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Full text of "Abriss der gesammten Kirchengeschichte"

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ABRISS  • 


DER 


GESAMMTEN 


KIRCHEIiGESCHICHTE 


VON 


D".  J.  J.   HERZOG, 

OBDENTLICHEM  PROFESSOR  DER  THEOLOGIE  IN  ERLANGEN. 


IN  DREI  THEILEN. 


I.  THEIL. 


ERLANGEN. 

TERLAG    VON    EDUARD    BESOLD. 
1876, 


ABRISS 


DER 


GESAMMTEN 


KIßCHENGESCHICHTE 


VON 


DR.  J.  J.  HERZOG, 

ORDENTLICHEM  PROFESSOR  DER  THEOLOGIE  IN  ERLANGEN. 


EKSTER  THEIL. 

DIE  ZEITEN  DER  GRÜNDUNG  UND  ERSTEN  AUSBREITUNG  DER  CHRISTLICHEN 
KIRCHE  VON  CHRISTI  GEBURT  BIS  ZUM  ENDE  DES  ERSTEN  JAHRHUNDERTS 

NACH  CHRISTI  GEBURT. 

DIE  ZEITEN  DES  ALTEN  KATHOLICISMUS  VOM  ANFANG  DES  ZWEITEN  JAHI^- 
HUNDERTS  BIS  ZUM  ANFANG  DES  ACHTEN, 


ERLAHGEN. 

VERLAG    VON    EDUARD    BESOLP, 
1876. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Prnek  d«r  UniversitSti-Bnchdraekerei  Ton  £.  Tb.  jRcob  In  Brian  gen. 


Vorwort. 


Wozu,  nachdem  in  unsern  Tagen  mehrere  ausgezeichnete  Dar- 
stellungen der  allgemeinen  Kirchengeschichte  erschienen  sind,  wozu  dieser 
neue  Versuch?  So  wird  vielleicht  mancher  der  geehrten  Leser  fragen,  so 
musste  der  Verfasser,  ehe  er  an  die  Arbeit  ging,  sich  selbst  fragen.  Die 
Antwort  darauf  wurde  ihm  in  Einer  Beziehung  nicht  zu  schwer.  Obgleich 
die  Werke  'von  Ne ander  und  Gi eseler,  den  z>vei  hervorragendsten 
Kirchengeschichtschreibern  der  neuesten  Zeit,  noch  immer  die  vollste  Be- 
achtung verdienen  und  von  jedem,  der  sich  mit  der  Kirchengeschichte 
beschäftigt,  fleissig  benützt  werden  müssen,  so  liegt  doch  am  Tage,  dass, 
seitdem  jene  Männer ,  auf  deren  Schultern  wir  stehen ,  •  den  irdischen 
Schauplatz  verlassen  haben,  die  Kirchengeschichtschreibung,  in  Folge  des 
von  ihnen  gegebenen  lebendigen  Impulses,  bedeutende  Fortschritte  gemacht 
hat.  Der  Gesichtskreis  für  dieselbe  hat  sich  überhaupt  sehr  erweitert. 
Es  ist  auch  eine  bedeutende  Zahl  von  Einzelforschungen  gemacht  worden, 
und  es  werden  deren  immer  noch  mehrere  gemacht,  die  es  gilt  in  das 
Ganze  der  Geschichte  zu  verarbeiten  und  eben  dadurch  zu  verwerthen. 
Ausserdem  sind  die  angeführten  Werke  von  Ne  ander  und  Gi  eseler  so 


Yt  Vorwort. 

weitläufig  angelegt,  dass  schon  dadurch  leider  manche  vom  Lesen  der- 
selben abgeschreckt,  manche  wirklich  daran  verhindert  werden.  Es  möchte 
daher  eine  Darstellung,  welche  die  Mitte  hält  zwischen  jenen  ausführ- 
lichen Geschichtswerken  und  den  kurzen  Compendien,  deren  in  neuester 
Zeit  mehrere,  zum  Theil  sehr  vorzügliche,  erschienen  sind,  vielleicht 
den  Wünschen  und  Bedürfnissen  mancher  Leser  entsprechen. 

Die  beigefügten  Quellen-  und  Literaturangaben,  in  welche  wo  mög- 
lich das  Hauptsächliche  und  Wichtigste  aufgenommen  ist,  sind  dazu 
bestimmt,  diejenigen,  die  diesen  oder  jenen  Theil  der  Geschichte  näher 
erforschen  oder  überhaupt  näher  kennen  lernen  wollen,  auf  diesem  be- 
sonderen Gebiet  zu  orientiren. 

Es  ist,  wie  der  geneigte  Leser  sogleich  bemerken  wird,  die  Ge- 
schichte der  Lehre  in  die  Darstellung  aufgenommen  in  der  Art,  wie  Ne- 
ander  es  gethan.  Denn  es  lässt  sich  wohl  die  Geschichte  der  Lehre 
abgesondert  von  der  allgemeinen  Kirchengeschichte  behandeln,  aber  nicht 
so  gut  diese  ohne  jene.  Es  fehlt  nämlich  ein  wesentliches  Mittel  des 
Verständnisses  der  Geschichte,  wenn  die  bewegenden  Ideen,  die  den  Lehr- 
gehalt der  Kirche  bilden,  nicht  in  Rechnung  gebracht  werden.  Man  kann 
sagen,  die  Geschichte  der  Lehre  verhält  sich  einigermassen  zur  allge- 
meinen Kirchengeschichte  wie  die  Mathematik  zu  den  Naturwissenschaften, 
üebrigens  musste  für  die  grundlegende  patristische  Zeit  die  Geschichte 
der  Lehre  in  grösserer  Ausführlichkeit  gegeben  werden,  als  es  später  der 
Fall  sein  wird. 

Wegen  der  genannten  Verbindung  mit  der  Geschichte  der  Lehre 
lässt  sich  die  Darstellung,  die  wir  zu  geben  versuchen,  nicht  vollziehen 
ohne  bestimmte  Stellung  zur  christlichen  Frage,  zur  immer  wiederkelu^en- 
den  Frage:  was  dünkt  euch  von  Christo?  Denn,  obwohl  im  Leben  der 
modernen  Culturvölker  so  vieles  sich  findet,  was  die  Aufmerksamkeit  vom 
Christenthum  abzieht,  es  führen  doch  viele  Wege  dahin  zurück.  Gehört  doch 
dasselbe  zu  unserem  Leben  und  ist  unzertrennlich  damit  verwachsen.  Auch 
die  Angriffe  auf  das  Christenthum,  so  stark  sie  öfters  sein  mögen,   bewei- 


Vorwort.  Vit 

Sen  an  ihrem  Theile  nur  so  viel,  dass  die  Gegner  sich  bewusst  sind,  es 
handle  sich  um  eine   grosse  Macht  im  Völkerleben,   wenn  gleich  man  sie 
tief  heruntersetzt,   indem  man  sich  bemüht,   das  Christenthum   als  unver- 
träglich   mit   der   fortschreitenden    Cultur    der   Menschheit    darzustellen. 
Ueberdiess,    welch'   ein   eigenthümliches  Verhängniss  muss   das  Christen- 
thum über  sich  ergehen   lassen!    Eine   andre   Macht,    die   sich  zur  Be- 
schützerin des  Wortes  vom  Kreuze  aufgeworfen,   gründet  sich  auf  einen 
Abfall  von  demselben.     Ihren  Orakeln  Unfehlbarkeit  beimessend,    macht 
sie  Front  nicht  blos   gegen   die   Angriffe   auf  das  positive  Christenthum, 
sondern  auch  gegen   das  richtig  aufgefasste  Evangelium   und  gegen  alle 
Bestrebungen,  dasselbe  zur  Anerkennung  zu  bringen  und  zu   verbreiten. 
So  ist  das  Christenthum,  deutlicher  gesprochen,  der  evangelische  Prote- 
stantismus  mitten    inne   gestellt  zwischen  zwei   entgegengesetzte   Feinde, 
zwischen  die   abschätzigen  Urtheile   derer,  die  auf  der  Höhe  der  Bildung 
der  Zeit  zu  stehen  sich  rühmen,  und  die  Bannstrahlen  Roms,   das  neuer- 
dings die  unbedingte  Herrschaft  über  die  Kirche  und  auch  die   über  die 
Welt  beansprucht. 

Auf  den  Standpunkt  des  von  diesen  zwei  Seiten  angegriffenen ,  auch 
innerlich  so  vielfach  angefochtenen  evangelischen  Protestantismus  stellen  wir 
uns,  zwar  wohl  fühlend  den  gewaltigen  Ernst  der  Lage,  worin  das  Chri- 
stenthum gegenwärtig  sich  befindet,  aber  ohne  im  mindesten  die  Hoffnung 
auf  den  ferneren  Bestand  desselben  aufzugeben.  Wir  fürchten  auch  nicht, 
dass,  wenn  wir  uns  bei  unserer  Arbeit  auf  den  Standpunkt  des  evan- 
gelischen Protestantismus  stellen,  unser  Gesichtskreis  verengt  und  unser 
Urtheil  befangen  gemacht  werde.  Es  ist  der  christliche  Geist,  der  sich 
selbst  erkennt  in  seiner  Geschichte,  —  der  zugleich  scharfe  Kritik  am 
Eigenen  übt  und  das  Substantiell -christliche  auch  in  fremdartigem  Gewände 
zu  erkennen  und  zu  würdigen  weiss. 

Wenn  wir  anfangs  bemerkten ,  dass  uns  die  Antwort  auf  die  Frage : 
wozu  dieser  neue  Versuch  einer  allgemeinen  Kirchengeschichte?  in  Einer 
Beziehung  nicht  zu  schwer  wurde,    so   wollten   wir  damit  andeuten,    dass 


Vni  Vorwort. 

wir  in  anderer  Beziehung  das  Gewicht  der  Frage  und  die  Grösse  und 
Schwierigkeit  der  übernommenen  Aufgabe  wohl  fühlen  und  erkennen.  In 
Beziehung  darauf  schliessen  wir  dieses  Vorwort  mit  dem  aufrichtigen 
Bekenntniss,  dass  wir  uns  der  Mängel  unserer  Arbeit  wohl  bewusst  sind, 
und  mit  der  Bitte  an  den  geneigten  Leser,  der  unvollkommenen  Arbeit 
in  Betrefi'  des  erhebenden  Gegenstandes  derselben  nachsichtige  Aufnahme 
angedeihen  zu  lassen.  Der  zweite  Theil,  wozu  schon  manche  Vorarbeiten 
gemacht  sind,  wird  die  Geschichte  bis  zum  Jahr  1517  fortführen. 

Erlangen,  28.  Juli  1876. 


Der  Verfasser. 


InlialtsvCTzeiclmiss. 


Die  Zeiten  der  Grilndung  und  ersten  Ausbreitung  der  christlichen  Kirche. 

Von  Christi  Geburt  bis  zum  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  nach  Christi  Geburt. 
Einleitung  S.  1.  2. 

Erster  Abschnitt. 
Uebersicht  des  Zustandes  der  alten  Welt,   besonders  in  religiös -sittlicher  und  intellek- 
tueller Beziehung   zur  Zeit  der   Gründung  und  ersten   Ausbreitung    der    christlichen 
Kirche. 
Erstes  CapiteL      Zustand  der  heidnischen  Völker  S.  2—11. 
Zweites  Capitel.    Zustand  des  jüdischen  Volkes  S.  11 — 23. 

Zweiter  Abschnitt. 
Gründung  und  erste  Ausbreitung  der  Kirche  im  apostolischen  Zeitalter  S.  23—41. 

Die  Zeiten  des  alten  Katholicismus. 

Vom  Anfange  des  zweiten  bis  zum  Anfange  des  achten  Jahrhunderts. 

Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Vom  Anfange  des  zweiten  Jahrhunderts   bis    zum  Jahr  313,   vom  Tode   des  Apostels  Jo- 
hannes  bis   zum  Religionsedikt   zu  Gunsten    der  Christen,    erlassen    von  Constantin   dem 
Grossen  und  Licinius.    Die  Zeit  der  Entstehung,  ersten  Ausbildung,  ersten  äusseren  und 
inneren  Entwicklung  des  Katholicismus. 

Erster  Abschnitt. 
Geschichte  der  Ausbreitung  und  Beschränkung,  Verfolgung  der  Kirche. 
Erstes  Capitel.     Die  Ausbreitung  des  Christenthuras  S.  44—46. 
Zweites  Capitel.    Die  Verfolgungen  S.  46—64. 

Zweiter  Abschnitt. 
Angriffe   der  Juden  und  Heiden  auf  das  Christenthum   in  Wort  und  Schrift  und  Ver- 
theidigung  durch  die  Apologeten. 

Erstes  Capitel.    Polemik  der  Juden  und  Apologetik  gegen  die  Juden  S.  65—67. 
Zweites  Capitel.    Polemik  der  Heiden  und  Apologetik  gegen  die  Heiden, 
§,  1.    Schriften  wider  und  für  das  Christenthum  S.  68—72. 


X  Inhaltsverzeichniss. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  häretischen  Angriffe  auf  das  Christenthum  und  die  Gegenanstalten  der  sich  bilden- 
den katholischen  Kirche. 

Erste  Abtheilung. 

Die  Häresien  S.  75.  76. 

Erstes  Capitel.    Die  Ebioniten  S.  76—80. 

Zweites  Capitel.     Die  heidenchristlichen  Gnostiker  S.  80—94. 

Zweite  Abtheilung. 

Die  Gegenanstalten  der  Kirche  gegen  die  häretischen  Angriffe. 

§.  1.     Zusammenfassung   der    Gläubigen   als   katholische  Kirche,   gestützt   auf  die 

mündliche  Ueberlieferung  und  die  mit  derselben  übereinstimmend  ausgelegte 

Schrift  S.  94-97. 
§.  2.    Sammlung  der  ächten,  unverfälschten  neutestam entlichen  Schriften  S.  97 — 98. 
§.  3.    Die  Glaubensregel  und  das  apostolische  Symbolum  S.  98  —  101. 
§.  4.    Begriff  der  Häresie,  des  Häretischen  S.  102.  103. 

Vierter  Abschnitt. 

Die  Geschichte  der  Theologie. 

Erstes  Capitel.    Die  Kirchenlehrer  und  Kirchenschriftsteller. 
§.  1  der  griechich  -  morgenländischen  Kirche  S.  103—124. 

§.  2.    Die  Kirchenlehrer  und  Kirchenschriftsteller  der  lateinisch  -  abendländischen 
Kirche  S.  124-128. 
Zweites  Capitel.    Uebersicht  der  sich  bildenden  katholischen  Theologie. 
§.  1.    Die  Lehre  von  den  Erkenntnissquellen  des  Christenthums  S.  128—131. 
§.  2.    Die  Lehren  von  Gott,  von  der  Dreieinigkeit,  von  der  Schöpfung  S.  131— 138. 
§.  3.    Die  Anthropologie  S.  139-141. 
§.  4.    Die  Christologie  S.  141—144. 
§.  5.    Die  Heilsordnung  S.  144-146. 
§.  6.    Die  Eschatologie  S.  146-148. 
Anhang  zur  Geschichte  der  Lehre. 
Die  Manichäer  S.  149—151. 

Fünfter  Abschnitt. 

Die  Geschichte  der  Kirchenverfassung,   der  Kirchenzucht  und  der  ßeactionen  gegen  die 
erstrebte  Art  der  Kirchenverfassung  und  der  Kirchenzucht. 

Erstes  Capitel.      Geschichte   der  Kirchenverfassung   S.  152.      Fortschreitende  Ent- 
wicklung  des   geistlichen   Standes   S.  152—154.     Der  Episkopat  S.  153  —  156. 
Conföderation  der  einzelnen  Gemeinden   S.  156  -  161.     Die  Einheit   der  Kirche 
S.  161-163.    Der  Bischof  von  Rom  S.  163—169. 
Zweites  Capitel.    Geschichte  der  Kirchenzucht  S.  169—171. 


Inhaltsverzeicliniss.  XI 

Drittes  Capitel.  Geschichte  der  Reactionen  gegen  die  erstrebte  Art  der  Kirchen- 
zucht und  Kirchenverfassung. 

1)  Der  Montanismus  S.  171—178. 

2)  Kirchenspaltung  des  Felicissimus  in  Carthago  S.  178.  179. 

3)  Das  novatianische  Schisma  S.  179.  180. 

4)  Schisma  zwischen  der  afrikanischen  und   römischen  Kirche  über    die  Taufe 
der  Häretiker  S.  180-182, 

5)  Meletianische  Spaltung  in  Aegypten  S.  182. 

Sechster  Abschnitt. 

Geschichte  des  Cultus  und  der  Sitte  in  der  katholischen  Kirche. 
Erstes  Capitel.    Geschichte  des  Cultus. 

1)  Versammlungsorte  der  katholischen  Christen  S.  184. 
Zweites  Capitel.    Gottesdienstliche  Versamralungszeiten. 

a)  Wöchentliche  Feiertage  S.  188.  189. 

b)  Jahresfeste  S.  189—194. 

Drittes  Capitel.  Der  Gottesdienst  im  Ganzen  und  die  einzelnen  Handlungen  des- 
selben S.  194.  -  Das  Abendmahl  S.  197  —  209.  Die  Taufe  S.  209—211.  Sa- 
cramente  211.  212. 

Viertes  Capitel.  Sittliche  Wirkungen  des  Christenthums. 
Sitte  und  Leben  der  katholischen  Christen  S.  213.  219. 
Schluss  S.  219-220. 

Zweite  Periode  des  alten  Katliolicismns. 

Vom  Jahre  313  bis  zum  Jahre  451,  vom  Religionsedict  der  Kaiser  Constantin  und 
Licinius  bis  zur  Kirchenversammlung  voiv  Chalcedon. 
Einleitung  S.  221—222. 

Erster  Abschnitt. 

Aeussere  Schicksale  des  Christenthums  im  römischen  Reiche.     Kampf  mit  dem  Heiden- 
thum  und  Sieg  über  dasselbe. 

1)  Regierung  Constantin's  und  seiner  Söhne  S.  223—229. 

2)  Julian  zubenannt  der  Abtrünnige  S.  229—234. 

3)  Weitere  Entwicklung  bis  zum  Ende  der  Periode  S.  234—241. 

Zweiter  Abschnitt. 

Geschichte  der  Theologie. 
Uebersicht  der  Kirchenlehrer  dieser  Periode  und  ihrer  Leistungen  im  Allgemeinen. 
I.    Lehrer  und  Schriftsteller  der  griechich- morgenländischen  Kirche  S.  243— 250. 
II.    Lehrer  und  Schriftsteller  der  lateinisch  -  abendländischen  Kirche  S.  251—262. 
Streitigkeiten,   die  von   der  griechisch-morgenl&ndischen  Kirche 

ausgehen. 
1.    Die  arianische  Streitigkeit  und  ihre  Verzweigungen. 
Aeussere  Geschichte  der  Streitigkeit  S.  262—273. 


XII  Inhaltsverzeichniss. 

• 

Nähere  Betrachtung  der  dogmatischen  Momente  der  arianischen  Streitigkeit. 

1)  Die  arianische  Lehre  S.  273—275. 

2)  Die  Synode  von  Nicäa.    Das  nicänische  Symbol  S.  275.  276. 

3)  Der  Lehrbegriff  des  Athanasius  S.  276—280. 

4)  Vermittelnde  Eichtungen.    Eusebianer  und  Semiarianer  S.  280—282. 

5)  Die  extremen  Richtungen  S.  282—284. 

6)  Die  Lehre    vom   heiligen   Geiste    S.  284  —  286.  —     Weitere   Entwicklung   der 
Lehre  von  der  Dreieinigkeit  S.  286. 

n.    Origenistische  Streitigkeiten  S.  287—291. 
in.    Die  nestorianische  Streitigkeit  S.  292. 

1)  Christologische  Verhandlungen   und  Stand   der  christologischen  Frage    bis   zum 
Ausbruche  der  nestorianischen  Streitigkeit  S.  293—297. 

2)  Die  nestorianische  Streitigkeit   und   das   dritte  ökumenische  Concil    zu  Ephesus 
im  Jahr  431. 

§.  1.    Aeussere  Geschichte  des  Streites  S.  297—301. 

§.  2.    Nähere  Betrachtung  der   christologischen  Momente  der  nestorianischen 
Streitigkeit  S.  302-305. 
IV.    Der  eutychianische  Streit.    Die  Eäubersynode  von  Ephesus  im  Jahre  449  und 
die  vierte  allgemeine  Synode  zu  Chalcedon  im  Jahre  451  S.  305—313. 
Streitigkeiten,    die   von  der  lateinisch-abendländischen  Kirche 

ausgingen. 
Die  pelagianische  und  die  semipelagianische  Streitigkeit. 
Stand  der  anthropologischen  und  der  soteriologischen  Frage   bis   zum  Ausbruch   der 

pelagianischen  Streitigkeit  S.  313—314. 
Aeussere    Geschichte    der    pelagianischen    und    der    semipelagianischen    Streitigkeit 

S.  314-318. 
Uebersicht  des  augustinischen  imd  des  pelagianischen  Lehrbegriffes. 
I,    Anthropologie  S.  319—322. 
n.    Soteriologie  S.  322-328. 
Priscillianus  und  seine  Anhänger  S.  329. 

Uebersicht  der  nicht  controvers  gewordenen  Lehren. 
Die  Lehre  von   den  Erkenntnissquellen    des  Christenthums.     Von   der  Tradition   und 

der  Autorität  der  Concilien  S.  330—336. 
Lehre  von  Gott  S.  336—337. 
Die  Christologie  S.  337—339. 
Die  Eschatologie  S.  339—341. 
Anhang  zur  Geschichte  der  Theologie  S.  341.  342.    Begriff  des  Dogma. 

Dritter  Abschnitt. 

Geschichte  der  Kirchenverfassung ,   Kirchenzucht,   Kirchenspaltungen.     Das  Dogma  von 
der  Kirche. 
§.  1.    Das  Verhältniss   des  Klerus    zum  Staate    und   zur  bürgerlichen  Gesellschaft 

S.  343-346. 
§.  2.    Innere  Verhältnisse  des  Klerus  S.  346—348. 


Inhaltsverzeichnisa.  Aill 

§.  3.    Die  Patriarchalverfassnng ,  besonders  im  Oriente  S.  348—350. 
§.  4.    Der  Bischof  von  Korn  S.  350—355. 
§.  5.    Kirchenzucht  S.  355-357. 
§.  6.    Die  Kirchenspaltungen  S.  357. 

Die  donatistische  Spaltung  S.  357 — 360. 

Das  Schisma  des  Lucifer,  Bischofs  von  Cagliari  auf  der  Insel  Sardinien 

S.  360.  361. 
§.  7.    Das  Dogma  von  der  Kirche  S.  361—364. 

Vierter  Abschnitt. 
Geschichte  des  Gottesdienstes. 
•     §.  1.    Gottesdienstliche  Gebäude  S.  366—367. 

§.  2.    Gottesdienstliche  Tage  und  Zeiten  S.  368—375. 

Märtyrer-  und  Mariencultus. 
§.  3.    Der  Gottesdienst  selbst.     Der  öffentliche,    sonntägliche  Gottesdienst   insbe- 
sondere S.  375.     Abendmahl  S.  375  -385.     Taufe  S.  385.  386. 

Fünfter  Abschnit. 

Geschichte  des  christlichen  Lebens  und  der  christlichen  Sitte  S.  387. 
Erstes  Capitel.    Das  Mönchthum   S.  387. 
I.    Mönchthum  im  Oriente  S.  387—399. 
II.    Mönchthum  im  Occidente  S.  399—402. 
III.     Verhältniss  der  Mönche  zum  Klerus  S.  402.  403. 
Zweites  Capitel.     Zustand  des  Klerus  in  religiös -sittlicher  Beziehung.     Einwirkung 
desselben  auf  das  Volk.     Sittliche  Grundsätze  und  christliche  Sitte.    Einfluss  des 
Christenthums  auf  die  Gesetzgebung  S.  403—412. 
Drittes  Capitel.    Reformatorische  Bestrebungen  S.  412. 

Jovian  S.  412-414.    Vigüantius  S.  414-416.    Aerius  S.  416.  417. 

Sechster  Abschnitt. 
Ausbreitung  des  Christenthums  ausserhalb  des  römischen  Reiches  S.  417,    in  Afrika 
S.  418,   in  Asien  S.  419.  420,   in  Europa   unter  den  germanischen  Völkern  S.  420 
—  427,  in  Grossbritannien  S.  427-429. 

Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Vom  Jahr  451  bis  Anfang   des  achten  Jahrhunderts,   vom  Concil   von  Chalcedon   bis   zu 
den  Bilderstreitigkeiten  und  bis  zu  Bonifacius,  Apostel  der  Deutschen. 
Einleitung  S.  430.  431. 

Erste  Abtheilung. 
Die  Kirche  vorherrschend  des  römischen  Reiches. 
Erstes  Capitel.     Aeussere  Schicksale.     Ausbreitung   und  Beschränkung   des  Chri- 
stenthums S.  431—433. 
Zweites  Capitel.    Geschichte  der  theologischen  Streitigkeiten. 
§.  1.    Der  monophysitische  Streit  S.  434—437. 


XIV  Inhaltsverzeiclmiss. 

§.  2.    Der  monotheletische  Streit  S.  437-440. 

§.  3.    Augustinische  und  semipelagianische  Streitigkeiten  S.  440—442. 
Drittes  Capitel.    Anbau  der  theologischen  Wissenschaften   und  der  Wissenschaften 

überhaupt  S,  442.     Cassiodor  443—446.    Boethius  446—447.    Isidor  von  Hispa- 

lis  S.  447.    Dionysius  Areopagita  S.  447—448. 
Viertes  Capitel.     Geschichte  des   Verhältnisses  zwischen   Kirche    und    Staat,    Ge- 
schichte der  Kirchen  Verfassung,  der  Patriarchen,  insbesondere  des  römischen  S.449. 

Gregor  I.  S.  450— 453.    Concilium  quinisextum  S.  454. 
Pünftes  Capitel.     Geschichte    des   Gottesdienstes    (Kirchen    S.  455.  456.    Reliquien 

S.  457.    Neue  Feste   S.  457.    Litaneien  S.  458.    Messcultus   S.  458.    Fegefeuer 

S.  460, 
Sechstes  Capitel.     Geschichte  des  Mönchthums.     Benedict  von  Nursia  und  der  Be- 

nedictinerorden  S.  462  -467. 

Zweite  Abtheilung. 

Die  Kirche  unter  den  germanischen  Völkern  und  in  Grossbritannien. 
Erstes  Capitel,     Verbreitung   des  Christenthums    unter   den    germanischen  Völkern 

auf  dem  Continente  von  Europa  S.  468—473. 
Zweites  Capitel.    Die  britannischen  Inseln  S.  473—485. 

Drittes  Capitel.    Die  von  Grossbritannien   ausgehenden  Missionen   auf  dem  Conti- 
nente von  Europa  S.  486—489. 
Viertes    Capitel.     Innere  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche   unter   den   germa- 
nischen Völkern  S.  489—496. 
Schluss  S.  496. 
Nachträge  S.  500. 


Die  Zeiten  der  MAn  mi  ersten  Anstireitnng  der  cöristliclien  Kirclie. 

.   Von  Christi  Geburt  bis  zum  Ende  des  ersten  Jahrhunderts 
nach  Christi  Geburt. 

Wir  stehen  hier  vor  der  schöpferischen  Anfangsperiode  der  gesammten 
Kirchengeschichte.  Als  solche  enthält  sie  zugleich  die  Grundbedingungen 
und  Regulative  für  alle  folgende  EntNvicklung  in  allen  den  Beziehungen,  worin 
das  christliche  Prinzip  sich  bethätigt.  Daher  alle  christlichen  Religions- 
partheien, jede  in  ihrem  Sinne,  sich  auf  diese  Zeit  berufen.  Wenn  nun 
von  katholischer  Seite  gesagt  wirdM,  dass  in  diesen  Anfängen  die  Keime 
einer  Cultur  liegen,  die  noch  immer  im  Werden  begriffen  ist,  wenn  die 
ganze  folgende  Geschichte  lediglich  als  ein  mit  iimerer  Nothwendigkeit  sich 
vollziehender  Entfaltungsprocess  aufgefasst  wird,  welcher  über  die  primi- 
tiven Formen  des  apostolischen  Zeitalters  hinausgeht,  so  wollen  wir  zwar 
die  Wahrheit,  die  diesen  Behauptungen  zu  Grunde  liegt,  nicht  verkennen, 
aber  eben  so  wenig  den  katholischen  Grundirrthum ,  der  sich  daran  knüpft 
und  der  zur  Rechtfertigung  der  grössten  Abweichungen  von  der  Wahrheit 
des  Evangeliums  (Gal.  2,  5)  verwendet  worden  und  noch  inmier  verwendet 
wird.  Denn,  sofern  angenommen  wird,  dass  das  Christenthum,  wie  es  im 
Neuen  Testamente  urkundlich  bezeugt  wird,  erst  durch  das,  was  die  katho- 
lische Kirche  im  Laufe  der  Zeit  daraus  gemacht  hat,  zu  seiner  vollen  Ver- 
wirklichung gelangt  ist,  erst  dadurch  sich  in  seiner  ungeschmälerten 
Wahrheit  Geltung  erworben,  sofern  das  Urchristenthum  mehr  als  Ausgangs- 
punkt denn  als  Norm  aufgefasst  wird,  so  läuft  die  Sache  zuletzt  darauf 
hinaus,  dass,  was  man  gemeinhin  Fundament  zu  nennen  gewöhnt  ist,  nicht 
mehr  Fundament  im  vollen  Sinne  des  Wortes  ist,  sondern  das  darauf  er- 
richtete Gebäude  tritt  gewissermassen,  —  so  sonderbar  es  klingen  mag  — 
an  die  Stelle  des  Fundamentes.  —    Auf  einen  in  der  Form  ähnlichen  wle- 


1)  Döllinger  in   der   Schrift:   Christenthum   und  Kirche  in   der  Zeit   der  Grund- 
legung. 
Herzog,  Kirchengeschichte  I.  \ 


wohl  durch  Irrthümer  anderer  Art  zubereiteten  Abweg  führt  eine  gewisse 
moderne  Weltanschauung  in  ihrer  Anwendung  auf  das  Urchristenthum.  Das 
Endergebniss  davon  ist  eine  willkürliche  Construction  der  Geschichte  des- 
selben, wobei  dessen  eigentliches  Wesen,  ungeachtet  mancher  glücklicher 
Apper Jus  und  Combinationen  im  Einzelnen,  geradezu  ausgemerzt  ist.  Daher 
sollen  wir  uns  hüten,  die  Zeiten  der  Grundlegung  durch  das  Prisma  der 
folgenden  Entwicklung  oder  einer  dem  Christenthum  entfremdeten  Denk- 
weise zu  betrachten  und  darnach  zu  beurtheilen.  —  Da  aber  das  Christen- 
thum, ungeachtet  seines  übernatürlichen  Ursprungs  in  alle  Bedingungen 
geschichtlicher  Erscheinungen  eingetreten  ist,  so  ist  vor  Allem  nötliig,  den 
Boden  kennen  zu  lernen,  auf  welchem  es  entstanden,  die  Zeitumstände  und 
Verhältnisse,  unter  welchen  es  hervorgetreten  und  sich  seinen  Platz  in 
der  Welt  erstritten  hat. 


Erster  Abschnitt. 


Uebersicht  des  Zustandes  der  alten  Welt   besonders  in  reli- 
giös  sittlicher   und    intellektueller   Beziehung   zur   Zeit    der 
Gründung  und  ersten  Ausbreitung  der  christlichen  Kirche. 

Tzschirncr,  der  Fall  des  Heidenthums,  1829.  —  Tholuck,  über  das  Wesen 
und  den  sittlichen  p]influss  des  Heidenthums  besonders  unter  Griechen  und  Römern  — 
in  Neandcr's  Denkwürdigkeiten,  1.  Bd.  —  Schnockenburger,  Vorlesungen  über 
neutestamcntliche  Zeitgeschichte.  —  Hausrath,  neutestamentliche  Zeitgeschichte. 
Burkhardt,  die  Zeit  Constantin's  des  Grossen.  Abschnitt  V.  VI.  —  Schür  er, 
Lehrbuch  der  alttestamentliclien  Zeitgeschiclite,  1874.  —  Döllinger,  Heidenthum 
und  Judenthum,  Vorhalle  des  Christenthums,  1857.  --  Schmidt,  essai  historique 
sur  la  societe  civile  dans  le  mondc  romain  et  sur  sa  transformation  par  le  chri- 
stianisme,  1853.  —  Hundeshagen,  über  einige  Hauptmomente  in  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  des  Verhältnisses  zwischen  Staat  und  Kirche  —  in  Dove's 
Zeitschrift  für  Kirchenrecht  1861.  S.  232  u.  ff.  —  die  Werke  von  Jost,  Ewald, 
Herzfeld,  Grätz  über  die  Geschichte  der  Juden.  —  Die  einschlägigen  Artikel 
in  Herzog's  Realencyklopädie.  Neander  und  Gieseler  in  der  Einleitung 
zu  ihren  Werken  über  allgemeine  Kirchengeschichto.  S.  ausserdem  Ackermann, 
das  Christliche  im  Plato  u.  in  der  platonischen  Philosoj)hie,  1835. 

Erstes  Capitel.    Zustand  der  heidnischen  Yölker. 

