mundartenforschung heran, um glaubhaft zu machen, daß der in- 
kriminierte Ausdruck ,,in Wirklichkeit** gar kein Schimpfwort sei. 
Als der ehemalige österreichische Erzherzog Leopold Wölfling im 
Kanton Zürich heiratete und sich dort einbürgern ließ, schimpfte ein 
kratzbürstiges ländliches Wochenblatt, die Schweizer hätten nun auch 
Wölflings ,,Fasel** zu erwarten. Vor die Schranken des Gesichts ge¬ 
fordert, versteifte sich der Redakteur darauf, das mundartliche Fasel 
bezeichne nicht nur das Junge von der Sau, sondern allgemein die 
menschliche und tierische Nachkommenschaft. Das Zürcher Schwur¬ 
gericht ließ sich durch diese auskneifende Verteidigung nicht be¬ 
irren. Hingegen ging in den ersten Jahren der österreichischen 
Republik der Mann, der den Sozialistenführer Otto Bauer einen 





Schuften hieß, auf Grund einer wortgeschichtlichen Beweis¬ 
führung, das Wort sei gar nicht ehrverletzend, frei aus. Bei den 
Wiener Gerichten kommt es gar nicht selten vor, daß die Anwälte 
zungenfertiger Kleinbürger mit mehr oder minder gelehrtem Auf¬ 
wand über den beleidigenden oder nichtbeleidigenden Charakter 
der aus den Tiefen der Mundart oder der Unterweltssprache ge¬ 
schöpften Kraftausdrücke streiten. Und mitunter erfahren dann 
Kläger und Beklagter zur gleichen Überraschung, daß ein heute 
verletzend beabsichtigtes und verletzend wirkendes Wort ursprüng¬ 
lich sogar eines rühmenden oder zärtlichen Nebensinnes nicht ent¬ 
behrte. ,,Wie nehmen“, ruft Jean Paul im Siebenkäs aus, ,,manche 
Worte, an sich anfangs unschuldig, ja süß, erst auf dem Lager der Zeit 
giftige Kräfte an, wie Zucker, der dreißig Jahre im Magazin gelegen. 

O. K. (OKEJ) 

Der amerikanische Kraftausdruck O. K. (sprich „okej“ mit Ton 
auf der zweiten Silbe) ist erst seit einigen Jahren in Deutschland 
allgemein bekannt 1 . Er wurde volkstümlich durch den Film „Liebes- 
walzer“, in dem der Schauspieler Willi Fritsch das amerikanische 
Faktotum eines dekadenten Erzherzogs spielt, und jedesmal, wenn 
er ausdrücken will: zu Befehl, ich habe verstanden, geht in Ordnung, 
kurz „okej“ sagt. Seither ist die Formel in Mode, sie ist nebenbei 
auch Ersatz für ältere, ausrangierte Slangausdrücke, wie m. w. 
(= machen wir) oder für das berlinische ,,abgemacht Seife“ (was 
angeblich aus französisch c’est fait verballhornt ist). Im Daily Mail 
vom 25-. Januar 1934 prophezeit eine Zuschrift eines Mister Cecil 
Rawlings, daß sich aus O. K. mit der Zeit to okay = approbieren 
bilden wird; aber die Prophezeiung kommt zu spät, in Amerika 
wird okeh schon lange auch als Zeitwort gebraucht: to okeh 
something = etwas für richtig befinden, indossieren. 

Zur Erklärung des merkwürdigen Wortes ist in Deutschland 
eine Fabel von einem in Amerika lebenden deutschen Ingenieur 

1) Mit diesem Modewort okej hat das auf der ersten Silbe betonte berli¬ 
nische Wort ocke nicht« gemein. Ocke — unbekannter Herkunft — bedeutet 
etwa ,,aus“, „bergab“, „schlecht“, „mies“, gewissermaßen in Gegensatz 
zu „dufte“ und „knorke“. „Berlin, Berlin, mit dir ist’s ocke“, hieß es in 
der Nachkriegszeit in einem Schlager. Fin Kabarettkomiker erläuterte den Aus¬ 
druck: Hab* ich aber keen Verjnüjen — mehr an der Zigarre Züjen — Hab* ich 
Mauke in die Beine — Und es freu’n mich kene Weine — Und mich reizt kein 
Frau’ngelocke: — Menschenskind, denn is et „ocke“! 


266 









aufgeflattert, dessen Namen die Anfangsbuchstaben O und K habe. 
Dieser Ingenieur habe die Aufgabe gehabt, in einer Automobilfabrik 
die fertigen Wagen zu kontrollieren, und die er als tadellos befunden 
hatte, habe er mit seinen Anfangsbuchstaben gekennzeichnet. Die 
Käufer sollen draufgekommen sein und solche O.-K.-Wagen be¬ 
vorzugt haben. Diese Geschichte ist eingestandenermaßen von einem 
deutschen Journalisten scherzhalber erfunden worden. Ungeachtet 
des Umstandes, daß O. K. in Amerika schon gesagt wurde, als es 
noch keine Kraftwagen gab. Brophy und Partridge buchen in ihrem 
Werk über den Slang der britischen Soldaten im Weltkrieg ein 
„uckeye“ mit der Erläuterung: ,,= all right, O. K., aus dem 
Hindostanischen. Im Dezember 1933 veröffentlichte der Daily 
Mail eine Deutung aus dem Französischen: au quai (,,auf dem 
Damm“) sollen französische Seeleute erleichtert aufatmend gesagt 
haben, wenn sie nach schwerer und gefährlicher Fahrt endlich festen 
Boden unter sich fühlten. Kurz darauf, in der Weihnachtsnummer 
der gleichen Zeitung, will eine Zuschrift von C. E. Brett von einem 
amerikanischen Buchdrucker namens O. Kelly wissen, der vor mehr 
als fünfzig Jahren seine Korrekturabzüge mit O. K. zeichnete. 

Das englisch-deutsche Wörterbuch von Muret-Sanders führt O. K. 
als amerikanische familiäre Abkürzung von ,,all correct“ an. Das ist 
die verbreitetste Erklärung. Unstrittig ist sie nicht. Ganz geklärt ist 
die Herkunft des O. K. nicht; auch in Amerika nicht. Der geistvolle 
und vielseitige Kritiker Mencken, der auch der beste Kenner der 
in ständiger Wandlung befindlichen amerikanischen Umgangssprache 
ist, sieht in O. K. einen Ortsnamen. Aux Cayes (sprich französisch 
o-kej) ist der Namen eines Hafenortes an der Südwestküste Haitis, 
der den besten Rum, den besten Kaffee und den besten Tabak ge¬ 
liefert hatte. O. K., zunächst eine abgekürzte Herkunftsbezeichnung 
in der saloppen und nicht sehr orthographiefesten Händlersprache, 
sei dann schließlich als Qualitätsbezeichnung verwendet worden, 
also etwa wie bei uns prima oder eins a (Ia) oder ff (feinst). 

Es gibt aber auch eine andere ernste Erklärung für O. K. Ur¬ 
sprünglich soll es geheißen haben O. R. und eine Abkürzung für 
Order recorded gewesen sein. Die beiden Buchstaben sollen früher 
in der Bundesverwaltung der Vereinigten Staaten an den Schluß 
der Akten gesetzt worden sein und bedeutet haben, daß der Akt 
registriert sei. 1828 wurde der volkstümliche, aber jähzornige, 
eigenwillige und nicht überaus gebildete Demokrat Andrew Jackson, 


267 



genannt Old Hickory, der alte Nußbaum, zum Präsidenten gewählt. 
Jackson soll die Abkürzung unter den Akten nicht verstanden haben 
und statt R ein großes K gelesen haben. Er sei also der erste ge¬ 
wesen, der O. K. gesagt hatte, und dies habe man dem Präsidenten 
nachgesprochen, zunächst aus Spott, um auf seine Unbildung anzu¬ 
spielen, schließlich habe sich aber die Redensart in dieser ver¬ 
derbten Form erhalten. 

Eine andere Geschichte über die Herkunft von O. K. wird von 
MacKnight verzeichnet. Im Jahre 1840 haben Farmer in einer 
politischen Demonstration, wo es sich darum handelte, ihre Ver¬ 
läßlichkeit als Anhänger der damaligen Whig-Partei zu bekräftigen, 
mit mehr Überzeugung als Schulbildung auf ihre Fahne geschrieben: 
The farmers are oll korrect. Die beiden Rechtschreibefehler, oll 
statt all und korrect statt correct, sollen dann als Symbol der biederen 
Ehrlichkeit der Ungebildeten gegolten haben. Ein eifriger Partei¬ 
gänger der Whigs, ein gewisser Dan Leffel in Springfield, Ohio, soll 
dann demonstrativ auf sein Haus die Buchstaben O. K. geschrieben 
haben und daher für das Fortleben des okeh verantwortlich sein. 

Woodrow Wilson war übrigens mit keiner dieser Ableitungen 
zufrieden. Der gelehrte Präsident, bekanntlich sehr wohlgesinnt 
allem Indianischen, hatte herausgefunden, daß okeh in der Sprache 
der Tschoktaw-Indianer ,,so sei es“ bedeutet 1 und interpretierte 
in diesem Sinne das ,, 0 . K. — W. W.“, das er durch acht Jahre 
hindurch im Weißen Haus auf jene Akten setzte, die seine Zu¬ 
stimmung fanden. 

Die obige Zusammenstellung der Deutungen und Legenden um 
das O. K. veröffentlichte ich zuerst in einer Berliner Tageszeitung. 
Die Schriftleitung bekam darauf drei Zuschriften aus dem Leser¬ 
kreise. Ein Dr. Wolf findet keine der Ableitungen für einleuchtend 
und hält „demgegenüber eine andere Erklärung — grade um ihres 
Blödsinnes willen — für ungleich wahrscheinlicher. Jedermann 
in Anglo-Amerika weiß, was knock out hehßt und kürzt es mit k. o. 
ab. Sollte nicht o. k. durch Umkehrung der Buchstaben den um¬ 
gekehrten Sinn bezeichnen, also das mit einem anderen Ausdruck 
nicht trefifbare Gegenteil von k. o. bedeuten?“ Der zweite 

1) In vielen indianischen Sprachen bedeutet übrigens oke: Stück Land. 
Dieses Wort ist in einigen amerikanischen Ortsnamen enthalten, z. B. in 
Milwaukee; die Gegend östlich von Providence River heißt Wampanauke 
(östliches Land); die Halbinsel Accomac hieß früher Acavmauke. 


268 







Einsender, F. Goesch, hat von seinem ,,Vetter in San Francisco 4 ‘ 
gehört: ,,Im Unabhängigkeitskriege hat es mit der Verpflegung nicht 
immer geklappt. Die Soldaten des Bundesheeres waren daher 
meistens mit ihrem Lose zufrieden, wenn sie Brot hatten. Dieses 
Brot war mit einem Stempel O. K. gezeichnet, dessen Bedeutung 
ich allerdings vergessen habe.“ So habe O. K. die symbolische Be¬ 
deutung bekommen: ,,wir haben Brot, wir sind zufrieden.“ Der 
dritte Einsender, Hans Remah, berichtet, er habe vor lg Jahren 
wiedererzählen gehört, O. K. komme von Old Kentucky Rye, 
einem bekannten und viel getrunkenen Schnaps, dessen Hersteller 
sehr unter Nachahmungen zu leiden hatten . ♦ . Die Üppigkeit der 
Legendenbildung um diese beiden Buchstaben ist jedenfalls achtung¬ 
gebietend. 

OMNIBUS 

Die Einrichtung des Fiakers (vgl. das Stichwort Kutsche, S. 236), 
des Mietwagens für Fahrten innerhalb der Stadt wurde in Paris 16^0 
erfunden. Es handelte sich dabei darum, daß der mietende Passagier 
die zurückzulegende Strecke bestimmte und den Wagen für sich 
und seine etwaigen Begleiter allein hatte. Unbekannt war noch die 
postartige Einrichtung, daß nämlich ein Wagen für eine bestimmte, 
im voraus festgelegte Strecke innerhalb einer Stadt Plätze vermietete, 
wie es im Überlandverkehr schon lange üblich war. Im Jahr 1662 
ließ die großstädtische Entwicklung von Paris den Gedanken einer 
solchen Einrichtung auf kommen. Ein eigener Ausschuß, dem neben 
angesehenen Aristokraten u. a. auch der große Mathematiker und 
Theologe Blaise Pascal angehörte, beschäftigte sich mit der Gründung 
dieser Einrichtung, und am 18. März 1662 wurden die ersten Pariser 
Stell wagen in den Dienst gestellt. Obschon die Fahrpreise verhält¬ 
nismäßig niedrig waren (man nannte diese Stellwagen carosses ä cinq 
sous, Fünf-Sou-Karossen), konnte sich die neue Einrichtung nicht 
lange halten, und erst etwa anderthalb Jahrhunderte später setzte 
sich die neu aufgenommene Einrichtung in Paris durch. Diesmal 
kamen Sache und Namen aus Nantes nach Paris. Ein dort lebender 
abgedankter napoleonischer Offizier namens Baudry, Eigentümer 
einer Badeanstalt im nahen Richebourg, richtete im Jahre 1825- zur 
Bequemlichkeit der Badebesucher und zur Hebung der Frequenz 
einen regelmäßigen Stellwagenverkehr zwischen Nantes und Riche¬ 
bourg ein. Diese Wagen waren zunächst mit der Aufschrift ,,Voitures 


269 






de Bains de Richebourg“ versehen. Ihr Ausgangspunkt in Nantes 
war vor dem Laden eines Gewürzkrämers, der Omnes hieß. Ent¬ 
weder war Monsieur Omnes selbst des Lateinischen soweit kundig, 
oder hatte ihn jemand darauf aufmerksam gemacht, daß omnes 
lateinisch „alle“ bedeutet, jedenfalls hing über der Ladentür ein 
Schild mit der Aufschrift: OMNES OMNIBUS, was man beliebig 
als einen Wahlspruch „Alle für alle“ auffassen konnte, oder als 
kaufmännische Ankündigung, der Laden des Herrn Omnes führe 
alle Waren für alle Käufer. Vom Laden übertrug sich der Namen 
Omnibus auf die vor ihm abfahrenden Stellwagen 1 , wobei es nicht 
mehr festzustellen ist, ob der Unternehmer Baudry selbst sich die 
Bezeichnung aneignete, um anzudeuten, daß seine Fahrzeuge für 
jedermann zugänglich sind, oder ob das Publikum die Taufe vollzog. 
Jedenfalls gelangte das Wort Omnibus zwei Jahre später schon als 
feststehender Begriff nach Paris. Im Juli 1829 gab es dann in London 
die ersten Omnibusse (eingeführt von einem Mr. Shillibeers), in 
Berlin wurden sie nach langen Vorbereitungen 1836 eingeführt. 

Das sprachlich Bemerkenswerte am Worte Omnibus ist, daß sich 
der Sprachgebrauch über den Umstand, daß omnibus ein Dativ ist, 
der Dativ der Mehrzahl von lateinisch omnis, einfach hinwegsetzt, 
daß die Dativform Omnibus zu einem Hauptwort erstarrt ist und 
wie ein Nominativ verwendet wird. Wir haben daher die deutsche 
Mehrzahl Omnibusse, und in älteren englischen Büchern kommt 
sogar die scheinbar lateinische Mehrzahlform omnibi 2 vor, als ob 
omnibus ein männliches Hauptwort der zweiten lateinischen Kon¬ 
jugation wäre. 

Sowohl in der englischen als in der französischen Umgangssprache 
hat Omnibus als volkstümliches Wort manche Wurzeln geschlagen. 
Omnibus heißt in England ein aus verschiedenen Beiträgen zu¬ 
sammengestelltes Buch, ein Sammelband, ferner ein Aushilfskellner 
(man denke an unser Mädchen „für alles“) und auch eine große 
Loge im Theater, d. h. eine Loge für jedermann („Fremdenloge“). 
Omnibus-train ist ein Bummelzug, d. h. einer, der „für alle“ 

1) Auch das Wort Fiaker (s. bei „Kutsche“ S. 236) kommt vom Namen 
eines Hauses, vor dem die Fahrzeuge Aufstellung nahmen. Man vgl. auch unter 
dem Stichwort Vauxhall die Herkunft von russisch wagsal = Bahnhof aus dem 
Namen einer bestimmten Örtlichkeit. 

2) Eine gelegentlich vorkommende scherzhafte deutsche Mehrzahl ist: 
Omnibiester. 


270 



Stationen Passagiere mitnimmt, omnibus-wire die elektrische Haupt¬ 
leitung, d. h. der Kabel für alle Anschlüsse. Train omnibus haben 
auch die Franzosen, daneben auch bateau omnibus für ein überall 
anhaltendes Schiff. Reichlich sind die Anwendungen von omnibus 
im Pariser Argot 1 . Nicht nur für festliche Anlässe aufgenommene 
Aushilfskellner heißen in Paris omnibus, auch die Prostituierten, 
weil sie eben ,,für alle“ sind; man nennt sie auchbeautes omnibus, 
Omnibusschönheiten. Omnibus heißt in Paris auch ein erwerbsloser 
Pflastertreter. In der Sprache der Apachen bedeutet attendre 
l’omnibus, den Omnibus erwarten: darauf warten, daß jemand 
einem Wein ins Glas schenke. Omnibus heißen im Pariserischen 
auch die Weinreste, die im Wirtshaus auf den Schanktisch fließen, 
aufgefangen, gesammelt und zu besonders niedrigen Preisen verkauft 
werden. Auch die aus den Glasern der Gäste gesammelten Weinreste 
heißen omnibus. Viel verwendet wird im Pariser Argot omnibus 
renvers6e (verkehrter Omnibus) für eine Art des Geschlechts¬ 
verkehrs. Omnibus de coni heißt der Leichenwagen, omnibus ä 
pegres (übrigens auch panier ä salade, Salatkorb) der Polizeiwagen 
für Gefangene (,,die grüne Minna“). 

In England —wo die Neigung zur Wortstutzung (z. B. cab aus Cabrio¬ 
let, van aus avantgarde) besonders stark ist—erfuhr das Wort omnibus 
seine Kürzung zu bus. Bei Verdrängung der Pferdeomnibusse durch 
Autoomnibusse bürgerte sich die Bezeichnung Autobus ein. In Berlin 
kannte man die scherzhaften Bildungen Pferdebus (so z. B. in dem 
berühmten Tanzlied der Vorkriegszeit, dem ,,Rixdorfer“) und 
Schaukelbus. Das Schweizerische Idiotikon verzeichnet, besonders 
aus Zürich und Bern, eine Reihe von scherzhaften Synonymen für 
Omnibus: Rollibus, Ronimus, Monnibus, Rummlibus, Rumpelibus. 
In Wien nennt eine Firma ihre großen Wagen für Gesellschafts¬ 
reisen Austrobusse. Die Silbe Bus wird in all diesen Fällen so be¬ 
handelt, wie wenn sie ein sinnvolles Hauptwort wäre, obschon sie 
eigentlich nicht einmal die Verstümmelung eines Hauptwortes dar¬ 
stellt, nur die Verstümmelung der lateinischen Deklinationsendung 
-ibus. 

So wie Omnibus findet auch das neuere Wort Autobus reichlich 
Verwendung in der niederen Umgangssprache. Wir erwähnen nur 

i) Den Omnibus selbst nannte man im Pariser Argot der Vorkriegszeit auch 
aie-aie (nach dem Ermunterungsruf der Kutscher an die Pferde) und omnicroche 
(zu accrocher, Aneinanderfahren von Fuhrwerken). 


271 




zwei Beispiele aus der Schützengrabensprache der französischen 
Soldaten im Weltkrieg. Autobus nannten die Poilus große Geschosse 
der deutschen Artillerie, weil sie beim Eintreffen an ihrem Be¬ 
stimmungsort einen großen Krach machten, wie ein plötzlich 
haltender Autobus; zu dieser Bedeutung von autobus tragt natürlich 
auch bei der Anklang an obus = Artilleriegeschoß (aus deutsch 
Haubitze, das zur Zeit der Hussitenkriege aus tschechisch houfnice 
= Steinschleuder entstanden ist). Auch das Fleisch nannten die 
französischen Truppen autobus. Sainean meint, darum, weil das 
Fleisch in großen Kraftwagen zu den Truppen im Felde gebracht 
wurde. Plausibler erscheint die Annahme von Esnault, daß in dieser 
Bezeichnung eine Anspielung auf die Zähigkeit des Fleisches liegt, 
über die die Truppen sich oft zu beklagen hatten. Gemeint wäre 
mit der Bezeichnung Autobus, daß das Fleisch so hart sei wie die 
Gummireifen der Autobusse. Für diese Auffassung spricht, daß die 
Soldaten das Fleisch auch michelin (nach einer bekannten Firma 
für Bereifungen), elastique und bifteck de bicyclette nannten. 

PAPPE, PAPPENSTIEL 

Pappe bedeutet eigentlich Brei, Kinderspeise und ist offenbar ein 
die Eßbewegung verlautlichendes Lallwort der Kindersprache. (Vgl. 
lateinisch pappare = essen, im Wienerischen papperln, ein Papperl 
machen, ferner aufpäppeln = füttern, ein Kind aufziehen.) Auch der 
zum Kleben verwendete Mehlkleister heißt in oberdeutschen Mund¬ 
arten ,,der Papp“, und daraus entsteht ,,die Pappe“ der Buchbinder 
oder als Bezeichnung des Packmaterials, weil diese dicken Deckel 
früher, als sie noch im Handbetrieb hergestellt wurden, aus mehreren 
durch Pappschichten, d. h. Kleisterschichten, verbundenen Papier¬ 
lagen bestanden. 

Die Redensart das ist nicht aus Pappe ist entweder so zu 
verstehen: das ist nichts Zartes für Kinder, sondern etwas Kräf¬ 
tigeres; oder: das ist nicht aus Pappendeckel, sondern aus festerem 
und teurerem Material. 

Der Ausdruck Pappenstiel zur Bezeichnung von etwas Wert¬ 
losem hat aber mit Pappe = Brei = Pappendeckel nichts zu tun. 
Pappenstiel bedeutet den Stiel des Löwenzahns (Leontodon taraxa- 
cum). Diese Blume, die im Volksmund viele Namen hat 1 , hieß 

i) Aus dem im ,,Wortschatz“ von F. Domseiffangeführten 120 Synonymen 
für den ,,gemeinen Löwenzahn“ führen wir an: Hundeblume, Teufelsblume, 


272 



früher auch Papenblume (mittelniederdeutsch papenblome). Diesen 
Blnmennamen deutet Wasserzieher wie folgt: Pape ist die platt¬ 
deutsche Form von Pfaffe, das früher ohne üblen Nebensinn den 
Geistlichen bedeutete (von spätgriechisch papas, woher auch 
Papst); der Löwenzahn habe also eigentlich Pfaffenblume geheißen 
(warum?). Besser begründet ist die Ableitung von Papenblume aus 
lateinisch pappus = Samenkrone. Die kugelförmige Samenkrone des 
Löwenzahns ist jedenfalls eine auffällige Erscheinung (,,Männer¬ 
treue 4 4 heißt sie auch, weil man sie mit einem Hauch zerstören 
kann) und geeignet, bei der volkstümlichen Benennung der Pflanze 
berücksichtigt zu werden. Der hohle Stiel des sehr häufigen 
Löwenzahns dient bekanntlich, obschon er sehr leicht bricht, den 
Kindern zu allerlei Spielereien, z. B. zum Kettenflechten, und 
was nicht einmal einen Pappenstiel wert ist, muß offenbar sogar 
weniger Wert haben als das, was keinen Pfifferling (= Eier¬ 
schwamm) wert ist. 

Die Form Pappenstiel statt Pappenblumenstiel ist eine so¬ 
genannte 

elliptische Zusammensetzung 

oder Klammerform (nach dem Vorschläge von J. Miedel: 
Schrumpf- oder Schwundnamen). Das Schema solcher Zusammen¬ 
setzungen ist meistens AB+C ergibt nicht ABC, sondern AC, 
z. B. Ölzweig statt Ölbaum-zweig, Nadelwald statt Nadelholz¬ 
wald, Palmöl statt Palmkem-Öl, Drachensaat statt Drachenzahn¬ 
saat, Bierdeckel statt Bierkrug-deckel, Stellmacher statt Stellwagen¬ 
macher, Weißbäcker statt Weißbrot-bäcker; in Thüringen kornblau 
und Schnitthändler statt kornblumen-blau (denn das Korn ist doch 
nicht blau) und Schnittwaren-händler. 

Seltener sind jene Fälle, wo die Zusammensetzung von A + BC 
zu AC führt, wie z. B. Haupthahn statt Haupt-gashahn oder Haupt¬ 
wasserhahn. 


Saubleaml (bayrisch-österreichisch), Saustock (Böhmerwald), Schmalzblume 
(Egerland, Schweiz), Maiblume (bayrisch-österreichisch: Maibuschen), März¬ 
blume (schweizerisch: Merzestock), Kettenblume (Eifel: Kettenbleich,Schweiz: 
Chettenestöck), Milchdistel (Oberhessen), Bettpisser (Hessen), Bettebrunz- 
kraut (Baden), Bettbrunzersalat (Elsaß), Seichkraut (schwäbisch: Seicherin), 
Pustblume (plattdeutsch), Franzosesalat (schweizerisch), Bißaugli, Bißaugi 
(Baden, Elsaß), Pfaffebusch (Oberhessen), Pampelblume (Schlesien), Bombeilen 
(Thüringen) usw. 


273 




Auch Ortsnamen zeigen häufig den elliptischen Vorgang: wie 
z. B. Salzburg aus Salzach-burg, Feldsee aus Feldberg-see. Aus 
Zugwald-spitze (Zugwald = Wald, der im Zug der Lawinen liegt) 
wurde der Namen Zugspitze. 

Die Bezeichnung Klammerform könnte übrigens auch für einen 
anderen Typus der Zusammensetzung gelten, für jenen, wo A B und A 
(z. B. Wasserleitungs-wasser, Warenhaus-waren) oder A und B A (z. B. 
Geld-entgelt) zusammengeraten. Nicht sehr glücklich bezeichnet 
R. M. Meyer solche Zusammensetzungen als „Inselworte“ (mit der 
Begründung: weil ein Wort von einem anderen, wie von zwei Armen 
desselben Flusses, eingeschlossen wird). 

PATHOS, PATHETISCH 

Aus griechisch pathos = Leiden, Leidenschaft und lateinisch pati 
= leiden entwickelt sich eine vielköpfige Fremdwortfamilie: Pathos, 
pathetisch, Pathologie, apathisch, Allopathie, Homöopathie, Sym¬ 
pathie 1 , sympathisch, sympathisieren, simpathetisch, Antipathie, 
Patient, Patience, passiv, Passivität usw. 

Hier wollen wir uns nur mit der Frage der Ersetzbarkeit der 
beiden Fremdwörter Pathos und pathetisch beschäftigen. Eduard 
Engel, der Fremdworttöter, ist sehr aufgebracht gegen Pathos, das 
„Schwammwort der Ästheten für alles Mögliche“. Aber mit Leiden 
und Leidenschaft ist Pathos nur in wenigen Fällen ausreichend zu 
ersetzen. Man beachte z. B., wie Reinhold Biese in einem Aufsatz 
von Kuno Fischer (über Wallensteins Lager), das dort mehrmals 
vorkommende Wort Pathos versuchsweise durch deutsche Wörter 
ersetzt. Die komische Wirkung, schreibt Fischer, geht aus dem 
naiven Pathos hervor, und Biese verbessert: aus der naiven Äußerung 
des Selbstgefühls. (Aber warum verdeutscht er nicht auch „naiv“ ?) 
Statt Soldatenart und ihr Pathos: ihre Ruhmredigkeit. Statt des 
Pathos ihrer Leidenschaft will Biese den Stachel ihres Herzens, statt 
des Pathos des Herzens den Trieb ihres Herzens, und der niedere 
Pathos eines Wesens wird bei ihm zur niederen Tonart. 

Gegen den Vorschlag, Pathos mit Leiden oder Leidenschaft zu 
ersetzen, wendet sich Moszkowski. Im Pathos lebe nämlich auch 
eine Gehabenheit, Getragenheit, die nur dem Grade nach mit der 

i) Dem griechischen sym-pathe entspricht in der mittellateinischen Kirchen¬ 
sprache compassio, ebenfalls wörtlich Mit-leid; aus gleichbedeutenden Teilen 
setzt sich auch kon-dol-ieren zusammen. 



Leidenschaft verglichen wird, ohne selbst Leidenschaft zu werden. 
,,In der feinsten Blüte des Pathos wallet sogar die Ruhe. Beethovens 
Sonate path&tique liefert hiefür ein tönendes Beispiel und nicht 
minder Nietzsches mit Recht so berühmtes Pathos der Distanz, das 
doch wohl andere Gefühle auslöst als die bierbanklichen Nörgeleien, 
die den wundervollen Ausdruck verfolgen / 4 Man unterstelle für 
,,Pathos der Distanz 44 die ,,Leidenschaft des Abstandes 44 oder den 
,,Schwung der Entfernung 44 , und man fühlt statt der Erhabenheit 
eine leichte Komik und dazu eine innere Verdrehung des Begriffs. 
,,Sarazin nennt in seinem vortrefflichen Buche u. a. Würde, Ge¬ 
wicht, Erhabenheit, Glut, Schwung; was dazwischen liegt, nennt 
er nicht, kann er nicht geben, eben weil es dazwischenliegt . 44 

Das Pathetische ist nach Schiller (,,Über das Erhabene 44 ) ein 
,,künstliches Unglück 44 , es setzt uns ,,in unmittelbaren Verkehr 
mit dem Geistergesetz, das in unserem Busen gebietet 44 , es ist ,,eine 
Inokulation des unvermeidlichen Schicksals, wodurch es seiner Bös¬ 
artigkeit beraubt und der Angriff desselben auf die starke Seite des 
Menschen hingeleitet wird 44 . Zum Worte ,,pathetisch 44 ist aber 
heute vor allem zu bemerken, daß es im deutschen Gebrauch einen 
Beigeschmack angenommen hat, der ihm in anderen Sprachen nicht 
eigen ist, daß es aber andererseits Nuancen anderer Sprachen ver¬ 
missen läßt. Die Abweichungen des Deutschen, Französischen und 
Englischen im Gebrauche von pathetisch werden von Wilhelm 
Eitzen, einem Spezialisten im Irrgarten solcher Fragen, treffend 
dargestellt. Der Franzose meint mit seinem path£tique meist noch 
den echten Sinn: ergreifend, der Engländer mit pathetic aber sehr 
oft etwas anderes, nämlich entweder sentimental, gefühlvoll oder 
(durch Hilflosigkeit, Schwäche oder Unzulänglichkeit) rührend, 
mitleiderregend, beklagenswert, jammervoll, ja selbst erbärmlich, 
kläglich, und das geht über den französischen und deutschen Sprach¬ 
gebrauch entschieden hinaus. Wir können zwar, meint Eitzen, das 
Wort gleichfalls wohl noch für leidenschaftlich und ergreifend ver¬ 
wenden (für feierlich schon weniger), im täglichen Leben sind wir 
aber geneigt, das Wort für rührselig, theatralisch, bombastisch, 
pomphaft, schwülstig zu nehmen. Unter einem pathetischen Anblick 
können wir noch einen Anblick verstehen, der pathetisch wirkt, 
also einen ergreifenden; wird aber das Wort von einer Person ge¬ 
braucht, so beziehen wir es auf ihre Handlungen oder ihr Verhalten. 
In der deutschen Übersetzung eines Sherlock-Holmes-Romans ist 


27 S 



einmal von einem alten, gebrochenen, pathetischen Manne die 
Rede, in der Übersetzung eines Buches von Edgar Wallace vom 
pathetischen Lächeln des Opfers. In beiden Fällen war es falsch, 
das englische pathetic deutsch mit pathetisch wiederzugeben, denn 
es war von einem hilflosen, kläglichen Alten und einem hilflosen, 
kläglichen Lächeln die Rede. 

PERFID, PERFIDES ALBION 

Perfid hat die deutsche Sprache im 18 . Jahrhundert der französischen 
entnommen. Das Wort geht auf das lateinische perfidus zurück (zu 
fides = Treue). Perfidie, definiert der Seelenkenner La Bruyere, ist 
eine Lüge, an der die ganze Persönlichkeit beteiligt ist. ,,Der feine 
welsche Klang“, bemerkt der Philologe Gildemeister, ,,erweckt 
dem deutschen Ohr die Vorstellung einer besonders raffinierten, 
weltmännischen, treulosen Heimtücke.“ Gelegentlich — z. B. in 
Beethovens Fidelio — wird das Fremdwort perfid mit ,,abscheulich“ 
übersetzt. Im allgemeinen gilt perfid als unersetzbares Fremdwort. 
Man müßte auf die besondere Färbung des Begriffs verzichten, 
wollte man perfid stets durch treulos, gemein u. dgl. ersetzen. 
Schon Goethe bemerkte, daß gegen perfid unser armseliges „treu¬ 
los“ ein unschuldiges Kind sei 1 * , daß im Wort perfid für unser 
Gefühl alles enthalten sei, wovon man in den deutschen Synonymen 
treulos, tückisch, verräterisch nichts findet. In Wilhelm Meisters 
Lehrjahren sagt Aurelie, sie „finde, Gott sei Dank, kein deutsches 
Wort, um perfid in seinem ganzen Umfang auszudrücken“; perfid, 
beschreibt sie, „ist treulos mit Genuß, mit Übermut und Schaden¬ 
freude“. Und sie fügt hinzu: ,,Oh, die Ausbildung einer Nation ist 
zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Worte auszu¬ 
drücken weiß.“ 

Diese Goethestelle hat seither manchen Autor bewogen, sich 
über die offenbar unersetzliche Tiefenwirkung dieses Eigenschafts¬ 
wortes Rechenschaft zu geben. So meint z. B. Alexander Mosz- 
kowski, Goethe habe mit dem Gebrauch des Wortes perfid noch 
eine besondere Schattierung, eine ganz feine, nur dem Akzent er¬ 
reichbare treffen wollen. „Es war direkt eine Forderung des innem 
Ohres, das hier einen Jambus mit schneidendem, pfeifendem 
Anlaut wünschte . . . einen Ausdruck ,kurz-lang 4 , der wie ein 

i) Dazu Andresen: „Richtig und fein bemerkt: das deutsche Wort (treu¬ 

los) enthält einen negativen, das französische (perfid) einen positiven Begriff. ‘ * 


276 




Peitschenknall durch die Luft fährt; der nicht nur aus drückt, was 
gemeint ist, sondern als Durchzieher auf dem Objekt eine Striemen¬ 
spur hinterläßt . . . Und man darf es als ausgemacht hinnehmen, 
daß die Bezeichnung ,perfides Albion‘ niemals geflügelt geworden 
wäre, wenn es nicht im schrillen Grundwort perfid den besonderen 
Luftschwung gefunden hätte.“ Ein anderer (,,einer der neunklugen 
Verteidiger jedes Welschwortes gegen jedes deutsche“, wie ihn 
Eduard Engel, der unerbittlichste der Sprachhüter, kennzeichnet) 
wollte in perfid das Zischen der Schlange hören. Aber auch diese 
Sonderheit macht Eduard Engel dem Fremdwort streitig: ,,aus 
hinterlistig zischt die Schlange viel deutlicher, aber das vertaubte 
Welscherohr vernimmt das nicht.“ Noch anderes weiß der Fremd¬ 
wortwürger für ,, hinterlistig“ in die Waagschale zu werfen: ,,Sehen 
kann niemand etwas bei perfide; wieviel hingegen bei hinterlistig; 
den von hinten heranschleichenden listigen, gewissenlosen Schur¬ 
ken.“ Im übrigen meint Engel, jenes Beneiden der französischen 
Sprache um den Ausdruck perfid sei vom Dichter als Augenblicks¬ 
einfall in den Mund Aureliens gelegt und nicht seine eigene Meinung, 
wie wäre denn sonst zu erklären, daß Goethe selbst an keiner 
sonstigen Stelle seiner Werke und seiner Briefe dieses welsche Wort 
benützt. Der Bedarf nach dieser ,,Nuance“ sei nur aus der Über¬ 
tragung französischen Denkens entstanden; ,,wer niemals das Fran¬ 
zösische gelernt hat, also perfide gar nicht kennt, der verfällt über¬ 
haupt nicht darauf, daß er dieses Wort notwendig brauche. Der 
Deutsche empfindet doch wahrlich die Flinterlist eines treulosen 
Schurken nicht lauer als der Franzose; also wird sein Ausdruck, 
der für alles Gemeine von jeher zornig-kraftvoll genug war, hin¬ 
reichen, die Verräterei so scharf zu geißeln wie irgendein französi¬ 
sches Wort“. Verteidigt Engel die deutsche Sprache gegen die 
Möglichkeit eines Verdachtes, sie sei nicht scharf genug in der 
sprachlichen Ächtung der schurkischen Treulosigkeit, so wollen 
andere — man beachte bereits Aureliens ,,Gott sei Dank“ — einen 
Vorzug des Deutschen darin erblicken, daß es kein eigenes Wort 
zur Bezeichnung der Perfidie hat. Das Fehlen des besonderen Wortes 
beruhe nicht auf mangelnder Verurteilung dieser gemeinsten Treu¬ 
losigkeit, sondern auf dem Fehlen der Perfidie selbst im deutschen 
Leben, im deutschen Charakter. Die ganze Müßigkeit solcher ober¬ 
flächlicher Versuche, aus Abweichungen im Wortschatz grob ver¬ 
allgemeinernde volkspsychologische Folgerungen zu ziehen, die 


277 



würdelose Müßigkeit solch grotesker Diskussionen wird deutlich, 
wenn wir ihren Kern in eine konkrete Fragestellung pressen: 
welches Volk neigt mehr zur Perfidie, jenes, das zu ihrer Bezeich¬ 
nung ein scharfes Wort hat, oder jenes, das nicht einmal ein Wort 
dafür hat ? Es ist eine Frage, die parteiisch beliebig zu beantworten 
ist, und die Antwort wird stets ein Unsinn sein, eine Trainings¬ 
aufgabe für angehende Rabulisten. 

Jedenfalls bestätigen auch solche Tüfteleien, daß perfid durch 
heimtückisch, treulos, hinterlistig nicht zur Gänze wiedergegeben 
wird. Aber nicht nur durch den Streit darüber, ob und warum man 
perfid mit einem deutschen Worte nicht wiedergeben kann, offen¬ 
bart dieser Ausdruck seine von politischen Affekten getönte Eigen¬ 
art, sie äußert sich auch in dem Umstand, daß dieses Wort zum 
Aufbau eines zeitweilig vielverwendeten internationalen politischen 
Schlagwortes herangezogen worden ist. Das Schlagwort vom 
perfiden Albion ist in Paris während der großen Revolution, 
1793, volkstümlich geworden, aus der Enttäuschung der Franzosen 
über den Anschluß Englands an die frankreichfeindlichen kontinen¬ 
talen Großmächte. In der Presse der französischen Revolution 
tauchte das Schlagwort auch in Abwandlungen auf, wie perfidie 
anglaise, ile perfide (perfide Insel) usw. Attaquons dans ses eaux la 
perfide Albion, greifen wir in seinen Gewässern das perfide Albion 
an, heißt es 1793 in einem revolutionären Gedicht des Marquis 
de Ximenes. Tremble, Albion perfide, zittere, perfides Albion, ruft 
Henri Simon 1809 anläßlich der tödlichen Verwundung des Herzogs 
von Montebello (in der Schlacht von Eßling) in einer Ode aus. Neu 
belebt wurde das Schlagwort 1840 in Frankreich aus Empörung 
über den am ig. Juli von England mit Rußland, Österreich und 
Preußen abgeschlossenen Vertrag zur Unterstützung des Sultans 
gegen den ägyptischen Aufstand. ,,Mit Ausnahme der Legitimisten, 
die ihr Heil vom Auslande erwarten“, berichtete damals Heine in 
einem seiner Pariser Feuilletons, ,,versammeln sich alle Franzosen 
um die dreifarbige Fahne und Krieg mit dem ,perfiden Albion 4 ist 
ihre gemeinsame Parole.“ Im selben Jahre gebraucht Balzac (der 
übrigens gelegentlich auch das mettemichische Österreich la perfide 
Autriche nennt) die Wendung macchiav^lique Albion. Während des 
Weltkrieges ist das Schlagwort vom perfiden Albion bei den Mittel¬ 
mächten stark in Schwung gekommen. 

Übrigens ist der gegen England gerichtete Vorwurf der Perfidie, 


278 


wenngleich erst in der französischen Revolution zum allgemeinen 
Schlagwort erhoben, viel älter. Den Engländern ist von den Fran¬ 
zosen schon seit vielen Jahrhunderten immer wieder Falschheit vor¬ 
geworfen worden. „Perfida gens britonum“ — die Stelle, die man 
in Muratoris Sammlung ,,Scriptores rerum italicorum“ (Chronik 
von Este) findet — bezieht sich allerdings auf die Einwohner der 
Bretagne, nicht auf die Engländer. Aber es gibt einen richtigen Beleg 
vom Anfang des 13, Jahrhunderts: in der lateinisch geschriebenen 
Chronik des Otto von St. Blasien wird dem König Richard Löwen¬ 
herz anglica perfidia vorgehalten. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts 
bezeichnete der große Dichter, Philosoph und Naturforscher Julius 
Caesar Scaliger in seinen ,,Poetices libri“ die Angli als ,,perfidi, 
inflati, stolidi“ (treulos, aufgeblasen, dummdreist). Im Jahre 1655 
sprach einmal der berühmte Kanzelredner Bossuet in einer Metzer 
Predigt vom ,,perfide Angleterre“. Auch bei Madame de Sevign6 
lesen wir: ce perfide royaume. 

Als Vorbild des Schlagwortes von der britischen Perfidie kann 
wohl eine stehende Redensart des römischen Schrifttums gelten. 
Die Karthager galten in den Augen der Römer als besonders treulos, 
und darum hieß es: fides punica, punische Treue. Cicero münzte 
das Schlagwort auf die Griechen um. Wenn die Römer gegen Bar¬ 
zahlung kauften oder verkauften, nannten sie es scherzend: graeca 
fide mercari, mit griechischem Kredit handeln. 

PFUI 

Unter den Hypothesen über die Entstehung der Sprache gibt es drei, 
die man gewöhnlich zusammen anzuführen und mit den Spitzmarken 
Aha-Theorie, Wauwau-Theorie und Klingklang-Theorie zu kenn¬ 
zeichnen pflegte. Die Aha-Theorie besagt, die Sprache habe sich 
aus Empfindungslauten, aus Interjektionen (wie Ah, Oh, Au) ent¬ 
wickelt, die Wauwau-Theorie sieht in der Schallnachahmung 
das wichtigste Moment der Wortentstehung (wie z. B. beim Ent¬ 
stehen der Hauptwörter Glocke, Kuckuck), die Klingklang- 
Theorie, wohl die sonderbarste, will in der Sprache nichts anderes 
sehen als den Schall, den der Mensch bei Berührung mit der Außen¬ 
welt von sich gibt, weil ja doch alle Körper, wenn sie in Bewegung 
gesetzt werden, Schall erregen. 

Es ist keiner dieser Lehren auch nur halbwegs möglich, alle 
Erscheinungen der Sprache ihrem Gesichtspunkt unterzuordnen, 


279 



und es ist der kritischen Wissenschaft nicht vergönnt, heute min¬ 
destens noch nicht, derartige einfache Aussagen über die Entstehung 
der menschlichen Sprache machen zu können. Die Hypothese, die 
von den Interjektionen ausgeht, hat in vielen Fällen jedenfalls für 
sich, daß man sie in Beziehung setzen kann mit der biologischen 
Betrachtung der Gebärden. So können wir z. B. die sprachliche 
Deutung des Ausrufes Ah! auf das biologische Gebiet abschieben, 
indem wir die Frage aufwerfen, warum wir denn beim Überrascht¬ 
werden, beim Staunen ,,Maulaffen (= Maul offen) feilhalten“, d. h. 
den Mund zu jener staunenden und gleichsam empfangsbereiten 
Mundgebärdenform öffnen, die der Mundbildung beim A-Laut ent¬ 
spricht. 

Durchsichtig ist der Sinn der Lautgebärde bei dem Ausruf Pfui. 
Man könnte zwar diese Interjektion auch im Sinne der Klingklang- 
These deuten, — Pfuj sei der Schall, den der menschliche Körper 
von sich gibt, wenn etwas Übelriechendes oder -schmeckendes in 
den Bereich seiner Sinne gerät, — es ist aber doch zwangloser, diesen 
Ausruf als Begleiterscheinung einer nützlichen Gebärde aufzufassen. 
Er ist eine Abwehr gegen etwas, das unserem Geschmacks- oder 
Geruchssinn mißfällt. Wenn etwas Übelriechendes oder Übel¬ 
schmeckendes vor unsere Nase oder in unseren Mund gerät, trachten 
wir es auszuspucken oder wegzuschnauben. Dabei vollziehen Lippen 
und Nase eine Gebärde, mit der sie sich auch von den Resten des 
Unangenehmen zu befreien suchen. Wir brauchen nicht anzu¬ 
nehmen, daß das griechische phy, das lateinische fu, das franzö¬ 
sische fi 1 , das englische fie, das holländische foei, das deutsche 
pfui (mittelhochdeutsch auch fi) sprachlich in dem Sinne unter¬ 
einander verwandt sind, daß Wirkung von Sprache zu Sprache aus¬ 
ging. Es liegt wohl in allen Fällen die natürliche Sprachform für die 
zum Ausspucken, Wegpusten oder Wegschnauben 2 drängende 
Abscheu vor, für die Abwehr des Übelriechenden oder Übel¬ 
schmeckenden. Auf dieser naturgegebenen Lautgebärde bauen sich 
wohl auch einerseits Wortformen wie pusten, Puste auf, anderer¬ 
seits jene indogermanische Wortsippe zu altindisch puj = ver¬ 
wesen, zu welcher sowohl griechisch pythein, lateinisch putere, 

1) Um 1600 herum wurden die Pariser Grubenräumer (vidangeurs) amtlich 
les Maitres Fi-Fi genannt. 

2) Zur Natürlichkeit der Lautform vgl. in der nichtindogermanischen unga¬ 
rischen Sprache das Zeitwort fuj = er bläst. 


280 



französisch puer = stinken, als die deutschen Wörter ,,faur‘ und 
,,Pustel 4 ‘ gehören 1 . 

Den Lautgebärden ergeht es wie den Gebärden überhaupt. Sie 
sind nur mehr Überreste, gleichsam Symbole einst nützlicher Hand¬ 
lungen. Wenn wir plötzlich erschrecken, ziehen wir den Kopf ein 
wenig zwischen den Schultern ein, obschon diese Bewegung längst 
nicht mehr der Ansatz zu einem Sprung ist. Auch den Interjektionen 
kommt vielfach nur mehr ein abgeschwächter Charakter zu, ab¬ 
geschwächt selbst in symbolischer Hinsicht. Wir sagen auch ohne 
den Affekt des körperlichen Abscheus Pfui, wenn wir beim Spiel 
die Karten, die wir in die Hand bekommen, pessimistisch beurteilen, 
wenn wir den Hund ermahnen, nicht zu knurren, und in Hunderten 
anderen Fällen, ohne daß auch nur im Geringsten jener Grad von 
Ekel vorläge, dem doch das ursprüngliche Verhalten der Nase und 
der Lippen bei der Lautgebärde Pfui entspricht. Nichtsdestoweniger 
ist der Zusammenhang zwischen der Bedeutung von Pfui und seinen 
Nebenformen einerseits und dem organischen Ekel andererseits 
nicht ganz getilgt. Man denke nicht nur an Dichterstellen, wie , ,Puh! 
wie stank der alte Mist“ (Bürger), sondern auch daran, daß jener 
ursprüngliche stark ablehnende Sinn bei aller Abschwächung im 
Hauptton in den Nebentönen doch stets mitschwingt und unter 
Umständen gut herausgehört werden kann. Bei einer Gelegenheit 
als neckische, fast zärtliche Interjektion empfunden (,,Pfui, Sie 
Schlimmer! 2 “), kann das Wort Pfui das andere Mal als grobe Be¬ 
leidigung einen empören. So empfand z. B. Fürst Bismarck diese 

1) Kleinpaul vermutet eine Beziehung zu jener indogermanischen Wortsippe, 
die zu ,,Feind“ (althochdeutsch fiant) gehört. Das dazugehörige Zeitwort ist alt¬ 
hochdeutsch fien, gotisch fijan = hassen (gotisch faian = tadeln), altindisch 
piyati = er schmäht. Das Anpfuien wäre also ein Ausdruck der Ablehnung, 
des Hasses, wobei das Ausspeien die feindselige Kundgebung vollendet. 

2) Ich weiß von einem jungen Ehepaar, das sich für die Bezeichnung der 
ehelichen Intimitäten den Ausdruck Pfuimacherei zurechtgelegt und ihn 
auch in Freundes- und Verwandtenkreisen durchgesetzt hat. Im Briefwechsel 
zwischen Goethe und seiner Frau wird die Schwangerschaft wiederholt als 
Pfuiteufelchen bezeichnet. Weitverbreitet ist auch der Gebrauch des Aus¬ 
rufes pfui, wifc gut, besonders von weiblichen Personen gebraucht, z. B. 
nach einer Anhörung einer Zote. Hier findet im Ausruf das nicht verheimlich¬ 
bare Behagen einerseits und andererseits die konventionelle Forderung nach 
Ablehnung und Entsetzen zu gleicher Zeit Vertretung, wie etwa in gewissen, 
psychoanalytisch aufgeklärten neurotischen Symptomen das Verdrängte und die 
verdrängende Instanz. 


28l 






Interjektion, vermutlich weil sie bei ihm assoziativ irgendwie als 
der Vorwurf des üblen Geruchs in dem BedeutungsVordergrund 
stand, als besonders beleidigend. Am 18. Mai 1889 sagte er im 
Reichstag gegen einen Pfui-Ruf aus den Reihen der deutsch-frei¬ 
sinnigen Partei: „Wer mir zuruft Pfui, den nenne ich unver¬ 
schämt . . . ich lasse mir dergleichen nicht sagen. “ 

Aus Pfui ist im Deutschen auch ein Zeitwort gebildet: einen 
anpfujen. Das plattdeutsche Schimpfwort Fudikan ist nichts anderes 
als der zu einem Wort erstarrte Satz: (ich) pfuj dich an! 

Sonderbar sind die schweizerischen Ausdrücke Pfuchähni, Pfui- 
pfuchähni, d. h. wörtlich Pfuistinkurgroßvater. Sie beruhen auf der 
uralten, trotz der Verdrängung durch die Pietätsgebote der Zivilisa¬ 
tion doch durchschimmernden Verachtung der nicht mehr arbeits¬ 
fähigen, also nutzlosen alten Leute, die sich in der indogermanischen 
Vorzeit sogar in der Tötung der Greise äußerte. Übrigens ist bei 
jenen schweizerischen Schimpfwörtern auch jener assoziative Zu¬ 
sammenhang zwischen der Vorstellung des Verwesens, Stinkens und 
der des Nichtarbeitens erkennbar, auf dem die geläufige Doppel¬ 
bedeutung des deutschen Wortes „faul“ (= verwesend, stinkend 
und = träge, arbeitsunwillig) beruht. 

PFUSCHER, STÜMPER, PATZER, SUDLER USW. 

Wohl verstehen wir heute unter pfuschen allgemein: etwas 
schlecht oder nachlässig ausführen, ursprünglich bezog sich aber 
der Sinn dieses Wortes nicht auf die mindere Qualität, sondern 
auf das Unbefugte einer Tätigkeit. Das Wort Pfuscher taucht im 
16. Jahrhundert im Schrifttum auf mit der Bedeutung: ein Hand¬ 
werk unberechtigt, also ohne Zugehörigkeit zur Zunft, ausüben 1 . 
„So in ein fremdes Amt gleiten . . . Pfuscher genannt“, heißt es 
in Adrian Beiers Handwerkslexikon 1772. Dort wird auch aus¬ 
drücklich gesagt, der Pfuscher mag tüchtig und ehrlich sein, er ist 
dennoch ein Pfuscher, wenn er eingesessenen „Meistern in ihr 

1) Die große Bedeutung der strengen Ordnung des Handwerkslebens in 
früheren Jahrhunderten bekunden verschiedene Spuren in der Sprache. Wir 
verweisen auf die reiche Verwendung der Wörter Meister, meisterhaft, Meister¬ 
werk. Das Wort, mit dem man das Prüfungsstück der Gesellen, das Meister¬ 
stück, bezeichnet, sztuka (aus deutsch „Stück“), dient nun im Polnischen auch 
zur Bezeichnung der „Kunst“. Und das ungarische Wort remek, dessen ur¬ 
sprüngliche Bedeutung ebenfalls „Stück“ war, entwickelte sich dank der Ver¬ 
mittlung von mester-remek (Meisterstück) zur Bedeutung: großartig, klassisch. 


282 




Handwerk störet“. Handwerker wurden von den Herren der Zunft 
insbesondere auch dann als Pfuscher gescholten, ,,wenn sie mit 
ihren Arbeiten oder Waren wohlfeiler sind, als die obrigkeitliche 
Taxe bestimmt“ (1780). Die Herkunft des Wortes Pfuscher ist 
nicht aufgeklärt. Vielleicht kommt es von niederdeutsch huschen, 
d. h. im Busch (= heimlich, unzünftig) arbeiten. Aber andere denken 
an eine lautmalerische Herkunft. Im älteren Neuhochdeutsch be- 
zeichnete verpfuschen nämlich auch das Geräusch des aufzischenden 
Pulvers (bayrisch-österreichisch abpfuschen = schnell abbrennen, 
verglimmen); verpfuschen wäre also sinnverwandt mit verpulvern, 
aufbrauchen, unnütz verbrauchen (mundartlich auch verbumfeien, 
verfumfeien, verbumfideln, verjuchheien, versumsen). 

Wollte man mit dem Worte Pfuscher besonders das Unbefugtsein 
und die ,,Schmutzkonkurrenz“ treffen, so lag im verwandten 
Stümper von vornherein auch der Tadel der minderwertigen 
Leistung. Stümper (früher Stümpler, Stimpler) ist höchstwahrschein¬ 
lich verwandt mit Stummel, verstümmelt, stumpf und geht zurück 
auf mittelhochdeutsch stumbel = abgeschnittenes Stück. Stümper 
wäre also eigentlich ein Verstümmelter, ein Krüppel, und über¬ 
tragen : einer, der nichts Tüchtiges leisten kann. Oder nach anderer 
Auffassung: ursprünglich einer, der mit stumpfem, daher unzuläng¬ 
lichem Werkzeug etwas verrichten will. 

Im Österreichischen entspricht dem Pfuscher und dem Stümper 
der Patzer 1 . Die Herkunft von patzen ist fraglich. Vielleicht besteht 
ein Zusammenhang mit Bär = Petz und mit patzig = derb, un¬ 
geschickt (im Wienerischen auch: wichtigtuerisch). Möglich er¬ 
scheint mir aber auch, daß Patzer eine Nebenform von Pantscher 
ist. Pantsch ist (z. B. nach Unger-Khulls Steirischem Wortschatz) 
eine durcheinandergemischte Sache in wegwerfendem Sinne (z. B. 
ist gepantschter Wein soviel wie gefälschter Wein). Ein Pantscher 
in übertragenem Sinne ist: Pfuscher, Stümper. Als ,,Patzler“ be¬ 
zeichnet man im Steirischen nicht nur einen kleinen Händler 
(Greisler), sondern auch einen, der kleine, aber Aufmerksamkeit 
erfordernde Arbeiten verrichtet (Bastler). Vielleicht ist also unser 
Patzer vom Pantscher (auch Prantscher) und vom Patzler form- und 
bedeutungsgeschichtlich abhängig. Während das Zeitwort patzen 

1) Schmellers „Bayrisches Wörterbuch“ (1827 ff., 2. Aufl., 1872) kennt patzen 
nur in der Bedeutung: schlagen, hinschlagen, niederfallen, Ungeziefer töten 
und in Batznlipl, Patzenlippel = Tölpel. 


283 






auch die nur gelegentliche Ungeschicklichkeit bezeichnet (auch ein 
Meister kann mal patzen und bleibt dennoch Meister), so bedeutet 
das Hauptwort Patzer einen, der nichts anderes als patzen kann. 
Saphir beschreibt in der Skizze ,,Eine Partie Whist in der Rofrano- 
gasse“ die Patzer auf verschiedenen Betätigungsfeldern: ,,Ein Patzer 
ist ein Genie der Ungeschicklichkeit. Er kann alles — verderben, 
er versteht alles, aber er kann nichts machen, er mischt sich in alles 
und ruiniert alles, er greift alles an und verunstaltet es. Er ist ein 
Patzer, ein Flicker, aber er flickt gerade die ganze Stelle und läßt 
das Loch daneben ungeflickt . . . Ein Patzer in der Dichtkunst hat 
auch alle Reime wie ein großer Dichter, allein er patzt die Reime 
aufeinander, ungeschickt und unpassend.“ 

Sinnverwandt ist ferner das Zeitwort korksen (z. B. vom 
schlechten Billardspiel: das ist ja die höhere Korkserei). Vielleicht 
ist dieses korksen verwandt mit schweizerisch knorzen = mühselig 
an etwas herumarbeiten und doch damit nicht zu Ende kommen 
(daher Knorzer = Stümper) und mit schwäbisch gnorken = schlechte 
Arbeit machen. Kluge bringt (ver)korksen mit dem Kork in Ver¬ 
bindung : der schlecht gestöpselten Flasche werde die verunglückte 
Rede, die verpfuschte Behandlung einer Sache verglichen. 

In Ostpreußen kennt man den Ausdruck maddern = unbefugt 
mit einem Gegenstand sich zu tun machen, etwas stümperhaft aus¬ 
führen (z. B. eine Sache vermaddem); das Zeitwort kommt von 
litauisch madaroti, polnisch madrowac = pfuschen. 

Zu den Stümpern und Patzern gehört auch der Sudler. Das Wort 
ist der niederen Küchenkunst entnommen. Sudelküche (von 
,,sieden“) war im 16. und 17. Jahrhundert der süddeutsche Name 
jener Einrichtung der Feldheere, die im Norden Garküche hieß. 
Der Sudelkoch oder Garkoch machte aus Abfällen und ,,Innereien“ 
Würste, die er auf Märkten oder den Soldaten im Lager feilbot 1 . 
Leonhard Fronsperger schreibt in seinem ,,Kriegsbuch“ 1555: 
,,Der Sudler und die Sudlerin, so im Lager kochen, soll sich alle 

1) Zu bemerken ist, daß kleingehacktes Fleisch, Eingeweide, Abfälle zu 
allen Zeiten als etwas Minderwertiges galten und daß ihre Bezeichnungen daher 
auch in übertragenem Sinne gebraucht wurden. So bedeutete z. B. im Vulgär¬ 
latein minutia, minutalia nicht nur kleingehackte Speise, Eingeweide, sondern 
auch Kram, Nichtigkeiten, quisquiliae nicht nur Abfälle, sondern auch Nichtig¬ 
keiten, Possen, neniae nicht nur minderwertige Fleischspeise, sondern auch 
Geleier, Bagatelle. Aus diesem Zusammenhang ist vielleicht auch unser ,,Wurst** 
(das ist mir wurst = gleichgültig) zu erklären: von nichtig, wertlos, 


284 






Monat mit dem Profossen vertragen“ (d. h. an ihn eine freiwillige 
Geldabgabe leisten), ln einem bayrischen Schnadahüpfel heißt es: 
„Gestn bin i aufm Heumarkt beim Sudelkoch gsessn—Hab i zwelf 
Duzed Siedwürst zum Frühstück gfressn.“ Sudler ist also jemand, 
der minderwertiges Material mit geringer Sorgfalt zubereitet. Über¬ 
tragen wird der Ausdruck besonders auch auf die Handschrift und 
die schriftstellerische Leistung. Schon in einem Briefe aus dem 
Jahre 1^42 ist als Nachsatz zu lesen: ,,alles in yl (Eile) gesudelt.“ 
In der 1680 erschienenen deutschen Übersetzung der spanischen 
Fabeln des Thomas de Yriatre heißt es: ,,Ihr Volksskribenten! Ent¬ 
schuldigt eure Sudelarbeiten nicht mehr mit dem schlechten Ge¬ 
schmack des Volkes!“ Schiller gebraucht das Zeitwort einmal von 
Schauspielern: ,,sie sudlen gern, wenn sie nicht durch den Vers 
in Respekt gehalten werden.“ Als Schwaben war ihm das Wort 
jedenfalls geläufig; das Schwäbische verwendet es in vielen Zu¬ 
sammenhängen und Zusammensetzungen: ein unreines Gericht heißt 
Sudelsuppe, die Wäsche, bei der alles durcheinandergewaschen 
wird, Sudelwäsche, ein schneearmer Winter Sudelwinter. Im 
älteren Steirischen hieß der zu Hause backende Bäcker: Sudelbäck. 

Hudeln, ursprünglich nicht im geringsten sinnverwandt mit 
sudeln, bekommt— dank der Vorliebe der Volkssprache für Redens¬ 
arten mit sich reimenden ,,Zwillingswörtem“ - auch die Bedeu¬ 
tung: etwas ohne Sachkenntnis oder ohne Sorgfalt, überhastet 
verrichten. Goethe schreibt in einem Brief an Kestner 1773: 

,,schickt mir der Kerl ein Paar Ringe, so gehudelt und gesudelt.“ 
Hudeln kommt von spätmittelhochdeutsch Hudel, das wahrschein¬ 
lich mit ,,Hadern verwandt ist und wie diese Fetzen, Lumpen 
bedeutet. Der ursprüngliche Sinn von hudeln war wohl zerfetzen, 
dann übertragen: sich wie ein Haderlump benehmen. 

In der Bedeutung sich eng an Pfuschen (d. h. ohne Befugnis, 
daher heimlich arbeiten) anschließend ist der in manchen Gegenden 
Norddeutschlands übliche Ausdruck Böhnhase. Das war früher 
jemand, der heimlich auf der Böhn (,,Bühne“), d. h. auf dem Dach¬ 
boden, unzünftig Arbeit, insbesondere Schneiderarbeit, verrichtete 
und dort von den ehrenwerten Zunftangehörigen mit Hilfe der 

belanglos ist kein großer Schritt zur Bedeutung gleichgültig. (Weniger einleuchtend 
erscheint mir die Deutung bei Kluge-Götze und Richter-Weise: da die Wurst 
zwei gleiche Enden habe, sei es völlig gleichgültig, an welchem Ende sie auf¬ 
gehängt oder angeschnitten wird.) 





Polizei wie ein Hase aufgejagt werden konnte. Unrecht hat wohl in 
diesem Falle der ebenso originelle wie temperamentvolle Sprach¬ 
forscher Rudolf Kleinpaul, wenn er das Wort Böhnhase (wie übrigens 
zuerst der Schwede Perinskjöld, dem sich auch Lessing anschloß) 
von griechisch banausos (Handwerker) ableitet: ,,die Histörchen 
von der Hasenjagd sind einfältig und von etymologischen Bönhasen 
erfunden. 4 4 Böhnhase (Dachbodenhase) war übrigens schon im 
14. Jahrhundert eine niederdeutsche Scherzbezeichnung für Katze. 
Und eine übertragene Bedeutung wird auch aus einem süddeutschen 
Sprachbezirk gebucht: im Salzburgischen Dachhase (= Katze) oder 
Zaunhase (= Igel) für einen unzünftigen Zimmermann. 

Ein weiteres Synonym für Pfuscher und Böhnhase ist auch der 
veraltete rheinische Ausdruck Ferkenstecher. In den Regeln der 
Schneiderzunft zu Neuß aus dem Jahre 5 wird der Ferkenstecher 
(oder Verkenstecher) definiert: fremde Schröder (= Schneider), die 
das Amt nit, wie obgesetzt, gewonnen. Und in den Regeln der 
Deutzer Schneiderzunft von 1731 heißt es: wan sonsten die Gesellen 
von den Meistern abgehen und vor sich selbsten arbeithen würden, 
auch frembde also genannte Ferkestecher oder Bunhasen atrapiert 
werden. In Frankfurt hießen früher die Winkeladvokaten Ferkel¬ 
stecher. 

Ein außerhalb des Handwerks wenig bekannter Ausdruck für den 
Gesellen, der, ohne Meister geworden zu sein, selbständig arbeiten 
will, lautet Selbmeister. Die Etymologie ist durchsichtig. Im 
Plattdeutschen heißt es Sülfmeister. 

Ein merkwürdiges Wort haben die Franzosen für die Bezeich¬ 
nung der Pfuscherarbeit, der unberechtigt ausgeübten Berufsarbeit: 
marron (z. B. für einen Buchdrucker, einen Makler, einen 
Kutscher: imprimeur marron, courtier marron, cocher marron); 
daraus wurde das Hauptwort marronage = Winkeldruckerei. Das 
Wort marron ist vermutlich das Ergebnis einer sogenannten 
Aphairesis (wie etwa die aus ,,Apotheke 44 entstandenen Wörter 
,,Butik 44 und ,,Bodega 44 ), nämlich einer Stützung aus spanisch 
cimarron = wild. (Cimarron ist auch der Titel eines erfolgreichen 
und auch verfilmten Romans von Edna Ferber aus Amerikas aben¬ 
teuerlicher Vergangenheit.) Das Wort cimarron wurde von den 
Spaniern in den Kolonien gebraucht mit Bezug auf entlaufene Haus¬ 
tiere, die wieder in Wildheit verfallen waren, und auf entlaufene 
Negersklaven. 


286 



Übrigens bedeutet im Französischen auch das Zeitwort saboter 
(von sabot = Holzschuh) außer ,,plump daherschreiten“ auch: grob 
arbeiten, pfuschen, verpfuschen. Unsere Fremdwörter sabotieren, 
Sabotage haben bekanntlich einen engeren Sinn: mit bewußter 
Schädigungsabsicht säumig arbeiten oder industrielle Anlagen heim¬ 
lich unbrauchbar machen. 

PILATUS 

Mehrere berühmte und wohl allen christlichen Kulturvölkern ge¬ 
meinsame geflügelte Worte gibt es, die sich von Aussprüchen her¬ 
leiten, welche die Evangelien Pontius Pilatus, dem römischen Land¬ 
pfleger in Judäa, in den Mund legen. Die Frage des Römers an Jesus 
laut Johannes 18, 38: ,,Was ist Wahrheit“, wird häufig auch als 
,,die Pilatusfrage“ zitiert. Die Worte, mit denen er einige Verse 
weiter (19, g) Jesus der Menge vorstellt, werden gewöhnlich la¬ 
teinisch, in der Übersetzung der Vulgata, angeführt: ecce homo. 
Ebenso wird gewöhnlich lateinisch das Pilatuswort nach Johannes 
22 gebraucht: quod scripsi, scripsi (griechisch: ho gegrapha, 
gegrapha), was ich geschrieben habe, habe ich geschrie¬ 
ben; damit lehnt der Römer das Verlangen der Juden ab, daß die 
Kreuzesinschrift , Jesus von Nazareth, König der Juden“ (I.N.R.I.) 
wieder entfernt werde. Die symbolische Handwaschung zur Be¬ 
zeugung der Unschuld ist uns zwar bereits durch alttestamentarische 
Stellen belegt (g. Moses 21, 6, 7 und Psalm 26, 6), aber zweifellos 
sind es die symbolische Gebärde und der Ausspruch des Pilatus nach 
Matthäus 27, 24, die die Formel ,,die Hände in Unschuld 
waschen zur stehenden Redensart werden ließen. (Im Französi¬ 
schen und im Englischen wird die Redensart noch prägnanter, es 
ist gar nicht nötig, die Unschuld anzuführen: je m’en lave mes mains, 

I wash my hands of it; noch einfacher sagt der Ungar: mosom kezeimet, 
ich wasche meine Hände.) Aus der lateinischen Fassung des Pilatus¬ 
wortes über Jesus: ,, ich finde kein Fehl an ihm“ (Lukas 23, 14, Jo¬ 
hannes 18,38) entsteht das französische Scherzwort: avocate de Ponce- 
Pilate = Advokat ohne Prozesse. (Cause bedeutet nämlich französisch 
nicht nur Ursache, sondern —wie auch causa in der Umgangssprache 
deutscher Juristen - auch Prozeß; daher das evangelische ego nullam 
invenio causam scherzhaft übersetzt = ich finde keinen Prozeß.) 

Aber nicht nur im Wortschatz der Gebildeten und in ihren ge¬ 
flügelten Wörtern spiegelt sich die Gestalt des Pilatus, des 


287 



skeptischen Römers, der seine Ruhe will. Daß dem Statthalter Roms 
und seiner imrühmlichen Rolle in der evangelischen Geschichte 1 
auch in der Vorstellungswelt breiter Volksschichten ein fester Platz 
eingeräumt ist, bekunden mehrere volkstümliche sprachliche Wen¬ 
dungen. Auf Lukas 22, 11 gründet sich die Redensart ,Jemand 
von Pontius zu Pilatus schicken“. (In den Mundarten werden 
die lateinischen Namensformen entsprechend angepaßt; so sagt man 
z. B. in Graubünden von Punzi zu Palatis, im Aargau von Pontis 
zu Pilatis.) Richtig wäre natürlich das Gleichnis: von Her ödes 
zu Pilatus, da es doch auf die unklare Kompetenzabgrenzung zwischen 
dem jüdischen Tetrarchen und dem Vertreter Roms (Lukas 23, 6 
bis 11) anspielt. In den mittelalterlichen Passionsspielen unter 
freiem Himmel war gewöhnlich auf der einen Seite der Palast des 
Herodes, auf der anderen der des Pontius Pilatus dargestellt, so daß 
das Hin- und Herschicken des zu verhörenden Heilands von Pilatus 
zu Herodes und von Herodes wieder zu Pilatus sich sehr augenfällig 
gestaltete 2 . Sonderbar ist aber, daß man nur selten ,,von Herodes 
zu Pilatus“ sagt, sondern in der Regel ,,von Pontius zu Pilatus“, 
wie wenn diese zwei römische Namen zwei Personen bezeichneten. 
Offenbar liegt eine scherzhafte Verderbung des ursprünglichen Aus¬ 
druckes vor, die sich schließlich eingebürgert hat 3 . Der dänische 
Romanist Nyrop nimmt an, daß die Vorliebe für Alliterationen 
(besonders bei zusammengehörigen Personen der Sage, wie Romulus 

1) Es fehlt allerdings auch nicht an Bemühungen, den Mann, der ,,seine 
Hände in Unschuld wäscht“, nun auch vor der Geschichte reinzuwaschen, und 
in den verschiedenen literarischen Versuchen, ,,den Prozeß Jesus“ mit den 
Augen neuzeitlicher Jurisprudenz zu betrachten oder ihn gleichsam vor einem 
späten Kassationshof wieder aufzurollen, kommt der Landpfleger zu Judäa 
nicht immer schlecht weg. Übrigens gab schon 1674 e i n Student der Rechts¬ 
gelehrsamkeit, Johann Steller zu Dresden, ein Buch heraus, worin Pilatus 
in Schutz genommen wurde: er habe nur seine Pflicht erfüllt, dem angeklagten 
Jesus sei vom Standpunkte des Rechts nicht Unrecht geschehen. (Mauthner: 
,,Wer eine solche Herzensangelegenheit mit rechtsgeschichtlicher Nüchtern¬ 
heit untersuchte, der mußte wohl ein Atheist sein.“) 

2) Eine der versuchten Erklärungen für die Sitte des In-den-April-Schickens 
am 1. April (Aprilnarr) besagt, daß die mittelalterlichen Passionsspiele meistens 
anfangs April aufgeführt wurden und daß das unnütze Hin- und Herschicken 
Christi von Herodes zu Pilatus vom Volk in den unnützen Aprilaufträgen nach¬ 
geahmt worden sei. 

3) Ende des 18. Jahrhunderts war im deutschen Schrifttum noch vor¬ 
herrschend: von Herodes zu Pilato laufen; 1840 gebraucht Heine schon als 
selbstverständlich: von Pontio nach Pilato rennen. 


288 



und Remus, Peter und Paul 1 , Hengist und Horsa) die Zerlegung 
Pontius-Pilatus in gleichsam zwei Personen verursacht hat. „Das 
Resultat dieses Prozesses kann in lautlicher Beziehung als recht 
zufriedenstellend bezeichnet werden: in logischer Beziehung ist es, 
gelinde gesagt, eine ungeheuerliche Mißgeburt 2 /* Die Franzosen 
sagen übrigens nicht nur envoyer quelqu’un de Ponce ä Pilate, 
sondern, den Hohepriester hineinmengend, auch de Caiphe ä 
Pilate. 

Auch die Redensart „hineingeraten wie Pilatus ins Credo“ 
bewahrt den Namen des Römers. Sie wird angewendet, wenn jemand 
zufällig in eine fremde Angelegenheit verwickelt wird, weil nämlich 
der Heide Pilatus in der Überlieferung seinen Platz neben den 
heiligsten Gestalten hat und auch im Satze des Credo fortlebt: ich 
glaube an Jesum Christum, der gelitten hat unter Pontio Pilato. 
Es gibt auch eine Redensart: an einen denken wie an Pontius im 
Credo, d. h. ungern, unwillig an einen denken. Redensartlich ist 
der Ruhm des Pilatus gewissermaßen ein Synonym des Ruhmes jenes 
Ephesers, der den Tempel der Artemis anzündete und dessen Namen 
nach dem Willen seiner Heimatstadt nicht auf die Nachwelt hätte 
kommen dürfen, aber dennoch spriclrwörtlich geworden ist. Aller¬ 
dings unterscheidet sich der herostratische Ruhm in einem wichtigen 
Punkte von dem des Landpflegers zu Judäa: Ruhmsucht war nach 
der Überlieferung dem bequemen Römer durchaus fern. Auch war 
sein Interesse an den Vorgängen unter den Juden gering, wie es eine 
feine Erzählung von Anatole France charakterisiert; sie endet damit, 

1) Auch dieses Namenpaar forderte die redensartbildenden Kräfte der 
Volkssprache heraus. Friedrichs des Großen Ausspruch „man muß nicht Petem 
ausziehen, umb Paulen zu bekleiden“, beruht auf verbreiteten Volksredens¬ 
arten: dem Peter nehmen und dem Paul geben, to rob Peter, to pay Paul, 
ddpouiller saint Pierre pour habiller saint Paul. (Mitunter geschah es wörtlich: 
man nahm in den Kirchen den Schmuck von irgend einer Heiligenstatue und 
wendete sie einer anderen zu.) Im Bayrischen nennt man die weiblichen Brüste 
auch Peter und Pauli. — Nach Eduard Engel verdanken auch Max und Moritz 
ein Stück ihrer Volkstümlichkeit dem Stabreim. 

2) Eine andere scherzhafte Aufteilung eines Namens, wie wenn es zwei 
Personen wären, kennen wir aus der römischen Geschichte. Wie Sueton er¬ 
zählt, sagte man im Jahre 59 vor Christus, die beiden Konsule des Jahres seien 
Julius und Cäsar, weil nämlich Julius Caesars Amtsgenosse Calpumius Bibulus 
eine Null war. Einer ähnlichen Konstruktion bediente sich ein Witzwort 
Talleyrands über Maret, als dieser Herzog von Bassano wurde: ich kenne nur 
einen Menschen, der dümmer ist als Maret, und das ist der Herzog von Bassano. 


10 Storfer 


289 




daß Pilatus, als man ihn nach Jahren, fern von Jerusalem, über jenen 
Mann befragt, den er kreuzigen ließ und der nunmehr als Gottessohn 
und Heiland verehrt werde, nach einigem Nachdenken kopf¬ 
schüttelnd antwortet: je ne me rapelle pas, ich erinnere mich nicht. 
Aber dieses Mannes mit dem schlechten Gedächtnis erinnert sich 
die katholische Welt noch immer im Credo, wenn auch allerdings 
die Redensart ,,seiner gedenken, wie des Pilatus im Credo“ 
(on parle de lui comme de Pilate dans le credo) auf ein Gedenken 
im Schlechten abzielt. ,,Wen man dyn gedenckt also“ — reimt 
Thomas Murner in seiner Schelmenzunft — ,,wie pilatus im credo, 
so sollstu selten werden fro. Das ist pilatus testament, wen einer 
nach syn letsten endt uff erden lasst ein bösen namen, des all syn 
kindt sich miessent schämen.“ 

In einem anderen gedanklichen Zusammenhang kommt Judäas 
Landpfleger in einem schweizerischen Sprichwort vor: me muess 
em Pilatus mit em Kaiser dräue (drohen). Der Sinn dieser Weisheit, 
die auch im Sprichwörterschatz des Elsässers analogen Ausdruck 
findet, ist: gegen einen unangenehmen Machthaber kann man bei 
einem noch Mächtigeren Hilfe suchen. In Christoph Lehmanns 
Florilegium politicum, Lübeck 1639, heißt es: man muß Pilatum 
mit dem Kaiser schrecken! 

Auch in den Kinderspielversen (Auszählreimen) findet sich 
der Namen Pilatus. Wiener Schulkinder haben z. B. so ein Spiel¬ 
gedicht, in dem jede gerade Zeile kehrreimartig ,, Kaiser von Pilatus“ 
lautet, ohne jede ersichtliche Beziehung zum Inhalt der ungeraden 
Zeilen. (Es kommt ein Mann aus Niniveh, Kaiser von Pilatus — Was 
will der Mann von Ninive, Kaiser von Pilatus — Er will die jüngste 
Tochter haben, Kaiser von Pilatus — usw.) Wie es gerade bei solchen 
Kinderfällen oft der Fall ist, läßt sich schwer etwas über die Ent¬ 
stehung dieser unsinnig erscheinenden Zeile feststellen. Neben diesen 
Wiener Vers möchte ich einen ähnlichen Wechselgesang Frankfurter 
Kinder stellen, der so beginnt: Ich bin die Mutter aus Nonnenfeld, 
juchheisa fif lalatis, — Was will die Mutter aus Nonnenfeld, juch¬ 
heisa fif lalatis, — Sie will ihr schönes Töchterlein, juchheisa fif 
lalatis . . . Askenazy vermutet in fif lalatis (oder fif lalatus, fififf 
lala) eine Verderbung von ,,König Philippatus“. Aber es fragt 
sich, ob nicht eine lautliche Beziehung von ,,. . . -heisa fif lalatus“ 
zu ,,Kaiser von Pilatus“ besteht. (Welche Form ist die ursprüng¬ 
liche, welche die Verderbung der anderen?) 


290 



Zufolge der unsympathischen Rolle, die Pilatus spielt, dient sein 
Name gelegentlich auch als Schimpfwort. Im englischen Slang 
des 18. Jahrhunderts hieß der Pfandleiher pilate, im Weltkrieg ge¬ 
brauchten die britischen Soldaten den Namen als Spottbezeichnung 
für den Arrestfeldwebel. Bei den Neugriechen ist pilata ein Schimpf¬ 
wort mit der Bedeutung Quäler; auch die Juden werden von ihnen 
so geschimpft. Gelegentlich ist der Namen Pilatus auch zur Um¬ 
schreibung des Aborts herangezogen worden. So schreibt z. B. 
Grimmelshausen in seinem Simplizissimus, wer sein Buch satt habe, 
möge es ins Feuer, ins Wasser ,,oder wol in des Pilati heimliche 
Cantzley werffen 44 . Und die im 16. Jahrhundert nicht seltene 
euphemistische Bezeichnung ,,den Pilatus besuchen soll sogar auf 
Luther zurückgehen. (Man sagte auch ,,den Herodes besuchen 44 , 
und in Bayern hört man gelegentlich auch ,,Herodes 4 4 als Be¬ 
zeichnung für das Gesäß.) Das Entstehen der Gleichung Pilatus 
=±= Abort ist sehr sonderbar. Johannes 18,33 l st zu lesen, daß Pilatus, 
nachdem er mit den auf dem freien Platze versammelten Juden 
gesprochen hatte, wieder ins Gerichtshaus (praetorium) hineinging. 
Johannes 18, 38 kommt der Römer (mit den Worten ,,ich finde 
an ihm keinen Fehl 44 ) wieder zu den Juden heraus. Dieses ,,Gericht¬ 
haus 4 4 gibt nun im 9. Jahrhundert der Mönch Otfried in seiner 
deutschen Bearbeitung der evangelischen Geschichte mit „sprach- 
hus 44 wieder, welches Wort in den Althochdeutschen Glossen ein¬ 
mal für latrina (Abort) steht: ,,der Witz eines lateinkundigen Spa߬ 
vogels hat früh Anklang gefunden, der Pilatus ansinnt, er habe 
zwischen Joh. 18, 33 und 38 den Abort aufgesucht 44 (Götze, Kluge). 
So hatte ,,Sprachhaus 44 bis in die neuhochdeutsche Zeit neben der 
Bedeutung Rathaus auch die von Abort 1 , und das in diesem an¬ 
rüchigen Bedeutungsbezirk verwendete Hauptwort Pilatus ist eigent¬ 
lich eine Abkürzung für: Sprachhaus des Pilatus (,,des Pilati heim¬ 
liche Cantzley 44 ). 

Der Berg Pilatus bei Luzern hat eigentlich mit dem Namen des 
römischen Beamten nichts zu tun. Es knüpft sich zwar eine Namens¬ 
sage an den Berg, Pontius Pilatus habe, vom schlechten Gewissen 
geplagt, Selbstmord begangen, und sein friedloser Geist sei dann 

1) So gab es z. B. in Straßburg im 1g. Jahrhundert längst der 111 an der 
Hinterseite der Häuser ,,hangende sprochhüser“, hinausgebaute Abtritte, und 
unter dem Namen „gemeine Sprochhüser“ (oder loublin, d. h. kleine Lauben) 
öffentliche Bedürfnisanstalten. 

10* 


291 





auf diesen wüsten Berg gebannt worden 1 . Auf dem Gipfel thront 
er nun und schickt bisweilen böse Gewitter ins Tal. Nach einer 
anderen Sage habe ein fahrender Student den bösen Geist schließlich 
vom Berg heruntergelockt und ihn beschworen, sich in der Tiefe 
des Vierwaldstättersees zu verbergen: reizt man ihn dort, wird der 
See unruhig. Am Karfreitag, während alle Menschen in den Kirchen 
sind, komme Pilatus aus der Tiefe gestiegen und weile einige Zeit 
auf der Oberfläche der Seemitte. Nach einer anderen Sage sei der 
auf dem Schweizer Berge geisternde Pilatus der Sohn einer Mainzer 
Müllerstochter namens Pila, während er nach einem schon von 
Otto von Freising angeführten Vers aus Forchheim stammen soll, 
wo man früher noch seine roten Hosen gezeigt hat. Im 16. Jahr¬ 
hundert war das Besteigen des Pilatus ,,by lib und guot“ verboten, 
wie der Luzerner Schilling meldet. In Felix Hemmerlins Buch ,,De 
nobilitate“ (i 5^40) wird gesagt, wer beim Pilatussee den Namen Pila¬ 
tus nenne, werde bei klarstem Wetter von Ungewitter überrascht. 

Aber all diese Pilatussagen knüpfen sich erst nachträglich an den 
Namen des Berges. Da seine Kuppe oft von Nebel und Wolken um¬ 
geben ist, hieß er bei den Geographen des Mittelalters (neben 
Frakmunt aus fractus mons = zerklüfteter Berg) auch mons pileatus, 
der behütete Berg (von lateinisch pilea = Hut). Daraus machte der 
Volksmund Pilatus. Das Bild, daß der Nebel um die Kuppe ein Hut 
sei, tritt übrigens nicht nur in lateinischen Namen auf, es ist auch 
in einer Wetterregel vertreten: hat Pilatus einen Hut, wird das 
Wetter morgen gut. 

POLKA, POLONÄSE, MAZURKA 

Im Jahre 1840 kam in Paris, wo schon oft Tänze entferntester Her¬ 
kunft ihren Siegeslauf über den Erdball angetreten haben, die Polka, 

1) Auch in Italien gibt es, neben Scariollo, dem vermeintlichen Geburtsort 
des Judas, einen Berg namens Pilato, der nach der Sage von bösen Geistern 
bevorzugt wird. Im 14. Jahrhundert mußte der kleine See auf diesem Pilatus¬ 
berge ständig bewacht werden, um zu verhindern, daß ,,Zauberer“ an diesem 
See ihre magischen Bücher weihen und dadurch große Stürme verursachen. 
Auch den kleinen Hochsee auf dem schweizerischen Pilatusberg durfte jahr¬ 
hundertelang niemand ohne Erlaubnis des Luzerner Magistrats besuchen und 
die dortigen Schäfer wurden eidlich, und zwar jedes Jahr von neuem, ver¬ 
pflichtet, niemals einen Fremden hinzuführen. Vom Luzerner Pfarrer Johann 
Müller, der sich 1^84 gegen diese abergläubischen Vorstellungen wandte, war 
dieses jedenfalls eine große Kühnheit. 


292 





ein lebhafter Tanz im Dreivierteltakt, in Mode und verbreitete sich 
von dort rasch in allen Kulturländern. (,,Polka, Polka tanz ich gern 
mit dem schönen, jungen Herrn“, sang man überall in Deutsch¬ 
land.) In den fünfziger Jahren wurde Polka in Berlin ein Modewort 
etwa mit der Bedeutung elegant, fesch, flott, lustig; später besonders 
auch im tadelnden Sinne für unwürdige, lächerliche Erscheinung, 
auffälliges Benehmen. Man gebrauchte Wörter wie Polkakneipe, 
Polkabier, Polkafrisur (für aufwärts gebürstetes Haar, auch Barbier¬ 
tolle genannt), Polkapelz, Polkabiber. Gottfried Keller nennt 18p 
in einem Gedicht die Berliner Matthäikirche Polkakirche, und auch 
bei Lassalle kommt diese Bezeichnung vor. Bei der Kavallerie war 
es üblich, das unbeliebte Fußexerzieren als Fußpolka zu bezeichnen. 
Schwäbische und elsässische Bauern nannten noch lange im Nacken 
gradlinig abgeschnittenes Haar (bei Männern): Polkahaar. (Die in 
den ersten Jahren nach dem Krieg gelegentlich aufgekommenen 
Benennungen nach Modetänzen, wie Tangofarbe, Shimmybluse u. dgl., 
erwiesen sich nicht so langlebig.) Nach England gelangte die Polka 
1840; vier Jahre später spricht Captain Marryat in seinen Erinne¬ 
rungen bereits von einer Polkaepidemie. Eine eng anliegende 
gestrickte Frauenjacke bezeichnete man in England als polka-jacket 
(hier bedeutet polka offenbar: fesch). In Amerika wird jenes aus 
hellen und dunklen Quadraten gebildete Stoffmuster, das wir mit 
einem spanischen Frauennamen als Pepita bezeichnen, polka-points, 
Polkapunkte, genannt. In Pariser Verbrecherkreisen war Polka 
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die Bezeichnung für obszöne 
Photos und sonstige obszöne Gegenstände und für deren Verkäufer 

Polka selbst faßte man etymologisch als ein polnisches 
Eigenschaftswort mit der Bedeutung ,,polnisch“ auf und verknüpfte 
damit die Vorstellung, der Tanz sei polnischer Herkunft. In Wirk¬ 
lichkeit handelt es sich um einen tschechoslowakischen Volkstanz, 
der in der Gegend von Gitschin in bürgerliche Kreise gedrungen 
war und von dort 1835- nach Prag verpflanzt wurde. Das Wort dürfte 
also tschechisch zu deuten sein: von pulka = Halbschritt (zu pul 
= halb). 

Hingegen trifft die polnische Abstammung zu beim Tanz 
Polonäse, in Deutschland vor etwa zweihundert Jahren über¬ 
nommen aus französisch polonaise, Abkürzung von dance polonaise. 
Da sich bei der Polonäse die Paare in langer Reihe hintereinander 


geworden. 
Das 'Wo 


293 



aufstellten, nannte man in Deutschland im Weltkrieg die traurigen 
langen Menschenreihen vor den Lebensmittelgeschäften mit bitterem 
Humor „Polonäse* *; man sprach so von Brotpolonäsen, Margarine¬ 
polonäsen usw. (In Österreich „stellte man sich an“ oder stand 
,,Queue** oder „Schlange**.) 

Der Tanz Mazurka, in Deutschland hof- und gesellschaftsfähig 
geworden zur Zeit von Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen, 
der gleichzeitig König von Polen war, heißt nach dem polnischen 
Stamme der Masuren. 

PORZELLAN 

In vereinzelten Stücken kam chinesisches Porzellan seit ungefähr 
1300 nach Europa. Gegen Ende des 15-. Jahrhunderts gelangten 
durch Vermittlung arabischer und portugiesischer Händler die 
feinen chinesischen und japanischen Tonwaren in größerer Anzahl 
nach Italien. Bald entwickelte sich in Europa ein regelrechter Ein¬ 
fuhrhandel mit Porzellan, an dem nim besonders auch holländische 
Seefahrer teil hatten. Der chinesische Namen dieser Töpferware 
war und ist noch heute tseki. Schon im 16. Jahrhundert finden wir 
in Italien den Namen porcellana. Um zu erklären, wie es zu diesen 
Namen kam, müssen wir auf einen technologischen Irrtum und zwei 
sexualsymbolische Bedeutungsübertragungen eingehen. 

Da man einen wichtigen Bestandteil der chinesischen Tonware, 
der später nach der Stadt Kaoling Kaolinerde benannt wurde, in 
Europa damals noch nicht kannte, erging man sich in Italien in 
Vermutungen über die Zusammensetzung des feinen Stoffes und 
gelangte so zur Meinung, nur aus Seemuscheln könne man so eine 
feine und glänzende, leichte und dennoch harte Tonware herstellen. 

Die Seemuschel aber, d. h. ihre aufklaffende Öffnung, forderte 
seit jeher die Phantasie zu einem Vergleich mit dem weiblichen 
Geschlechtsteil heraus. Wir nennen z. B. den lateinischen 
Namen Concha veneris, Venusmuschel. Auch beim deutschen Wort 
Muschel (nah verwandt mit Muskel) aus lateinisch musculus 
= Mäuschen wird vielleicht angesichts der häufigen Verwendung 
von Mäuschen in erotischem Sinne und als Kosewort an eine ähn¬ 
liche Metapher zu denken sein. Französisch hieß die Muschel auch 
pucellage = Jungfernschaft. 

Der volkstümliche Namen der Muschel in Italien war aber 
porcella = Schweinchen. Das ist nicht etwa so zu verstehen, als 


294 







wäre eine unmittelbare Übertragung vom Begriff des Ferkels auf 
den der Muschel erfolgt; man muß vielmehr wissen, daß schon 
porcella selbst in übertragenem Sinne das weibliche Geschlechts¬ 
organ bezeichnet. Schon bei den Römern (bei Varro) findet sich 
porcus, Schwein mit der Bedeutung weibliche Scham. (Bei Cato 
mit gleicher Bedeutung: porca.) Im 16. Jahrhundert hat man in 
Frankreich die Prostituierten truies = Säue genannt. Den Gebrauch 
des Ausdruckes Schweinerei (cochonnerie) in sexueller Beziehung 
weisen viele Sprachen auf. Der Übertragung von Schwein auf 
vagina liegt eine moralisierende Gleichung, jener von vagina auf 
Muschel eine optisch eingestellte zugrunde. 

Der Vorgang bei der Entstehung des Wortes Porzellan ist also 
der folgende: Aus der Auffassung des Schweines als eines unreinen, 
sinnlichen Tieres gibt man der weiblichen Scham den Namen 
Schweinchen und überträgt dann von dort diesen Namen auch auf die 
äußerlich an das weibliche Organ erinnernde Seemuschel 1 . Und da man 
des weiteren fälschlicherweise annahm, daß die chinesische Töpfer¬ 
ware aus zerstoßenen Seemuscheln bereitet wird, nannte man sie 
Porzellan = Seemuschliges. Auf diesem mehrfachen Umweg gelangt 
der lateinische Namen des Schweines in das Wort Porzellan. 

Das italienische porcellana wurde in Frankreich zunächst zu 
porchelaine, woraus dann in Deutschland (nachdem die in West¬ 
deutschland aufgekommene Form Birschdelin sich nicht durch¬ 
gesetzt hatte) Porzellan wurde 2 . 

Schließlich seien noch aus der Umgangssprache einige Zusammen¬ 
setzungen mit Porzellan angeführt. 

Helle, steif gebügelte Hosen, wie sie früher in Mode waren, 
nannte man Porzellanhosen (Berliner Redensart: Mensch, zer- 
brech dir man nicht deine Porzellanhosen). Im deutschen Heere 
nannte man die weißen, daher sehr empfindlichen Sonntagshosen 
Porzellanbuxen, übrigens auch die grauen Drillichhosen. Auch in 

1) In der Bretagne nennt das Volk ein dort häufig vorkommendes ein- 
schaliges Muscheltier petit cochon (Schweinchen). 

2) Während die meisten europäischen Sprachen Bezeichnungen verwenden, 
die auf das italienische porcellana zurückgehen, haben die Namen des Porzellans 
im Rumänischen und in den slawischen Sprachen eine andere Herkunft. Rumä¬ 
nisch farfurie (bedeutet auch Teller), russisch und bulgarisch farfor, polnisch 
farfura kommt von arabisch fagfur, Titel des Kaisers von China (arabische Form 
von persisch bagbur = Sohn des Himmels, Übersetzung des chinesischen Titels 
tien-tse). 




der österreichisch-ungarischen Armee hieß die elegante, helle, 
enge Hose, die durch ,,Strupfen“ stramm gehalten wurde, Porzellan¬ 
hose (oder nach einem Grafen Pejachevich, einem eleganten General, 
auch Pejachevichhose, oder kurz Pejachevich). 

Die Grundlage für die sprachliche Übertragung beim Ausdruck 
Porzellanhosen ist die Vorstellung von Empfindlichkeit, vom Auf- 
passenmüssen (scherzhaft: ,,Vorsicht ist die Mutter der Porzellan¬ 
kiste“ statt ,,der Weisheit“ 1 ). Diese Vorstellung liegt auch dem 
drastischen Terminus Porzellanfahrt, Porzellanfuhr zugrunde. 
Der Große Brockhaus definiert in seiner neuesten Auflage diesen 
Begriff: ,,ziellose, langsame Wagenfahrt einer von einem Liebes¬ 
paar besetzten Droschke; allgemein: vorsichtige Fahrt.“ Mit der 
Verdrängung der Pferdekutschen durch den Kraftwagen ist auch 
dieser Ausdruck museal geworden 2 . 

Kein tieferer Sinn liegt wohl der französischen Bezeichnung 
noce de porcelaine, Porzellanhochzeit, für den 20. Hochzeits¬ 
tag zugrunde. Der Ausdruck entstand wohl aus dem Bedürfnis, 
neben dem silbernen (den 2^.), dem goldenen (^o.) und dem 
diamantenen (75.) Hochzeitstag noch einige Zwischenjubiläen mit 
abgestuften Materialnamen zu bezeichnen 3 . 

PYJAMA 

= Schlafanzug für Männer wie für Frauen wird im Deutschen sowohl 
mit männlichem als mit sächlichem Artikel gebraucht. Als Ver¬ 
deutschung ist in der Modezeitschrift ,,Die schöne Frau“ Ende 
1933 ,,Betthose“ vorgeschlagen worden. Wir haben das Wort 
Pyjama von den Engländern übernommen, die es in Indien auf¬ 
gegriffen hatten. Im Hindostanischen bedeutet aber paejama 

1) Die Travestierung des ursprünglichen Sprichworts dürften zuerst die 
Holländer besorgt haben (voorzichtigheid is de moeder van de porseleinkast). 

2) Die „Porzellankiste“ (,,Borzenelle Kasten“) auf den alten Frankfurter 
Rummelplätzen (,,Juxplätzen“), wo sich die Kinder am Borzenellekastemann 
erfreuten, hat nichts mit dem Porzellan zu tun, es liegt eine Verballhornung von 
Polichinell vor. Die frankfurterische Lautform von Porzellan ist Borschelin. 

3) Ohne daß sie sich wirklich allgemein durchgesetzt hätte, gibt es so eine 
französische Skala, innerhalb der die 1. Wiederkehr des Hochzeitstages als 
noce de coton, Baumwollhochzeit bezeichnet wird, die 2. als Papierhochzeit 
(de papier), die 3. als Leder- (cuir), die 4. als Holz- (bois), die 7. als Woll¬ 
garne), die 10. als Zinn- (etain), die 12. als Seiden- (soie), die i£. als Kristall- 
(cristal), die 20. als Porzellan-, die 30. als Perlen-, die 40. als Rubinhochzeit 
(noce de rubis). 


296 








(möglicherweise aus persisch pai = Fuß und gamä = Gewand) nicht 
einen Schlafanzug, sondern nur die um die Hüfte geknüpften losen 
Hosen, wie sie in Indien in ärmeren Bevölkerungsschichten von 
Männern und Frauen getragen werden. Unrichtig ist die häufig 
anzutreffende Behauptung, das Wort Pyjama sei chinesischen oder 
japanischen Ursprungs. Ebenso sind 

neuindischer Herkunft, 

und nicht etwa chinesischer, die Wörter Mandarin (s. dieses 
Stichwort) und Kuli (nach dem Stamme der Koli im westlichen 
Indien, dessen Söhne sich als Arbeiter in die Fremde verdingen 1 ). 

Von sonstigen internationalen Wörtern indischer Herkunft (wir 
meinen hier die durch neuzeitliche Berührung vermittelten und 
nicht etwa die aus dem älteren Verkehr über Vorderasien her¬ 
rührenden 2 oder gar die auf der indogermanischen Verwandtschaft 
zum Sanskrit beruhenden) nennen wir: Kakhi = staubfarben (als 
Uniformfarbe khakee von den Engländern Mitte des vorigen Jahr¬ 
hunderts aufgegriffen), Kaliko (nach dem Kattungewerbe der Stadt 
Kalikut schon im 16. Jahrhundert europäischer Namen eines leinen¬ 
artigen Baumwollgewebes), Jute aus hindostanisch jhuta = kraus 
(wegen der stark gewellten Wurzel der Jutapflanze, Corchoris 
capsularis, deren Fasern um 1830 herum in die europäische Textil¬ 
industrie gelangten), schamponieren (aus angloindisch shampoo, 
das auf hindostanisch champua = kneten, pressen zurückgeht, so 
daß ursprünglich nicht das Kopfwäschen, sondern ein Bad mit 
Massage gemeint war) und Veranda (taucht zuerst 1497 im Bericht 
des Vasco da Gama über seine berühmte Indienfahrt auf, nach indisch 
varar^da == gedeckter, nach vorne offener Vorraum, und übergeht aus 
dem Portugiesischen ins Spanische: baranda, und ins Katalanische: 
barana). Man vgl. ferner die unter besonderen Stichwörtern 

1) Vgl. S. 73. 

2) Zu dieser Gruppe (bei denen die Vermittlung oft durch das persische 
erfolgt, von wo die Wurzeln den Weg entweder über Griechisch und Lateinisch 
oder über Arabisch zunächst in die romanischen Sprachen nehmen) gehören 
u. a.: Zucker aus altindisch £arkara über persisch schakar, arabisch sokkar; 
Pfeffer aus altindisch pippali über lateinisch piper (dazu auch Paprika); 
Reis aus altindisch wrihi über griechisch oryza; Kampfer aus altindisch karpura 
über arabisch kafur; Moschus (der Saft aus dem Beutel des Moschustieres) 
und Muskat (nuß) aus altindisch mushkas = Hode über persisch muschk, 
arabisch musk; Opal aus altindisch upala = Stein über griechisch opalos. 


297 




behandelten indischen Wörter Dumdum (dort auch Punsch, 
Mull und Mungo) und Tank. 

Zu den in der Neuzeit aus Indien importierten Wörtern gehören 
auch solche, die eigentlich semitischer Herkunft sind und von den 
Arabern nach Indien verpflanzt wurden. Beispiele dafür sind: 
Nabob, im Arabischen == Statthalter, dann in Indien besonders für 
reiche Beamte und jetzt für einen sehr reichen Mann überhaupt 
verwendet, und Arrak, eigentlich araq = Saft, welchen Namen die 
Araber in Indien dem aus Reis hergestellten Branntwein gaben. 

RABE, RAPPE, BERAPPEN 

Rabe und Rappe bedeuten ursprünglich — ebenso wie Knabe und 
Knappe, Reiter und Ritter, Schneider und Schnitter, Beet und Bett, 
Stadt und Stätte, schlaff und schlapp, feist und fett — dasselbe. 

Von althochdeutsch rabo, hraban, das wahrscheinlich dem Schrei 
des Vogels nachgebildet ist, kommt sowohl die neuhochdeutsche 
Form Rabe als dessen Nebenform Rappe, das seit der ersten Hälfte 
des 16. Jahrhunderts (ältester Beleg 1^31) auch für ein schwarzes 
Pferd gebraucht wird. Aber die Form Rappe wurde auch für den 
Vogel gebraucht, so wurden z. B. in schweizerischen Bibelausgaben 
Luthers Raben auf Rappen verbessert. Und wenn Luthers Zeit¬ 
genosse Sebastian Franck in übertragenem Sinne (entsprechend der 
auf das Alte Testament zurückgehenden Metapher ,,Mohren¬ 
wäsche“) ,,einen Rappen baden“ schreibt, so meint er den schwar¬ 
zen Vogel. Die Übertragung des Vogelnamens auf das schwarze 
Pferd erfolgte in der gleichen metaphorischen Art wie die des 
Namens des Fuchses auf das rote Pferd. (Man vgl. ferner im Fran¬ 
zösischen : pie = Elster und schwarzweißgeschecktes Pferd.) Über 
Rabe und Rappe hat übrigens Rückert ein Rätsel gedichtet, dessen 
erste Strophe lautet: Weich bin ich schwarz, schwarz bin ich hart — 
Doch ist das Harte doppelt; — Weich hab ich manchen Schatz 
verscharrt, — Hart geh’ ich oft gekoppelt. 

Wundt nimmt für Rabe und Rappe an, daß, da beide Aussprachen 
in gemischter Bedeutung aus verschiedenen Mundarten sich über 
ein gemeinsames Sprachgebiet verbreiteten, lautmalerisch unter¬ 
schieden werden konnte, d. h. daß die Lautform Rabe sich dem 
krächzenden Ruf des Vogels anschloß, während die Lautform Rappe 
mit dem Hufschlag des Pferdes harmonierte. Indes hat diese Annahme 
eines ,,korrelativen Bedeutungswandels“ wenig Anklang gefunden. 


298 




Der Rappen (heute die deutsche Bezeichnung des Centime in 
der Schweiz, i Franken = ioo Rappen) war ursprünglich eine in 
Freiburg geprägte Münze mit einem Adlerkopf, dem Adler der 
Zähringer, der offenbar nicht einwandfrei als solcher erkennbar 
war, da er vom Volke als Rappe (Rabe) angesehen oder verspottet 
wurde. Auch eine andere Schweizer Münze hieß nach dem auf 
ihr abgebildeten Tier: Batzen hießen ursprünglich die Ende des 
i£. Jahrhunderts in Bern geprägten Münzen, Dickpfennige, die das 
Bild des Berner Wappentieres, des Bären, trugen. Batzen kommt 
von mittelhochdeutsch Betzen oder Betz (daher Meister Petz) = Bär; 
aus der Schweiz gelangte die Münzenbezeichnung auch ins Italieni¬ 
sche : bezzo = Geld. 

Sowohl Batzen (,,ein Batzen Geld“) als Rappen haben auch außer¬ 
halb der Schweiz sprachliche Geltung gefunden, vor allem im Ge¬ 
biete des sogenannten Rappenmünzbundes (1403—1^84), in den 
elsässischen, schweizerischen, badischen und schwäbischen Mund¬ 
arten. Von Rappen kommt vielleicht berappen = zahlen. (Als 
Berliner Redensart ist gebucht worden: ,,jetzt kommt die Be- 
rappijungsarie“, d. h. jetzt muß gezahlt werden.) Nach Butten- 
wieser und Kluge-Götze hat aber berappen = zahlen nichts mit der 
Münze Rappen zu tun. Das Zeitwort sei für die Zeit des Rappen¬ 
münzbundes nicht belegbar, tauche erst später in den vom Rot¬ 
welsch beeinflußten schwäbischen Krämersprachen auf. Es soll dahin 
gelangt sein aus 2. Mos. 21, 19: ,,(wer einen im Streit verletzt,) 
bezahle die Arztkosten“ (hebräisch: rappo, jerappe). Aus der 
schwäbischen Krämersprache griff die Studentensprache das Zeit¬ 
wort berappen auf, und von dort gelangte es Mitte des vorigen 
Jahrhunderts in die allgemeine Umgangssprache 1 . 