I.  ;;Als  die  Zeit  erfüllet  war,  sandte  Gott  seineu  Sohn^  Gal.  4,  4. 
Inwiefern  entsprachen  die  Zeitverhältnisse  dieser  Aussage  ?  ^  Allerdings 
waren  grosse  Veränderungen  in  der  Welt  vorgegangen,  und  so  gross  sie 
sein  mochten,  schienen  sie  nur  die  Vorboten  von  noch  grösseren  zu  sein. 
Es  kommen  hier  in  Betracht  die  Völker  der  damals  bekannten  Welt 
(oixoviief^rj).    Da  bemerken  wir  vor, Allem,  dass  die  Weltgeschichte,  die  im 


3 

fernen  Osten  ihren  Anfang  genommen,  mehr  und  mehr  nach  dem  Westen 
hingedrängt  hat;  den  Schauplatz  der  Bewegung  bilden  diejenigen  Völker, 
die  um  das  Becken  des  mittelländischen  Meeres  herum  wohnen.  Von  ent- 
scheidender Bedeutung  ist,  dass  zwischen  diesen  Völkern  die  nationalen 
Schranken,  die  in  der  antiken  Welt  so  sehr  hervortraten,  und  denen  auch 
die  Religion  sich  am  wenigsten  entzog,  theils  durchbrochen,  theils  nieder- 
gerissen waren.  Die  genannten  Völker  sind  durch  die  politische  Herrschaft 
Eines  Volkes  verschlungen  worden.  In  die  Herrschaft  Bom's  mündet  die 
alte  Welt  aus.  Nur  die  Parther  nn  Osten,  die  germanischen  Völker  im 
Norden  sind  von  der  allgemeinen  Unterjochung  ausgenommen.  Mit  den 
römischen  Adlern  w^erden  römische  Sprache,  Sitte,  Bildung  und  Gesetz- 
gebung weithin  ausserhalb  der  römischen  Nationalität  verbreitet  und  da- 
durch die  Völker  einander  näher  gebracht.  Rom  bildet  den  Abschluss  der 
alten  Welt  und  den  Wendepunkt  der  neuen.  Rom  ist  die  durch  providen- 
tielle  Fügung  aufgestellte  Macht,  welche  den  Uebergang  der  alten  Welt  in 
die  neue  Welt  des  Christenthums  vermittelt,  sowie  denn  durch  ein  merk- 
würdiges Zusammentreffen  der  Heiland  der  Welt  unter  dem  ersten  römischen 
Kaiser  geboren  wurde. 

Die  antike  Trennung  zwischen  den  Völkern  war  in  Hinsicht  der 
Bildung  und  Civilisation  noch  in  anderer  Weise  durchbrochen.  Diess  ist 
die  Bedeutung  der  Eroberungen  Alexanders  des  Grossen,  dass  er  griechische 
Bildung  und  Sitte  nach  Asien  und  Egypten  verpflanzte  und  diesen  Völkern 
die  geistigen  Schätze  des  alten  Hellas  öffnete.  Griechische  Bildung  drang 
auch  in  Palästina  ein.  Gab  es  doch  in  diesem  Lande  kaum  einen  Ort, 
worin  nicht  griechisch  gesprochen  wurde  ^).  Wie  denn  überhaui)t  die  grie- 
chische Bildung  mehr  in  dem  östlichen  Theile  des  römischen  Reiches  ein- 
heimisch geworden.  Athen,  Alexandrien  und  Tarsus  in  Cilicien  waren  die 
bedeutendsten  Sitze  und  Sammelpunkte  derselben  2).  In  den  westlichen 
Theilen  des  Reiches  hatte  sich  im  Ganzen  genommen  die  römische  Bildung 
überwiegende  Geltung  verschafft,  doch  keineswegs  mit  Ausschliessung  der 
griechischen  Literatur,  die  seit  Livius  Andronicus  (240  a.  Chr.)  in  Rom 
bekannt  geworden.  Im  Verlaufe  der  Zeit  bildete  sich  die  lateinische  Sprache 
nach  griechischen  Mustern  aus.  Der  ursprüngliche  Hass  der  Republikaner 
gegen  die  griechische  Bildung  und  Litteratur  schlug  seit  Augustus  in 
schwärmende  Bewunderung  um.  Nur,  was  nach  griechischem  Muster  ver- 
fasst  war,  hatte  fortan  in  den  Augen  der  Römer  Werth.  Griechische  Ge- 
lehrte und  Künstler  aller  Art  strömten  nach  Rom.  Griechen  wurden  die 
Erzieher  der  römischen  Jugend,  in  Griechenland,  am  liebsten  in  Athen, 
vollendete  der  junge  Römer  seine  Bildung.  Noch  lange  wurde  in  Rom  die 
griechische  Sprache  als  Schriftsprache  verwendet.  Auch  in  Carthago  wurde 
die  Beschäftigung  mit  der  griechischen  Sprache  und  Litteratur  eifrig  be- 
trieben. 

So  waren  mehrere  neue,  durchgreifende  Berührungspunkte  zwischen 


1)  S.  Hug's  Einleitung  in  das  N.  T.  II.  10. 

2)  S.  Strabo,  Geographie  14,  5. 


den  Völkern  entstanden,  so  dass  ein  auf  einem  gewissen  Punkte  gegebener 
Impuls  auf  einen  grösseren  Kreis  seine  Wirkung  ausdehnen  konnte  als  es 
in  der  vorhergehenden  Zeit  möglich  war. 

IL  Die  heidnischen  Religionen  der  Völker  des  römischen  Reiches  waren 
damals  in  merkwürdiger  Gährung  begriffen  und  ihr  alter  Bestand  auf  das 
tiefste  erschüttert.  Alle  Irrthümer,  Uebelstände  und  Widersprüche  derselben 
waren  auf  das  grellste  hervorgetreten.  In  sich  selbst  betrachtet  beruhten 
diese  polytheistischen  Religionen  auf  einer  bald  gröberen,  bald  feinern 
Vermischung  von  Welt  und  Gott,  wodurch  die  sittlichen  Grundsätze  und 
die  Sittlichkeit  in  ihren  Grundfesten  w^ankend  gemacht  wurden ;  sie  beruhten 
auf  einer  Vergötterung  der  Natur  und  des  Menschen,  so  dass  man  treffend 
sagen  konnte :  alles  in  der  Welt  war  nach  den  diesen  Religionen  zu  Grunde 
liegenden  Anscliauungen  Gott,  nur  Gott  selbst  nicht  ^).  Daher,  als  bei  fort- 
geschrittener Bildung  der  Pantheisnms  sich  entwickelte,  w^elcher  die  Identi- 
fizirung  von  Natur  und  Gottheit  in  ihrer  Einheit  darstellte,  —  wie  der 
Polytheismus  dieselbe  in  der  Vielheit,  —  beide  sich  fi'iedlich  mit  einander 
ausglichen.  In  Folge  nun  jener  Ideutifizirung,  wie  sie  der  Polytheismus 
vollzog,  konnte  die  höchste  sittliche  Entartung  sich  unmittelbar  an  die 
Religion  anschliessen.  Befriedigung  der  Fleischeslust  war  integrirender 
Bestandtheil  einiger  Culte.  Es  fand,  wie  die  Schrift  sagt,  ein  eigentliches 
Buhlen  mit  der  Gottheit  statt.  Wie  sehr  die  Mythologie  der  Griechen 
aller  Sittlichkeit  Hohn  sprach,  bedarf  hier  nur  der  Andeutung.  Bekannt 
ist,  wie  Plato  vor  deren  Kenntniss  die  heranwachsende  Jugend  zu  bewahren 
suchte.  Allerdings  ist  die  sittliche  Bedeutung  und  Tragweite  der  griechi- 
schen Civilisation  in  Kunst  und  Wissenschaft,  im  Staatsleben  und  in  vielen 
Theilen  des  Privatlebens  anzuerkennen.  Aber  diese  Sittlichkeit  rührt  nicht 
von  der  Religion  her,  sondern  von  einer  von  der  Religion  unabhängigen 
Humanität.  „Daher  Homer  schon  sittlicher  als  das  alte  Pelasgerthum ,  die 
Tragiker  sittlicher  als  Homer,  Sokrates  und  Plato  sittlicher  als  die  Tragiker, 
Cicero  sittlicher  als  Plato,  und  über  Cicero  steht  Seneca."  —  Ernster  und 
sittlicher  als  die  Religion  der  Griechen  war  die  der  Rinner,  wenn  gleich 
die  Nachricht  unrichtig  sein  sollte,  dass  in  Rom  binnen  fünfhundert  Jahren 
keine  Ehescheidung  vorgekommen.  Doch  seit  dem  Eindringen  der  griechi- 
schen Bildung  iing  die  griechische  Mythologie  an,  ihren  verpestenden  Hauch 
in  Rom  zu  verbreiten.  Die  ]\Iysterien,  bei  den  Egyptern  uralt,  bei  den 
Griechen  gleichzeitig  mit  der  griechischen  Cultur  entstanden,  in  manch- 
faltigen  Formen  ausgeprägt  und  auch  zu  den  Römern  durchgedrungen, 
erhoben  den  Anspruch,  tiefere  Religiosität  und  Religionskenntniss  zu  ptiegen 
und  zu  befördern,  selbst  sittlich  reinigend  zu  wirken  und  mochten  so 
manche  ernster  gestimmte  Gemüther  anziehen.  Cicero  2)  meint,  die  eleu- 
sinischen  Mysterien  hätten  die  Menschen  zur  Civilisation  erhoben  und 
ihnen  bessere  Hoffnung  im  Sterben  gegeben.  Diodor  v.  Halicarnass  sagt: 
durch  die  Einweihung  in  die  Mysterien   werden  die  Menschen  besser  und 


1)  Omnia  colit  humanus  error  praeter  ipsuni  omnium  conditorem.  Tertull.  de  ido- 
latria  c.  4.  —  apud  vos  quodvis  colere  ius  est  praeter  deum  verum.  Apologeticum  c.  24. 

2)  de  legibus  2,  14. 


gerechter.    Doch    in    der  Wirklichkeit  gestaltete  sich  die  Sache   anders; 
daher  schon  Plato  erklärte,  die  wahren  Mysterien  seien  diejenigen,  welche 
die  Philosophie  feiert.    Varro  i)  meint  sogar,  —  was  wohl  übertrieben  sein 
mag,  in  den  eleusinischen  Mysterien  beziehe  sich  Alles  auf  die  Erfindung 
der  Agricultur.    Derselbe  Varro  weiss  ebendaselbst  allerlei   Schändliches, 
was  in  den  andern  Mysterien  vorkam,  zu  berichten,  ebenso  Clemens  von 
Alexandrien    in    seinem    Protrepticus ,    Tertullian    von    den    eleusinischen 
Mysterien  2).    Die  Differenzen    in  den  Berichten  und  Urtheilen   über   die 
Mysterien  laufen  zuletzt  darauf  hinaus ,   dass  sie  in  der  älteren  Zeit  einen 
verhältnissmässig  reineren  und  besseren  Charakter  gehabt  haben  als  später. 
Sofern  der  Polytheismus  Volksreligion  ist,  die  Religion  mit  dem  Volks- 
leben identifizirt  und  das  Gesetz  des  Volkes  dem  Einzelnen  aufdringt,    in- 
sofern ist  er  intolerant.    So  wachten  die    griechischen  Freistaaten  in  ihrer 
ßlüthezeit  eifrig  darüber,    dass  nicht  neue  Culte    eingeführt  würden.    Um 
deswillen  oder  wenigstens  unter  dem  Vorwande,   dass  er  neue  Götter  ein- 
führe, musste  Sokrates  den  Giftbecher  trinken.    Auch  bei  den  Kömern  war 
bis  zu  den  Zeiten  der  Kaiser  die  Ausübung  fremder  Culte  durch   die  Ge- 
setze streng  verboten.     ^^Separatim  nemo  hal)essit  deos''  ^).    Solche  Culte, 
von  welchen  man  politische  Agitation  l)efürchtete ,   fielen  unter  den  Begriff 
der  collegia  illicita  ^),  der  unerlaubten  Genossenschaften.  Auf  der  aiideren 
Seite  konnten  sich  die  polytheistischen  Religionen  dem  Princip  der  Toleranz 
nicht  entziehen,  weil  sich  in  denselben  das  Gefühl  der  Beschränktheit  und 
UnVollständigkeit  jedes  besonderen  Gottes  geltend  machte.    Je  mehr  nun  die 
alten  Religionen  an  Lebenskraft  abnahmen,  desto  mehr  musste  dieses  Gefühl 
sich  befestigen  und  eine  A'ennischung  von  verschiedenen  Volksreligionen  her- 
beiführen.   So  ist  das  Zeitalter  der  Entstehung  und  ersten  Ausbreitung  des 
Christenthums  dasjenige    einer  in's  Grosse    getrie])enen  Religionsmengerei. 
Rom,    das   eine  Zeitlang   das  Eindringen   fremder  Culte  abgewehrt  hatte, 
nuisste  dem  weitverbreiteten  Drange  der  Zeit  nachgel)en.    Schon  im  J.  43 
a.  Chr.  wurden  Serapis  und  Isis   in  Rom  verehrt.     Umsonst  gab,  wie  Dio- 
cassius  berichtet,   Mäcenas  dem  Kaiser  Augustus  den  Rath,   die  fremden 
Gottesdienste  zu  verbieten.    So  gross  wurde  der  Liuschwung  in  der  Denk- 
art, dass  bald  die  Kaiser  mit  dem  Beispiele  der  Religicmsmengerei  voran- 
giengen,  und  dass  die  Römer  selbst  sich  rühmten,  niclit  nur  die  Völker  der 
Erde  sich  unterworfen,  sondern  auch  ihre  Götter,  geschmückt  mit  den  Namen 
der  eigenen  vaterländischen  Götter,  sich  angeeignet  zu  haben,  freilich  unter- 
worfen dem  Jupiter  Capitolinus,  der  Personification  des  weltbeherrschenden 
Rom's.  Wie  in  Rom,  so  fand  anderwärts  Religionsmengerei  statt.  Griechische 
Götter  fanden   sich  weithin   ausserhalb  der    Grenzen  Griechenlands,   nicht 
blos  in  den  griechischen  Kolonien,  ausser  dem  orientalische,  egyptische  Culte 
im  Westen  Europa's.    Die  Priester  der  Isis,  der  Kybele,  des  Mithras,  die 
Chaldäer  erfreuten  sich,  ungeachtet  ihrer  schändlichen  Betrügereien,  eines 


1)  Bei  Augustin  de  civitate  Dei  7,  20. 

2)  adv.  Valentinianos  c.  1:  siraulacrura  membri  virilis  revelatur, 

3)  Cicero  de  legibus  II.  8. 

4)  Sueton.  Caesar  c.  42, 


ö 

grossen  Beifalles.  Von  Bedeutung  ist  hiebei  der  Umstand,  dass  so  das 
Beispiel  gegeben  wurde  von  Culten,  die  in  keinerlei  Verbindung  mit  dem 
Staate  standen. 

So  allgemein  verbreitet  die  Neigung  zu  fremden  Culten  war,  so  gross 
die  Toleranz  in  dieser  Hinsicht  wurde,  so  konnte  sich  doch  die  alte  Welt 
zur  Idee  einer  Universalreligion  für  alle  Menschen,  einer  ausschliesslichen 
Religion  nicht  erheben,  weil  eine  solche  Religion  nothwendig  den  wahren, 
ausschliessenden  Monotheismus  und  die  Idee  der  Menschheit,  die  dem 
antiken  Heidenthum  so  viel  wie  unbekannt  war,  voraussetzt.  Daher  der 
heidnische  Philosoph  Celsus  zu  Anfang  des  2.  Jahrhunderts  seinen  Spott 
ausgoss  über  die  Idee  der  Allgemeinheit  einer  Religion  mit  Ausschliessung 
aller  anderen.  Es  zeigte  sich  darin  auf  das  Deutlichste,  dass  ungeachtet 
aller  noch  soweit  getriebenen  Religionsmengerei  der  volksmässige  Stand- 
punkt in  Betrachtung  und  Behandlung  der  Religion'  noch  durchaus  nicht 
überwunden  war.  So  sehr  war  diess  der  Fall,  dass  die  Fürsten  des  herr- 
schenden Volkes,  die  römischen  Cäsaren  sich  selbst  göttliche  Verehrung 
darbringen  Hessen  i).  Der  Cäsarencultus ,  die  Cäsarenapotheosen  stellen 
sich  dar  als  die  speziellen  Beispiele  einer  allgemeineren,  im  Wesen  des 
Polytheismus  gegründeten  Abirrung.  Wenn  berichtet  wird,  dass  Herodes 
Atticus  seine  Gattin  unter  die  Heroen  versetzte  und  ihr  in  Athen  ein 
tempelartiges  Grabmonument  errichtete,  —  um  nur  diess  eine  Beispiel  an- 
zuführen, —  so  darf  man  sich  nicht  wundern,  dass  die  römischen  Herrscher 
ihre  Apotheosen  erhielten.  Der  Cäsarencultus  war  zunächst  der  religiöse 
Ausdruck  der  Zustimmung  zur  römischen  Monarchie.  Der  Dienst  des  Ju- 
piter Capitolinus  galt  dem  Gedanken  des  Rechts  und  der  Staatsordnung, 
dem  unsichtbaren  Haupte  der  Republik,  der  Staat  selbst  wurde  unter  dem 
Namen  des  obersten  Staatsgottes  gefeiert.  Daher,  seit  Errichtung  der 
Alleinherrschaft  dem  Genius  des  jeweiligen  Kaisers  ähnliche  Verehrung  zu 
Theil  wurde.  Hatte  doch  nach  antik  römischer  Anschauung  jeder  Mensch 
seinen  Genius,  der  ihn  durch  das  Leben  begleitete  und  der  nach  seinem 
Tode  den  Laren,  den  das  Haus  beschützenden  lichten  Geistern  beigezählt 
wurde.  Nachdem  schon  die  Proconsuln,  asiatischer  Sitte  gemäss,  bisweilen 
göttliche  Ehren  empfangen ,  Hess  sich  nun  solche  Cäsar  ^)  vom  Senate  de- 
cretiren.  Augustus  erklärte  sich  anfänglich  dagegen,  doch  er  musste  ge- 
währen lassen,  dass  Städte,  Corporationen  und  Einzelne  in  Erbauung  von 
Cäsarien-  und  Augustustempeln  mit  einander  wetteiferten,  dass  Vasallen- 
fürsten ihm  die  Attribute  des  Jupiter  Capitolinus  beilegten.  Nach  dem  Tode 
des  Augustus  schwur  ein  Senator,  er  habe  ihn  gen  Himmel  fahren  sehen. 
Den  Cultus,  den  Augustus  schon  bei  Lebzeiten  gutgeheissen  3j,  ordnete  und 
erweiterte  nach  dessen  Tode  Tiberius^j,  während  er  sich  selbst  alle  gött- 
lichen Ehren  in  Rom  verbat.  AUe  seine  Nachfolger  folgten  dem  Beispiele 
des  Augustus  und  übertrieben  noch  die  Sache.    Cäsar  Caligula  erklärte  sich 


1)  S.  Prelle r,  römische  Mythologie.    2.  Aasgabe.     1865. 

2)  S.  Suetoi]»  Caesar,  c.  76. 

3)  Tacitus.  Annales  I.  10. 

4)  Tacitus.  Annales  I.  54« 


selbst  als  Herrscher  für  ein  übermenschliches  Wesen:  ;,so  wie  der  Hirte 
kein  Bock  ist,  sondern  einer  höheren  Gattung  von  Wesen  angehört,  so 
steht  der  Herr  der  Welt  über  den  Menschen/^  Domitian  fing  daher  seine 
Briefe  so  an :  Dominus  ac  Dens  noster  i).  Folgerichtig  wurden  daher  die 
Bilder  der  Kaiser  mehr  geehrt  als  die  des  Jupiter:  es  war  dies  alles  eine 
erbärmhche  Nachäffung  einer  Universalreligion,  zugleich  Culmination  der 
volksmässigen  Ausprägung  und  Gestaltung  der  Religion,  überdiess  Extrem 
der  Verbindung  der  Religion  mit  dem  Staate,  Extrem  der  politischen  Be- 
handlung der  Religion. 

Der  Ruf  des  Kaisers  Vespasian  in  seiner  letzten  Krankheit:  ;,ich 
glaube,  ich  werde  ein  Gott"  ^) ,  enthüllt  uns  die  Hohlheit  dieses  Cäsaren- 
cultus  und  des  religiösen  Zustandes  überhaupt.  Das  Haupt  des  Staates 
verspottete  seine  eigene  Gottheit,  —  so  wie  in  den  Theatern  die  vaterlän- 
dischen Götter  und  ihre  Laster  dem  Gelächter  des  Volkes  schon  längst  preis- 
gegeben wurden.  So  kündigte  sich  das  Sinken  der  Religion  bei  den  einen 
durch  Aberglauben,  bei  den  anderen  durch  Unglauben  an.  Als  entgegen- 
gesetzte Pole  verstärkten  sie  einander  gegenseitig.  Je  krasser  der  Aber- 
glaube wurde,  desto  dreister,  unverschämter,  desto  vernichtender  für  alle 
Religion  machte  sich  der  Unglaube  geltend.  Oft  waren  Unglaube  und 
Aberglaube  in  demselben  Menschen  bei  einander.  Derselbe  Plinius  der 
Aeltere,  der  über  den  Glauben  an  eine  göttliche  Vorsehung  spottet  und 
jeden  Glauben  an  Unsterblichkeit  leugnet,  er  kann  wieder  sehr  gläubig 
über  portenta  sich  äussern.  Der  Aberglaube  wurde  genährt  durch  ein 
dunkles  Bedürfniss  nach  Vereinigung  mit  der  Gottheit,  durch  die  Schrecken 
des  Gewissens ,  das  nach  Sühnung  verlangte  für  furchtbare  sittliche  Ent- 
artung, durch  die  vielerlei  Mysterien  und  fremden  Culte,  durch  die  Men- 
schenopfer, die  in  Rom  bis  in  den  Anfang  des  4.  Jahrhunderts  stattfanden  3). 
.  HI.  Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt  die  griechische  Philosophie 
zu  diesen  Erscheinungen  ein.  Wir  bemerken  zunächst,  dass  sie  ein  auf- 
lösendes Element  für  den  religiösen  (ilauben  wird.  Nicht  als  ob  sie  von 
Anfang  an  diesen  Charakter  gehabt  hätte.  Ihre  grössten  Repräsentanten 
griffen  die  Volksreligion  nicht  an;  sie  waren  einig  in  dem  Glauben  an 
einen  höchsten  Gott,  der  den  Glauben  an  die  polytheistischen  Götter  nicht 
ausschloss,  und  sie  öfter  als  Symbole  von  Naturkräften  auffasste.  Später 
aber  änderte  die  griechische  Philosophie  dieses  accommodirende  Benehmen. 
So  huldigten  die  Epicuräer  einem  kalten  Deismus,  der  alle  Einwirkung  des 
als  abstrakt  gedachten  Gottes  auf  die  Welt  ausschloss.  Die  Stoiker  waren 
einem  Pantheismus  ergeben,  der  auf  die  ignobilis  deorum  turba  mit 
herzlicher  Verachtung  herabsah,  und  den  weisen,  tugendhaften  Mann  weit 
über  den  obersten  der  Götter  erhob.  Es  wurde  daher  angenommen,  dass  die- 
jenigen, die  sich  mit  Philosophie  beschäftigen,  den  Glauben  an  die  Götter 
aufgeben^).    Die  Art,   wie  Cäsar  und  Cato  major   im  Senate  sich  über  die 


1)  Sueton.  Caligula  c.  13. 

2)  Sueton.  Vespas.  c.  24.    „Ut  puto,    deus  üo."   Berualdus  in  seinen  Bemerkungen, 
dazu  meint  freilich,  der  Kaiser  sage  diess  im  Ernste! 

3)  Lactanz  inst.  1,  21. 

4)  Cicero  de  inventione  I.  29. 


8 

Götter  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele  aussprachen  i),  lässt  uns  einen 
Blick  werfen  in  die  Anschauungen  der  gebildeten  Kreise.  Der  römische 
Staatsmann  Yarro  (50  a.  Chr.),  der  römische  Pontifex  Scaevola,  zur  Zeit 
des  Cicero,  zeigen  uns  in  ihren  Aussagen,  auf  welchem  Standpunkte  die 
römischen  Staatsmänner  und  die  Priester  standen.  Jener  unterschied  ^}  drei 
Arten  ^genera)  von  Theologie ,  die  mythische ,  deren  sich  die  Dichter  be- 
dienen, die  physische,  die  die  Philosophen  behandelt  haben,  und  die  bür- 
gerliche, (die  Behandlung  der  Volksreligion  lediglich  vom  Standpunkte  des 
äusserlichen  Staatsinteresse)  wozu  gehört,  dass  es  sich  geziemt  zu  wissen, 
welche  Götter  man  öffentlich  verehren,  welche  Opfer  man  ihnen  bringen 
soll.  Dasselbe  sagt  Scaevola  ^)  und  setzt  hinzu :  der  wahre  Gott  habe  weder 
Geschlecht  noch  Alter  noch  bestimmte  Gliedmassen;  das  solle  aber  dem 
Volke  nicht  mitgetheilt  werden.  Er  meinte  nämlich,  in  Sachen  der  Religion 
sei  es  angemessen,  die  Leute  im  Irrthum  zu  lassen.  Strabo  meinte  auch, 
das  gemeine  Volk  und  die  Weiber  könne  man  nicht  auf  philosophischem 
Wege  zur  Frömmigkeit  und  Heiligkeit  führen,  sondern  durch  Götterverehrung, 
Mythologie  und  Wunderglauben.  Seneca  ^)  sagt  von  den  öffentlichen  Got- 
tesdiensten: „das  Alles  wird  der  W^eise  beobachten,  weil  es  durch  Gesetze 
geboten,  nicht  als  ob  es  den  Göttern  angenehm  wäre.  Aus  Juvenal  S)  er- 
sehen wir,  dass  dieser  Abfall  von  der  alten  Religion  nicht  auf  die  Kreise 
der  Gebildeten  beschränkt  blieb. 

Die  Philosophie  setzte  sich  aber  zu  der  Religion  nicht  blos  in  ein 
negatives,  sondern  auch  in  ein  i)ositives  Verhältniss.  Das  gilt  insbesondere 
von  dem  platonischen  System  der  Philosophie,  von  welchem  mit  Recht  ge- 
sagt worden  ist,  dass  es  religiöser  sei  als  irgend  ein  anderes  System  der 
alten  Philosophie.  Plato  lehrt  eine  von  der  Welt  unabhängige  Gottheit, 
wenn  nicht  u  mv  der  mosaischen  Urkunde,  so  doch  to  ov^  welche  Gottheit 
vor  Allem  durch  Sittlichkeit  zu  ehren  sei.  Durch  seine  Lehre  von  der 
intelligiblen  Welt,  von  den  angebornen  Ideen  hat  er  dem  sinnlichen  Km- 
pirismus,  der  seiner  Natur  und  Anlage  nach  immer  antireligiös  ist,  ein 
mächtiges  Gegengewicht  entgegengehalten.  Plato  hat  die  Ahnung  des 
Sündenfalles  und  der  Versöhnung,  er  spricht  die  Ansicht  aus,  dass  der  voll- 
kommene Gerechte  unter  den  Menschen  nur  ein  solcher  sein  könne,  der 
mit  Leiden  behaftet  sei.  Es  war  nun  ein  bedeutendes  Zeichen  der  Zeit, 
dass  die  platonische  Philosophie  in  der  Zeit,  wovon  wir  reden,  ziemlich 
viele  Anhänger  zählte  und  manche  nach  Wahrheit  forschende  Geister  an- 
zog. Sie  konnte  nach  zwei  Seiten  hin  eine  Wirkung  ausüben.  Sie  konnte, 
auf  das  Heidenthum  angewendet,  zur  Idealisirung  und  Rechtfertigung  des- 
selben angewendet  werden,  sie  konnte  sich  aber  auch  mit  dem  Christen- 
thiim  in  Berührung  setzen  und  zur  philosophischen  Begründung  und  Er- 
läuterung desselben  verwendet  werden.    Was   die  Idealisirung  des  Heiden- 


1)  Catilina  von  Sallust  c.  51.  52. 

2)  Augnstin  de  civitate  Del  6,  5. 

3)  Ibid.  4,  27. 

4)  Ibid.  6,  10. 

h)  Satyren  11.  v.  140. 


thums  betrifft,  so  fand  sie  statt  in  jener  Zeit,  bis  sie  im  Neuplatonismus 
ihre  volle  Ausbildung  erreichte.  Dazu  kam  die  unter  Augustus  wieder  auf- 
gebrachte pythagoreische  Lehre,  wie  sie  von  Anaxi laus  und  etwas  später 
von  Apollonius  von  Tyana  ausgebildet  und  mit  Astrologie,  Theurgie, 
Magie  und  Nekromantie  in  Verbindung  gebracht  wurde,  (n,  3  a.  Chr.  f  96 
post  Chr.).  Ausserdem  machte  sich  der  Eintluss  der  orientalischen  Philo- 
sophie geltend.  Emanation,  d.  h.  Ausströmen  gewisser  Kräfte  aus  Gott, 
mit  Ausschluss  eines  göttlichen  Willensactes  und  einer  schöpferischen 
Thätigkeit,  Dualismus,  fussend  auf  dem  absoluten  Gegensatz  von  Geist  und 
Materie  und  endigend  in  der  Annahme  von  zwei  ewigen  Prinzipien  der 
Dinge,  —  mystische  Anschauung  Gottes  ohne  aJle  Vermittlung  —  das  sind 
die  Hauptsätze  dieser  Philosophie,  wovon  besonders  der  letzte  Punkt,  die 
mystische  Anschauung  Gottes  in  den  Neuplatonismus  übergegangen  ist. 

IV.  Die  Sittlichkeit  und  die  sittlichen  Grundsätze  des  antiken  Hei- 
denthums  waren  von  jeher  in  enge  Grenzen  eingeschlossen  geblieben.  Zur 
richtigen  Beurtheilung  dieses  Punktes  muss  bemerkt  werden,  dass  dem 
Alterthum  grösstentheils  die  Idee  der  Menschheit  fehlte  so  wie  auch  die 
Idee  der  persönlichen  Freiheit  und  Selbstbestimmung.  Die  Alten  haben 
dagegen  festgehalten,  was  zwischen  der  Menschheit  und  dem  einzelnen 
Menschen  mitten  inne  liegt,  das  verbindende  Mittelglied  zwischen  beiden, 
die  Idee  des  Volkes,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  die  allgemeine  Idee  der 
Menschheit  und  die  der  persönlichen  Freiheit  und  Selbstbestimmung  in  der 
Idee  des  Volkes,  so  zu  sagen,  aufgegangen  waren.  Im  einzelnen  Volke 
selbst  machte  sich  das  Gesetz  der  nationalen  1  Beschränkung  auf  die  furcht- 
barste Weise  geltend  durch  die  Scheidung  zwischen  Freien  und  Sklaven. 
Nur  jene  bildeten  eigentlich  das  Volk  und  genossen  die  Rechte  von  Staats- 
bürgern, während  die  Sklaven,  die  ohnehin  fremder  Abstammung  waren, 
aller  bürgerlichen,  ja  aller  Menschenrechte  bar,  kaum  noch  als  Menschen 
angesehen  wurden  i).  W^enngleich  der  Zustand  derselben  sich  mit  der  Zeit 
etwas  besserte,  wie  denn  Kaiser  Claudius  verbot,  altersschwache  und  kranke 
Sklaven  auszusetzen  2),  so  blieb  derselbe  immer  noch  unglücklich  und  trost- 
los genug.  Der  Mangel  an  Achtung  v(n*  der  mensclilichen  Person,  ihrer 
Würde  und  Selbstbestimmung  zeigte  sich  auch  in  der  Stellung  der  Frau, 
in  der  absoluten  Gewalt  des  Vaters  über  seine  Kinder.  Obwohl  die  Lage 
der  beiden  mit  der  Zeit  sich  l)esserte,  so  dass  schon  unter  Augustus  ein 
Vater,  der  seinen  Sohn  getödtet  hatte,  vom  erzürnten  Volke  getrultet  wurde, 
so  blieb  doch  noch  für  beide  Vieles  zu  wünschen  übrig.  Wie  sehr  die  sitt- 
lichen BegriÜe  verdunkelt  worden,  zeigt  sich  in  der  soweit  verbreiteten 
Knabenliebe,  und  in  dem  Wahne,  dass  die  Liebe  zum  Weibe  unedel,  die 
Liebe  zu  einem  Jüngling  edel  sei,  daher  Plato  noch  in  seiner  Republik  die 
Weibergemeinschaft  forderte.  Die  Paederastie  fand  auch  bei  den  Kömern 
Eingang,  zwar  nicht  in  so  ausschweifendem  Maasse  wie  bei  den  Griechen, 
doch  in  grellerer  Gestalt  als  bei  diesen.  In  einem  politischen  Processe 
wurden  Jünglinge  aus  den  ersten  Familien  Roms  den  Richtern  angeboten, 


1)  als  cto/nttttt  otxertxit  angesehen  und  benannt  bei  Aeschinea, 

2)  Snet  in  Cl.  c.  25. 


10 

Ulli  ihre  Stimmen  zu  erkaufen.  Doch  war  durch  (his  Gesetz  auf  die 
Schändung  eines  Freien  eine  schwere  Strafe  gesetzt.  —  Harter,  gefühl- 
loser Egoismus  zeigt  sich  in  der  Art  und  Weise,  wie  man  die  Armen 
ansah  und  behandelte.  Quinctilian  fragt:  ^^Könntest  du  dich  soweit  her- 
ablassen und  einen  Armen  nicht  mit  Ekel  von  dir  stossen^*?  Plautus 
äussert  sich  nicht  humaner:  ,,VVozu  dem  Armen  etwas  geben?  man  ver- 
liert, was  man  gibt  und  verlängert  dem  Armen  ein  elendes  Leben."  Dieser 
Egoismus  trat  unverhüllt  hervor  in  anderer  Beziehung,  seitdem  mit  dem 
Verschwinden  der  politischen  Unabhängigkeit,  unter  den  römischen  Impe- 
ratoren, welche  grundsätzlich  die  Nationalitäten  niederzutreten  suchten,  die 
Liebe  zum  Yaterlande  mehr  und  mehr  im  Verschwinden  begriffen  war. 
Tief  gesunkene  Sittlichkeit,  wie  sie  uns  die  Satyriker  Persius  und  Juvenal 
und  Seneca  de  ira  schildern,  ist  die  Signatur  zumal  der  Kaiserzeit,  die 
Weisen  sahen  die  Vergeblichkeit  des  Kampfes  gegen  das  herrschende  Ver- 
derben, die  Ohnmacht  aller  Gesetze  ein.  Das  sittliche  Verderben  zeigte  sich 
zwar  am  tiefsten  und  schrecklichsten  in  Rom,  allein  Rom  verbreitete  seinen 
verpestenden  Einfiuss  auf  die  Provinzen.  Der  Hang  zu  Ausschweifungen 
entwickelte  sich  in  riesenhaften  Dimensionen.  Dieselbe  Energie,  die  vor- 
dem auf  die  Bezwingung  der  Völker  der  Erde  verwendet  worden,  warf 
sich  nun  auf  Befriedigung  der  sinnlichen  Lust  in  ihrer  grässlichsteu  Aus- 
artung, wozu  Kaiser  wie  Tiberius  und  Nero  das  Beispiel  gaben  in  einer 
Weise,  wie  Sueton  sagt,  die  man  kaum  glauben,  kaum  aussprechen  kann  ^). 
Einige  edle ,  stolze  Seelen  flüchteten  sich  aus  dieser  Fluth  des  Verderbens 
in  die  stoische  Selbstgenügsamkeit  und  Weltverachtung ;  doch  diese,  stoische 
Tugend  war  keineswegs  geeignet,  einen  irgendwie  weit  verbreiteten  Ein- 
fluss  zu  erlangen.  Es  fehlte  der  stoischen  Tugend  die  religiöse  Grund- 
lage, wie  denn  auch  bei  Tacitus  das  Göttliche  vor  dem  Menschlichen  zu- 
rücktritt, seine  Wirksamkeit  und  sein  Einfluss  auf  die  Welt,  auf  das  Le- 
ben und  Treiben  der  Menschen  in  Zweifel  gezogen  oder  gar  geläugnet 
wird.  Doch  das  hindert  Tacitus  nicht,  an  anderen  Stellen  den  römischen 
Staat  als  unter  der  Wucht  des  göttlichen  Zornes  liegend  zu  betrachten  2). 