Das althochdeutsche rabo, hraban = Rabe hat übrigens auch die 
Nebenform ram, welche Silbe dank der großen Bedeutung, die der 
Rabe in der germanischen Sagenwelt hatte, in mehreren Personen- 
und Ortsnamen fortlebt, z. B. in Wolfram (Wolfrabe), Wallraf 
(Waldrabe), Bertram (glänzender Rabe, vielleicht ist aber an ,,Rand“ 
zu denken, in welchem Falle ,,glänzender [Schild-] Rand zu deuten 

1) Fernzuhalten von berappen = zahlen ist der vom Hauptwort „die 
Rappe“ = Reibeisen, Raspel, abhängige Gebrauch von ,,berappen“ in der 
Sprache der Maurer (eine Wand berappen = sie mit dem ersten, dem Rauh¬ 
putz bewerfen) und der Zimmerleute (berappen, bewaldrappen = Baumstämme 
kantig, zu Balkenform behauen). 




ist), Rambach, Ramberg, Ramsau (bei diesen drei Ortsnamen ist es 
allerdings fraglich, ob nicht das veraltete Wort Ram = Bock in 
ihnen zu suchen ist). 

Die oben erwähnte Verkennung oder zu Spottzwecken vor¬ 
getäuschte Verkennung des Adlers auf einer Münze, die zum 
Münzennamen Rappen führte, steht in der Wort- und Münzen¬ 
geschichte nicht ohne Analogien da. Die seit Anfang des 16. Jahr¬ 
hunderts geprägte polnische Dreigroschenmünze trug auch einen 
Adlerkopf. Das polnische Volk nannte aber die Münze Wiede¬ 
hopf, d. h. polnisch dudek, Mehrzahl dudki. Noch im 16. Jahr¬ 
hundert gelangt Düttgen, Düttke in den deutschen Osten als Be¬ 
zeichnung für polnische Groschen. In Ostpreußen nannte man dann 
auch das deutsche Zehnpfennigstück Dittchen. Auf den Adlerschil¬ 
lingen von Friesland wurde der Reichsadler als unedler, mäuse¬ 
jagender Falke verspottet, und daher istBlomeuser oder Blamüser 
(blauer Mäuser, d. h. blauschnäbliger Mäusejäger) am Niederrhein 
bis ins 20. Jahrhundert ein volkstümlicher Spottnamen für Achtel¬ 
taler, Dreigroschenstücke, halbe Kopfstücke, Sechsstüber und andere 
Münzsorten. Neben Rappen, Düttgen und Blamüser gibt es noch 
einen vierten Münzennamen, der auf die Verspottung des Adlers 
zurückgeht: Papphahn nannte das Volk die zuerst im 17. Jahr¬ 
hundert in Mecklenburg-Güstrow mit dem Bilde des Reichsadlers 
geprägten Zwölfteltaler. Papphahn — der Ausdruck, auch auf andere 
Münzen übertragen, hat sich beim Volke bis in unser Jahrhundert 
erhalten — ist als abgekürzte Form von Papageienhahn aufzu¬ 
fassen (niederdeutsch pape, papjen = Papagei). Auch ein russischer 
Münzennamen geht auf die Verspottung eines Münzentieres zurück: 
Kopeke (russisch kopeika) kommt von tatarisch ,,dinar köpeji“, 
Denar mit dem Flund (türkisch köpek); der Löwe, dessen Bild die 
Münze trug, wurde nämlich — ähnlich wie der Adler als Rabe — 
als Flund verhöhnt. 

RASSE 

Die Herkunft des Wortes Rasse war lange ungeklärt, und Otto 
Jespersen zählte es vor nicht langer Zeit noch zu den ,,Wörtern, 
welche die Sprachforscher aufgeben mußten, da sie jeder Erklärung 
spotteten 44 . Seit dem Nachweis, den Oberhummer 1928 in der 
Wiener Akademie der Wissenschaften geführt hat, steht es nun aber 
fest, daß „Rasse“, das ins Deutsche aus dem Französischen kam, 


3 °° 





arabischen Ursprungs ist. Es geht auf ras = Kopf, Ursprung, Ober¬ 
haupt zurück; in Abessinien ist Ras ein Fürstentitel. Das hebräische 
Schwesterwort ist rosch, enthalten z. B. in rosch-ha-schanah = Haupt 
des Jahres, d. h. Neujahr, rosch-ha-kahal, Haupt der Gemeinde, 
d. h. Gemeindevorsteher. 

Aus arabisch ras wurde spanisch und portugiesisch raza, italienisch 
razza, französisch und englisch race. Im 17. Jahrhundert gelangte 
das Wort, zunächst meist mit französischer Schreibweise, nach 
Deutschland, Der Übergang von der damaligen Bedeutung Abart, 
Sorte zu dem heute vorherrschenden anthropologischen Sinn voll¬ 
zieht sich erst im 19. Jahrhundert, nachdem allerdings schon bei 
Kant dieser Gebrauch vorgekommen war. Die Schreibweise im 
Deutschen blieb lange schwankend. Anfang des 19. Jahrhunderts 
hieß es z. B. in den berühmten österreichisch-mundartlichen 
,,Briefen des Eipeldauers“: ,,Der Fisch soll von derselbigen Razza 
sein, die den Jonas geschluckt hat.“ 

Die Ableitung aus dem Arabischen hat die früheren unzuläng¬ 
lichen Etymologien aus dem Felde geschlagen. Vollständigkeitshalber 
führen wir sie an: 

a) Einzelne Autoren sahen in Rasse eine Verwandte von „Genera¬ 
tion“, d. h. in italienisch razza ein Stutzwort aus lateinisch generatio 
= Zeugung. Mit Recht bemerkte Spitzer, wenn man schon einen 
derartigen Übergang aus dem Lateinischen für wahrscheinlich halte, 
müsse man nicht eine Wortverstümmelung annehmen, sondern 
könne man gleich von ,,ratio“ ableiten. 

b) Andere bringen Rasse mit althochdeutsch reiza = Linie, Strich 
in Verbindung, so daß Rasse mit neuhochdeutsch Riß, reißen, 
ritzen, Abriß, Aufriß, Reißbrett und mit englisch write = schreiben 
verwandt wäre. 

c) In slawisch raz = Schlag, Gattung sehen wieder andere die 
Quelle von Rasse. 

d) Und schließlich ist auch versucht worden, Rasse auf das fran¬ 
zösische Zeitwort racer = Raub Vogelzucht treiben zurückzuführen. 

RÖMER 

als Namen des grünen bauchigen Weinglases taucht zuerst um 1^00 
herum am Niederrhein und in den Niederlanden auf. Goethe bringt 
das Gefäß sogar in eine bestimmte Beziehung zum Rheinwein: 
„sorgsam brachte die Mutter des klaren herrlichen Weines mit 


301 



den grünlichen Römern, den echten Bechern des Rheinweins.“ 
Auch bei Schiller wird des Römers in gehobenem Stimmungston 
erwähnt: Brüder, fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer 
kreist. Für das bayrische Sprachgebiet, wo der Ausdruck Römer 
nicht volkstümlich ist, hat Schmeller immerhin die Verkleinerungs¬ 
form Römerle = kleines Weinglas gebucht. 

Wenn das Auftreten des neuhochdeutschen Wortes bzw. des 
holländischen Wortes roemer geographisch auch festgelegt ist, be¬ 
steht doch keine Sicherheit darüber, wie es zu diesem nieder¬ 
rheinischen Worte kam. Fünf verschiedene Deutungen liegen vor: 

a) Begreiflicherweise wurde zunächst versucht, den Ausdruck mit 
Rom und römisch in Verbindung zu bringen. Das Grimmsche 
Wörterbuch meint, man habe den Namen von dem Stoffe entlehnt, 
aus dem man jene Gläser anfertigte, dem vitrium romarium, unter 
welcher Bezeichnung Bruchstücke altrömischen Glases im Flandel 
waren. 

b) Festhaltend zwar an der Ableitung von Rom, römisch geht 
eine zweite Erklärung ganz andere Wege. Römer sei ein Gefäß für 
rumeynische Weine gewesen, womit oströmische gemeint waren, 
d. h. griechische von Chios, Samos usw. Rumeneien hießen tat¬ 
sächlich Weinstuben für griechische Weine. 

c) Der Franzose Edgar Quinet erklärt das deutsche Wort Römer: 
Glas in Form eines Römerkopfes. 

Bei diesen drei Deutungen muß angenommen werden, daß das 
Wort aus dem Deutschen dann ins Holländische gedrungen ist. 
Umgekehrt sehen die beiden nächsten Ableitungen den Weg des 
Wortes aus dem Holländischen ins Deutsche vor. Römer käme 
demnach 

d) von holländisch ruim = geräumig (een ruime maat = ein reiches, 
volles Maß), dementsprechend Römer eigentlich ,,das geräumige 
Glas“ wäre; oder 

e) von holländisch roemen = prahlen, prunken, rühmen, so daß 
dieser Deutung nach Römer eigentlich ,,Rühmglas“ ist, d. h. ein 
Prunkglas, mit dem man einen Trinkspruch zum Ruhme jemandes 
ausbringt. 

Diese letzte Ableitung hat wohl das meiste für sich. Das fran¬ 
zösische rumer (schon für 1570 belegt), das englische rummer und 
das schwedische remmare sind jedenfalls aus dem Holländischen 
oder dem Deutschen entlehnt. 


302 




SANDWICH 

Jener Lord Sandwich, den nicht nur ein Gemälde von Gainsborough 
verewigt, sondern dem auch die Sprache Denkmäler internationalen 
Charakters gesetzt hat, war durchaus kein Mann von so über¬ 
wältigenden Verdiensten, die diese Ehrung durch die Sprache 
rechtfertigen könnten. John Montague, der vierte Graf von Sand¬ 
wich (1718—1792), Stolz seiner Standesgenossen, hatte nicht ohne 
Grund einen üblen Leumund im Volke. Er bekleidete verschiedene 
hohe Ämter, war nacheinander Staatssekretär, Generalpostmeister, 
Erster Lord der Admiralität, und in allen diesen Ämtern erwies er 
sich als besonders unfähig, überall blühte um ihn und unter ihm die 
Korruption. Er war Mitglied des Hellfireclub (Höllenfeuerklub), 
von dessen ,,schwarzen Messen“ viel gesprochen und noch mehr 
gemunkelt wurde, und einer der Begründer des Order of St. Francis 
at Medmenham Abbey, unter welchen, scheinbar kirchlichen 
Namen vornehme Lebemänner wüste Orgien (,,englisch-eleusinische 
Mysterien“) feierten. In die berühmte ,,Bettleroper“, die sich in 
unseren Tagen zur ,,Dreigroschenoper“ verjüngte, wurde eine An¬ 
spielung auf den berüchtigten Lord eingeflochten, und den Spitz¬ 
namen Jemmy Twitcher, den sie ihn anhängte, wurde er sein Lebtag 
lang nicht los. (1770 erschien ein Buch über ,,Leben, Abenteuer, 
Intrigen und Liebschaften des berühmten Jemmy Twitcher“.) Es 
ist jedenfalls charakteristisch für den hohen Herrn, der nur seinen 
Gelüsten lebte, daß er etwas erdachte, das ihm ermöglichte, zu 
gleicher Zeit Karten zu spielen und zu essen. Einmal soll er vierund¬ 
zwanzig Stunden am Spieltisch verbracht haben. Lim das Spiel nicht 
unterbrechen zu müssen und um auch die Finger für die Karten rein 
zu bewahren, ließ der vornehme Genießer seine Diener kaltes 
Fleisch zwischen zwei Brotscheiben legen und erfand so die belegten 
Brötchen 1 . Eigentlich erfand er sie zum zweiten Male, denn schon 
im alten Rom kannte man unter dem Namen „offulae“ mit kaltem 
Fleisch belegte Brotscheiben. Das war aber schon längst vergessen 2 , 


1) Es gibt einen alten englischen Vers, der Lord Sandwich und Lord Spencer 
(nach dem der kurze Rock ohne Schöße benannt wurde) zusammen erwähnt: 
the one inventend half a coat, the other half a dinner (es habe von den two 
noble earls der eine einen halben Rock, der andere eine halbe Mahlzeit erfunden). 

2) Auch der französische König Heinrich IV. kam einmal auf den Einfall, 
Fleisch zwischen Brotscheiben zu legen. Die Pfalzgräfin Liselotte erzählt diesen 
Vorfall in ihrem Briefe vom 13. August 1716. Der König besuchte einmal 


303 




und erst nach dem Beispiel des spielbeflissenen Lords bürgerten 
sich — trotz des anfänglichen Widerstrebens der vornehmen Haus¬ 
frauen gegen diese als unschicklich empfundene Spielersitte — die 
belegten Brötchen in der ganzen Welt ein. Und überall hießen sie 
Sandwichs. Was natürlich nicht ausschließt, daß mancherorts 
daneben auch andere Bezeichnungen bestehen. (Die Florentiner 
z. B. sagen panino gravido = schwangeres Brötchen, die Spanier 
acostumbrada = Eingemauertes. Die in Wiener Kaffeehäusern oft 
verwendete Bezeichnung ,,illustriertes Brot“ gilt in erster Reihe 
solchen Sandwichs, deren Belag kunstvoll aufgebaut ist und an¬ 
gesichts verschiedener Bestandteile — z. B. Salami, Ei, Gurke — bunt 
ausschaut.) Bei der Übertragung des Namens Sandwich auf Männer, 
die auf ihrem Leib vorne und hinten Plakate tragen (Sandwich¬ 
männer), ist die Vergleichsgrundlage ohne weiteres erkenntlich. 
Der Engländer gebraucht auch ein Zeitwort to Sandwich in = ein- 
legen, einreihen, dazwischenlegen. 

Auch in die Geographie fand der Name des vierten Lord 
Sandwich Eingang. Als Cook 1778 die hawaianischen Inseln ent¬ 
deckte, taufte er sie zu Ehren des Ersten Lords der Admiralität 
Sandwichinseln. (Dieser Namen wird in der letzten Zeit allerdings 
vom Eingeborenennamen Hawai immer mehr verdrängt, was viel¬ 
leicht mit dem Interesse zu erklären ist, das man jetzt den Ein¬ 
geborenen dieser Inseln, ihrer Musik, ihren Tänzen, ihrem Wasser¬ 
sport, ihrem schönen Körperwuchs entgegenbringt.) Weniger be¬ 
kannt ist, daß auch die Insel Efate, eine der zwar nicht von Cook 
entdeckten, aber von ihm erforschten Neuen Hebriden in Melanesien 
nach dem Ersten Lord auf den Namen Sandwichinsel getauft wurde. 

Nun bleibt noch übrig, den Namen des vielfach verewigten Lords 
selbst auf seine Herkunft zu betrachten. Sandwich ist ein altes 
Städtchen im Südosten Englands, in der Grafschaft Kent. Eines der 
historischen „Fünfhäfen“, der Cinque Ports, lag es einst unmittel¬ 
bar am Meere, das seither um einige Kilometer zurückgetreten ist. 
Auf diese Lage weist auch der Namen Sandwich hin. Er wird als 

unangesagt eine seiner Mätressen. Er hatte erfahren, daß sie ihn mit dem Herzog 
von Bellegarde betrüge und daß dieser eben bei ihr sei. Als sie ihm Feldhühner 
aufwartete, spaltete er ein Brot, legte ein Stück Fleisch hinein und warf dieses 
,,Sandwich“ unter das Bett, wo er richtig den überraschten Liebhaber ver¬ 
mutete. ,,Sire, was machen Sie“, frug die erschrockene Mätresse. Der König 
lachte: Madame, ne faut-il pas que tout le monde vive, muß denn nicht jeder 
zu essen kriegen ? 


304 



,,Sand-Ort** gedeutet. Der zweite Teil ,,-wich“ ist auf lateinisch 
vicus = Ort zurückzuführen, welche Wurzel man in vielen europäi¬ 
schen Ortsnamen erkennen will: in Wyk auf Föhr, Vigo in Spanien, 
Vichy in Frankreich; ferner in Zusammensetzungen wie Schleswig 
(Ort an der Schlei), Bardowieck bei Lüneburg (Ort der Barden, 
d. h. Langobarden), Rejkjavik auf Island (= Rauchort, bezieht sich 
auf die Dämpfe der dortigen Geisirs), Greenwich in England (Ort 
im Grünen). In der nächsten Umgebung von Stockholm gibt es einen 
Ort namens Sandvik, und auch die Karte der dänischen Insel Born¬ 
holm weist ein Sandwig auf. Übrigens gibt es auch in Großbritannien 
außer der Stadt Sandwich noch ein zweites Sandwich: so heißt ein 
Ort auf Mainland, der größten der zu Schottland gehörenden 
Shetlandinseln; die Bewohner dieser Insel sind norwegischer Ab¬ 
stammung, und auch dieser Umstand spricht für die nordgermanische 
Herkunft dieses Ortsnamens. 

Das älteste Sandwig dürfte jenes in Deutschland sein: bei Flens¬ 
burg gibt es einen kleinen Ort dieses Namens. Es darf angenommen 
werden, daß die Angelsachsen den Ortsnamen Sandwich aus Nord¬ 
deutschland auf die britischen Inseln mitnahmen, und daher ist es 
also ein schleswig-holsteinischer Namen, der sich nicht nur in den 
skandinavischen Ländern und in England, sondern sogar in Melanesien 
und in Polynesien neue Heimaten gegründet hat, davon nicht zu 
sprechen, daß er sich in seiner eßbaren Verkörperung über den 
ganzen Erdball verbreitet hat. 

SARDONISCHES LACHEN 

Der älteste Beleg für den Ausdruck sardonisches Lachen findet sich 
in Homers Odyssee. Als Penelopes Freier Ktesippos Odysseus 
höhnisch anspricht und einen Kuhfuß nach seiner zerlumpten 
Bettlergestalt wirft, neigt der unerkannte König sein Haupt zur 
Seite und unterdrückt seinen Zorn, wobei er sardonisch lächelt 
(meithese sardanion). Voß übersetzt: mit schrecklichem Lächeln. 
Das Griechische kannte dann auch die Form sardonios gelos, sardoni¬ 
sches Gelächter, und man verstand darunter ein verbittertes Lachen, 
ein Lachen voll Ingrimm. (Auch aus Homers anderem Epos lebt ein 
Gelächter in unserem Wortschatz fort: mit Anspielung auf das un¬ 
auslöschliche Gelächter, dem asbestos gelos der Götter im 2o. Ge¬ 
sang der Ilias prägten zuerst die Franzosen im 18. Jahrhundert den 
Ausdruck vom rire homerique, dem homerischen Gelächter.) 




Sardonisches Lachen (ris sardonien oder sardonique, riso sardonico, 
sardonic grin oder laughter usw.) ist heute ein internationaler Aus¬ 
druck für krampfhaftes oder bitteres Lachen, an dem die Seele nicht 
oder jedenfalls nicht mit Heiterkeit beteiligt ist, mit einer kleinen 
BedeutungsVerschiebung auch für hämisches Grinsen. In der Medizin 
bezeichnet man heute als sardonisches Lachen allgemein den schein¬ 
bar lachenden Gesichtsausdruck bei Fazialkrampf (Gesichtsmuskel¬ 
krampf) oder bei Tetanus traumaticus (Wundstarrkrampf). In diesem 
Zusammenhang erwähnen wir auch den Ausdruck hippokratisches 
Gesicht (facies hippocratica) für das Gesicht des Sterbenden, nach 
der vortrefflichen Beschreibung der Vorboten des nahen Todes im 
Menschenantlitz, die Hippokrates, der große Arzt des griechischen 
Altertums, in seiner Schrift Prognostikon gegeben hat. Dieses ge¬ 
flügelte Wort lebt auch in der Nebenform ,,hippokratischer Zug“. 

Wenn wir absehen von dem Versuch einer Ableitung aus dem 
griechischen Zeitwort sairein = klaffen, die Zähne fletschen (bei 
welcher Hypothese das homerische meithese sardanion mit a und 
gelos sardonion mit o in der zweiten Silbe auseinandergehalten 
werden), so bringen den Ausdruck sardonisches Gelächter alle Er¬ 
klärungen mit der Insel Sardinien in Zusammenhang. Nach der 
Auffassung des Altertums kommt der Ausdruck von einer bitteren, 
giftigen Pflanze, die besonders auf Sardinien vorkam und daher 
sardonia (oder sardoa) herba hieß. Der Genuß dieser Pflanze, hieß 
es, verursache Krämpfe mit verzückten Lippen, krampfhaftes 
Lachen, ja selbst den Tod unter einem heftigen, mit Zuckungen 
verbundenen Lachen. Die älteste Schilderung dieser Giftwirkung 
findet sich bei Sallust, im 2. Buche seiner Historiae. Linne war es, 
der feststellte, welche Pflanze unter dem alten Namen des sardini- 
schen Krautes zu verstehen sei; er taufte sie Ranunculus balbosus; 
es bestätigte sich, daß die Pflanze — es ist unser ,,knolliger Hahnen¬ 
fuß c< — ein tödliches Gift enthält, das den Mund des Sterbenden zu 
einem schrecklichen Lächeln verzerrt. Der witzige Carl Julius 
Weber, Napoleons Zeitgenosse, schreibt in seinem ,,Demokritos“, 
der Kaiser trage dieses bittere und gezwungene, zu seinem fatalen 
Emst nicht passende und wenig Zutrauen erregende Lachen zur 
Schau, so ,,daß man es füglich korsisches Lachen nennen 
könnte“. (,,Ich glaube, wenn ich nach diesen Inseln käme und dieses 
Kräutlein erblickte, daß ich lachte, ohne es noch über die Zähne 
gebracht zu haben.“) Weber erwähnt übrigens u. a. das Apiumrisus 


306 


(Lachkraut) als die Giftpflanze, die die Verzerrung der Muskeln zu 
einem wie Lachen wirkenden Gesichtsausdruck verursache. Ich 
möchte dabei zu bedenken geben, daß es sich um eine Sellerieart 
handelt und daß Sellerie und Petersilie im Altertum, besonders in der 
ägyptischen und der griechisch-sizilischen Sphäre, als Totengaben 
verwendet worden sind, so daß eine Beziehung des sardonischen 
Lachens zum Sinnbezirk des Todes, zu Bestattungs- und Trauer¬ 
bräuchen vermutet werden kann. Auf die Möglichkeit solcher Be¬ 
ziehungen der Idee vom sardonischen Lachen kommen wir noch 
zurück. 

Neben der Deutung des Ausdrucks aus pflanzlicher Giftwirkung 
besteht auch die Vermutung, daß der üble Ruf, in dem die Ein¬ 
wohner Sardiniens im Altertum standen, zum Entstehen der 
Gleichung böses, grausames Lächeln = sardonisches Lachen bei¬ 
getragen hat. Bei der Urbevölkerung jener Insel, den Sarden oder 
Sardonen, bestand die grausame Sitte, die alten Leute zu töten. 
Bei diesem Vorgang mußte gelacht werden, und vielleicht war 
ursprünglich dies mit dem sardonischen Lachen gemeint. In 
Sardinien spielte übrigens das Lachen bis ins 19. Jahrhundert eine 
gewisse Rolle bei den Begräbnisbräuchen. An der Bahre des Ver¬ 
storbenen waltete ein Klageweib seines Amtes; wenn aber die 
Bahre weggetragen war, so mußte nach Landesbrauch eine Spa߬ 
macherin die Trauernden zum Lachen bringen. Eugen Fehrle, der 
die Rolle des Lachens in Volksbräuchen untersucht hat, weist 
übrigens auch darauf hin, daß nach Strabos Bericht auch die ägypti¬ 
schen Nomaden bei der Beerdigung ihrer Toten unausgesetzt 
lachten. In diese wenig durchsichtigen Verhältnisse wird man wohl 
erst mit Hilfe moderner Tiefenpsychologie Licht hineinbringen 
können. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß Nachrichten vom 
Tode des Mitmenschen unbewußte Schuldgefühle aktivieren, und 
auch daran denkt, wie oft von Fällen zwanghaften Lachens bei 
Begräbnissen berichtet worden ist, wird man dazu neigen, im Aus¬ 
druck sardonisches Lachen nicht oder nicht allein die Feststellung 
einer physiognomischen Giftwirkung zu sehen, sondern in ihm auch 
eine dunkle Erinnerung an uralte Vorgänge bei Menschenopfern zu 
vermuten. Und wenn es auch nicht möglich sein sollte, diese 
archaische Erinnerung jemals auf dem Boden der Geschichte auf¬ 
zuhellen, so wird diese Klärung vielleicht doch auf Umwegen erzielt 
werden können, nämlich mit Hilfe von Befunden, die man unter 


307 



vergleichbaren seelischen Voraussetzungen, entweder bei primitiven 
Völkern der Gegenwart oder bei Neurotikern möglicherweise noch 
machen wird. So werden also bei der sprachwissenschaftlichen 
Klärung eines Ausdrucks Medizin und Altertumskunde, Botanik 
und Physiognomik, Seelenkunde und Ethnologie Zusammenwirken 
können. 

SARG, SARKOPHAG, SARKASMUS 

Ein bei Assos in der kleinasiatischen Landschaft Troas (heute 
Behram-Kalessi) gebrochener Kalkstein soll von den Griechen für 
Totenladen bevorzugt worden sein, weil der Leichnam darin rasch, 
schon nach 40 Tagen, verweste. Der Stein hieß daher fleischfressen¬ 
der Stein, lithos sarkophagos. Lithos = Stein, sarx= Fleisch, phagein 
= fressen (daher z. B. Anthropophag = Menschenfresser). Später 
hieß dann griechisch der Leichenbehälter selbst, und sei er aus 
welchem Material immer, Sarkophag. Nach Kleinpaul sei lithos 
sarkophagos bildlich zu verstehen; es sei eben jeder Leichen¬ 
behälter als „Fleischfresser“ zu betrachten: „hiermit erledigt sich 
die etwas naive Suche nach einem besonderen fleischverzehrenden 
Sarkophagstein, die nur von Unverstand zeugt.“ 

Aus Sarkophag wurde gekürzt althochdeutsch saruk, sarch und 
jetzt: Sarg. In Frankreich wurde aus Sarkophag altfranzösisch 
sarcou und jetzt cercueil; das niederländische zerk bedeutet nur 
mehr den Grabstein. 

Auf griechisch sarx = Fleisch gehen auch unsere Fremdwörter 
sarkastisch, Sarkasmus zurück. Sarkazo heißt zerfleischen (viel¬ 
leicht auch: aus Zorn oder Verbitterung die Lippen beißen), 
Sarkasmus ist beißender Spott. Theodor Reik hat jüngstens auf das 
oralsadistische Element dieser Witzart hingewiesen (bei Shake¬ 
speares Shylock, der auf sein Pfund Fleisch besteht, regrediert der 
grausame Humor fast bis zur Phase des Kannibalismus); das Bild 
vom „beißenden“ Spott hat also vermutlich eine tiefere Bedeutung. 
Für Sarkasmus hat Wieland, von dem viele Fremdwortverdeutschun¬ 
gen stammen, Stachelrede gebraucht. Wie ungenau das Fremdwort 
Sarkasmus trotz seiner Häufigkeit oft verstanden wird, zeigt ein 
Versuch, den Prof. Karl Bergmann unternommen hat. Er hat, wie 
er 1929 berichtet, im Rahmen von Deutschkursen, die er im Auf¬ 
träge der Volkshochschule in Darmstadt und seiner Umgebung 
hielt, bei seinen Hörern Versuche über die Verständlichkeit der 


308 


Fremdwörter gemacht. Unter anderem war der Satz ,,er behandelt 
ihn mit Sarkasmus“ zu erklären. In einem der Kurse gaben von 
44 Hörem nur i o die Bedeutung von Sarkasmus richtig wieder. Die 
anderen übersetzten das Wort mit Energie, Roheit, Gleichgültig¬ 
keit usw. Einer der Hörer, wohl durch ,,behandeln“ beeinflußt, 
faßte Sarkasmus sogar als eine Arznei auf. 

Die durch das Lehnwort Sarg verdrängten deutschen Ausdrücke 
Totenbaum, Totentruhe, Leichenkar werden heute noch in einzelnen 
Gegenden Deutschlands mundartlich gebraucht. Es fehlt übrigens 
auch nicht an etymologischen Erklärungen, die auch in Sarg ein 
germanisches Wort sehen. So vertrat z. B. Wackemagel die Ab¬ 
leitung von saruh = Hemd. Das Falk-Torpsche indogermanische 
Wörterbuch läßt immerhin die Beeinflussung der germanischen 
Wurzel durch das griechische sarkophagos zu. 

SEIN SCHÄFCHEN INS TROCKENE BRINGEN 

bedeutet: seinen Vorteil wahren, sich seinen Gewinn sichern, ihn 
beiseite schaffen. Für 1576 (J. Burkhard) ist die Redensart in fol¬ 
gender Form belegt: ,,jhre Schäflin ins trocken (wie man pfleget 
zu sagen) zu treiben. ‘‘ Und im Jahre 1^97 heißt es in einer gereimten 
Beschreibung der Frankfurter Messe: hast dein Schaff in das Trucken 
gebracht, keiner ist, der dich drumb veracht. Eine verwandte 
Redensart lautet: er weiß sein Schäfchen zu scheren. Mit gleicher 
Bedeutung wird in Holstein auch gesagt: he hett sine Saken up’t 
Dröge (aufs Trockene) brogt. Die Antwort auf die Frage, was es bei 
den Schafen mit dem Trockenen auf sich hat, muß man sich natür¬ 
lich aus dem Gebiete der Schafszucht holen. Den Ausdruck bringt 
man mit der wirtschaftlichen Gefahr in Zusammenhang, die ein 
Gewitter, besonders aber eine Überschwemmung für den Züchter 
bedeutet. Die jungen Schafe erkranken leicht, wenn sie naß werden, 
und es ist ein Vorteil, sie rechtzeitig unter Dach zu bringen; auch 
bei der Schafsschur oder der Schafswäsche muß man auf die Jungen 
achten, daß sie sich nicht erkälten. 

R. Hildebrand bringt in die Deutung der Redensart noch eine 
besondere Nuance hinein, wobei es ihm wichtig erscheint, daß nicht 
vom Schaf, sondern von Schäfchen die Rede ist. Die Redensart, 
meint er, stamme aus dem Munde eines reichen Bauern, der bei 
einem großen Gewitter einen großen Viehhof zugrunde gehen sieht 
und nun gewahr wird, wie der Arme viel besser dran sei, er habe sein 



Schäfchen, das er einfach in seine Stube nehmen kann, schon im 
Trockenen. Dieser Deutung entsprechend wäre das Schäfchen im 
Trockenen also eigentlich der kleine, leicht zu sichernde Vorteil, 
die kleine Habe des kleinen Mannes, das, was nach einem anderen, 
weniger verbreiteten Gleichnis das „Lamm des Armen“ ist (in 
dieser letzteren Redensart deutlich als die einzige Habe des Armen, 
die ihm übrigens der Reiche auch nicht gönnt). Die von Borchardt- 
Wustmann vertretene Auffassung, das Schäfchen, das ins Trockene 
gebracht wird, stelle einfach jede typische Erwerbung eines kleinen 
Mannes dar, wird jedenfalls durch die Analogie jenes Umstandes 
gestützt, daß in vielen Sprachen eine Urverwandtschaft zwischen 
der Bezeichnung Vieh und Vermögen (z. B. lateinisch pecus und 
pecunia) zutage tritt. 

Alle diese Gedankengänge sind aber hinfällig, wenn das Schäfchen 
dieser Redensart überhaupt kein Schäfchen ist. Behaghel und 
Richter-Weise sehen im Schäfchen eine schriftsprachliche Ver¬ 
unstaltung von Schepken, der niederdeutschen Lautform von 
Schiffchen. Nicht sein Schäfchen, sondern sein Schepken bringt 
nach dieser Deutung der Mann bei Gewitter glücklich ins Trockene, 
d. h. in Sicherheit. (Ein ähnliches schriftsprachliches Mißverstehen 
einer niederdeutschen Redensart ist: ins Gebet nehmen statt ins 
„Gebett“, nämlich ins Gebiß nehmen.) Hildebrand hat in der Ver¬ 
teidigung des Schäfchens zwar eingewendet, Schiffe würden doch 
vor dem Gewitter nicht ins Trockene geborgen, sondern im Hafen, 
in der Bucht; und auch Friedrich Seiler frägt: was soll das Schiff 
auf dem Trockenen ? Aber ihnen ist richtigerweise entgegengehalten 
worden, daß Schiffchen, also Kähne, wirklich ans Land gezogen 
werden. Auch ist es an der Nordseeküste üblich, daß Schiffer ihre 
zum Fischfang benützten kleineren Fahrzeuge bei großem Unwetter 
und zur Winterszeit an Land ziehen, um sie unter Dach vor Regen 
und Schnee zu bergen. 

Unsinnig ist also die Beziehung der Redensart auf das Schiffchen 
keinesfalls, aber es scheint mir einfacher zu sein, der näherliegenden 
Deutung den Vorzug zu geben und am Schäfchen als einem jungen 
Schafe festzuhalten, solange nicht etwa neuere Funde die Erklärung 
aus dem Niederdeutschen zur zwingenden machen. Ernst Wülfling 
hat übrigens mit Hilfe der ,,Täglichen Rundschau“ Äußerungen zur 
Frage Schäfchen oder Schiffchen aus verschiedenen Teilen Deutsch¬ 
lands gesammelt, und auch diese Stimmen — sie können natürlich 


310 




nur als Äußerungen des nachträglichen Sprachempfindens gewertet 
werden — haben sich überwiegend für Schäfchen ausgesprochen. 

Ich möchte schließlich auch zu bedenken geben, ob nicht etwa 
ein volkstümliches Gleichnis Geldmünzen (insbesondere Gold¬ 
stücke) = Schäfchen (auf einer ähnlichen visuellen Vergleichsgrund¬ 
lage wie beim bildlichen Ausdruck ,,Lämmerwolken“) die Redens¬ 
art ,,sein Schäfchen ins Trockene bringen“ vielleicht mit beeinflußt 
habe. Es würde dann allerdings besser passen, vom Schäfchen nicht 
in der Einzahl zu sprechen, aber die Möglichkeit eines solchen Quer¬ 
einflusses schließt dieser Umstand nicht zur Gänze aus. 

SCHIBOLETH 

Das hebräische Wort Schiboleth gebrauchen wir im Sinne Er¬ 
kennungsruf, Losungswort, Kampfruf. Der Ausdruck wurde im 
Deutschen durch Herders und Goethes Gebrauch zum geflügelten. 
(Weiß- und Schwarzbrot — schreibt Goethe in der Campagne in 
Frankreich — ist eigentlich das Schiboleth, das Feldgeschrei zwischen 
Deutschen und Franzosen.) Das Wort geht auf eine Stelle des Alten 
Testaments zurück. Richter 12, £. 6 wird berichtet, daß die 
Gileaditer auf Anordnung Jephtas bei der Furt des Jordans jeden, 
der hinüber wollte, das Wort Schiboleth (es bedeutet hebräisch 
sowohl Ähre als Strom) nachsprechen ließen; sagte einer statt 
Schiboleth Siboleth, so verriet ihn seine Aussprache als Ephraimiten, 
und er wurde erschlagen. Da die griechische Sprache keinen sch- 
Laut kennt, verursachte die Wiedergabe dieser Stelle in der griechi¬ 
schen Übersetzung der Bibel Verlegenheit. Der Übersetzer der 
Septuaginta glaubte, ihrer Herr geworden zu sein, indem er einfach 
den wörtlichen Sinn von Schiboleth wiedergab und stachys (Ähre) 
einsetzte. 

Es gibt noch zwei ähnliche geschichtliche Überlieferungen über 
tödliche Aussprache. In jenem Gemetzel zu Palermo am 30. März 
1282, dessen Erinnerung unter dem Namen der Sizilianischen Vesper 
fortlebt, war das Schiboleth das Wort ciceri (sprich tschitscheri). 
Es ist der sizilianische Abkömmling des lateinischen Wortes cicer 
= Kichererbse, mit dem sowohl der Namen Cicero als das deutsche 
Wort Kichererbse zusammenhängt. Im Französischen wurde diese 
romanische Wurzel zu chiche (sprich schisch). Den Laut ,,tsch“ 
kennen die Franzosen nicht, und als sie an jenem Schreckenstag 
zu Palermo einzeln angehalten wurden, das italienische ciceri 

311 







nachzusprechen, sagten sie siseri oder schischeri statt tschitscheri 
und bezahlten dann mit dem Leben, daß sie sich durch diese Un¬ 
zulänglichkeit als Franzosen verraten hatten. 

Zwanzig Jahre später starben Franzosen in Brügge an der Aus¬ 
sprache der niederländischen Wörter Schilde und vriend. 

Es gibt auch ein Beispiel dafür, daß eine Besonderheit der Aus¬ 
sprache einem Volksstamm seinen Namen eingebracht hat. Die 
mazedonischen Rumänen heißen Zinzaren, weil sie das rumänische 
cinci (= fünf) nicht tschintsch aussprechen, sondern zinz. 

SCHIMMEL, AMTSSCHIMMEL 

Die Herkunft des Wortes Schimmel (in der Bedeutung des Pilz¬ 
überzuges auf organischen Stoffen) ist ungeklärt. Angesichts der 
silbrigen Farbe der Schimmelpilze läßt sich allerdings vermuten, 
daß die Wörter Schimmel und schimmern Zusammenhängen. 
Schimmern dürfte ein Iterativum vom mittelhochdeutschen Zeit¬ 
wort Schemen = blinken, glänzen sein und daher schließlich auf 
scheinen (althochdeutsch skinan, gotisch skeinan) zurückgehen. 

Dafür, daß für die Bezeichnung der verschimmelnden Materie 
die dabei auftretende Farbe bestimmend war, spricht auch der 
Umstand, daß das Moment der Farbe auch für eine weitere sprach¬ 
liche Übertragung, für die von einer schimmligen Materie auf Pferde 
bestimmter Farbe, ausschlaggebend ist. Im Jahre 1374 taucht zuerst 
die Bezeichnung ,,schemeliges perd“ (ein Jahr vorher niederdeutsch 
scymelinghe perd) auf. Daraus dann verkürzt für ein weißes oder 
sehr helles Pferd: der Schimmel (mit verschiedenen Abarten, wie 
Eisenschimmel, Grau-, Blau-, Mohren-, Muskat-, Spiegel-, Apfel¬ 
schimmel u. dgl.). 

In der Bezeichnung Schimmel für die Schwerfälligkeit und Klein¬ 
lichkeit Öffentlicher Ämter könnte man eine Übertragung des Pferde¬ 
namens sehen wollen, zumal da man oft einen dürren, störrischen 
Klepper als Symbol und Attribut des Heiligen Bürokratius abgebildet 
sieht und den Beamten auch einen Schimmelreiter schimpfen hört 
(wobei eine Verwechslung mit dem geisterhaften Schimmelreiter, 
einer Schreckgestalt der deutschen Volkssage, vgl. Theodor Storms 
Novelle, zu vermeiden ist). In Wirklichkeit gelangt der Amts¬ 
schimmel nur durch einen Wiener Wortwitz in die Zoologie, 
ähnlich wie im Wienerischen der „personifizierte“ Stier (stier 
= abgestiert) zum Wappentier des Geldmangels wird. Die vor- 


312 







gedruckten Musterformulare, die die Beamten des Altösterreichs für 
die Erledigungen bestimmter Angelegenheiten hatten, hießen simile 
(lateinisch: ähnlich), weil sie besagten, daß ein Fall in einer ähn¬ 
lichen Weise, wie frühere, zu erledigen sei. Einen Beamten, der 
für die Sonderheiten eines Falles kein Auge hatte und immer be¬ 
strebt war, nach einem Schema zu arbeiten, nannte man daher 
spöttisch einen Schimmelreiter (eigentlich Similereiter), denn — 
wie Wurzbach schreibt — ,,auch in den Kanzleien stecken Hu¬ 
moristen“. Übrigens sagt man auch ,,nach demselben Schimmel 
erledigen“ oder ,,alles nach einem Schimmel erledigen“, was die 
Ableitung aus simile stützt. Übrigens scheint auch der Anklang an 
,,nach einem Schema“, ,,nach dem gleichen Schema“ mitgewirkt 
zu haben. 

Ein Mitarbeiter der ,,Königsberger Allgemeinen Zeitung“, dem 
der berittene Bürokrat nicht paßt (und dem die Deutung aus simile 
offenbar nicht bekannt ist), zieht es vor, den Amtsschimmel in die 
Bakteriologie zu verweisen: ,,Keineswegs klappert er die steilen 
Treppen auf vier Hufen zur Amtsstube hinauf; er trabt und galop¬ 
piert nicht, er schleicht sich ganz leise, unhörbar in die Ämter ein, 
läßt sich auf die Aktendeckel nieder, geht nicht wieder weg, weil 
ihn niemand verscheucht. So überzieht er schließlich im Laufe der 
Jahre alle Akten mit einer immer dicker werdenden Schicht von 
Schimmel. Das ist des Schimmels Kern!“ 

Was wir Amtsschimmel nennen, heißt jetzt in Frankreich 
Anastasie. Dieser Ausdruck geht auf ein um die Zeit des Kriegs¬ 
endes im Theätre Sarah Bernhardt gespieltes Stück von Francois 
Porche, La jeune fille aux jaunes roses, zurück. Im imaginären Staat 
einer Prinzessin Anastasia herrscht ein verwickelter Bürokratismus, 
sogar für das Betreten einer Straße müssen Eintrittskarten gelöst 
werden. Daraus entwickelte sich die Bedeutung ,,tante Anastasie“ 
= Amtsschimmel. In Schriftstellerkreisen bekam das Wort die 
engere Bedeutung Zensur. 

SCHIMPF 

ist — nach der Definition von Sanders-Wülfling — ,,zunächst: 
scherzender Spott, Hohn, dann aber: etwas, wodurch jemandes 
Ehre gekränkt, verletzt wird, leidet“. Man tut einem einen Schimpf 
an, man überschüttet ihn mit Schimpf, man jagt ihn mit Schimpf 
und Schande davon usw. Im Althochdeutschen bedeutete aber 


313 



scimpf noch: Scherz, Spaß, Kurzweil, Spiel, Kampfspiel. Dieser 
ursprüngliche Sinn erhielt sich noch lange. Im Nibelungenlied sagt 
Siegmund, als er die Nachricht von der Ermordung seines Sohnes 
Siegfried erhält, zum Boten: lat daz schimpfen sein (laß das Scherzen 
sein). Unter Ritterschimpf verstand man ritterliche Belustigungen. 
Nemt den Schimpf von uns vergüt, bitten die Darsteller der derben 
Fastnachtsspiele. Noch Gryphius sagt 1698 im Peter Squenz, man 
solle sich nicht entsetzen, Thisbe ,,ersticht sich nicht, es ist nur 
Schimpf“. Und sogar bei Lessing und Wieland finden wir noch die 
Formel,, Schimpf und Ernst 4 4 mit der Bedeutung,, Scherz und Emst 4 4 . 

Wenn man die tiefenpsychologische Feststellung über den ag¬ 
gressiven Anteil des Witzes kennt, wird man sich über den Be¬ 
deutungswandel des Wortes Schimpf nicht wundern. Immer steckt 
im Scherz eine gewisse Angriffslust, die vom geheim Angegriffenen 
erkannte Bosheit läßt aber den Scherz als Hohn empfinden, und 
schließlich gewinnt im Begriff des Schimpfes das Kriterium der 
verletzenden Wirkung die Oberhand. Sehr nett hat Sohns ausein¬ 
andergesetzt, daß die Phasen im Bedeutungswandel des Wortes 
Schimpf sich am besten durch drei alliterierende Redensarten dar¬ 
stellen lassen: Schimpf und Scherz, — Schimpf und Spott, — Schimpf 
und Schande. Sprachpsychologisch ausgedrückt: erste Bedeutung, 
der harmlosen äußeren Form des Verhaltens entsprechend = Scherz; 
zweite Bedeutung, dem Motiv entsprechend = Spott; dritte, der 
Wirkung entsprechend == Schande. 

SCHMETTERLING 

Die früher öfter (z. B. von C. H. F. Mahn) vertretene Deutung, 
der Schmetterling heiße so, weil er ,,alles beschmettert und 
beschmeißt 44 , d. h. mit seinen Eiern belegt, ist unhaltbar 1 . Im 
Worte Schmetterling ist vor der Nachsilbe -ling, diesem Tausend¬ 
künstler unter den Suffixen 2 , das mundartliche Schmetten, ein 

1) Hoffmann von Fallersleben, der für Reaktionär einmal scherzhaft die 
Verdeutschung Freiheitsniederschmetterling gebrauchte, wollte damit jeden¬ 
falls nichts zur Etymologie dieses Tiemamens sagen. Mit dem Zeitwort schmet¬ 
tern hängt hingegen wohl der leipzigische Ausdruck ,,einen Schmetterling 
aufschlagen“ für lautes Gelächter zusammen. In Leipzig nannte man übrigens 
früher auch die Orden scherzhaft Schmetterlinge. (Auch Alexander v. Hum¬ 
boldt bezeichnete seine Orden als seine Schmetterlingssammlung.) 

2) Es fehlt allerdings auch nicht an einer Deutung, die in der letzten Silbe 
des Wortes Schmetterling anderes sieht als die Wortbildungssilbe -ling. 


314 




Synonym von Sahne, Rahm, Obers, Nidel, enthalten. Es kommt aus 
tschechisch smetana (bekannt auch als der Familiennamen des be¬ 
rühmten Tondichters). Aus dem Slawischen gelangte das Wort — in 
der Form Schmetten oder Schmand — in viele deutsche Mundarten; es 
ist besonders in Schlesien, in der Zips und bei den Deutschen in son¬ 
stigen Gegenden Ungarns sowie in den baltischen Gebieten heimisch. 

Der Benennung Schmetterling liegt der Volksaberglaube zu¬ 
grunde, daß Hexen in der Gestalt von Schmetterlingen den Kühen 
und Ziegen die Milch verderben oder rauben 1 . Auch 
andere volkstümliche Namen dieses Tieres deuten auf diesen 
Glauben hin: im Fränkischen heißt es Milchdieb oder Milchtrud, 
in Schlesien Molkendieb, auch Molkenteller (verderbt aus Molken¬ 
stehler), im Hohenlohischen Molkenstehler, in Westfalen Molken- 
töwerer; von der gleichen Vorstellung zeugen auch mundartliche 
Namen wie Smantlecker, Sahnenlecker, Butterfliege. Die aber¬ 
gläubischen Vorstellungen vom Schmetterling als bösen Dämon 
kommen auch bei anderen Völkern vor. Nur aus Unkenntnis dieses 
Volksglaubens konnte man das englische butterfly aus der Farbe 
gelber Schmetterlinge oder nach der ,,Butterähnlichkeit ihrer Exkre¬ 
mente* ‘ (Skeat) herleiten. Besonders der europäische Osten liefert 

A. Berny sieht in der letzten Silbe von Schmetterling, ein Urlautgebilde ml 
oder lm, die Lautgebärde des Leckens, enthalten angeblich auch in griechisch 
molge, deutsch Milch, melken, hebräisch mich = Salz. „Schmetterling“ wäre 
demnach ein „leckendes Ding“, und zwar ein Rahm leckendes Tier, eine 
Auffassung, die mit den obigen Ausführungen über Schmetterling = „Smant¬ 
lecker“ immerhin vereinbar wäre. 

D Der gleiche Volksaberglaube knüpft sich übrigens auch an einen Vogel: 
die „Nachtschwalbe“, auch Nachtschatten genannt, heißt daher beim Volke 
auch Ziegenmelker, übereinstimmend mit dem lateinischen Namen caprimul- 
gus. Andere Volksnamen dieses Vogels sind Großmaul, Milchsauger, Kuh¬ 
sauger, Kindermelker, Hexe. Auch dem Namen des Caprimulgus in anderen 
europäischen Sprachen liegt der gleiche Volksglaube zugrunde: englisch goat- 
sucker, holländisch geitenmelker, shapenmelker, italienisch succiacapre, fran¬ 
zösisch tettechevre, spanisch chotacabras, portugiesisch chupacabras, katala¬ 
nisch xuclacabras, rumänisch mulge-capre, mulgetorul-caprelor. Bei Kluge 
ist übrigens nicht die Nachtschwalbe (Caprimulgus europäus) als Träger des 
volkstümlichen Namens Ziegenmelker angegeben, sondern der Wachtelkönig 
oder Wiesenknarrer (Rallus crex). Zu rationalistisch erscheint mir auch die 
Klugesche Deutung, der Vogel heiße Ziegenmelker, „weil er das liegende 
Weidenvieh zu melken scheint, indes er die Fliegen vom Euter wegpickt“. 
Die zahlreichen und internationalen volkskundlichen Belege für die dämonische 
Rolle der Seelentiere dürfen doch nicht übersehen werden. 


3i£ 






viele Belege für die Auffassung des Schmetterlings als eines Geister¬ 
tieres. Slowenisch vesa bedeutet: Irrlicht, Hexe, Schmetterling. 
Bei den Rumänen heißt der Weißling bezeichnenderweise striga, 
Hexe, oder suflet de strigoia, Zauberatem, Hexenseele. Nach 
rumänischem Volksglauben stiehlt sich der Schmetterling nachts in 
das Herz eines Kindes und saugt ihm das Blut aus, so daß es sterben 
muß. Nesselausschläge, die bei Sterbenden manchmal auftreten, 
nennt der Rumäne streli^ii de moarte, Todesschmetterlinge, und 
diese Todesnesseln sollen Nachtfalter durch ihre Berührung ver¬ 
ursachen. Bezeichnenderweise bedeutete im Spätgriechischen psora 
sowohl den Nachtfalter als die Krätze. Auch mit der Vorstellung 
des Fiebers wird die des Schmetterlings sprachlich verknüpft, z. B. 
heißt im Litauischen drugys sowohl Schmetterling als auch Fieber; 
im Albanischen bedeutet ede Fieber, edeze Lichtmotten. Insbeson¬ 
dere der Nachtfalter gilt bei vielen Völkern als dämonisches Wesen, 
als Seelentier. In einigen Gegenden Schottlands heißt der Nacht¬ 
falter witch = Hexe. Man vermutet in ihm die Seele eines Ver¬ 
storbenen. Manche Sprachen nennen den Nachtfalter einfach 
„Seele“: griechisch psyche, englisch soul, französisch äme. Auch 
bei Dante wird die Seele als Schmetterling (Tangelica farfalla) auf¬ 
gefaßt. 

Aus der Vorstellung, in der Schmetterlingsgestalt verberge sich 
eine Hexe, erklärt sich auch der Umstand, daß es bei einigen Völkern 
volkstümliche Namen des Schmetterlings gibt, die mit der Vor¬ 
stellung eines alten Weibes Zusammenhängen. Das rätoromanische 
mammadonna = Schmetterling klingt an mammaduonna, Gro߬ 
mutter, an und veranlaßt W. Öhl zur Bemerkung, die Ähnlichkeit 
zwischen einem Schmetterling und einer Großmutter sei auf jeden 
Fall sehr gering. Ziehen wir aber die dritte Vorstellung, die der 
Hexe, heran, so ist der Zusammenhang nicht mehr unverständlich. 
Belegt wird dieser assoziative Zusammenhang in der volkstümlichen 
Auffassung auch durch den Namen des Schmetterlings im Russischen: 
babotschka (bedeutet auch Großmutter) und im Schwedischen: 
käringsjal (Altweiberseele). 

Neben „Schmetterling“ gibt es im Deutschen aber auch andere 
volkstümliche Namen dieses Tieres, die mit der Vorstellung des 
Hexens und Milchstehlens anscheinend nichts zu tun haben, wie 
z. B. Sommervogel in vielen Gegenden, im Holsteinischen Flörlöken, 
in Westfalen Flüchter, in Hessen Lattichvogel, Raupenscheißer, in 


316 




Schwaben Zweifalter, Fletisch, in Mähren Krautscheißer, im Eger- 
land Feuerfalter, Peiffolter, im Erzgebirgischen Zweifelsfalter, in 
einzelnen Gegenden des bayrisch-österreichischen Sprachgebietes 
Milimaler, Müller 1 , Weinfalter, Flattermaus, Falladeiner, Pfeil- 
muetter, Falmotte, Fallmolter, Flaimoltl, Flämolterlein, ferner in 
verschiedenen Gegenden Blindermaus, Bibbernickel, Bubeller, 
Fickefahn, Fifaumelte, Fippmopp, Flautermaus, Flickermaus, 
Fluppeschießer, Mippmopp, Pannenvogel, Panneweber, Spannen¬ 
vogel, Zwicker, um nur eine Auswahl zu nennen. Mundarten¬ 
forscher verzeichnen z. B. allein aus der Rheinprovinz fast hundert 
Namen für den Schmetterling. 