Das  tiefste  Gebrechen  der  heidnischen  Völker  ,und  die  Quelle  aller 
anderen  Gebrechen  ist  überhaupt  auf  dem  religiösen  Gebiete  zu  suchen  — 
in  der  Verdunkelung  und  Verzerrung  des  ursprünglichen  Gottesbewusstseins. 
So  wie  aber  der  menschliche  Geist,  weil  aus  (Jott  entsprungen,  mitten  in 
seinen  Verirr ungen  für  die  Wahrheit  unwillkürlich  zeugen  inuss*,  so  regte 
sich  in  der  heidnischen  Welt  das  Bewusstsein,  dass  die  aus  der  Verdunkel- 
ung und  Verzerrung  des  Gottesbewusstseins  hervorgegangenen  Religionen 
mit  dem  Glauben  an  den  gesammten  Goetterstaat  sich  ausgelebt  hatten 
ohne  Hotfnung  auf  Neubelebung.  Dafür  konnte  freilich  der  Glaube  an  die 
dunkle,  geheimniss volle  Macht  des  Schicksals  (avarxrj,  ^otga).  die  selbst 
als  die  Goetter    beherrschend  ^ gedacht  wurde,    wie  Herodot  ausdrücklich 


1)  Sueton  in  Tib.  c.  43.  44. 

2)  Annales  4,  1  wo  von  Deum  ira  in  rem  Romanam  die  Rede  ist.    16,  16,  Ira  illa 
numinum  iu  res  Romanas. 


11 

bezeugt  i) ,,  keinen  Ersatz  bieten  und  keinen  Trost  gewähren.  Dunkel 
blieb  die  Aussicht  in  die  Zukunft.  Wie  verschieden  von  der  Otfenbarungs- 
religion !  Der  alte  Bund  schliesst  sich  ab  mit  der  Weissagung  eines  neuen 
Bundes  Gottes  mit  seinem  Volke  (Jeremia  31,  31),  der  neue  Bund  mit  der 
Weissagung,  dass  Christus  nach  üeberwindung  aller  Feinde  das  Reich  dem 
Vater  übergeben  werde  (1  Kor.  15,  24). 


Zweites  Capitel.    Zustand  des  jüdischen  Volkes. 

I.  Mitten  in  der  Finsterniss,  worin  der  Polytheismus  in  seinen  man- 
nigfaltigen Gestalten  das  Gottesbewusstsein  der  Völker  der  alten  Welt 
eingehüllt  hatte ,  war  seit  uralten  Zeiten  ein  lichter  Punkt  auf  Erden ,  wo 
vermöge  göttlicher  Offenbarung  der  Monotheismus  sich  eine  Wohnstätte 
bereitet  hatte.  Denn  es  ist  eine  grundfalsche  Annahme,  dass  der  (ilaube 
an  Einen  Gott  bei  den  Juden  auf  ihrer  Naturanlage  als  Semiten  ruhte. 
Alle  Semiten,  mit  einziger  Ausnahme  der  Juden,  waren  Polytheisten ,  — 
auch  die  Araber  vor  Muhammed,  der  seinen  Monotheismus  aus  der  Bibel 
schöpfte  2j.  Jene  göttliche  Offenbarung ,  durch  gewaltige  Thatsachen  sich 
wirksam  erweisend,  das  Uebernatürliche  in  die  geschichtliche  Entwicklung 
einfügend,  hatte  eigentlich  das  jüdische  Volk  geschaffen  und  zum  Volke 
Gottes  auserwählt ,  so  dass  dasselbe  als  von  Gott  im  Grossen  und  im  Klei- 
nen beherrscht,  ein  Reich  Gottes,  eine  Theokratie  in  nationaler  Form  und 
Beschränkung  darstellte,  die  bestimmt  war,  einst  die  ihrem  Wesen  nicht 
adäquate  Form  zu  sprengen  und  so  das  Heil  der  Heiden  zu  werden.  Diese 
Bestimmung  knüpfte  sich  an  die  Person  des  Messias,  welche  eine  Zusam- 
menfassung aller  wesentlichen  Momente  des  jüdischen  Gottesglaubens  war, 
und  zwar  so,  dass  dieser  Person  im  Verlaufe  der  sich  entwickelnden  Offen- 
barung bereits  Attribute  beigelegt  wurden,  welche  sie  über  die  Linie  der 
Menschheit  hinausstellten,  zum  Behuf  der  Lösung  der  ihr  gewordenen, 
die  ganze  Menschheit  umfassenden  Aufgabe. 

Doch  welch  ein  Contrast  zwischen  der  hohen  Bestimmung  des  Volkes 
und  seiner  damaligen  Lage!  Abgesehen  von  der  Offenbarung,  deren  Trä- 
ger sie  waren,  hatte  sich  bei  den  Juden  Alles  geändert,  Aeusseres  und 
Inneres;  nur  war  ihr  Herz  in  gewissem  Sinne  noch  immer  eben  so  hart 
geblieben  wie  in  den  Tagen  der  Vorzeit.  Nachdem  sie  mehrfachen  Wech- 
sel fremder  Herrschaft  erfahren  und  unter  den  Makkabäern  eine  Zeitlang 
einen  eigenen,  unabhängigen  Staat  gebildet  hatten  (167  —  63  a.  Chr.), 
musste  der  letzte  Makkabäer,  Hyrcan,  die  römische  Oberhoheit  anerken- 
nen.   Die  Idumäischen  Könige ,   die   ihm  nachfolgten  und  wovon  der  erste, 


1)  1,  91.     rr^y  TTBTtQOJ^ifyijy  fxoigrjv  a^wara  (Gtip  anocpvysfty  xcci   B^do. 

2)  ßoentsch,  über  Indogermanen  -  und  Semitenthum.  —  S.  auch  J.  G.  Müller,  die 
Semiten  in  ihrem  Verhältniss  zu  Chamiten  und  Japhetiten  S.  61 :  „dieses  Gottesbewusst- 
sein (der  Hebräer)  bildete  einen  schroffen  Gegensatz  gegen  die  Religionen  aller  anderen 
Völker,  auch  die  anderen  Semiten  nicht  ausgenommen.'' 


12 

Herodes  der  Grosse  vom  J.  40  a.  Chr.  bis  4  p.  Chr.  regierte,  fügten  sich 
unter  die  römische  Oberhoheit.  Schon  nach  der  Verweisung"  des  Archelaus 
(6  p.  Chr.),  der  über  Judäa ,  Idumäa  und  Samarien  regierte ,  wurden  diese 
Landschaften  römische  Provinz,  verwaltet  von  römischen  Procuratoren, 
wovon  der  fünfte  Pontius  Pilatus  (28  —  37  p.  Chr.)  war.  Eine  Zeitlang 
wurde  ganz  Palästina  wieder  unter  dem  Zepter  eines  idumäischen  Königs 
vereinigt,  des  Herodes  Agrippa,  durch  die  Gnade  des  Kaisers  Claudius 
zum  Könige  gemacht.  Nach  seinem  Tode  wurde  das  ganze  Land  wieder 
römische  Provinz  und  unter  die  Verwaltung  von  Procuratoren  gestellt. 

Noch  in  anderer  Beziehung  hatte  sich,  was  die  äusseren  Verhältnisse 
betrifft,  der  Zustand  des  jüdischen  Volkes  geändert.  Die  Auswanderung 
der  Juden  hatte  schon  zur  Zeit  der  babylonischen  Gefangenschaft  ihren 
Anfang  genommen.  Viele  machten  damals  von  der  Erlaubniss  des  Cyrus, 
in  ihr  Vaterland  zurückzukehren,  keinen  Gebrauch.  So  kam  es,  dass  sie 
sich  in  Asien  weit  verbreiteten  und  überall  eifrige  Propaganda  machten. 
Im  römischen  Pieiche  waren  sie  an  sehr  vielen  Orten  zu  finden,  so  dass 
man  sagen  konnte ,  es  gebe  nicht  leicht  einen  Ort  auf  Erden ,  der  dieses 
Volk  nicht  beherberge  und  der  nicht  in  seiner  Gewalt  sei.  In  dem  reichen 
Alexandrien  machten  sie  zwei  Fünftel  der  Bevölkerung  aus.  In  Egyi)ten 
waren  nahezu  eine  Million  Juden,  in  Cyrene  und  Libyen  annähernd  eben  so 
viele.  In  Syrien  waren  sie  ebenfalls  sehr  zahlreich,  besonders  in  An- 
tiochien;  wie  es  denn  nach  Strabo  im  römischen  und  im  parthischen  Eeiche 
nicht  leicht  eine  grössere  Stadt  gab,  w^orin  die  Juden  nicht  ihr  Geschäft 
trieben.  —  Auch  in  Kleinasien  und  in  Griechenland  finden  wfr  sie.  Nach 
Rom  brachte  Pompejus  die  ersten  Juden  als  Kriegsgefangene.  Sie  wurden 
bald  freigelassen.  Die  einen  kehrten  nach  Palästina  zurüclv  und  stifteten 
in  Jerusalem  die  Synagoge  der  Libertiner  i),  die  anderen  blieben  in  Rom, 
erhielten  von  Cäsar  die  Erlaubniss  in  Rom  Synagogen  zu  errichten.  Sie 
bew^ohnten  den  grössten  Theil  des  Stadtgebietes  jenseits  der  Tiber.  Fast 
überall,  wo  sie  sich  ansiedelten,  wurde  der  Handel  ihre  unbestrittene 
Domäne.  So  war  die  Kornausfuhr  aus  Alexandrien  nach  Rom  in  ihren 
Händen.  Der  Reichthum,  den  sie  sich  durch  ihre  Rüstigkeit  und  Geschick- 
lichkeit im  Handel  verschafften,  kam  ihrer  äusseren  Stellung  zu  Gute. 
Sie  genossen  das  Bürgerrecht,  hatten  Autonomie  in  der  Verwaltung  ihrer 
inneren  Angelegenheiten,  waren  frei  vom  Kriegsdienste,  von  einigen  Ab- 
gaben; kaum  waren  Juden  Sklaven,  denn  man  konnte  sie  als  solche  nicht 
brauchen.  Sie  genossen  schon  unter  Cäsar  Religionsfreiheit,  sie  konnten 
sich  ungehindert  kirchlich  organisiren  und  ihr  Gesetz  beobachten.  Ihre 
Synagogalvereiue  wurden  in  die  Classe  der  collegia  licita  gesetzt,  die 
Gesetze  gegen  die  Hetärien  auf  sie  nicht  angewendet.  Der  Befehl  des 
wahnsinnigen  Caligula,  sein  Bildniss  im  Tempel  von  Jerusalem  aufzustel- 
len, scheiterte  zuletzt  am  Widerstände  der  Juden.  Es  war  dieser  Befehl 
eine  grosse  Abnormität;  denn,  antiker  Anschauung  gemäss,  hatten  schon 
Alexander,  Ptolemäus  Euergetes,  Seleucus  Philopator,  so  wie  auch  Au- 
gustus  dem  Gotte  der  Juden  ihre  Huldigung  dargebracht.     Daher  konnten 


1)  Apostelgesch.  6,  9, 


13 

die  ausserhalb  Palästina's  wohnenden  Juden,  die  öiaanoqa  genannt,  unge- 
hindert die  Verbindung  mit  dem  Tempel  in  Jerusalem  festhalten ;  sie  zahl- 
ten für  die  Unterhaltung  desselben  eine  bestinmite  Abgabe  und  besuchten, 
nach  gesetzlicher  Verordnung  den  Tempel  in  Jerusalem  an  den  grossen 
Festen.  Das  Synedrium  in  Jerusalem  betrachteten  sie  als  ihre  kirchliche 
Oberbehörde.  —  Alle  Juden  aber  wurden  von  den  Heiden  verachte^;  denn 
man  kannte  ihre  Verachtung  der  ausländischen  Gottheiten;  ihr  Handels- 
geist zeigte  sie  wie  noch  jetzt  in  ungünstigem  Lichte;  ihre  Reichthümer 
erweckten  Neid.  Man  hasste  sie  als  Menschenfeinde;  Tacitus  zumal  kann 
sie  nicht  hart  genug  beurtheilen.  In  ihrem  Verhältniss  zu  einander,  sagt 
er,  beweisen  sie  unbedingtes  Vertrauen  und  unterstützen  einander,  aber 
gegen  alle  anderen  Menschen  hegen  sie  feindlichen  Hass.  Daher  er  sie 
als  die  verachtetste  Classe  der  römischen  Unterthanen,  als  die  niederste 
Art  von  Menschen  autführt  i).  Besonders  in  Egypten  waren  sie  furchtbar 
verhasst.  Es  lebte  im  Volke  eine  alte  und  gewissermassen  angeborne 
Feindschaft  gegen  sie,  wie  Philo  berichtet,  daher  die  blutige  Verfolgung 
gegen  sie  um  die  Zeit  der  Geburt  Christi.  Diese  Feindschaft  und  Ver- 
achtung, letztere  gegründet  auf  die  Lage  der  Juden  überhaupt  als  eines 
unterjochten  Volkes,  dessen  Gott  sich  als  ohnmächtig"  erwiesen  2),  zeigte 
sich  in  der  Travestie  ihrer  ältesten  Geschichte  3)  und  in  den  Vorstellungen 
über  den  Gegenstand  ihrer  Verehrung,  wofür  die  Einen  einen  Eselskopf  *), 
die  Anderen  ein  Schwein  ausgaben  0).  Das  Märchen,  dass  die  Juden 
jährlich  einen  Griechen,  den  sie  vorher  gemästet  haben,  t()dten  und  von 
seinen  P'.ingeweiden  etwas  geniessen  ^>) ,  darauf  berechnet,  den  wildesten 
Hass  gegen  sie  zu  nähren,  ist  ein  V(n-läufer  ähnlicher  Märchen,  die  gegen 
die  ersten  Christen,  in  der  Zeit  des  Mittelalters  gegen  gewisse  Ketzer, 
in  der  Neuzeit  gegen  die  sogenannten  Momiers  im  Waadtlande  erfunden 
wurden. 

H.  Wie  war  alwr  der  religiös -sittliche  und  (U^r  intellektuelle  Zu- 
stand beschaffen?  In  den  alten  Zeiten  hatte  dieses  Volk  nur  zeitweilige 
Anläufe  genommen  zur  Erreichung  des  ihm  von  seinem  Gotte  durch 
Mosen  und  die  Propheten  vorgesteckten  Zieles,  welches  für  seine  Hart- 
herzigkeit und  seinen  irdischen  Sinn  zu  hoch  war.  Die  alte  Geschichte  des 
Volkes,  wie  wir  sie  aus  dem  A.  T.  kennen  lernen,  zeigt  —  zum  deutlichen 
Beweise,  wie  wenig  der  Monotheisnuis  populär  war  —  regelmässig  wieder- 
kehrende Rückfälle  in  den  polytheistischen  Götzendienst,  verbunden  mit 
der  von  den  Propheten  so  strenge  untersagten  Anschliessung  an  fremde 
Völker.  Seit  der  Zerstörung  Jerusalems  durch  Nebukadnezar ,  seit  der 
Rückkehr  aus  dem  Exil  hörte  zwar  der  Hang  zum  Götzendienste  auf  und 
der    strengste  Monotheismus    erlangte    unbedingte    Herrschaft.      Absolute 


1)  Bist.  5,  5.  8. 

2)  Im  Octavius  des  Min.  Felix,  c.  10. 

3)  Durch  Manetho  bei  Jos.  c.  Apionem  1,  26,  bei  Justin  36,  2.     Tacitus  liist.  5,  2. 

4)  Tacitus  1.  c.  5,  4. 

5)  Plutarch  im  Symposion. 

6)  Joseph  contra  Apionem  2,  8. 


14 

Unterwerfung  unter  das  Gesetz  und  dessen  noch  ins  Masslose  vermehrten 
religiösen  Gebote  wurde  der  Grundton  in  der  Stimmung  des  Volkes.  Un- 
ter Antioclms  Epiphanes  hatte  der  jüdische  Cultus  seine  Heldenzeit  und 
wurde  eben  dadurch  dem  religiösen  Bewusstsein  des  Volkes  mit  unaus- 
löschlichen Zügen  eingeju-ägt.  In  der  ;Ileligionsverfolgung  unter  jenem 
Könige  zogen  Viele  den  furchtbarsten  Märtyrertod  vor,  statt  in  einem  klei- 
nen Punkte  vom  Gesetze  abzuweichen  M.  Sehr  wirksam  für  Aufrechthalt- 
ung des  Gesetzes  wurden  die  seit  der  Rückkehr  aus  der  babylonischen 
Gefangenschaft  gestifteten  Synagogen  -),  welche  eine  eigene  Verfassung 
hatten,  und  worin  das  Gesetz  gelesen  und  erklärt  wurde,  wobei  der  Rabbi 
bald  wichtiger,  einflussreicher  wurde  als  der  Priester.  Es  ist  aus  dem 
N.  T.  bekannt  und  durch  den  Tlialmud  gehörig  documentirt ,  wie  sehr  der 
cerimonielle  Theil  des  Gesetzes  durch  Zusätze  geschärft,  so  dass  z.  B. 
am  Sabbath  dreissig  verschiedene  Arten  von  Arbeiten  untersagt  waren, 
Avie  sehr  der  sittliche  Theil  des  Gesetzes  durch  Zusätze  geschwächt  wurde, 
wie  sehr  die  Synagogen ,  die  doch  an  sich  selbst  ein  Fortschritt  über  den 
alten  Opfercultus  hinaus  w^iren  und  daher  ein  Vorbild  wurden  für  die 
älteste  gottesdienstliche  Ordnung  und  Verfassung  der  christlichen  Kirche, 
wie  sehr  diese  Synagogen  äusserliche,  geistlose  Religiosität  und  Formalis- 
mus begünstigten.  Je  mehr  nun  aber  das  Volk  das  Drückende  seines 
Zustandes  fühlte,  desto  mehr  klammerte  es  sich  an  die  Hoffnung  der  bal- 
digen Ankunft  seines  Älessias  an.  Diese  Hoffnung  wurde  mit  grellen  Far- 
ben ausgeschmückt  und  war  als  solche  eine  wesentliche  Stütze  des  Reli- 
gionsfanatisnnis.  Nur  wenige  fromme  Seelen  erwarteten  in  stiller  Ergebung 
den  Trost  Israels  im  geistigen  Sinne  des  Wortes  (Luc.  2,  38).  So  ver- 
fielen die  Juden  in  denselben  Fehler,  den  wir  bei  den  Römern  wahrge- 
nommen haben.  Ihr  Gott,  ihr  Messias  wurde  mit  dem  Vaterlande  identi- 
fizirt,  ihre  Volksleidenschaften  wurden  auf  den  Messias  übertragen ,  der 
das  Volk  Israel  zum  weltbeherrschenden  machen  sollte.  Zu  Grunde  lag 
eine  buchstäbliclie  Auffassung  der  alttestamentlichen  Weissagungen,  ver- 
möge welcher  deren  ewiger,  universaler  Gehalt  mit  ihrer  national  be- 
schränkten Form  verwechselt  wurde,  eine  Abirrung,  die  bis  auf  die  neue- 
sten Tage  auch  in  christlichen  Kreisen  sich  zeigt. 

Inmitten  solcher  Umstände  und  Verhältnisse  hatten  sich  unter  dem 
jüdischen  Volke  zwei  Haupti)artheien  (aiQSffsig)  gebildet,  die  man  unrichti- 
gerweise Sekten  genannt  hat.  Auf  der  einen  Seite  sehen  wir  eine  Richt- 
ung, welche  am  festesten  und  folgerichtigsten  das  seit  der  Rückkehr  aus 
dem  Exil  begonnene  Nationalwerk  der  Gründung  des  Volkes  auf  das  Ge- 
setz und  Unterwerfung  unter  das  Gesetz  fortführte  und  dadurch  für  die 
nächste  und  für  die  folgende  Zeit  die  wichtigste  geworden  ist.  Von  allen 
Grundsätzen  des  Judenthums  ergriffen  die  Leute  diese  Richtung  am  eifrig- 
sten den  der  Isolirung  des  ächten  Israeliten  von  allem,  was  dem  Urbilde 
der  GesetzUchkeit  ferne  stand  —  zunächst  vom  Heidenthum  überhaupt, 
sodann  von  allen,  noch  so  rechtgläubigen  Volksgenossen,  w^elche  sich  nicht 


1)  2  Makkabäer  c.  7. 

2)  S.  die  Art.  Synagogen  in  der  Realencyklop. 


15 

gleicher  Strenge  beflissen.  Sie  hiessen  um  deswillen  die  Abgesonderten 
D'^IÖIIÖ ,  von  Suidas  atpdOQtcT^evoi  übersetzt  —  woraus  der  Name  Pharisäer 
entstanden.  Sie  pflegten  die  Volkserziehung,  wie  sie  in  den  Synagogen 
erstrebt  w  urde,  fügten  aber  in  wachsendem  Maasse  wissenschaftliche  Schul- 
bildung hinzu.  Sie  hielten  fest  am  Glauben  der  Väter  und  können  inso- 
fern als  die  Orthodoxen  bezeichnet  werden.  In  i)olitischer  Hinsicht  er- 
strebten sie  die  Unabhängigkeit  des  Landes  und  Volkes,  alles  Eingehen  in 
hellenische  Bildung  war  ihnen  in  tiefster  Seele  verhasst.  Sie  waren  die 
Partei  der  Patrioten  —  gritfen  tief  ins  Leben  des  Volkes  ein ,  bei  dem 
sie  in  hoher  Achtung  standen,  wenn  gleich  gewisse  Spitznamen,  die  ihnen 
gegeben  wurden,  beweisen,  dass  man  unter  der  Hülle  gesetzlicher  Fröm- 
migkeit ihre  Fehler  doch  erkannte.  Als  Schöpfer  und  Erhalter  des  heuti- 
gen Judenthums  und  der  Güter,  die  ihnen  anvertraut  waren,  bis  auf  die 
Zeit,  wo  dieselben  in  besser  geleiteten  Händen  nicht  das  Majorat  eines 
kleinen  Volkes,  sondern  Gemeingut  der  ganzen  Menschheit  werden  sollten, 
haben  sie  grosse  Verdienste,  die  freilich  durch  ebenso  grosse  Fehler  auf- 
gewogen werden.  Wenn  das  Judenthum  ihnen  vieles  verdankt,  so  sind 
sie  auch  haui)tsächlich  Schuld  an  der  Verstossung  Jesu  durch  sein  Volk 
und  an  der  darauf  folgenden  Katastrophe  des  jüdischen  Staates.  All  ihre 
Gesetzesgerechtigkeit  lief  aus  in  das  ungeheuerste  Verbrechen,  all  ihre 
Kenntniss  des  Gesetzes  in  die  schrecklichste  Verblendung  in  Beziehung 
auf  die  höchste  Erfüllung  der  göttlichen  Verheissungen ,  all  ihr  Patriotis- 
mus in  die  wirksamste  Vorbereitung  des  Unterganges  des  jüdischen  Staa- 
tes. —  Das  Widerspiel  der  Pharisäer,  obschon  neben  ihnen  wirkend  und 
selbst  im  Synedrium  neben  ihnen  sitzend  sind  die  Sadducäer,  von  un- 
gewissem Alter  und  Ursprünge.  Unter  den  vielerlei  Vernuithuugen ,  die 
darüber  so  wie  über  ihren  Namen  sind  autgestellt  worden,  ist  die  wahr- 
scheinlichste diese,  dass  sie,  im  Gegensatz  gegen  die  Pharisäer,  die  sich 
ausschliesslich  Gesetzesgerechtigkeit  vindizirten,  sich  als  Gerechte*  hin- 
stellten, als  C'^p'^li^^  ^^ich  so  nennend  ctno  dixaioavvriq ,  wie  Epiphaiiius 
haeresis  14  berichtet.  Es  war  nämlich  von  vorn  herein  zu  erwarten,  dass  die 
gesetzliche  Richtung  der  Pharisäer  und  die  vielfachen  Zusätze,  die  sie  zum 
Gesetz  aus  der  mündlichen  Trath'tiou  machten,  eine  Reaction  hervorrufen 
würden.  Diese  knüpfte  sich  an  die  Sadducäer.  Sie  standen  aber  mit  (Umi 
Pharisäern  auf  demselben  Boden  des  Mosaisnuis.  nur  dass  sie  behaui>teten, 
die  altväterliche  Religion  rein  zu  bewahren,  wobei  der  Li-thum  abzuwehren 
ist,  als  ob  sie  blos  den  Pentateuch  als  kanonisch  angenommen  hätten. 
Aber  so  viel  steht  fest,  dass  sie  viele  Ritualien  geringschätzig  betrachteten 
und  als»  Priester  selbst  zuweilen  im  Tempel  Aergerniss  gaben.  Im  Ein- 
zelnen lehrten  sie,  dass  es  keine  Auferstehung  gebe  i),  sie  leugneten  das 
Dasein  der  Engel  und  körperlos  ausser  Gott  existirender  Geister.  Jo- 
sephus  berichtet  sogar,  dass  sie  lehrten,  die  Seele  des  Menschen  löse 
sich  im  Tode  auf  2).     Derselbe   führt  als  Lehre  von  ihnen   an,    dass  Gott 


1)  Matth.  22,  23. 

2)  BeUum  jud.  2,  8.  14. 


16 

auf  die  Handlungen  der  Menschen  keinen  Einfluss  ausübe  *) ,  hiebei  vom 
Bestreben  geleitet,  Gott  ausser  aller  Beziehung  zum  Bösen  zu  setzen  und 
dem  Menschen  die  Tugend  als  sein  reinstes  Eigenthum  zu  vindiziren.  Die 
Sadducäer  bequemten  sich  im  Unterschiede  von  den  Pharisäern  unter  die 
Fremdherrschaft  und  wehrten  sich  weniger  als  diese  gegen  den  Einfluss, 
den  dieselbe  auch  in  anderen  als  politischen  Dingen  üben  mochte.  Sie 
wollten  also  nicht  wie  die  Pharisäer  eine  ausschliesslich  nationale  Ent- 
wicklung, sondern  auch  Fremdes  aufnehmen.  Während  der  Pharisäismu^s 
den  schärfsten  jüdischen  Particularisnuis  festhielt,  hegte  die  sadducäische 
Partei  weltbürgerliche  Tendenzen.  Sie  fanden  sich  daher  vorwiegend  in  den 
höheren  Classen  der  Gesellschaft,  waren  im  Ganzen  wenig  zahlreich,  und 
vom  Volke  bei  weitem  nicht  so  geachtet  wie  die  Pharisäer.  Sie  mögen 
im  Einzelnen  durch  -Luxus  und  Unsittlichkeit  Anstoss  gegeben  haben. 
Nichts  berechtigt  uns  aber,  sie,  wie  die  Juden  des  Mittelalters  es  thaten, 
als  Epicuräer  anzusehen,  wobei  man  sie  auch  mit  dem  Vorwurfe  des 
Atheismus  und  Materialismus  belastete.  Dem  Christenthum  gegenüber 
erscheinen  sie  keineswegs  in  günstigerem  Lichte  als  die  Pharisäer,  wie 
das  N.  T.  es  deutlich  beweist.  Ja,  sie  stehen  in  dieser  Beziehung  tiefer 
als  die  Pharisäer.  Kein  Nikodenuis,  kein  Gamaliel  trat  unter  ihnen  auf  2). 
Es  wird  nicht  gemeldet,  dass  einer  von  ihnen  zum  christlichen  Glauben 
übertrat,  während  ausser  Paulus  die  Ai)ostelgesch.  15,  f)  von  einigen 
Pharisäern  weiss,  die  gläubig  geworden. 

Gänzlich  verschieden  von  den  bis  jetzt  genannten  Parteien  der  Ju- 
den ,  ist  eine  dritte ,  auf  welche  allein  der  Name  Sekte  anwendbar  ist.  Es 
sind  die  Essener,  Eaarjvoi  bei  Josephus,  der  wohl  das  Richtige  hat, 
Eaaaiot  bei  Philo.  Der  Name  ist  am  wahrscheinlichsten  abzuleiten  vom 
Aramäischen  XON,  heilen,  also  die  Heilenden,  weil  ihre  ganze  Lebens- 
weise ein  Heilmittel  gegen  das  Verderben  der  Welt  sein  sollte.  Ihr  Ur- 
sprung geht  auf  die  Mitte  des  2.  Jahrh.  a.  Chr.  zurück,  sie  wohnten, 
theils  von  den  Volks.genossen  abgesondert,  in  eigenen  Kolonien  am  todten 
Meere,  theils  in  Städten  und  Dörfern  Palästina^  und  Syriens  mit  jenen 
zusammen,  40(X)  an  der  Zahl,  eine  Art  von  asiatischem  Mönchsorden  mit 
hierarchischer  Verfassung  und  Gütergemeinschaft,  strenger  Askese  erge- 
ben, so  dass  wenigstens  ein  Theil  ehelos  lebte,  aber  den  jüdischen  Reli- 
gionsgiauben  bewahrend  3),  wegen  ihrer  Abgeschlossenheit  ohne  Einfluss 
auf  die  übrigen  Juden,  übrigens  ausgeschlossen  vom  Tempel,  weil  sie 
keine  Thieropfer  bringen  wollten.  Von  Bedeutung  war  es,  dass  ihr  Leben 
sich  nicht  auf  Theokratie,  Tempel  und  Politik  bezog,  dass  sie  auf  innere 
Wiedergeburt  und  Beschneidung  des  Herzens  drangen  ^). . 


1)  Autiq.  13,  5.  9. 

2)  Apostelgesch.  5,  34. 

3)  Ob,  wie  Kitschi  meint,"  vom  Bestreben  erfüllt,  den  Charakter  des  Priesterkönig- 
reiches,  welches  dem  Volke  Israel  zugesprochen  war  Exod.  19,  6  zu  verwirklichen  (daher 
ausschliesslicher  Genuss  heiliger  Opferspeise,  tägliche  Lustrationen,  leinene  Kleidung)  bleibt 
dahingestellt. 

4)  S.  Philo,    quod    omnis   probus   liber.     Euseb.    praeparatio    evang.  8,  11,   Jo- 


17 

Die  Unschuld  und  Reinheit  der  Sitten  der  Essener  bildete  einen  wohl-- 
thuenden  Contrast  gegen  die  auch  unter  den  Juden  eingerissene  Sitten- 
losigkeit  und  Gottlosigkeit,  >vovon  Josephus  ^j  ein  abschreckendes  Bild  ent- 
wirft ;  sie  war  zum  Theil  Folge  der  Berührung  mit  den  Römern.  Als  Wir- 
kung solcher  Yerderbniss,  als  grelles  Zeichen  eines  tief  zerrütteten  Zu- 
standes  in  Religion  und  Sittlichkeit  stellen  sich  uns  die  Dämonischen  dar. 
So  sehr  war  der  Geist  aus  Israel  gewichen,  dass  nicht  nur  kein  Prophet 
mehr  aufstand,  durch  den  der  Herr  zu  seinem  Volke  rodete,  sondern  dass 
Einzelne  in  Grausenerregender  Geisteszerrüttung  die  ()i)fer  dämonischer 
Einwirkungen  wurden.  So  waren  an  die  Stelle  der  prophetischen  Begei- 
sterung, als  teuflische  Carricatur  derselben,  die  schäumende  Wuth  und  die 
Tobsucht  der  Besessenen  getreten.  Es  schien,  als  ob  die  unteren 
Mächte  ihre  Kräfte  zusannnenraffen  wollten,  dem  kommenden  Lichte,  das 
sie  als  solches  erkennen,  Widerstand  zu  leisten. 

III.  Von  wesentlicher  Bedeutung  ist  die  Berührung  der  Juden  mit 
den  heidnischen  Völkern,  unter  denen  sie  lebten.  Sie  war  doppelter  Art, 
indem  die  Juden  theils  auf  die  Heiden  einwirkten  und  sie  zu  sich  heran- 
zogen, theils  aber  auch  Einwirkungen  von  den  Heiden  empfingen  und  in 
den  Kreis  der  hellenischen  Bildung  hineingezogen  wurden.  Die  erste  Art 
der  Berührung  führt  zum  jüdischen  Proselytenwesen.  (nqoariXvToq  nach 
Suidas  soviel  als  TTQoaelfjXv&cog^  nämlich  zu  den  Juden,  advenae).  Von 
jeher  hatte  es  solche  gegeben,  d.  h.  Nicht-Israeliten,  die  durch  Bekehrung 
zum  Glauben  Israels  und  zur  Haltung  des  mosaischen  Gesetzes  in  Israel 
naturalisirt  wurden,  in  vollkonmiener  Uebereinstimmung  mit  dem  Geiste  des 
Gesetzes.  Denn  Fremdlinge  wohnten  jederzeit  vom  Auszug  aus  Aegyi)ten  an 
unter  Israel  2).  In  der  davidisch-salomonischen  Zeit  war  die  Zahl  dieser  Fremd- 
linge auf  153,600  gestiegen  3),  wovon  manche  wohl  durch  Beschneidung  sicli 
vollkonnnen  nationalisiren  Hessen  und  volles  Anrecht  an  den  ^'orrechten  und 
Heilsgütern  des  auserwählten  Volkes  erlangten.  Auch  diejenigen,  w^elche  sich 
der  Besclmeidung  nicht  unterzogen,  wenn  sie  nur  gewisser  heidnischer 
Greuel  sich  enthielten,  fanden  Schutz  und  Begünstigung.  In  den  ersten 
Jahrhunderten  nach  dem  Exil  waren  die  Uebertritte  zum  Judenthum  nur 
vereinzelt.  Nun  aber  wurden  durch  Eindringen  griechischer  Bildung  und 
Sitte  von  Aegypten  und  Syrien  aus  dem  ächten  Judenthum  schwere  Kämpfe 
bereitet.  Namentlich  vom  Tode  Simonis  des  Gerechten  (f  198  v.  Chr.)  an 
riss  die  Apostasie  ein  *) ,  was  nothwendig  eine  Reaction  hervorrief.  Daher 
in  der  makkabäischen  Zeit  eine  eifrige  Propaganda  begann.  Job.  Hyrcanus 
zwang  die  Idumäer  129  a.  Chr.  zur  Beschneidung,  auch  die  Ituräer  nahmen 
nach  Aristobulus  die  Beschneidung  an.  So  gewaltthätig  war  dieser  Prose- 
lytismus,  dass  Pella  zerstört  wurde,  weil  es  sich  geweigert,  das  Juden- 
thum anzunebmen.    Von   dieser  Zeit  an  entbrannte  auch  der  pharisäische 


sephus,  der  selbst  Essener  war,  de  vita  sua  §.2  de  bello  jud.  2,  8.  2—13.    S.  Ritsclil, 
die  Entstehung  d.  altkathol.  Kirche  2.  Auflage  S.  178  ff. 

1)  de  bello  jud.  7,  8.  1. 

2)  Exodi  12,  38.  48. 

3)  2  Chron.  2,  16. 

4)  1  Makkab.  1,  41.     2  Makkab.  4,  9. 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  '  2 


18 

Eifer,  Proselyten  zu  iiuicheii,  die  freilich  meistens  das  strenge  Urtheil  ver- 
dienten, das  der  Herr^)  über  sie  fällt,  wie  sie  denn  die  heftigsten  Ver- 
folger der  Christen  wurden;  zu  ihnen  gehörte  llerodes  und  die  Frau  des 
Nero,  Poppäa,  die  den  Kaiser  wahrscheinlich  zur  Verfolgung  der  Christen 
anreizte.  Bei  den  Juden  selbst  wurden  solche  Proselyten,  weil  sie  nicht  aus 
Ueberzeugung  übergetreten  waren,  verächtlich.  Sie  werden  im  Tahnud 
der  Aussatz  der  Israeliten  genannt;  von  ihnen  heisst  es  ebendaselbst,  dass 
sie  zusammen  mit  den  Knabenschändern  die  Ankunft  des  Messias  aufhalten. 
Es  galt  daher  der  Grundsatz,  man  dürfe  einem  Proselyten  nicht  trauen  bis 
zur  24.  Generation.  Neben  jener  unlauteren  Propaganda  gieng  eine  dem 
göttlichen  Missionsberuf  Israels  entsprechende  Einwirkung  auf  die  Heiden 
aus,  und  zog  viele  zum  Judenthum  hin.  Es  sind  die  im  N.  T.  oft  genannten 
(poßov[i€Potr  oder  aeßoyiEvot.  top  O^sov,  auch  evaeßeiq  und  aEßo^ievoi ,  Jiqoq 
tlXvToiy  svXaßeiq,  wovon  die  Mehrzahl  zu  der  christlichen  Gemeine  über- 
traten. Es  waren  Wahrheitsuchende,  Heilsbedürftige,  welche  sich  von  der 
greulich  entarteten  heidnischen  Peligion  abgestossen  fühlend,  der  im  A.  T. 
geoffenbarten  Wahrheit  sich  zuwendeten.  Diese  Einwirkung  auf  die  Heiden 
erscheint  um  so  intensiver,  je  mehr  die  Juden  verachtet  waren.  Zu  den 
edleren  Motiven  des  Uebertrittes  gesellten  sich  jedoch  noch  andere  mehr 
äusserlicher  Art,  die  Aussicht,  vom  Militärdienst  frei  zu  werden,  Handels- 
interesse, Heirath  u.  s.  w.  Auf  diese  Weise  wurde  die  Menge  der  Ueber- 
tretenden  so  gross ^  dass  mehrere  römische  Schriftsteller  sich  darüber  be- 
klagten 2)  und  Seneca  ausrief:  die  Besiegten  haben  den  Siegern  Gesetze 
gegeben  3).  Die  Zahl  der  weiblichen  Proselyten  überstieg  die  der  männ- 
lichen ^). 

Schon  im  Bisherigen  ist  ein  unterschied  verschiedener  Classen  oder 
Arten  von  Proselyten  angedeutet.  Die  Rabbinen  unterscheiden  deren  zwei. 
1)  Proselyten  des  Thores  TjriT\  ''1:.,  ein  von  den  Fremdlingen  entlehnter 
Name ,  w^elche  in  den  Thoren  Israels  wohnten  &).  Es  sind ,  wie  bereits  an- 
geführt, die  im  N.  T.  erwäbnten.  Es  war  ihnen  nicht  sowohl  die  Beobach- 
tung des  ganzen  Gesetzes  auferlegt  als  die  der  sieben  sogenannten  noachi- 
schen  Gebote:  Verbot  des  Götzendienstes,  der  Gotteslästerung,  des  Ver- 
giessens  von  Menschenblut,  der  Blutschande,  des  Diebstahles,  das  Gebot, 
Gerechtigkeit  zu  üben  und  kein  Thier,  in  welchem  noch  sein  Blut  ist,  zu 
gemessen.  In  Jerusalem  selbst  durften  sie  nicht  wohnen,  wohl  aber  unter 
gewissen  Bedingungen  in  Palästina.  Sie  waren  nicht  verpHichtet,  den  Sab- 
bath  zu  feiern,  noch  sich  beschneiden  zu  lassen;  der  Eintritt  in  die  Syna- 
gogen war  ihnen  gestattet.  Unter  ihnen  fanden  sich  viele  Walirheit 
suchende  Gemüther,  der  Hauptmann  zu  Kapernaum,  Cornelius  und  die 
Seinen,  Lydia  in  Philippi.  Sie  zeigten  sich  empfänglich  für  die  Predigt 
des  Evangeliums.    2)  Von  ihnen  sind   zu  unterscheiden  die  Proselyten  der 


1)  Mat.  23,  15. 

2)  Cicero  pro  Flacco.  28    Horat.  Öat.  1,  \).  bi)  Juv.  U,  y6.     Tac.  Anuales  2,  85. 

3)  bei  Aug.  de  civitate  Dei  6,  11. 

4)  Apg.  17,  4. 

5)  Exodi  20,  10.     Deut.  5,  14. 


19 

Gerechtigkeit,  pTjrn  ""l^,  fUirch  Beschneidung,  Taufe  und  Opfer  in  den 
Bund  Israels  aufgenommen,  daher  ri''~"n  ^"2^  Söhne  des  Bundes  genannt, 
auch  neue  Creaturen.  Als  solche  waren  sie  'losgerissen  von  allen  Banden 
des  Blutes  mit  den  heidnischen  Verwandten,  selbst  den  nächsten,  sodass 
sie  nach  einigen  rabbinischen  r)estimniungen  selbst  mit  Mutter  und  Schwester 
eheliche  Verbindung  eingehen  durften.  Von  ihnen  sagt  Tacitus  ' ) :  ,.die  zu 
ihnen  übertreten,  lassen  sich  beschneiden  und  werden  vor  allem  anderen 
dahin  instruirt,  die  Götter  zu  verachten,  des  Vaterlandes  sich  zu  entschla- 
gen, Eltern,  Kinder  und  Brüder  gering  zu  schätzen".  Eine  Kückwirkung 
solchen  Fanatismus  war  wahrscheinlich  der  Blutschänder  in  Korinth  ( 1  Cor.  5, 1 ). 
Auf  solche  Proselyten  bezieht  sich  des  Herrn  strenges  Urtheil  (Mat.  25,  13), 
man  könnte  eine  3.  Classe  von  Proselyten  unterscheiden,  solche,  welche  an 
den  jüdischen  Gottesdiensten  Theil  nahmen,  ohne  die  heidnische  Religion 
aufzugeben,  worüber  Horaz^j  sich  lustig  macht;  solche  geriethen  in  die 
Hände  von  jüdischen  Gauklern  und  Betrügern. 

Es  fand  aber  noch  eine  andere  Art  von  Berührung  zwischen  den  Heiden 
und  Juden  statt,  indem  jene  auf  diese  einwirkten  und  sie  gewissermassen 
zu  ihren  Proselyten  machten.  Als  ein  geistig  regsames  Volk,  das  in  allen 
Dingen  seinen  Vortheil  wohl  verstand,  gingen  die  Juden  in  die  griechische 
Cultur  ein.  Solches  geschah  im  bedeutendsten  Maasse  in  Alexandrien,  das 
durch  die  Ptolomäer  zu  einem  Hau[)tsitze  griechischer  Cultur  und  (Jelehr- 
samkeit  erhoben  worden  war.  Es  gab  in  dieser  Stadt  eine  Anzahl  Jiuleii, 
welche,  fern  von  aller  Religionsmengerei  und  mit  Entschiedenheit  ihren 
alten  Gottesglauben  festhaltend,  denselben  mit  Hülfe  der  griechischen  Philo- 
sophie, zum  wissenschaftlichen  Bewusstsein  zu  bringen  suchten.  Dazu  kam 
ein  apologetisches  Interesse,  da  die  Juden  dazu  getrieben  wurden,  ihre 
Religion,  welche  sie  mit  jüdischer  Zähigkeit  festhielten,  gegenüber  den  lUv 
schuldigungen  des  Anthropopathisnuis  zu  vertheidigen  und  zu  reclitfertigen. 
So  entstand  die  alexandrinisch-jüdische  Religionsphilosophie,  wovon  die  ida- 
tonische Philosophie  die  Grundlage  bildete,  worin  aber  auch  Ideen,  von 
Aristoteles,  den  Pythagoräern  und  Stoikern  entlehnt,  Aufnahme  fanden. 
Eine  wichtige  Folge  dieser  Verbindung  jüdischer  und  hellenischer  Denk- 
weise war  die  allegorische  Erklärung  des  A.  T.,  welche  die  alexandrinischen 
Juden  von  den  Stoikern  aufnahmen,  von  diesen  angewendet  zur  Erklärung 
und  Rechtfertigung  der  heidnischen  Mythen  ^).  Die  wissenschaftliche  Grund- 
lage dieser  Erkiärungsart  ist  der  Grundsatz,  dass  die  religiösen  Wahrheiten 
auf  geschichtliche  Weise  und  in  Bildern  aus  der  Xatur  sich  zu  verkörpern 
suchen,  und  es  soll  nun  die  Idee  aus  der  Geschichte  und  dem  Bilde,  w^orin 
sie  eingehüllt  ist,  vermittelst  der  allegorischen  Erklärung  al)gelöst  werden. 
Schon  im  2.  Jahrhundert  a.  Chr.  bediente  sich  dieser  Erklärungsart  der 
alexandrisch-jüdische  Philosoph  Aristobulus.  Man  berief  sich  dabei  auf  eine 
geheime  Ueberlieferung,  welche  den  Schlüssel  gebe  zum  richtigen  Verständ- 
nisse des  A.  T. 


1)  bist.  5,  5. 

2)  Satyr.  1,  9.  69. 

3)  Cicero  de  natura  deorum  I.  15. 


20 

Noch  auf  andere  Weise  suchten  die  alexandrinischen  Juden  den 
Ideen  der  hellenischen  Weltweisheit  ihre  Offenbarungsurkunde  anzupassen, 
durch  die  Uebersetzung  derselben  in  das  Griechische,  welche  Uebersetzung 
zunächst  durch  ein  religiöses  Bedürfniss  veranlasst  wurde,  da  sich  den 
Hellenisten  das  Yerständniss  der  vaterländischen  Sprache  inmier  mehr  ver- 
dunkelte. Die  LXX  ist  das  älteste  Document  jüdisch-alexandrinischer  Weis- 
heit. Denn  ihre  Anfänge  reichen  in  die  erste  Hälfte  des  8.  Jahrh.  a.  Chr. 
hinauf,  unter  Ptoloinäus  Philadelphus  f  246  a.  Chr..  unter  welchem  Könige 
die  Uebersetzung  des  Pentateuch  gemacht  wurde.  Vollendet  wurde  das 
Ganze  vor  der  Mitte  des  zweiten  Jahrh.  a.  Chr.  Die  Fabel  von  dem  Ur- 
sprünge dieser  Uebersetzung,  von  den  70  Männern,  die  daran  gearbeitet, 
gegründet  auf  einen  angeblichen  Brief  des  Aristaeus,  eines  Offiziers  der  Leib- 
wache des  Ptolomäus  Philadelphus,  im  Auszuge  mitgetheilt  von  Josephus  ^),  ist 
jetzt  völlig  aufgegeben.  —  Es  ist  nun  wirklich  überraschend,  wie  der  Ueber- 
setzer  des  Pentateuch  im  platonischen  Sinne  arbeitete.  So  ist  die  Ansicht 
von  einer  doppelten,  geistigen  und  sinnlichen  Welt  in  Gen.  1,  2  hineinge- 
tragen, die  Ansicht,  dass  die  Ideen  der  Thiere  zuerst  in  der  .geistigen 
Welt,  hernach  die  Individuen  aus  irdischem  Stoffe  gebildet  wurden,  in 
Gen.  2,  19.  —  Gen.  2,  6  ist  so  übersetzt,  dass  Gott  zuerst  die  unkörper- 
lichen Ideen  geschaffen  habe;  Gen.  1,  11  liegt  die  Idee  zu  Grunde,  dass 
die  geistige  Welt  die  Gattungen  der  Dinge  enthalte.  Dem  Wechsel  des 
Numerus  in  Gen.  2,  16.  17  ((fayrj  und  ffayec^e)  liegt  der  Gedanke  zu 
Grunde,  dass  zur  Uebung  der  Tugend  nur  Eines  nöthig  sei,  der  vernünftige 
Geist,  Adam,  während  dem  man,  um  Unerlaubtes  zu  geniessen,  nicht  allein 
den  Geist  haben  müsse,  sondern  auch  den  Körper  und  die  sinnliche  Seele. 
Eva  2).  Daher  diese  Uebersetzung  für  die  pharisäische  Partei  ein  Greuel 
war.  Sie  meinten,  so  wie  Gott  sein  Gesetz  auf  Sinai  in  hebräischer  Sprache 
geoff'enbart  habe,  so  müsse  es  auch  hebräisch  erhalten  bleiben,  und  es 
werde  verunreinigt,  wenn  es  in  die  Sprache  der  Heiden  übertragen  werde. 
Sie  betrachteten  den  Tag  des  Bibelfestes,  *  an  dem  die  Juden  Alexandriens 
nach  der  Pharosinsel  wallfahrteten,  wo  die  Sage  den  70  Dolmetschern  ihre 
Zellen  gebaut  hatte,  als  Unglücks-  und  Fasttag,  gleich  dem,  an  dem  Israel 
um  das  goldene  Kalb  getanzt  hatte.  Die  Spaltung  zwischen  Hebräern  und 
Hellenisten  heftete  sich  fortan  vorzüglich  an  die  griechische  Bibel;  und 
doch  wurde  sie  das  Mittel,  das  Millionen  am  alten  Glauben  festhielt,  und 
Millionen  gewann,  für  die  der  hebräische  Text  ganz  unverständlich  gewor- 
den. Sie  wurde,  wie  die  Lutherische  Bibel  im  16.  Jahrh.,  für  die  Juden 
die  wichtigste  Grundlage  ihrer  sich  verjüngenden  Cultur. 

Dieselbe  alexandrinische  Religionsphilosophie  brachte  noch  manche  andere 
Producte  hervor.  Nebst  der  Weisheit  Salomo's  kommen  hauptsächlich  hier 
in  Betracht  die  Werke  des  Juden  Philo  3),  f  41  p.  Chr.  in  Alexandrien,  von 


1)  Ant.  12,  2. 

2)  S.  Dähne,  geschichtliche  Darstellung  der  jüd.-alex.  Religionspliilosopliie  II.  1  —  72. 
Lipsius,  alex.  Keligionsphilosophie  in  SchenkePs  Bibellexicon  1.  88. 

3)  das   eine,  von  der  Weltschöpfung,  wurde  Jierausgegeben  von  J.  G.  Müller  1841 
mit  einem  vortrefflichen  Commentar. 


21 

vornehmer  Abkunft,  in  der  Plülosophie  und  den  encyklischen  Wissenschaften 
l)e\Yandert.  Er  ist  der  erste  alttestamentliche  Theologe;  er  suchte  den 
biblischen  Glauben  seines  Volkes  zum  wissenschaftlichen  Bewusstsein  zu 
In'ingen,  nicht  ohne  durch  die  allegorische  Auslegung  dem  A.  T.  vielfach 
Gewalt  anzuthun  i).  Er  hat  auf  die  Bildung  der  christlichen  Theologen 
in  Alexandrien,  Clemens  und  Origines  Einfluss  gehabt.  Er  war,  wie  viele 
seiner  Zeitgenossen,  in  der  Philosophie  Eklektiker,  aber  vorherrschend  der 
platonischen  Lehre  zugethan,  in  einer  Weise,  die  der  Autorität  des  A.  T. 
keinen  Eintrag  that.  So  wie  er  meinte,  dass  Plato  daraus  geschöpft  habe, 
so  glaubte  er  auch,  dass  ihm  die  philosophische  Weltanschauung,  die  er 
Plato  und  Zeno  verdankte,  aus  der  Bibel  gekommen.  Das  reine  Sein  der 
griechischen  Philosophie  ist  ihm  der  jüdische  Gott.  Das  Verbot,  den 
Namen  Gottes  auszusprechen  besagt,  nach  seiner  Ansicht,  dass  auf  Gott 
kein  Prädikat  anwendbar  sei.  Der  Mosaismus,  den  er  glaubt,  ist  Platonis- 
mus,  derjenige,  den  er  übt,  ist  der  alte  Glaube  der  Väter.  Denn,  lehrte 
er,  nur  der  mag  den  äusseren  Gebrauch  unterlassen,  der,  des  Körpers 
ledig,  als  reiner  Geist  das  Irdische  abgestreift.  Er  glaubte,  die  Menschen 
werden  noch  ihre  Religion  aufgeben  und  den  Mosaismus  annehmen.  Israel 
ist  ihm  Führer  der  Völker  der  Erde,  bestimmt,  Gott  als  Priester  zu 
dienen  und  für  die  ganze  Menschheit  zu  beten.  In  Mose  ist  die  Wahrheit 
und  der  Weg  zum  Heile  gegeben.  Jener  Seher  und  Weise,  nach  dem 
stoische  und  neu-pythagoräische  Denker  suchen,  ist  in  dem  zu  finden,  den 
sich  Israel  schon  längst  zum  Führer  des  Lebens  gesetzt  hat.  —  Der  Mittel- 
punkt der  Theologie  Philo's  aber  ist  die  Lehre  vom  Logos,  in  der  Doppelbe- 
deutung von  Vernunft  und  Wort,  gedacht  als  das  verbindende  Mittelglied 
zwischen  Gott  und  Welt. 

Die  alexandrinischen  Juden  suchten  überhaupt  ihren  monotheistischen 
Gottesglauben  und  ihre  messianischen  Hoffnungen  den  Heiden,  unter  denen 
sie  lebten,  einzui)flanzen  und  zugleich  die  Haltlosigkeit  des  alten  Poly- 
theismus ihnen  deutlich  zu  machen.  Da  sie  aber  die  Erfahrung  machten, 
dass  directe  Schutzschriften  für  ihren  Glauben  von  den  Heiden  nicht  gele- 
sen wurden,  so  griffen  sie  zu  dem  Ausweg,  diesen  ihren  Glauben  und  ihre 
messianischen  Hoffnungen  heidnischen  Autoritäten  in  den  Mund  zu  legen. 
So  legte  Aristobulus  180  a.  Chr.  dem  hochgefeierten  mythischen  Sänger 
Orpheus,  um  den  sich  eine  eigene  Literatur  gebildet  hatte,  das  Lob  Abra- 
hams, der  10  Gebote,  des  Sabbath's  in  den  Mund  ^j.  Grossen  Eindruck 
musste  es  machen,  wenn  die  uralte  Sibylle  ihre  Stimme  für  das  Juden- 
thum  abgab.  In  der  That  gibt  es  zahlreiche  sibyllinische  Orakel,  in  wel- 
chen sich  die  jüdische  Propa^nda  an  das  Gewissen  der  Heidenwelt  wendet, 
um  dieselbe  zur  wahren  Gotteserkenntniss  und  zu  reinerem  Leben  aufzu- 
fordern ,  und  ihr  das  jüdische  Volk  als  dasjenige  zu  bezeichnen ,  das  allen 
Sterblichen  als  Führer  des  Lebens  bezeichnet    ist  •*).     Daran  reihen    sich 


1)  S.  Siegfried,   Philo    v.  Alexandria   als   Ausleger   des    A.  T.     Jena  1875.     S. 
üherdiess  den  Artikel  Pliilo  von  J.  G.  Müller  in  der  Realencyklopädie.       ^ 

2)  Euseb.  praeparatio  evangelica  13,  12. 

3)  Die  rechten  Sibyllinen  wurden  74  a.  Chr.  mit  dem  Capitol  verbrannt.     Es  ent- 


22 

Ankündigungen  von  Strafgerichten  über  die  dem  sittlichen  und  religiösen 
Verderben  preisgegebene  Heidenwelt ,  Ankündigungen ,  die  um  so  mehr 
Eindruck  machen  nmssten,  als  sie  den  Ahnungen  der  denkenden  Gei- 
ster des  antiken  Heidenthums  entsprachen.  Dieselben  sibyllinischen  Orakel 
eröffnen  aber  auch  die  Aussicht  in  die  Glückseligkeit  der  messianischen 
Zeit,  sobald  nämlich  die  Welt  zum  jüdischen  Gott  und  zum  jüdischen  Ge- 
setz sich  gewendet  haben  wird.  Einen  Nachklang  dieser  messianischen  Aus- 
sichten gibt  Yirgil  in  der  4.  Ekloge,  nur  dass  er  sie  in  die  niedrige  Sphäre 
der  Schmeichelei  gegen  seinen  Gönner  Pollio,  herabzieht,  dessen  Kind  er 
mit  dem  Jesaia  9,  6  geweissagten  zusammenstellt,  und  an  welches  er  die 
Hoffnung  einer  goldenen  neuen  Zeit  anknüpft.  Dass  die  jüdische  Messias- 
idee den  Heiden  bekannt  war,  ersehen  wir  auch  aus  den  Aussagen  des 
Sueton  1)  und  des  Tacitus  2),  dass,  zufolge  einer  alten,  weit  verbreiteten 
Meinung,  nach  Sueton,  auf  Grund  heiliger  Urkunden,  nach  Tacitus,  von 
Judäa  aus  die  Weltherren  sich  erheben  würden,  wenn  gleich  beide,  sowie 
Josephus  ^),  den  sie  ausschreiben,  die  Sache  aufVespasian  und  seinen  Sohn 
Titus  deuten. 

So  trug  sich  die  Welt  mehr  als  je  vorher  mit  grossen  Hoffnungen 
und  mit  grossen  Befürchtungen,  aber  überwiegend  mit  diesen  letzteren. 

Anhang.  Noch  muss  bemerkt  >t erden,  dass  sich  in  Aegypten  in 
Folge  des  Umsichgreifens  der  alexandrinisch  jüdischen  Religionsphilosophie 
eine  ähnliche  Sekte  bildete  wie  die  Essener  in  Palästina,  die  Therapeu- 
ten. Sie  trieben  die  Enthaltsamkeit  noch  weiter  als  die  Essener,  denn 
sie  lebten  alle  ehelos.  In  der  Nähe  von  Alexandrien,  auf  einer  Anhiihe 
über  dem  See  Mareotis  war  ihre  Niederlassung.  Der  Name  Therapeuten 
soll  sie  als  die  ächten,  eigentlichen  Gottesverehrer  bezeichnen.  Sie  sind 
die  Vorläufer  der  christlichen  Mönche  ^). 

Verwandt  mit  den  Juden,  doch  von  ihnen  mit  Abscheu  angesehen  und 
behandelt  waren  die  Samaritaner  in  der  zwischen  Judäa  und  Galiläa 
mitten  inne  gelegenen  Landschaft  Samaria,  entstanden  aus  der  '  Ver- 
mischung der  nach  Wegführung  der  zehn  Stämme  im  Lande  gebliebenen 
wenigen  alten  Einwohner  mit  den  Kolonisten  aus  Babel,  Cutha  (daher 
auch  Cuthäer  genannt),  und  anderen  assyrischen  Landschaften,  welche 
der  König  von  Assyrien,  um  das  Land  wieder  zu  bevölkern,  dahin  ver- 
pflanzt hatte  (2  Könige  17,  24).  Aus  der  anfänglichen  Keligionsmengerei, 
da  die  Ansiedler  neben  den  aus  dem  Vaterlande  mitgebrachten  Göttern 
den  Gott  des  Landes,  Jehovah,    verehrten,    waren  sie  409  a.  Chr.,    unter 


standen  bald  neue,  ziemlich  zahlreiche,  so  dass  Augustns  ein  Verbot  dagegen  erliess.  Tac. 
annalcs  6,  12,  die  erste  Spur  jüdischer  Sibyllinen  findet  sich  bei  Jos.Antiq.  1,  4.  5.  Nach 
den  neueston  gründlichen  Forschungen  von  Bleek,  stammen  die  ältesten  jüdischen  Orakel 
.ins  dom  2.  .Tahrh.  a.  Chr.  —  die  jüngsten  cliristlichen,  ans  dem  5.  J,  p.  Chr.  Von  alex. 
Juden  rüliren  viele  jüdische  Orakel  her. 

1)  In  Vespasiano  c.  4. 

2)  In  den  Historien  5,  1.3. 

n)  De  hello  judaico  6,  5.  4.  -    g.  auch  Kuseb.  n,  7. 

4)  Vgl.  über  sie  Philo,  de  vita  contemplativa,  wovon  Enseb.  l  E.  IT.  17  nur  einen 
Auszug  gibt  —  auch  Daehne  a.  a.  0.  I.  4f^9 


(lern  Schutze  des  persischen  Staathalters  Saiina])alletes,  durch  den  Prie- 
ster Manasse  herausgerissen  worden,  und  liatten  den  Pentateuch,  einen  Tem- 
pel auf  Garitzim,  da  sie  Deut.  27,  4  Garizim  statt  Ebal  lasen,  und  ein 
levitisches  Priesterthum  erhalten.  Fortan  war  bei  ihnen  keine  Spur  von 
Polytheismus  mehr  zu  finden,  sondern  sie  ergaben  sich  dem  strengsten 
Monotheismus ;  daneben  verwarfen  sie  alle  kanonischen  Schriften  der  Juden 
ausser  dem  Pentateuch.  Es  blieben  ihnen  die  späteren  rabbinischen  Ent- 
wicklungen des  Judenthums  fremde.  Dies  so  wie  der  Umstand,  dass  sie 
den  Tempel  auf  Garizim  als  den  einzig  ächten  ausgaben,  schürte  den 
Hass  der  Juden  gegen  sie  an,  der  auch  seit  der  Zerstörung  des  Tempels 
durch  Joh.  Hyrcanus  im  J.  109  a.  Chr.  nicht  gelöscht  wurde.  Ihre  geistige 
Auffassung  des  Mosaismus,  wie  sie  in  den  späteren  Schriften  hervortritt,  leitet 
Gesenius  in  der  Schrift  de  theologia  Samaritana  von  der  Einwirkung  der 
alexandrinischen  Pieligionsphilosophie  her,  wie  denn  schon  durch  Alexan- 
der Samaritaner  nach  der  Thebais,  durch  Ptolomeus  Lagi  nach  Unter- 
ogypten  und  Alexandrien  waren  verpflanzt  worden  ^j.  Im  ersten  Jahrhundert 
nach  Christo  traten  unter  ihnen  drei  Sektenstifter  auf,  Dositheus,  Si- 
mon der  Magier  und  sein  Schüler  Menander. 


Zweiter  Absclinitt. 


(iründung  und   erste   Ausbreitung   der  Kirche  im  aposto- 
lischen Zeitalter. 

Quollen,  die  Schriften  des  N.  T.  und  Einzelnes  aus  kirchlichen  Schriftstellern.  —  Bearbeit- 
ungen des  Lebens  Jesu  von  sehr  verschiedenem  Standpunkte  aus  verfasst,  von  Stra  uss 
(X  Auflage  1 838  des  gi-össeren  Werkes) ,  von  Neander,  Pressense,  Keim, 
Hase    1876  u.  A.   —     Bearbeitungen    der  Geschichte  der  Apostel  von   Neander, 

0.  Auflage  1847,  von  Lechler,  2.  Auflage  1857,  von  Schaff  2.  Auflage  1854. 
von  Pressense,  als  erste  zwei  Bände  eines  umfassenden  Werkes  über  die  drei  er- 
sten Jahrhunderte  der  Kirche.  —  Hier  sind  noch  zu  erwälmen  die  Werke  von 
Baur  und  von  Hausrath  über  den  Apostel  Paulus. 

1.  Nachdem  durch  die  Predigt  des  Täufers  und  die  damit  verbundene 
Ankündigung  von  bevorstehenden  grossen  Gnadenerweisun^n  und  Straf- 
gerichten im  jüdischen  Volke  eine  grosse  Erweckung  entstanden  war ,  trat 
Jesus  von  Nazareth,  der  bis  dahin  in  stiller  Verborgenheit  gelebt  hatte, 
auf  und  zwar  mit  derselben  Aufforderung,  welche  der  Täufer  an  das  Volk 
gerichtet  hatte:  ^,thut  Busse,  denn  das  Himmelreich  ist  nahe  herbeige- 
kommen.^'    Er  selbst  hat  später  erklärt,  dass  die  Predigt  des  Täufers  und 


1)  Jos.  Antiq.  1,  8.  6.  12.    Vgl.  übrigens  d.  Artikel  Samarlen   von  Petermann  1.  d. 
Fvealencyklop.  Bd.  XIIL 


24 

die  dadurch  bewirkte  Erweckung  die  Erfüllung  sei  der  Weissagung  des 
Propheten  Maleachi  vom  Boten,  der  vor  dem  heran  kommenden  Herrn  den 
Weg  bereitet,  von  Elia,  dem  Propheten,  den  der  Herr  sendet,  ehe  der 
Tag  Jehovah's  kommt,  der  grosse  und  furchtbare  (Maleachi  3,  1,  4,  5. 
Matth.  11,  14.  17,  11—13),  wobei  er  nicht  undeutlich  sein  eigenes  Auftre- 
ten mit  dem  Kommen  Gottes  zu  seinem  Volke  zusammenstellte.  Nur  schon 
diese  Deutung  der  Worte  des  Propheten,  woran  sonst  Niemand  gedacht 
hätte,  zeigt  das  Hervorbrechen  eines  neuen  Geistes,  der  von  sich  aus, 
ohne  alle  menschliche  Ermächtigung,  das  geheiligte  Wort  der  Weissagung 
regelt,  vervollständigt,  auf  seinen  wahren  geistigen  Sinn  und  Inhalt  zu- 
rückführt, eines  neuen  Geistes,  der  die  gesammte  alttestamentliche  Weis- 
sagung in  ungeahntem  Lichte  erscheinen  liess.  Die  alttestamentliche  Idee 
der  Theokratie'  (ein  zuerst  von  Josephus  gebrauchtes  Wort)  verklärte  sich 
durch  diesen  Geist  zu  der  Idee  des  Peiches  Gottes,  in  welchem  die  Men- 
schen sittlich  neu  geschaffen,  vom  Geiste  Gottes  erfüllt,  mit  Gott  und  unter 
sich  in  Liebe  verbunden  sind.  Dieses  Reich  Gottes  ist  mit  Jesu,  als  dem 
eingebornen  Sohne  Gottes  auf  Erden  gekommen  („es  ist  mitten  unter 
euch^')  und  soll  durch  ihn  unter  den  Menschen  verwirklicht  werden.  Dar- 
auf arbeitete  er  hin  durch  seine  Lehrthätigkeit  und  durch  die  wunderbaren 
Heilungen,  die  er  verrichtete.  Frühe  sah  er  aber  ein,  dass  er  von  sei- 
nem Volke  werde  verworfen  werden.  Denn  seine  Auffassung  des  Reiches 
Gottes  war  eine  wesentlich  religiöse  und  ethische,  während  sie  in  den 
meisten  seiner  Volksji;enossen  eine  wenn  nicht  ausschliesslich  so  doch  vor- 
wiegend politische  war.  Obwohl  Jesus  als  specieller  Diener  der  Juden 
{diaxovog  rijg  neqixonriq)  (Rom.  16,  8)  seine  Wirksamkeit  auf  die  verlornen 
Schafe  des  Hauses  Israel  beschränkte,  so  hatte  sie  doch  eine  über  die 
Grenzen  des  jüdischen  Volkes  hinausgehende  Tragweite,  die  sich  bisweile^i 
zu  der  bestimmten  Ankündigung  gestaltete,  dass  das  Reich  Gottes  von 
den  Juden  genommen  und  den  Heiden  werde  gegeben  werden  (Matth.  21, 
40 — 43).  Er  war  sich  bewusst,  dass  Alles,  was  er  that  und  lehrte,  am 
Ende  nur  dazu  dienen  werde,  die  Herzeushärtigkeit  seines  Volkes  auf  das 
höchste  zu  steigern  und  so  das  schrecklichste  Strafgericht  über  sein  Volk 
herauf  zu  beschwören.  Aber  eben  so  deutlich  sah  er  ein,  dass  nur  so  die 
nationale  Beschränkung,  in  welche,  laut  göttlicher  Anordnung,  seine  Wirk- 
samkeit sich  hatte  fügen  müssen,  gründlich  könne  beseitigt  werden.  Indem 
er  sich  nun  nach  einiger  Zeit  öffentlich  als  den  verheissenen  Messias  be- 
kannte und  er  als  solcher  in  Jerusalem  einzog,  wusste  er,  dass  er  sein 
Todesurtheil  unterschrieb,  und  doch  musste  er  sich  als  Messias  so  feierlich 
bekennen,  weil  er  sonst  seiner  Stellung  nicht  genügt  und  den  Schein  auf 
sich  geladen  haben  würde,  als  ob  er  aus  Furcht  sich  geweigert  hätte,  dieses 
Bekenntniss  abzulegen.  Seinen  Tod  bezeichnete  er  im  voraus  als  Sühnopfer 
für  die  Sünden  der  Welt,  als  Bedingung  erhöhter  Wirksamkeit,  als  Mit- 
tel, um  die  für  die  Wahrheit  empianglichen  Gemüther  an  sich  zu  ziehen. 