Das Wort Schmetterling ist in der deutschen Schriftsprache noch 
keine zwei Jahrhunderte alt; es ist um 17^0 herum aus oberschlesi¬ 
schen Mundarten in die Schriftsprache gedrungen und hat seither 
das ältere Wort Falter zum Teil zurückgedrängt. Falter hat weder 
mit den deutschen Wörtern ,,falten, Falte“, noch mit ,,flattern“ 
etwas zu tun; es ist verwandt mit griechisch pallein=schütteln über 
lateinisch papilio = Schmetterling (,,der die Flügel Schüttelnde“). 
Der althochdeutsche Vorläufer von Falter lautete vivaltra (im 
Schweizerischen kommen die Formen fifalter und pfiffalter noch 
vor). Ein naher Verwandter des Wortes Falter ist das Wort Pa¬ 
villon. Für Fürsten und Heerführer zu festlichen Anlässen gebaute 
Zelte mit Seitenflügeln — Schmetterlingen verglichen — hießen 
schon im 3. Jahrhundert n. Chr. papilio. Daraus wurde dann 
im Französischen pavillon, mittelhochdeutsch pavilum. Daneben 
bildete sich im Französischen auch das Wort papillon zur Bezeich¬ 
nung des Tieres. In Deutschland hat man um die letzte Jahr¬ 
hundertwende herum auch für eine gewisse Krawattenart, die 
querstehende ,,Masche“, Papillon sagen hören. (Über Doppel¬ 
formen, die wie Papillon—Pavillon in der Bedeutung stark ab¬ 
weichen, ausführlicher unter den Stichwörtern ,,authentisch—Effen- 
di“ und ,,loyal —legal“.) 

Als ein in verschiedenen Sprachen wirksames Motiv für die Be¬ 
nennung des Schmetterlings haben wir die Auffassung des Lebe¬ 
wesens als eines sogenannten Seelentieres, als eines Milch und Rahm 
raubenden oder verhexenden Dämons kennengelemt. Aber noch 

1) Man erklärt diesen Namen mit dem mehlartigen ,,Staub“ auf den Flügeln 
gewisser Schmetterlingsarten. Sollte aber nicht vielleicht an Müli (Milch) ge¬ 
dacht werden? 


317 






ein anderes Moment ist anzuführen, das in einzelnen Sprachen den 
seelischen Vorgang bei der Benennung des Schmetterlings kenn¬ 
zeichnet. Während die Namen Schmetterling, Milchtrud, Molken¬ 
stehler, butterfly gleichsam eine Definition des Tieres vom Gesichts¬ 
punkte des Landmanns, des abergläubischen Landsmanns darstellen, 
zeigt z. B. ein spanischer Namen des Schmetterlings die Einstellung 
des Kindes, auf den das bunte, zum Haschen reizende, im Flattern 
aber schwer zu erreichende Tier besonderen Eindruck machen muß. 
Mariposa ist der Namen des Schmetterlings im Spanischen, Kata¬ 
lanischen und Portugiesischen, wörtlich ,,Maria, setz dich“. Das 
Wort mariposa ist also ein zum Hauptwort erstarrter imperativischer 
Satz, wie Faktotum, Vergißmeinnicht, Stelldichein usw. Diese 
Deutung ist aber nicht ganz unbestritten, einzelne Sprachforscher 
haben sie als „entzückende Gelehrten-Volksetymologie“ (W. Öhl) 
abgelehnt 1 . Meines Erachtens ist am imperativischen Charakter von 
mariposa, wie von Diez, Körting, Meyer-Lübke, Riegler vertreten, 
nicht zu zweifeln, höchstens könnte man sich fragen, ob mariposa 
nicht aus maniposa (setz dich auf die Hand) verderbt ist (Scheler 
deutet sogar: man-y-posa, bleib und ruhe, „ein nicht unpassender 
imperativischer Anruf an den ewig flatternden Schmetterling“ 2 ). 

Den Beweis dafür, daß im Namen mariposa jedenfalls, d. h. wie 
immer der erste Wortteil richtig zu deuten wäre, die Aufforderung 
an den Schmetterling, sich zu setzen, enthalten ist, scheint mir 
vor allem die vergleichende Volkskunde zu liefern. Volkstümliche 
Tiernamen gehen nicht selten auf kindliche Interjektionen oder auf 
Kinderreime zurück, mit denen Kinder auf das Erscheinen des 
betreffenden Tieres reagieren. Man beachte z. B. die folgenden 
Kinderreime aus Mecklenburg: Smetterling, sett di (setz di), een 
Uhr blött di (ein Ohr blutet dir); oder: Bodderlicker (Butterlecker) 
sett di, Näs und Muul blött di. Mehr als fünfzig solcher an den 
Schmetterling gerichteten Kinderverse, deren erste Zeile mit „sett 

1) Diez: „Die von Mahn gegebene Erklärung aus mar y posa, Meer und 
Ruhe = Bewegung und Ruhe ist schön, leidet aber daran, daß Meer und Ruhe 
keine Gegensätze sind und das Bild für das Flattern des Schmetterlings zu 
erhaben.“ 

2) Von den Schmetterlingsnamen romanischer Sprachen erwähnen wir noch 
italienisch farfalla („der rhythmische Nachfolger eines papilio“) und portugie¬ 
sisch borboleta. „Die Familienähnlichkeit der Schmetterlingswörter“, bemerkt 
Spitzer, „besteht nur in einem gewissen je ne sais quoi, sie besteht nicht in 
ihrem Aussehen, sondern in ihrer ,Aria‘, im Musikalischen des Wortes.“ 


318 










di endet, fuhrt Wossidlo in seiner Sammlung mecklenburgischer 
Volksüberlieferungen an. Ähnliche Kinderspielverse sind in Wiener 
Volksschulen aufgezeichnet worden: Pabla (Falter), Pabla setz di, 
du bist der Allaletzti. 

Für den imperativischen Charakter von mariposa und für die Auf¬ 
fassung des ersten Wortteiles als des Rufnamens Maria spricht auch 
die Analogie anderer volkstümlicher Tiemamen. In Mittelfrankreich 
marivole und in Verona mariasgola (Maria, fliege!) = Marienkäfer- 
chen; hier ist auch eine norwegische Bezeichnung dieses Käfers zu 
nennen, wenn sie auch nicht zu einem Wort verwachsen ist: marja 
marja fly fly. Die Heuschrecke heißt spanisch saltaperico (spring, 
Peterchen!), italienisch saltamartin (Spring, Martin!) und in 
Mecklenburg Springhansel. Der Springkäfer im Schwäbischen und 
Schweizerischen: Hanseli-gump-uf. 1 

SCHOFEL 

Das hebräische schafal = erniedrigt, verdorben wird im mittelalter¬ 
lichen Judendeutsch zu schofel und dringt mit der Bedeutung arm¬ 
selig, minderwertig, schlecht durch Vermittlung der Gaunersprache 
in viele deutsche Mundarten und durch Vermittlung der Studenten¬ 
sprache auch in die allgemeine Umgangssprache, sogar in die Sprache 
der Dichter (Bürger, Voß,Pfeffel, Gottfried Keller). In einem Gedichte 
Bürgers heißt es: Vergib es denen, die Dich nun und immerdar 
durch Schofelwerke lästern. Jean Paul spricht in der ,, Auswahl aus 
des Teufels Papieren“ von der Schofelwelt. Bei Bürger und Voß 
kommt auch das Hauptwort ,,der Schofel“ vor (wohl nach dem Vor¬ 
bild ,,Pofel“, welches Wort unmittelbar aus Pöbel, mittelbar aus 
lateinisch populus kommt). Auf den Herzog Karl von Mecklenburg, 

i) Ein Tier, das in vielen Sprachen imperativische Namen hat, ist die 
Bachstelze. Der Sinn dieser Imperative ist dabei immer: wackle mit dem 
Schwanz. Griechisch heißt die Bachstelze seisopygis, lateinisch motacilla, fran¬ 
zösisch hochequeue, branlequeue, italienisch batticoda, tremacoda, squassacoda, 
spanisch aguzanieve (wetz den Schnee, nämlich mit dem Schwanz), slawisch 
tresorepka, englisch wagtail (in der englischen Volkssprache übrigens auch der 
Namen einer koketten, männersüchtigen Frau, kommt im König Lear auch 
mit der Bedeutung zudringlicher Bursche vor). Das deutsche Wort Bachstelze 
hat vielleicht auch nichts mit Bach und mit stelzen zu tun und ist möglicher¬ 
weise aus Wacklsterz verderbt, daher ebenfalls ein Befehlswort; zu den er¬ 
starrten Imperativen gehören jedenfalls andere deutsche mundartliche Namen 
des Vogels: Wagesterz (wackel mit dem Sterz) und Wippzagel (wippe den Zagei). 


319 




der im Hause des Prinzen Radziwill bei einer Liebhaberaufführung 
den Mephistopheles spielte, dichtete vor mehr als hundert Jahren 
der Berliner Volksmund: ,,Als Faust, als Mensch, als Christ gleich 
schofel, — erträglich nur als Mephistophel.“ 

Sehr mannigfaltig ist die Bedeutung des Wortes schofel im 
Schwäbischen und im schwäbischen Rotwelsch. H. Fischers Schwä¬ 
bisches Wörterbuch führt als Bedeutung für schofel u. a. an: elend, 
arm, kümmerlich, traurig, niederträchtig, unverschämt, buhlerisch. 
Daneben besondere Rotwelschausdrücke wie: Schofelkitt = Abtritt, 
Zuchthaus, schofler Patris = Stiefvater, schofle Falle pflanzen = Un¬ 
zucht treiben, schofler Fisel = Heuchler, Schofelflättering = Un¬ 
glücksvogel, Schofelschure = Gerichtsvollzieher, Schofelsitzling 
= Richterstuhl. Aus dem Schweizerischen führen wir an: Schoflete 
= zurückgesetzte, wertlose Ware, Schoffeli = nachlässige, schlam¬ 
pige Person (du bisch-mer afe ei fines Schoffeli), Gschofli = un¬ 
behilflicher, tölpischer junger Mann (en rechte Gschofli). 

Das holländische und das dänische sjofel ist wahrscheinlich aus 
dem Neuhochdeutschen entlehnt, im Londoner Slang führt entweder 
das hebräische Etymon selbst oder das in vielen Fällen auch über 
den Kanal hinaus wirkende deutsche Rotwelsch zum Eigenschafts¬ 
wort shofel oder showful. Weitere Londinismen: shofel-pitcher 
= jemand, der falsches Geld unter die Leute bringt, shofel-pullet 
(pullet = Hühnchen) = Dime. 

Zu Unrecht hat man aus hebräisch schafal—schofel auch ableiten 
wollen die Wörter: Syphilis (s. dieses Stichwort) und Schuft 
(mittelniederdeutsch schuvut, bis zum 18. Jahrhundert Schelte 
armer Edelleute, nach Kluge-Götze: ,,der Ruf des Uhus auf den 
lichtscheuen Raubritter übertragen“). 

SCHWAN, SCHWANENGESANG, MIR SCHWANT 

Die Herkunft des Vogelnamens Schwan (althochdeutsch swana, 
z. B. im Frauennamen Swanahilda, die Schwanenkämpferin, englisch 
swan) ist dunkel. Gewöhnlich bringt man das Wort mit einer indo¬ 
germanischen Wurzel suen = rauschen, tönen (im Sanskrit svanas 
= Ton) in Verbindung, von wo sich auch lateinisch sonare (statt 
svonare) ableitet, das Stammwort vieler internationaler Wörter, wie 
Sonett, Sonate, sonor, Dissonanz, Konsonant, unisono usw. Gemeint 
ist bei dieser Etymologie, daß die Idee vom ,,Schwanengesang“ die 
Benennung des Vogels bestimmte. In Wirklichkeit gibt es unter 


320 




den verschiedenen Schwanarten nur eine, bei der von einem 
,,Singen*‘ gesprochen werden kann. Der Cygnus cygnus, auch 
Cygnus musicus genannt, deutsch Singschwan, läßt, wenn er im 
Winter auf Eis gerät und keine Nahrung finden kann, wohlklingende, 
volle Töne verlauten und ,,singt“ gegebenenfalls bis zum Eintreten 
des Hungertodes. Schöner als sonst ist seine Stimme im Sterben 
nicht; ,,sein letztes Aufröcheln“, schreibt Brehm, ,,ist klangvoll, 
wie jeder Ton, welchen er von sich gibt“. Die Vorstellung von der 
Außergewöhnlichkeit des Schwanengesangs geht aber schon auf das 
Altertum zurück. Im Agamemnon des Aischylos sagt Klytaimnestra 
von Kassandra, daß sie ,,nach Art des Schwans zu singen anhub 
letzten Todesklaggesang“, und Cicero bemerkt in seiner Schrift 
vom Redner über die Rede, die Crassus kurz vor seinem Tode 
gehalten hatte: ,,das war gleichsam des göttlichen Mannes Schwanen¬ 
rede.“ So bekam Schwanenlied oder Schwanengesang die Bedeutung: 
letztes Werk eines Künstlers. Im deutschen Schrifttum erscheint 
der Ausdruck in dieser übertragenen Bedeutung zuerst bei Sebastian 
Franck 15-38. Da erst die moderne Naturbeobachtung erkannte, 
daß es sich um den Schmerzensgesang des Schwanes beim Erleiden 
des Hungertodes handelt, unterblieb die Anwendung des Ausdrucks 
Schwanengesang auf das letzte Werk bloß eines in Not und Armut 
sterbenden Künstlers, obschon Kunst- und Literaturgeschichte aller 
Völker auch für Schwanengesänge in derart eingeschränktem Sinne 
reichlich Beispiele liefern. Übrigens hat nicht nur der Schwanen¬ 
gesang eine sprachlich-symbolische Beziehung zur Sphäre der Kunst, 
der Schwan ist überhaupt, eben wegen des Gedankens an seine 
Stimme, ein erhabenes Symbol des Künstlers; man denke etwa auf die 
von Ben Jonson ausgehende Bezeichnung ,,süßer Schwan von Avon“ 
für Shakespeare, auf die Bezeichnung Rossinis als ,,Schwan von 
Pesaro“. Hier sei auch daran erinnert, daß der sterbende Schwan 
auch ein beliebtes Motiv für Schöpfungen der Tanzkunst und der 
für sie bestimmten Musik ist. (Durch den vom Ballettmeister Fokin 
zu Saint-Saens Musik entworfenen Tanz ,,Der sterbende Schwan“ 
wurde bekanntlich die Russin Anna Pawlowa weltberühmt.) 

Die Redensart mir schwant etwas (seltener: mich schwant 
etwas) hat die Bedeutung: ich ahne etwas, besonders etwas Böses. 
In der Schweiz ist neben ,,es schwant mir etwas“ auch gebräuchlich 
,,vor etwas schwanen“ = vor etwas bang sein, z. B. es schwant mir 
vor dere große Arbet. Auch die Redensart ,,mir schwant etwas“ 


n Storfer 


321 




wird mit dem Vogel in Verbindung gebracht. Der Schwan gilt als 
ein Tier mit prophetischen Fähigkeiten. Von Apollo sei ihm die 
Gabe des Voraussehens zuteil geworden. Vor allem, hieß es, könne 
der Schwan sein eigenes Ende voraussehen, daher sein von Todes¬ 
ahnungen erfülltes Schwanenlied. Aber auch anderen soll er den 
Tod weissagen können; z. B. sagen im Nibelungenlied Schwäne dem 
grimmigen Hagen den Untergang der Burgunder voraus. Wegen 
dieser Fähigkeit des Weissagens war der Schwan den Angelsachsen 
heilig, sie schwuren bei ihm. Zu erwähnen ist auch der Volksglauben 
von den Schwanenjungfrauen. Er nimmt verschiedene Formen an: 
er besagt, daß Jungfrauen sich in Schwäne verwandeln und dann 
weissagen können oder umgekehrt, daß Schwäne oft in Menschen¬ 
gestalt, als menschliche Jungfrauen, baden, und daß sie, wenn sie 
bei solcher Gelegenheit ihrer Kleider beraubt werden, Menschen 
bleiben müssen und als solche dann mit der Fähigkeit begnadet sind, 
die Zukunft zu verkünden. ,,Denn wie das Ahnen“, schreibt Rudolf 
Hildebrand, ,,noch jetzt vornehmlich Sache der Frauenseele ist und 
in unserer Vorzeit den Frauen etwas Priester!iches, also ein Zu¬ 
sammenhang mit der Gottheit, beigelegt wurde, so begegnet dies 
mit dem Glauben, daß der Schwan (d. h. der Wilde) vor anderen 
Vögeln die Kraft der Weissagung hätte, und beide Vorstellungen 
raunen zusammen in den wundersamen Glauben, daß es Jungfrauen 
gäbe, die zeitweilen Schwäne wären, mit der Kraft des Ahnens und 
Weissagens. ‘ ‘ Aus dieser VorstellungsVerknüpfung deutet Hildebrand 
die sprachliche Gleichung schwanen = ahnen. Es schwant mir wäre 
demnach also etwa: ich fühle, als verwandelte ich mich in einen 
(die böse Zukunft voraussehenden) Schwan. Als Bestätigungen für 
diese Deutung führt man die in Sachsen und Thüringen wiederholt 
gebuchten Redensarten an: mir wachsen Schwansfedern = ich 
beginne etwas zu ahnen, er kriegte Schwansfedem == ihm ahnte Böses, 
ich habe schon lange Schwansfedern—ich merke es schon lange. (Statt 
Schwansfedem wird auch fälschlich Schwanzfedern gesagt — es ist 
derselbe Vorgang wie bei der Verderbung von Landsknecht zum 
Lanzknecht; in beiden Fällen ist nicht nur die bequeme Ver¬ 
wachsung des -ds- zu -z- bezeichnend, sondern auch die Ersetzung 
der höheren Vorstellungen Schwan, Land durch die alltäglicheren, 
persönlich näherstehenden Schwanz, Lanze.) 

Die Redensart von den wachsenden Schwansfedem beweist aber 
noch nicht, daß im Zeitwort schwanen wirklich der Schwan 


322 






enthalten sei, es kann sich ja auch um eine nachträgliche sprachliche 
Ausschmückung handeln, aufgebaut eben auf der Annahme, ,,es 
schwant mir etwas“ käme von ,,Schwan“. Nach Prof. Singer (Bern) 
hat schwanen, das verhältnismäßig spät auftritt, nichts mit den 
Nornen und Schwanenjungfrauen zu tun, sondern entstammt der 
Gelehrtensprache des 16. Jahrhunderts, die es nach ,,es ahnt mir“ 
bildete, allerdings zugegebenerweise in gedanklicher Anlehnung an 
den Schwanengesang. Zu beachten ist auch die Deutung von Lind- 
quist, der in schwanen das Zeitwort wähnen erkennen will. ,,Es 
wanet mir“ sei im Niederdeutschen durch irrige Wortabgrenzung, 
d. h. durch Hinübernahme des s-Lautes zu ,,es swant mir“ ge¬ 
worden, woraus das hochdeutsche Mißverständnis ,,es schwant mir“ 
entstanden sei. Christian Rogge, überall Bestätigungen seiner These 
von den Wortkreuzungen sehend, will ,,mir schwant“ als eine Ver¬ 
mischung von ,,mir ahnt“ und ,,mir schwebt vor“ erklären. So 
ein Verschmelzungswort stellt übrigens der scherzhafte Studenten¬ 
ausdruck ,,Schwanimus“ dar (,,wir hatten schon längst einen 
Schwanimus davon“), und zwar eine Verschmelzung von,, schwanen“ 
und ,,animus“, wenn es sich doch nicht besser empfehlen sollte, 
den Ausdruck als Beispiel einer sogenannten makkaronischen Kon¬ 
jugation aufzufassen, also ,,schwanimus“ = es schwant uns, so wie 
etwa das scherzhafte ,,kennimus bene“. 

STEIL 

gehört in die Wortsippe steigen, steigern, Steig, Steg, Stiege. Das 
Althochdeutsche weist das Zeitwort stigan = steigen, die Haupt¬ 
wörter Steg = Steg und stiega = Treppe und das Eigenschaftswort 
Steigal auf. Aus letzterem wurde mittelhochdeutsch zunächst steigel 
und bereits im späten Mittelhochdeutsch steil. Der verschwundene 
Verschlußlaut g ist aber im Mundartlichen noch vertreten: in süd¬ 
deutschen Mundarten heißt ein steiles Wegstück Stickel (vgl. das 
Stichwort ,,im Stich lassen“). 

In seiner Untersuchung über modische Erscheinungen im heutigen 
Deutsch weist Ferdinand Herrman darauf hin, daß der Gebrauch 
von ,,steil“ in übertragenem Sinne für unbändig, hartnäckig, 
jäh, stolz, unbeweglich aus dem Niederdeutschen, wo es in diesem 
Sinne geläufig ist, nun auch in die Schriftsprache eingedrungen ist. 
So findet sich bei Immermann: ,,mit seinem Mut so steil“, bei 
Justinus Kerner: das steilste Leben; Arnim und Brentano geben im 

ii* 


323 





Wunderhorn einem Gedicht die Überschrift ,,Steile Liebe“; Stern¬ 
heim spricht von steil anbrechender Begeisterung, Johannes 
R. Becher von Bajonetten, steil für dich geschliffen. Thomas Mann 
spricht von der ,,steilen und generösen Schönheit einer Geste“, — 
allerdings ist an jener Stelle auch das Wort Geste bildlich zu ver¬ 
stehen, denn es handelt sich um die Feindschaft des neuen ,,gotischen 
Menschen“ gegen die Bildungsduldsamkeit. Häufig wird steil in 
übertragenem Sinne von Rilke verwendet, z. B.: eine Gebärde, auf¬ 
recht, steil; mein Leben ist nicht diese steile Stunde; und auch im 
Satze ,,sein aufgestelltes Antlitz war bleichend und verweigernd in 
den steilen Kissen“ ist steil vielleicht nicht nur wörtlich zu nehmen. 
Auch der Schweizer Jakob Schaffner spricht von ,,einer der steilsten 
Protestantinnen“, und sein Landsmann Emanuel Stickelberger (in 
dessen Namen ich übrigens auch das ,,steil“ vermute: Steilberger) 
bemerkt dazu, diese Ausdrucksweise komme wohl davon, daß der 
Dichter in Norddeutschland lebt. 

Auch das — nicht gerade häufige — Zeitwort steilen = sich steil 
erheben oder senken weist neben dem räumlichen auch einen über¬ 
tragenen Gebrauch auf. Steilen gilt als typisches Modezeitwort 
moderner deutscher Lyrik (Arno Holz: ,,stieg, stieß, steilte, teilte, 
speilte“; August Stramm: ,,Köpfchen rosen empor und steilen 
Gewähr“), ist aber schon bei Goethe belegt: ,,Felsenwände, 
welche ... in die Höhe steilen.“ 

IM STICH LASSEN 

gehört zu jenen Redensarten, um deren Ableitung so viele 
Hypothesen in den Wettbewerb treten, daß auch der Laie 
eine Vorstellung von den Schwierigkeiten der Redensarten¬ 
forschung gewinnen kann. Nicht weniger als sechs Deutungen 
liegen vor: 

a) Im Stiche lassen, sagen die einen, bedeutete ursprünglich eine 
Näharbeit abbrechen, unfertig liegen lassen. 

b) Andere messen dem Umstand Bedeutung bei, daß die Biene 
ihren Stachel in der durch sie verursachten Wunde, also ,,im Stiche 
läßt“. Jedenfalls kommt in Luthers Schrift ,,Auff des Bocks zu 
Leypczick Antwort“ (i£2i) die Wendung vor: ,,wie eine tzornige 
bien das leben in stich lassen“. Hier ist im Stich = beim Stechen, 
bzw. in der durch den Stich verursachten Wunde. Die Biene läßt 
ihr Leben wörtlich im Stich. 


324 




c) Ernst Meyer bezieht die Redensart auf den Gebrauch des 
Speeres. Im Stiche lassen wäre demnach: den auf den Feind ge¬ 
stoßenen und geworfenen Speer in der Wunde lassen, sie nicht 
herausziehen, also preisgeben. (Vgl. Odyssee 22, 9^ und 271.) 

d) Verschiedene Erklärungen beruhen auf der Bedeutung von 
Stich im Kartenspiel; einigermaßen verständlich sind diese Erklärungen 
jedenfalls nur, wenn es sich um solche Spielkonstellationen handelt, 
wo man den Gegner dadurch schädigt, daß man ihn den Stich machen 
läßt, ihn ,,im Stiche läßt“. 

e) Andere legen auf den Umstand Gewicht, daß Stich ursprünglich 
mit Punkt (von lateinisch pungere = stechen) begrifflich verwandt ist. 
Vielleicht bedeutet der Stich, in dem man einen läßt, nur einen 
Punkt, den wichtigen Punkt, den entscheidenden Augenblick. Das 
Ausstechen war der Entscheidungsaugenblick, der Probepunkt 
zwischen den kämpfenden Gegnern, sowie wir die entscheidende 
zweite Wahl auch jetzt noch Stichwahl nennen. Nach dieser Er¬ 
klärung heißt also im Stiche lassen: jemand im entscheidenden 
Augenblick sich selbst überlassen. 

Wesentlich besser gestützt als die bisher genannten vier Deutun¬ 
gen sind die nächsten. # 

f) Jene Deutung, die die Redensart ,,im Stich lassen“ mit dem 
Tumierwesen in Verbindung bringt, findet die meisten Anhänger. 
Stich bedeutet nicht nur den einzelnen Lanzenstich, sondern den 
ganzen Kampf, auch das Stechen, das Gestech genannt. Sich in den 
Stich geben heißt: sich der Todesgefahr aussetzen, z. B. bei Luther: 
,,0 welch ein Herz is da gewest, wie tief gedemütiget sichs, gibt 
sich in den Stich.“ ,,Den Stich halten“ bedeutet bei Luther, der 
Gefahr standhalten. Im Stich lassen würde demnach eigentlich 
heißen: im Stich liegen lassen und bedeuten: in der Gefahr liegen 
lassen. Vielleicht bezieht sich aber die Redensart ursprünglich nur 
auf jenen Turnierbrauch, daß der besiegte Ritter Roß und Reiter 
dem Sieger überlassen, d. h. im Stiche lassen mußte. Die Ableitung 
aus dem Turnierwesen könnte befriedigen, ließe sich die Redensart 
im Stiche lassen für die Zeit der Turniere auch nur einmal belegen. 
In Wirklichkeit taucht der Ausdruck erst viel später auf. 

g) Zum Schluß erwähnen wir eine neuere, vielleicht die 
bestbegründete Deutung, die auf einen Vorgang im Fuhrmanns¬ 
leben zurückgeht. Stich oder Stick bedeutet in verschiedenen 
Gegenden des oberdeutschen Sprachgebietes, zum Teil auch des 


32 5 



mitteldeutschen, eine abschüssige Stelle einer Straße. Das Wort ist 
nicht mit stechen verwandt, sondern mit steil (althochdeutsch 
steigal), Steig, Stiege. In Obersteiermark bedeutet ,,die Stickel“: 
steile Anhöhe, plötzliche Steilheit eines Weges. Der Tiroler Flur¬ 
namen „Am Fichtstich“ bedeutet: an der Steigung im Fichtenwald. 
Das zu Stich gehörige Eigenschaftswort ist stickel (mittelhochdeutsch 
steigel, stechel, stikel) = stark ansteigend. Im Erzgebirge gibt es 
Flurnamen wie Stickelacker, Stickelgebirge, Stickelfels. A stickler 
wög oder ähnlich sagt man im Elsaß, in Hessen, Thüringen, Bayern, 
Österreich. (In Kärnten: üben Berg geats stickl aufn.) In der Schweiz 
heißt ein steiles Wegstück ein stotziger Stich. Wenn im Tiroler 
Iseltal die Bauern mit einer schweren Fuhre, oder einer schweren 
Last auf dem Rücken an eine steilere Wegstelle gelangen, so sagen 
sie: vor den Stiche rast mer no amol, as nacher leichter geht. An 
solchen steilen oder aus anderen Gründen schwer überwindbaren 
Wegstellen kommt es nun vor, daß der Fuhrmann das stecken¬ 
gebliebene Fuhrwerk, das er allein nicht flottmachen kann, ,,im 
Stiche läßt“, d. h. daß er weggeht, Hilfe zu holen. Es gibt auch in 
der Nähe der heiklen Stelle ansässige Pferdebesitzer, die den dort 
vorbeikommenden Fuhrwerken regelmäßig ein Vorspann zur Ver¬ 
fügung stellen. Stellt es sich aber heraus, daß das Fuhrwerk einen 
größeren Schaden erlitten hat, so daß es vorerst an Ort und Stelle 
gerichtet werden muß, so zieht der zur Verfügung gestellte Hilfs¬ 
fuhrmann mit seinem Vorspann zunächst ab, d. h. er läßt das schad¬ 
hafte Fuhrwerk vorläufig im Stich. Auch heißt es von Schmugglern, 
die ja naturgemäß die Hauptwege meiden müssen und daher oft in 
die Lage kommen, die Schwierigkeiten eines ,,Stichs“ zu über¬ 
winden, daß sie in der Not, wenn sie nicht weiter konnten, die 
Pferde ausspannten und sich mit diesen retteten, den Wagen selbst 
,,im Stich lassend‘‘. Bei Besserung der Wegverhältnisse hat natürlich 
der ganze Vorgang seine Bedeutung auch für die Sprache eingebüßt. 
(Weiche Bedeutung die Überwindung solcher gefährlicher Wegstellen 
für das Denken und Fühlen der Karrentreiber in Mexiko und Guate¬ 
mala noch hat, kann man aus Travens Roman ,,Der Karren“ ersehen.) 

STRASSE, GASSE, GASSENHAUER, GASSATIM 

Straße (althochdeutsch straza, italienisch strada, spanisch, portu¬ 
giesisch und provenzalisch estrada, englisch Street) kommt von 
lateinisch via strata = bestreuter (d. h. gepflasterter) Weg. Die 


326 







Nennform des lateinischen Zeitwortes ist stemere = ebnen, aus¬ 
breiten, streuen; das deutsche ,,streuen“ ist mit sternere vielleicht 
wurzelverwandt. Von diesem sternere kommen auch unsere Fremd¬ 
wörter konsternieren (etwa ,,verstreuen“, ,,zerstreuen“, also aus 
der Fassung bringen), Substrat, Estrade, Stratosphäre; in dieselbe 
Wortsippe gehört möglicherweise auch griechisch stratos = Lager, 
Heerlager, woraus unser Fremdwort Stratege. 

Neben dem Lehnwort straza kannte schon das Althochdeutsche 
das anscheinend germanische gazza. Der gotische Vorgänger des 
Wortes war gatwo, womit das lettische gatwa = Weg zwischen zwei 
Zäunen zu vergleichen ist. Altnordisch gate bedeutete: Feldweg 
zwischen zwei Hecken, daraus englisch gate = Weg, Tor und dänisch 
gat=Loch (Kattegat bedeutet wörtlich Katzenloch). Doch ist die 
Verwandtschaft des deutschen Gasse (gazza) mit den angeführten 
Wörtern anderer Sprachen nicht unbestritten. 

Im Gebrauch hat sich eine Begriffsabgrenzung zwischen Straße 
und Gasse in der Weise ergeben, daß man mit Gasse hauptsächlich 
die Wege innerhalb von Ortschaften bezeichnete, mit Straße die 
Wege, die aus Ortschaften hinaus, zu anderen Ortschaften führten. 
Durch die Entwicklung der Städte, dem Zusammen wachsen von 
verschiedenen Ortschaften zu einer Gemeinde, hat jene geschicht¬ 
liche Unterscheidung zwischen den beiden Bezeichnungen ihre 
Strenge eingebüßt, und der Wiener z. B. wird keine rechte Antwort 
auf die Frage wissen, warum von vier parallelen schmalen Neben¬ 
gassen des Grabens (Spiegelgasse, Dorotheergasse, Bräunerstraße, 
Habsburgergasse) gerade die kürzeste eine ,,Straße“ ist. Neben ver¬ 
schiedenen geschichtlichen Umständen dürfte die Rücksicht auf 
Wohllaut für die Wortwahl zwischen Straße und Gasse oft mit¬ 
bestimmend gewesen sein. In manchen alten deutschen Städten, 
z. B. in Leipzig, ist die Bezeichnung Gasse geradezu im Aussterben 
begriffen. Oettli — der für die deutsche Schweiz feststellt, daß 
Gassen in den Altstädten überwiegen, namentlich in den Stadt¬ 
teilen, die einst von der Mauer umschlossen waren, indes die 
neueren Quartiere fast nur Straßen aufweisen — hebt hervor, daß 
der Namen Gasse heute vielfach als anrüchig gilt, und daher werden 
in deutschen und schweizerischen Städten bisherige Gassen oft in 
Straßen umgetauft. Wenn aber auch ,,Gasse“ unvornehm geworden 
ist (vielleicht auch, weil es an das von ,,gießen“ kommende ,,Gosse“ 
= Rinnstein anklingt), seines dichterischen Nebenklanges hat es sich 


327 




nicht entledigt. Es würde fast komisch klingen, sagten wir, Winkel¬ 
ried habe sich geopfert, um den Eidgenossen eine ,,Straße“ zu 
bahnen (den sinen macht er ein gassen, heißt es im Sempacherlied), 
und auch Schenkendorf, Körner, Herwegh fordern „der Freiheit 
eine Gasse“. Auch war es nicht eine hohle Straße, durch die Geßler 
kommen mußte, obschon jener Weg durchaus nicht im Inneren 
einer Stadt gelegen war. In vielen anderen Zitaten und Redensarten 
(auf offener Straße, jemand auf die Straße setzen, im politischen 
Sinne: das Recht auf die Straße, an die Straße appellieren, von der 
Straße abhängig sein) hat sich hingegen die Bezeichnung Straße als 
die alleinige durchgesetzt. 

Es gibt viele Zusammensetzungen mit Gasse und Straße, wie z. B. 
Gassenjunge, Gassenlaufen (Spießrutenlaufen), Gassenwitz, Straßen¬ 
bahn, Straßenlärm, Straßenraub usw. Sie sind alle ihrer Herkunft 
und Bedeutung nach durchsichtig. Eines der zusammengesetzten 
Wörter, das nicht ohne weiteres verständlich ist, wollen wir her¬ 
vorheben: ein Gassenhauer ist heute ein im Haus und auf der 
Gasse allgemein gesungenes Lied, ein Synonym des neueren Aus¬ 
druckes „Schlager“ 1 . Das Wort Gassenhauer klärt sich ohne 
weiteres auf, wenn wir wissen, daß hauen ein früherer ober¬ 
deutscher Kraftausdruck für gehen ist (dazu auch heute das nord¬ 
deutsche abhauen = Weggehen). Mit Gassenhauer bezeichnete man 
zunächst einen „Pflastertreter“, bald aber auch „die von Nacht¬ 
bummlern gestampften Tänze“ (Kluge). Bei Borchardt-Wustmann 
wird zur Erklärung des Bedeutungsüberganges auch angeführt: 
„wienerisch aufhauen= hopsen, tanzen“, doch scheint mir hier der 
Sinn des wienerischen Ausdruckes willkürlich zu eng gefaßt zu sein. 
Jedenfalls hat das Wort Gassenhauer schon sehr früh das Tanzlied, 
nicht nur den Tanz, bedeutet, man beachte z. B. den Beleg aus dem 
Jahre 1^17: „Gassenhauer, die man auf der Lauten schlecht“ 
(schlägt). Während Gassenhauer zunächst keinen geringschätzenden 
Nebensinn hatte und fast dem englischen ballad = Tanzlied entsprach, 
wurde es durch die 1773 erfolgte Einführung des Wortes „Volkslied“ 
durch Herder gleichsam in die Gesindestube der Sprache verstoßen. 

In die gleiche Sphäre — in die der heiteren nächtlichen Straßen¬ 
bummler — führt uns das hauptsächlich „burschikos“ verwendete 

0 ,,Schlager“ soll zuerst von Musikkritikern Wiener Zeitungen für zündende 
(erfolgreiche, „einsschlagende“) Melodien aufgebracht worden sein und ge¬ 
langte in den achtziger Jahren zur allgemeinen Verbreitung. 


328 










Wort gassatim. Gassatim gehen bedeutet: auf den Gassen bum¬ 
meln 1 , Frauen nachsteigen, ihnen Ständchen geben, nächtlichen 
Unfug treiben. (Nicht unwahrschein lieh ist übrigens, daß das seit 
dem 16. Jahrhundert bezeugte Fremdwort grassieren — von la¬ 
teinisch grassari = wandern, herumstreifen — die Bedeutungsent¬ 
wicklung von gassatim und gassaten gehen in gebildeten Kreisen 
mit beeinflußt hat.) In Fischarts Gargantua ist zu lesen: nach dem 
Nachtessen giengen sie herumb gassatum, . . . fenstratum, raupen- 
jagatum. Im Simplizissimus des Grimmelshausen: daher ging ich 
schon bei Nacht und mit ihm und seines gleichen gassatim und 
lernete ihm in Kürze mehr Untugenden ab als Latein. In einem 
makkaronischen Gedicht von Moscherosch aus dem Jahre 1689 ist 
die Rede von Studenten, die sub tempore nachti, cum sterni 
leuchtunt, cum cytheris gigisque spilentes (Zithern und Geigen 
spielend) gassatim laufen. Bei Jean Paul finden wir eine Ideen¬ 
verknüpfung zwischen dem Peripathetischen der Antike, dem Unter¬ 
richten im Aufundabgehen und dem Begriff des gassatim. ,,Ich lob 
es oft“, heißt es im Titan, ,,an Sokrates und an Christus, daß sie 
nicht in Hamburg, in Wien oder gar in einer brandenburgischen 
Stadt dozierten und mit ihren Philanthropisten gassatim giengen.“ 
In der volksfliehenden Sprache der Behörden bekam das Gassaten- 
gehen mancherorts gebildeter klingende Namen. So werden im 
Artikel $2 der Leobener Polizeiordnung von 1790 ,,stark lärmende 
Nachtmusiken und Kassazionen auf den Gassen verboten“. 
(Eine ,,Gassation auf der Gasse“ ist für den Sprachforscher ein 
rechtes ,,Pläsiervergnügen“.) Eine andere steirische Behörde er¬ 
laubt 1773 in einer Verordnung ,,Nachtmusiken und Cassationen 
nur bey Laternen und nicht bey Windlichtern“. So hört der 
Bürokrat auch aus dem niedersten und volkstümlichsten Sprachstoff 
hohe Vokabeln der würdigen Sprache Justinians heraus. Auch ist 
aus München der ältere Ausdruck Endgassation bezeugt für Nacht¬ 
musik mit Fackelschein, die die Studenten früher ihren Professoren 
zu machen pflegten (wohl bei Semesterende). 

1 ) Es würde zu weit führen, hier auf alle deutsche Ausdrücke einzugehen, 
mit denen man das Auf- und Abpromenieren auf gewissen Straßen der Stadt 
(auf dem ,,Korso“) bezeichnet. Wir erwähnen nur aus Leipzig „Grimmsche 
schinden“ (auf der Grimmaischen Straße flanieren) und aus deutschen Städten 
in den Sudeten und Beskiden: auf dem Abeh gehen (offenbar aus der Schüler¬ 
sprache, mit Anspielung auf die Bezeichnung einer Linie in der Geometrie 
A-B). 


329 





Das Wort gassatim war trotz seiner lateinischen Endung so sehr 
ein Volkswort geworden, daß es sich auch in Volksliedern einfügen 
konnte. ,,Jetzt westa was gosate geh ist“, sagt in einem Gedicht 
aus Des Knaben Wunderhorn eine Schwäbin, die einen Burschen, 
der zu ihr einsteigen will, auf den Mist fallen läßt. Gassaten oder 
kassaten gehen bekommt in den Mundarten meistens den Sinn: 
Mädchen nachsteigen, und wird zum Synonym des bayrisch-öster¬ 
reichischen ,,Fensterin“. In einem alten steirischen Lied heißt es: 
Ein Hirt soll nicht gassatengehn, wenn die Stern am Himmel stehn. 
Übrigens versteht man in Bayern und in Österreich unter Gaßllied 
oder Gaßlreim die Lob- und Spottlieder vor dem Kammerfenster 
der Liebsten, was wieder eine Brücke zu dem bereits erörterten 
Begriff des Gassenhauers schlägt. 

Der Behandlung der Wörter Straße und Gasse möchten wir den 
Hinweis anschließen, daß auch den städtischen Straßennamen eine 
gewisse Bedeutung für die Wortforschung zukommt. Wir haben bei 
der Behandlung der ausgestorbenen Wörter (s. S. 13 ff.) schon er¬ 
wähnt, daß manches verschollene Wort in Straßennamen noch er¬ 
halten ist (in Wien z. B. An der Hülben und Kumpfgasse), und bei 
der Betrachtung des Wortes Galgen sahen wir, daß die Scheu vor 
dem Galgen in Frankfurt, in Zeitz aus Galgenstraße, Galgentor eine 
Galgenstraße, ein Kalktor werden ließ. Es kommen überhaupt 

Formveränderungen bei Straßennamen 

sehr häufig vor, und sie gehen oft so weit, daß der ursprüngliche 
Sinn ganz unkenntlich geworden ist. Man darf nicht vergessen, daß 
der Straßennamen erst sehr spät eine amtliche Einrichtung geworden 
ist, er stand zunächst nicht auf Straßenschildern angeschrieben, er 
lebte meist nur im mündlichen Verkehr, war zum Teil auch nicht 
bei der ganzen Bevölkerung einer Stadt durchgedrungen. Die wich¬ 
tigeren Privathäuser hatten Hauszeichen und Hausnamen, aber der 
Straßennamen verdankte nur einer beiläufigen und unkontrollier¬ 
baren, ungeschriebenen und rascher Abnützung ausgesetzten Ver¬ 
einbarung sein Dasein. Ich erinnere mich, daß wir bei unseren 
Übungen in der Offiziersschule die einzelnen Mulden und Rachein 
eines bestimmten ,,coupierten Terrains“ als ,,hohle Gasse“, als 
,,Hetschepetschgraben“, ,,toter Hund“ usw. bezeichneten; manche 
dieser Bezeichnungen wurden auch von den Vorgesetzten Übungs¬ 
leitern aufgegriffen, und vielleicht haben nach uns noch viele 


330 






Offiziersaspiranten zur ,,Umgehung des feindlichen Flügels“ einen 
Truppenteil durch die Kerbe ,,toter Hund“ disponiert, sie so 
nennend, ohne zu wissen, daß unser Jahrgang dort wirklich einmal 
einen Hundekadaver fand. Ähnlich verhielt es sich früher meist mit 
den Straßennamen. Sie waren nur von ungefähr fixiert und über¬ 
lieferten sich einem begrenzten Einwohnerkreis durch ,,Hören¬ 
sagen“. Sie waren daher meist einer stärkeren Deformation unter¬ 
worfen als sonstiger Sprachstoff. Das gleiche gilt natürlich auch für 
Flurnamen, die übrigens in vielen Fällen die Grundlage zu Straßen¬ 
namen abgaben. 

Es gibt mehrere typische Ursachen, die zur Deformation von 
Straßennamen führen. Als die Straßennamen schließlich amtlichen 
Charakter bekamen, verpflanzte sich manche sprachliche Dunkelheit 
in die Aufzeichnungen der Rathäuser. Die Fälle Galgenstraße— 
Gallusstraße, Galgentor—Kalktor gehören in die Gruppe der 
Euphemismen, zu den Fällen, wo gleichsam eine Verdrängung 
vorliegt, die Abwehr einer peinlichen Vorstellung. Der Ehrenbrecht¬ 
straße z. B., die es in Braunschweig gab, sah man ihre Vergangenheit 
als ,,Ehebrecherstraße“ nicht mehr an. Straßen dieses verdächtigen 
Namens gab es im 16. und 17. Jahrhundert auch in Hannover, 
Hamburg und Lübeck, bis sich schließlich wohl die Ehemänner 
unter den Ratsherren nicht mehr gefallen ließen, daß ihre allfälligen 
Seitenwege sich so ungeniert benennen. Vielleicht ist auch der 
Ebrähergang in Hamburg als einstiger Ehbrekergang aufzufassen. 
Auch der für den Anfang des 18. Jahrhunderts bezeugte derbdeut¬ 
liche Hildesheimer Straßennamen , , 1 m geilen Stert‘ ‘ (= Sterz = cauda, 
penis) wurde zum ,,Gelben Stern“ verharmlost. Aus Gründen des 
Anstands ist wohl auch die anrüchige (ursprünglich wohl wörtlich 
an-,,rüchige“) Faule Gasse in Halberstadt eine Pfahlgasse ge¬ 
worden. In Kiel allerdings scheint man Faulegasse als die ge¬ 
ringere Schmach empfunden zu haben, denn dazu taufte man dort 
die Pfuhlgasse um. Die Dreckgasse 1 im alten Köln (Ende des Enten¬ 
pfuhls am Eigelstein) wurde im 19. Jahrhundert zur Eintrachtstraße 
umgetauft. 


1) Dreckgassen gab es auch in Wismar, Königsberg (die jetzige Steile Straße), 
Frankfurt. Stralsund hatte im 15 . Jahrhundert einen Schiterhagen. In Köln hieß 
das jetzige Börsengäschen bis 1813:1m Pißgraben. In Danzig gab es einen großen 
und einen kleinen Stinkgang, in Hildesheim (wiederholt belegt zwischen 1402 
und 1820) eine Stinkende Pforte. 


331 






Ein früher häufig (z. B. in Danzig-Schidlitz, in Marienwerder in 
Westpreußen, in Lüneburg, in Groß-Aspe bei Neumünster in 
Schleswig-Holstein) vorkommender Flurnamen zur Bezeichnung 
einschnittartiger Geländeteile war Arschkerbe. Auch gab es in 
vielen deutschen Städten (z. B. in Breslau, Elbing, Königsberg, 
Lübeck, Rostock, Wismar, Münster, Frankfurt) Straßen, meistens 
Sackgassen, die Arschkerbe hießen; diese Straßennamen verwandelten 
sich mit der Zeit alle zu Aschgräberstraße, Harzkehre, Arztkarren¬ 
gasse, Oskarstraße usw. Ein toter Rheinarm, der früher Arschkerbe 
hieß, heißt jetzt Eiskarpfen. Eine im Amtsgerichtsbezirk Harzburg 
vorkommende Arschkerbe (für 1666 schriftlich belegt) ist zum 
Kerbental geworden. Der Latinisierung des anstößigen Wortes durch 
Feldmeßbeamte verdanken auch der große und der kleine Arius in 
Pirmasens ihren Namen. Das heutige Gauscheidetal im Harz hieß 
früher einmal Kuhschietental. 

Oft geht die Veränderung eines Straßennamens darauf zurück, 
daß ein veraltetes Wort nicht mehr verstanden wird. So 
wurde in Gießen die Etzenwiese (etzen = weiden, verwandt mit 
essen, aasen, äsen, Atzung) zur Eselswiese. Viele Straßen waren 
nach einem bestimmten Handwerk benannt, deren Angehörige dort 
hausten, und gerade unter den Handwerks- und Gewerbenamen gibt 
es manches veraltete und daher leicht zum Verderben neigende 
Wort. So gibt es im Rheinland, in Köln, Bonn und anderen Städten 
Wenzler-, Wenzel- und Wenzelslausgassen, die nicht etwa einen 
Schluß auf die Verehrung des slawischen Heiligen oder eines anderen 
Wenzels zulassen; der ursprüngliche Namen war Wänstlergasse, 
und die Wänstler (von Wanst) waren die nicht zur Metzgerzunft 
gehörigen ,,Kleinmetzger“, die Fleischabfälle, Eingeweide und 
dergleichen verkauften. In Gießen wurde die Walkergasse (die 
Walker waren Wollschläger) zur Wolkengasse, die Löbergasse 
(Löber = Gerber, Lohgerber) zur Löwengasse. Über die Löwen¬ 
gasse in Wien vermute ich angesichts ihrer Nähe zur Weißgerber¬ 
lände ähnliches. In Magdeburg gab es eine Kesselbüßerstraße (dort 
wohnten die Kesselbesserer, d. h. Kesselflicker) und in Hildesheim 
eine Oltböterstraße (d. h. Altbüßerstraße, dort wohnten jene, die 
alte Sachen verbesserten, d. h. die Flickschuster); als dann das Zeit¬ 
wort büßen seine alte Bedeutung ,,bessern“ (wie noch in: Lücken 
büßen) einbüßte, verwandelte sich die Kesselbüßerstraße in eine 
Kesselbeißerstraße und die Oltböterstraße in eine Altpetristraße. 


332 




Über Taubenstraßen, die nichts mit dem Vogel zu tim haben, 
s. das Stichwort taub. In der seit dem 13. Jahrhundert in Straßburg 
belegten Kurdewenergasse hausten Schuster; man nannte sie auch 
Kurdewener nach dem berühmten Korduan, dem kordovanischen 
Leder, das die Araber in Cordoba, der alten Stadt am Guadalquivir, 
erzeugten; das französische Wort für Schuster, cordonnier, weist 
noch heute die Beziehung zum Ortsnamen Cordoba auf. Der Namen 
der Straßburger Kurdewenergasse wurde nun nicht nur oft zu¬ 
sammengezogen zu Kurwengasse und Kurbengasse, sondern eine 
Zeitlang, da man die Gewerbebezeichnung Kurdewener nicht mehr 
verstand, verderbt zu ,,Kinderwiegegasse“. Es blieb der heimat¬ 
kundlichen Forschung Vorbehalten, die Erinnerung an Leder und 
Schuster zu erneuern, und auf Plänen aus den achtziger Jahren 
erscheint die alte Kurdewenergasse wieder als Korduangasse 
(französisch allerdings als rue de Maroquin, also pfuschte da 
sprachlich eine andere feine arabische Ledersorte in das Korduan- 
handwerk); jetzt heißt die Gasse rue de Cordonniers, Schuh¬ 
machergasse. 

In wieder anderen Fällen ist der Namen einer vergessenen 
Person oder ein irgendwie sonst verkannter Eigennamen der Kern 
eines deformierten Straßennamens. Die einstige Petersiliengasse in 
Berlin C (jetzt Schornsteinfegergasse) stellt eine Verderbung des 
Namens des einstigen Bürgermeisters Peter Züge dar. Ein Frank¬ 
furter Bürger namens Slymme ist schuld an jener ,,schlimmen 
Mauer“, von der in Goethes Knabenmärchen die Rede ist. Die 
Rebellenstraße im lammfrommen Langensalza gelangte zu diesem 
Namen, weil man sich an einen verdienstvollen Bürger der Stadt, 
der Rebel hieß, nicht mehr erinnerte. Die Singerstraße in Wien 
hieß ursprünglich Süchingerstraße, weil Einwanderer aus Süchingen 
bei Regensburg dort gewohnt haben. Die Bräunerstraße in Wien 
war eine St. Brigittenstraße, dann folgten die Zwischenstufen 
St. Bridenstraße, Bridenstraße, Breidnstraße. In Münster gab es 
nach einer Fürstin Gallitzin eine Gallitzingasse, der Volksmund ver¬ 
wandelte sie aber zur Galiziengasse, und zwar noch lange bevor 
Knochen westfälischer Grenadiere in galizische Erde gelangten. 
In Cuxhaven hat ein Hafenteil den poetischen Namen ,,Alte 
Liebe“; angeblich darum, weil das mit Ballast beschwerte, see¬ 
untüchtige Schiff, das man einst dort versenkte, um eine Stelle vor 
Wogenandrang zu schützen, nach dem bei Danzig gelegenen 


333 



Zisterzienserkloster „Oliva“ hieß, woraus der Volksmund zunächst 
Olle Liebe machte 1 . 