Wenn  aber  Jesus  im  Tode  blieb,  so  verlor  Alles,  was  er  bisher  ge- 
than  und  gelehrt  hatte,  und  auch  sein  Tod  alle  und  jede  Nachwirkung  und 
Bedeutung.  Der  Tod,  zumal  ein  solcher  Tod  war  der  schreiendste  Wider- 
spruch nicht  nur  gegen  das,   was   er   gesagt,   dass  er  auferstehen  werde, 


25 

sondern  auch  gegen  sein  eigenes  Wesen.  Die  Jünger  mussten  daher,  wenn 
er  im  Grabe  blieb,  schlechterdings  den  Glauben  an  ihn  aufgeben.  Die 
christliche  Kirche  gründet  sich  also  auf  Christi  Auferstehung  als  feste  Ge- 
währ seiner  Gottessohnschaft  (Rom.  1,  4).  Selbst  Dr.  Baur  gesteht,  dass 
wenigstens  der  Glaube  an  die  Auferstehung  Christi  nothwendig  war,  um 
in  den  Aposteln  den  Glauben  an  Christum  überhaupt  am  Leben  zu  erhal- 
ten. Mit  ihm  war  dieser  Glaube  zu  Grabe  getragen,  mit  ihm  stand  er 
siegreich  wieder  auf. 

IL  Nun  begann  die  zunächst  durch  die  Apostel  vermittelte  unsichtbare 
Thätigkeit  Christi,  im  Vergleich  mit  welcher  sein  Leben  und  Wirken  vor 
dem  Tode  nur  als  Grund  legender  Anfang  erschien,  wie  das  die  Schrift 
selbst  bezeugt  (Apostelgesch.  1,  1).  Sowie  er  von  seinem  Leben  und 
Wirken  auf  Erden  gesagt  hatte :  ,,ihr  werdet  (mit  den  Augen  des  Glau- 
bens) den  Himmel  oifen  sehen  und  die  Engel  Gottes  hinauf  und  hinab- 
fahren auf  des  Menschen  Sohn"  (Joh.  1,  51  j,  so  wurde  nun  auch  das  andere 
Wort  erfüllt,  das  er  als  ein  hülfloser  Gefangener  in  seinem  Verhöre  ge- 
sprochen: ;^von  nun  an  werdet  ihr  sehen  des  Menschen  Sohn  sitzen  zur 
Rechten  der  lü-aft,  und  kommend  auf  den  Wolken  des  Himmels"  (Matth. 
26,  64).  Denn  die  ganze  Kirchengeschichte  ist  ein  fortgesetztes  Kommen 
des  Herrn  1),  d.  h.  die  ganze  Entwicklung  des  Christenthums  auf  Erden 
ist  die  fortgehende  Oifenbarung  seiner  Gegenwart  in  der  Kirche,  eine 
fortgesetzte  Einwirkung  auf  die  Kirche,  alles  Vorbereitung  auf  die  letzte 
entscheidende  Krisis,  welche  den  endlichen,  abschliessenden  Sieg  des  Reiches 
Gottes  über  alle  Feinde  herbeiführen  wird  (1  Kor.  15,  24).  Also  eines- 
theils  trifft  sein  Kommen  ein,  ehe  alle,  die  in  den  Tagen  des  Fleisches 
seine  Zeitgenossen  waren,  gestorben  sind,  anderntheils  erst  am  Ende  aller 
Tage ,  und  die  Kirche ,  von  Feinden  umringt ,  bittet  und  fleht  immerfort : 
„Komm,  Herr  Jesu  (Apokal.  22,  20). 

Denn  allerdings  trifft  das  Christenthum ,  indem  es  die  menschliche 
Natur  zu  durchdringen  sich  bestrebt,  in  allen  Beziehungen  und  Verzweig- 
ungen des  Lebens  der  Völker  und  der  Einzelnen  auf  ein  feindliches  Prin- 
cip,  welches  sich  gleich  bleibt  in  der  unendlichen  Älannigfaltigkeit  seiner 
Formen  und  Aeusserungen.  Dieses  feindliche  Princip,  das  alle  Nerven 
und  Adern  der  Menschheit  durchdrungen  hat  und  seit  Jahrtausenden  in 
der  Menschheit  eingewurzelt  ist,  setzt  der  Wirkung  des  Christenthums, 
menschlicher  Weise  zu  reden,  unübersteigliche  Hindernisse  entgegen,  die 
nicht  aufgewogen  werden  durch  die  Anknüpfungspunkte,  welche  das- 
selbe in  der  gottverwandten  menschlichen  Natur  flndet.  Daher  ist  das 
Programm  von  Arbeiten  und  Leistungen,  welche  das  Christenthum  bei  sei- 
nem Eintritte  in  die  Welt  sich  gestellt,  noch  bei  weitem  nicht  erschöpft, 
das  Ziel  der  christlichen  Entwicklung  der  Menschheit  in  eine  für  unser  Auge 
unendlich  weite  Ferne  gerückt.  Nicht  nur  dieses,  sondern  die  Geschichte 
der  Kirche,  —  weil  corruptio  optimi  pessima  —  ist  auch  die  Geschichte 
der  grössten  sittlichen  und  intellectuellen  Verirrungen    des   menschlichen 


1)  Darnach  sind  die  Stellen  Matth.  10,  28,  16,  28.  24,  35.    Marc.  13,  30.    Lucas 
21,  32  auszulegen. 


26 

Herzens  und  Geistes.  So  gestaltet  sich  die  Geschichte  der  Erh'jsiing  der 
Menschheit,  —  als  welche  wir  die  Geschichte  der  Kirche  Christi  aufzu- 
fassen haben,  —  auch  zu  einer  Geschichte  des  Verderbens  der  Menschheit. 
Das  Christenthum ,  wie  ein  weiser  Mann  gesagt,  hat  die  Menschheit  all 
ihre  Bosheit,  all  ihre  Thorheit  ausschwitzen  machen.  Daher  stellt  sich 
uns  die  Geschichte  der  Kirche  Jesu  dar  als  ein  lebendiges  Gemälde  von 
dem  Kampfe  zwischen  dem  christlichen  Geiste  und  den  gegnerischen  Kräf- 
ten, welche  das  Christenthum  in  jeder  Periode  vorfindet.  Die  Kirchen- 
geschichte hat  diesen  Kampf  zu  beschreiben,  zu  zeigen,  wie  zwar  in 
Christo  das  Reich  Gottes  gekommen,  wie  aber  dieses  Reich  immerfort 
umgeben  ist  von  Feinden,  welche  ihm  den  Sieg,  ja  die  Existenz  streitig 
machen,  und  oft  die  Oberhand  zu  behalten  scheinen,  bis  der  Herr  aufs 
neue  seine  Macht  erweist  zur  Rettung  der  Kirche. 

Das  erste  Stadium  der  Thätigkeit  des  zur  Rechten  der  Kraft  er- 
höhten Erlösers  ist  die  Ausgiessung  des  Geistes  mit  den  begleitenden 
ausserordentlichen  Erscheinungen,  worin  der  Apostel  Petrus  die  Wahr- 
zeichen erkennt  des  herannahenden  Tages  des  Herrn.  ]\Ian  pflegt  dieses 
Ereigniss  als  den  Siiftungstag  der  Kirche  zu  bezeichnen,  obwohl  die  An- 
hänger Jesu  sich  schon  vorher  zusammengeschlossen  hatten.  Allein,  inso- 
fern die  Apostel  und  Jünger  damals  den  verheissenen  Geist  empfingen, 
insofern  dieser  Geist  das  einigende  und  heiligende  Band  in  der  Kirche  ist, 
insofern  er  die  Gläubigen  erst  recht  fest  zusammenschloss,  kann  man  wohl 
sagen,  dass  damals  die  Kirche  als  solche  gestiftet  wurde,  wie  denn  auch 
seit  dem  unter  den  Gläubigen  ^)  der  Name  exxXrjcncx,  Versammlung,  Ge- 
meinde autliam,  als  Correlat  der  Gemeinde  Gottes  im  A.  T.  (des  nliT^  i^HD 
Num.  20,  4)  als  Verwirklichung  des  von  Christo  vorbereiteten  und  ange- 
kündigten Reiches  Gottes.  Insofern  die  Apostel  an  der  Spitze  standen, 
wie  sie  denn  noch  immer  durch  ihre  Schriften  an  der  Spitze  stehen,  ging 
damals  an  ihnen,  freilich  in  sehr  kleinen  Dimensionen  das  Wort  des  Er- 
lösers Matth.  18,  28  in  F.rfüllung.  Es  war  der  erste  Anfang  der  sittlich- 
religiösen Erneuerung  der  Welt  gegeben.  Unter  den  Aposteln  ragt  bis 
auf  die  Zeit  des  Apostelconvents  (Apostelgesch.  15)  der  Apostel  Petrus 
hervor,  als  derjenige,  der  die  Gemeinde  innerlich  gründet  und  befestigt 
und  nach  aussen  für  sie  das  Wort  führt,  sie  zu  schützen  vor  Vergewalti- 
gung und  Anhänger  für  die  Sache  Christi  zu  gewinnen  und  die  schon  ge- 
wonnenen zu  stärken  —  alles  in  Gemässheit  dessen,  was  der  Herr  zu  ihm 
gesagt,  betreffend  seine  Stellung  in  der  zu  stiftenden  Gemeinde  (Math.  16, 
18.  19.     Luc.  22,  32.     Joh.  21,  15—17). 

Bei  alledem  handelte  es  sich  darum,  das  in  Christo  gegeliene  Heil 
((TmijQia)  der  Menschheit  einzupflanzen.  Aber  derselbe  Kampf,  der  durch 
das  Wesen  des  Christenthums  und  sein  Verbal tniss   zu   der  Gott  entfrem- 


1)  Der  Herr  hatte  die  Bezeichnung  eingeführt  für  die  einzelne  Gemeinde  Matili. 
18.  18  und  für  die  ganze  Kirche  Matth.  16,  18.  Beide  Beziehungen  werden  znsainmen- 
gefasst  in  den  Aufschriften  paulinisclier  Briefe  1  Kor.  1,  1.  2  Kor.  1,  1.  l  Tliesaal. 
1,  1.  —  Die  einzelnen  Gemeinden  werden  auch  kurzweg  fxy.lrj<r,(t,  lov  ^fov  genannt 
1  Kor.  11,  16. 


27 

deten  Welt  gesetzt  war,  derselbe  Kampf,  den  der  Stifter  der  christlichen 
Religion  zu  bestehen  hatte  und  der  eigentlich  die  Bewegung  seines  Lebens 
bildet,  er  zog  sich  auch  durch  das  apostolische  Zeitalter  hindurch.  Da  das 
Christenthum  zunächst  mit  der  mosaischen  Religion  und  mit  dem  jüdischen 
Volke  in  Berührung  gekommen  war,  so  hatte  sich  der  Kampf  zu  Lebzeiten 
Christi  auf  diesem  Gebiete  entsponnen.  Im  apostolischen  Zeitalter  w^ar  es 
ein  Kampf  nicht  blos  mit  dem  Judenthum  ausserhalb  der  Kirche,  sondern 
wesenthch  Kampf  zwischen  der  am  Gesetz  festhaltenden  und  der  specitisch 
evangelischen  Richtung  innerhalb  der  Kirche  selbst.  Das  apostolische  Zeit- 
alter ist  der  eigentliche  Schauplatz  dieses  Kampfes. 

Wir  sehen  die  junge  Kirche,  angegriffen  theils  von  den  Juden,  theils 
von  der  streng  judenchristlichen  Richtung,  die  sie  im  eigenen  Schoosse 
hegt,  sich  von  den  Banden  der  jüdischen  Religion  losreissen,  die  P^man- 
cipation  vom  mosaischen  Ceremonialgesetze ,  welche  im  Wesen  des  Evan- 
geliums gegeben  war,  und  dessen  Wahrheit  ausmacht  (Galater  2,  5)  voll- 
ziehen. Das  ist  also  die  eigenthümliche  Bedeutung  des  apostolischen  Zeit- 
alters, das  die  geschichtliche  Mission  desselben.  In  solchem  Ringen 
übte  die  junge  Kirche  ihre  Kräfte  zur  Vorbereitung  auf  die  grösseren 
Kämpfe,  die  ihr  bevorstanden  und  die  auch  zum  Theil  schon  ihren  Anfang 
nahmen.  Zugleich  aber  wurde  die  monotheistische  Grundlage  der  mosai- 
schen Religion  und  alle  damit  zusammenhängenden  ethischen  Bestinnnun- 
gen  mit  gewissenhafter  Sorgfalt  aufrecht  gehalten.  Die  Grundvoraussetz- 
ung so  wie  der  oberste  Satz  der  Predigt  von  Christo  war  der  Gott  A])ra- 
hams,  Isaaks  und  Jakobs,  der  allmächtige  Schöpfer  des  Himmels  und  der 
Erde,  derselbe  aber  erst  in  Christo  sich  in  abschliessender  Weise  offen- 
barend. 

Jede  geistige  Bewegung,  wenn  sie  zum  Siege  durchdringen  soll,  er- 
heischt einen  Mann,  in  welchem  sie  sicii  verkörpert,  Gestalt  gewinnt,  zum 
vollen  Bewusstsein  ihrer  selbst  gelangt,  und  der  sich  nun  als  Lebensauf- 
gabe stellt,  sie  zur  Geltung  zu  bringen.  Das  ist  die  Bedeutung  des  Apo- 
stels Paulus,  des  Apostels  der  Heiden  i).  Eine  jede  geistige  Bewegung, 
soll  sie  festen  Euss  fassen  und  sich  ausdehnen,  erheischt  aber  aucli  einen 
Ort,  wo  sie  zunächst  sich  festsetzen  und  von  wo  es  ihr  möglich  wird,  sich 
weiter  auszubreiten,  —  wie  Chursachsen  für  die  deutsche  Reformation,  der 
Canton  Zürich  für  die  schweizerische.  —  Ein  solcher  Ort  war  für  Paulus 
und  seine  Bestrebungen  Antiochien,  die  Hauptstadt  von  Syrien,  wo  unab- 
hängig von  der  Mutterkirche  in  Jerusalem  sich  eine  Gemeinde  aus  ehe- 
maligen Heiden  bildete,  wo  das  Christenthum  sein  anfängliches  Gepräge 
als  einer  jüdischen  Sekte  ablegte,  wo  die  Bekenner  Jesu  von  den  zur 
Spötterei  geneigten  Antiochenern  zuerst  Christianer  genannt  wurden 
(Apostelgesch.  11,  26).  Durch  die  Unterstützung  von  Seiten  dieser  Ge- 
meinde wurde  Paulus  in  den  Stand  gesetzt,  seine  Missionsreisen  zu  be- 
ginnen, die  er  bald  in  immer  grösserem  Umfange  nach  Westen  hin  aus- 
dehnte, dem  (iange  der  Weltgeschichte  folgend,  die  mehr  und  mehr  nach 


1)  Er  führte  diircli,  was  durcb  Petrus  (Apostelgesch.  10.  11.  12)  und  den  Apostel- 
convent  (Apostelgescli.  15)  eingeleitet  worden. 


28 

Westen  hingedrängt  hatte.  Daher,  nachdem  das  Evangelium  in  Kleinasien 
und  in  Griechenland  festen  Fuss  gefasst,  treibt  es  ihn  so  mächtig  nach 
der  Hauptstadt  der  Welt,  um  auch  da  das  Panier  des  Kreuzes  aufzu- 
richten. Rom  sollte  für  das  Abendland  ein  zweites  Antiochien  werden. 
Ausser  den  beiden  genannten  Aposteln  ragt  in  den  späteren  Zeiten 
des  ersten  Jahrhunderts  der  Apostel  Johannes  hervor,  der  die  zu  Ende 
geführte  Emancipation  vom  Mosaismus  in  den  Worten  ausspricht:  ^,das 
Gesetz  ist  durch  Mosen  gegeben,  die  Gnade  und  Wahrheit  ist  durch  Je- 
sum  Christum  geworden  (Joh.  1,  17).  Also  an  die  drei  Apostel  Petrus, 
Paulus,  Johannes  knüpft  sich  die  Bewegung  des  apostolischen  Zeitalters. 
Jerusalem  bleibt  Sitz  des  Judenchristenthums ,  die  Gemeinde  daselbst  hat 
frühe  ihre  hervorragende  Stellung  eingebüsst  und  wird  in  ihrer  Arnuith 
durch  die  Wohlthätigkeit  anderer  Gemeinden  unterstützt.  Diese  reichen  bis 
nach  Rom  im  Westen,  nach  Babylon  im  Osten  und  bestehen  hauptsächlich 
aus  bekehrten  Heiden,  meistens  ehemaligen  jüdischen  Proselyten  des 
Thores. 

III.  Was  die  anderweitigen  Verhältnisse  der  christlichen  Gemeinden, 
zunächst  die  Verfassung  betrifft  ^) ,  so  wurde ,  obschon  die  Apostel  an  der 
Spitze  derselben  standen,  die  Einheit  der  Kirche  durchaus  nicht  durch  sie 
repräseniirt  —  weiss  man  doch  von  der  Thätigkeit  der  meisten  Apostel 
so  wenig,  —  sondern  durch  die  Einheit  des  Glaubens  (Ephes.  4,  4  —  7), 
welche  sehr  verschiedene  Lehrtypen  nicht  ausschloss,  wie  wir  sie  bei  Pau- 
lus, Petrus,  Johannes,  Jakobus  finden.  Die  Apostel  machen  auch  keinen 
hierarchischen  Gebrauch  von  ihrer  Autorität.  Sie  handeln  in  Verbindung 
mit  den  Gemeinden  (Apostelgesch.  1,  6.  11,  2.  15,  23),  lassen  sich  von  den 
Gemeinden  aussenden,  so  Paulus  von  der  Gemeinde  zu  Antiochien  (Apo- 
stelgesch. 13),  der  auch  Willens  ist,  sich  von  der  Gemeinde  in  Rom  nach 
Spanien  senden  zu  lassen  (Rom.  16,  24).  Sie  hatten  Mitarbeiter,  die  nicht 
blos  neben  ihnen  arbeiteten,  sondern  die  sie  auch  in  den  Gemeinden  zu- 
rückliessen,  um  an  ihrer  Stelle  zu  arbeiten.  Timotheus,  Titus,  Sil- 
vanus,  Marcus,  Clemens,  Epaphras,  von  einigen  Kirchenschrift- 
stellern auch  Apostel  genannt,  daher  als  die  ersten  Bischöfe  der  betreffen- 
den Gemeinden  aufgeführt,  so  Timotheus  und  Titus  als  die  ersten  Bischöfe 
von  Ephesus  und  Kreta  2). 

Wichtig  war  es  für  die  christlichen  Gemeinden,  in  der  jüdischen 
Synagogeneinrichtung  ein  sehr  nachahmungswerthes  Muster  vorzufinden 
nicht  blos  was  den  Cultus,  sondern  auch  was  die  eigentliche  Kirchenver- 
fassung betrifft.  Die  Einrichtung  der  Aeltesten,  nQeGßvxeqoi  entsprechend 
den  jüdischen  D^'Dp  ,  der  Diakonen  oder  Almosenpfieger  (Apostelgesch.  6,  1), 
die  Auswahl  der  Jünglinge,  vectvKTxoi  zur  Verrichtung  gewisser  Dienste 
(Apostelgesch.  5,  6  —  10),  alles  dieses  ist  der  Synagoge  entlehnt.  Im  An- 
fange bezeichnete  der  Name  nQtGßvtaqoq  und  emaxonog  diu'chaus  dieselbe 

1)  Die  Verfassung  der  Kirche  im  Jahrhundert  der  Apostel,  von  einem  kathoHschen 
Historiker.  NördUngen  1873.—  Dr.  Beyschla^,  die  christliclie  Gemeindeverfassung  im 
Zeitalter  des  N.  Test.  Von  der  Teyler'sclien  theol.  Gesellseliaft  gekrönte  Preissclirift. 
Hartem  1874. 

2)  Euseb.  3,  4. 


29 

Person  (Apostelgesch.  20,  17.  28.  Tit.  1,  5  —  7.  Philipp.  1,  1),  >Yelche 
Identität  auch  anerkannt  wird  von  Hieronymus  (cap.  72)  von  Chrysostomus 
(hom.  in  Phil.  1,  1).  So  wie  nun  die  Gemeinde  die  Diakonen  gewählt 
hatte,  so  wie  sie  schon  an  der  Wahl  des  Apostels  Matthias  Theil  genom- 
men, so  gewiss  auch  an  der  Wahl  der  Presbyter,  nämlich  so,  dass  die 
Apostel  sie  etwa  vorschlugen  und  die  Gemeinde  ihre  Zustinnnung  gab  und 
ihre  Wahl  dadurch  legitimirt  wurde.  —  Mt  Zustimmung  der  ganzen  Ge- 
meinde (^vpevdoxrjcracfig  naGTjg  TTjg  exxXrjffiag)  haben  die  Apostel  Presbyter 
aufgestellt,  sagt  Clemens  Rom.  1  Cor.  c.  44.  Nach  dieser  Analogie  müssen 
Stellen  wie  Apostelgesch.  14,  25.  Tit.  1,  5  ausgelegt  werden.  Die  Ge- 
meinde nahm  auch  Theil  an  der  ersten  Kirchenversammlung  in  Jerusalem, 
gewöhnlich  Apostelconvent  genannt  (Apostelgesch.  15,  6  tf.).  Allerdings 
führen  Petrus  und  Jakobus  das  grosse  Wort;  allein  der  Beschlub^,  be- 
treffend die  Aufnahme  der  Ileidenchristen  ohne  Beschneidung,  wurde 
durchaus  nicht  blos  von  den  Aposteln  und  Presbytern  (v.  6),  sondern  auch 
von  den  Brüdern  (v.  22.  23)  gefasst,  unter  welchen  hier  die  männlichen 
Laien  zu  verstehen  sind.  Der  Beschlussfassung  war  vieler  Wortwechsel 
vorangegangen  (v.  7),  wobei  offenbar  die  Laien  der  beiden  in  der  Yer- 
sammlung  vertretenen  Richtungen  in  Beziehung  auf  die  obschwebende 
Streitfrage  gegeneinander  fochten.  Die  Laien  hatten  also  unbeschränkte 
consultative  Stimme  und  sofern  sie  auch  bei  der  Beschlussfassung  als  mit- 
thätig  aufgeführt  werden,  auch  deliberative  Stimme. 

Was  die  gottesdienstlichen  Yersannnlungen  betrifft,  so  befolgte  man 
dabei,  wie  bevorwortet,  das  in  der  jüdischen  Synagoge  gegebene  Muster, 
wodurch  der  Gottesdienst  von  vorn  herein,  dem  Wesen  des  Christenthums 
gemäss,  mit  dem  vorherrschend  symbolischen  Cultus  der  alten  Welt  brach 
und  ein  didaktisches  Gepräge  erhielt.  Demnach  fand  neben  Gebet,  wobei, 
ebenfalls  nach  dem  Muster  der  Synagoge,  wahrscheinlich  bald  stehende. 
doch  sehr  einfache  Formehi  sich  zu  bilden  anfingen.  Vorlesen  des  A.  T. 
und  Vortrag  darüber  statt.  Dazu  kamen  schon  im  apostolischen  Zeitalter 
Briefe  der  Apostel  (Kol.  4,  16).  —  Sowie  nun  in  den  Synagogen  Lehrfrei- 
heit herrschte  (Luc.  4,  16),  so  auch  in  den  ersten  christlichen  Gemeinden, 
und  das  entsprach  auch  dem  ersten  Feuer  der  l^)egeisterung.  Das  Lehr- 
amt gehörte  ursprünglich  weder  zum  Presbyterat  noch  zum  Diakonat.  Wie 
es  in  den  christlichen  Gemeinden  in  dieser  Beziehung  herging,  davon  gibt 
uns  Paulus  im  ersten  Briefe  an  die  Kor.  c.  12.  14  eine  sehr  anschauliche 
Beschreibung,  wenngleich  einige  Züge  ausschiesslich  jener  Gemeinde  ge- 
hören mögen.  Die  dabei  vorfallenden  Unordnungen  mögen  dem  Apostel 
den  Wunsch  nahe  gelegt  haben,  dass  das  Lehramt  eine  mehr  geordnete 
Gestalt  annehme.  Daher  dringt  er  in  den  Pastoralbriefen  darauf,  dass  der 
Bischof  oder  Presbyter  lehrhaftig  (Sidaxiixog)  sei  (1  Tim.  3,  2),  d.  h.  dass 
er  fähig  sei,  die  Gemeindeglieder  in  der  gesunden  Lehre  zu  bestärken 
und  die  Widersprechenden  zu  widerlegen  (Tit.  1,  9).  Daher  verordnet  er 
sogar,  dass  die  dem  Lehramt  obliegenden  Presbyter  ein  doppeltes  Honorar 
empfangen  (1  Tim.  5,  17);  daher  empfiehlt  er  dem  Timotheus  und  Titus 
so  eifrig  das  Lehren  (1  Tim.  4,  16.  Tit.  2,  1.  7).  Dadurch  will  er  dem 
Uebelstande  abhelfen,   dass    einige    ohne   wahre   innere  Berufung   in  den 


30 

Verstimniliiiigeii  das  Wort  ergreifen.  Dalier  schärft  er  den  Korinthern  ein, 
dass  Gott  die  einen  zu  Aposteln,  Lehrern  u.  s.  w.  berufen  habe,  ^^onlit  er 
eben  sagen  will,  dass  nicht  alle  berufen  sind  zu  lehren,  wie  denn  auch 
Jakobus  3,  1  eine  darauf  bezügliche  Ermahnung  ertheilt.  Dass  an  die 
Lehrvorträge  sich  der  Gesang  von  Psalmen  und  geistlichen  Liedern  an- 
schloss,  kann  nicht  erwiesen  werden.  Denn  in  den  Stellen,  ^vorauf  man 
sich  beruft  (Kol.  3,  16.  Ephes.  5,  19),  ist  zunächst  nicht  von  den  gottes- 
dienstlichen  Versammlungen  die  Rede,  sondern  von  wechselseitiger  Er- 
bauung und  Belehrung  bei  Mahlzoiten,  im  Familienkreise  u.  s.  w.  Sowie  denn 
das  Singen  bei  den  ersten  Christen  sehr  in  Ehren  und  Gebrauch  war.  Es 
gab  später  viele  Lieder,  die  als  von  Alters  her  gedichtet  galten  i).  Gesang  im 
Gottesdienste  werden  wir  aber  zum  ersten  Male  finden  zu  Anfang  des  2.  Jahr- 
hunderts in  den  Gemeinden  Bithyniens  nach  dem  Berichte  des  Plinius; 
Justinus  Martyr  jedoch  der  später  schreibt,  weiss  nichts  davon.  Das  Abend- 
mahl, Brodbrechen  (Apostelgesch.  2,  42.  46),  nebst  der  Taufe  die  'einzige  sym- 
bolische Handlung,  wurde  anfänglich  bei  den  täglichen  Zusammenkünften  ge- 
feiert und  zwar  gewiss  in  höchst  einfacher  Weise,  da  es  mit  einer  Liebes- 
mahlzeit {ayanri  Brief  Judä  v.  12)  verbunden  war.  Als  Zeichen  der  Bru- 
derliebe war  in  den  Versammlungen  der  Bruderkuss,  der  Kuss  der  Liebe, 
der  heilige  Kuss  ((ftlrjfia  ayantiq^  (ftXrnia  ayiov.  Köm.  16.  16.  1  Petr. 
5,  14)  üblich.  Spuren  der  Sonntagsfeier  finden  sich  Apostelgesch.  20,  7. 
1  Kor.  16,2;  deutlich  tritt  er  hervor  Apokal.  1,  10,  schon  mit  der  be- 
stimmten Bezeichnung  als  Tag  des  Herrn  (xvotaxTj  ^/u-e^a),  wobei,  nach 
späteren  Deutungen  zu  schliessen,  wahrscheinlich  die  Beziehung  auf  die 
Auferstehung  Christi  vorwaltet.  Man  hat  in  1  Kor.  5,  7,  doch  wohl  ohne 
hinlänglichen  Grund,  die  Spur  eines  christlichen  Passahfestes  in  Korinth 
finden  wollen.  Die  palästinensischen  Judenchristen  dagegen  behielten  die 
jüdischen  Feste  bei. 

Der  sittliche  Zustand  bot  manche  Lichtseiten,  doch  fehlten  keines- 
wegs die  Schattenseiten.  Es  Jiing  diess  damit  zusammen,  dass  die  Apostel, 
Paulus  zumal,  aus  wohl  verstandener  und  vollkommen  gerechtfertigter 
Kirchenpolitik  das  Evangelium  zunächst  in  den  grösseren  Städten  verkün- 
digten, von  wo  aus  es  sich  in  der  Umgegend  leichter  verbreiten  konnte. 
Li  den  Städten,  zumal  in  den  grösseren  herrschte  grosse  Sittenverderbniss, 
und  diese  brachten  die  von  den  Heiden  zur  christlichen  Partei  Uebertre- 
tenden  zum  Theil  mit.  Die  Apostel  waren  nämlich,  wie  uns  schon  die 
Vorgänge  am  ersten  christlichen  Ptingstfest  und  die  in  Samarien  beweisen, 
in  der  Aufnahme  neuer  Mitglieder  sehr  weitherzig.  Ihre  Praxis  hielt  die 
gesunde  Mitte  inne  zwischen  der  römisch-katholischen  Laxheit  und  dem 
Rigorismus  einiger  protestantischer  Missionare.  Sie  begnügten  sich  mit 
den  ersten  aufrichtigen  Regungen  christlichen  Glaubens  und  christlicher 
Sinnesänderung  und  behielten  sich  vor,  die  Leute,  nachdem  sie  dieselben 
für  das  Christenthum  gewonnen,  geistig  zu  bearbeiten,  wie  ihre  Briefe  es 
bezeugen.  Aus  diesen  Briefen  ersehen  wir,  wie  viele  und  tief  gehende 
Schäden   hervortraten,    wie   auch  die  Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch 


1)  Euseb.  5,  28. 


31 

den  Glauben  Heischlicli  niissbraucht  wurde.  Eine,  eigentlich  unsittliche 
Sekte  bildete  sich  in  den  kleinasiatischen  Gemeinden,  die  Sekte  der  Niko- 
laiten,  die  identisch  sind  mit  denjenigen,  die  als  die  Lehre  Bileams  fest- 
haltend autgeführt  werden  (Apokal.  2 ,  6.  14.  15)  ^j.  Eine  schauerliche 
Tiefe  sittlichen  Verderbens  thut  sich  uns  auf  in  den  Menschen,  welche  der 
2.  Brief  Petri  und  der  Brief  Judä  bekämpft.  Denn  es  ist  das  Eigenthüm- 
liclie  solcher  Perioden  grosser  Bewegung,  alle  guten  und  alle  schlechten 
Kräfte  in  der  menschlichen  Natur  anzuregen  und  in  Thätigkeit  zu  setzen. 
Wo  viel  Licht,  da  ist  auch  viel  Schatten,  dieses  Wort  bestätigte  sich  auch 
an  den  ersten  christlichen  Gemeinden.  Die  sittlichen  Auswüchse  inmitten 
der  christlichen  Gemeinden  blieben  den  Heiden,  wie  von  vorn  herein  zu 
erwarten,  keineswegs  verborgen.  Sie  wurden,  wie  wir  aus  Sueton  und 
Tacitus  ersehen,  geltend  gemacht,  um  die  Christen  überhau})!  als  eine 
unsittliche  Sekte  darzustellen.  Daher  die  Ermahnung  des  Apostels  Petrus 
(1  Brief  3,  IGj  habt  ein  gutes  Gewissen,  auf  dass  die,  so  von  euch  after- 
reden  als  von  Uebelthätern,  zu  Schanden  werden.  Dass  man  bei  grellen 
Vergehungen  sich  nicht  mit  Ermahnungen  begnügte,  verstellt  sich  von 
selbst.  Nachdem  Petrus  im  eigenen  Namen,  als  Apostel,  Ananias  und 
Sai)hira  und  Simon  den  Magier  gestraft,  machte  Paulus  den  Grundsatz 
geltend,  dass  die  Kirchenzucht  durch  die  gesammte  Gemeinde  geübt  wer- 
den müsse,  mit  sorgfältiger  Vermeidung  alles  dessen,  was  an  Hierarchie 
erinnern  konnte.  Ein  sehr  bezeichnendes  Beispiel  davon  ist  die  Aus- 
schliessung des  Blutschänders  in  Korinth  (1  Kor.  5,  2—13.  2  Kor.  2,  .0—8). 
Dass  aber  die  Apostel  den  Gemeinden  kein  hartes  Joch  auferlegten,  ist 
aus  ihren  Briefen  zu  ersehen.  Sie  forderten  nicht  einmal  Easten,  erklär- 
ten sich  gegen  harte  Askese,  gegen  solche,  die  des  Leibes  nicht  schonen, 
dem  Eleisch  seine  Ehre  nicht  anthun  (Kol.  2,  21—23).  Derselbe  Paulus, 
der  (1  Kor.  7)  den  Puith  gegeben,  nicht  zu  heirathen,  theils  wegen  der 
misslichen  Zeitumstände,  theils  wegen  der  mit  dem  ehelichen  Leben  ver- 
bundenen Versuchung,  den  Dienst  des  Herrn  hintanzusetzen,  er  fand  es 
später  für  nothwendig,  sich  gegen  diejenigen  zu  erklären,  welche  die  Ehe 
verboten,  und  die  höhere,  christliche  Idee  von  der  Ehe  hervorzuheben 
(Ephes.  5,  23—32).  Waren  doch  alle  Apostel,  ausser  Paulus  und  Johannes 
verheirathet  und  führten  ihre  Erauen  mit  sich  herum  (1  Kor.  9,  5)  '^),  wo- 
bei Paulus  geflissentlich  Petrus  hervorhebt.  Paulus  war  soweit  davon  ent- 
fernt, zum  ehelosen  Leben  anzutreiben,  dass  er  (1  Tim.  5,  14),  die  be- 
stimmte Willensmeinung  ausspricht,  die  jungen  Wittwen  sollen  heirathen, 
Kinder  zeugen  u.  s.  w.,    sich   darauf   gründend,    dass   schon  einige  allein 


1)  S.  Jas  Nähere  darüber  im  betreffenden  Artikel  der  Realencyklopädie. 

2)  Nachdem  schon  in  der  patristischen  Zeit  von  einigen,  z.  B.  v.  Cleni.  AI. 
Strom.  3,  6  auch  Euseb.  8,  f)0  die  Meinung  aufgestellt  worden,  Paulus  sei  ver- 
heirathet gewesen,  welcher  Ansicht  auch  Luther  beipüichtete,  hat  Hausratli  a.  a.  0.  II. 
S.  428)  dieselbe  Ansicht  aufgestellt,  indem  er  davon  ausging,  dass  die  Stellen  1  Kor-  6, 
12—7,  10.  1  Thess.  2,  7.  5,  4.  Gal.  4,  10.  1  Kor.  3,  2.  4,  15  am  besten  auf  einen 
Verbeiratheten  passen.  Er  meint  Paulus  sei  Wittwer  gewesen.  Nach  Chrysostomus  zu 
Phil.  4,  3  meinten  einige,  Paulus  rede  mit  Gv^vye  yytjffie  seine  Gattin  an. 


32 

stehende  junge  Wittwen  vom  christlichen  Glauben  abgefallen  sind.  Alte 
Wittwen,  die  das  60.  Lebensjahr  überschritten  und  einen  guten  Lebens- 
wandel geführt,  wurden  unter  die  Zahl  der  zu  versorgenden  aufgenommen, 
in  die  später  sogenannte  Classe  der  Wittwen  {Tayfia  xVQ^^^i  sie  sollten 
über  das  weibliche  Geschlecht,  zunächst  über  die  verheiratheten  jungen 
Frauen  eine  mütterliche  Aufsicht  führen  (Tit.  2-,  3).  Dass  mit  dem  Amt 
der  Diakonissen  (Rom.  16,  2)  die  P^nthaltung  von  der  Ehe  verbunden  war, 
ist  höchst  unwahrscheinlich,  da  die  Diakonen  verhcirathet  waren  und  Paulus 
nur  darauf  dringt,  dass  sie  in  der  Monogamie  leben  (1  Tim.  3,  12). 

IV.  Auf  dem  Gebiete  der  Lehre  war  vor  allem  massgebend  die 
Kampfstellung  gegen  das  Judenthum  und  das  Judenchristenthum.  In  diesem 
Kampfe  entwickelte  Paulus  die  Grundzüge  der  Lehre  vom  Menschen,  von  der 
Sünde,  von  der  Erlösung  und  Versöhnung,  von  der  lleilsordnung  überhaupt, 
sodann  die  Lehre  von  den  Gnadenwirkungen,  von  der  Vorherbestimmung  im 
Gegensatze  zu  dem  engherzigen  Stolze  der  Juden,  die  nur  das  eigene  Volk 
als  das  von  zu  Gnaden  angenonnnene  gelten  lassen  wollten,  endlich  die 
Lehre  von  der  Kirche  als  Zusammenfassung  der  Gläubigen  aus  allerlei 
Volk  in  der  Einheit  des  Geistes  und  Glaubens,  in  welchem  alle  nationalen 
und  religiösen  Unterschiede  verschwinden  und  nur  der  in  Liebe  thätige 
Glaube,  nur  die  neue  Creatur  gilt  (Galater  5,  6.   6,  15). 

PiS  gab  aber  noch  mannigfaltige  andere  Verirrungen.  In  Beziehung 
auf  die  schw\ärmerischen  eschatologischen  Erwartungen  der  Thessalonicher, 
welche  die  Zukunft  Christi  als  unmittelbar  bevorstehend  sich  dachten,  so 
dass  einige  nicht  mehr  arbeiten  wollten,  gab  Paulus  einige  berichtigende 
Erläuterungen  (2  Thess.  2,  1  if.  3,  10—12).  Die  Unordnungen  und  Miss- 
bräuche bei  der  Feier  des  Abendmahls  gaben  ihm  Anlass,  die  betreffende 
Lehre  durch  einige  wichtige  Sätze  zu  erläutern  (1  Kor.  11,  20  ff.).  Schon 
in  demselben  Briefe  tritt  er  solchen  entgegen,  welche  die  Auferstehung 
der  Todten  läugnen  und  verbreitet  sich  ausführlich  über  diese  Lehre 
(1  Kor.  15).  Von  besonderer  Beachtung  ist  das  Eindringen  einer  philoso- 
phischen oder  theosophischen ,  vielleicht  von  den  P^ssenei^n  entlehnten  Be- 
handlung des  Christenthums ,  wodurch  Christus  unter  die  Engel  gestellt 
wurde,  in  einigen  heidenchristlichen  Gemeinden,  verbunden  mit  einer  aske- 
tischen Richtung,  welche  des  Leibes  nicht  schonte  und  zugleich  mit  Ver- 
pflichtung auf  das  mosaische  Ceremonialgesetz.  Paulus  stellt  daher  im 
Briefe  an  die  Kolosser,  unter  welchen  diese  Verirrungen  sich  zeigten,  die 
Hauptsätze  seiner  Christologie  auf.  Er  warnt  vor  der  Verführung  durch 
die  Philosophie  Kol.  2,  8.  Derselbe  Apostel,  der  sonst  so  sehr  die  Erkennt- 
niss,  yvcoaig  empfiehlt  (1  Kor.  1,5),  der  die  Erkenntniss  als  besonderes 
Charisma  aufführt  (ibid.  c.  12,  8),  er  sieht  sich  veranlasst,  den  Timotheus 
vor  fälschlich  sogenannter  Erkenntniss  zu  warnen  (1  Tim.  6,  20),  weil  es 
offenbar  schon  einige  gab,  welche  unter  dem  blendenden  Namen  der  Er- 
kenntniss den  Inhalt  des  christlichen  Glaubens  untergruben.  Auf  Irrlehrer 
bezieht  sich  auch  seine  Anrede  an  die  Aeltesten  von  Ephesus  (Apostel- 
gesch.  20,  29.  30).  In  Palästina  versteifte  sich  die  judenchristliche  Richtung 
bald  nach  dem  Tode  des  Paulus  so  weit,  dass  die  Gottheit  Christi  nicht  an- 
erkannt wurde  und  einige  bereits  in  das  Judenthum   völlig   zurückfielen. 


33 

Denn  die  Richtung  dieser  Partei  ging  dahin,  die  ganze  mosaische  Reli- 
gionsverfassung aufrecht  zu  halten.  Gegen  diese  Abirrung  ist  der  Brief  an 
die  Hebräeji» gerichtet,  der  die  Gottheit  Christi  hervorhebt  (c.  1),  die  mo- 
saische Religionsverfassung  als  blosse  Abschattung  dessen,  was  im  Evange- 
lium gegeben  ist,  darstellt  und  vor  dem  Verlassen  der  Versammlungen, 
d.  h.  vor  Rückfall  in  das  Judenthum  warnt  (10,  25  vgl.  mit  2,  1—4.  3,  7. 
5,  11.  6,  20).  Es  sind  diess  die  Anfänge  des  späteren  Ebionitismus  i).  Die 
Zerstörung  von  Jerusalem  mit  den  begleitenden  entsetzlichen  Unglücks- 
fällen brachte  doch  diese  Leute  nicht  zur  Besinnung.  So  sehen  wir  denn 
die  beiden  Hauptformen  der  Häresis,  die  im  zweiten  Jahrhundert  stärker 
sich  geltend  machten,  bereits  im  apostolischen  Zeitalter  hervortreten,  wie  es 
denn  von  vornherein  zu  erwarten  ist,  dass  die  grosse  häretische  Bewegung 
des  zweiten  Jahrhunderts  ihre  Vorläufer  hatte;  und  zwar  entspringt,  was 
wohl  zu  beachten,  die  gnostische  Richtung  zunächst  auf  dem  Gebiete  des 
Judenchristenthums,  und  verpflanzt  sich  erst  von  da  auf  das  Gebiet  des 
Heidenchristenthums. 

Seit  der  Zerstörung  von  Jerusalem  traten  aufs  neue  Abirrungen  ein, 
wie  denn  der  Apostel  Johannes  klagt,  dass  viele  Antichriste,  d.  h.  Christus- 
läugner  in  die  Welt  ausgegangen  (1  Job.  2,  18.    2  Job.  v.  7).    Einei  stär- 
keren Tadel  konnte  er  über  diese  Verirrung  nicht  aussprechen^  als  wenn 
er  sie  als  Erscheinung  des  Antichristenthums  hinstellte,  woraus  er  zugleich 
den  Schluss  zog,  dass  die  letzte  Stunde  für  die  gegenwärtige  Weltperiode 
geschlagen  habe.    In  den  Kreisen,  worin  der  Apostel  Johannes  lebte,  d.  h.  in 
und  um  Ephesus,  regte  sich  wie  zu  des  Apostels  Paulus  Zeit  die  Gnosis,  die 
fälschlich  sogenannte,  und  zwar  wiederum  zunächst  an  das  Judenthum  sich 
anschliessend,  ohne  jedoch  den  antijüdischen,  antimonotheistischen  Charakter 
verläugnen  zu  können.   Es  lebte  nämlich  gleichzeitig  mit  dem  Apostel  Johan- 
nes in  Ephesus,  der  jüdische  Gnostiker  Kerinth.    Er  ging  aus  von  einem 
über  alle  Berührung  mit  der  sinnlichen  Welt  erhabenen,  aus  der  Verbor- 
genheit seines   Wesens  nicht  heraustretenden  Gotte,  dem  unerkennbaren 
Gotte  (d^sog  ayvca^og).   Derselbe  habe  durch  seine  Engel  die  Welt  erschaffen 
lassen.   Als  obersten  derselben  mag  er  sich  der  Juden  Gott  gedacht  haben, 
ohne  dass  wir  mit  Epiphanius  annehmen  müssen,  er  habe   dem  Urheber 
des  Gesetzes  die  Güte  abgesprochen;  durch  ihn  und  die  übrigen  Engel  sei 
das  mosaische  Gesetz  gegeben  worden,  eine  ziemlich  allgemeine  Vorstellung 
der  damaligen  jüdischen  Theologie  (Apostelgesch.  7,  53).    Dadurch  sollte 
einerseits  die  jüdische  Religion  vor  den  anderen  Religionen,   die  durchaus 
irdischen  Ursprungs  sind,  ausgezeichnet,  andererseits  unter  das  Christen- 
thum  gestellt  werden.   Die  genannte  Vorstellung  vom  Judengotte  erscheint 
weniger  auffallend,    wenn  wir  bedenken,   dass  Kerinth  einem  Theile  des 
mosaischen  Gesetzes  den  wahrhaft  göttlichen  Ursprung  absprach.   Im  Mes- 
sias ist  die  vollkommenste  Offenbarung  des  verborgenen  Gottes  erschienen, 
aber  nicht  die  vollkommene.   Bei  Kerinth  ist  keine  Spur  von  paulinischer  oder 
johanneischer  Christologie  zu  finden.    Jesus,  Sohn  Joseph's  und  der  Maria, 
machte  sich  durch  gesetzliche  Frömmigkeit  fähig  und  würdig,  zum  Messias 
erkoren  zu  werden.    Bei  der  Taufe  verband  sich  der  heilige  Geist,  den  er 

1)  S.  Bleek  in  der  Einleitung  zum  Commentar  über  den  Brief  an  die  Hebräer. 
Herzog,  Kirchengeschichte  I.  o 


34 

den  avoo  Xqictoq  nannte,  mit  dem  Menschen  Jesns,  dem  xar«  XgKTtog, 
und  so  wurde  dieser  mit  Wundergaben  und  vollkommener  Erkenntniss 
Gottes  ausgerüstet.  In  Verbindung  mit  diesem  mächtigen  Gottesgeiste 
hätte  Christus  nicht  leiden  können.  Sein  Leiden  und  Tod  beweist,  dass  der 
obere  Christus  ihn  wieder  verlassen  hatte.  So  wenig  gehörte  Leiden  und 
Tod  zum  Versöhnungswerke  Christi.  Als  Fortsetzung  und  Vollendung  der 
göttlichen  Offenbarung  sollte,  nachdem  die  Welt  sechstausend  Jahre  bestanden, 
eine  neue  himmlische  Ordnung  der  Dinge  entstehen,  im  siebenten  Jahrtausend 
der  Sabbathsruhe  für  die  von  allem  Kami)fe  befreiten  Frommen.  Bis  dahin 
sollte  die  Beobachtung  des  Gesetzes  (Beschneidung,  Sabl)ath  u.  s.  w.)  fort- 
dauern. Jerusalem  sollte  der  Sitz  des  tausendjährigen  Reiches  sein.  l^]s 
werden  dem  Kerinth  über  die  Beschaffenheit  dieses  lleiches  krass  sinnliche 
Verstellungen  beigelegt.  Später  behauptete  man  sogar,  dass  er  Verfass(;r 
der  Apokalypse  Johaiinis  sei,  die  er,  um  den  darin  niedergelegten  Ansichten 
mehr  Eingang  zu  verschati'en,  unter  jenem  verehrten  Namen  herausgegeben 
habe.  Gewiss  ist,  dass  er  die  Autorität  des  Ai)ostels  Paulus  nicht  anerkannte 
und  unter  den  Evangelien  nur  das  von  Matthäus  und  zwar  bloss  theilwei^e 
als  kanonisch  ansah  i). 

Es  standen  diese  Ansichten  des  Kerinth  nicht  vereinzelt  da.  Nicht  mir 
war  der  Chiliasmus  eine  weit  verbreitete  Zeitansicht;  auch  Kerinth's  theo- 
sophische  Sätze  erinnern  an  vorhandene  Speculationen ,  die  fi'eilich  zum 
Theil  zu  anderen  Resultaten  führten.  Aus  der  absoluten  Entgegensetzuu.»- 
von  Geist  und  Materie,  die  als  unerschaffen  galt,  ging  schon  am  Ende  des 
ersten  Jahrhunderts  der  sogenannte  Doketismus  hervor.  Die  Dokete  i 
{öoxritai)^  iiiidi  phantasiasfae  genannt,  lehrten,  dass  die  göttliche  Natur  sic.i 
mit  der  menschlichen  durchaus  nicht  habe  vereinigen  können,  Jesus  habo 
bloss  dem  Scheine  nach  (to  Soxsiy^  ^oxr^CEi)  einen  menschlichen  Leib  ge- 
habt. Sein  Leib  sei  ähnlich  gewesen  dem  der  Engel;  daher  habe  er  aucli 
bloss  scheinbar  gelitten.  Zu  Anfimg  des  zweiten  Jahrhunderts  erschein, 
diese  Vorstellungsart  schon  ziemlich  ausgebildet  2). 

Ob  und  inwieweit  das  Evangelium  und  die  Briefe  des  Apostels  Johan 
nes  gegen  diese  Zeitansichten  gericlitet  sind,  darüber  weichen  noch  jetzl 
die  Ansichten  sehr  von  einander  ab.  Das  steht  fest,  dass  Johannes  in 
Evangelium  nirgends  direct  polemisch  verfährt.  Er  gibt  die  positive  Thesit 
zu  der  von  Anderen  angefochtenen  Wahrheit;  in  den  Briefen  dagegen  ist 
die  direct  polemische  Beziehung  nicht  zu  verkennen  (1  Joh.  2,  18  ff.  4,  2  ff. 
2  Joh.  V.  7).  AVahrscheinlich  ninnnt  Johannes  Bezug  auf  Kerinth,  nicht 
aber  auf  die  Doketen. 

So  viel  steht  fest,  Johannes  hat  als  Centralpunkt  des  christlichen  Be- 
kenntnisses den  Glauben  an  das  Fleisch  gewordene  ewige  Wort  (Logos) 
aufgestellt.  Darin  schliesst  er  sich  auf  das  bestimmteste  an  Paulus  an, 
dessen  Christologie ,  wie  er  sie  besonders  im  Briefe  an  die  Kolosser  dar- 
legt, sich  in  der  Anerkennung  der  Gottheit  Christi  und  in  der  Auffassung 
des  Christenthums  als  der  absoluten  Religion  abschliesst.   Wohl  zu  beachten 


1)  Irenäus  adv.  haer.  1,  26.  Euseb  3,  28.    Epipbanius  haeresis  28.   Hippoljtns  7,  33. 

2)  Ignatius  ad  Smyrn.  c.  1—8  ad  Epliesios  c.  7. 


35 

ist,  class,  jemehr  Johannes  und  Paulus,  sowie  auch  der  Verfasser  des  Briefes 
an  die  Hebräer  auf  Emancipation  von  der  mosaischen  Religionsform  hin- 
arbeiten, sie  desto  stärker  die  Offenbarung  Gottes  in  Christo,  die  Gottheit 
Christi  hervorheben,  worin  sie  eben  die  Berechtigung  und  das  Mittel  zu 
jener  Emancipation  erkennen. 

y.  Die  vorhin  genannten  Differenzen  und  Abirrungen  waren  um  so 
bedenklicher,  da  die  Apostel  einer  nach  dem  anderen  vom  Schauplatze 
dieser  Erde  abtraten.  Es  ist  hier  der  Ort,  von  ihren  letzten  Schicksalen 
und  Thaten  zu  reden.  Petrus,  der  in  der  Apostelgesch.  vom  15.  Capitel  an 
merkwürdigerweise  gar  nicht  mehr  erwähnt  wird,  verweilte  etwas  später 
vorübergehend  in  Antiochien  in  Syrien  (Gal.  2,  11)  und  wendete  sich  bald, 
während  Paulus  nach  den  westlichen  Gegenden  sich  richtete,  nach  dem 
äussersten  Osten,  nach  Babylon,  wo  die  zahlreichen  Juden  ihm  ein  ergie- 
biges Arbeitsfeld  darboten.  Von  Babylon  aus  (5,  13)  schrieb  er  seinen 
ersten  Brief  an  kleinasiatische  Gemeinden,  deren  Existenz  wir,  was  die  Ge- 
meinden in  Pontus,  Kappadocien  und  Bithynien  betrifft,  erst  aus  diesem 
Briefe  kennen  lernen  und  die  grossentheils  aus  Heidenchristen  bestanden 
(1,  18.  2,  10.  4,  3.  4).  Von  seinem  Märtyrertode  spricht  in  dieser  Zeit 
bloss  und  allein  Clemens  von  Rom  in  seinem  am  Ende  des  ersten  Jahrhun- 
derts geschriebenen  Briefe  an  die  Korinthier  und  zwar  in  solcher  Weise, 
dass  daraus  ebensowohl  gegen  eine  Anwesenheit  des  Petrus  in  Rom  als 
für  eine  solche  geschlossen  werden  kann.  Alle  anderen  Berichte  über  des 
Petrus  Aufenthalt,  Wirksamkeit  und  Tod  in  Rom  gehören  den  nachaposto- 
lischen Zeiten  an  und  müssen  im  Zusammenhange  mit  den  damaligen  Zeit- 
strömungen betrachtet  und  beurtheilt  werden.  Was  den  Apostel  Paulus  be- 
trifft, so  steht  fest,  dass  sein  Tod  nicht  an  das  Ende  der  zwei  Jahre  fällt, 
die  er  nach  der  Apostelgeschichte  als  Gefangener  in  Rom  zubrachte;  denn  in 
diesem  Falle  hätte  Lucas  nicht  ermangelt,  seine  Geschichte  damit  abzu- 
schliessen.  Es  bleibt  das  wahrscheinlichste,  dass  er  damals  aus  der  Ge- 
fangenschaft befreit,  nachdem  er  noch  einige  Jalire  seine  Wirksandveit  fort- 
gesetzt und  wieder  in  Gefangenschaft  gerathen,  in  der  neronischen  Verfol- 
gung hingerichtet  wurde,  wie  aus  demselben  Briefe  des  Clemens  hervor- 
geht, der  auch  von  Petri  Tode  spricht^). 


1)  Bekanntlich  deuten  ausgezeichnete  Ausleger  und  Historiker,  im  Anschlüsse  an 
eine  Ansicht,  die  schon  Euseb.  2,  15  kennt,  in  der  Stelle  1  Petr.  5,  lo  Babylon  als  figür- 
liche Bezeichnung  von  Eom,  sich  berufend  auf  die  ebenfalls  figürliche  Bezeichnung  (Tm- 
GnoQtt  (1,  1),  fxlfXTTji  und  viog  von  Marcus  ausgesagt.  Allein  es  liegt  auf  der  Hand, 
dass  daraus  kein  zwingender  Grund  abgeleitet  werden  kann,  Babylon  auch  so  zu  verstehen. 
Mit  Recht  hat  der  katholische  Theologe  Hug  bemerkt,  dass  eine  solche  figürliche  Bezeich- 
nung in  einem  Werke,  dessen  ganze  Anlage  symbolisch  sei,  sehr  wohl  angehe,  hingegen  in 
der JJnterschrift  eines  Briefes  nur  dann  glaublich  wäre,  wenn  es  arcana  nomina  ecclesiarum 
unter  den  Christen  gegeben  hätte.  Es  ist  auch  nicht. ohne  Grund  bemerkt  worden,  dass 
die  Aufeinanderfolge  der  Landschaften ,  deren  Gemeinden  gegrüsst  werden  (1  Petr.  1 ,  1), 
nicht  zu  einem  Briefsteller,  der  in  Rom  weilt,  passt,  sondern  vielmehr  zu  einem  solchen, 
der  im  Osten  befindlich  ist.  Sodann  fällt  es  auf,  dass  Petrus  den  Spuren  des  Apostels 
Paulus  gewissermassen  nachgeht.  Es  steht  fest,  was  auch  Thiersch  dagegen  sagen  möge, 
das  Petrus  zu   der  Zeit,   als  Paulus   den  Brief  an  die  Christen  zu  Rom  schrieb,   daselbst 

3* 


36 

Petrus  und  Paulus,  diese  beiden  Apostel,  repräsentiren  die  Aussöhnung: 


nicht  war  noch  früher  gewesen  war;  sonst  hätte  Paulus  es  erwähnt  oder  wenigstens  darauf 
Bezug  genommen.  Ebensowenig  fand  sich  Petrus  in  Rom,  als  Paulus  daselbst  eintraf,  um 
zwei  Jahre  daselbst  zu  verweilen.  Unerklärlich  wäre  das  Stillschweigen  der  Apostelgesch. 
über  eine  so  wichtige  Thatsache.  Auf  keinen  Fall  kann  also  Petrus  vor  dem  Jahre  62 
oder  63  nach  Rom  gekommen  sein.  Es  liesse  sich  damit  immer  noch  mit  Gieseler  die 
Annahme  verbinden,  dass  der  genannte  Brief  aus  Babylon  geschrieben  sei.  Nur  müsste  man 
sich  über  Petri  Beweglichkeit  wundern,  der  in  seinen  alten  Tagen  auf  seinen  Reisen  noch 
mehr  Länder  umspannt  haben  würde  als  selbst  Paulus. 

Im  Schreiben  an  die  Korinthier  (c.  4.  5.  6)  theilt  Clemens  von  Rom  über  das  Mar- 
tyrerthum  der  beiden  Apostel  Petrus  und  Paulus  einiges  mit,  wovon  bei  der  näheren  Unter- 
suchung der  Sache  ausgegangen  werden  muss,  weil  es  die  erste  ausserneutestamentliche 
Nachricht  ist.  Clemens  unterscheidet  drei  Classen  von  Menschen,  die  für  die  gute  Sache 
gekämpft  und  gelitten  haben.  In  erster  Linie  führt  er  Abel,  Moses,  David  an.  Darauf 
geht  er  zu  denjenigen  über,  welche  uns,  sagt  er,  der  Zeit  nach  die  nächsten  sind,  zu  den 
erlauchten  Vorbildern  der  gegenwärtigen  Generation  (t^?  ytyeag  ^^wv  t«  y^waia  vno- 
dsiy/uara.  Hier  kommt  er,  ohne  jedoch  den  Ort  zu  nennen,  auf  das  Märtyrerthum  jener 
beiden  Apostel  zu  sprechen.  In  dritter,  von  der  zweiten  deutlich  unterschiedener  Linie 
führt  er  römische  Märtyrer  an,  eine  grosse  Schaar  von  Auserwählten,  welche  viele  Qualen 
ausgestanden  haben,  und  so,  sagt  er,  „unter  uns"  die  besten  Vorbilder  geworden  sind 
{(iTJo^fty/Lta  xakliGiov  ?//  »/,«<»'.)•  ^^  ist  hier  offenbar  die  Rede  von  der  Verfolgung 
unter  Nero  und  von  den  römischen  Opfern  dieser  Verfolgung.  Insofern  haben  wir  hier 
eine  Ortsbestimmung,  die,  wie  es  scheint,  auf  das  Martyrium  jener  beiden  Apostel  ausge- 
dehnt werden  kann.  Allein  diess  ist  nicht  völlig  sicher.  Möglicherweise  geht  der  Sinn 
des  Verfassers  dahin,  dass  Petrus  und  Paulus  auch  zu  denjenigen  gehören,  die  „unter 
uns",  d.  h.  in  Rom,  Märtyrer  geworden  sind.  Aber  in  den  Worten  ist  es  nicht  ausge- 
drückt.   So  urtheilt  auch  Gieseler. 

Was  insbesondere  Petrus  betrifft,  so  macht  noch  ein  anderer  Punkt  Schwierigkeit. 
Von  diesem  Apostel  wird  in  aller  Kürze  berichtet,  dass  er,  nachdem  er  Vieles  ausgestan- 
den, an  den  verdienten  Ort  der  Verherrlichung  gegangen  sei.  In  dem  weit  grösseren  und 
ausführlicheren  Lobe,  das  Paulus  ertheilt  wird,  kommen  Angaben  vor,  woraus  man  schliessen 
könnte,  dass  allein  dieser  Apostel  im  Abendlande  lehrend  aufgetreten  und  daselbst  Mär- 
tyrer geworden:  er  habe  den  Preis  der  Ausdauer  erhalten,  da  er  siebenmal  Fesseln  ge- 
tragen, verjagt  und  gesteinigt  worden  sei.  Er  sei  Verkündiger  des  Evangeliums  sowohl 
im  Morgen-  als  im  Abendlande  geworden,  habe  die  ganze  Welt  Gerechtigkeit  gelehrt,  sei 
bis  an  das  Ende  des  Abendlandes  (rf()^/«  it^q  dvctojg)  gekommen  und  habe  vor  Fürsten 
und  Obrigkeiten  Zeugniss  abgelegt  (luftQTvoTjffag  (m  rwr  ijyovtjfywv).  So  sei  er  an  den 
heiligen  Ort  gegangen,  als  das  grösste  Beispiel  der  Ausdauer.  —  Die  siebenmaligen  Fesseln 
bringt  der  Verfasser  vielleicht  so  heraus,  dass  er  zu  den  fünf  Malen,  die  Paulus  selbst  an- 
gibt (2  Kor.  11,  24)  noch  die  Gefangenschaft  in  Cäsarea  und  in  Rom  rechnet.  Das  Ende 
des  Abendlandes  ist  wahrscheinlich  auf  Spanien  zu  beziehen  (Rom.  16,  24).  MaQTVQijaag 
int  TMv  rtQ^o/mivMv  erklärt  sich  am  besten  auf  die  angegebene  Weise,  wobei  nicht  speciell 
an  diejenigen  zu  denken  ist,  welche  am  Ende  der  Regierung  Nero's  die  Herrschaft  führten. 
(S.  Dressel,  patrum  apostolic.  opera  ad  h.  1.).  Es  fällt  nun  aber  sehr  auf,  dass  nur  von 
Paulus  gesagt  wird,  er  sei  in  das  Abendland  gekommen.  Ist  auch  Petrus  dahin  gekom- 
men, so  bleibt  es  geradezu  unerklärlich,  warum  Clemens  dieses  nur  von  Paulus  im  deut- 
lichen Unterschiede  von  Petrus  aussagt.  Er  konnte  dazu  unmöglich  durch  die  Annahme 
veranlasst  sein,  dass  es  von  Paulus  weniger  bekannt  war  als  von  Petrus.  Oder  ist  das 
der  Sinn  des  Verfassers,  dass  Petrus  zwar  in  Rom  gewesen,  aber  durchaus  nicht  als  Ver- 
kündiger des  Evangeliums,  bloss  um  daselbst  hingerichtet  zu  werden?  Möglich  aber  un- 
wahrscheinlich. Auf  jeden  Fall  verliert  so  die  Anwesenheit  Petri  in  Rom,  wenn  sie  je 
stattgefunden,  für  die  Entwicklung  der  dortigen  Gemeinde  jegliche  Bedeutung. 


37 

der  beiden  Parteien  in  der  Kirche,   der  judenchristlichen  und  der  heiden- 
christlichen in  der  Einheit  des  Glaubens   an  Christum    als    den   alleinigen 
Grund  des  Heiles,  mit  Ausschliessung  der  Gerechtigkeit  aus  dem  Gesetze. 
Der  Apostel  Johannes  verweilte,    nachdem  er  Jerusalem  verlassen, 
in  Ephesus ,   seine  Wirksamkeit  auf  kleinasiatische  Gemeinden  erstreckend 
bis  zum  Anfang  der  Regierung  Trajans,   d.  h.    bis  nahe   an  das  Ende  des 
ersten  Jahrhunderts  ^).    Er  soll  unter  Domitian  nach  Patmos  verwiesen  wor- 
den sein  2) ,    was  aber  wahrscheinlich  früher  geschehen  ist.     Völlig  ins  Ge- 
biet der  Sage  gehört  die  Nachricht,  dass  er  unter  demselben  Domitian  nach 
Rom  geschleppt,    daselbst   in  siedendes  Oel   geworfen  worden  und  daraus 
unversehrt  hervorgegangen  sei  3).  Einen  sehr  schönen  Zug  von  ihm  hat  Cle- 
mens von  Alexandrien,  doch  auch  nur  auf  einer  Sage  beruhend,  aufbewahrt  ^) 
—  von  dem  Jünglinge ,  der  auf  grosse  Abwege  gerathen  und  vom  Apostel 
wieder  auf  den  rechten  Weg  gebracht  wurde.    Nach  einer  bis  auf  Polykarp 
zurückgehenden  Ueberlieferung   soll  Kerinth  einst  mit  dem  Apostel  Johan- 
nes in  einem  Bade  in  Ephesus  zusammengetroffen  sein  und  dadurch  diesen 
bewogen  haben,  das  Haus  sofort  zu  verlassen,  aus  Furcht,  es  möchte  das 
Dach  sofort  über  dem  Ketzer  zusammenstürzen  &) ;  jedenfalls  ein  Ausdruck  des 
Abscheus  der  Zeitgenossen  gegen  Kerinth's  Irrlehren.    Anderes  Sagenhafte 
übergehen    wir.      Man   hat  aber  in  neuester  Zeit  selbst  des  Apostels  Auf- 
enthalt in  Ephesus  für   eine  spätere  Erdichtung   erklärt,    dazu   bestimmt, 
der    ephesinischen  Gemeinde    einen  neuen  Glanz   zu  verleihen ,    wie   aus 
ähnlicher  Absicht  die  Sage  von  Petri  Wirksamkeit   und  Tod    in  Rom    ent- 
standen sei.    Man  hat  behauptet,   es  sei   der  Apostel   mit  dem  Presbyter 
Johannes ,    dessen  Existenz  durch  Papias  verbürgt  ist  ^) ,   verwechselt  wor- 
den.    Doch,    wenn  gleich   in   der  Ueberlieferung,  betreffend   des  Apostels 
Johannes  Aufenthalt  in  Ephesus,  einige  Unklarheit  herrscht,   so  berechtigt 
das  keineswegs  zu  der  genannten  Ansicht  ^).    Jakobus ,    nicht   der  Bruder 
des  Apostels  Johannes,   der   frühe   hingerichtet    wurde    (Apostelgesch.  12, 
1,  2) ,    sondern   der  Bruder  des  Herrn  (Gal.  1 ,  19)  wirkte  lange  Zeit  hin- 
durch in  Jerusalem  als  Vorsteher  der  Gemeinde,   als  Vorsteher  des  nicht 
häretischen  Judenchristenthums ,  auch  bei  den  Juden  hoch  angesehen,   der 
Gerechte  genannt;    er  erlag  dem  Fanatismus  der  Juden  kurz  vor  Ausbruch 
des   jüdischen  Krieges  ^).     An   seine    Stelle   wurde  Simeon,   des   Erhisers 
Verwandter,  gewählt,    und  zwar    von  den  damals  noch  lebenden  Aposteln, 
unmittelbaren  Jüngern    des  Herrn   und   von   den  noch  lebenden  leiblichen 
Verwandten  desselben.      Diess   berichtet  Eusebius  auf  Grund   einer  münd- 


1)  So  berichtet  Irenäus  3,  3.  4. 

2)  Euseb.  3,  18. 

3)  Tertullian  de  praesurapt.  heret.  c.  36.     Hieron.  adv.  Jovirn.  c.  1. 

4)  Am  Ende  der  Schrift:  quia  dives  salvus. 

5)  Irenäus  3,  3.     Euseb.  3,  28.  4,  14. 

6)  Euseb.  3,  39. 

7)  S.  Keim   im  angeführten  Werke.    Gegen    ihn  ist   Steitz    aufgetreten   in   den 
Studien  und  Kritiken  1868  S.  487. 

8)  Hegesipp.  bei  Euseb.  2,  23. 


liehen  Tradition  0-  ^^^  wissen  aus  demselben  Eusebius ,  dass  die  Juden- 
cbristen  gerne  leibliche  Verwandte  des  Herrn  zu  Vorstehern  wählten  2). 
Wie  diese  Vorsteherschaft  beschalfen  war,  darüber  sagen  die  Berichte 
nichts.  —  Was  die  übrigen  Apostel  betrifft,  so  soll,  der  Ueberlieferung 
zufolge,  Thomas  in  Parthien,  Andreas  in  Scythien  das  Evangelium  ver- 
kündigt haben  3).  Erst  Gregor  von  Nazianz  kennt  die  Sage ,  dass  Thomas 
bis  nach  Indien  gelangt  sei,  wo  übrigens  noch  heut  zu  Tage  die  Thomas- 
christen sich  auf  ihn  berufen.  Bartholomäus  soll  in  Indien,  d.  h.  in  Jemen, 
gewirkt  haben,  Matthäus  in  Aethiopien.  Beachtenswerth  ist  es,  dass  von 
keinem  einzigen  der  12  ursprünglichen  Apostel  gemeldet  wird,  er  habe 
sich  nach  Europa  gewendet,  um  so  grössere  Bedeutung  erhielt  die  Wirk- 
samkeit des  Apostels  Paulus.  Denn  für  die  fernere  Entwicklung  und  Aus- 
breitung des  Christenthums  war  es  von  der  höchsten  Bedeutung,  dass  es  in 
Europa  eingebürgert  wurde. 