Die Vivatstraße in Bonn war einst ein schlichter Viehpfad 2 , auf 
dem das Vieh zur großen Tränke getrieben wurde, die sich dort 
befand, wo heute das Beethovendenkmal steht; die Latinisierung 
paßt so recht zu einer Universitätsstadt. Häufiger sind gegenteilige 
Fälle, wo ein gelehrtes Fremdwort im Straßennamen einem volks¬ 
tümlicheren weichen mußte, wie z. B. in Rostock und Altona, wo 
Pädagogienstraßen zu Papageienstraßen wurden. ,,Unter-Sachsen- 
hausen“ in Köln geht auf ,,Unter sechzehn Häusern“ zurück (indes 
das Frankfurter Sachsenhausen sich wirklich auf Sachsen bezieht: 
Karl der Große soll am anderen Ende der ,,Frankenfurt“ sächsische 
Gefangene angesiedelt haben). Ein bei Offenbach gelegener Hof 
namens Grafenbruch hieß eigentlich Gravenbruch = grauer Bruch. 
Der Affensteiner Weg in der Umgebung von Frankfurt heißt so 
nach einem Bildstock (Ave-Stein). Auch das Affental bei Gotha hat 
nichts mit den Affen zu schaffen, der Namen enthält das in vielen 
Flußnamen vertretene gotische ahva, keltische apa (lateinisch 
aqua) = Wasser. 

Die Lilienstraße in Flensburg hieß, zur dänischen Zeit, also vor 
1864, Lille Gade, also Kleine Straße. Der Namen der Engelgasse 
in Aschersleben ist aus Enge Gasse verderbt. Der Rennweg in 
Zürich war früher ein Rainweg, und der Rennsteig, der lange 
Kammweg des Thüringer Waldes, ein Rainsteig. Die Straßburger 
Straße ,,Unter den Gewerbslauben“ hieß früher Erbsenlauben 
(Erweislouben). Der Flache Turm zu Dürkheim in der Pfalz und 

1) In anderen Fällen ist der Bestandteil ,,Liebe“ aus slawischen Quellen 
aufzuklären. Der Felsen ,,Hohe Liebe“ in der sächsischen Schweiz zeigt das 
slawische Wort lewo Hügel und der Namen des pommerschen Ortes Liebe¬ 
seele kommt von slawisch Lipa Selo = Lindendorf. Solche volksetymologische 
Verdeutschungen slawischer Orts- und Flurnamen sind auch sonst nicht selten. 
Ein Hügel bei Leisnig heißt ,,Käse und Brot“, von slawisch Kesebrade = Ziegen¬ 
hügel. Viele sonderbare Namen in der Mark Brandenburg, wie Aalkasten, 
Blauer Affe, Hühnerholz, Kuhbier, Holzseelen, Mißgunst dürften slawischer 
Herkunft sein. Auch auf dem Schlachtensee bei Berlin hat kein märkischer 
Admiral Schlachten geliefert, ein friedliches Fischerdorf namens Slatice stand 
dort früher. 

2) Sogar in Berlin erinnert noch ein Straßenname an Hirt und Weide: die 
Rosinenstraße in Charlottenburg heißt angeblich darum so, weil sie einst, als 
Schaf- und Ziegenherden sie täglich auf ihrem Weg zur Weide benützten, stets 
Spuren dieser Passanten aufgewiesen habe. 


334 



der Weiche; Hahn in Köln sind keineswegs so sonderbar, wenn man 
weiß, daß es ursprünglich Flaggenturm und Geweihter Hahn ge¬ 
heißen hat. In Gardelegen gab es eine Eselstraße nach dem hölzernen 
Esel, auf den der alte Dessauer Soldaten zur Strafe setzen ließ, sie 
wurde umgetauft zur Öl Straße. 

Besonders oft ist die Ursache von Verhunzungen des Namens von 
Orten, Halden und Wegen bei den Beamten der bürgerlichen oder 
militärischen Landvermessung zu suchen. Schließlich kann man es 
den Geometern nicht sehr verübeln, daß sie philologisch unzuläng¬ 
lich gerüstet sind, das Mundartliche, besonders wenn sie nicht ein¬ 
heimisch sind, leicht verkennen, so daß dann oft gründlich um¬ 
gemodelte Flurnamen in die Grundbücher und auf die Landkarte 
gelangen. Von Geometers Gnaden hat mancher Firstweg eine 
Standeserhöhung zum Fürstenweg erfahren, und manche ehemalige 
Schwattschanze (Schwatt = seichtes, sumpfiges Wasser oder ein 
Damm aus Weidengeflecht) bildet sich dank dem neuen Namen 
„Schwedenschanze“ heute ein, eine weltgeschichtliche Stätte ge¬ 
wesen zu sein. Nachgewiesenermaßen einem teufelsscheuen Feld¬ 
messer verdanken im Gothaischen der Diewelsbargk, das Diewels- 
holz und der Diewelsgroaben, daß sie entteufelt wurden und sonder¬ 
licherweise als Beifallsberg, Beifallsholz und Beifallsgraben auf die 
Landkarte kamen. 

Zum Schluß noch einige Straßennamenschicksale aus fremden 
Zungen. In Budapest, nahe zur Donau, gibt es eine Bälväny-ucca, 
wörtlich Götzengasse. Sie hatte früher den deutschen Namen 
Göttergasse, und das sollte verballhornt sein aus Gödergasse. Göd 
ist ein kleines Dorf, etwa 20 km von Budapest, und es ist fast 
lächerlich, anzunehmen, daß eine Pester Gasse nach diesem kleinen, 
verhältnismäßig fernen Orte Göd benannt gewesen sein soll. Die 
richtige Lösung des Rätsels ist, daß jene Gasse um 1800 herum 
deutsch Gütergasse hieß (weil dort Lagerplätze für die Schiffahrt 
waren); das mißverstandene Gütergasse wurde später zu Götter¬ 
gasse, in der ungarischen Übersetzung zu Götzengasse. Die Kirche 
Santa Maria in Via Lata, eine der ältesten Kirchen Roms, so benannt, 
weil sie an der ,,breiten Straße“ des antiken Roms steht, hieß im 
Volksmund eine Zeitlang Santa Maria Inviolata (= unangetastet, jung¬ 
fräulich). In Mailand gibt es noch heute die Rugabella, eine Straße, 
die zur Franzosenzeit (1500—1512 und 15-15—15-22) Rue belle hieß. 
Die vom englischen König oft befahrene Allee im Londoner Hyde Park, 


33 S 



die den unvomehmen Namen Rotten Row, also Faule Straße, Ver¬ 
kommene Allee, führt, soll ursprünglich französisch Route du Roi 
geheißen haben. Eine Pariser Straße, die lange Zeit den volkstümlich 
obszönen Namen poile-cou, Scheidenhaar, trug, verwandelte sich in 
eine ruedePelican. Als Straßburg 1681 französisch wurde, verwandelte 
sich die nach einer Familie,, Zur Hellen* 4 benannte Hellengasse zur rue 
Sainte Helene, die nach einem Patriziergeschlecht des 14. Jahr¬ 
hunderts benannte Knoblochgasse zur rue de l’Ail, und die rue des 
Veaux und die rue des Boucliers mußte man sich rückübersetzen 
zu Kalbgasse und Schildgasse, um, entsprechend der ursprünglichen 
Absicht dieser Straßennamen, an die Straßburger Rittergeschlechter 
derer von Kalb und derer von Schild erinnert zu werden. 

STROLCH 

und strolchen, herumstrolchen, sind Ausdrücke, die erst spät aus 
schwäbisch-alemannischen Mundarten in die Schriftsprache ge¬ 
drungen sind. Man hat Strolch mit englisch stroll = herumstreifen, 
schlendern, in Verbindung gebracht, wobei allerdings auffallen muß, 
daß das englische Wort nicht im Niederdeutschen, sondern gerade 
im Süden Aufnahme gefunden hätte. Um diesen Umstand aufzu¬ 
klären, wurde Vermittlung von französisch troler = sich herum¬ 
treiben, hausieren 1 , angenommen, was wieder mit deutsch trödeln, 
trollen und trotten vielleicht zusammenhängt, so daß der Strolch 
ein ferner Verwandter des Trottels und des Trödlers wäre. Die 
Ableitung von Strolch aus troler fordert aber die Frage heraus, 
woher denn in Strolch der Anlaut s und der Endlaut ch komme. 

Im ausgehenden Mittelalter und in den kriegerischen zwei Jahr¬ 
hunderten der Reformation und der Gegenreformation trieben sich 
im Troß der Heere neben Marketendern und Sudelköchen aller Art, 
neben marktschreierischen Gauklern, Quacksalbern und pillen¬ 
preisenden Scharlatanen auch sehr viel Wahrsager herum, vor allem 
auch Astrologen, die aus den Sternen das Schicksal des einzelnen 
deuteten; aus Wallenstein kennen wir Seni, den Astrologen des großen 
Feldherm. Zu Ende des ig. Jahrhunderts kamen sehr viele schwä¬ 
bische und schweizerische Landsknechte als Söldner im französischen 
Dienst nach Italien. In der Lombardei wurde das dem Griechischen 
entnommene italienische Wort astrologo zu strolago oder zu 

1) La Trole hieß in Paris ein 1906 durch städtischen Erlaß aufgehobener 
Trödelmarkt für alte Möbel. 


336 




strolegh verwandelt. Wenn auch die Horoskopsteller reichlich Zulauf 
bei den Soldaten fanden, regte sich immerhin auch das Gefühl des 
Mißtrauens und der Mißachtung, und schon anfangs des 16. Jahr¬ 
hunderts findet sich in italienischen Schriften das Wort strolegh 
oder strolec mit der Bedeutung: Herumtreiber, Vagabund, be¬ 
trügerischer Gaukler. In diesem Sinne gebraucht das Wort zum Bei¬ 
spiel das 15-17 erschienene makkaronische (italienisch-lateinische) 
Epos des Benediktiners Teofilo Folengo von Mantua. Auch in 
heutigen italienischen Wörterbüchern finden wir noch das Wort 
strolago = Betrüger. Schwäbische Landsknechte verschleppten das 
Wort in ihre süddeutsche Heimat, von wo es schließlich als Schelt¬ 
wort sowohl in das Rotwelsch als in die allgemeine Umgangssprache 
Eingang fand. Im Schrifttum taucht das Wort Strolch zuerst 1670 
bei Grimmelshausen auf. Den Anhängern der neuerdings wieder 
einigen Anklang findenden Astrologie wird der etymologische 
Zusammenhang zwichen „Astrolog 44 und ,,Strolch 44 nicht sehr 
schmeichelhaft erscheinen. 

Als der ,,Völkische Beobachter 44 im Herbst 1933 den Physiker 
und Astronomen Albert Einstein einen ,,Astralstrolch 44 nannte, 
so machte er im Grund genommen ein etymologisches Wortspiel, 
denn Astralstrolch bedeutet ja, wortgeschichtlich betrachtet: 
Astralastrologe. 

SYPHILIS 

Steht es auch einwandfrei fest, daß die Krankheit, die heute überall 
Syphilis heißt, zur allgemeinen Verbreitung in Europa erst im 
letzten Jahrzehnt des 15-. Jahrhunderts gelangte, ist die Frage nach 
ihrer Herkunft doch auch heute noch umstritten. Die einen halten 
daran fest, daß die Lustseuche schon im Altertum vorgekommen 
sei. Dufour glaubte z. B. unter den ansteckenden Krankheiten, die 
das Alte Testament an den ausschweifenden Baal-Anbetern be¬ 
schreibt, die Syphilis erkennen zu können. Auch die Geschwüre 
des vielgeprüften Hiob wollte man als syphilitisch auffassen, und 
darum vielleicht ist einer der neuzeitlichen Laiennamen der Lues: 
Morbus St. Jobi (Sankthiobskrankheit). Auch manche von den 
römischen Satirikern erwähnte Geschlechtskrankheit versuchte man 
als Syphilis zu agnoszieren, doch angesichts der medizinisch ungenauen 
Beschreibungen ist dabei der deutenden Phantasie breiter Spielraum 
gelassen. Die Anhänger der Hypothese von der Altertumssyphilis 


337 



nehmen meistens an, daß der große Herd der Krankheit im Orient 
war, und daß die Verschleppung ins christliche Abendland mit 
den Kreuzzügen begann. Für die Zeit um 13^0 liegen schon 
europäische Krankheitsbeschreibungen vor, die einzelne Forscher 
ernstlich für die Syphilis in Anspruch nehmen wollen. Zu Unrecht 
hat jedoch Sudhoff die Bezeichnung ,,gros mal“ (in Dijoner Gerichts¬ 
akten für 1463 belegt) für die Syphilis reklamiert; H. Haustein hat 
nachgewiesen, daß unter gros mal damals die Epilepsie verstanden 
wurde. Vorberg hat selbst die eingesunkene Sattelnase der Sokrates¬ 
statuen als Beweis für die Altertumssyphilis herangezogen. Andere 
erkennen sogar in gewissen Krankheits- und Behandlungsschilderun¬ 
gen des gelehrten Kaisers Huangti, des ,,Kulturheros der Chinesen“ 
im 27. Jahrhundert v. Chr., die Syphilis wieder. 

Selbst wenn es zuträfe, daß die Syphilis schon früher in Europa 
vorgekommen sei, ist sicher, daß ihre allgemeine Verbreitung mit 
dem Jahre 1495 beginnt. Am 22. Februar 149^ zog das Heer 
Karls VIII. in Neapel ein. Söldner vieler Zungen'dienten im Heere 
des Franzosenkönigs, und achtzig Tage verbrachten sie in der 
eroberten Stadt in einem fast ununterbrochenen Alkoholrausch, in 
einer einzigen langen Orgie mit einheimischen Frauen und mit den 
Tausenden der mitgebrachten feinen Kurtisanen und niederen 
Lagerdimen. Als das französische Heer Neapel verließ, war die 
Syphilis in seinen Reihen schon eingenistet. Der klägliche Rückzug 
Karls VIII. aus Italien wurde zum triumphalen Einzug der Syphilis 
in die Zivilisation. Kaiser Maximilians Truppen, die 1495" in der 
Lombardei und in Venetien waren, kamen mit der neuen Krankheit 
bereits in Berührung. In das im gleichen Jahre am 7. August auf 
dem Wormser Reichstag erlassene kaiserliche Edikt gegen Gottes¬ 
lästerungen wurde (wahrscheinlich auf Anregung des Mainzer Erz¬ 
bischofs Berthold von Henneberg, der selbst an Syphilis litt) als 
Drohung einer neuen Gottesstrafe der Hinweis eingefügt auf die 
,,pössen platern“ (böse Blattern), eine schwere Krankheit, 
,,die vormals bey menschengedechtnuss nye gewessen noch gehört 
seyn“. Nächstes Jahr, zum i£. Juni, verzeichnet Clemens Sender in 
seiner Augsburger Chronik kurz: ,,hie sind erstlich die frantzosen 
auffgestanden.“ Im selben Jahre befahl der Rat von Nürnberg ,,allen 
Badem bei einer Pön zehen Gulden, daß sie darob und vor sein, 
damit die Menschen, die an der Newen Krankheit, malum frantzosen 
befleckt und krank sein, in ihren Baden nicht gebadet“. Für das 


338 


nächste Jahr (1497) ist der Tod eines Mädchens in einem Frankfurter 
Bordell an der Syphilis belegt. 1498 tritt sie zuerst in Leipzig auf. 

Daß die Ausbreitung der Syphilis in Europa in großem Maßstabe 
gerade mit der Einnahme von Neapel beginnt, ist eine starke Stütze 
der Hypothese von der amerikanischen Herkunft der Syphilis. 
Im Jahre 1492 entdeckte Kolumbus die ersten mittelamerikanischen 
Inseln, darunter auch Haiti, das damals den Namen Espanola bekam. 
Die Spanier aus dem Gefolge des Genuesers fanden viel Gefallen an 
den eingeborenen Frauen, und einzelne akquirierten auf Espanola 
eine Krankheit, die dort unter dem Namen Guaynaras (in Mexiko 
als Xochicinitzli oder Nanacauatl) schon von lang her bekannt war. 
Der Arzt Ruy Diaz de Isias, der den Entdecker Amerikas auf seiner 
ersten Fahrt begleitete, mußte auf der Rückfahrt bereits mehrere 
Matrosen wegen der ,,fressenden Krankheit der Insel Espanola“ 
in Behandlung nehmen. Er gibt eine eingehende Krankheits¬ 
schilderung, und diese läßt in bezug auf den Syphilischarakter der 
Haiti-Krankheit kaum noch Zweifel übrig. Im Jahre 1493 konnten 
bereits heimgekehrte Matrosen die neue Krankheit in Spanien ver¬ 
breiten. Im Heere Karls VIII., das nach Neapel zog, befanden sich 
viele Krieger, die in Spanien angeworben waren, aber auch in den 
Reihen der Verteidiger Neapels befanden sich Spanier, wozu dann 
auch noch die spanische Entsatzarmee kam. Es befanden sich also 
Spanier auf beiden Seiten, und so war für die Verbreitung der aus 
Haiti mitgebrachten Krankheit reichlich gesorgt 1 . (Die Gerechtig¬ 
keit erfordert es übrigens, daran zu erinnern, daß die Alte Welt 
den Indianern Haitis nicht nur die Syphilis, sondern auch den 
Mais, die Kartoffel, den Tabak — und die Hängematte verdankt.) 
Übrigens kam aus Amerika auch die erste Hilfe gegen die Syphilis: 

1) An die Einführung der Syphilis durch die Mannschaft des Kolumbus 
dachte wohl auch Voltaire, denn im „Candide“ wird die Krankheit des Philo¬ 
sophen Pangloss zurückgeführt über dem Kammerkätzchen Paquette und 
einem Franziskaner und einer alten Gräfin und einem Rittmeister usw. ,,in 
gerader Linie auf einen Gefährten des Kolumbus“. Shakespeare hingegen ver¬ 
legt die Syphilis unbedenklich ins Altertum, denn es ist kein Zweifel, daß es 
die Syphilis ist, deren Symptome Timon von Athen den Hetären Phrynia und 
Timandra schildert. Der italienische Dichter Trajano Boccalmi ( 1556 —1613), 
der in seinen Ragguagli di Paraaso für seine satirischen Gedanken die Form von 
Gesprächen vor Apollo wählt, läßt den 1544 an Syphilis gestorbenen Lyriker 
Francesco Maria Molza nebst Kolumbus vor Apollo erscheinen; Molza knüpft 
die Hosen auf und ruft: ,,Hier, siehe, die Geschenke der Neuen Welt“; worauf 
Apollo und die Musen entsetzt die Flucht ergreifen. 


339 




15"16 das Guajakholz, in Deutschland auch Pock-, Franzosen¬ 
oder Lebensholz genannt, das Holz des Guajacum officinale, über 
welches Heilmittel Hutten 1^19 eine Schrift veröffentlichte. 

Für die Beurteilung des tiefen seelischen Eindruckes, den das 
Umsichgreifen der neuen Seuche um jene Mittelalter und Neuzeit 
trennende Jahrhundertwende machte, sind die kirchlichen Ver¬ 
hältnisse jener Zeit nicht ohne Bedeutung. Auf dem päpstlichen 
Stuhl saß ein Borgia, Alexander VI., und die Namen seiner fünf 
Kinder — darunter am berüchtigsten Cesare und Lucrezia — waren 
in aller Leute Mund. Das Beispiel an Sitten Verderbnis, das höchste 
Vertreter der Kirche gaben, förderte nicht wenig die Reformations¬ 
bewegung, und die grauenvolle neue Krankheit galt als warnender 
Fingerzeig Gottes 1 . Ulrich von Hutten, selbst in den Klauen der 
Seuche, schrieb 1^29 ,,von den Franzosen oder blätteren“: ,,Es 
ist got gefellig gewesen, in unsem tagen kranckheiten zu senden, 
die unsern vorfaren unbekant seint gewesen. Da bei haben gesagt 
die der heiligen geschrift obligen, das die blätteren usz gotz zom 
kumen seint, und got damit unsere bösen berden straffe und 
peynige.“ Diese Sätze hat 189^ der Dichter und Arzt Oskar 
Panizza (der übrigens später, wie der von ihm so verehrte Hutten, 
ebenfalls ein Opfer dieser Krankheit wurde) seinem berüchtigten 
„Liebeskonzil“ als Motto vorangesetzt; er läßt in diesem Drama 
Gottvater, der die sündige Menschheit mit der Syphilis heimsuchen 
will, die päpstliche Familie als Werkzeug der geschwind fort¬ 
schreitenden Ansteckung erwählen 2 . Die Vorstellung, daß die 
Syphilis die Strafe für sündhafte Lust ist, liegt auch der Bezeichnung 
Lustseuche zugrunde. (Karl Kraus: ,,Die Verbreitung der Lust¬ 
seuche hat der Glaube bewirkt, daß die Lust eine Seuche sei.“) 


1) Von deutschen Kirchenfürsten erkrankten an der Syphilis in den ersten 
fünfzehn Jahren ihres Auftretens außer dem schon erwähnten Mainzer Erz¬ 
bischof u. a. Bischof Hieronymus von Brandenburg, der Probst und Domherr 
Tollhopf, der Bischof von Halberstadt Emst von Sachsen, Heinrich III., Graf 
von Schaumberg und Bischof von Minden, Hermann V. Graf von Wied und 
Erzbischof von Köln. 

2) In einigermaßen ähnlicherWeise hat die von einem zum anderen wandernde 
Syphilis S^nac de Meilhac (1775) dargestellt; der dritte Gesang seiner berüch¬ 
tigten Foutomanie ist ganz dieser Krankheit gewidmet, die dort von Erz¬ 
bischof und Edelleuten zu Herzoginnen und von ihnen zu Schweizergardisten 
wandert. Man vgl. auch über den „Reigen“, der zur Infektion von Voltaires 
Pangloss führt, die Fußnote auf der vorigen Seite. 


340 



Das Wort Lustseuche kommt zuerst in Luthers Bibelübersetzung 
(i. Thessal. 4, g) vor. Es bezeichnet aber dort nur den überheftigen 
Sinnentrieb, die krankhafte Lust. Als Verdeutschung von Syphilis 
wird das Wort Lustseuche erstmalig 1726 von Drollinger gebraucht. 
Luther selbst spricht noch vom „Frantzoss“, z. B.: ,,Ich habe 
appelirt in meinem Zehn whe (= Zehenweh, d. h. Podagra) zu 
gott und gebeten, er soll mir Frantzoss oder pestilentz dafür 
schicken quae sunt ad mortem infirmitates. ‘‘ 

Uns, die wir uns hier mit Wörtern befassen, interessiert natürlich 
nicht die Geschichte der Krankheit an sich, sondern die ihrer Be¬ 
nennung. Der Exkurs über den Beginn ihrer Verbreitung in 
Europa war aber notwendig, damit die Entstehung ihrer ersten 
Bezeichnungen verständlich wird. Damit, daß spanische Soldaten 
anläßlich des französischen Feldzuges um Neapel die Krankheit 
verbreitet haben, begründet sich, daß man die Krankheit zunächst 
als spanisch, als französisch, als neapolitanisch, alssizilisch 
bezeichnete. In der Gelehrtensprache nannte man die rapid um sich 
greifende Krankheit morbus gallicus, malum francicum, lues celtica, 
passio neapolitana, miseria hispanica und — offenbar in Erkennung 
des Zusammenhangs mit den Entdeckungen des Kolumbus — morbus 
indicus. (Man vgl. in einem 1^90 nach englischen Quellen in Frank¬ 
furt veröffentlichten Buche ,,Wunderbarliche doch Wahrhafftige 
Erklärung von der Gelegenheit und Sitten der Wilden in Virginia* 4 : 
,,Aber ob schon die Vermischung der Spanier mit den Indianischen 
Weibern nichts guts gebracht hat, so hat man inen doch in Europa 
dieses zu dancke, daß die ,Indische Seuch* davon herkommen 
ist.“) 

Es ist psychologisch bemerkenswert, daß keine Nation selbst an 
der Verbreitung der Krankheit beteiligt sein wollte und schon in 
deren Namen zum Ausdruck zu bringen trachtete, daß die Gefahr 
für das einheimische, bodenständige Volk von bösen landfremden 
Elementen komme 1 . Nationale Unduldsamkeit ergriff überall gern 
die Gelegenheit, den Namen eines fremden Volkes durch die Ver¬ 
knüpfung mit dem gräßlichen Übel zu entehren. Darin, daß die 
meisten Völker von einer französischen Krankheit sprachen, drückt 
sich außerdem im besonderen, wie W. Pflug ausführt, auch der 

1) Gerade im Bezirk des Geschlechtlichen sind solche Benennungssonderlich- 
keiten nicht selten; so wird z. B. das Präservativ von den Franzosen capote 
anglaise, von den Engländern french letter genannt. 


341 







Haß und der Neid gegen das politische Übergewicht Frankreichs 
im 16. Jahrhundert aus. Die Franzosen selbst wälzten natürlich die 
Ehre, Paten der neuen Gottesplage zu sein, von sich ab; sie sprachen 
vom mal de Naples, das ist wohl die älteste und verbreitetste 
französische Bezeichnung, vom mal de Sicile, auch kurz vom 
Souvenir (nämlich vom Andenken an den italienischen Feldzug, 
wobei später wohl Andenken an ein individuelles Abenteuer ge¬ 
meint war), vom spanischen Feuer (so z. B. bei Rabelais), übrigens 
auch von einem feu persan (persisches Feuer). Dem Italiener hin¬ 
gegen waren Bezeichnungen wie mal francese, morbo celtico, bolle 
francese geläufig. Auch die Spanier sprachen vom mal galico, indes 
die Engländer die vorwurfsvollen Bezeichnungen, damit billiger¬ 
weise niemand verkürzt werde, auf die drei großen romanischen 
Völker verteilen konnten: french Pox, spanish Pockes, buttons of 
Naples. Bei den Portugiesen gab es die Namen mal castellana und 
mal francez. Die Fabel, die in Spanien zum Christentum über¬ 
getretenen, im geheimen aber ihrem alten Glauben treugebliebenen 
Mauren und Juden, die sogenannten Maranen, und ihre anfangs des 
17. Jahrhunderts in Südwestfrankreich angesiedelten Nachkommen 
hätten die Lustseuche verbreitet, scheint unter den vielen Be¬ 
zeichnungen der Krankheit keine Spuren hinterlassen zu haben. In 
Rußland spricht man von einer französischen oder polnischen, sogar 
von einer kalmükischen Krankheit. (Bei den Kalmüken selbst ist die 
Bezeichnung „Hauskrankheit“ üblich: weil man sie sich in Häusern, 
d. h. öffentlichen Häusern, holt.) Die Esthen sprechen vom russi¬ 
schen Übel, die Polen von deutschen Pocken. Kurz ist der alte 
ungarische Namen: franc (auch heute noch erhalten in Flüchen wie: 
a franc rägja ki, die Franz zernage ihn). Die Türken, für die alle 
Völker des Abendlandes „Franken“ waren, sprechen vom Geschwür 
der Franken, die Araber vom christlichen Übel, die Perser von 
türkischer Krankheit, die Inder von portugiesischer 1 Seuche. Von 
portugiesischer Krankheit (namban-niasoa) sprechen auch die Japaner, 
die sich auch der allgemeineren Bezeichnung Fremdengeschwür 

1) Was Kolumbus vergeblich suchte, den Seeweg nach Ostindien, fand be¬ 
kanntlich der Portugiese Vasco da Gama, der sechs Jahre nach der Entdeckung 
Amerikas in Ostindien landete. Noch lange blieben dann die Portugiesen die 
wichtigsten Verkehrsmittler nach Indien und Ostasien; sie werden es daher 
wohl auch gewesen sein, die Asien zuerst am zweifelhaften Geschenke Amerikas 
für Europa teilnehmen ließen. 


342 



(loo-kasa) bedienen. Bei den Chinesen heißt die Krankheit Himmels¬ 
strafengeschwür (tien-pao-tschong). 

Die volkstümlichen deutschen Namen der Syphilis, die auf 
die Herkunft der Krankheit anspielen, sind: welsche Purpein 
(z. B. Johann Haselbergk in seinem Gedicht „Von welschen Pur¬ 
pein 4 ,,daraus die purpeln sind entsprungen, des ersten mals aus 
Neaplas kummen“), welsche Bossen (Beulen), neapolitanische 
Trud, der böse Franzos oder auch kurz der Franzos. (15-23 be¬ 
handelt Agricola in seiner berühmten Sammlung deutscher Sprich¬ 
wörter bereits die Redensart ,,daß dich die Frantzosen ankommen 44 .) 
Daneben gab es auch andere Namen, die nicht eine Herkunfts¬ 
bezeichnung darstellen, z. B. luxische Krankheit, Wylden, Wärtzen, 
Pressten 1 , böser Grindt, böse Plättern, giftige Krätze, geile Seuche, 
große Galanterie. Bei den Franzosen: la V6role, la Gorre, Venus- 
algie, mignonnise, diablerie, petite galanterie, mal des ardents, feu 
de Saint-Antoine (Sanktantonsfeuer verbrenne dir den Mastdarm, 
fluchte man zu Rabelais Zeiten). Ein französischer Autor hatte 
— mit Hinweis auf Peter den Großen, Friedrich den Großen, 
Joseph II., Mirabeau, La Harpe, Chamfort — vorgeschlagen, die 
Syphilis le mal philosophique, Philosophenkrankheit, zu 
nennen. 

Auch die wissenschaftlichen, lateinischen Namen waren 
vor dem Durchdringen des Wortes Syphilis sehr mannigfaltig. Jene, 
die auf die Herkunft der Krankheit Bezug nehmen, haben wir schon 
angeführt. Dazu kommen nun auch solche, die eine Benennung nach 
äußeren Erscheinungen darstellen; so finden wir bei Iwan Bloch 
u. a. angeführt: morbus pustularum, papulae, strophulae novellae, 
scabies inaudita, variola, pustulae obscoenae. Bezeichnend sind die 
Namen malum aphrodisiacum, flagellum Veneris, peregrinus morbus 
(aphrodisische Krankheit, Venusgeißel, fremde Krankheit). Nach 
den Heiligen, die man zum Schutz gegen die Syphilis anzurufen hatte, 
hieß sie auch morbus St. Jobi, St. Rochi, St. Evagrii, St. Fiacrii, 
St. Reginae usw. Auf die große Verbreitung der Krankheit beziehen 
sich die Namen morbus mundanus oder cosmicus (Weltkrankheit) 

1) Pressten = Gebresten. In den handschriftlichen Treidbüchem (Getreide¬ 
büchern) des Innsbrucker Staatsarchivs findet sich im Bericht einer um Getreide 
abgeschickten Gesandtschaft die Bemerkung, daß Herzog Georg von Bayern 
keinen Menschen zu sich läßt, „befürcht sich nämlich fesst vor den pressten 
auch Franzosen. “ 


343 






und morbus catholicus (katholisch hier in seinem ursprünglichen 
Sinne: „allgemein“). 

Viele Namen gibt es für die Syphilis in der Unterweltssprache 
der Großstädte und auch in den Soldatensprachen der einzelnen 
Volker. Wir erwähnen z. B. zwei von den Namen, die die britischen 
Soldaten im Weltkrieg der Krankheit gegeben haben: Six-o-Six 
(Sechs-Null-Sechs) mit Anspielung auf Ehrlich-Hata 606, den ersten 
wissenschaftlichen Namen des Heilmittels Salvarsan, und Phyllis, wo 
die aphairetische Kürzung von Syphilis einen romantischen, in der 
Schäferdichtung des 18. Jahrhunderts sehr beliebten, in England 
auch heute häufigen Mädchennamen ergibt. Im Pariser Argot heißt 
die Syphilis syphilo oder chtouille (etre chtouille), was vielleicht 
mit chatouiller = kitzeln zusammenhängt. Nach dem Gefängnisspital 
Saint-Lazare (volkstümlich gekürzt auch Saint-Lago genannt) heißt 
die Krankheit im Argot (mit einer scherzhaften Russisierung) ,,laz- 
ziloff“, was der deutsche Romanist Dietrich Behrens erstaunlicher¬ 
weise aus dem deutschen Satze „laß sie laufen“ ableitet. Aus Saint- 
Lazare und mit Einbezug des Wortes nez = Nase (wohl wegen der 
bei Syphilitikern häufig zerfressenen Nase) erwächst auch ein weiterer 
Argotausdruck für Syphilis: „nazi“ (avoir le nazi, etre nazigue). 
Bei Aristide Bruant, dem bekannten Argot-Chansonnier des „fin 
de siede“, finden wir noch folgende Pariser Volksausdrücke für die 
Syphilis: aristoffe, baude, bonde (Spund), coup de pied de Venus 
(Venusfußtritt), castapiane (auch allgemein für Geschlechtskrankheit 
überhaupt gebraucht), quinte et quatorze (eigentlich eine Quint und 
vier Asse, d. h. ein besonders gutes „Blatt“ im Piquetspiel), plomb 
(Blei), poivre (Pfeffer), puceron (Blattlaus). Im österreichischen 
Slang, besonders dem der Soldaten, heißt die Syphilis „Musik“. 
Daher Musikanten = Geschlechtskranke. In Kriegsspitälem nannte 
man die Abteilung für Luetiker scherzhaft Musikpavillon. Auch hieß 
die Syphilis „die ganze Musik“, woraus gelegentlich (ein Euphemis¬ 
mus zweiter Potenz) „die ganze Muse“ wurde. Aus ,,Musik“ ent¬ 
stand auch die Umschreibung: Pauken und Trompeten (z. B.: ,,er 
wurde ins Spital abgeschoben mit Pauken und Trompeten“). Eine 
drastische Umschreibung finden wir in den deutschen Briefen der 
Herzogin Liselotte von Orleans, der urwüchsigen Pfalzgrafentochter: 
sie schreibt am 30. Mai 1719 von einer syphilitischen Kurtisane, 
die auf Umwegen den Tod des Königs Franz I. herbeigeführt haben 
soll: „eine Hur, so ganz verpfeffert war.“ 


344 


Nun kommen wir endlich zum Worte Syphilis selbst. Diesen 
Namen verlieh der Krankheit der berühmte Veroneser Arzt und 
Dichter Girolamo Fracastro, der eine Zeitlang Leibarzt des 
berühmten Papstes Paul III. war. 15-30 erschien Fracastros Lehr¬ 
gedicht ,,De Syphilide sive Morbo Gallico“. Dieses Gedicht, wie 
auch, was Fracastro sonst geschrieben, war auch literarisch wert¬ 
voll, und man hatte den Dichter geradezu mit Virgil verglichen: 
seine Vaterstadt Verona hatte ihm bereits 15:5-9 eine Marmorstatue 
errichtet, eine Ehrung, die bis dahin nur zweien seiner engeren 
Landsleute, Catullus und dem jüngeren Plinius, zuteil geworden 
war. Das Lehrgedicht des Fracastro ist übrigens im Laufe der Jahr¬ 
hunderte auch wiederholt ins Deutsche übersetzt worden. Der In¬ 
halt dieses Lehrgedichts, offenbar als Umbildung der Ovidschen 
Niobidensage gedacht, ist, daß der Sonnengott einen Hirten namens 
Syphilus, der ihm die Anbetung verweigerte, mit einer schreck¬ 
lichen Krankheit bestraft. Mit dem Hinweis auf den himmlischen 
Ursprung der Krankheit wollte Fracastro einzelne Nationen von 
der Schmach, die Seuche verbreitet zu haben, entlasten. 

Der von Fracastro geprägte Krankheitsnamen Syphilis verdrängte 
schließlich alle anderen Namen ; wenn auch nicht ganz aus der Sprache 
des Volkes, so doch aus der der Wissenschaft. Besonders als der 
französische Arzt Sauvage de la Croix im 18. Jahrhundert das Wort 
Syphilis adoptierte, gelangte es bald zu Weltgeltung. Proksch preist 
in seiner 1895- erschienenen Geschichte der venerischen Krankheiten 
die Benennung der Krankheit durch Fracastro als eine befreiende 
Kulturtat: ,,heute benennt kein Kulturvolk mehr die Krankheiten 
mit dem Namen eines anderen.‘ ‘ Darüber aber, warum Fracastro 
gerade das Wort Syphilis für die Krankheit, d. h. den Namen 
Syphilus für das Opfer, gewählt hatte, entstand eine ganze Literatur. 
Auf Fracastros Landsmann und Jahrhunderts- und Berufsgenossen 
Gabriele Faloppio geht die Ableitung aus griechisch syn (mit) und 
philein (lieben) zurück, was auf die geschlechtliche Verbindung von 
Mann und Frau, d. h. die Entstehung der Krankheit hinweisen soll. 
Dieselben sprachlichen Bestandteile syn und philein werden aber 
nicht nur indem Sinne „Liebes Verbindung“ gedeutet, sondern auch 
als ,,Miterscheinung der Liebe“. Auch griechisch sinein = schädigen 
und phylon = Geschlecht ist herangezogen worden (also etwa ,,den 
Familienstamm schädigende Krankheit“), ebenso auch (von Des- 
ruelles) die Kombination philein = lieben und sys = Schwein, Sau, 


34£ 




worin man — wie man in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 
an der Universität zu Montpellier vortrug — eine Anspielung auf die 
Ansteckung durch Prostituierte sehen soll, da man sie im Volks¬ 
mund als „Säue“ bezeichnete. Des ferneren wurde das Wort 
Syphilis etymologisch in Verbindung gebracht mit philistidon 
= Röhre (Harnröhre) von Zacutus Lusitanus, mit siphlos = häßlich, 
verkrüppelt von Radius, und — hinausgreifend aus den Kreis der 
griechischen Kombinationen — sogar mit hebräisch schafal (vulgär¬ 
deutsch schofel) —- niedrig, minderwertig. 

Eine überraschende Deutung hat dem Worte Fracastros ein 
deutscher Forscher, W. Pflug, gegeben. Pflug, der auch die medi¬ 
zinischen Prosaschriften Fracastros über ansteckende Krankheiten 
heranzieht, hebt vor allem hervor, daß der gelehrte Veroneser 
nicht nur Arzt, sondern auch Astronom war. Es habe einen tieferen 
Sinn, daß in Fracastros Gedicht die Krankheit als vom Sonnengott 
gesandte Strafe auf der Erde entsteht. Es entspreche der astrologi¬ 
schen Denkungsart jener Zeit, in der Seuche die Einwirkung des 
Himmels auf die Erde — oder in der Sprache der Astrologie: der 
Superiora auf die Inferiora — Zusehen. (Melanchthon führte z. B. die 
Syphilis Ulrich von Huttens auf eine unglückliche Stellung der Sterne 
zurück.) Die Grundlehren der Astrologie im ausgehenden Mittel- 
alter beruhten auf arabischen Überlieferungen, und viele astrono¬ 
mische Bezeichnungen arabischer Herkunft (z. B. Zenit, Nadir, die 
Namen vieler Sternbilder) haben sich bis heute in den Kultur¬ 
sprachen erhalten. Sifl oder sufl (türkisch stifl) bedeutet im Arabi¬ 
schen unten, der untere Teil, siflij das Irdische. Fracastro 
habe, meint Pflug, dieses arabische Wort entsprechend dem Schau¬ 
platz seines Lehrgedichtes in griechische Form gegossen. „Das Wort 
Syphilis ist demnach bis auf seinen astrologischen Beigeschmack 
gleichbedeutend mit den mehrfach vorkommenden Bezeichnungen 
morbus mundanus, cosmicus oder catholicus (letzteres in seiner 
ursprünglichen Bedeutung: allgemein) und heißt die Weltkrank¬ 
heit.“ Fritz Mauthner knüpft weitere Vermutungen an die 
arabische Wurzel: „Eine Dualform von sifl bezeichnet in der 
arabischen Astronomie die beiden ,unteren 4 Planeten Venus und 
Merkur. Wäre es nicht möglich, daß die Beziehung zur Venus, 
die doch auch dem Arzte des 16. Jahrhunderts nicht ganz entgehen 
konnte, durch einen gelehrten Hinweis auf die unteren Planeten 
ausgedrückt werden sollte? daß wir Syphilis als die astrologische 


346 


Lehnübersetzung von venerisch anzusehen hatten ? 44 Mauthner ris¬ 
kiert auch die Vermutung einer zweiten astronomischen Beziehung 
des Wortes Syphilis: die zum anderen ,,unteren 44 Planeten, zum 
Merkur. Merkur hieß damals auch das Quecksilber. Wenn 
nun Fracastro das Kapitel des Paracelsus, in dem das rote 
Präzipitat (Quecksilberoxyd) zum Gebrauch ,,in den Frantzosen 44 
empfohlen wird, gekannt hat oder den Präzipitat selbst an¬ 
wandte, dann wäre es nach Mauthner nicht unmöglich, daß der 
Italiener mit dem Dual von arabisch sifl zugleich an die Er¬ 
regung der Krankheit (Venus) und an ihre Heilung (Merkur) 
erinnern wollte. 

So geistvoll die Pflugsche Deutung des Wortes Syphilis aus dem 
Arabischen und dem Astrologischen und die daran sich knüpfende 
Mauthnersche Variante auch erscheinen mögen, sie halten der Kritik 
doch nicht stand. Aus einem sehr einfachen Grunde. Fracastro hat 
nämlich nicht nur den Grundgedanken seines Lehrgedichtes der 
Ovidschen Darstellung des Niobestoffes entnommen, sondern auch 
der Name Syphilis ist nur eine Umbildung des Namens des zweiten 
Sohnes der Niobe. Sipylos heißt in den Metamorphosen des Ovid 
so nach der Heimat der Niobe, nach dem Berge Sypilos (vielleicht 
mit Anklang an sybotes = Schweinehirt, oder nach Seiler an sys und 
philos = Schweineliebhaber). Die nicht anzuzweifelnde Tatsache, 
daß Fracastro den Namen seines Hirten Syphilus, der als erster von 
der Lustseuche heimgesucht wird, mit geringer Veränderung der 
antiken, griechisch-lateinischen Vorlage entnommen hat, hindert 
allerdings niemand daran, anzunehmen, Fracastro könnte doch auch 
durch den Anklang des antiken Namens an ihm geläufige Termini 
der arabischen Astronomie zur Verwendung dieses Namens erheb¬ 
lich mitbestimmt worden sein. Man mag eine derartige Über¬ 
determinierung als unbewußt voraussetzen, aber angesichts der 
bekannten Neigung der Renaissancegelehrsamkeit, in ein Wort 
gleichsam mehrere Schichten hineinzugeheimnissen, könnte auch 
an eine bewußte Rücksichtnahme Fracastros auf das Mitklingen des 
arabischen Wortes gedacht werden. 

Neben Syphilis besteht auch der wissenschaftliche Namen Lues. 
Das Wort bedeutet lateinisch Seuche schlechthin. Lues als Be¬ 
zeichnung der Syphilis ist eine Abkürzung von lues venerea, Venus¬ 
seuche. 


347 







TANK 

Tank in dem Sinne Behälter für Flüssigkeiten (besonders auf Schiffen) 
ist im Deutschen bereits für 1784 belegt. Das Wort ist dem Eng¬ 
lischen entnommen worden. Das englische Wort tank selbst taucht 
zwei Jahrhunderte früher auf und ist indischer Herkunft; tankh 
bedeutet in Mundarten von Guzerat und Rajputana im nördlichen 
Vorderindien Zisterne, Wasserbehälter. (Über andere Wörter, die 
indischer Herkunft sind, vgl. das Stichwort Pyjama.) Der Umstand, 
daß das aus Indien übernommene Wort Tank an mittel englisch 
stanc = Wasserbehälter anklang (aus lateinisch stagnum = stehendes 
Wasser, woraus italienisch stagno, spanisch estanque, französisch 
etang, portugiesisch tanque = Teich, Weiher, und wohl auch 
stagnieren, Stagnation) war vielleicht für die Einbürgerung des 
indischen Wortes tankh = Zisterne nicht gleichgültig; zumal da 
gerade die Portugiesen (bei denen stagnum ja zu tanque wurde, was 
dem nicht verwandten indischen Worte am meisten ähnlich ist) 
am Handel mit Indien vor den Engländern am stärksten beteiligt 
waren. 

Im Weltkrieg taucht das Wort Tank auf als Bezeichnung für die 
zuerst von den Engländern verwendeten gepanzerten und bewaff¬ 
neten Kraftwagen, die sich, um jede Bodenschwierigkeit zu über¬ 
winden, nicht auf Rädern, sondern auf sogenannten Raupen (Cater¬ 
pillars) fortbewegen. Eigentlich hat als erster Oberleutnant Günther 
Burstyn vom österreichisch-ungarischen Eisenbahnregiment 1912 
einen solchen Kampfwagen entworfen (dessen Modell jetzt im Wiener 
Technologischen Museum steht), aber erst im dritten Kriegsherbst 
wurde der Gedanke, auf seiten der Entente, in die Tat umgesetzt. 
Seit der Einführung der Tanks im September 1916 blüht unausrott¬ 
bar die Legende von einem Mister Tank, nach dem der Kampfwagen 
benannt sein soll. Man hört manchmal von einem Erfinder, der die 
erste Hälfte seines Vornamens Tancred dem neuen Kriegsgerät ge¬ 
schenkt hätte, meistens liest man aber von einem Thomas Tank 
Burall, Geschäftsführer einer technischen Firma in Norfolk; der 
Namen Tank sei eigentlich der Mädchennamen seiner Mutter ge¬ 
wesen und sei dann in Freundeskreisen sein Spitznamen geworden. 
Und dieser Ingenieur Burall soll der Erfinder der kriegstechnischen 
Neuerung im Panzerwagenbau gewesen sein. Die offiziellen engli¬ 
schen Quellen schreiben aber einem Obersten Swinton diese 
Leistung zu. 


348 




Die richtige Erklärung dafür, wie es zum Namen Tank kam, ist 
bereits wenige Wochen nach dem Eingreifen dieser Sturmwagen 
an der Westfront im ,,Matin“ vom 2 $. November 1916 mitgeteilt 
worden. Die Engländer hielten die Erfindung vor deren ersten Ver¬ 
wendung an der Front aus Spionageangst streng geheim. In den 
Fabriken, in denen die einzelnen Bestandteile hergestellt wurden, 
hieß es, sie gehörten zu Tanks, transportablen Zisternen, die man 
an die Truppen in Palästina und Arabien zu liefern habe. An diesem 
Deckwort hielt man auch fest, als die Bestandteile schließlich zu¬ 
sammengesetzt wurden und die ersten 100 Wagen im Sommer 1916 
in Bretterverschalung nach Frankreich verladen wurden. Auch in 
Kommandokreisen sprach man von Tanks, und da die bei den 
Sondersprachen aller Armeen bekannte Neigung, alle Dinge des 
militärischen Lebens mit eigenen, besonders auch kurzen Aus¬ 
drücken zu bezeichnen, hier ursprünglich mit der höheren Absicht 
der Geheimhaltung parallel ging, faßte das Wort Tank festen Fuß 1 . 
Man sprach je nachdem, ob es sich um schwerer bewaffnete oder 
um leichtere Wagen handelte, von male oder female tanks, männ¬ 
lichen oder weiblichen Tanks, schuf Weiterbildungen, wie super¬ 
tank, tankodrom (nach Analogie von Aerodrom, Hippodrom), anti- 
tank (Tankabwehrkanone) usw. 

Aus der Geheimhaltung der Vorbereitungen zur Tankverwendimg, 
also auch der Ausbildung der Bedienungsmannschaft, erklärt sich 
der englische Soldaten-Slangausdruck hush-hush-crowd (etwa Pst- 
Pst-Haufen) für die Tankmannschaft. Hush-hush war in der engli¬ 
schen Armee sonst die familiäre Bezeichnung des Geheimdienstes, 
auch nannte man im geheimen vorbereitete Unternehmungen hush- 
hush-parties. 

Auch im Französischen drang die Bezeichnung Tank durch. 
Eine offizielle Schilderung der Schlacht vom 1September 1916 


1) Angesichts der Entstehung des Wortes Tank für eine Kampfwagenart 
aus einem Decknamen, der ursprünglich doch nur für kurze Zeit Verwendung 
finden sollte, muß man an den Ausspruch Hebbels denken: Alle Taufen der 
Sprache sind Nottaufen. Zwei belgische katholische Theologen, die Bollan- 
disten Peeters und Delahaye, fanden den bedeutungsgeschichtlichen Vorgang 
beim Worte Tank (,,eine Bezeichnung kann in kurzer Zeit in der ganzen Welt 
eine ganz neue Bedeutung annehmen, ohne daß die Beziehung zur ersten Be¬ 
deutung bekannt wäre“) so bemerkenswert, daß sie ihn bei der Behandlung 
der religionsgeschichtlichen Entwicklung des Märtyrbegriffes als Beispiel 
heranzogen. 


349 




gebrauchte zwar die Bezeichnung tortue = Schildkröte, aber dieser 
Namen bürgerte sich nicht ein. Neben dem offiziellen char d’assaut 
(Sturmwagen), wobei auch zwischen leichteren chars d’accompagne- 
ment, Begleitwagen, und schwereren chars de rupture, Durch¬ 
bruchwagen, unterschieden wird, wurde auch im Französischen die 
Bezeichnung Tank volkstümlich. Zunächst gab es eine kleine gram¬ 
matikalische Unsicherheit. Bei den Engländern war tank im Sinne 
Wasserbehälter männlich, im Sinne Kampfwagen aber, wie das 
Schiff und die Schiffsnamen, weiblich. Im Französischen wich das 
anfängliche la tank bald der männlichen Form. Die Bedienungsleute 
heißen französisch tankeurs. Im Argot der französischen Soldaten 
heißt der Tank auch zinc, — dieses despektierliche Wort soll ein 
Gegeneuphemismus für Stahl sein und diente im Schützengraben 
auch als Bezeichnung für Munition, für Fahrrad und für Maschinen- 

Eine den englischen und französischen Frontsoldaten gemeinsame 
Bezeichnung für den Tank lautete im Weltkrieg mintcream, creme 
de menthe = Pfefferminzlikör. Diesem scherzhaften Ausdruck liegt 
der Gedanke zugrunde: so wie der vor Sturmangriff an die Mann¬ 
schaft ausgegebene Branntwein das Vorgehen erleichtern soll, ist auch 
der Tank ein herzstärkendes Stimulans, in seiner Begleitung, unter 
seinem Schutz ist es der Infanterie leichter, zum Sturmangriff zu gehen. 

TAUB, TOBEN, DOOF, DUFTE 

Doof, besonders aus dem Berlinischen bekannt, ist die platt¬ 
deutsche Form von taub (althochdeutsch toup, gotisch daubs). 
Taub bedeutete ursprünglich nicht nur gehörlos, sondern im wei¬ 
teren Sinne leer, empfindungslos. Daher betäuben = empfindungslos 
machen. Taube Nuß ist eine hohle Nuß. Ähnlich: taubes Gestein 
(das keine nutzbaren Mineralien enthält), taubes (d. h. unbefruch¬ 
tetes) Ei, tauber (d. h. unwirksamer) Samen, taube (komarme) 
Ähre. Die Taubnessel heißt so, weil sie der Brennessel ähnlich sieht, 
dennoch „taub“ ist, d. h. nicht „brennt“. Ein schwäbisches Sprich¬ 
wort lautet: Moos und Laub macht Äcker und Wiesen taub (d. h. 
ertraglos). Auch die unschmackhafte Suppe bezeichnen die Schwaben 
als taub. Die Bezeichnung taube Flut gilt den sich im ersten und 
letzten Mondviertel teilweise aufhebenden Gezeiten. 

In Hamburg heißt ein Elbarm Dowe Elbe; das bedeutet taube, 
nichtfließende Elbe, Das Schloß Todtenrode im Braunschweigischen 







hieß früher Dovenrode, was also ,,taube Rodung** bedeutete, d. h. 
unfruchtbare, ertraglose (oder verkehrslose, verlassene?) Rodung. 
Auch die Taubenstraßen in Halberstadt und Blankenburg am Harz 
heißen vielleicht nicht nach dem Vogel so, sondern weil sie zur 
Zeit der Benennung „taub“, d. h. verkehrslos waren. Vielleicht ist 
es aber richtiger, die „tauben“ Straßen als ehemalige Sackgassen 
(gleichsam „verstopfte“ Straßen) aufzufassen; jedenfalls wurde das 
Ende der Berliner Taubenstraße nach dem Hausvogteiplatz, das nur 
einen schmalen Durchgang durch ein Haus hatte, früher Bullenwinkel 
genannt, was ein Synonym für Sackgasse ist. 

Im Sinne von empfindungslos gebraucht auch Goethe einmal das 
Eigenschaftswort taub: „Sind es der Natur imbändige, taube Kräfte*‘ 
(im Vorspiel zur Eröffnung des Weimarer Theaters). Ein anderes 
Mal, im Urfaust, ist taub soviel wie betäubend: „mit tauben 
Schmerzen**. 

Verwandt mit „taub“ ist auch das Zeitwort toben = sich be¬ 
sinnungslos benehmen, unvernünftig rasen, gleichsam als Folge des 
Betäubtseins. In schweizerischen, schwäbischen und rheinischen 
Mundarten bedeutet schon das Eigenschaftswort taub: wütend, 
zornig; wenn er daub isch, sagt man im Aargau, so chibet er (keift 
er) mängisch acht Tag lang. Im 17. und 18. Jahrhundert gebrauchte 
man in der Schweiz taubsinnig für wahnsinnig 1 . 

Im Berlinischen hat doof (weiblich doowe) die übertragene Be¬ 
deutung: stumpfsinnig, dumm. Diese Vorstellungsverknüpfung 
zwischen taub und dumm finden wir auch bei einer anderen Wort¬ 
wurzel: das österreichische terisch = taub, schwerhörig ist eine 
Nebenform von töricht. Übrigens hat die indogermanische Sprach¬ 
vergleichung auch gute Gründe, Urverwandtschaft zwischen den 
Wortsippen taub einerseits und dumm, stumm, stumpf andererseits 
zu vermuten. Hier kann auch das Fremdwort absurd = widersinnig 
erwähnt werden, da das lateinische Wort absurdus ursprünglich 

1) Bezeichnenderweise hat das gesundheitsschädliche Unkraut Taumellolch 
(Lolium temulentum), das neben Schwindelhafer (schwäbische Alb, St. Gallen, 
Österreich), Rauschgras (Salzburg), Tollkraut (Nassau) auch die mundartlichen 
Namen Tob (im Hohenlohischen), Tobich (Schlesien), Tobgerste (Schweiz) 
führt, in Niederösterreich und Steiermark auch den Namen Unsinn — eine 
Übertragung von der Wirkung auf die Ursache (wie z. B. im Ungarischen bolond 
gomba = verrückter, d. h. giftiger Pilz, welcher Ausdruck übrigens wieder 
auf die Wirkung übertragen wird, so daß bolond gomba auch die Bedeutung 
von Unsinn, Albernheit, Gallimathias hat). 






etwas von einem Tauben (surdus) Herrührendes, einen häßlichen, 
sinnlosen Ton bedeutet. 

Nichts zu tun mit taub —doof hat das aus der Gaunersprache ins 
Berlinische übernommene Eigenschaftswort toff, in dem Sinne: gut, 
fein, was wohl auf hebräisch tow, tauw = gut zurückgeht. Toff 
Achill hieß in der Gaunersprache: feines Essen, toff sitzen: in 
Sicherheit sein. Vor dem Krieg sang man in Berlin allgemein ein 
Tanzlied, den ,,Tempelhofer 44 , dessen Strophen jeweilen mit den 
Worten begannen: ,,Mittwochs mache ik mir toff — Fahre raus 
nach Tempelhof. 44 Castelli zitiert in seinem Wörterbuch des Nieder¬ 
österreichischen (1847) ein Liedchen in der jenischen Sprache 
(Gaunersprache): ,,A doffes Mischl muas i habn — Lind soll i’s 
mit da Ferna aus da Durma aussagrabn 44 (ein feines Mädchen muß 
ich haben, und sollte ich’s mit der Hand aus der Erde heraus¬ 
graben). ,,Doffen Jaum in’t Pais 44 , guten Tag ins Haus, grüßen die 
Hausierer der sauerländischen Stadt Winterfeld. 

Eine Abart von toff ist vielleicht das ebenfalls der Gauner- und 
Handwerksburschensprache angehörige dufte = fein, z. B. dufter 
Kies = Edelstein, dufte Kluft = feine Kleidung (s. das Stichwort 
Kluft). Dieser Ableitung widerspricht übrigens Agathe Lasch, die 
der Meinung ist, dufte sei von toff fernzuhalten und bedeute im 
Rotwelsch ursprünglich: zur Kirche gehörig, erst dann, übertragen: 
fein, richtig. Jedenfalls gab es früher im Rotwelsch — ob mit dem 
Eigenschaftswort toff verwandt oder nicht — ein Hauptwort Duft 
mit der Bedeutung Kirche; daraus Dufle = Kapelle, Dufthändler 
= Kirchendieb, Duftschnaller = Küster. 

TAUSENDGÜLDENKRAUT 

Der Pflanze Erythrea centaurium oder Centaurium umbellatum, 
deutsch Tausendgüldenkraut (auch Fieberkraut, Wundkraut, Gottes¬ 
gnadenkraut, Fiebergalle, in der krainischen deutschen Sprachinsel 
Gottschee Tauschenkraft, d. h. Tausendkraft) genannt, rühmt man 
eine besondere Heilkraft gegen Fieber nach; auch werden aus ihrem 
Safte bittere Schnäpse gegen Magenbeschwerden bereitet. Die Heil¬ 
kraft der Pflanze, sagte man, sei so groß, daß sie mit tausend Gulden 
zu bewerten sei. Mit der Herkunft des Namens hat es aber eine 
andere Bewandtnis. Der Kentaur Cheiron der griechischen Sage 
galt als besonders gelehrt und kräuterkundig, in seiner Höhle am 
Pelion unterwies er viele Göttersöhne und Heldenjünglinge in den 


3 S* 





Wissenschaften, besonders in der Kräuterkunde und Wundbehand¬ 
lung. Nach ihm bekam die fieberheilende Pflanze den griechischen 
Namen Kentaurion, d. h. Kentaurskraut, woraus lateinisch cen- 
taurium wurde. Aus einem wortspielartig anmutenden Mißverständnis 
wurde aber später dieser Namen auf centum (hundert) und aurum 
(Gold) zurückgeführt. Dieses Mißverständnis pflanzte sich in der 
deutschen Übersetzung des Namens fort, und so entstand zunächst 
die deutsche Bezeichnung Hundert güldenkraut. In der deut¬ 
schen Volkssprache werden aber übertreibende (hyperboli¬ 
sche) Zahlenbegriffe nicht mit hundert, sondern mit tausend 
gebildet, und daher wurde das aus dem Mißverständnis cent-aurium 
hervorgegangene Hundertgüldenkraut gründlich aufgewertet zum 
Tausendgüldenkraut, und die Erinnerung an den Kentaur ist nun 
ganz verwischt. Merkwürdigerweise heißt allerdings das Tausend¬ 
güldenkraut in der Handschuhsheimer Mundart Haiwergaul, was 
offenbar ,,halber Gaul“ ist, so daß mit dieser Benennung wohl auf 
den ursprünglichen antiken Namen zurückgegriffen wird, auf das 
Kraut des Kentaurs (der halb Mensch halb Gaul ist). 

Daß ,,tausend“ die hyperbolische Zahl der deutschen Volks¬ 
sprache ist, belegen die Wörterbücher reichlich. Mit dem Namen 
Tausendfüßler werden verschiedene Gliedertierarten bezeichnet, 
die aber alle weniger als 200 Beinpaare haben. Tausendschön 
(in der Schweiz auch Tusighübsch) ist der volkstümliche Namen 
verschiedener Pflanzen: des Stiefmütterchens, des gefülltköpfigen 
Gänseblümchens, der gemeinen Kreuzblume, einer auch Garten¬ 
fuchsschwanz benannten Amarantusart und des Alpenleinkrauts. 
Die Schafgarbe führt auch den Namen Tausendblatt; ihr wissen¬ 
schaftlicher Namen Achillea millefolium weist mittelbar ebenfalls 
auf den Kentaur Cheiron hin, nämlich auf den Helden Achilles, der 
von Cheiron erzogen wurde. Tausendkorn ist der volkstümliche 
Namen der Herniaria (Bruchkraut). In Steiermark heißt das johannes¬ 
kraut (Hypericum) Tausendlöcherlkraut. 

Tausendkünstler (mittelhochdeutsch tusentlisteler, dann Tau- 
sendkünstiger, lateinisch mille artifex) wurde ursprünglich meist 
vom Teufel gebraucht. Im Worte Tausendsasa ist der zweite 
Teil ,,sa sa“ als Aufmunterungs- und Hetzruf für Jagdhunde auf¬ 
zufassen, dessen Steigerung zu ,,tausend sa! sa!“ seit der Mitte des 
18. Jahrhunderts belegt ist; als Hauptwort mit der Bedeutung 
geschickter Kerl kommt Tausendsasa zuerst in Schillers Kabale und 


12 Storfer 


3£3 



Liebe vor. Schiller hatte überhaupt eine besondere Vorliebe für 
solche verstärkende Zusammensetzungen mit tausend, was wohl aus 
seiner schwäbischen Herkunft zu erklären ist. Aus der schwäbischen 
Mundart verzeichnen wir die Ausdrücke: Tauseddreckeler = um¬ 
ständlicher Mensch, Tausedzeuge = Kronzeuge, Tausedgläsl = Glas 
mit vielen Schlifflächen, Tausedbrüderle = scherzhaft für Linsen¬ 
gericht. Aus dem Schweizerischen führen wir an Tusigsele (Tausend¬ 
seelen) oder Tusigselehus = Mietskaserne; in Zürich führte eine 
enge, aber stark bevölkerte Gasse den Namen Tusigselegäßli. 
Tausendguldenschuß hieß in Österreich während des Welt¬ 
krieges eine harmlose, aber immerhin die Unterbrechung des Front¬ 
dienstes ermöglichende Verwundung. Als im Herbst 1933 der öster¬ 
reichische Bundeskanzler Dollfuß einige Stunden nach einem gegen 
ihn verübten Anschlag eine Rundfunkansprache hielt, sagte er zur Be¬ 
ruhigung der Öffentlichkeit, seine Verletzung sei bloß ein ,,Tausend¬ 
guldenschuß“, und man verstand ihn allgemein. (In Deutschland sagte 
man im Weltkrieg in ähnlichen Fällen Heimatschuß oder — in Offiziers¬ 
kreisen — Kavaliersschuß; bayrische Soldaten hatten auch den Aus¬ 
druck Salonschuß, norddeutsche sagten auch Heimatstriller.) 

Gerne bedient sich der sprachliche Gefühlsausdruck der Ver¬ 
stärkung durch ,,tausend“. Man schickt tausend Küsse 1 und nicht 
hundert und würde mit ,,Hundert Dank!“ Staunen erregen. Ich 
grüße dich vieltausendmal, heißt es im Liede Mendelssohns. Im 
Schrifttum des 17. Jahrhunderts lesen wir Zärtlichkeitswörter wie 
Tausendschätzchen, Tausendschönchen, Tausendschelmchen. G. A. 
Bürger hat dem Liebchen tausendviel zu sagen, er weint ihm ein 
Tausendtränenguß nach. Ich höre mit tausend Ohren, heißt es in den 
,,Räubern“. Ein anderes Mal schreibt Schiller: nicht anders, als 
wenn er tausend Augen hätte. Goethe spricht vom Wort, das 
tausendquellig durch die Länder fließt 2 . Man beachte auch die 

1) Der Briet eines italienischen Kriegsgefangenen aus Galizien übersteigert 
sich rasch: cento baci, mille baci, un milione di baci a te e Galizia. Man sieht 
förmlich, schreibt Spitzer in seiner sprachpsychologischen Untersuchung über 
Kriegsgefangenenbriefe, wie der Schreiber in einen Rausch kommt, in dem er, 
ein Kuß-Millionär, immer mehr und mehr von der leichten Ware verschenkt. 

2) In seinem Faust singen allerdings die Zecher in Auerbachs Keller: ,,Uns 
ist ganz kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen.“ Börne verwendet 
einmal im selben Satze sowohl tausend als hundert in hyperbolischem Sinne, 
um eine Abstufung auszudrücken: er sagt von der deutschen Sprache, sie habe 
tausend Farben und hundert Schatten. 

354 





Berliner Redensarten: is ja noch dausend Zeit, nicht um dausend 
Taler, det hält ja bis dausend. 

Auch im Französischen ist 1000 die bevorzugte hyperbolische 
Zahl. Neben den Tier- und Pflanzennamen mille-pieds oder mille¬ 
pattes (Tausendfuß) und millefeuille, millepertuis (Tausendblatt 
= gemeine Schafgarbe, Tausendloch = Hartheu) gibt es Volkswörter 
wie z. B. für einen Schwätzer mille-langues oder (an der unteren Maine) 
millegoule (Tausendzunge, Tausendmaul); im Bretonischen heißt der 
Labyrinth milendall (aus mil hend dall = 1000 blinde Wege) 1 . 

Welch große Abweichungen in verschiedenen Sprachen bei 
Zahlenhyperbeln zutage treten können, zeigt ein Beispiel, das 
Harder anführt: während das deutsche Kirchenlied den Wunsch 
äußert, tausend Zungen zu haben, begnügt sich Virgil mit hundert, 
Homer mit zehn Zungen. In manchen Sprachen werden über¬ 
treibende Zahlenwerte aufweisende Ausdrücke ohne jedes System 
das eine Mal mit ioo, das andere Mal mit 1000 gebildet. Solche 
Willkür besteht z. B. im Ungarischen. Dort ist der Namen des 
Tausendgüldenkrautes zwar auch mit 1000 gebildet (ezerjofü), eine 
andere Pflanze, das Tausendschön, muß sich aber mit ioo begnügen 
(szäzszorszep); ähnlich beläßt der Ungar dem Tausenkünstler seine 
iooo Künste (ezermester), billigt aber dem Tausendfüßler nur ioo 
Füße zu (szäzläbu), womit er allerdings der zoologischen Wahrheit 
näherrückt. Unter dem Einfluß des Deutschen scheint im Ungarischen 
neuerdings die Hyperbel 1000 die Oberhand über ioo zu gewinnen: 
so hat sich im alten und allgemein bekannten ungarischen Volkslied, 
in dem sich der verlassene Liebhaber den Kummer mit dem Tröste 
verjagt, ein abgerissener Knopf mache nichts aus, es gäbe doch 
hundert andere, eine Aufwertung vollzogen, und mm wird heute 
von tausend Knöpfen gesungen. 

TELLER, TISCH, SCHEIBE 

Kant führt in seiner Kritik der reinen Vernunft aus, das Haupt¬ 
merkmal des Begriffes Teller sei das Rundsein, und wir reden 
tatsächlich von Tellermützen, tellerförmigen Pflanzenteilen usw. 
Aber etymologisch stimmt das nicht, das Wort baut sich auf einer 

i) Tausendmal grüß ich dich, Robin Adair, heißt es in einer alten irischen 
Volksweise, die in Boieldieus Oper ,,Die weiße Dame“ übernommen wurde. 
Aus dem Morgenland erwähnen wir die tausendstimmige Nachtigall (bülbül- 
hezar) des Hafis. 


3 SS 


. 12 * 





Sprachwurzel auf, die das Schneiden bezeichnet. Von lateinisch 
talea = abgeschnittenes Stück, Einschnitt leiten sich ab: italienisch 
tagliare, französisch tailler = zerschneiden, altfranzösisch tailleor 
— Vorlegeteller. (In diese Sippe gehören auch unsere Fremdwörter 
Taille, wörtlich Schnitt, und Detail, wörtlich Abgeschnittenes.) 
Das Mittelhochdeutsche entlehnte im 13. Jahrhundert aus dem 
Italienischen talier, aus dem Französischen deller. Der Teller ist 
also ursprünglich der Vor lege teller, auf dem das Fleisch zer¬ 
schnitten wurde und von dem sich die Teilnehmer der Mahlzeit 
die Stücke (mit der Hand, später mit der Gabel) nahmen. 

Was für den Teller nicht zutrifft, daß nämlich die runde Form 
das ursprüngliche Hauptmerkmal sei, ist bei der Etymologie von 
Tisch der Fall. Der Diskos, die runde griechische Wurfscheibe 
(zu dikein = werfen) ist dank der Aufnahme unter die modernen 
Sportgeräte auch heute bekannt. Im zweiten Jahrhundert der christ¬ 
lichen Zeitrechnung hat das Wort im Lateinischen schon die Be¬ 
deutung Schüssel. Von dort dringt das Wort in die germanischen 
Sprachen: althochdeutsch tisc = Schüssel, Tisch, angelsächsisch disc 
= Schüssel, Schale, altnordisch diskr = Schüssel, in der das Essen 
aufgetragen wird L Kluge weist darauf hin, daß der im Germanischen 
erfolgte Bedeutungsübergang von Schüssel zu Tisch darauf beruht, 
daß der germanische Tisch eine kleine hölzerne Platte auf Gestell 
war, die bei den Mahlzeiten vor jeden einzelnen hingestellt wurde 
(Tacitus: sua cuique mensa). Im frühen Mittelalter aß man dann 
zu zweit von je einer Platte. Die Schüssel wurde mit der Platte 
zugleich aufgetragen und weggenommen. Daher der ursprünglich 
wörtlich verstandene Ausdruck ,,die Tafel aufheben“. Begreif¬ 
licherweise hat bei dieser Bedeutungsentwicklung von Tisch das im 
griechischen diskos gelegene Merkmal des Rundseins seine Wichtig¬ 
keit eingebüßt. 

Bei noch einem Worte ist das ursprüngliche Merkmal des Rundseins 
unwesentlichgeworden: Scheibe (althochdeutschsciba, urverwandt 
mit griechisch skoipos, Töpferscheibe) bedeutet ursprünglich einen 
runden, flachen Gegenstand; daher mundartlich scheiben = rollen, 
z. B. Kegelscheiben. Scheiben nannte man auch die runden Butzen- 

1) Zu dieser Sippe gehören auch englisch dish = Schüssel, Napf, Tasse, 
Schale und übertragen Gericht, Speise und englisch desk == Pult, Katheder, so¬ 
wie italienisch desco = Pult, Tisch, Rechenbrett und ungarisch deszka = Brett. 
(Der Vertreter der Sippe talea-tailleor-Teller im Ungarischen ist tanyer = Teller.) 

3*6 






scheiben des Mittelalters, und schließlich wurde der Bedeutungs¬ 
bereich des Wortes Scheibe auch auf das viereckige Fensterglas 
ausgedehnt. Aber sprachgeschichtlich ist eine viereckige Fenster¬ 
scheibe ebenso ein Widerspruch wie ein viereckiger Tisch, dem 
Bedeutungswandel ist in diesen Fällen sozusagen — die Quadratur 
des Kreises gelungen. 

TEUFEL 

Den Teufel hat, soviel ich weiß, kein Atheist noch bündig wegbewiesen. 

Richter Adam bei Kleist. 

Das deutsche Wort Teufel geht — ebenso wie französisch diable, 
englisch devil, italienisch diavolo — auf griechisch diabolos = An¬ 
kläger, Verleumder (Bewerfer, Vorwurfmacher) zurück. Nach 
dem Alten Testament ist des Teufels Amt, die Menschen vor Gott 
zu verklagen; er ist gleichsam ein geheimer Spion Gottes auf Erden 
und wird aus Bosheit auch zum agent provocateur, zum Lockspitzel. 
Auch im Neuen Testament (i. Tim. 3, 6, Apok. 12, 10) erscheint 
er als Ankläger vor Gottes Gericht. Die im griechischen Worte 
diabolos zutage tretende Gedankenverbindung zwischen den Vor¬ 
stellungen anklagen und bewerfen spiegelt sich auch in den deutschen 
Ausdrücken Anwurf und Vorwurf wider. Das Wort diabolos enthält 
die Wurzel des Zeitwortes ballein = werfen 1 . Ins Germanische ge¬ 
langte diabolos durch die arianische Gotenmission, und gotisch 
diabulus (althochdeutsch tiufal) verdrängte als kirchliches Wort das 
heidnische unhultho (althochdeutsch unholda). Nach Kluge-Götze 
macht sich in der deutschen Form Teufel Quereinfluß sowohl von 
„tief“ (althochdeutsch tiuf) als von der Endung des Wortes Engel 
geltend. 

Im griechischen Text des Neuen Testaments wird außer diabolos 
auch satanas gebraucht. Letzteres ist das mit griechischer Endung 

1) Das griechische ballein ist auch sonst in vielen unserer Lehn- und Fremd¬ 
wörter vertreten: in Ball = Tanzunterhaltung (Werfen der Beine) und dazu 
Ballett, Ballade, Bajadere, in Parabel = Gleichnis (parabole, vergleichendes 
Nebeneinanderwerfen) und dazu auch französisch parier = sprechen, Parole, 
Parlament, in Hyperbel = Übertreibung (hyperbole, über das Ziel Hinaus¬ 
geworfenes), Embolie = Verstopfung der Blutgefäße (embolos, Hinein¬ 
geworfenes, Pfropfen), Symbol = Sinnbild (Zusammengeworfenes), Problem 
(Vorgeworfenes, Vorgelegtes) usw., ferner auch Ambulatorium, Somnambule, 
Ballistik, Armbrust (Volksetymologie aus lateinisch arcubalista zu arcus, 
Bogen, und ballein, werfen). 


357 




versehene hebräische satan = Widersacher 1 , vom Zeitwort stu 
= anfeinden. Einer der althochdeutschen Namen des Teufels, fiant 
(unser ,,Feind“), ist die wörtliche Übersetzung des hebräischen 
satan (auch die Vulgata übersetzt: inimicus). Der Teufel gilt 
eben als der altfiant, ,,der alte böse Feind“ (Luther), er ist 
das Gegenprinzip, innig in das theologische Weltbild verschmol¬ 
zen, wenn auch nicht so augenfällig wie etwa in der dua¬ 
listischen Zend-Religion der Parsen, wo sich Ormuzd und 
Ahriman als ebenbürtige und gleichmächtige göttliche Prinzipe 
gegenüberstehen 2 . 

Im Althochdeutschen wird Satan gewöhnlich als Namen behandelt 
und steht daher meist ohne Artikel. Als Namen eines bestimmten 
Teufels ist auch Beelzebub, der oberste Teufel, nach Matthäus 12, 
24 und Lukas 11,15 und 1 8> 9 aufzufassen. Man deutet aus hebräisch 
baalsebuw = Herr der Stechfliegen, Fliegengott 3 . (Im Faust heißt 
Mephisto ,,der Herr der Ratten und der Mäuse, der Fliegen ... usw.) 
Eine derartige Gottesbezeichnung ist zwar, wie Harder ausführt, 
nichts Ungewöhnliches — z. B. hat auch Zeus Apomyios (von myia, 
Fliege) die Macht, lästige Stechfliegen femzuhalten, auch Ahriman, 
der böse Gott der Perser, ist Herrscher über Fliegen, Schlangen, 
Frösche usw. —, aber seitdem man in Teil el Amarna Ton tafeln aus¬ 
gegraben hat, auf denen eine Stadt Zebub genannt ist, sind Zweifel 
an der Fliegenetymologie möglich. Zur Redensart den Teufel 
durch Beel zebub austreiben, auch volkstümlich zu ,,Teufel 
tauschen“ vereinfacht (mit der Bedeutung: Böses durch Böses er¬ 
setzen, ähnlich wie ,,aus dem Regen in die Traufe“), ist zu be¬ 
merken, daß Matthäus 9, 34 und 12, 34 und Johannes 12, 47 stets 
heißt ,,die Teufel durch Beelzebub vertreiben“, d. h. die niederen 
durch ihren Fürsten. 


1) Da die arabische Form schaitan, die über das Abessinische entlehnt wurde, 
auch Schlange bedeutet, so hat man vermutet, daß ,,Schlange“ die ursprüng¬ 
liche Bedeutung von ,,Satan“ sei, doch wahrscheinlich haben die Araber in 
alter Zeit das Wort kennengelemt, auf Schlangen und Dämonen aller Art 
übertragen, und es erst seit Mohammed wieder in seinem ursprünglichen Sinne 
gebraucht (E. Littmann). 

2) Von den indogermanischen Völkern Europas sind es besonders die 
slawischen, bei denen deutliche Spuren dieses Dualismus zu finden sind; der 
Teufel ist bei ihnen der cemobog, der schwarze Gott. 

3) Das Sprichwort, daß der Teufel in der Not Fliegen frißt, hängt damit 
wohl kaum zusammen. 


3*8 









Belial als Teufelsbezeichnung geht auf 2. Sam. 22, 5- und Psalm 
18, 5 zurück, wo die Bäche Belials als die Bäche des Bösen, die 
Bäche der Unterwelt, aufzufassen sind. Als Bedeutung von belial im 
Hebräischen — wo es vermutlich ein babylonisches Fremdwort ist — 
gilt: Verderben, Bosheit. 

In religionsphilosophischen Schriften wird der Teufel auch als 
,,der Demiurg“ bezeichnet. Demiurg ist ein griechisches Wort, 
bedeutet wörtlich: Volksarbeiter, und ist bei Homer die Bezeich¬ 
nung des Standes der Handwerker und Gewerbetreibenden. Daraus 
entwickelte sich die Bezeichnung Werkmeister und in der platoni¬ 
schen Philosophie: Weltbaumeister, Ordner des Weltalls, Gott als 
Gestalter der Welt aus dem Chaos. Die Gnostiker nennen Demiurg 
den vom höchsten Gott unterschiedenen (teilweise mit dem Juden¬ 
gott identifizierten, teilweise sogar als bösartig betrachteten) Welt¬ 
bildner. Der Neupythagoräer Numenius unterscheidet den Demiurg 
als zweiten Gott (ho deuteros theos) von der höchsten Gottheit. 

Der Name Luzifer (Lichtbringer, von lateinisch lux und ferre) 
geht auf den Mythus vom Höllensturz des Morgensterns zurück, 
dessen Namen auf Grund von Jesaias 14, 12 (,,Wie bist du vom 
Himmel gefallen, du schöner Morgenstern? Wie bist du zur Erde 
gefället?“) auf den Höllenfürsten, den gefallenen Engel, übertragen 
wurde. 

Lucifer heißt der Teufel in der gleichnamigen Dichtung des 
Holländers Joost van den Vondel (16^4), in Miltons Verlorenem 
Paradies (1667), in Klopstocks Messias (175-1), in Byrons Kain 
(1821), in der Tragödie des Menschen des Ungarn Madäch (1861). 
Goethe zog im Faust einen bis dahin weniger bekannten Teufels¬ 
namen vor. In der ,,Historia von D. Joh. Fausten“ (1 ^87) heißt 
der Geist, den der Teufel dem ihm verschriebenen Doktor Faust 
zum Diener gibt, Mephistophiles, aber schon vor Goethe kommt 
auch die Form Mephistopheles vor. Etymologisch ist dieser 
Namen sehr umstritten. Harder führt acht Ableitungen an: 1. Von 
griechisch me (nicht), phos (Licht), philein (lieben), also Licht¬ 
hasser; dies würde eher auf eine Form Mephostophiles passen, die 
tatsächlich auch vorkommt. 2. Andere denken an französisch mefier, 
mißtrauen. 3. Wieder andere an den Zusammenhang mit den von 
Virgil und Tacitus erwähnten mephitischen Sümpfen. 4. Bei einer 
Ableitung aus hebräisch mephir = Zerstörer und tophel = Lügner 
ist die Häufung der negativen Begriffe auffällig. £. Hagemann und 


3 S9 



Andresen nahmen das Wort für Mephaustophiles = der den Faust 
nicht liebt. 6. Roscher und Zimmermann deuten aus Megiste 
Opheles, Beinamen des Pan-Ephialtes (megistos = sehr groß, 
ophelein = nützen), später die Bezeichnung eines allzeit dienstbaren 
Hausgeistes. 7. Goebel glaubt darin den kabbalistischen Namen des 
Planeten Merkur, Ophiel (von griechisch ophis, Schlange) zu er¬ 
kennen. 8. Östergaard hört aus dem Namen die Warnung me 
philosophes = philosophiere nicht. 

Im Faust kommt einmal auch Voland als Bezeichnung des Teufels 
vor. Es ist eine Nebenform von Valand, mittelhochdeutsch valant; 
es enthält ein untergegangenes germanisches Zeitwort mit der Be¬ 
deutung schrecken oder verführen und ist ein Partizip wie heliand, 
Heiland. Im Schweizerischen Fluch ,,ir Saker-Valentsch Buebe“ 
ist dieses alte Valand noch erhalten 1 . Auch dänisch fanden = Teufel 
gehört zu dieser Wortsippe, altfriesisch fandiand = Verführer geht 
ihm voraus. 

Eine Reihe von weiteren mundartlichen deutschen Namen des 
Teufels findet man bei Bergmann zusammengestellt: z. B. ober¬ 
sächsisch ,,der Teret“ (Törichte), schweizerisch Chüenzli, zu 
chüenzlen = schmeicheln, da der Teufel die Menschen durch seine 
Schmeicheleien ködert. Auch durch seine Prahlereien betört der 
Teufel, und so erklärt sich das in schweizerischen Hexenproze߬ 
akten des 16. Jahrhunderts vorkommende „Kläffer“ als Teufels¬ 
bezeichnung (von klaffen = großsprecherisch reden). Auch Böckle 
und Hömli ist aus der Schweiz belegt, da dem Teufel Bockshörner 
zugeschrieben werden; er isch dem Tüfel ab de Home g’sprunge, 
sagt man von einem schlauen, verwegenen Menschen, also einem 
,,Teufelskerl“. Daß der Teufel mit dem Bock in Beziehung gebracht 
wird, erklärt sich nach Bergmann daraus, daß bei der Einführung 
des Christentums in Germanien Gott Donar, dessen heiliges Opfer¬ 
tier der Bock war, wesentliche Züge zum Bilde des Teufels lieferte. 
Sollte man aber nicht an ältere Vorstellungen (Dionysoskult, Satyrn, 
Faune, Pan, Tragodia = Bocksgesang) denken ? Auf die Bocksgestalt 
bezieht sich auch der Teufelsnamen Möckler (von meck! meck!). 
Auf den Hammer Donars spielt vielleicht die Teufelsbezeichnung 

1) Ob auch der bei Schmeller verzeichnete bayrische Ausdruck Fankel 
(auch Spadifankel, Sparifankel, Spirifankel) in Wendungen wie ,,de böse 
Fankerl fecht uns an“, ,,der Fänkerl hat ihn“ zur selben Sippe gehört wie 
Valand, wage ich nicht zu beantworten. 


360 












Meister Hämmerlein an; sie ist später auf den Henker übertragen 
worden. Auf schnellfingrige Gaukler, Taschenspieler ist die Teufels¬ 
bezeichnung mille artifex, Tausendkünstler (mittelhochdeutsch 
tusendlisteler, dann Tausendkünstiger, Tausendkünsteler) über¬ 
tragen worden. 

„Den Namen, Weib, verbitt ich mir“, sagt Mephistopheles, 
als ihn eine Hexe als Junker Satan anredet; er läßt sich lieber ,,Herr 
Baron“ titulieren. Aus der Vorstellung, daß der Teufel es einem 
verübelt, wenn man ihn unverblümt nennt, aber auch aus der all¬ 
gemeinen Neigung, göttliche und dämonische Wesen nur um¬ 
schreibend zu nennen, zumal wenn man ihrer in Flüchen erwähnt, 
aus dieser typischen Bereitschaft zu Euphemismen ergeben sich in 
der Volkssprache unzählige Ersatznamen des Teufels. Das Haupt¬ 
wort ,,der Gottseibeiuns“ (schwäbisch: der Gott-bhüt-uns-davor) 
ist eigentlich ein Ausruf, der prophylaktisch gebraucht wird, wie 
etwa das Kreuzeszeichen. In der Schweiz heißt der Teufel auch der 
Ugnant, der Ungenannte. Die Umgestaltung des Wortes Teufel 
zeigen die Flüche pfuj Deichsel! pfuj deitsch (bayrisch), Deuchert 
noch emol (elsässisch); weitere derartige Abschwächungen des bösen 
Wortes sind: Deutschker, Deutscher, Deuker, Deikert. Bei Nyrop 
sind u. a. folgende dänische Euphemismen für den Teufel zu lesen: 
den lede (der Häßliche), den sure (der Sauere), den onde (der Böse), 
en vis mand (ein gewisser Mann), den slemme (der Schlimme), 
gammel karl (alter Kerl). 

Häufig sind unter den volkstümlichen Pflanzennamen Zu¬ 
sammensetzungen mit ,,Teufel“. Das gemeine Krätzkraut (Scabiosa 
columbaria) heißt auch Teufelsabbiß (zufolge des Glaubens, daß die 
meist abgefaulte Wurzel vom Teufel wegen der Kraft, die sie habe, ab¬ 
gebissen worden sei 1 ). Sehr viele Pflanzen haben den volkstümlichen 
Namen Teufelsauge 2 , Teufelsklaue 3 , Teufelskralle 4 , Teufelszwirn 5 , 

1) Teufelsabbiß ist ferner ein volkstümlicher Namen auch folgender 
Pflanzen: Pontentilla silvestris (Waldfingerkraut); Ranunculus acer (scharfer 
Hahnenfuß); Primula minima (Zwergschlüsselblume); Geum urbanum (echter 
Nelkenwurz); Succissa praetensis oder Scabiosa succisa (auch Abbißkraut oder 
Gottvergeß genannt; lateinisch succisa = Untenabgebissenes). 

2) Teufelsauge heißen u. a. folgende Pflanzen: Adonis aestivalis und 

Adonis autumnalis (Sommeradonis oder Marienröschen, Herbstadonis oder 

Feuerauge); Cyclamen europaeum (Alpenveilchen); Comarum palustre (Sumpf¬ 
blutauge, wegen der dunkelblutroten Blüten); Agrostemma githago (gemeine 

Kornrade, ein Getreideunkraut); eine Orchideenart Ophrys muscifera (auch 


361 





Teufelskirsche 1 , Teufelsbeere 2 3 4 5 . Die übelriechende Asa foetida 
(Stinkasant) heißt auch Teufelsdreck (merde du diable); aus 
einer psychoanalytisch-volkskundlichen Abhandlung von Hans 
Zulliger über das Arzneimittel Theriak (eine alte volkstümliche 
opiumhaltige Mischung) geht hervor, daß Tüüfelsdräck im Bern¬ 
deutsch volksetymologisch mit Theriak identifiziert wird. (,,Ja 
Tüüfelsdräck“ ist eine derbe Ablehnung in der Sprache des Berner 
Bauern.) Von den vielen teufelshaltigen Pflanzennamen erwähnen 
wir noch: den nach dem Fruchtstand benannten Teufelsbart 
(Pulsatilla alpina), welche Anemonenart auch Bocksbart oder Peters¬ 
bart genannt wird, die Teufelsmilch (Chelidonium majus, Schöll¬ 
kraut), deren bitterer Milchsaft giftige, brechenerregende Alkaloide 
enthält, die Teufelsnessel (Urtica urentissima), den Teufelswurz 

Fliegenorchel oder Blutströpfel genannt) und zwei auch bei anderen Teufels¬ 

namen angeführten Pflanzen: Hyos cyamus und Ranunculus acer. 

3) Teufelsklaue heißt eine Ly copodiumart (Bärlapp) und der zur Er¬ 
zeugung eines Bandwurmmittels verwendete dicke Wurzelstock des Aspidium 
filix mas (Wurmfarn oder männlicher Farn). 

4) Teufelskralle heißen: die Lonicera periclymenum (deutsches Gei߬ 
blatt), Phyteuma spicata (weiße oder Ährenrapunzel) und die Orchideenart 
Orchis latifolia (breitblättriges Knabenkraut). In Südtirol wird eine Kakteenart, 
die Opuntia ficus indica (Feigendistel), Teufelspratze genannt. 

5 ) Teufelszwirn heißen: die Clematis vitalba (Waldrebe); das auch Stink¬ 
teufel genannte Nachtschattengewächs Bittersüß (Solanum dulcamara); das 
Lycium halinifolium und das Lycium barbarum, welche beiden Dornsträuche 
auch den Namen Bocksdorn führen; die auch Seide oder Teufelshaar ge¬ 
nannte Schmarotzerpflanze Cuscuta mit fadenförmigem, sich windendem 
Stengel, besonders auf Klee und Flachs, und das schon bei den ,,Teufelsaugen“ 
erwähnte deutsche Geißblatt. 

1) Teufelskirsche heißen u. a.: die auch Hundskürbis genannte Zaun¬ 
rübe (Bryonia alba), das Solanum nigrum (schwarzer Nachtschatten), die Sorbus 
aucuparia (Eberesche), die Blasenkirsche (Physalis alkekengi). 

2) Teufelsbeere heißen die (auch Juden- oder Hundskirsche genannte) 
gi ft verdächtige, schwarze Frucht des ährigen Christophskrauts (Actaea spicata); 
die Paris quadrifolia (vierblättrige Einbeere), deren auch kleine Tollkirsche 
genannte Frucht zwar giftig ist, aber in der Volksmedizin in kleinen Mengen 
als Brechmittel verwendet wird; der rote Hornstrauch (Comus sanguinea); 
der vielblütige Weißwurz (Polygonatum multiflorum); der Rubus caesius, eine 
Verwandte der Himbeere und der Brombeere. Sowohl die Bezeichnung Teufels¬ 
beere als die Bezeichnung Teufelskirsche ist gebräuchlich für folgende Pflanzen: 
Atropa belladonna (echte Tollkirsche), Lonicera nigra und xylosteum (schwarze 
und rote Heckenkirsche), Ligustrum vulgare (gemeine Rainweide), und für 
die Steinfrüchte des Faulbaums (Frangula alnus, Rhamnus frangula), aus 
denen die Volksmedizin früher Brech- und Blutreinigungsmittel bereitete. 


362 







(Hyos cyamus, Bilsenkraut). Auch einige exotische Pflanzen weisen 
in ihrem deutschen Namen den Teufel auf: Teufelsholz wird das 
Holz des Osmanthus americanus genannt, Teufelsbaum ist die 
Altonia scholaris, ein tropischer Baum mit korkleichtem Holz, aus 
dessen Rinde Arzneien bereitet werden, Teufels Nadelkissen ist der 
deutsche Namen des Echinocactus Lecontei. Aus dem Reich der 
Pilze nennen wir: den Satanspilz (Boletus satanus), das Teufelsei 
(einer der volkstümlichen Namen des Phallus impudicus) und den 
Teufels tabaksack (Lycoperdon). 

Auch unter den Tiernamen gibt es Zusammensetzungen mit 
,,Teufel“: eine Meisenart, die langschwänzige Acredula, heißt 
Teufelsbolzen; unter den Flügelschnecken gibt es eine, deren 
Außenlippe in mehrere lange krallige Fortsätze ausgezogen ist 
(Pteroceros) und die daher neben Fingerschnecke auch den Namen 
Teufelsklaue oder Teufelsschnecke führt; Teufelsblume (Idolum 
diabolicum) heißt ein Insekt aus der Gradflüglerfamilie der Fang¬ 
heuschrecken; eine Libellengattung (Aeschna) führt den Namen 
Teufelsnadel oder Teufelspferd ; die Raupe des Fichtenspinners heißt 
Teufelskatze; zu der Fischfamilie der Rochen gehört der Teufels¬ 
rochen oder Teufelsfisch (Dicerobatis) mit beiderseitig hörnerartig 
nach vorn verlängerten Kopfflossen. 

Unter den Redensarten, in denen vom Teufel die Rede ist, gilt 
als die älteste: der Teufel ist los. Sie geht auf die Offenbarungen 
des Johannes zurück. Dort heißt es: er ergriff den Satan, band ihn 
und warf ihn in den Abgrund, versiegelte ihn, daß er nicht verführen 
sollte die Heiden, bis dann vollendet wurden tausend Jahr und 
darnach muß er — loswerden eine kleine Zeit. Das Zeitwort 
verteufeln bedeutet in der Volkssprache: etwas böswillig und 
mutwillig verderben; z. B. Kleider; in der Schweiz auch: Menschen 
zugrunde richten. Im Niederdeutschen bedeutet verdüveln auch: 
durch Fluchen, mit mehrmaliger Nennung des Teufels, verneinen, 
leugnen (,,dat lat ik mi nig verdüveln“, das laß ich mir nicht 
abstreiten). 

In unzähligen sprachlichen Gebilden, in denen das Wort Teufel 
schon zum leeren Schall geworden ist, lebt das Andenken des alten 
Teufelsglaubens fort. Alltäglich sind bildliche Wendungen wie: den 
Teufel im Leibe haben, zum Teufel jagen. Wir sprechen auch be¬ 
wundernd von einem Teufelskerl, mitleidig von einem armen 
Teufel, können sogar einen ausgelassenen Backfisch liebevoll als 


363 




Sprühteufelchen bezeichnen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, 
könnte nicht jeder von uns aus dem Stegreif Dutzende anderer 
Redewendungen anführen, in denen des Teufels Erwähnung getan 
wird. Man hütet sich, ihn an die Wand zu malen, spricht von seiner 
Großmutter, von einer Satansbrut. Und wenn wir mit dem Doktor 
Faust des Pudels Kern erkennen, so wissen wir, daß es sich um den 
Bösen handelt, ebenso verrät uns der Pferdefuß, der bei einer Sache 
herausschaut, daß der hinkende Höllenfürst dahintersteckt. Aber 
nicht von solchen Redensarten 1 soll hier zum Schluß noch ge¬ 
sprochen werden, bei denen der Anteil der alten Teufelsvorstellung 
wörtlich zutage tritt oder wenigstens für jedermann erkennbar 
durchschimmert. Es gibt in der Sprache auch Spuren des Teufels¬ 
glaubens, die für den linguistischen Laien als solche gar nicht wahr¬ 
nehmbar sind. Auch wenn wir z. B. harmlos sagen, jemand sei be¬ 
sessen von seiner Aufgabe oder seinem Ehrgeiz, von Fleiß oder 
Wahrheitsliebe, so haben wir auch an ein archaisches Erbe in uns, 
an die Vorstellungsweit des Teufelsglaubens gerührt, ein Bild her¬ 
geholt aus der Dämonologie. Mit dem Gedanken, vom Teufel be¬ 
sessen zu sein, hängen auch die Redensarten ,,dem sitzt der Schalk 
im Nacken“, ,,den reitet der Teufel“ zusammen 2 . Und wenn wir 
drohen, wir werden einem irgendwelche üble Gepflogenheiten oder 
,,die Mucken“ schon austreiben, so maßen wir uns eigentlich 
dem ,,Besessenen“ gegenüber eine Aufgabe an, der früher nur 
gewachsen war, wer Macht über den Teufel gewinnen konnte. Im 
Mittelalter mußte man auch nicht fragen, was ist eigentlich in dich 
gefahren, denn so was konnte nur der leibhaftige Gottseibeiuns 
tun. Die Arten, in denen der Böse in einen fuhr, waren sehr ver¬ 
schieden, der Phantasie war hier ein breiter Tummelplatz gelassen. 
Nicht selten ging die Besessenheit auf einen förmlichen Pakt zurück, 
und an diesen erinnert noch der Ausdruck, man habe sich (einer Idee, 
einer Leidenschaft, einem Laster, einer Gesellschaft) verschrieben. 

1) Die Zahl solcher Redensarten und Sprichwörter ist sehr groß. Frisch¬ 
bier verzeichnet z. B. aus Ostpreußen: da ist der Teufel begrünt und be¬ 
graben (wenn Widerliches passiert) — dem Teufel ein Bein abarbeiten (wenn 
jemand zum Verdrusse des Zuschauers eine Tätigkeit übermäßig lange betreibt) — 
wie drei Teufel an einem Halfter — der Teufel holt sein Kind nicht — der 
Teufel reitet auf dem Messer (wenn es mit dem Rücken auf dem Tisch liegen 
bleibt) — de Diewel schött ömma up den gretsten Hupe. 

2) Nach Luthers Auffassung ist der Mensch ein Reittier, auf dem entweder 
Gott oder der Teufel reitet. 


364 






Zu den sprachlichen Gebilden, bei denen ,,der Pferdefuß nicht 
herausschaut“, gehört auch abstinken, ein moderner Fachaus¬ 
druck in der Sprache der Schauspieler und Artisten. ,,Er ist ab¬ 
gestunken“ bedeutet: er hat keinen Erfolg gehabt, er ist ohne 
Applaus von der Bühne oder aus der Arena abgegangen. Auch von 
einem Redner kann es heißen, er sei abgestunken. Aber nicht nur 
die Person, auch das Werk selbst (das Theaterstück, der Film, die 
artistische Leistung) ,,stinkt ab“. Der Ausdruck ist nicht etwa in 
der Theater- und Artistensprache selbst entstanden, er ist aus der 
Volkssprache hingelangt. So verzeichnet z. B. das Schwäbische 
Wörterbuch abstinken = mit Gestank abziehen, d. h. verächtlich, 
mit Schmach, unverrichteter Dinge abziehen. Wir müssen daran 
denken, daß Pech und Schwefel die Attribute des Teufels sind. 
Gestank begleitet sein Auftreten, und wenn er schließlich von der 
Frommheit des Gottesdieners vertrieben oder von der Schlauheit 
des Märchenhelden übertölpelt oder von sonstiger Tugend über¬ 
wältigt oder durch die Einwirkung himmlischer Zeichen in seinem 
bösen Unterfangen gestört das Feld räumen muß, zieht er eben mit 
Gestank ab. Mittelalterliche Darstellungen versuchen, dieses Ab¬ 
stinken des enttäuschten Teufels sogar bildlich zum Ausdruck zu 
bringen, indem sie dem Fliehenden eine eklige Wolke anhängen. 
Mysterienbühne und Volksbühne konnten dieses Entweichen unter 
Pech und Schwefel sogar echter und drastischer darstellen, und 
man mag in diesem Umstand vielleicht auch eine Brücke zum Ab¬ 
stinken des modernen Schauspielers sehen. Es gab auch eine alte 
Redensart ,,er nimmt Abschied wie der Teufel mit Gestank“; dies 
wurde von Leuten gesagt, die — wie Sebastian Franck 154.1 sich 
ausdrückt — ,,im Abschied Unehr nach sich verlassen.“ 

Mit dem Teufelsglauben hängt ferner auch der Ausdruck die 
böse Sieben zur Bezeichnung eines bösartigen, zanksüchtigen 
Weibes zusammen. Da die Zahl sieben seit jeher eine große Rolle 
in jeder Art von Aberglauben gespielt hat, sprach man auch von 
,,sieben Teufeln“. Daraus entwickelte sich der Brauch, den 
Siebener im Kartenspiel als die Teufelskarte zu bezeichnen. Es gab 
auch Spiele, z. B. das sogenannte Karnöffelspiel zur Zeit der 
Renaissance, in denen der Siebener die mächtigste Karte war, die 
alle anderen schlug. Sie hieß daher die böse Sieben und trug oft 
(wie auch Cyriacus Spangenberg 1^62 in seinem Buche ,,Die böse 
Sieben ins Teufels Karnöffelspiel“ es beschreibt) des Teufels Bild. 



Im 16. Jahrhundert gelangte an seine Stelle das Bild eines häßlichen 
Weibes auf die Karte, und so bekam dann ,,eine böse Sieben“ die 
Bedeutung: keifendes Weib. (Andere haben den Ausdruck ,,die 
böse Sieben“ mit dem Vaterunser in Verbindung gebracht, dessen 
letzte, siebente Bitte lautet: erlöse uns vom Übel.) 

Das geht auf keine Kuhhaut gehört auch zu den teuflischen 
Redensarten. Zu seiner Deutung ist vorauszuschicken, daß seit dem 
frühen Altertum auf geglätteten und getrockneten Tierhäuten ge¬ 
schrieben wurde; die Ägypter gebrauchten schon etwa anderthalb 
Jahrtausende vor Christus Pergament, und das Zend-Avesta der 
alten Perser, das Alexander der Große verbrannt haben soll, war 
mit goldenen Lettern auf Ochsenhäute geschrieben. Im Mittelalter 
bestand der Aberglaube, daß die Teufel dem Sterbenden ein auf 
einer Kuhhaut geschriebenes Sündenregister gleichsam als Rechnung 
Vorhalten. So wurde in der St. Georgskirche zu Reichenau am 
Bodensee eine bildliche Darstellung aus dem 14. Jahrhundert ge¬ 
funden: zwei Frauen, die miteinander schwatzen, darunter eine 
Kuhhaut, von vier Teufeln gehalten, auf die ein fünfter eifrig schreibt. 
Aus der Inschrift geht hervor, daß die Sünden verbucht werden, 
die die Weiber mit ihrem Geschwätz begehen. (Anspielung auf 
Matthäus 13, 36: von jedem unnützen Wort, das sie reden, werden 
die Menschen Rechenschaft zu geben haben am Tage des Gerichts; 
und auf die Offenbarungen des Johannes 20, 12, wo es heißt, daß 
die Taten beurteilt werden genau nach den Handlungen, die in 
Büchern eingetragen, was die religiöse Überlieferung dahin ergänzte, 
daß es der Teufel, der „Ankläger“ des Menschengeschlechts, sei, 
dem die Buchführung über die bösen Taten anvertraut ist.) In 
Fischarts Flöhhatz ist die Rede vom Teufel, „der hinder der 
Mess ohn Geheiss ein Kuhhaut voll schrieb solche Reden, die zwey 
Weiblein zusammen hetten“. Der ursprüngliche Sinn der Redens¬ 
art zielt also auf eine Sündenanzahl ab, die so groß ist, daß eine 
Kuhhaut ihre Aufzählung nicht fassen kann. Daraus wurde dann der 
Sinn verallgemeinert, etwa: worüber viel zu sagen ist. So heißt es 
in dem Bildergedicht „Der Kampf des bösen Weibes mit dem 
Teufel“ aus dem Jahre 1610: „wenn ich dies Geschlecht alles be¬ 
schreiben solt, ein Ochsenhaut ich brauchen wolt.“ Bei Hans Jakob 
Behaim (1644) bedeutet „eine Kuhhaut voll neuer Zeitungen“: 
ein Haufen neuer Nachrichten. Aus der von uns angegebenen Ent¬ 
stehungsgeschichte der Redensart „das geht auf keine Kuhhaut 44 


366 






geht außerdem hervor, daß auch der Ausdruck Sündenregister 
mit dem Teufelsglauben zusammenhängt. 

Wer denkt heute, wenn er so harmlose Redensarten gebraucht, 
wie ,,das geht auf keine Kuhhaut“, ,,er ist abgestunken“, ,,was ist 
in ihn gefahren?“ noch an den Teufel? Mephisto kann sich schmun¬ 
zelnd denken: den Teufel merkt das Völkchen nicht. Aber durch 
die Sprache hält er uns noch am Kragen. Das gilt natürlich nicht 
nur für die deutsche Sprache. Aus dem Französischen seien z. B. 
drei Redensarten angeführt, die mit dem Teufelsglauben Zusammen¬ 
hängen. La beaute du diable (Teufelsschönheit) ist die Tugend, die 
die Schönheit ersetzt; eile a la beaut£ du diable = sie ist nicht hübsch, 
hat aber den Reiz der Jugend. Dahinter steckt wohl der Gedanken: 
man mag häßlich sein wie der Teufel, die Jugend übt doch einen 
erotischen Reiz aus. Quitard erklärt aber die ,,Teufelsschönheit“ 
aus dem Umstand, daß der Teufel, als er noch jung und noch nicht 
,,gefallen“ war, zu den Engeln des Himmels gehörte. Faire le diable 
ä quatre (den Teufel zu viert machen) = einen Höllenlärm machen. 
In den Mysterien des Mittelalters waren die Teufelsrollen grotesken 
Charakters; gewöhnlich erschienen als Abgesandte des Teufels vier 
lärmende Teufelsknechte. Bei den Mysterien, die Philipp IV., König 
von Frankreich, 1313 an dem Feste zu Ehren des englischen Königs 
aufführen ließ, begleiteten mehr als hundert Teufel mit lautem 
Hohngelächter das Geheul der Verdammten. Die normale Besetzung 
bestand aber nur aus vier Teufeln. (In Schönbecks ,,Frau Jute“ aus 
dem Jahre 1480 kamen — als doppelte Besetzung — acht Teufel vor.) 
In der deutschen Sprache geht der Ausdruck Höllenlärm auf jenen 
Brauch zurück, die vier Teufel haben sich in ihr aber nicht redens- 
artlich erhalten wie im Französischen. In den letzten Jahren des 
zweiten Kaiserreiches wurde in Paris als Konkurrenz gegen Roche- 
forts berühmte ,,Lanterne“ die Zeitung ,,Diable ä quatre“ (Höllen¬ 
lärmmacher) gegründet. Man sagt auch: il a fait le diable ä quatre 
pour Tempecher, er hat sich verteufelt angestrengt, es zu ver¬ 
hindern. Eine dritte französische Redensart lautete: loger le diable 
dans sa bourse (den Teufel in seiner Börse beherbergen) = kein Geld 
haben. 

In alten deutschen Texten ist öfters von der schlauen Sünde die 
Rede, die vor jeden Teufel einen Engel stellt. Diese Vorstellung 
scheint im deutschen Redensartenschatz keine Spur hinterlassen zu 
haben, aber in romanischen Sprachen finden wir ihren Niederschlag. 