VI.  Der  Nachwuchs  von  Lehrern  und  Vorstehern  der  Kirche,  ob- 
schon  es  zum  Theil  Apostelschüler  und  Apostelgehülfen  waren,  bildet  einen 
grossen  Abstand  gegen  die  Apostel  selbst,  und  das  war  nicht  gerade  ein 
günstiges  Zeichen  der  Zeit.  Es  kommen  hier  in  Betracht  die  seit  Clericus 
unter  dem  Namen  apostolische  Väter  zusammengefassten  Lehrer  und 
Vorsteher  von  Kirchen ,  sieben  an  der  Zahl ,  Barnabas,  Clemens  von 
Rom,  Hermas,  Ignatius,  Polykarp,  Papias,  Dionysius  Areo- 
pagita  (Apostelgesch.  17,  34).  Allein  die  ihnen  zugeschriebenen  Schriften 
sind  theils  verloren  gegangen  (wie  die  des  Papias"),  theils  gehören  sie  an- 
deren Verfassern  an,  sind  im  zweiten  Jahrhundert  oder  noch  später  (z.  B. 
die  areopagitischen  Schriften)  verfasst  worden  ^). 

Unter  allen  diesen  Männern  fällt  allein  Clemens  von  Rom  mit  Sicher- 
heit noch  in  das  apostolische  Zeitalter,  bildet  aber  bereits  den  Uebergang 
in  das  nachapostolische  Zeitalter.  Einem  Manne  dieses  Namens  wird  schon 
von  Dionysius  von  Korinth  c.  170,  sodann  von  Irenäus,  Clemens  von  Alexan- 
drien  u.  A.  ein  an  die  Korinthische  Gemeinde  gerichteter  Brief  zugeschrieben  &), 
der  noch  vorhanden  ist,  doch  ohne  Nennung  des  Namens  des  Verfassers.  Viel- 
mehr ist  es  die  römische  Gemeinde,  welche  als  den  Brief  schreibend  auf- 
tritt. Er  ist  veranlasst  durch  die  Auflehnung  einiger  unruhigen,  frechen 
Menschen  gegen  die  eingesetzten  Presbyter,  er  soll  dazu  dienen,  die 
Ungehorsamen  zurecht  zu  weisen  und  den  Frieden  wieder  herzustellen. 
Der  Verfasser  scheint  der  paulinischen  Schule  anzugehören ,  daher  die  wie- 
derholte \Yarnung,  sich  nicht  auf  Werke  zu  verlassen  (c.  32).  Die  Art,  wie 
er  von  Paulus  spricht  in  der  oben  angeführten  Stelle  (c.  5)  scheint  auf 
solche  Bezug  zu  nehmen,  welche  Paulus  neben  Petrus  zu  verkleinern 
suchten.    Doch  lässt  er  dem  Apostel  Petrus  seinen  Vorrang,  indem  er  ihn 


1)  Euseb.  3,  11  loyog  xaTS/d' 

2)  Euseb.  3,  20. 

3)  Origenes  bei  Euseb.  3,  1.. 

4)  Ausgaben  der  patres  apostolici  von  Cotelerius,    Paris  1672,    von   Clericus,    Am- 
sterdam 1724,  von  Hefele,  Tübingen  1839  u.  1855,  von  Dressel  1857.  1863. 

6)  Euseb.  4,  23. 


39 

zuerst  erwähnt.  Ergreilend  ist  die  Stelle,  wo  der  Verfasser,  um  seinen 
Ermahnungen  zum  Frieden  Eingang  zu  verschaffen,  hinweist  auf  die  Har- 
monie und  Ordnung  in  der  Bewegung  der  Weltkörper,  die  alle  ihre  ange- 
wiesenen Bahnen  verfolgen,  ohne  über  die  Grenzen  derselben  hinauszu- 
schweifen. Der  Verfasser  scheint  durchaus  dem  PresbytercoUegium  anzu- 
gehören. Es  könnte  sein,  nach  c.  1,  dass  der  Brief  zur  Zeit  der  Verfolg- 
ung durch  Kaiser  Domitian  geschrieben  ist.  Er  zeigt  übrigens  noch  keine 
Spur  der  späteren  Episkopalverfassung.  Presbyter  und  Bischöfe  sind 
identisch  c.  42.  Der  Verfasser  des  Briefes,  den  man  mit  dem  im  Briefe 
an  die  Philipper  4,  3  genannten  Clemens  nicht  verw^echselu  darf,  muss  in 
der  römischen  Gemeinde  eine  angesehene  Stellung  eingenommen  haben,  da 
er  mit  der  Abfassung  des  Briefes  beauftragt  wurde.  Dass  man  daraus 
später  geschlossen,  er  sei  Bischof  von  Rom  gewesen,  dass  er  bald  der 
erste,  bald  der  zweite,  bald  der  dritte  oder  auch  der  vierte  Nachfolger 
Petri  genannt  wird,  das  hängt  theils  mit  der  Ausbildung  der  Episkopal- 
verfassung, theils  mit  der  Entwicklung  der  Petrussage  zusammen  und  wird 
später  in  Verbindung  damit  zur  Sprache  kommen. 

Hier  soll  noch  auf  folgende  Punkte  aufmerksam  gemacht  werden. 
Der  Brief  des  Clemens  gibt  uns  das  erste  Beispiel  einer  Gemeinde,  die 
an  eine  Schwestergemeinde  eine  Ermahnung  ergehen  lässt.  Dass  gerade 
die  römische  Gemeinde  ein  solches  Beispiel  gab,  ist  ein  im  Hinblick  auf 
die  Folgezeit  beachtenswerthes  Ereigniss,  zugleich  ein  Beweis  der  hohen 
Achtung,  worin  diese  Gemeinde  stand  (Rom.  1,  8).  Ihr  Verfahren  hat  aller- 
dings etwas  Auftauendes  denn  sie  hat  von  der  Korinthischen  Gemeinde  keiner- 
lei Auftrag  zu  einem  solchen  Mahnschreiben  erhalten.  Sie  handelt  aus  eigen- 
stem Antriebe  als  wie  mit  einem  Aufsichtsamte  über  die  Kirche  betraut  (c.  47). 
Die  wichtige  Angelegenheit,  um  welche  es  sich  handelte,  liess  über  das  Unge- 
wöhliche  der  Sache  hinwegsehen.  Galt  es  doch,  eine  hoch  angesehene  Kirche 
vor  Zerrüttung  zu  bewahren;  und  es  war  der  korinthischen  Gemeinde  gewiss 
sehr  erwünscht,  an  der  Kirche  zu  Rom  eine  Stütze  und  Schutzwehr  gegen  ver- 
derbliches Parteiwesen  zu  finden ;  daher  dieser  Brief  fortan  in  den  Gemeinde- 
versammlungen zu  Korinth  öfter  vorgelesen  wurde  (Euseb.  4,  23).  —  In  dem- 
selben Sendschreiben  begegnet  man  auch  der  ersten  leisen  Spur  eines  mit 
dem  Abendmahle  verbundenen  sichtbaren  Opfers  und  der  Aulfassung  des 
Episkopats  oder  Presbyterats  als  eines  Opferdienstes.  Schon  so  früh  und 
zwar  in  Rom  wurde  die  Linie  der  Schrift  überschritten  (c.  40.  41.  44).  Ein 
2.  aber  unächter  Brief  desselben  Clemens  an  die  Korinthier,  der  erst  jetzt 
vollständig  erschienen,  ist  eigentlich  eine  Homilie.  S.  die  Nachträge.  Dem- 
selben Verfasser  sind  im  2.  Jahrhundert  eine  Menge  Schriften  untergeschoben 
worden:  1)  zwei  Briefe  in  syrischer  Sprache,  2)  die  apostolischen  Constitutio- 
nen und  Kanones,  3)  die  clementinischen  Homilieen  und  Recognitioneu. 

VII.  Inmitten  dieser  Bewegungen  im  Inneren  der  jungen  christlichen 
Gemeinden  trübten  sich  mehr  und  mehr  die  Verhältnisse  nach  aussen. 

Zunächst  zwar  waren  die  Christen  vor  der  Verfolgung  durch  den 
Staat  geschützt.  Sofern  sie  als  jüdische  Sekte  galten,  gehörten  ihre  Ver- 
sammlungen zu  den  collegia  licita  (Apostelg.  18,  12).  Doch  gab  es  hin 
und   wieder  Volkstumulte   gegen   sie  (Apostelgesch.    16,    19).    In   Thessalo- 


nich  behandelte  man  sie  als  lElevolutionäre  (Apostelgesch.  17,  6),  gerade 
so  wie  die  Juden  Christum  behandelt  hatten.  Mehrmals  nahmen  sich  die 
römischen  Behörden  ihrer  schützend  an.  Tiberius  verfolgte  die  Chri- 
sten nicht,  was  zu  der  Sage  Anlass  gab,  dass  er  Clmstum  unter  die  Göt- 
ter aufgenommen  1).  Aber  auch  Claudius  liess  die  Cliristen  in  Kühe;  er 
begnügte  sich,  die  unter  sich  zankenden  Juden  aus  Rom  zu  vertreiben, 
welcher  Befehl  nicht  eigentlich  durchgeführt  wui-de^). 

Die  erste  eigentliche  Verfolgung  betraf  die  römische  Gemeinde  und 
ging  von  Nero  aus,  worüber  Tacitus  Bericht  erstattet 3).  Sie  ging  nicht 
aus  Religionshass ,  sondern  aus  dem  Bestreben  hervor,  den  im  Shwange 
gehenden  Verdacht,  dass  er  der  eigentliche  Urheber  der  Feuersbrunst ,  die 
Rom  verzehrte,  sei,  von  sich  abzuwälzen.  Dazu  boten  sich  ihm  die  Chri- 
sten als  willkommene  Opfer  dar.  Er  liess  einige  ergreifen,  welche  be- 
kannten Christen  zu  sein ;  duixh  sie  erfuhr  er  das  Vorhandensein  vieler 
anderen  in  Rom,  die  er  nun  auch  festnehmen  liess.  Da  man  sie  de.s 
odium  generis  humuani  beschuldigte  —  wie  auch  die  Juden  —  so  konnte^ 
der  Verdacht,  dass  sie  Urheber  der  Feuersbrunst  seien,  um  so  eher  bei 
einigen  Glauben  linden;  und  die  ausgesuchten  Martern,  womit  man  sie 
tödtete,  wozu  der  Kaiser  wahrscheinlich  durch  seine  vertraute  Rathgeberin 
die  jüdische  Proselytin  Poppaea  Sabina  augetrieben  wurde,  —  waren  geeignet, 
im  Volke  den  Glauben  zu  erwecken,  dass  auf  den  Christen  eine  grosse 
Schuld  laste.  Es  wurde  noch  Spott  mit  ihnen  getrieben,  indem  sie  theils 
in  Felle  wilder  Thiere  eingenäht,  und  von  Hunden  zerrissen,  theils  in 
Nachahmung  Christi  gekreuzigt,  theils  in  eine  Tunica  gehüllt,  die  mit 
Pech,  Harz  und  anderen  brennbaren  Stoffen  bestrichen  war,  an  Pfählen 
festgebunden,  lebendig  verbrannt  wurden,  damit  sie,  wenn  der. Tag  sich 
neigte,  bei  einer  vom  Kaiser  in  seinen  Gärten  veranstalteten  Lustbarkeit, 
dem  Volke  in  ihrer  Todesqual  als  lebendige  Fakelu  leuchteteu,  indess 
Nero  in  dem  Aufzuge  eines  Wagenlenkers  unter  das  Volk  sich  mischte. 
Daher,  obgleich  bereits  die  ungünstigsten  Urtheile  und  Lügen  über  die 
Christen  im  Volke  laut  geworden^),  sich  doch  das  Mitleid  regte,  da  sie 
der  .Mordlust  eines  Einzigen  geopfert  zu  sein  schienen.  Die  Verfolgung 
scheint  mit  Unterbrechung  bis  in  die  letzten  Jahre  Nero's  (68)  gedauert, 
jedoch  sich  nicht  weit  ausserhalb  Rom's  und  der  nächsten  Umgebung  aus- 
gedehnt zu  haben  ^).    Während  unter  dem  heidnischen  Nero  anhängenden 

1)  Tertull.  Apolog.  c.  5. 

2)  Sueton  in  Gl.  c.  25.  Judaeos  impulsore  Chresto  assidue  tamultuantes  Roma 
expulit.  Auch  die  Apostelg.  18,  2  weiss  nur  von  einer  Vertreibung  der  Juden.  Man  hat 
die  Stelle  in  Sueton  so  gedeutet,  als  ob  er  sagen  wollte,  dass  Juden  und  Christen  über 
Christum  mit  einander  gestritten  hätten  und  desshalb  vertrieben  worden  seien;  doch  das 
ist  in  den  Text  hineingetragen.  Chrestus  könnte  allerdings  i.  q.  Christus  sein.  Nach 
Tert.  apol.  c.  3,  ad  nationes  1,  5  wurden  die  Christen  chrestiani  genannt  von  den  Juden. 
Aber  Sueton  kennt  sehr  wohl  die  Form  christiani  (in  Nerone  c.  16). 

3)  Annales  XV.  44. 

4)  Tacitus  nennt  sie  per  flagitia  invisos,  wirft  ihnen  exitiabilis  superstitio,  atrocia 
und  pudenda  vor,  Sueton  in  Nerone  c.  16  nennt  sie  genus  hominum  superstitionis  novae 
et  maleficae. 

5)  Obschon  Orosius  historiae  7,  7  von  Nero  berichtet:  Komae  christianos  supplicio 
et  morte  affecit  ac  per  omnes  provincias  pari  persecutione  excruciari  imperavit. 


41 

Volke  sich  nach  dessen  Tode  die  Sage  bildete ,  er  werde  als  mächtiger 
Herrscher  aus  dem  Orient  wieder  kommen,  war  bei  den  Christen  das 
Grauen  vor  Nero  so  gross,  dass  sie  glaubten,  er  werde  am  Ende  der  Tage 
mit  dem  Antichrist  oder  gar  als  Antichrist  wieder  kommen  i).  Man  berief 
sich  dabei  auf  sibyllinische  Weissagungen. 

Nachdem  unter  Vespasian  und  Titus  (70 — 81)  die  Christen  in  Kühe 
gelassen  worden,  verschlimmerten  sich  wieder  die  Verhältnisse  unter  Do- 
mitian  (81  —  96).  Man  forderte  von  ihnen  den  jüdischen  Leibzoll,  eine 
Abgabe  für  den  capitolinischen  Jupiter  2).  Man  fing  an ,  sie  der  Gottlosig- 
keit zu  beschuldigen  (a^eotrjg)^  sowie  auch  die  Juden,  mit  denen  man  sie 
oft  zusammenwarf.  Angebereien  von  Sklaven  wurden  gegen  sie  angenom- 
men, gegen  den  bestimmten  Wortlaut  der  römischen  Gesetzgebung.  Viele 
Christen  sollen  damals  als  Märtyrer  gestorben  sein,  wie  Eusebius  in  Chro- 
nicon  berichtet.  Weniger  Bedeutung  hatten  des  argwöhnischen  Kaisers 
Nachforschungen  nach  Nachkommen  Davids  in  Palästina,  womit  schon 
Vespasian  vorangegangen  war.  Als  die  zwei  Männer,  die  man  ihm  als 
leibliche  Verwandte  Christi  und  Nachkommen  Davids  vorstellte,  ihm  erklärt 
hatten,  dass  das  Reich  Christi  nicht  von  dieser  Welt  sei  und  am  Ende  der 
Tage  eintreten  werde,  entliess  sie  der  Kaiser  und  befahl  die  Verfolgung 
gegen  die  Kirche  einzustellen.  Jene  zwei  Männer  wurden  darauf  Vorsteher 
von  Kirchen  3).  Unter  Nerva  90—98  hatten  die  Christen  Ruhe,  aber  unter 
Trajan  erneuerten  sich  die  Verfolgungen,  wovon  später  die  Rede  sein  wird. 

Während  auf  diese  Weise  die  Periode  der  Verfolgungen  von  heid- 
nischer Seite  eingeleitet  wurde,  sehen  wir,  wie  das  jüdische  Volk  sich 
die  furchtbaren  Schläge,  die  es  erlitten,  nui'  dazu  dienen  lässt,  dass  es 
in  der  Abwendung  von  dem  zu  ihm  zunächst  gesendeten  Heilande  sich 
noch  mehr  verhärtet.  Seit  den  letzten  Jahren  des  ersten  Jahrhunderts 
kam  der  Gebrauch  auf,  in  den  Synagogen  die  Christen  und  den  christ- 
lichen Namen  täglich  zu  verfluchen  *).  Man  hat  lange  geglaubt ,  dass  der 
grösste  unter  seinem  Volke  in  damaliger  Zeit,  Flavius  Josephus,  sich  so- 
weit über  das  Niveau  seiner  Volksgenossen  erhoben  habe,  dass  er  sich 
vor  Jesu  beugte.  Allein,  da  Origenes  bestimmt  bezeugt,  dass  diess  nicht 
der  Fall  gewesen  &),  so  muss  die  Stelle,  worauf  jene  Annahme  sich  grün- 
det 6) ,  als  von  den  Christen  entweder  ganz  angefertigt  oder  wenigstens 
stark  interpolirt  angesehen  werden. 


1)  Aug.  de  ci?it.  Del  20,  19,  Lact,  de  mortibus  peraecutormn. 

2)  Jos.  de  hello  jud.  7,  6.  6.     Sueton  in  Domit.  b.  12. 

3)  So  Hegesipp  bei  Euseb  3,  16  und  besonders  20. 

4j  S.  Justins  Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  c.  16.  47  u.  a.  Stellen,  Hieronymus  in 
Jesaiam  5,  18.  49,  7,  in  Arnos  1,  11:  principes  Judaeorum  perseverant  in  blasphemia 
et  ter  per  singuloa  dies  in  omnibus  synagogis  sub  nomine  Nazarenorum  anathematizant 
vocabulum  christianum. 

5)  C.  Celsum:  antßrcpv  tw  'lijCov  tag  XqiCtq), 

6)  Antiquitaeten  18,  3.  3.  S.  dazu  die  sinnige  Hypothese  von  Gieseler  1,  81  ühef 
die  wahrscheinüche  Interpolution. 


Die  Zeiten  des  alten  Eatüflliclsnins. 

Vom  Anfange  des  zweiten  bis  zum  Anfange  des  achten  Jahrhunderts. 

Dieser  Katholicismus ,  den  man  ja  nicht  mit  dem  verwechseln  dari, 
was  wir  jetzt  Katholicismus  nennen,  entwickelt  sich  vorherrschend  unter 
Griechen  und  Römern,  unter  Völkern,  die  griechische  und  römische  Bildung 
sich  angeeignet  haben  und  die  unter  dem  vorherrschenden  Einflüsse  dieser 
Bildung  stehen.  Dazu  kommen  germanische  Völker,  die  aber  noch  völlig; 
unselbständig  auftreten,  noch  gar  sehr  der  Bildung  ermangeln  und  sici. 
vorherrschend  receptiv  verhalten.  In  dieser  Zeit  geht  mit  den  allgemeiner 
Weltverhältnissen  eine  totale  Umwälzung  vor,  wovon  wir  die  Hauptpunkte 
in  der  chronologischen  Aufeinanderfolge  hier  sogleich  angeben :  Befestigung 
der  Herrschaft  der  römischen  Cäsaren  bei  mannigfaltigen  Bewegungen  im 
Inneren  des  Reiches  und  häufigen  Kämpfen  mit  den  auswärtigen  Feinden. 
Bildung  des  byzantinischen  Kaiserthums.  Die  Völkerwanderung.  Fall  des 
weströmischen  Reiches,  Gründung  der  germanischen  Reiche  inmitten  der 
Länder  des  weströmischen  Reiches.  Entstehung  des  Islam,  in  Folge  davon 
theils  Schmälerung  der  Kirche,  theils  Bedrückung  derselben  in  Asien,  in 
Afrika,  in  Spanien,  Bedrohung  und  Gefährdung  des  oströmischen  Reiches. 

Diese  allgemeine  Periode  zerfällt  in  drei  Unterperioden,  wovon  die 
eine  die  Zeit  der  ersten  Entwicklung  des  alten  Katholicismus,  die  zweite 
die  Zeit  der  höchsten  Blüthe  und  Machtentfaltung,  die  dritte  die  Zeit  des 
Sinkens  des  alten  Katholicismus  und  des  Ueberganges  in  den  römischen 
Katholicismus  darstellt,  im  Unterschiede  vom  griechischen  Katholicismus. 


Erste  Perioäe  des  alten  Katholicisinns. 

Vom  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  bis  zum  Jahr  313,  vom  Tode  des 
Apostels  Johannes  bis  zum  Religionsedikt  zu  Gunsten  der  Christen,  erlassen 
von  Constantin  dem  Grossen  und  Licinius.  Die  Zeit  der  Entstehung,  ersten 
Ausbildung,  inneren  und  äusseren  Entwicklung  des  Katholicisraus. 

Die  allgemeine  Hauptquelle  ist  die  Kirchengesehichte  {fxxltjGtnffrtxTj  iGTOQtn)  des  Eu- 
sebius,  Bischofs  von  Caesarea  in  Palästina,  in  10  Büchern  bis  324  reichend,  vom 
8.  Buche  an  als  von  einem  Augenzeugen  geschrieben,  ein  sehr  verdienstliches,  für 
uns  jetzt  unentbehrliches  Werk,  insofern  der  gelehrte  Bischof  eine  Menge  Bücher 
und  Archive  aus£:ebeutet  hat,  deren  Kenntniss  —  wenn  auch  nur  eine  fragmen- 
tarische —  uns  nur  durch  ihn  ist  erhalten  worden.  Das  Werk  ist  aber  mit  vieler 
Umsicht  zu  gebrauchen,  da  es  in  Hinsicht  der  historischen  Genauigkeit  und  Kritik 
sehr  mangelhaft  ist.  Das  Werk  ist  öfter  herausgegeben  worden,  von  V'alesius. 
Paris  1659,  von  Heinichen  1827.  28,  von  Schwegler,  von  Dindorf,  als 
4.  Bd.  der  gesammten  Werke  Eusebius,  als  Theil  der  biblioth.  scriptorum  graeeorum 
et  romanorum  Teubneriana.  Zur  Beurtheilung  der  Schrift  S.  Jach  mann  in  Ilgens 
Zeitschrift  1829,  Baur,  die  Epochen  der  kirchlichen  Geschichtschreibung.  —  Eu- 
seb.  ins  Deutsche  übersetzt  v.  Closs  1839.  Von  älteren  Bearbeitungen  dieser  Pe- 
riode sind  noch  immer  sehr  zu  empfehlen  und  sehr  reichhaltig  die  memoires  von 
Le  Nain  de  Till'emont  1693.  1712,  die  6  ersten  Jahrhunderte  umfassend,  Mos- 
heim,  Commentarii  de  rebus  Christ,  ante  Const.  M.  1771.  1772.  Ausserdem  Baur, 
das  Christentimm  der  drei  ersten  Jalirhunderte.  Pressense,  3.  und  4.  Bd.  des 
Werkes  über  die  drei  ersten  Jalirlmnderte  der  christlichen  Kirche,  ins  Deutsche 
übersetzt. 


Erster  Abschnitt. 


Geschichte  der  Ausbreitung  und  Beschränkung,  Verfolgung 

der  Kirche. 

Auf  die  Verfolgung  von  Seite  der  Juden,  wie  sie  im  Leben  des  Herrn 
und  im  apostolischen  Zeitalter  Statt  gefunden,  folgte  diejenige  von  Seiten 
der  Heiden.  Denn,  wie  sehr  auch  der  Bestand  der  alten  Religionen  er- 
schüttert war,  das  Volk  hing  doch  im  Allgemeinen  daran  mit  einem  Eifer, 
der  oft  bis  zum  Fanatismus  sich  steigerte.  Die  römischen  Staatsmänner, 
wenn  sie  auch  für  ihre  Person  über  den  Volksglauben  hinaus   waren ,    be- 


44 

eiferten  sich  schon  aus  politischen  Gründen,  den  ererbten  Religionszustand 
aufrecht  zu  halten.  Uebrigens  waren  einige  Kaiser  mit  Aufrichtigkeit  der 
alten  Religion  ergeben.  Zu  neuen  Schöpfungen  fehlte  dem  Heidenthum 
zwar  die  Kraft;  ihm  verblieb  aber  die  Kraft  zu  verfolgen.  So  kam  es 
denn,  dass  der  Hass,  den  die  Heiden  schon  im  apostolischen  Zeitalter  in 
gewissen  Fällen  gezeigt,  bald  einen  stärkeren  Charakter  annahm  und  mit 
grösseren  oder  kleineren  Unterbrechungen  die  Kirche  bis  an  das  Ende 
dieser  Periode  verfolgte.  Dessungeachtet  breitet  sie  sich  zusehends  aus. 
Getränkt  mit  dem  Blute  der  Märtyrer  vermehrt  sich  ihre  Fruchtbarkeit. 
Ihre  Siege  sind  durch  blutige,  äussere  Niederlagen  erkauft.  Je  grösser 
die  Ausbreitung,  desto  heftiger,  grausamer,  allgemeiner  gestaltet  sich  der 
Widerstand  von  Seiten  der  heidnischen  Welt,  bis  er,  auf  den  höchsten 
Punkt  gesteigert  und  doch  nicht  zum  Ziele  gelangt,  einer  neuen  Wendung 
der  Dinge  Platz  macht,  wo  der  Staat  sich  zur  Kirche  in  ein  freundliches, 
beschützendes  Verhältniss  stellt. 


Erstes  Capitel.    Die  Ausbreitung  des  Christenthums. 

Zuerst  ist  zu  bemerken,  dass  es  in  Asien  weit  vordrang.  Schon 
einige  Apostel  bereisten  die  asiatischen  Länder  östlich  und  nordöstlich 
von  Palästina.  Unter  Mark  Aurel  wurden  Gemeinden  unter  den  Parthern 
gegründet.  Im  Jahr  170  findet  sich  in  Edessa  ein  christlicher  Fürst  Ab- 
gar-manu  Uchonio,  der  auf  deinen  Münzen  das  Kreuzeszeichen  abprägen 
liess.  Im  Jahr  202  wurde  eine  christliche  Kirche  in  Edessa  durch  eine  Ueber- 
schwemmung  zerstört.  Hingegen  entbehrt  das  Verhältniss  zwischen  Jesus 
und  einem  früheren  Abgar  von  Edessa,  wovon  Eusebms  i)  die  geschichtlichen 
Documente  gibt,  einer  geschichtlichen  Begründung.  Der  Brief  Christi  an 
Abgar  ist,  wie  Neander  mit  Recht  bemerkt,  eine  Christi  unwürdige  Zusam- 
menstoppelung  aus  Stelleu  der  Evangelien.  In  Arabien  waren  die  Christen  um 
die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  schon  zahlreich  und  hatten  viele  Bischöfe. 
Es  war  das  nördliche  Arabien,  seit  Trajan  Provinz  geworden,  mit  der  Haupt- 
stadt Bostra  2j.  Um  190  soll  Pantaenus,  erster  Lehrer  der  alexandrini- 
schen  Schule,  nach  Indien  gewandert  sein  und  daselbst  ein  von  Bartholo- 
mäus hinterlassenes  Evangelium  gefunden  haben,  allein  dieses  Indien  ist 
wahrscheinlich  Yemen,  Theil  von  Arabien.  Auf  dem  Festlande  von  Afrika 
wurde  das  Evangelium  zuerst  in  Egypten  verkündigt,  angeblich  durch  den 
Evangelisten  Marcus.  In  Unteregypten  wurden  die  Christen  bald  zahlreich, 
während  Oberegypten  durch  die  koptische  Sprache,  die  grössere  Macht 
der  Priesier  und  die  grössere  Anhänglichkeit  an  die  alte  Religion  noch  eine 
Zeitlang  vom  Evangelium  ferne  gehalten  wurde,  so  dass  es  erst  um  190 
dorthin  vordringen  konnte.  Rom,  ehemals  die  unversönliche  Feindin  von 
Carthago,  gab  ihm  jetzt  die  Botschaft  vom  Heile;  erleichtert  wurde  diess 
durch  die  Handelsverbindungen  zwischen  beiden  Städten.  Am  Ende  des 
zweiten  Jahrhunderts  waren  die  Christen  in  Carthago  schon  zahlreich.    Nach 


1)  1,  13. 

2)  Euseb.  6,  33,  37. 


45 

Tertullian  ^)  bildeten  sie  den  zehnten  Theil  der  Einwohner.  Derselbe  sagt 
anderwärts  2) :  ,^wir  sind  von  gestern  her  und  haben  all  das  Eure  angefüllt, 
Städte,  Inseln,  Schlösser,  Municipien.^  Von  Carthago  kam  das  Christen- 
thum  nach  Numidien  und  Mauretanien.  Um  das  Jahr  200  waren  70  Bischöfe 
aus  diesen  beiden  Ländern  auf  einer  Synode  in  Carthago  versammelt  3). 

In  Europa,  dem  wichtigsten  Missionsgebiete,  worauf  der  Apostel 
Paulus  sehr  bald  seine  Aufmerksamkeit  und  Thätigkeit  gerichtet  hatte, 
breitete  sich  das  Christenthum  am  meisten  in  Griechenland,  Rom  und 
Umgegend  aus.  Bald  kam  es  nach  Gallien,  wo  die  kleinasiatischen 
Griechen  in  alter  Zeit  die  ersten  Samenkörner  der  Cultur  ausgestreut 
hatten.  Massilia  war  eine  griechische  Kolonie.  In  der  christlichen  Zeit 
brachten  Griechen  aus  Kleinasien  auf  dem  Wege  der  alten  Handelsver- 
bindungen das  Evangelium  nach  Gallien.  Lyon  und  Vienne  hatten  im 
Jahr  177  schon  zahlreiche  christliche  Gemeinden,  welche  die  Verbindung  mit 
den  kleinasiatischen  Muttergemeinden  unterhielten  ^).  Irenäus ,  Bischof  von 
Lyon,  ist  ein  Grieche  aus  Kleinasien.  Nach  Gregor  von  Tours  ^)  gründeten 
römische  Missionäre  um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  in  Gallien  sieben 
Bisthümer,  worunter  das  von  Paris,  —  nach  einer  durch  die  kirchliche 
Politik  der  römischen  Bischöfe  entstandenen  Sage.  Was  von  der  Aus- 
breitung des  Christenthums  in  H  e  1  v  e  t  i  e  n  bis  zum  Ende  des  dritten  Jahr- 
hunderts gemeldet  wird,  beruht  ebenfalls  auf  Sagen.  Historisch  sicher  ist  das 
Vorhandensein  zweier  Bischöfe  von  Genf,  Paracodus  und  Dionysius, 
im  zweiten  Jahrhundert.  Das  Evangelium  war  wohl  von  Lyon  nacli  der 
Allobrogenstadt  gekommen.  In  der  Sage  von  der  thebäischen  Legion 
verschlingt  sich  die  Geschichte  der  Verfolgungen  in  die  der  Ausbreitung. 
Maximian,  Augustus  des  Occidents  von  285  bis  305,  soll,  auf  einem  Zuge 
gegen  die  aufrührerischen  Bagauden,  bei  dem  alten  Agaunum,  dem  jetzi- 
gen St.  Maurice  im  Canton  Wallis,  eine  ganze  Legion,  die  thebäische 
genannt,  und  die  nebst  ihrem  Anfülirer  Mauritius  christlicli  war,  weil 
sie  den  Göttern  nicht  opfern  noch  zur  Verfolgung  der  Christen  (die  Sage 
lässt  die  Bagauden  als  Christen  auftreten,  — )  sich  hergeben  wollte,  haben 
hinrichten  lassen.  Es  wird  hinzugesetzt,  wodurch  die  Sage  sich  selbst 
berichtigt,  dass  mehrere  christliche  Soldaten  der  grausamen  Schlächterei 
entgingen;  sie  werden  aufgeführt  als  Kirchenstifter  in  verschiedenen  Ge- 
genden der  Schweiz.  Diese  an  sich  selbst  sehr  unwahrscheinliche  Begeben- 
heit wird  erst  im  fünften  Jahrhundert  schriftlich  bezeugt.  Im  höchsten  Grade 
fällt  es  auf,  dass  Lactantius  in  seiner  Schrift  de  mortibus  persecutorum 
die  Sache  nicht  erwähnt,  die  ihm  unmöglich'  unbekannt  sein  konnte. 
Kennt  er  doch  genau  die  Unthaten  Maximians.  Nach  dem  Plane  seines 
Werkes  war  jene  Erzählung  für  ihn  uuerlässlich,  wenn  er  die  geringste 
Kunde  davon  hatte.      Mithin  ist  sein  Stillschweigen  geradezu  entscheidend. 


1)  Ad  Scapulam  c.  5. 

2)  Apolog.  c.  37. 

3)  Augustin  de  baptismo  2,  13. 

4)  Euseb.  5,  L 

5)  Historia  Franconim  1,  28. 