367 




Trus la Cruz estö el Diablo, hinter dem Kreuz verbirgt sich der 
Teufel, sagt der Spanier, und ähnlich der Portugiese: detras la cruz 
esta el diabo. Der Spanier sagt auch por las haldas del vicario sube 
el diablo at campanario, unter den Schößen des Vikars schlüpft der 
Teufel in den Kirchturm. Aus ähnlichem Gedankengang sagt das 
englische Sprichwort: where God has his church, the devil will 
have his chapel, wo Gott seine Kirche hat, bekommt der Teufel 
seine Kapelle. 

TIGER 

Im Altpersischen, der Sprache des Zend-Avesta, hieß der Pfeil 
tighri 1 . Da der Pfeil als Sinnbild der Schnelligkeit galt, wurde der 
Fluß, der Mesopotamien, das „Zwischenstromland* 4 , im Osten 
begrenzte, Tigris genannt 2 * . Wegen seiner Schnelligkeit erhielt auch 
das gefürchtete asiatische Raubtier, das dank eines Geschenkes des 
syrischen Königs Seleukos I. an die Athener schon etwa 300 Jahre 
v. Chr. in Europa bekannt war, den griechischen und lateinischen 
Namen tigris. Im Deutschen taucht dieser Tiernamen zuerst im 
11. Jahrhundert auf: in der Form „Tigertier**, was eine sogenannte 
verdeutlichende Zusammensetzung ist nach der Art von Maultier, 
Elender, Auerochs, Lindwurm, Walfisch, Eidergans, Turteltaube, 
wo schon der erste Teil des Namens das betreffende Tier bedeutet. 
Erst seit dem 17. Jahrhundert heißt es auch im Deutschen einfach 
Tiger. 

Mehrere sprachpsychologisch bemerkenswerte Bedeutungs¬ 
übertragungen lassen sich am Worte „Tiger** demonstrieren. 
Schon der Namen des Tieres selbst, von dem des Pfeiles genommen, 

1) Dazu gehört auch persisch tirkäs = Pfeilbehälter, woher in mehreren 
europäischen Sprachen die Bezeichnung des Köchers, z. B. italienisch carcasso, 
französisch carquois, auch mittelhochdeutsch (dem persischen Vorbild lautlich 
noch näher) tärkis (kommt bei Wolfram von Eschenbach vor). 

2) Flußnamen, die ursprünglich die Bedeutung „der Eilende“, „der 

Reißende“ u. dgl. haben, kommen überall häufig vor; wir nennen z. B. 
die vielen slawischen Flußnamen Bistriza von bistri = scharf, schnell, zu denen 
auch die verschiedenen österreichischen Flüßchen namens Feistritz gehören; 
ferner mit altindisch isira, griechisch hiaros = regsam, frisch, eilend urver¬ 
wandt: Istros, der alte Name der Donau, die Isar in Bayern, verschiedene 
Bäche namens Iser in Deutschland, die Iser am Südabfluß des Iser- und Riesen¬ 
gebirges, die Isere und die Oise in Frankreich; auch der Namen Ems (zur Römer¬ 

zeit Amisia, Amisis) steht vermutlich mit emsig (althochdeutsch emizig) im 
Zusammenhang. 


368 



ist ja das Ergebnis eines metaphorischen Vorgangs, und zwar eines 
von seltenem Typus. Daß ein Gegenstand, insbesondere ein Kriegs - 
gerät, nach einem Tier benannt wird, kommt, wie O. Meisinger 
zeigt, häufig vor. Den Enterhaken nannten die Griechen und die 
Römer Rabe (corax, corvus), den Sturmbock Widder (krios, aries), 
den Mauerbrecher Kran (gerayos, grus), den beim Angriff über dem 
Kopf getragenen Schild Schildkröte (chelone, testudo); eine Wurf- 
maschine hieß bei den römischen Soldaten scorpius, eine andere 
onager (Wildesel). Auch den Tank nannten im September 1916 die 
ersten französischen Schlachtberichte tortue (Schildkröte). Oft sind 
Waffen nach Raubvögeln benannt, z. B. die Falkaune nach dem 
Falken, die Muskete nach einer Sperberart; man denke auch an die 
Feldkatzen, Feldschlangen und ähnliche Geschützbezeichnungen. 
Was wir am Gewehr als Hahn bezeichnen, hat auch in mancher 
anderen Sprache einen Tiernamen, z. B. chien, Hund im Französi¬ 
schen, gatillo, Kätzchen im Spanischen, likos, Wolf im Neu¬ 
griechischen. Um auch ein ganz modernes Kriegsgerät anzuführen, 
das sich einen Tiernamen ausgeliehen hat, erwähnen wir das Torpedo 
(torpedo heißt im Lateinischen der Zitterrochen, der Fisch mit 
elektrischen Schlägen). Bekanntlich werden auch in den Kriegs¬ 
marinen leichtere, rasche Fahrzeuge oft auf Raubtiemamen wie 
Tiger oder Panther getauft. 

Solche Beispiele für die Übertragung von Tiemamen auf Kriegs¬ 
geräte 1 lassen sich noch beliebig vermehren. Einen ziemlich ver¬ 
einzelten Typus stellt hingegen der Tiernamen Tiger vor, der doch 
selbst von einer Waffe, vom persischen Namen des Pfeiles, 

1) Nicht nur Kriegsgeräte, auch sonstige Gegenstände, Werkzeuge u. dgl. 
werden metaphorisch als Tiere bezeichnet. Man denke z. B. an das vierbeinige 
Turngerät Bock; auch in vielen Handwerksgewerben kommt Bock als Fach¬ 
ausdruck vor; hierher gehört auch Kutschbock. Mit dem Vogelnamen Kran 
(ältere Kurzform von Kranich) bezeichnen wir das Gerät zum Lastenheben, 
auch die Franzosen nennen es Kranich (grue), aber auch Ziege oder Kamel 
(chevre, chameau). Im Französischen bedeutet grenouille (Frosch) auch 
Löhnungskasse oder Sparbüchse (daher manger oder faire sauter la grenouille, 
den Frosch aufessen oder hüpfen lassen = eine Sparbüchse entleeren oder 
bestehlen, anvertrautes Geld vergeuden). Den Dietrich und den Sperrhaken 
bezeichnen die Franzosen als rossignol (Nachtigall). Auch das deutsche Wort 
Folter ist ursprünglich ein Tiernamen, der auf ein Gerät übertragen wurde: 
nach griechisch polos = Füllen hieß ein römisches Foltergerät, ein scharfkantiges 
Gestell, das vorher im klassischen Latein equuleus = Pferdchen genannt wurde, 
poledrus, und daraus entwickelten sich die deutschen Wörter Folter, foltern. 


369 




i 


genommen ist, wo also die Richtung des metaphorischen Vorganges 
jener des allgemeinen gerade entgegengesetzt ist. Der Tiernamen 
Tiger wird dann allerdings selbst zum Ausgangspunkt einer Reihe 
von neuen Bedeutungsübertragungen 1 . Doch ist die Vergleichs¬ 
grundlage für diese sekundären Übertragungen nicht mehr in der 
Schnelligkeit, sondern in anderen Eigenschaften dieses Raubtieres 
zu suchen. ( 

Vor allem gilt der Tiger als ein außerordentlich gefährliches Tier, 
als ein Vorbild der Grausamkeit und der unerbittlichen Kampfes¬ 
lust. Daher die Ausdrücke Tigerherz, Tigerblick. Bei Shakespeare 
hat tigerfooted, tigerfüßig die Bedeutung: sich gierig auf die Beute 
stürzend. Allgemein bekannt ist der Beinamen ,,le tigre“, den das 
französische Volk dem Staatsmanne Clemenceau gegeben hatte, 
um seine Unerbittlichkeit in innerpolitischen Kämpfen sowie seine 
zähe Unversöhnlichkeit im Weltkriege zu kennzeichnen. Übrigens 
hat schon Geibel in seinem Gedicht ,,Der Tod des Tiberius“ den 
von Tacitus und Sueton ungerechterweise als Tyrann beschriebenen 
römischen Kaiser einen ,,greisen Tiger“ genannt, und zur Zeit der 
französischen Revolution galt Robespierre als der ,,Tiger des 
Konvents“. Aus der Volkstümlichkeit Clemenceaus im letzten 
Kriegsjahr erklärt es sich, daß anfangs 1918 im Departement Var, 
wo des Ministerpräsidenten Wahlkreis lag, die ausgehobenen 
Rekruten sich tigres nannten. Tigres bleus hießen übrigens in Frank¬ 
reich auch die Alpenjäger und die Kolonialtruppen, wenigstens so¬ 
lange, bis die blaue Farbe ihrer Uniform einer feldmäßigeren wich. 

Im Zusammenhang mit dem Beinamen Clemenceaus verweisen wir 
auf einen medizinischen Fall, den der Wiener Psychiater Schilder 
beschrieben hat. Sein Patient betrachtete den Tiger gleichsam als 
sein Totemtier, er sah in seinem Vater, dessen Namen „Clemens“ 
an Clemenceau erinnerte, einen Tiger. Bemerkenswert ist auch ein 
anderer, vom Nervenarzt S. H. Fuchs analysierter Fall. Es handelte 
sich um einen Schizophrenen mit dem Familiennamen Tieger, der 
ebenfalls seinen Vater mit dem grausamen Raubtier identifizierte. 


1) Während wohl alle Kultursprachen für das Raubtier Felis tigris einen 
Namen haben, der von dem jenes raschen Flusses kommt, wissen wir auch 
von Fällen, wo, umgekehrt, Namen dieses Tieres auf Flüsse übergehen. Im 
Berichte Prof. Arsenjews über seine Forschungen im Ussurigebiet lesen wir 
von zwei Flüssen, die in der Sprache der ostsibirischen Eingeborenen Amba 
(= Tiger) und Laochosen (= Tigerfluß) heißen. 


370 



Die Vorstellungsverknüpfung zwischen den Begriffen Tiger und 
Grausamkeit ist besonders in Frankreich im Vordergrund des 
Denkens. Von Voltaire stammt der Ausspruch, die Franzosen seien 
tigresinges, d. h. zur Hälfte Affen, zur Hälfte Tiger (Eitelkeit und 
Grausamkeit). 

Im Französischen bedeutete coeur de tigre einen Wüterich, 
tigresse eine grausame Schöne. Die ironische Redensart eile n’est 
pas tigresse, sie ist keine Tigerin, gilt einer, die ihre Verehrer all¬ 
zugern erhört. Wenn der Engländer eine Frau als tiger bezeichnet, 
so schwebt ihm ein streitsüchtiges Frauenzimmer (eine ,,Zank¬ 
tippe“, eine ,,Bißgum“) vor; die überaus kriegerischen ersten 
Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht in England mußten sich 
wiederholt gefallen lassen, in der Presse als tigers geschildert zu 
werden. Tigerin war übrigens eine Zeitlang auch die Bezeichnung 
für das Rollenfach der herzlosen und gefährlichen Schönen in der 
Theatersprache, doch ist dieser Ausdruck und sein ebenfalls 
zoologisches Synonym, die Salonschlange, neueren Bezeichnungen 
wie Dämon und Vamp gewichen. In den letzten zwei Jahr¬ 
zehnten des vorigen und im ersten unseres Jahrhunderts gediehen 
in den Dschungeln des Berliner Theaterlebens prächtige Exemplare 
von sogenannten Premieren tigern, die sich bei Uraufführungen 
durch Krawalle bemerkbar machten und als Entdecker des Haustor¬ 
schlüssels als kritischen Pfeifinstruments gelten dürfen 1 . Auch beim 
Kritiker, der das Werk ,,verreißt“, denkt wohl die deutsche 
Sprache an eine wilde tierische Gebärde. (In jener großen Premieren¬ 
tigerzeit gelangte der Kritiker Oskar Blumenthal zum Beinamen 
,,blutiger Oskar“.) 

Die ostasiatischen Völker — die es ja auch mit der mächtigsten 
Tigerform (Felis tiger mongolica) zu tun haben — fürchten den 

i) Es scheint, daß mit verblassender Erinnerung an die Zeit der großen 
Premierenskandale auch die ursprüngliche Bedeutung von Premierentiger 
= Krawallmacher dem Untergang geweiht ist und daß jüngere Zeitgenossen 
unter Premieren tiger heute nur mehr einen Premierenstammgast verstehen. 
Nur so ist zu begreifen, daß der Verfasser eines vor kurzem im ,,Neuen Wiener 
Journal“ erschienenen Feuilletons über Premierentiger die verwunderte Frage 
stellen konnte, wie es möglich sei, daß der Mann, der ,,bei jeder Erstaufführung 
zum Gesamtbild des Parketts gehört“, in die Klasse der Großkatzen eingereiht 
wurde. ,,Der einzige Anhaltspunkt für seine zoologische Einreihung dürfte 
durch das majestätische Schreiten gegeben sein, das er während der Pausen zu 
produzieren bestrebt ist.“ Armer Premierentiger, wie hast du dir verändert! 


371 





Tiger so sehr, daß sie von ihm in der Regel in Ergebenheitsformen 
reden und ihn ,,Herr Tiger“ nennen. Im Ussurigebiet in Ost¬ 
sibirien errichten die chinesischen Jäger in der Taiga, dem sibiri¬ 
schen Urwald, kleine, dem Tiger geweihte Tempelchen mit der 
Inschrift: Ssan-lin-tschu-tschi, dem Beherrscher von Berg und Tal. 
Der Blutdurst des Haifisches wird bei vielen Völkern dem des Tigers 
verglichen. Die Haifische gelten gleichsam als die Tiger des Meeres, 
und die Spanier nennen den Haifisch einfach tigre oder tigron. Auf 
die Vorstellung der hartnäckigen Kampfbegierde und der gefähr¬ 
lichen Gegnerschaft gründet sich auch der amerikanische Slang¬ 
ausdruck fight the tiger, mit dem Tiger kämpfen, d. h. einen sehr 
gefährlichen, aussichtsarmen Kampf führen, z. B. mit einem Berufs¬ 
spieler Poker spielen. Mit der Vorstellung des Tigers als Sinnbild 
der Kampfeslust und Gefährlichkeit dürfte auch Zusammenhängen, 
daß man früher ein berüchtigtes Londoner Matrosenviertel Tiger- 
Bay nannte. 

Ein anderes Merkmal des Tigers, das zu sprachlichen Über¬ 
tragungen Anlaß bietet, ist die lebhafte Streifung seines Felles. 
Zunächst wird dieser Umstand zur Charakterisierung anderer Tier¬ 
gattungen ausgenützt, wobei allerdings nicht nur gestreiftes, sondern 
oft auch getüpfeltes Äußere als ,,tigerhaft“ gilt. Das Zebra heißt 
auch Tigerpferd (hippotigris). Eine gefleckte Riesenschlangenart 
(Python molurus) führt den Namen Tigerschlange. Die Streifen¬ 
hyäne heißt auch Tigerwolf. Es gibt eine Marderart, die Tigeriltis, 
eine Muschelart, die Tigerschnecke (Cypraea tigris), eine Schnecken¬ 
art, die Tigertute, eine Schmetterlingsart, die Tigermotte heißt. 
Der Tigerfink heißt so, weil sein rotbraunes Gefieder lebhaft ge¬ 
tüpfelt ist. Es gibt getigerte Katzen, Hunde, Pferde (tiger-dogs, 
tiger-horses auch im Englischen). In manchen Gegenden des deut¬ 
schen Sprachgebiets, z. B. im Egerland, haben scheckige Ochsen 
oft den Rufnamen Tiger. 

Aus der Pflanzenwelt erwähnen wir vor allem die Tigerlilie 
(Lilium tigrinium), deren feuerrote Blüten schwarz getüpfelt sind. 
Als Tigerholz bezeichnet man sowohl das Holz des Borsinums, eines 
für Spazierstöcke u. dgl. verwendeten tropisch-amerikanischen Maul¬ 
beergewächses, als das Holz des Strychnosstrauches, aus dem das 
Strychnin und das berühmte indianische Pfeilgift Kurare gemacht 
wird. Tigernüsse heißen die eßbaren Wurzelknollen einer Zyper¬ 
grasart. Aus der mineralischen Welt seien die Tigeraugen, die aus 


372 


den im Quarz eingewachsenen Krokydolithfasem verschliffenen 
Schmuckstücke, genannt. 

Auch auf Menschen wird die Bezeichnung Tiger mit Hinblick 
auf das gestreifte, scheckige Äußere übertragen. Neger, die an 
Albinismus leiden und helle Hautstreifen aufweisen, nennt man 
Tigermenschen (auch Elstermenschen). Im Französischen bedeutete 
tigre früher auch einen Reitknecht, offenbar wegen der gestreiften 
Livree 1 . Diese Bezeichnung kam auch nach England, wo tiger dann 
allgemein einen Diener bezeichnete, der seinem Herrn auf dessen 
Wegen und Reisen zu folgen hatte, oder einen livrierten Ausläufer 
(der Londoner Ärzte in früheren Zeiten), einen Laufburschen. Im 
englischen Slang bedeutet tiger auch mit Fleischstreifen durch¬ 
setzten Speck. Ferner bedeutet im Englischen tiger (daraus tigerism) 
einen Prahler, besonders in Kleidung und Benehmen, also einen 
Stutzer, und es ist nicht klar, ob dieser Ausdruck, die Vorliebe 
für das Auffällige ins Auge fassend, auf die Streifung des Tigers 
zurückgeht oder irgendeiner besonderen Abwandlung der Bedeutung 
Grausamkeit, Wildheit, Gefährlichkeit, Siegesgewißheit entspringt, 
in welchem letzteren Falle tiger = Prahler, Stutzer mit Löwe 
(Salonlöwe = Stutzer), Liebling der Salons in Verbindung zu bringen 
wäre. Auch einen Schmarotzer bezeichnet das englische Slang als 
tiger, wobei eine weitere Abbiegung des Begriffs Stutzer zu Nichts¬ 
tuer, Taugenichts vorliegen dürfte. 

Mit der Vorstellung des wilden Gebrülls des Raubtiers hängt 
wahrscheinlich der amerikanische Studentenausdruck tigre für ein 
organisiertes Beifallsgeschrei zusammen: z. B. three cheers and a 
tiger (oder: and the last in tigers), wörtlich: dreimal hoch und zum 
Schluß ein Tiger. Der Ausdruck soll zuerst in amerikanischen 
politischen Kreisen entstanden sein als Bezeichnung für das bestellte 
Beifallsgeschrei in Versammlungen. 

Eine weitere Eigenschaft des Tigers, die sprachlichen Über¬ 
tragungen zugrunde liegt, ist sein Herumstreifen nach Beute, ln 
der deutschen Gaunersprache bedeutet tigern (Synonym von tippeln 
und tarchenen) wandern, reisen. Der Ausdruck ist in die kauf¬ 
männische Umgangssprache übergegangen, besonders in die 

i) Zu erwähnen ist hier auch die Verwendung des Namens eines anderen 
gestreiften Tieres im Französischen. Le zehre ist auch derjenige, über den eine 
vornehme Dame stets verfügt zur Erledigung ihrer Aufträge, so z. B. bei 
Alphonse Daudet: c’est le zebre de la duchesse. 


373 




! 


süddeutsche, und so bedeutet jetzt Tiger einen Geschäftsreisen¬ 
den. Tigern ist seine Tätigkeit. Man liest gelegentlich in Anzeigen 
der Fachpresse, daß ein ,,gewandter Tiger“ gesucht wird. Es kommt 
auch vor, daß der Chef persönlich ,,tigert“. Vielleicht spielt hier 
neben der Vorstellung des Herumstreifens nach Beute doch auch 
die der Grausamkeit, Hartnäckigkeit mit. Möglicherweise war mit 
dieser Bezeichnung ursprünglich ein Tadel verknüpft, vielleicht be- < 

klagten sich die Opfer von besonders zähen, übertüchtigen Ge¬ 
schäftsreisenden, diese hätten sich wie hungrige Tiger benommen, 
am Ende ist es aber ein Namen geworden, den die so Benannten 
mit gewissem Stolz tragen. 

Schließlich seien noch drei Sonderbedeutungen des Wortes Tiger 
erwähnt, bei denen die Vergleichsgrundlage für die Übertragung 
des Tiernamens nicht nachweisbar erscheint. 

Tigre heißt im Pariser Argot ein junges Ballettmädchen, das in 
der künstlerischen Rangordnung bereits über den ,,Ballettratten“, 
den Gemeinen des Tanzkorps, steht, ohne jedoch schon ein ,,Star“ 
zu sein. Theophil Gautier hat einmal nett beschrieben, wie eine 
Ratte jederzeit durch einen einzigen Schritt zum Tiger werden kann. 

Vielleicht ist diese Sonderbedeutung des Wortes Tiger einfach als 
eine allerdings merkwürdige ,,Steigerung“ des Fachausdruckes 
Ratte aufzufassen, sie könnte schließlich aber auch mit der schon 
erwähnten dramatischen Rollenfachbezeichnung Tigerin für Herzens¬ 
brecherin Zusammenhängen. 

Im Argot der Pariser Kasernen wird tigre im Sinne von urinoir 
gebraucht. 

Im Slang der Oxforder Studenten heißt hot tiger, heißer Tiger, 
ein stark gewürztes, aus Ale und Sherry gemischtes Getränk. 

ULRICH RUFEN 

oder Sankt Ulrich anrufen (en halinge Uelereich rueffe) ist eine 
volkstümliche, beschönigende Umschreibung für erbrechen (,,sich 
übergeben“). Angeblich habe der heilige Ulrich (973 als Bischof 
von Augsburg gestorben) selbst dem übermäßigen Trunk gehuldigt, 
daher sei häufig zu seinen Ehren getrunken und nachher, bei den 
körperlichen Folgen der Trunkenheit, seine Hilfe angerufen worden. 

Es bestand auch der Glaube, wer aus dem von St. Ulrich im Tiroler 
Schlosse Firmian gebrauchten silbernen Meßkelch trinke, werde 
schwerer Beängstigungen frei. Vermutlich steht es mit der Beziehung 


374 


des heiligen Ulrich zum Trinken und zum Erbrechen ebenso, 
wie mit vielen anderen Vorstellungen in der Heiligenverehrung, 
die sich erst aus der Lautform des Namens entwickelten (Blasius als 
Helfer gegen Blasen-, Augustinus gegen Augenkrankheiten u. dgl.), 
und die Trunkfreudigkeit des heiligen Mannes dürfte erst nachträg¬ 
lich erfunden worden sein. Ulrich rufen wäre demnach eine laut¬ 
malerische Redensart, die eigentlich lauten müßte und ursprünglich 
vielleicht auch gelautet hat: u-o-le-rich machen. (Eine ähnliche Um¬ 
gestaltung der lautmalerischen Wiedergabe eines körperlichen Ge¬ 
räusches kennt man in Berlin; man sagt dort, wenn jemand das Auf¬ 
stoßen hat: Up-sala ist ’ne Stadt in Schweden.) Lautmalerisch ist 
jedenfalls das veraltete deutsche Wort für Ekel verursachen, Er¬ 
brechen verursachen: wüllen (ihm wüllt = es ist ihm erbrecherisch); 
althochdeutsch hieß das Erbrechen wullido oder wullunge. 

In der Schweiz (Aargau) ist für Erbrechen auch der Euphemismus 
gebucht worden: dem Marti Luther rüefen. Es ist die Ver¬ 
mutung ausgesprochen worden, daß dem Ausdruck möglicherweise 
eine Anlehnung an eine mundartliche Bezeichnung des Branntweins, 
an das Wort Lütter (= geläuterter, d. h. destillierter) zugrunde liegt, 
was mir sehr unwahrscheinlich vorkommt. Übrigens ist aus der 
Schweiz, aus dem katholischen Kanton Luzern, auch der Euphemis¬ 
mus ,,dem Marti Luther en Zeis ablegge“ (ein Zeugnis ablegen) 
= defäzieren verbucht. 

Die Redensart ,,an das Obergericht in Speyer appellieren“ 1 für 
erbrechen gehört zu den bekannten Anspielungen durch Ortsnamen 
(wie: Borneo ist sein Vaterland, d. h. er ist borniert, er ist nicht 
von Gibigen, sondern von Nehmigen usw.). In Ostpreußen ist für 
erbrechen gebucht worden: an Augsburg schreiben. Sollte die Silbe 
aug- auch wie das up- von Upsala lautmalerisch (und bewegungs- 
nachahmend) aufgefaßt werden müssen ? Auf das wohl ebenfalls laut¬ 
malerische Zeitwort kotzen spielt eine andere Umschreibung an: 
an Kotzebue schreiben oder Kotzebues Werke herausgeben; man 
spricht auch von ,,Kotzebues Ausbruch der Verzweiflung“. Laut¬ 
malerisch sind anscheinend auch die Ausdrücke ,,kälbern“ (Laute 
ausstoßen, wie ein Kalb es tut) und ,,man übt“ 2 . In Ostpreußen 

1) Das Reichskammergericht in Speyer war jahrhundertelang die oberste 
Appellationsinstanz im Reich. 

2) Schaeffler: „Tatsächlich klingt das Wimmern des Erbrechenden so, als 
würde die Tonleiter rasch gesungen.“ 


37 S 




sagt man für erbrechen: über die Zunge spucken oder über die 
Zunge kacken. Die in manchen Gegenden üblichen Redensarten 
,,nach Breslau fahren“ (,,Bre-“ zu ,,brechen“ vielleicht?), ,,den 
Kaiser von Rußland expedieren“ und ,,die Baumwolle nicht los¬ 
werden“, die ebenfalls das Erbrechen bezeichnen, harren in bezug 
auf ihre Entstehung noch der Erklärung. 

Sonderbar — und in ihrer Entstehung z. T. undurchsichtig — sind 
die Umschreibungen für erbrechen im französischen Argot: piquer 
un renard (einen Fuchs stechen, daher das Erbrechen auch kurz: 
renard), mettre (oder jeter) du coeur sur le carreau (Coeur auf 
Karo abwerfen), lächer une fusee (eine Spindel laufen lassen), 
lacher son goujon (sein Fischlein loslassen), jeter son lest (Ballast 
abwerfen), evacuer du couloir (den Korridor ausräumen), compter 
ses chemises (seine Hemden zählen). Den letztgenannten Argot¬ 
ausdruck, der besonders bei Seeleuten üblich ist, erklärt Quitard 
(1860) ziemlich gewaltsam aus der Sitte der Kapuziner, die kein 
Hemd tragen, bei Erkältungen Wein zu trinken. 

VAUXHALL, WAGSAL 

Die Herkunft des russischen Wortes wagsal, das Bahnhof bedeutet, 
ist so merkwürdig, daß sie auch in einem Buche erörtert zu werden 
verdient, das eigentlich nur deutsche Wörter oder dem Deutschen 
bekannte fremde Wörter behandeln will. 

Wagsal ist die Russifizierung des englischen Namens Vauxhall. 
So (übrigens auch The New Spring Gardens) hieß der in London 
im Jahre 1661 an der südlichen, der sogenannten Surreyseite der 
Themse, im Stadtteil Lambeth angelegte Lustgarten. Der Namen 
Vauxhall (auch in der falschen Schreibweise Foxhall vorkommend) 
wird verschiedenartig gedeutet. Er soll ursprünglich Fulkes Hall 
geheißen haben, nach dem Landsitz, den der Söldnerhauptmann 
Fulke um 1200 herum dort hatte. Andere deuten Vauxhall als 
Fawkes-Hall und sehen in jenem Lustgarten eine Erinnerung an den 
berüchtigten Guy Fawkes und die papistische Pulververschwörung. 
Die dritte Erklärung des Namens weiß von einer Witwe Jane Vaux, 
dessen Eigentum jenes Stück Land 161g gewesen sein soll. 

Jedenfalls wurde Vauxhall ein berühmter, ,,man kann ruhig sagen, 
der berühmteste Lustgarten der Welt“ (Dühren). Casanova unter¬ 
ließ nicht, diesem Treffpunkt der vornehmsten englischen Gesell¬ 
schaft, gleichzeitig Haupttummelplatz der Londoner Prostitution, 


376 


einen Besuch abzustatten, und Künstler vom Range eines Hogarth 
verschmähten nicht, zur Ausschmückung einzelner Gebäude im 
Vauxhall Bilder zu malen. Auf den Maskenbällen in Vauxhall ging 
es zu, wie man sich in England, das seither ein viktorianisches Zeit¬ 
alter durchgemacht hat, gar nicht mehr vorstellen kann. Noch im 
Jahre 1834 schrieb der Deutsche Otto von Rosenberg in seinen 
„Bildern aus London“: „wie es nur ein London gibt, so gibt es 
auch nur ein Vauxhall.“ Erst i8j 9 verschwand das Londoner 
Vauxhall. Der Park wurde bebaut, aber es erinnert dort an 
ihn noch eine Vauxhallstraße, ein Vauxhallplatz, eine Vauxhall- 
brücke. Auch als Automarke hat das Wort Vauxhall Verwendung 
gefunden. 

Auch auf dem Kontinent hatte sich der Ruhm von Vauxhall aus¬ 
gewirkt. Mancherorts eröffnete man „Englische Gärten“; in 
Ungarn hat sich z. B. die Bezeichnung angol park für Rummelplatz 
bis in unser Jahrhundert erhalten. Aber auch der Namen Vauxhall 
selbst faßte mancherorts außerhalb Englands Fuß. Das Vaux-hall- 
d’et6, das 1764 ein italienischer Artist namens Torre oder Torres 
am Boulevard Saint Martin eröffnete, war nach unseren heutigen 
Unterscheidungen ein Gartenvariete; 1770 folgte in Paris, im Stadt¬ 
teil Saint-Germain, ein Vaux-hall d’hiver. Delesalle spricht in seinem 
Argotwörterbuch 1896 (wo auch die falsche Angabe steht, das 
Londoner Vauxhall sei 1830 von einem Franzosen namens Vaux 
oder Devoux gegründet) von einem Pariser Tanzlokal Tivoli-Vaux¬ 
hall. In Frankfurt gab es von der Mitte der 20er Jahre bis 1830 
„hinter den Rosen“ ein Vergnügungslokal, das Vauxhall hieß. 

Auch in Rußland, im Städtchen Pawlowsk (jetzt Sluzk), im Peters¬ 
burger Gouvernement, gab es in der Nähe des kaiserlichen Konstan¬ 
tinpalais einen berühmten „englischen Garten“, der sich nach dem 
berühmten Vorbild Vauxhall nannte. Als man in Rußland die erste 
Eisenbahn baute, sie führte von der Hauptstadt zum Pawlowsker 
Zarenschloß, so bezeichnete man die Endstation, die nicht weit 
von jenem Vergnügungspark errichtet war, nach diesem als Vaux¬ 
hall, und so wurde dieses englische Wort, in russische Form ge¬ 
gossen, zum Worte wagsal, das jetzt Bahnhof bedeutet, und zwar 
jeden Bahnhof, nicht etwa nur den von Pawlowsk-Sluzk. 

Daß russisch wagsal von deutsch Wartesaal kommt, wie man 
gelegentlich in etymologischen Plaudereien lesen kann, ist eine 
Erfindung, und keine gute. Unbezweifelbar ist natürlich die deutsche 


377 




Herkunft von russischen Wörtern wie buterbrodu, jarmarku, jagd- 
taschu, patrontaschu, farba (Farbe), galstuku (Halstuch), schtulu 
(Stuhl), trauru (Trauer). 

WAND, GEWAND, WANZE 

Den Steinbau lernten die Germanen von den Römern. Dement¬ 
sprechend sind die Wörter Mauer (von murus), Fenster (fenestra), 
Ziegel (tegula), Kalk (calx), Mörtel (mortarium), Pfeiler (pila), 
Pforte (porta), Keller (cella, cellarium) und viele andere auf das 
Haus bezügliche Ausdrücke lateinischen Ursprungs. Vorher bauten 
die Germanen aus Holz und Lehm; die Wände waren eigentlich 
Zäune, mit Lehm beworfene Rutengeflechte, sogenannte Weller¬ 
wände. Auf der Marc-Aurel-Säule in Rom sind solche altgermanische 
Häuser dargestellt. Aus der germanischen Bauart erklärt sich die 
Entstehung des Wortes Wand. Es ist gebildet aus dem Zeitwort 
winden = zum Wenden bringen, flechten. Die eigentliche Be¬ 
deutung von Wand ist also: das Geflochtene. 

Verwandt mit „winden“ und „Wand“ sind die Wörter Winde 
(Werkzeug zum Winden oder Werkzeug, das sich wendet), Windel 
(womit man Säuglinge umwindet), wandeln und wandern (wohl auf 
der Bedeutungsgrundlage: wenden = verändern, also auch den Ort 
verändern). Verwandt mit „Wand“ ist ferner auch das Wort ,,ver¬ 
wandt** selbst, die Verwandten sind, die einander zugewendet sind. 
„Auswendig“ erklärt Oettli wie folgt: auswendig kann man etwas, 
wenn man beim Hersagen das Buch umwenden kann; aber diese 
Deutung erscheint zu nahe hergeholt, nämlich aus dem Gesichts¬ 
kreis des Schulmenschen, — besser ist, in auswendig einfach das 
Gegenteil von inwendig zu sehen. Notwendig ist vielleicht, was 
bestimmt ist, irgendeine Not zu wenden. 

In diese Wortsippe gehört des weiteren das Hauptwort Gewand 
(althochdeutsch giwati, im 11. Jahrhundert badagiwant = Bade¬ 
kleid, untarwanth = Unterkleid), wörtlich: etwas Gewundenes, 
Gewebtes, ein Webestück. In diesem Sinne ist auch Leinwand 
aufzufassen: leinenes Gewebe. Gewandhaus (mittelhochdeutsch 
gewanthus) ist ein städtisches Gebäude, in dem Tuchballen ausgestellt 
und verkauft werden. 

Mit Wand hängt auch das Wort Wanze zusammen. Es ist offen¬ 
bar verkürzt aus Wandlaus (alt- und mittelhochdeutsch wantlus); 
der z-Laut gelangt in die Kurzform ähnlicherweise wie in die 


378 


Koseformen Heinze, Kunze, Uz von Heinrich, Konrad, Ulrich, 
oder in die verkürzten Tiernamen Spatz, Ratz von Sperling, Ratte 
(vielleicht auch Petz von althochdeutsch bero). In schwäbisch¬ 
alemannischen Mundarten heißt die Wanze Wentche oder Wändel. 
Auch im Tschechischen wird der Namen für dieses Insekt von der 
Bezeichnung der Wand abgeleitet: die Wanze heißt stenica, aus 
stena = Wand. 

WESTE, GILET, WEISSE WESTE 

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entlehnt die deutsche Sprache 
zur Bezeichnung des (meist ärmellosen) Kleidungsstückes, das 
zwischen Hemd und Rock getragen wird (und für welches auch 
landschaftliche deutsche Namen wie Brustlatz, Leible gebräuchlich 
sind) aus dem Französischen das Wort Weste. Die Franzosen selbst 
hatten das Wort nicht lange vorher dem Italienischen entnommen, 
und italienisch vesta und vesto geht auf lateinisch vestis = Gewand 
zurück. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts hatte das zwischen 
Hemd und Rock getragene Kleidungsstück, das als veste bezeichnet 
wurde, noch Ärmel und die Oberschenkel zum Teil bedeckende 
Schöße, es war also eigentlich jenes Kleidungsstück, das im Deut¬ 
schen Wams und im neueren Französisch pourpoint heißt. Als die 
Schöße dieses Kleidungsstückes immer kürzer und auch die Ärmel 
weggelassen wurden, gab man ihm einen anderen Namen und be- 
zeichnete es mit einem neuen Worte, das dann ebenfalls auch nach 
Deutschland gelangte: gilet 1 . 

Für das Wort Gilet galt lange Zeit als Erklärung, es stelle eine 
Verkleinerungsform von Gil (lateinisch Aegidius) dar. Gilles war 
der Namen einer ständigen Gestalt der französischen Jahrmarkts¬ 
komödien, zu deren Charakterisierung auch ein feststehendes 
Kostüm gehörte, und Menage, Scheler, Littre, Gaston Paris u. a. 
erklärten den Namen des Kleidungsstückes gilet aus dem Namen 
jener lustigen Charaktermaske der Schaubudenspiele; auch das 
Sachs-Villattesche Wörterbuch sieht im Gilet noch den Abkömm¬ 
ling einer Hanswurstjacke. (Analogien für derartige etymologische 

1) Im Französischen ist heute la veste eine kurze Jacke ohne Schöße (Kellner-, 
Fleischhauer-, Konditorjacke, kurze Mannschäftsjoppe usw.). Im Schauspieler¬ 
jargon bezeichnet man als veste einen Durchfall, eine schimpfliche Schlappe; 
remporter une veste (eine Jacke davontragen) daher = Mißerfolg haben. 
Retoumer sa veste (seine Jacke umdrehen) == seine Gesinnung ändern. 


379 






Zusammenhänge gibt es jedenfalls: so heißt z. B. in Wien der in 
der Vorkriegszeit vorherrschend gewesene gradkrempige, steife 
Strohhut, anderswo gelegentlich auch Kreissäge genannt, Girardi 
nach dem berühmten Charakterkomiker; pantaloni — nach dem 
Namen des heiligen Pantaleon, eines der vierzehn Nothelfer, den 
sie besonders verehrten — war ein Spottnamen der Venezianer, und 
in der italienischen Stegreifkomödie gab es seit Mitte des 17. Jahr¬ 
hunderts eine ständige komische Figur mit Namen Pantalone, in 
venezianischer Mundart sprechend und lange Hosen tragend, was 
für jene Zeit nicht gewöhnlich war, und daraus wurde französisch 
pantalons, das Wort zur Bezeichnung der langen Beinkleider im 
Gegensatz zur culotte, der Kniehose.) In bezug auf gilet fügt Littre 
noch hinzu, daß andere Erklärungen zwar auch auf dem Vornamen 
Gilles beruhen, aber als dessen Träger den ersten Fabrikanten dieses 
Kleidungsstückes vermuten. 

Wie in so vielen Fällen, hat sich auch im Falle Gilet die Ab¬ 
leitung aus einem Personennamen als ein etymologisches Märchen 
erwiesen. Die Zerstörung der Fabel ist Hugo Schuchardt zu ver¬ 
danken, dem ebenso geistvollen wie vielseitigen Linguisten, dessen 
Größe sich auch in solch etymologischer Kleinarbeit stets deutlich 
erwies. Sache und Namen entlehnten verschiedene Balkanvölker, 
Neugriechen (gileki), Albaner, Rumänen, Serben von den Türken. 
Aber auch andere europäische Völker, die mit den Türken in Be¬ 
rührung kamen, lernten das türkische Wort jelek kennen als Be¬ 
zeichnung eines türkischen Kleidungsstückes, das u. a. auch die 
christlichen Galeerensklaven des osmanischen Reiches tragen 
mußten. So gelangte das Wort in die romanischen Sprachen: alt¬ 
italienisch giulecco, neapolitanisch gilecco, italienisch gile, spanisch 
gileco, jaleco, chaleco, provenzalisch gileco, französisch gilet. Als 
unter dem Einfluß des französischen Beispiels in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts das unter dem Rock getragene Kleidungsstück, 
verkürzt und meist ärmellos, überall in Mode kam, wurde auch 
die Bezeichnung gilet allgemein bekannt. Schuchardt hat dann 
übrigens, als einzelne französische Forscher, unter ihnen auch 
Gaston Paris, die Ableitung aus dem Vornamen Gilles dennoch 
aufrechtzuerhalten suchten, auch auf kostümgeschichtlichem Boden 
die Voraussetzungen des Gilles-Märchens widerlegt, indem er an 
theatergeschichtlichen Bildüberlieferungen zeigte, daß der Gilles 
nur eine Doublette des Pierrot war und sein Kostüm (z. B. auf einem 


380 


Stich von Watteau) nichts anderes als das auf Maskenfesten' auch 
heute wohlbeliebte Pierrotkostüm, das bekanntlich an ein modernes 
hochgeknöpftes Pyjama erinnert und keine Spur von einer Weste 
aufweist. 

Erst im i 9 . Jahrhundert ist die Weste, das Gilet, zur heutigen 
Form gelangt. Dieses Kleidungsstück reicht nur mehr kaum über 
die Hüfte hinunter, hat sich nicht nur der Ärmel, sondern auch des 
Kragens entledigt und der nicht sichtbare hintere Teil ist in der 
Regel aus einfacherem und billigerem Material. Wenn auch mit 
dem Wiener Kongreß in vieler Hinsicht eine Liquidierung der 
großen Revolution einsetzt, war manches auf dem Gebiete der 
kulturgeschichtlichen Entwicklung nicht mehr rückgängig zu 
machen. Dies gilt auch von der Vereinfachung der männlichen 
Kleidung, die sich nun nicht nur vom Prunk des ancien regime, son¬ 
dern auch von den stutzerhaften Auswüchsen des Empire freimacht. 
Selbst der überall wieder zu Macht und Ansehen gelangte Adel 
bequemt sich eines bürgerlichen Auftretens und überläßt nun die 
Herrlichkeiten der Rokokotracht seinen Lakaien. Und wenn auch 
durch die Bürgerlichkeit des Jahrhunderts immer wieder dandystische 
Züge hervorglitzern, wie sie sich in der schönen Literatur von 
Byron bis Wilde unzähligemal spiegeln, so waren diese Erschei¬ 
nungen oft nur dazu angelegt, den Bourgeois zu verblüffen — 
auf eine dünne Schichte beschränkt und eben als ephemere Versuche 
der Abkehr von der kaum erschütterlichen Norm der verbürger¬ 
lichten Männerkleidung aufzufassen. Im Zusammenhang mit der 
Vereinfachung der männlichen Kleidung ist erst die Rolle zu ver¬ 
stehen, die nunmehr die Weste zu spielen beginnt. Innerhalb der 
bunte Farben und auffällige Formen meidenden vereinfachten 
Männerkleidung ist die Weste (nebst der Krawatte) lange Zeit 
gleichsam eine Reservation geblieben, wo sich besondere ästhetische 
Gelüste, der Hang zur Vornehmheit, Neigungen zu individuellen 
Extratouren einigermaßen ausleben konnten. So erhielt sich auch 
lange die Mode, Westen aus besonders kostbaren Stoffen zu tragen. 
Vielfach wurde für Westen jener feine Wollstoff verwendet, der 
nach einer Stadt in Indien Kaschmir (französisch cachemir) heißt; 
im Pariser Argot der Jahrhundertwende war sogar „casimir“ gleich¬ 
bedeutend mit Weste, und natürlich war es wieder einmal ein 
etymologisches Märchen, dieses Wort mit dem polnischen Vor¬ 
namen in Verbindung zu bringen, statt mit dem feinen Wollstoff. 


381 




Auch hinsichtlich der Farbe der Weste hat der bürgerliche 
Puritanismus so viel Duldung gezeigt, daß die Farbe dieses Kleidungs¬ 
stückes mitunter charakteristisch werden konnte für seinen Träger. 
(Wir erinnern nur an Roda Rodas roter Weste, die der Humorist 
aus dem Münchner Kunst- und Literaturtreiben der Vorkriegszeit 
in eine weniger heitere Zeit herüberrettete.) Nicht weniger ab¬ 
stechend von den vorherrschend dunklen Farben der männlichen 
Kleidung waren die weißen Westen, und diese haben auch einen 
wortgeschichtlichen Niederschlag hinterlassen. Vom Anfang des 
19. Jahrhunderts bis zu Beginn des Weltkrieges waren weiße Westen 
immer wieder beliebt, und oft waren sie auch mit Stickereien ver¬ 
sehen. Im Jahre 1814 ließen sich z. B. die Berliner auf die weißen 
Piquewesten die Umrisse des Eisernen Kreuzes aufsticken, und war 
jemand wirklich Inhaber dieser preußischen Kriegsauszeichnung, so 
ließ er auch seinen Namen auf die Weste sticken. Die sauber¬ 
gehaltene weiße Weste war gleichsam der Schild auf dem vertrauens¬ 
heischenden Bauch des Biedermanns, das Sinnbild der staatsbürger¬ 
lichen Wohlgesinntheit, der Unbescholtenheit und Redlichkeit, — 
und dies noch, bevor der Ausdruck weiße Weste durch Bismarck 
zum geflügelten Worte gemacht worden war. Der Kanzler erzählt 
in seinen Erinnerungen, daß er im Jahre 1866 während der Ver¬ 
handlungen in Nikolsburg, als es sich darum handelte, ob die Kriegs¬ 
handlungen fortzusetzen seien oder ob Waffenruhe eintreten solle, 
den Grafen Moltke in bezug auf das beabsichtigte Unternehmen bei 
Preßburg um Rat anging und dabei bemerkte: ,,bis jetzt hatten wir 
keine Flecken auf der weißen Weste. 44 In das Jahr 1892 fiel Bis¬ 
marcks Wort über Wißmann, den Sieger über die Araber in Deutsch- 
Ostafrika, dieser ,,sei aus Afrika mit einer vollständig tadellosen 
weißen Weste zurückgekommen 4 4 . 

Im Französischen wurde der Namen einer bestimmten Westenform, 
der höchstens zweiknöpfigen Weste mit weitem, herzförmigem 
Ausschnitt, gilet en cceur, eine Zeitlarig (in den 60er bis 80er Jahren 
des vorigen Jahrhunderts) auch die Bezeichnung für Stutzer, Mode¬ 
helden. Zeitgenössische Schriften sprechen von den Herren ,,Herz¬ 
westen 4 4 wie von einem Indianerstamm (tribu des gilets en coeur), 
aber dieser Ausdruck für den in vielen Synonymen schillernden Dandy¬ 
begriff, wie viele andere seinesgleichen (z. B. das in den 30er bis 60er 
Jahren geläufige und u. a. bei Balzac, Alphonse Karr, Paul de Kock wie¬ 
derholt belegte gant-jaune, gelber Handschuh) ist nicht mehr lebendig. 


382 


WOCHE, WOCHENBETT 

Die Bezeichnung für den siebentägigen Zeitabschnitt ist sowohl im 
Griechischen (hebdomas, daraus französisch hebdomaire, wöchent¬ 
lich) als im Lateinischen (septimana) aus dem Namen der Zahl 
sieben gebildet. Dem Lateinischen folgen die romanischen Sprachen, 
z. B. italienisch settimana, französisch semaine. Im Ungarischen be¬ 
deutet het sowohl „sieben“ als „Woche“. 

Etymologisch unabhängig von der Siebenzahl ist deutsch Woche 1 
und englisch week. Die bis dahin nach (allerdings ebenfalls sieben- 
tägigen) Mondphasen zählenden Germanen lernten erst im 4. Jahr¬ 
hundert n. Chr. den die Mondphasen nicht unmittelbar berück¬ 
sichtigenden siebentägigen Zeitabschnitt der Antike kennen. Mit 
der Annahme des Christentums und der Kenntnis der Bibel, die ja 
schon in der Schöpfungsgeschichte dem siebenten Tag eine abschnitt¬ 
abschließende Rolle zuweist, entstand natürlich das Bedürfnis nach 
einer Bezeichnung des siebentägigen Abschnitts, zumal des von 
Sabbat zu Sabbat wechselnden Dienstes im Gotteshaus. Von diesem 
Dienst ist Lukas 1, 8 die Rede, und die gotische Übersetzung weist 
hier das Wort wiko auf. Das Wort wiko scheint, vom Balkan kom¬ 
mend, als Wort der arianischen Mission donauaufwärts gewandert 
zu sein (Kluge-Götze) und wurde die Grundlage für die Bezeichnung 
der Woche in der germanischen Sprache. Die althochdeutsche Form 
war wehha, später wohha, die mittelhochdeutsche bereits woche. 

Dem gotischen wiko liegt jenes lateinische Wort vicis = Wechsel, 
Abwechslung, Gegenseitigkeit zugrunde, dessen erstarrter Ablativ 
vice als internationale Vorsilbe bekannt ist (Vizekönig, Vizekanzler, 
vicomte = vice-comte usw. 2 ). Aus der zu lateinisch vicis gehörigen 
Sippe seien ferner genannt: das Fremdwort Vikar und außer Woche 
auch die deutschen Wörter Wechsel, weichen (Platz machen, einem 
Druck nachgeben), Weiche, weich (einem Druck leicht nachgebend). 

Die Ausdrücke Wochenbett, Wöchnerin, in die Wochen 
kommen hängen wohl mit der Regel zusammen, daß die junge 
Mutter nach der Niederkunft eine gewisse Anzahl von Wochen 

1) Wenn auch in deutsch ,,Woche“ das Element „Sieben“ nicht vertreten 
ist, wird umgekehrt der Ausdruck Woche gelegentlich zur Bezeichnung einer 
Siebenheit herangezogen; so kommt z. B. im Schlesischen „Woche“ als Um¬ 
schreibung der Zahl sieben vor. 

2) In der Budapester Umgangssprache heißt der „Vizehausmeister“, der 
die niederen Reinigungsarbeiten versehende Gehilfe des Pförtners, kurz: vice. 


383 





(gewöhnlich sechs) sich schonen soll. Bei Luther heißt es noch 
,,Sechswöchnerin“, erst anfangs des 18. Jahrhunderts setzt sich die 
gekürzte Form Wöchnerin durch. Auch die Redensart ,,in die 
Wochen kommen“ dürfte abgekürzt sein aus: in die Sechswochen 
kommen. Neuerdings hat Witzei versucht, der Redensart eine andere 
Deutung zu geben. ,,Woche“ sei darin eine landschaftliche Form 
für ,,Wehe“ und hänge mit dem Ausruf ,,Weh!“ zusammen, das 
in althochdeutschen Texten auch als ,,woch“ vorkommt. Es sei 
also in der Redensart nicht von den Wochen, sondern von den 
Wehen, den Schmerzen der Gebärenden die Rede, und es sollte 
nach Witzei etymologisch richtig heißen: in die Wehen kommen, 
im Wehenbett liegen. Luthers Sechs Wöchnerin zeige nur, daß er 
das an Wochen anklingende Volks wort mißverstanden hat. Zwingend 
ist diese Deutung nicht. 

WOLKE, WELKEN, WOLGA, AUS DEN WOLKEN 
GEFALLEN 

Wolke (althochdeutsch wolkan, sächlich oder wolka, weiblich) ist 
verwandt mit englisch welkin, der — besonders poetisch verwen¬ 
deten — Bezeichnung für Himmel, Firmament. Im Deutschen ist 
das Hauptwort Wolke verwandt mit dem Zeitwort welken (alt¬ 
hochdeutsch auch welchen) und dem Eigenschaftswort welk (alt- 
und mittelhochdeutsch welc, welch); im Mittelhochdeutschen hatte 
das Eigenschaftswort neben der jetzigen (,,der lebendigen Frische 
und Spannkraft ermangelnd“) auch die Bedeutung: lau, weich, 
gelind, feucht. Feucht dürfte wohl die Grundbedeutung dieser 
Wurzel sein, für die eine vorgermanische Form uelg vermutet wird. 
Bei Kluge-Götze werden folgende außergermanische Entsprechungen 
angeführt: altirisch folc = Wasserflut, folcaim = ich wasche, alt¬ 
slawisch vlaga = Feuchtigkeit, kirchenslawisch vulguku = feucht, 
altpreußisch welgen = Schnupfen, lettisch velgs = Feuchtigkeit, 
velgans, valgs = feucht, litauisch vilgyti = feucht machen. Die 
eigentliche Bedeutung des Wortes Wolke wäre also (mit Rück¬ 
sicht wohl auf die Wolke als Regenspenderin): die Feuchte. 

Auf die angeführten slawischen Entsprechungen gründet Solmssen 
seine (nicht unbestrittene) Deutung des Flußnamens Wolga: die 
Feuchte. Demnach wäre also Wolke und Wolga der etymologischen 
Herkunft nach eigentlich identisch, ein Fall jener in der Bedeutung 
voneinander stark abweichenden Doppelformen (wie Büttel—Pedell, 


384 


Pfründe—Proviant, Lasso—Latz, Tulpe—Turban), die wir unter den 
Stichwörtern ,authentisch*‘ und ,,loyal“ behandeln. 

Die bevorzugte Anwendung von welk 1 und welken auf Pflanzen 
und Pflanzenteile hängt wohl damit zusammen, daß die germanischen 
Völker in einer Zone leben, in der — im Gegensatz zum südlicheren 
Raum der romanischen — neben der Hitze auch ein Übermaß von 
Regen und Nebel, Tau und Rauhreif die Pflanzen gefährden kann 2 . 

Die Redensart wie aus den Wolken gefallen sein, mit der 
Bedeutung: imerwartet erscheinen oder von einer unerwarteten 
Erscheinung überrascht sein, verdutzt dastehen, im weiteren Sinne 
auch: der Umwelt, der Wirklichkeit fremd gegenüberstehen — und 
das gleichbedeutende tomber des nues im Französischen lehnen sich 
an einen lateinischen Ausdruck an: coelo missus (vom Himmel ge¬ 
schickt). Haben wir nicht, schreibt der Kirchenvater Tertullian, die 
Gewohnheit, von jenen, die wir nicht kennen und die plötzlich vor 
uns erscheinen, zu sagen, sie seien vom Himmel gefallen? Es ist 
auch ein bei klassischen Schriftstellern belegter Gedanken der alten 
Römer anzuführen: wenn ein Totgesagter überraschenderweise 
wieder auftaucht, so muß er wohl durch das Dach in sein Haus 
wiedergekehrt sein. (Im alten Athen wurde in solchen Fällen auch 
eine symbolische ,,zweite Geburt“ gefeiert.) 


1) Zur germanischen Wurzel welk gehört vielleicht auch französisch gauche 
= links (germanisch w wird französisch g wie in den Fällen Warte — garde, 
werra — guerre). Nach anderer Deutung geht aber gauche auf germanisch 
wanken zurück. 

2) Aus einem ähnlichen klimatischen Grunde erklärt sich vielleicht 
auch, daß im Deutschen (von den althochdeutschen Nebenformen sunno und 
mane abgesehen) die Sonne weiblich und der Mond männlich ist, während 
es im Griechischen, Lateinischen und den modernen romanischen Sprachen 
(helios, sol, soleil usw., selene, luna, lune usw.) gerade umgekehrt ist: die 
im heißen Süden lebenden Völker mußten wohl im Himmelskörper, der 
sengende Strahlen sendet, eine männlich strenge, strafende Gewalt sehen 
(daher im Altertum, besonders im Orient die Sonne das wichtigste Vatersymbol) 
und Luna als ein wohlwollend labendes weibliches Wesen schätzen, indes der 
germanische Norden sich der wärmenden Mütterlichkeit der Sonne erfreuen 
und die kalte Strenge des Mondes fürchten mußte. Aufzuklären bliebe aber auch 
dann: warum die Grammatik des ebenfalls im Norden entstandenen Englischen 
the sun als männlich, the moon als weiblich führt. (Sollte diese Geschlechts¬ 
bestimmung im Englischen nur eine Grammatikerangelegenheit sein, eine Be¬ 
stimmung mit Anpassung an die klassischen Sprachen, um so leichter möglich, 
als sie sich ohnehin nicht im Artikel auswirkt? Im übrigen wird in England 
provinziell the sun auch weiblich gebraucht.) 


385 


13 Storfer 





I 


ZAPFENSTREICH, RETRAITE, RETIRADE, REDOUTE 

Der Humorist Julius Stettenheim legte einmal seinem Wippchen, 
dem drolligen Kriegsberichterstatter in den ,,Berliner Wespen“, 
der in der Heimat sitzend von Wortverdrehungen und verstauchten 
Phrasen strotzende, frei erfundene ,, Original “-Berichte vom 
Kriegsschauplatz schrieb, die Worte in den Mund, er habe den ( 

Zapfen streichen gehört. Dies sollte so komisch wirken, wie wenn 
jemand sagt, er sei über die Äquatorlinie gestolpert oder er habe 
den Meeresspiegel zerschlagen. Die Wendung konnte aber nur 
jenen Lesern komisch erscheinen, denen die Herkunft des Wortes 
Zapfenstreich nicht klar war. Denn die Zerlegung des Wortes 
Zapfenstreich durch Wippchen ist, offenbar unbeabsichtigt, nichts 
anderes als ein richtiger Hinweis auf die Herkunft der Bezeichnung. 

Im Dreißigjährigen Krieg mußten im Lager zu einer bestimmten 
Stunde des Abends die Marketender auf ein Trommelzeichen den 
Zapfen in das Spundloch des Schänkfasses hineinschlagen, um das 
Faß zu verschließen. Es hieß sowohl das betrübende Trommelzeichen 
als das weit hörbare Zuschlägen des Spundes Zapfenschlag oder 
Zapfenstreich, niederdeutsch Tappenslag oder Tappenstreke. Streit- 
chen bedeutet ursprünglich über etwas hinfahren (daher die Ver¬ 
kleinerung streicheln = schwach, d. h. zärtlich streicheln); man 
streicht die Geige (nämlich über sie), das Segel, die Flagge (nämlich 
herunter). Streich ist daher auch gleichbedeutend mit Schlag, wie 
z. B. in Backenstreich, Schwertstreich. Andere Trommelzeichen 
hießen: Feuerstreich (wie Ausbruch des Feuers), Kirchenstreich 
(zum Gottesdienst), Schanzstreich (zu Schanzarbeit), Totenstreich 
(zum Begräbnis). In Basel, wo Trommeln eine altüberlieferte Lokal¬ 
leidenschaft von jung und alt ist, gibt es heute noch in gewissen 
Fastnachtsbräuchen ein Gegenstück zum Zapfenstreich: den Morgen¬ 
streich. Die Silbe ,,streich“ bedeutete aber in Zapfenstreich viel¬ 
leicht auch etwas anderes. Damit das Faß nachts im geheimen nicht 
geöffnet werde, mußte der Profoß einen Strich (Streich) mit dem 
Rotstift über die Tonne und den eingeschlagenen Zapfen ziehen. 

Besonders deutlich wird der ursprüngliche Sinn des Zapfen¬ 
streiches bei der niederdeutschen Wendung ,,den tappen toslan“ 
(zuschlagen) und der holländischen Bezeichnung tap toe (Zapfen 
zu!). Von letzterem leitet sich das englische Wort für Zapfen¬ 
streich ab: tattoo (vorher hieß das Signal in England lights-out, 


386 




Licht aus 1 ). Auch die russische Bezeichnung des Zapfenstreichs, 
,,tapta“, ist der niederdeutschen Form noch nahe. 

Man hat auch versucht, das Wort Zapfenstreich aus dem Tannen¬ 
zapfen zu erklären, der als Wahrzeichen eines Wirtshauses draußen 
hängt und abends abgenommen, d. h. gestrichen wird. Dagegen 
spricht aber nicht nur die .offenkundige Entstehung des Ausdruckes 
Zapfenstreich in der soldatischen Sphäre, sondern vor allem der 
Umstand, daß Streich hier zweifellos als Schlag aufzufassen ist 
(im Simplizissimus des Grimmelshausen: ,,es wird der Zapfen 
geschlagen“), und dieser Sinn paßt gar nicht auf die nächtliche 
Entfernung eines Wirtshauszapfens. 

Wallenstein setzte, damit die wüsten Saufgelage die Schlagkraft 

i) Dem Zapfenstreich bedeutungsverwandt ist ursprünglich das Hauptwort 
Garaus, das heute fast nur in dem Zusammenhang ,,einem den Garaus machen“ 
= töten, vernichten, gebraucht wird. Es handelt sich um die Substantivierung 
des Ausrufes ,,gar aus!“ = vollständig aus, vollständig vorbei. Man bezeichnete 
damit ursprünglich in Regensburg (1498) und in Nürnberg den Glockenschlag, 
der von den Türmen das Ende des Tages anzeigte und damit in den Wirtschaften 
die ,,Polizeistunde“ gebot (Serz, Kluge). In den Versen des Hans Sachs, ,,wenn 
man die garaus glocken laut, dann muß ichs zahlen mit der haut“, ist der Be¬ 
deutungsübergang zu ,,einem den Garaus machen“ bereits angedeutet. Es gibt 
noch einen zweiten substantivierten Ausruf mit der Bedeutung „Polizei¬ 
stunde“ : das alte Hauptwort „der Hußaus“, besonders in der Redensart „den 
Hußaus läuten“. Zschokke bemerkt nach Erzählung der Niederlagen, die die 
Bayern durch die Rächer des Johann Hus in den Jahren 1420—142 5 erlitten: 
„so groß ward die Furcht, daß die Regensburger das Außenende ihrer Donau¬ 
brücke mit Graben und Mauer verschanzten, alles Volk täglich zu einem 
Hußgebet mit dem Läuten der Abendglocke versammelten.“ In Regensburg sei 
noch im 18. Jahrhundert allabendlich um 7 Uhr Hußaus geläutet worden. Der 
Namen des großen Ketzers ist aber erst nachträglich in die Redensart hinein¬ 
gehört worden. Zugrunde liegt ihr das bayrisch-österreichische Zeitwort 
hossen (wiederholt bei Hans Sachs vorkommend) = ausgehen, aus dem Hause 
gehen (mittelhochdeutsch hossen = schnell laufen). Auch in Seidls oberöster¬ 
reichischen Flinserln kommt hossen in dem Sinne umherstreifen, außer Haus 
gehen vor. Der Hußaus ist also wie der Garaus und der Zapfenstreich das 
Zeichen, daß man sein Quartier nicht mehr verlassen darf. — Eine besondere 
Anwendung von „Garaus“ bezieht sich auf das Ganzaustrinken eines Bechers, 
und da deutsche Trinkersitten in der Welt einen starken Eindruck machten 
(vgl. französisch trinquer = mit jemandem anstoßen), hat auch das Wort Garaus 
Aufnahme in andere Sprachen gefunden: das (heute bereits veraltete) französische 
Wort carrousse bedeutet Sauferei, und im Englischen gibt es sowohl ein Haupt¬ 
wort carouse = Trinkgelage, als ein gleichlautendes Zeitwort mit der Be¬ 
deutung zechen, auf jemandes Gesundheit trinken (the queen carouses to thy 
fortune, Hamlet, heißt es bei Shakespeare). 


13 


387 





seines Söldnerheeres nicht schwächten, den Zapfenstreich auf 9 Uhr 
an, nur bei besonderen Anlässen gab es eine „Freinacht 44 , da wurde 
der Zapfen nicht gestrichen. Aus der Umgangssprache der Soldaten 
ging das Wort Zapfenstreich auch in die Dienstsprache der Heere 
über 1 und bedeutete auch das Signal zur abendlichen Rückkehr in 
die Kaserne. Die Standorts-Dienstvorschrift der deutschen Reichs¬ 
wehr (Heeresverordnungsblatt 1923) definiert den Zapfenstreich 
als ,,das äußere Zeichen für den Beginn der Nachtruhe im Kasemen- 
und Quartiersleben des Heeres 44 . Das Wort Zapfenstreich verblieb 
auch, als das Signal melodisch wurde und nun dem Trompeter ob¬ 
lag. Das Zapfenstreichsignal der deutschen Infanterie soll von Fried¬ 
rich dem Großen stammen (Transfeldt: er soll es als junger Prinz 
verfaßt haben, und zwar nach dem Liede eines Rotkehlchens, das 
zu seiner Flöte sang). Im alten Österreich-Ungarn erfreute sich der 
von Haydn (Michael, nicht Joseph!) komponierte Zapfenstreich 
(ungarisch: capistrang) großer Volkstümlichkeit; besonders in der 
Kleinstadt kam die sanfte Melancholie dieses Schlummerliedes für 
Erwachsene voll zur Geltung 2 . ,,Abgeblasen 44 wurde übrigens nicht 
nur der k. u. k. Tag, sondern mit ähnlichem Hornsignal auch eine 
Übung, ein Manöver, und wenn ein solches schief ausging, im über¬ 
tragenen Sinne auch manche Karriere. Für die Volkstümlichkeit 
des Zapfenstreichs in Deutschland zeugen auch die vielen der 
Melodie unterlegten Texte: z. B. in Schleswig-Holstein ,,To Bett, 
to Bett, de ’n Leevsten hätt; de keenen hätt, mutt ok to Bett 44 . 
Ein anderer unterlegter Text, der in der Schweiz, im Aargau, ge¬ 
bucht wurde: ,,de Tambur schlohd de Zapfestreich, bis de Pur 
(Bauer) i d’ Hose seicht . 44 Als napoleonische Truppen in Österreich 
waren, unterlegten die Wiener dem Zapfenstreich der französischen 
Trommler folgenden Text: Geht’s ham, geht’s ham, Franzosenhund, 
ihr freßt dem Kaiser Brot umsunst. 

1912, als im Kriegsministerstuhl Frankreichs Millerand saß, zu 
dessen Programm gehörte, das Militärische wieder volkstümlich zu 
machen, wurde in Paris der Zapfenstreich wieder eingeführt und 

1) Nach einer Verordnung des Großen Kurfürsten von 1662 galt der Zapfen¬ 
streich auch für den Bürger (,,. . . bei willkührlicher straffe gehöhten und 
befohlen, sobald alss durch die trommel der Zapfen zugeschlagen ferner kein 
Bier zu verlassen oder ausszuschenken“). 

2) Auch Gottfried Keller spricht in der Novelle vom Fähnlein der sieben 
Aufrechten vom „Zapfenstreich, den die Zürcher Trompeter zu himmlischen 
Harmonien ertönen lassen in schönen Frühlings- und Sommernächten“. 


388 





allabendlich auf den Boulevards unter großem Jubel vollzogen. Der 
französische Name ist retraite (von retirer, zurückziehen), welches 
Wort übrigens in deutschen Heeren auch üblich war. (In der deut¬ 
schen Heeressprache wimmelt es von französischen Wörtern, wie 
Bataillon, Batterie, Kavallerie, Leutnant, Patrouille, Tambour, 
Portepee usw.) Das Wort Retraite für Zapfenstreich war daher 
früher in Deutschland auch beim niederen Volke bekannt. In der 
Pfalz und im Elsaß bemächtigte sich die deutsche Volkssprache 
sogar auch des französischen bestimmten Artikels, und man hörte 
dort sehr oft ,,die Ladrett 44 (aus: la retraite). Die Ladrett bedeutet 
aber nicht nur das Signal des Zapfenstreiches, sondern auch den 
Zapfenstreich einer ganzen Laufbahn, d. h. die Pensionierung, den 
,,Abschied“. Daher die Redensart: er hat de Ladrätt bekumme — er 
wurde pensioniert. Weniger bekannt war dem volkstümlichen deut¬ 
schen Sprachgebrauch, daß das Wort retraite französisch nicht nur 
Zapfenstreich, Abschied, sondern allgemein auch Rückzug, Heim¬ 
gang, Zuflucht bedeutet. Während der napoleonischen Kriege 
hatte ein deutscher Volksschullehrer eine französische Verlaut¬ 
barung zu übersetzen, und die Stelle ,,Seigneur, vous etes ma 
retraite 44 gab er wieder: ,,Herr, du bist mein Zapfenstreich! 44 

Das Wort Retraite kommt übrigens in der deutschen Sprache 
auch in der Nebenform Retirade vor. Früher bezeichnete man 
damit im Festungswesen einen Ort, wohin man sich nach Verlust 
der äußeren Verschanzungen zur letzten Verteidigung noch zurück¬ 
ziehen konnte. Außerdem bedeutet Retirade (Zeitwort: retirieren) 
den Rückzug einer Truppe; aus der Weberschen Oper ,,Preciosa 44 
ist der Satz bekannt von der ,,großen Retirade, wo das Blut floß 
wie Pomade 44 . Die volkstümliche Form Retterade beruht wohl auf 
einer Anlehnung an sich retten. Bei Mengering 1633 ist zu lesen: 
,,Laufen und Fersengeld geben oder das Hasenpanier aufwerfen ist 
altfränkisch geredt und heuer nicht mehr in communi loquendi 
usu, Retterada heisst es heutzutage 1 . 44 Aber nicht nur an ,,retten 44 

1) Die Bemerkung des alten Mengering über die Ersetzung des deutlichen 
„Laufen“ durch das feinere „Retterada“ müßte einen Geschichtsschreiber 
und Kulturpsychologen auf den Gedanken bringen, die im Laufe der Jahr¬ 
hunderte zunehmende Neigung zur Schönfärberei in Kriegen zu untersuchen. 
Die Kulturvölker werden offenbar immer empfindlicher und vertragen un¬ 
angenehme Nachrichten nicht mehr so leicht, wie zur Zeit jener preußischen 
Offenmütigkeit, die nach der Schlacht bei Jena in Berlin meldete, der König 
habe eine Bataille verloren; gar nicht zu sprechen von früheren Jahrhunderten, 


389 






t 


lehnt sich retirieren im Volksmund an, sondern auch an Ritter. 
So heißt es in einem Lied aus 1712: ,,die Berner ganz weislich 
ritteriert.“ 

In einzelnen Gegenden verschiedener Länder bedeutet — oder 
bedeutete zuweilen — Retirade auch den Abort. In Amerika sagte 
man eine Zeitlang: retiring room. Der dänische Erzähler Carl 
Bernhard gebrauchte 1836 in seiner Novelle ,,Der Kinderball“ das 
Wort Frauenretirade noch im Sinne von Boudoir; in der zweiten 
Auflage ist das Wort Retirade bereits ausgemerzt, denn mittlerweile 
hatte der unfeine Gebrauch des Wortes auch im Dänischen Platz 
gegriffen. Beim dänischen Dichter Aarestrup ist aber noch in 
einem Gedicht aus dem Jahre 1841 zu lesen, daß jemand sein Haupt 
,,in der Reisemütze zottiger Retirade“ birgt. Auch im deutschen 
Sprachgebrauch hielt sich die Bedeutung Retirade = Zuflucht noch 
lang, trotz der salonwidrigen Nebenbedeutung. So erzählt Georg 
Ebers in seinen Lebenserinnerungen von seiner Köchin, daß sie dem 
König im Berliner Schloßhof ein Bittgesuch mit den Worten über¬ 
reichte: ,,Majestät sind meine letzte Retirade.“ 

Erwähnt sei schließlich noch „Buen Retiro“ (spanisch: gute 
Zuflucht), das einstige Lustschloß der spanischen Könige im Park 
El Retiro bei Madrid. Übertragen nennt man heute jeden friedlichen 
Ort, wohin sich jemand nach Gefahren und Widerwärtigkeiten 

in denen Volks- und Sprichwörter entstehen konnten, wie: besser geflohen, 
als übel gefochten; oder: wer durch Fliehen sich mag retten, kann wieder vor 
die Lücke treten. Zur Zeit der napoleonischen Kriege begann man aber bereits 
in militärischen Kreisen schönfärberisch von Rückwärtskonzentrierungen zu 
sprechen. (Zum geflügelten Worte kam es erst, als der österreichische Ober¬ 
befehlshaber in Italien Gyulay am 1. Juli 185-9 den Befehl gab, ,,sich rückwärts 
zu konzentrieren“.) Im Weltkrieg zeigten die Generalstabsberichte auf beiden 
Seiten viel Erfindungsgabe in neuen Umschreibungen von Rückzügen. „Um¬ 
gruppierung“, im September 1914 vom k. u. k. Bericht geprägt, wurde 
im Mai 1915- von Marschall French übernommen. Der deutsche Bericht vom 
28. Oktober 1914 meldete: „Die Loslösung vom Feinde geschah ohne 
Schwierigkeiten, unsere Truppen werden sich der Lage entsprechend neu 
gruppieren.“ Fronten wurden zurückgebogen, den zahlenmäßig über¬ 
legenen feindlichen Streitkräften wurde ausgewichen, und der österreichische 
Bericht meldet einmal mit Befriedigung, daß die Etappenlinie (d. h. die 
Entfernung zwischen der Front und den Depots der Heimat) nun vorteilhafter¬ 
weise verkürzt worden sei. Anläßlich des Rückzuges der Engländer auf dem 
Balkan, hieß es am 13. Dezember 1915- im französischen Bericht: trotz der 
Geländeschwierigkeiten konnten die Bewegungen planmäßig vollzogen 
werden. 


390 





zurückziehen kann, sein Buenretiro. In Paris war es in früheren 
Jahren üblich, ein galantes Absteigequartier zartfühlend als Buen¬ 
retiro zu bezeichnen. 

Übrigens fristet im Deutschen noch ein weiteres Fremdwort 
romanischen Ursprungs mit der eigentlichen Bedeutung „Rück¬ 
zug“ sein Dasein. Ähnlich wie das obenerwähnte Retirade war auch 
das aus dem etymologisch verwandten italienischen ridotto im 
16. Jahrhundert gebildete französische Wort redoute ein Fach¬ 
ausdruck des Befestigungswesens. Es bedeutete ein vollkommen 
abgeschlossenes, gewöhnlich viereckiges Festungswerk ohne ein¬ 
springende Winkel, wohin man sich zur letzten Verteidigung zu¬ 
rückziehen konnte. Schon zu Zeiten Voltaires, der übrigens diese 
übertragene Verwendung des Wortes bemäkelte, nannte man auch 
Tanzlokale Redouten. Dann übertrug man das Wort auf die Tanz¬ 
unterhaltung selbst; in Bayern und Österreich heißen Maskenbälle 
auch heute noch Redouten. 

ZENITH 

Dieses in vielen Kultursprachen enthaltene Wort zur Bezeichnung 
des Scheitelpunktes (im Gegensatz zum Nadir) verdankt seine Form 
nach Lokotsch einem Schreibfehler. Es kommt von arabisch 
samt = rechter Weg, Richtung (daraus mit dem Vorgesetzten arabi¬ 
schen Artikel entsteht das Fremdwort Azimut im Italienischen, 
Französischen, Englischen und Deutschen: Bogen eines Scheitel¬ 
kreises). Arabisch „samt ar-ru-us“ (Richtung des Kopfes) wurde 
verkürzt zu as-samt; aus einem Fehler bei der Abschrift, „ni“ 
statt ,,m“, entstand einmal das italienische zenit, das dann in die 
anderen Sprachen übernommen wurde. 

Nadir (der dem Zenith entgegengesetzte Punkt, der Fußpunkt) 
stammt ebenfalls aus dem Arabischen. Nazir heißt arabisch entgegen¬ 
gesetzt gelegen; gemeint ist eigentlich nazir as samt, entgegen¬ 
gesetzt dem Scheitelpunkt. 

Der Vorschlag von Philipp von Zesen (um 16^0), Zenith mit 
Gipfeltüpfel zu verdeutschen, ist nicht durchgedrungen. 

Unzählige Beispiele in der Wortgeschichte aller Sprachen zeigen 
die Entstehung von Wortformen aus einem „Hörfehler“. Die so¬ 
genannten Volksetymologien sind eigentlich nichts anderes als Er¬ 
gebnisse von Gehörtäuschungen. Das indianische hamak „hört sich 
an“ wie Hangmatt, Hängematte, Moltwerf wie Maulwurf, Sintflut 


391 




(große, allgemeine Flut) wie Sündflut usw., lauter — durch sach¬ 
liche Umstände geförderte — Verhörungen. Das Entstehen des 
Wortes Zenith liefert uns (in der Umwandlung des arabischen „m“ 
zu „ni“) das seltene Beispiel einer internationalen Wortform, der 
ein Verschreiben zugrunde liegt. Für diesen seltenen Vorgang 
finden sich noch zwei merkwürdige Beispiele in der ungarischen 
Sprache: die Wörter föveg=Hut, Kopfbedeckung, und nemtö 
= Genius. Diese beiden ungarischen Wörter verdanken ihr Dasein 
zwei Fehlern im 1585 gedruckten Zehnsprachenwörterbuch des 
Calepinus. Aus dem alten ungarischen Wort söveg = Hut hatte 
der Setzer, der vermutlich ein langes f der Handschrift für ein f 
las, föveg gemacht, und dieser Druckfehlerteufelsbalg erhielt sich 
um so leichter am Leben, als sich ein Anklang an fö = Haupt ergab. 
Ebenso ist das ungarische Wort nemtö = Genius (das wie eine 
Metathese von mentö = Retter anmutet) nichts anderes als das durch 
einen Druckfehler abgewandelte nemzö = der Zeugende. 

ZOLL 

Zoll, die Längenmaßeinheit, und Zoll im Sinne von Abgabe haben 
sprachgeschichtlich nichts miteinander zu tun. 

Die Längenmaßbezeichnung Zoll kann nur bis auf das mittel¬ 
hochdeutsche zol = Klotz, Holzklötzchen, Knebel, walzenförmiges 
Stück sicher zurückverfolgt werden, die entferntere Vergangenheit 
des Wortes ist unklar. Als Längenmaßeinheit wird Zoll seit etwa 
1 5°° gebraucht, zu welcher Zeit es die früheren Bezeichnungen 
„dume“ (Daumen) und ,,eines fingers breit“ zu ersetzen begann. 
(Auch bei anderen vormetrischen Längenmaßen gibt der mensch¬ 
liche Körper die Grundlage: z. B. ist „Elle“, enthaltend auch in 
Ellenbogen, ursprünglich die Länge des Vorderarmes, „Klafter“, 
von althochdeutsch klaftra = ausbreiten, umarmen, das Maß der ganz 
auseinandergestreckten Arme.) 

Zoll = Abgabe kommt aus griechisch telos = Ziel, Ende, end¬ 
gültige Zahlung, Abgabe, teloneion = Zollhaus, durch Vermittlung 
des Vulgärlateinischen. Die Römer hatten in Germanien Durch¬ 
gangsstellen errichtet, wo man Abgaben (besonders in Tierfellen) 
entrichten mußte; diese Orte hießen im Vulgärlatein tolonia, 
daraus wurde althochdeutsch zol. In englisch und holländisch toll, 
dänisch told, schwedisch tull sowie in plattdeutsch toll ist der 
griechisch-römische Anlaut t noch erhalten. 


392 




Im Versailler Schloß befindet sich eine Marmorplastik, deren 
französische Inschrift erklärend besagt: „Die französische Armee 
überschreitet vor den Augen Ludwigs des Großen den Rhein bei 
Tholus.“ Der Rheinübergang Ludwigs XIV. bei „Tholus“ wird 
auch von vielen anderen Kunstwerken verherrlicht, von Geschichts¬ 
werken geschildert. Auch der große Boileau besingt, wie sich ,,pres 
de Tholus“ des Rheines schäumende Fluten spalten. Vergeblich würde 
man aber auf einer Landkarte den Ort Tholus suchen. Der Rhein¬ 
übergang der französischen Armee erfolgte 1672 im Süden Hollands 
unweit von Amheim. Ein Wegweiser mit der holländischen Auf¬ 
schrift To lhuis (worunter nicht etwa Tollhaus, sondern Zollhaus zu 
verstehen ist) wurde von den Franzosen verkannt, und seither lebt 
in der französischen Geschichte der Rheinübergang bei Tholus fort. 





. ■ 


' 












, 

■ 









REGISTER 


Aar II 

abblitzen 68f. 

Abeh, auf dem 329 
Abenteuer 17 2 
abgebrannt 16 ff. 
abgebrüht 20 
abgefeimt 14, 2of. 
Ablitzi 68 
abrabatten sich 30 
abspenstig 1 5 
abstinken 36^ 
absurd 3^1 
Adalbert 11 
Adel 11 

Adele, Adelheid 11 
Adler 11, 36 
Adolf 11 

Agnes, hagnos 214, 2^8 
-aille 43 f. 

Alarm 246 
albern 262 

Al-bert, -brecht 11, 82 
Albion, perfides 276 
Alimente 98, 99 
Almosen 2 2f. 

Alois 11 
Alte Liebe 333 
Amboß 14 
Amtsschimmel 312L 
Anastasie 70 
anectodage 4^ 
angebunden, kurz 148 
Angel 23L 
Angstmann 137 
Anke 14, 82 
Anker 14, 2 3 ff. 
Antisemit 177 
Apachen 2 8f. 

Apfelsine 247 
Apotheke 246 
Arbeit 30L 
Arche 112 f. 
archi- 33, 112L 


-ard 57 f. 

Armbrust 172 
Arrak 298 
Arschkerbe 332 
Arzenei 33 
Arzt 14, 33ff., 112 
Attentat, Attentäter 38L 
Attila 192 
aufdröseln 47 f. 
Aufhebens 48 f. 
Aufkläricht 41 
aufnehmen, es mit jmd. 49 
ausbaden, etwas £of. 
ausgemergelt 5 1 f. 
austreiben 3^8, 364 
auswendig 378 
authentisch 52 f. 

Autobus 271 f. 

Azimut 391 

Bachstelze 319 
Bad ausgießen 50 L 
Bagage C3 ff. 

Bagatelle *6 ff. 

Bakel 82 
Balance 245- 
Balg 14 

Balken, Balkon £3 
Bankert 57 ff. 

Bärenhaut, -häuter 117 
Bart, um des Kaisers 2 o 2 f. 
Bast 5 7, Bastard ^7 ff. 
Batarde 60 
Batzen 299 
Beelzebub 3^8 
Bein 93 

Beispiel 15-, 175 
Beifried 183 
Belial 3^9 
berappen 299 
Berchtesgaden 1 5 
Berline 233 
Bernstein 81 


Bersaglieri $3 
-bert, -brecht 82 
Bertram 299 
Beryll £3 
bescheiden 6 2 ff. 
besessen 364 
beurre 8 2 ff. 

Bezirk £3 
Bibel 182 
biderb 88 
bigott 194 
Bilanz 244L 
Bilde, im 

Bischgotterlfahren 211 
Biskuit 211 f. 
blank 67 
blecken 67 
bleich 14, 67 
Bleuler 1 5 

Blick, Blitz, blinken 66 ff. 
Blomeuser 300 
Bluse 69 
Bock 369 
Bodega 246 
Böhnhase 285- 
Böller 14 
Bollwerk £3 
bonheur 17 
Bonze, Bonzo 71 ff. 

Bord 81 
Bordell 265- 
Born 81 

Borneo, er ist aus 76 
borniert 75 
Börse £3 

böse Sieben 365^. 
Botokuden 29 
Boulevard £3 
Brandbrief i6f. 
brandein 80f. 
brausen 41 
-brecht 82 

brennen, brenzein 8of. 


39 £ 






Brett 81 
Breve 245- 
Brief 245- 
Brillant, Brille £3 
Britschke 232 
Brosamen 173 
Bruch ig 
brüden, brüten 21 
brüle 17 
Brunnen 81 
Buenretiro 39of. 
Bundschuh 70 
Bursche £3 
Bus 271 
Butike 246 
Büttel £3 

Butter 8 2 ff., auf dem Kopf 
83ff., buttem 8^f. 

Cab, Cabriolet 235- 
Cakes 210 
Caligula 90 
Canaille 44, 2o4f. 
canard 100, 102 
cancan 103 
Caprice 23^ 

Carette 231 
Carmagnole 70 
causa 246 
centaurium 3^2 f. 

Cercle 24.5- 
Chaise 23 if. 

Chaos 141 
Chateaubriand 86 
Chauffeur 175- 
Chiffre 246 
chose 246 
choucroute 17^ 

Christ 2 2 ^ff. 

Cider 62 
cimarron 286 
Clown 201 
comfort 15-4 
controle 40 
Cretin 2 2^ff. 

darben 88 
Darsena 3if. 


Dattel 179 

Decke, unter einer 87 
D ela waren 29 
Dekret 6f 
Demiurg 3^9 
Demut 14 
derb 88f. 

diable ä quatre 367 
diabolos 357 
Dime 265- 
diskos 13, 3£6 
diskret 6f 
Dolman 192 
Domino 89E 
Droschke 232f. 
Dschiu-Dschitsu y g 
ducken, duck 102, 103 
dufte 216, 35-2 
Dumdum 9if. 
durchfallen 221 
dürfen 88 
Düttgen 300 

Effendi £2f. 
einfältig 262 
Einöde 173 

Eis 93, 94E, -bein 92 ff., 
-vogel 9 4 ff. 

Elefant 98 
Element 97E 
Elend 12 
Elle 180, 392 
Email 53 

empor, empören 14 
Engel-bert, -brecht 82 
Ente 9 9 ff. 
entrüstet 5-0 
-enzen ii9f. 

Equipage 23if. 

Erhard gy 
erquicken 206 
Errungenschaft 108 ff. 
Erz 112 ff. 

Erzberger 114 
Etappe £3 
Etat 245- 
-etzen 67 f. 

Eule 168 


Evangelium 13g ff. 
Exkrement 6 g 

Falkaune 319 
falsch wie Galgenholz 140 
Falter 317 
famillionär 39 
fanatisch ii4f. 
faul 11 ^ff., 281, -pelz 

117E, -enzen 118 
Fayence 257 
Fechner ig 
fechten 120 
Federlesens 122 ff. 

Feim 14, 20 
Feind 281 
Feldscher 34 
Felleisen 38, 172 
Ferkenstecher 286 
Fiaker 236f. 

Fibel 41, 182 
Flagellant 53 
Flammeri 124 
Flamoh 188 
Flaum 24£ 

Flegel 57 
Flibustier 183 
Flicker 34 
flötengehen 12 g ff. 

Folter 369 
fordern 182 
Forelle 179 
Franzos 338, 341 ff. 

Frau ig 
frech 2o£ff. 

Frick 209 
Friedhof 173 
frieren 184 

Frik-andeau, -assee 208 
frohlocken 14, 174, 240 
fromage 82 
fromm 12 

frönen ig, Fron-dienst, 
-leichnam 1 g 
Fudikan 282 

Fugger, fuggern, wie Fug¬ 
gers Hund 127 ff. 

Fuß, auf großem 129 


396 







Gabel i3iff. 

Gala, galant 215- 
Galgen 133ff-» Galgen¬ 
holz, falsch wie 140 
Galgo i34f. 
Gallionszeitung 107 
Gannef, Ganove 142 
Garaus 387 
Gas 140 ff. 

Gasse, Gassenhauer, gassa- 
tim 327ff. 
gauche 385- 
Gaul 231 
Gauner 142 ff. 

Gaze 142, 147 
Gazette 14.5L 
Gebet, ins — nehmen 
H7f. 

geharnischt 50 
Geisha 7 £ 

Geiß wolle, streiten um 
die 203 

gelbe Presse 198 
gemein 263 
Gemüt i£o ff. 
Gemütlichkeit 15-3 f. 
Gerhard 57 
gerrymander 46 
gerüstet $o 

Gesicht wahren, verlieren 

Gespenst 15- 
Gewand, -haus 378 
Ghetto i£7f. 

Gift 180, 264 
Gilet 379f. 
glimpflich 14 
Golgatha 139 
gospel 13» 174 
grec 144L 
Greuelnachricht 107 
Grisette i^8f. 
Grubenhund 105- 
grünen Zweig, auf keinen 
kommen 134 
Grünspan 174 
Guillotine 160 ff. 
Gum-pert, -precht 82 


Habergeiß 176, 

Hagel 194, 195: 
Hagestolz 163 ff. 

Hahn 369 
Halali 166 ff. 
halkyonisch 96p 
Hängematte 38, 16 8 ff. 
Hanswurst 196 
Harakiri 
-hard 57 f. 

Haubitze 272 
Hebamme 38, 1 7 1 
Hegel 195- 
Heide 201 
Henker 137 
Hep, hep 17^ff. 
herausnehmen sich viel 

131 

Herodes 291 
Hochstapler 177 k 
hochtrabend i$o 
hochträchtig 261 
Hodler 

Hoffart 14, i78f. 
hübsch 202 
hudeln 288 
Hugenotten 5-3 
Humor 76, 239 
Hunger 184 ff. 
Hungertuch 44, 185 
Hurenkind 60 
hurtig 14 
Husar 190 ff. 

Hussaus 387 

Idiot 227 
Irokesen 29k 
Ischias 93 

Jacke 70 
Janhagel 193 ff. 
jänisch, jenisch 143 
Jingo 198 k 
Journaille 39, 2o£ 

Jute 297 

Kabeljau 82 
Kabriolett 23^ 


Kadett 166 
Kaff, Kaffer 199 ff. 
Kaisers Bart 202 f. 
Kakhi 297 
Kalesche 231 
Kaliko 297 
Kalpak 192 
Kampfer 297 
Kanaille 44, 2o4f. 
Kandidat 76 
Kapri-olen, -zen 235 
Karette 231 
Karfiol 17$ 

Karfreitag 14 
Karmin 81 
Karosse 231 
Karren, Karch 230 
Kartoffel 181 
Kaschmir 14 
Kaspar, Kasperle 147 
Katzelmacher 177, 199 
keck 2o£ff. 

Keks 21 off. 

Kern 82 
keusch 212 ff. 

Keusche 214 
Keuschlamm 214 
kiesen 15-, 213 
Kimono 75 
Kirchspiel 174 
Klafotten 21 £ 

Klafter 392 
klauben, klieben 21 £ 
Klepper 264 
klimpern 41 
Klosett 26 £ 

Kluft 214k 
Knoblauch 181 
knorke 2i^ff. 

Knorr 218 
Kobold 14 
kochen 210 
Köder 182 
Kohldampf 18 £ 

Koks 210 

Kolonne, Kolumne 179 
komfortabel 1^4, 237 
Kopeke 300 


397 






Korb geben 2i8ff. 
korksen 284 
Korn 82 
Korsar 191 
Kotau 74 
Krabate 223 
Kran 369 
Kranz 41 
Krawatte 222ff. 

Kreide 227, Kreidling 226 
Kremser 233 
Kretin 2 2 5 ff. 

Kringel 41 
Krippe 81 
Krise, Kritik 65 
Kroaten 222 
Kuhhaut, das geht auf 
keine 366 
Kuli 73, 297 
küren 184, 213 
Kutsche 2 2 8 f. 

Lach-ner, -mann 15-, 33 
lachsnen 33 
Lady 38 
Laffe 241 

lahme Enten io2f. 
Lam-bert, -precht 82 
Landauer 234 
Landaulet 235 
Lärm 246 
Lasso 24£ 

Latrinenparole 107 
Latz 24£ 

Laune 338f. 
lecken 240 
legal 243 f. 

Leinwand 378 
Libelle 182 
-ling 57 1 3i 5 ?- 
Lippe 240 
locken 240 

locken, wider den Stachel 
14» 174, 239f* 

Löffel 240ff., über den — 
halbieren 243, löffeln 
241, Löffelgarde 242 
Lord 38 

398 


Lorette 1^9 
loyal 243L 
Luder 26 5 
Lues 347 

lügen, wie gedruckt, daß 
sich die Balken biegen 
usw. io6f. 

Luna, Lucina, lunatic 238 
lützel 15 
Luzifer 3^9 

maddern 284 
Mader 182, 187 
maffick 199 
Mähre 264 
Majolika 2^3 
malade 38, 2 £ 1 
malheur 17 5 
Mandarin 73, 247 
Mandarine 247L 
Marder 182, 187 
mariposa 318 
Mark £if. 

Marmelade 181 
marod 248 ff. 
marron 286 
Marzipan 146 
Maulbeere 171L, 182 
Maulwurf 17 if. 
Mäuschen 255, 294 
Mayonnaise 2£2 
Mazagran 25-3 
Mazurka 294 
Meineid 14 
Meltau 173 
Mergel, mergeln £if. 
mickrig 254 
Mikado 7 5 
Mirabelle 162 
Mohikaner 29 
Mond 239, 385- 
Mörtel 182, 378 
Moschus 297 
Mull 92 
Mündel 14 
Mungo 92 
Muschel 2 55, 294 
Muskat 297 


Muskel 2 55, 294 
Muskete 369 
Musselin 25-4 
Mussolini 2^f. 

Nabob 298 
Nachtigall 14 
Nadir 391 
Nadowessier 29 
nähren 184 
naiv 2 55 ff. 
nein 36 
nennen 179 
Nest 36 

Neunundneunziger 2 5 9 ff. 
neutral 36 
nicht, nie 36 
nichtdestotrotz 43 
niederträchtig 261 f. 
Niveau 181 
Nutte 264 

ocke 266 
O. K. 266ff. 

Oie 167 
Omnibus 2 69 ff. 

Opal 297 
ordinär 263 f. 

Ozon 142 

Paaren, zu — treiben 148L 

Pack ss(., packeln 56 

pagani 201 

Pagode 73 

papillon 317 

Pappe, nicht aus 272 

Pappenstiel 272f. 

Papphahn 300 

Paprika 297 

Park £3 

Pathos, pathetisch 2 74ff. 
Patzer 283f. 

Pavillon 317 
Pedell £3 
Peitsche 14 
Pelerine 37, 89 
perfid 276ff., perfides Al- 
bion 277 f. 






Petschaft 99 
Pfaffe 264 
Pfeffer 297 
Pferch 5-3 
Pferd 37 
Pflaume 183 
Pfründe £3 
Pfui 279 ff. 

Pfuscher 282f. 

Pfütze 11 g 
Pilatus 287ff. 

Pilger 37, 182 
Pirat 38 
pirschen £3 
Plumeau 24^ 

Plunder, plündern 33 f. 
Polka 292 f. 

Polonäse 293 
Pontius, von — zu Pilatus 
288 f. 

Porzellan 294ff., -hosen 
29^, -fahrt 296 
Premierentiger 371 
Priester 13 
Proviant £3 
pudern 86 
Punkt 33 
Punsch 92 
Pustel 281 
pusten 280 
Putsch 14 
Pyjama 296 

quacken, Quacksalber 3 6 
queck, quick 206 

Rabe 27, 298f. 

Rad 37 

raffiniert 20 

Rappe, -n 27, 298f. 

Rasse 3oof. 

real, reell 244 

Rebhuhn 174 

Redoute 391 

Reis 297 

Reitersalbe 174 

Retirade, Retraite 389 k 

Robert 82 


Robot, -er 30 
Römer 301 f. 
Rosenmontag 174 
Roß 82 

Rotten Row 336 
Rowohlt 30 
ruchlos 14 
Ruprecht 82 
rüsten, rüstig go 

sabotieren 287 
sabralieren 249 
Sackmann 16 
Sand in die Augen £o 
Sandwich, -männer, -in¬ 
sein 303 ff. 

Sansculotte 70 
sardonisches Lachen 3 o 5-ff. 
Sarg, Sarkophag 13, 308 
Sarkasmus 308f. 

Satin 73 

Saum, -sattel $8 
Schachtel £3 
Schäfchen ins Trockene 
309 ff. 

-schaff noff. 
schamponieren 297 
Scharlatan 3^ 

Schatz 53 
Scheibe 3^6 
Scheide, Scheitel 62 ff. 
Schenkel £3 
Schiboleth 311 f. 
schiker 62 

Schilde, im — führen go 
Schimmel 312L 
Schimpf 313L 
Schinken £3 
schlecht, schlicht 262 
Schlips 210 
Schmelz 53 
Schmer 14, 15-, 82 
Schmetten 314L 
Schmetterling 3i4ff. 
schnoffte 216 
schnieke 216 
schnorren, schnurren 
2^2 f., Schnorreros 43 


I schnuppe 216 
Schnur, über die 149 
schofel 319L 
Schuft 266, 320 
Schurke 26$ 

Schuster 87 

Schwan, -engesang, mir 
schwant 32off. 
Schwanimus 44, 323 
Sedan 23^ 

Seehund 173 
Seeschlange 104 
Segen 246 
sehren 13, ig 
Seide 74 
Sekret, -är 6 g 
Selbmeister 286 
selig 226 
Senkel 14, 23 
Sersche 74 

Sieben 13^, böse 36^ff. 
simple 263 
Singrün ig, 173 
Sintflut 15 , 173 
Sioux 29 
Sirup 246 
Sonne 38^ 

Sorbett 246 
Spanferkel ig 
Spencer 330 
Spennadel 1 g 
Sperber 11, 36 
Spieß umdrehen 49 
Spießgeselle 264 
Spitze bieten, abbrechen 
49 ff 

Sprachhaus 291 
Spund gs 
Staat, Status 245: 

Staffel £3 
Stange halten 49 
Stapel gs 

stapeln, Stapler 178 
steil, steilen 323f. 

Stich, im — lassen 
3 2 4 ff 

stichhaltig go 
stier 312 


399 








Straße 326ff. 
streiten um des Kaisers 
Bart 202f. 

Strolch 336K 
Stümper 283 
Sudler 284 
Sündflut 173 
Suter, Sütterlin 37 
Syphilis 34^ ff. 

Tafel auf heben 3^6 
Taifun 73 
Tal 24 
Tank 348 ff. 
Tatarennachricht io^f. 
taub 3£of. 
tauchen, taufen £3 
Tausend, -güldenkraut, 
-guldenschuß, -sassa, 
-künstler usw. 3^2 ff. 
Tee 74 
Teller 3S£f. 

Tepp 227 
terisch 3^1 
Teufel 3 57 ff. 

Tiger 368ff., tigern 374 
Tisch 13, 3£6f. 
toben 3£i 
toff 3 £2 
Tolpatsch 200 
Tölpel 183, 200 
Torpedo 360 
Tracht, trächtig 261 
travail 31 
Trödler 336 
tröseln 47 
Troß, Trousseau 55 
Trottel 227, 336 
Trubel 82 
Trüffel 181 


Tschecherl, Tschoch 62 
Tschick 188 
Tulpe, Turban 246 
turbulent 82 
Turteltaube 82 
Typhon 73 

Uhl 168 

Ulrich rufen 3 74 ff. 
Unflat 15 

unten durch sein 221 
unversehrt 13, 15 
urban 202 

Vauxhall 376 h 
Vehikel 230 
Veranda 297 
verankern 2 3 ff. 
verderben 376 h 
verkorksen 284 
verlieren 184 
verquicken 206 
verwandt 378 
veuve 138, 162K 
vice- 383 
vicomte 40 

viel herausnehmen sich 

131 

Voland 360 
Vormund 14 

wachsen £3 
Waffe 49 
Wagen 230 
wagsal 377 
Wand 378 
Wanze 378f. 

Wappen 49 
Waterloo 80 
weiße Weste 380 


welk, welken 384 
Weste 379T 

Wetterleuchten 14, 174, 
240 

Wicht, -elmännchen 36 
wimmern 41 
Wimpel, Wimper 36 
winden 378 
Woche, -nbett 383 f. 
Wohlfahrt 14, 178 
Wolfram 299 
Wolga 384 

Wolke 384^, aus den W. 

gefallen 38^ 
wuchern 5-3 
Wurst 284 

yellow press 198 

Zapfenstreich 386ff. 
Zechine 32, 147, igS 
Zeiserl wagen 2£ 

Zenith 391h 
zermalmen 14 
Zero 246 
Zeughaus 32 
Ziegenmelker 24^ 

Ziffer 246 
Zirkel 24^ 

Zirkus £3 
Zofe 15 
Zoll 392 h 
Zucker 297 
zügeln 148 
Zürihegel 195- 
zwar 36 

Zweig, grüner 134 
Zwerchfell 1 5 
Zwiebel 14 
Zwilling 179 























& 






' 









































































































































































































































































































































































































A. J. STORFER 

WÖRTER 
UNI) IHRE 
SCHICKSALE 


A. J. STORFER 

WÖRTER' 
UND IHRE 

SCHICKSALE 



WERKE AUS 
DEM ATLANTIS-VERLAG 


Uott (Sott uttfl öct JUdt 

Ein Sammelsurium 
von Peter Gan 
In Leinen RM 4.20 

In einer Folge von 15 Prosastücken, die 
bald durch eine Reise, bald durch das Er¬ 
lebnis eines Raben, einer Drehorgel, einer 
Kinderzeichnung oder eines Menschen an¬ 
geregt sind, breitet Peter Gan die gläubige 
Weltanschauung eines geistigen Menschen 
aus, die er oft in ein buntes Flittergewand 
witziger Wortspiele, skurriler Einfälle, un- 
gemein scharfer Einzelbeobachtungen und 
lächelnder Skepsis schamhaft verkleidet. 

bet ÜPitiÖ fcfjlägt um 
am boapocuO 

Tagebuch eines einfachen Türken 
herausgegeben von Hanna Hindbeck 
In Leinen RM 2.85 

Ein einfacher Mann aus dem Volke, der den 
Umbruch der Zeit in den tausend kleinen 
Dingen des Alltags erlebt, läßt uns hier 
einen völlig ungewohnten Einblick in 
die Entwicklung der Türkei von ihren 
orientalisch-archaischen Gesellschaftsfor¬ 
men zum modernen Zivilisationsstaat tun. 

boö (Blutfofjunökm 
Pott Olflnna 

Eine Erzählung aus dem Morgenlande 
von Victor Meyer-Eckhardt 
Mit farbigen Miniaturen von W. Bösser 
In Leinen RM 4.20 

Die Abenteuerlichkeit und Farbenpracht 
von Tausendundeiner Nacht werden in 
dieser Märchendichtung heraufbeschworen 
und in einer äußerst spannenden Hand¬ 
lung zusammengeballt. Farbige Bildbei¬ 
gaben von ganz eigenartiger Schönheit 
machen den Band besonders reizvoll. 

baö HkfrtmgOöolf buööfjass 

Die Burmanen 
und ihr lebendiger Glaube 
von H. F. Fielding Hall 
In Leinen RM 2.85 

Es gibt viele Bücher über Buddha, aber 
keines wie dieses, das die Lehren des 
Buddha im Leben selbst zeigt, indem es 
ein Volk schildert, das der großen Welt¬ 
religion Asiens auf die vollkommenste 
Weise nachlebt. 


ATLANTIS-VERL AG • BERLIN 


w 








A. J. STORFER 


WERKE AUS 
DEM ATLANTIS-VERLAG 


boti (Sott unö öcc Hielt 

Ein Sammelsurium 
von Peter Gan 
In Leinen RM 4.20 

In einer Folge von 15 Prosastücken, die 
bald durch eine Reise, bald durch das Er¬ 
lebnis eines Raben, einer Drehorgel, einer 
Kinderzeichnung oder eines Menschen an¬ 
geregt sind, breitet Peter Gan die gläubige 
Weltanschauung eines geistigen Menschen 
aus, die er oft in ein buntes Flittergewand 
witziger Wortspiele, skurriler Einfälle, un- 
gemein scharfer Einzelbeobachtungen und 
lächelnder Skepsis schamhaft verkleidet. 

2>cc HJtnÖ ftfjlägt um 
am Öospocuö 

Tagebuch eines einfachen Türken 
herausgegeben von Hanna Hindbeck 
In Leinen RM2.85 

Ein einfacher Mann aus dem Volke, der den 
Umbruch der Zeit in den tausend kleinen 
Dingen des Alltags erlebt, läßt uns hier 
einen völlig ungewohnten Einblick in 
die Entwicklung der Türkei von ihren 
orientalisch-archaischen Gesellschaftsfor¬ 
men zum modernen Zivilisationsstaat tun. 

Doä (Blürföftünökm 
tum Olönno 

Eine Erzählung aus dem Morgenlande 
von Victor Meyer-Eckhardt 
Mit farbigen Miniaturen von W. Bösser 
In Leinen RM 4.20 

Die Abenteuerlichkeit und Farbenpracht 
von Tausendundeiner Nacht werden in 
dieserMärchendichtung heraufbeschworen 
und in einer äußerst spannenden Hand¬ 
lung zusammengeballt. Farbige Bildbei¬ 
gaben von ganz eigenartiger Schönheit 
machen den Band besonders reizvoll. 

Pud fitc&lmgööolf ßuööfjass 

Die Burmanen 
und ihr lebendiger Glaube 
von H. F. Fielding Hall 
In Leinen RM 2.85 

Es gibt viele Bücher über Buddha, aber 
keines wie dieses, das die Lehren des 
Buddha im Leben selbst zeigt, indem es 
ein Volk schildert, das der großen Welt¬ 
religion Asiens auf die vollkommenste 
Weise nachlebt 


WÖRTER 

UND 

IHRE 

SCHICKSALE 


ATLANTIS-VERLAG • BERLIN 




ATLANTIS 


A.J. STORFER 


A.J. STORFER 




UND 

IHRE 

SCHICKSALE 

Atlantis-Verlag 


WÖRTER 


läßt in diesem Buch eine 
ausgewählte Anzahl deut¬ 
scher Worte in alphabe¬ 
tischer Reihenfolge antre- 
ten, um sie einem kurzen, 
präzisen Verhör zu unter¬ 
werfen, über ihre Her¬ 
kunft und ihre teilweise 
abenteuerliche Lebensge¬ 
schichte im Wandel der 
Zeiten. — Worte, die man 
tagtäglich im Munde führt, 
ohne sich ihres merkwür¬ 
digen Sinnes bewußt zu 
sein, finden hier Beschrei¬ 
bung und Deutung in 
spannend amüsanter und 
zugleich lehrreicherWeise. 
Ein Schatz von Anekdoten 
und tieferen Einsichten 
wird dem Leser fast mühe¬ 
los zuteil, und ob er will 
oder nicht, wird er selbst 
zum Forscher, der beim 
Sprechen oder Schreiben 
seiner Sprache achtet, ihre 
Merkwürdigkeiten genießt 
und ihren Rätseln auf die 
Spur zu kommen sucht.