46 

Es  kommt  hinzu,  class  um  dieselbe  Zeit  nach  beglaubigten  Nachrichten  ein 
christlicher  Hauptmann,  Namens  Mauritius,  mit  70  christlichen  Soldaten 
unter  demselben  Maximian  in  Ai)amea  in  Syrien  getödtet  wurde,  wobei 
ähnliche  Züge  des  Märtyrerthums  wie  bei  der  thebäischen  Legion  berichtet 
werden.  Unmöglich  können  beide  Erzählungen  wahr  sein;  für  die  Authen- 
tie  der  zweiten  spricht  das  höhere  Alter  der  geschichtlichen  Zeugnisse. 
;,Möglich  bleibt  es,  bemerkt  Rettberg,  dass  im  Abendlande  eine  gewisse 
einfache  Thatsache  zu  Grunde  liege,  etwa  die  Hinrichtung  einiger  christ- 
lichen Soldaten  durch  einen  römischen  Feldherrn  an  jener  Stelle  des  Walli- 
serlandes,  zu  deren  legendenmässiger  Ausschmückung  die  griechische 
Fassung  benutzt  wurde.''  Dazu  kann  auch  der  Umstand  beigetragen  ha- 
ben, dass  an  jenem  Orte  in  ü'üheren  Zeiten  manche  Kämpfe  stattgefunden 
und  daher  viele  menschliche  Gebeine  zum  Vorschein  gekommen  ^).  Vcn 
Gallien  drang  das  Christenthum  nach  Germanien  herüber,  folgend  dem 
Ufer  des  Rheines.  Es  erhoben  sich  Risthümer  in  Köln  und  Trier;  im 
Jahr  313  wird  ein  Bischof  Mater nus  in  Köln  genannt.  In  Augsburg  wurde 
304  die  erste  Christin,  Afra,  verbrannt.  Denn  die  Germanen,  von  Hass 
gegen  die  Römer  erfüllt,  stiessen  das  von  diesen  verkündigte  Evangeliuri 
zurück.  Nach  Tertullian  2)  drang  das  Christenthum  in  der  zweiten  Hälfte  des 
zweiten  Jahrhunderts  nach  Grossbritannien  vor.  Irenäus^j  spricht  von  Christen 
in  Spanien.  Nach  Arnobius  "*)  waren  sie  im  Jahr  300  daselbst  zahlreich. 
Noch  bemerken  wir,  dass  römische  Gefangene  das  Evangelium  zu  den 
Gothen  am  schwarzen  Meere  brachten.  —  Wie  gross  war  am  Ende  dieser 
Periode  die  Zahl  der  Christen  im  römischen  Reiche  ?  Nach  Stäudlin  machter 
sie  die  Hälfte  der  Bevölkerung  aus,  nach  Matter  den  fünften  Theil,  nach 
Gibbon  blos  ein  Zwanzigstel ,  nach  La  Baslie  ein  Zwölftel.  Burkhardt  &) 
nimmt  für  den  Westen  ein  Fünfzehntheil,  füi'  den  Osten  ein  Zehntheil  an. 


Zweites  Capitel.    Die  Verfolgungen. 

Sie  verlaufen  in  drei  Phasen.  Bis  Mark  Aurel  waren  sie  partiell 
und  im  Ganzen  nicht  heftig;  von  Mark  Aurel  bis  Decius  schon  umfassender 
und  heftiger  als  früher;  von  Decius  bis  313  in  bisher  unbekannter  Allge- 
meinheit und  Heftigkeit.  Seit  dem  vierten  Jahrhundert  zählte  man  zehn 
Verfolgungen  nach  Analogie  der  zehn  Plagen  Egyptens  oder  der  zehn  Hör- 
ner des  Thieres,  das  in  der  Ai)okal.  (17,  3)  mit  dem  Lamme  kämpft;  doch 
man  kann  kaum  zehn  Verfolgungen  herausbringen. 

L  Nachdem  der  edle  Nerva  das  Unrecht  wieder  gut  gemacht,  welches 


1)  S.  Mosheim  1.  c.  p.  565.  Rettberg,  Kirchengeschichte  von  Deutschland. 
1.  Band  §.16.  Gelpke,  Kirchengeschichte  der  Schweiz,  1.  Theil  S.  50.  Desselben  Ar- 
tikel Mauritius  und  die  thebäische  Legion ,  in  der  Realencyklopädie  Bd.  IX. 

2)  Adv.  Judaeos  c.  7. 

3)  1,  3. 

4)  1.  16. 

5)  A.  a.  0.  S.  157. 


47 

Domitian  den  Christen  zugefügt  hatte,  nahmen  die  Dinge  unter  Trajan 
(98—117)  wieder  eine  schlimme  Wendung;  denn  der  Kaiser  war  durch  und 
durch  vom  altrömischen  Geiste  beseelt  und  hielt  strenge  auf  Aufrechthalt- 
ung der  alten  Religion,  die  er  als  die  festeste  Stütze  des  Staates  be- 
trachtete. Unter  ihm  kamen  zuerst  die  Ausbrüche  jener  Yolkswuth  vor, 
welcher  nachher  so  viele  Christen  zum  Opfer  fielen.  Die  Christen  in  Pa- 
lästina wurden  durch  den  römischen  Statthalter  Tiberianus  verfolgt,  der 
achtzigjährige  Simeon,  Vorsteher  der  Gemeinde  in  Jerusalem,  wurde  ge- 
kreuzigt. Besonders  in  Kleinasien  ergingen  harte  Drangsale  über  die 
christlichen  Gemeinden,  deren  gedeihliches  Wachsthum  den  römischen  Be- 
hörden ernsthafte  Besorgnisse  einflösste.  Damals  war  Plinius  der  jüngere 
Statthalter  von  Bithynien.  Da  noch  keine  besonderen  Gesetze  gegen  die 
Christen  gegeben  wurden,  so  wendete  Plinius  gegen  sie  die  Gesetze  gegen 
die  allerdings  politisch  gefährlichen  Hetärien  an.  Sein  Bericht  an  Trajan 
über  diese  Sache  ist  ein  wichtiges  Aktenstück,  dessen  Aechtheit  ohne 
Grund  bezweifelt  w  orden  ^) ,  und  das  leider  auf  die  Christen  kein  günstiges 
Licht  wirft. 

„Mit  denjenigen,  die  mir  als  Christen  angezeigt  wurden,  habe  ich 
folgendes  Verfaliren  beobachtet.  Ich  habe  sie  gefragt ,  ob  sie  Christen 
seien.  Wenn  sie  die  Frage  bejahten,  habe  ich  sie  zum  zweiten  und  drit- 
ten Male  wiederholt,  indem  ich  ihnen  Todesstrafe  androhte.  Die  in  ilirer 
bejahenden  Antwort  verharrenden  hiess  ich  zum  Richtplatz  führen.  Denn 
ich  zweifelte  nicht,  was  auch  der  Inhalt  ihres  Bekenntnisses  sein  möge,  so 
verdiene  wenigstens  ihre  beharrliche  und  unbeugsame  Hartnäckigkeit  (per- 
tinacia  et  inflexibilis  ohstinatio)  Bestrafung.  Einige  benahmen  sich  wie 
Wahnsinnige,  welche  ich,  weil  sie  römische  Bürger  waren,  aufzeichnete 
als  solche,  welche  nach  Rom  geschickt  werden  müssten.  —  Bald  zeigte 
sich  das  Verbrechen  in  mehreren  Gestalten.  Es  wurde  eine  anonyme 
Schrift  vorgebracht,  welche  die  Namen  Vieler  enthielt,  die  da  läugneten, 
dass  sie  Christen  seien  oder  es  je  gewesen.  Da  sie  mein  Beispiel  nach- 
ahmend die  Götter  anriefen,  und  vor  deinem  Bilde,  welches  ich  zu  diesem 
Zweck  mit  den  Bildern  der  Götter  hatte  herbeibringen  lassen,  mit  Weih- 
rauch und  Wein,  auf  die  Füsse  fallend,  anbeteten,  überdiess  Christum  ver- 
fluchten, wozu  diejenigen,  die  wahrhafte  Chi'isten  sind,  niemals  gebracht 
werden  können,  glaubte  ich  sie  freilassen  zu  müssen.  Andere,  w^elche  als 
Christen  angegeben  waren,  sagten  aus,  sie  seien  Christen,  läugneten  aber 
diess  bald  nachher.  Sie  seien  zwar  Christen  gewesen,  hätten  aber  aufge- 
hört, es  zu  sein,  einige  vor  drei  Jahren,  andere  vor  mehreren  Jahren, 
einige  auch  vor  zwanzig  Jahren.  Alle  beteten  dein  und  der  Götter  Bildniss 
an  und  verfluchten  Christum.  ,,Nun  folgen  Angaben  über  den  Gottesdienst, 
die  später  in  Betracht  kommen  werden.  Plinius  berichtet  ferner,  dass  er 
zwei  Diakonissen  (ministrae)  ausgeforscht  habe  und  zwar  mittelst  der  Fol- 
ter. ;,Allein  ich  fand  nichts  anderes  als  schlechten,  unmässigen  Aberglau- 
ben.   Daher  schob  ich  die  Untersuchung  auf  und  nahm   mir  vor ,   dich  um 


1)  Plinii  Epistolae^ib.  X.  96  al.  97,    erwähnt  von  Tertullian  Apologeticum  c.  2    u. 
Euseb.  3,  33. 


48 

Rath  zu  fragen.  Die  Sache  schien  es  mir  werth,  besonders  wegen  der 
Menge  derjenigen,  die  sich  in  Gefahr  befanden.  Denn  viele  von  jeglichem 
Alter,  von  jeglichem  Stande  und  von  beiden  Geschlechtern  werden  und 
wurden  in  Untersuchung  gebracht.  Und  nicht  blos  die  Städte,  auch  die 
Dörfer  und  Felder  sind  von  jenem  Aberglauben  angesteckt  worden.  Es 
scheint,  dass  demselben  Einhalt  gethan  werden  könne.  Soviel  ist  wenig- 
stens gewiss,  dass  man  anfängt,  die  fast  ganz  verlassenen  Tempel  wieder 
zu  besuchen,  die  gottesdienstlichen  Uebungen  nach  langer  Unterbrechung 
wieder  zu  begehen.  Es  kommt  wieder  Futter  für  die  Opferthiere,  wofür 
sich  fast  kein  Käufer  mehr  fand.  Woraus  sich  schliessen  lässt,  welche 
Menge  gebessert  werden  kann,  wenn  man  ihnen  Frist  zur  Busse  ge- 
währt.^ Trajan  billigte  durchaus  das  Verfahren  seines  Statthalters.  Er 
ist  dagegen,  dass  die  Christen  aufgesucht  werden  —  werden  sie  angezeigt 
und  überführt,  Christen  zu  sein,  so  sollen  sie  gestraft  werden.  Auf 
Befehl  desselben  Kaisers  wurde  Ignatius  Bischof  von  Antiochien  festgenom- 
men, nach  Rom  geführt  und  daselbst  den  wilden  Thieren  vorgeworfen  (116). 
Ueber  die  Briefe,  die  er  während  dieser  Reise  an  verschiedene  Gemein- 
den schrieb,  über  die  verschiedenen  Recensionen  derselben,  über  ihre 
Aechtheit  sowie  über  ihren  dogmatischen  Gehalt  werden  wir  später  das 
Wesentliche  mittheilen. 

Hadrian  (117  — 138)  war  zwar  kein  Feind  des  Christenthums ,  denn 
er  war  ein  Verächter  aller  fremden  Gottesdienste.  Doch  verwendete  er 
sich  zu  Gunsten  der  Christen,  um  sie  vor  der  Volkswuth  zu  schützen.  In 
einem  Schreiben  an  Minucius  Fundanus,  Proconsul  von  Kleinasien,  soll  er 
verordnet  haben,  dass  nur  Anklagen  in  gesetzlicher  Form  gegen  die  Chri- 
sten angenommen  werden  sollten ;  wenn  es  sich  jedoch  erwiesen,  dass  sie  den 
Gesetzen  zuwider  gehandelt,  dann  sollten  sie  nach  Verdienst  bestraft 
werden,  der  falsche  Ankläger  aber  solle  noch  härtere  Strafe  leiden  i). 
Aehnliche  Rescripte  erliess  der  Kaiser  für  andere  Gegenden.  Unter  dem- 
selben Hadrian',  doch  ohne  seine  Schuld,  hatten  die  Christen  in  Palästina 
viel  zu  leiden.  Diejenigen,  die  sich  dem  Aufruhr  des  Bar  Kochba  2)  nicht 
anschliessen  und  Christum  nicht  verleugnen  wollten,  wurden  grausam  ge- 
martert. 

Unter  dem  milden  Antoninus  Pius  (138 — 161)  entgingen  die  Chri- 
sten auch  nicht  allen  Verfolgungen.  Der  Volkshass  wurde  erregt  durch 
öffentliche  Unglücksfälle,"  Hungersnoth,  Ueberschwemmungen ,  welche  man 
dem  Zorne  der  Götter  gegen  die  Christen  zuschrieb.  In  einer  solchen  Ver- 
folgung kam  der  Bischof  Publius  in  Athen  um.  Der  Kaiser  verwendete 
sich  zu  Gunsten  der  Christen  durch  Rescripte  an  mehrere  Städte  Griechen- 
lands ;  es  sollte  in  Betreff  der  Christen  keine  Neuerung  vorgenommen  wer- 
den 3).   Es  heisst  sogar,  er  habe  an  alle  Hellenen  dergleichen  Rescripte  er- 


1)  Euseb.  4,  9—26,  die  ganze  Erzählung   ist  von  Keim    (Theol.  Jahrbücher  1856) 
verworfen  worden. 

2)  Sohn  des  Sternes  Num.  24,  17.    Just.  Apol.  I.  31. 

3)  So  Melito  in  einer  dem  Kaiser  Mark  Aurel    eingereichten  Schutzschrift  bei  Eu- 
seb. 4,  26. 


49 

lassen  *).  Diess  mag  wohl  die  Veranlassung  gegeben  haben,  ihm  das  Edict  an 
die  kleinasiatische  Deputirtenversammlung  zuzuschreiben,  worin  bestimmt 
wird,  es  sollten  die  Christen  nur  dann  bestraft  w^erden,  wenn  sie  gegen 
die  römische  Herrschaft  etwas  unternommen  hätten;  wer  sie  aus  andern 
Gründen,  blos  um  der  Keligion  willen  anklage,  solle  bestraft  werden  2). 
Dieses  Edict  ist  wahrscheinlich  unächt.  Es  passt  nicht  zum  Charak- 
ter dieses  Kaisers,  dem  eine  grosse  Sorgfalt  für  Aufi'echthaltung  der  Staats- 
religion nachgerühmt  wird.  Auch  findet  sich  nachher  keine  Spur  mehr 
davon. 

IL  Nach  dieser  Unterbrechung  brach  die  Verfolgung  mit  neuer  Wuth 
aus  unter  dem  Nachfolger  des  Antonin,  dessen  philosophisch  gebildeter 
Geist  Besseres  erwarten  liess,  Mark  Aurel  (161  — 180).  Allein  sein 
stoischer  Tugendstolz  und  seine  kalte  stoische  Resignation  konnte  die 
christliche  Gesinnung  nicht  begreifen.  Er  verachtete  der  Christen  Hin- 
gebung, ihre  Hoffnung  einer  ewigen,  persönlichen  Fortdauer:  der  Weise 
müsse  es  mit  Gleichgültigkeit  ansehen,  wenn  seine  Seele  nach  dem  Tode 
verlösche ;  er  müsse  aTgaycoSaq  aus  der  Welt  gehen  3).  Dazu  kam  eine 
grosse  Anhänglichkeit  an  die  von  den  Vätern  ererbte  Religion  und  die 
Ueberzeugung ,  dass  das  Heil  des  Staates  von  der  Aufrechthaltung  dersel- 
ben abhänge.  Daher  war  er  überhaupt  gegen  die  P'inführung  neuer  Culte 
und  erliess  strenge  Verbote  dagegen.  In  einer  verheerenden  Pest,  die 
von  Aethiopien  aus  sicli  bis  nach  Gallien  verbreitete  und  besonders  in 
Italien  wüthete,  erkannte  er  die  dringende  Mahnung,  den  alten  Cultus 
mit  aller  Genauigkeit  aufrecht  zu  erhalten,  so  dass  sogar  manche  Heiden 
über  die  Menge  der  vom  Kaiser  dargebrachten  Opfer  spotteten.  Bei  solcher 
Gesinnung  musste  er  ein  Verfolger  der  Christen  werden  •*).  Nicht  nur 
liess  er  Ausbrüche  der  Volkswuth  gegen  die  Christen  ungestraft,  er  trat 
activ  als  ihr  Verfolger  auf.  Es  scheint,  dass  er  wenigstens  in  Kleinasien 
die  Aufsuchung  der  Christen  befohlen,  obwohl  ]\Ielito  den  Fall  nicht  aus- 
schliessen  will,  dass  die  betreffenden  Edicte  nicht  vom  Kaiser  selbst  her- 
rühren 5).  Immerhin  steht  fest,  dass  man  in  Ausführung  derselben  mit 
grosser  Grausamkeit  verfuhr. 

Damals  traf  die  Verfolgung  aucli  die  Gemeinde  zu  Smyrna  (166  oder 
167).  Einen  ausführlichen  Bericht  darüber  gab  die  dortige  Gemeinde  in 
einem  encyklischen  Schreiben,  welches  für  die  grösstmögliche  Verbreitung 
bestimmt  war  ß).    Der  Proconsul ,  der  den  ganzen  Process  leitete ,   scheint 


1)  Nach  demselben  Melito  bei  Enseb.  a.  a.  0. 

2)  Bei  Euseb.  4,  13.    Jnst.  Apol.  1,  70. 

3)  Monologen  Hb.  XI.  §.  3. 

4)  Er  mochte  auch  gereizt  sein  durch  einige  starke  Aeusserungen  Justins  und  durch 
Tatian,  der  von  ihm  sagte,  er  gebe  manchen  Philosophen  jährlich  600  Goldstücke,  damit 
sie  den  Bart  nicht  umsonst  wachsen  Hessen. 

5)  Bei  Euseb.  4,  26. 

6)  Dressel  patres  apostoHci  S.  391  und  Euseb.  4,  15.  Im  Berichte  sind  fabeDiafto 
Züge,  welche  eine  spätere  Abfassung  als  wahrscheinlich  erscheinen  lassen.  S.  Lii>sius, 
der  Märtyrertod  des  Polykarp  bei  Hilgenfeld,  Zeitschrift  IT.Jahrgg.  2.  Heft  1874.     Lipsius 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  4. 


50 

mehr  der  Wuth  des  Volkes  als  dem  eigenen  Hasse  nachgegeben  zu  ha- 
ben. Die  Christen,  deren  er  habhaft  wurde,  suchte  er  durch  Drohungen 
zu  schrecken;  blieben  sie  standhaft,  so  verurtheilte  er  sie  zum  Tode.  Ein 
besonderer  Gegenstand  des  Volkshasses  war  der  unter  den  Christen  hoch- 
verehrte sechsundachtzigjährige  Bischof  Polykarp  von  Sniyrna,  der  dem 
Heidenthum  in  jenen  Gegenden  vielen  Abbruch  gethan  hatte.  Das  Schrei- 
ben gibt  eine  sehr  lebendige,  ausführliche  Schilderung  seines  Martyriums. 
Besonders  ergreifend  ist  die  Erwiderung  des  Biscliofs  auf  die  Autforderung 
des  Proconsuls ,  Christum  zu  lästern:  „sechsundachtzig  Jahre  diene  ich 
ihm  und  er  hat  mir  nichts  zu  Leide  gethan;  wie  könnte  ich  meinen  König, 
der  mich  erlöst  hat,  lästern?'^  Die  Verläugnung  Christi  wurde  ihm  auch  ir 
der  Form  zugemuthet,  dass  er  das  Volk,  das  aufgeregte,  wuthentbrannte  Volk 
beschwichtigen  möge  "*),  womit  der  Proconsul  ihm  andeuten  wollte,  er  könne  ja 
innerlich  ganz  anders  gesinnt  sein.  —  Es  scheint  nicht,  dass  die  Verfolgung 
damals  noch  viele  Opfer  forderte;  ihr  Feuer  erlosch  mit  dem  Feuer  des 
Scheiterhaufens,  auf  dem  Polykarp  sein  Bekenntniss  des  christlichen  Glau- 
bens bestätigt  hatte.  —  Ein  Jahr  vorher  (166)  wurde  Justin  der  Märtyrer 
in  Rom  enthauptet  2);  nach  Tatian,  seinem  Schüler,  haben  die  Ränke  des 
cynischen  Philosoi)hen  Crescens  ihm  den  Tod  bereitet  S).  Eine  grössere 
Verfolgung  erging  177  über  die  Gemeinden  in  Lyon  und  Vienne.  Die 
Volkswutli  gab  das  Zeichen,  die  Ortsobrigkeiten  liessen  sich  dadurch  be- 
stimmen. Man  nahm  sogar  gegen  den  bestimmten  Inhalt  römischer  Gesetze 
die  Anklagen  von  Sklaven  gegen  ihre  Herren  an.  Fürchterlich  waren  die 
Qualen,  die  Einzelnen  auferlegt  wurden.  Leider  gab  es  eine  Anzahl  Ab- 
trünniger; der  Bischof  Po thinus*  von  Lyon  starb  als  Märtyrer.  Unge- 
achtet aller  Verluste  blieb  ein  Stamm  der  Gemeinden  zurück.  Einen  weit- 
läufigen Bericht  über  das  Ganze  gab  die  schwer  geprüfte  Gemeinde  in 
einem  Sclireiben  an  die  Gemeinden  von  Asien  und  Phrygien  '^). 

Unter  denselben  Kaiser  fällt  die  Sage  von  der  Donnerlegion  oder 
blitzenden  Legion  (legio  fulminatrix').  —  Während  eines  Feldzuges  gegen 
die  Markomannen  und  Quaden  174  gerieth,  so  berichtet  die  Sage,  jder 
Kaiser  und  sein  Heer  in  grosse  Noth.  Die  brennende  Sonne  erregte 
grossen  Durst,  den  zu  löschen  nicht  möglich  war,  indess  das  Heer  jeden 
Augenblick  den  Angriff  der  Feinde  erwartete.  Da  fiel  die  zwölfte  Legion, 
die  aus  Christen  bestand,  auf  die  Knie  um  zu  beten.  Es  kam  ein  Gewitter, 
welches  den  Durst  der  Soldaten  durch  reichlichen  Regenguss  löschte,  die 
Feinde  in  die  Flucht  trieb  und  Verderben  über  sie  brachte.  Das  römische 
Heer  erhielt  den  Sieg;  der  Kaiser  gab  jener  Legion  den  Namen ///^mmea. 
Er  hörte  auf,  die  Christen  zu  verfolgen  und  erliess  Strafgesetze  gegen 
diejenigen,  welche  die  Christen  blos  wegen  der  Religion  anklagen  würden. 

setzt  den  Tod  Polykarp's  in  die  Jahre  155  oder  156.  Wir  bleiben  bei  der  älteren  An- 
gabe d.  Euseb.  für  166,  des  Hieron.  für  167,  welche. beide  Zahlen  auch  jetzt  durch  Ge- 
lehrte festgehalten  werden. 

1)  Tiftaou  Tou  dtjfjop  rief  ihm  der  Proconsul  zu. 

2)  Euseb.  4,  16. 

3)  Euseb.  a.  a.  0. 

4)  Euseb.  5,  1-3. 


bi 

Er  erkannte  in  einem  Briefe  an,  dass  er  und  das  Heer  damals  durch  der 
Christen  Gebet  gerettet  worden  i).  Das  Wahre  an  der  Sache  ist,  dass 
damals  der  Kaiser  und  sein  Heer  auf  unerwartete  Weise  aus  grosser  Noth 
erlöst  wurden,  wie  christliche  Soldaten  dem  Claudius  Apollinaris,  Bischof  von 
Hierapolis  in  Phrygien  erzählten,  in  welcher  Ncähe  die  zwölfte  Legion  ihre 
Standquartiere  hatte.  Die  Christen  schrieben  ihre  Rettung  ihrem  Gebete 
zu,  die  Heiden  leiteten  das  Wunder  theils  von  den  Beschwörungen  des 
Egyptiers  Arnuphis,  theils  vom  Gebete  des  Kaisers  selbst  ab.  Dieser 
schrieb  seine  Rettung  speciell  dem  Jupiter  zu  und  Hess  Münzen  prägen, 
worauf  derselbe  dargestellt  wird,  wie  er  den  Blitz  auf  die  Barbaren  schleudert. 
Andere  Bilder  stellen  den  Kaiser  betend  vor  und  das  Heer  fängt  mit  den 
Helmen  den  Regen  auf.  Im  ersten  Buche  der  Monologen  erwähnt  der 
Kaiser  unter  anderem,  was  er  nicht  sich,  sondern  den  Göttern  verdanke, 
^,das,  was  bei  den  Quaden  geschehen  ist."  Ueberdiess  führte  die  zwölfte 
Legion  schon  seit  des  Augustus  Zeiteli  den  Namen  Donnerlegion  2).  Dazu 
kommt,  dass  die  Verfolgungen  keineswegs  aufhörten,  wie  denn  drei  Jahre 
später  die  Christen  in  Lyon  und  Vienne  heftig  verfolgt  wurden.  Der  ge- 
nannte Brief  des  Kaisers  ist  untergeschoben;  es  ist  der  von  Justin  a.  a.  0. 
mitgetheilte ,  der  durchaus  das  Gepräge  der  Unächtheit  trägt. 

Der  unwürdige  Sohn  des  Mark-Aurel,  Commodus  (180 — 192) 
gönnte  den  Christen  Ruhe,  weil  seine  Concubine,  Marcia,  dem  Christen- 
thum  günstig  war.  Immerhin  aber  waren  die  Christen  den  Verfolgungen 
durch  feindlich-gesinnte  Statthalter  ausgesetzt  3).  Auf  die  Ermordung  des 
Commodus  folgten  Bürgerkriege  zwischen  Pescennius  Niger  im  Orient, 
Clodius  Albinus  in  Gallien  und  Septimius  Severus,  während 
welcher  Kriege,  wie  Clemens  Alexander  berichtet,  ziemlich  viele  Christen  in 
Egypten  den  Märtyrertod  starben.  Septimius  Severus  dagegen  (193 — 211) 
war  anfangs  den  Christen  günstig.  Nach  Tertullian  ^)  hatte  er  einen  Christen 
in  seinem  Palaste,  der  ihn  einst  von  einer  Krankheit  geheilt  hatte;  das 
muss  dahingestellt  bleiben,  da  Tertullian  manches  Unverbürgte  aufgenom- 
men hat.  Derselbe  berichtet  (ibid.),  der  Kaiser  habe  angesehene  Männer 
und  Frauen  in  Rom  vor  der  Volkswuth  geschützt.  Auf  die  Provinzen  dagegen 
erstreckte  sich  sein  Schutz  nicht.  Im  proconsularischen  Afrika  kamen  Ver- 
folgungen vor,  wozu  die  Habsucht  der  Statthalter  beitrug.  Daher  Ter- 
tullian den  Christen  verbot,  sich  durch  Geld  von  der  Verfolgung  loszu- 
kaufen ^).  —  Der  Kaiser  wurde  aber  bald  gegen  die  Christen  eingenom- 
men, ob  montanistische  Ueberhebungen  dazu  beigetragen,  mag  dahinge- 
stellt bleiben.  Es  geschah  nämlich,  dass  ein  römischer  Soldat,  während 
seine  Waffenbrüder  bekränzt  erschienen,  mit  dem  Kranze  in  der  Hand  sich 
zeigte,  um  den  Antheil  an  der  Summe  in  Empfang  zu  nehmen,  welche  der 


1)  Eüseb.  5,  5.    Tertullian  apologeticum    c.  5,    ad  Scapulam  c.  4.    Justin  Apol.  I. 
c.  11. 

2)  to  (fcüdexaroy  {dTQarons^ov)  ro  xfQavi/oßoXov  Diocassius  55,  23. 

3)  Ad  Scapulam  c.  5. 

4)  Ad  Scapulam  c.  4. 

5)  Tertullian  de  fuga  in  persecutione  c.  12. 

4* 


52 

Kaiser  als  Gnadengeschenk  unter  eine  afrikanische  Legion  hatte  vertheilen 
lassen.  Dieser  Vorfall  veranlasste  die  Schrift  Tertullians  de  corona  müi- 
tis,  worin  des  Soldaten  Benehmen  vertheidigt  wird.  —  Severus  verbot 
darauf  den  Uehertritt  zum  Christenthum  und  die  \'erordnungen  betreffend 
die  collegia  illicita  wurden  auch  auf  die  Christen  angewendet;  daher  an 
einigen  Orten  die  Christen  so  hart  gedrängt  wurden,  meint  Eusebius  i), 
dass  einige  die  baldige  Erscheinung  des  Antichrist  erwarteten.  Als  Opfer 
der  Verfolgung  fielen  in  Alexandrien  Leonides,  Vater  des  Origenes  2),  in 
Carthago  Perpetua  und  Felicitas,  Montanistinen,  doch  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  in  der  katholischen  Kirche  als  Heilige  verehrt,  damals  den 
wilden  Thieren  vorgeworfen  zur  Jahresfeier  der  Ernennung  des  jungen 
Geta  zum  Cäsar.  Unter  dem  Sohne  des  Severus  Caracalla  (211 — 217) 
hörten  die  Verfolgungen  allmälig  auf,  nur  in  Afrika  dauerten  sie  noch  eine 
Zeitlang  fort,  daher  Tertullian  seine  Schrift  ad  Scapulam  herausgab. 
E 1  a  g  a  b  a  1  u  s  (218  —  222)  Hess  die  'Christen  in  Ruhe  ^  freilich  aus  einer 
Absicht,  die,  wenn  sie  zur  Ausführung  gekommen  wäre,  bei  den  Christen 
selbst  den  stärksten  Widerstand  herbeigerufen  hätte.  Er  war  einem  sy- 
rischen Sonnendienst  ergeben,  der  mit  grossen  Ausschweifungen  verbunden 
war;  dieser  sollte  herrschend  werden  und  alle  anderen  Culte,  selbst  den 
jüdischen  und  christlichen  in  sich  aufnehmen.  In  dem  Tempel,  den  er 
auf  dem  palatinischen  Berge  der  syrischen  Gottheit  zu  Ehren  erbaut,  ver- 
einigte er  die  verschiedenartigsten  Gottheiten.  Er  schien  darauf  auszu- 
gehen ,  dass  in  Rom  kein  anderer  Gott  als  Elagabalus  verehrt  würde  3). 
Aus  besserer  Quelle  floss  der  Syncretismus  des  Alexander  Severus 
(222  —  235).  In  seiner  Hauskapelle,  wo  er  jeden  Morgen  in  Andacht  sein 
Gemüth  zu  Gott  erhob,  war  neben  den  Büsten  berühmter  und  für  weise 
gehaltener  Männer,  des  Apollonius  n.  A.  auch  diejenige  Abrahams  sowie 
Christi  und  Orpheus  aufgestellt.  Vermöge  dieses  Eklekticismus  erkannte 
er  in  Christo  ein  göttliches  Wesen  neben  anderen  Göttern  an.  Er  hatte  die 
Absicht,  Christo  einen  eigenen  Tempel  zu  erbauen,  und  ihn  förmlich 
unter  die  Götter  aufzunehmen.  Von  der  Ausführung  dieses  Vorhabens  sei 
er  von  Solchen  zurückgehalten  worden,  die  nach  Befragung  der  Orakel 
gefunden  hätten ,  wenn  diess  wirklich  nach  dem  Wunsche  Vieler  zu  Stande 
käme,  so  würden  sich  bald  Alle  zum  Christenthum  bekennen  und  die  übri- 
gen Tempel  nicht  mehr  besucht  werden  ^).  Seine  Achtung  vor  dem  Chri- 
stenthum bewies  er  auch  dadurch,  dass  er  den  von  einem  Juden  oder 
Christen  gehörten  Spruch  „was  du  nicht  willst,  dass  man  dir  thue,  das 
thue  du  keinem  anderen"  oft  für  sich  wiederholte,  ihn  vor  der  Vollstreck- 
ung von  Strafen  durch  seinen  Herold  ausrufen  Hess  und  auch  Sorge  trug, 
dass  derselbe  Spruch  als  Aufschrift  im  Eingange  zu  seinem  Palaste  und 
an  passenden  Steüen  öffentHcher  Gebäude  angebracht  würde.    Ohne  Zwei- 


1)  6,  7. 

2)  Euseb.  6,  1. 

3)  Lampridius  c.  ;>  id  agens ,  ne  quis  Romae  deus  nisi  Heliogabalüs  coleretur. 

4)  Lampridius  c.  29.  43. 

5)  Lampridius  c.  51. 


53 

fei  machte  sich  hierin  der  Einfluss  der  frommen  Mutter  des  Kaisers ,  Julia 
Mammaea  geltend.  Sie  war  den  Christen  entschieden  günstig.  Während 
eines  Aufenthaltes  in  Antiochien  liess  sie  Origenes  zu  sich  kommen  und 
unterhielt  sich  mit  ihm  über  Gegenstände  der  christlichen  Religion  i).  — 
So  gestattete  denn  der  Kaiser  den  Christen  viele  Freiheit;  nicht  nur  durften 
sie  ihren  Gottesdienst  öffentlich  feiern,  sie  konnten  auch  eigene  Häuser 
dafür  erbauen.  Als  die  Zunft  der  Garköche  Roms  mit  den  Christen  um 
den  Besitz  eines  Grundstückes  stritt,  entschied  er,  zum  Verdruss  der 
Garköche  und  ihrer  Kunden,  es  sei  besser,  dass  jener  Platz  für  die  Got- 
tesverehrung verwendet  werde.  Bei  solcher  Gesinnung  ist  es  um  so  auf- 
fallender, dass  er  die  christliche  Religion  nicht  offiziell  unter  die  religio- 
nes  licitae  aufnahm  2).  Alexander  Severus  wurde  durch  den  Thracier  M  a- 
ximinus  ermordet  und  dieser  erhielt  die  Herrschaft  (235 — 238).  Seinen 
Hass  gegen  den  Vorgänger  trug  er  auf  die  von  demselben  begünstigte 
christliche  Kirche  über  und  verfolgte  besonders  die  Bischöfe  ^).  In  Kap- 
padocien  und  Pontus  wurde  die  Volks wuth  gegen  die  Christen  durch  ver- 
heerende f]rdbeben  entflammt.  Maximinus  liess  sie  gewähren;  und  so 
erhob  sich  in  jenen  Gegenden  eine  harte  Verfolgung,  wobei  der  Proconsul 
Severianus  sich  als  heftiger  und  harter  Verfolger  zeigte  '').  In  den  übrigen 
Theilen  des  Reiches  hatten  die  Christen  Ruhe.  Diese  Ruhe  war  allgemein 
unter  den  zwei  folgenden  Kaisern.  Gor  dia nus  (238—244)  und  Philippus 
Arabs  (244 — 249).  Diesen  stempelte  die  übertreibende  Sage  zu  einem 
Christen.  Er  soll  einst  in  der  Vigilie  des  Opferfestes  an  der  Gemeinde- 
versammlung haben  Antheil  nehmen  wollen,  aber  vom  Bischof  abgehalten 
worden  sein  wegen  des  auf  ihm  lastenden  Verbrechens  der  Ermordung 
seines  Vorgängers  Gordianus  —  bis  er  Busse  gethan  habe ,  welcher  sich 
der  Kaiser  willig  unterzogen  haben  soll  &).  Doch  Philippus  gibt  sich  nir- 
gends als  einen  Christen  zu  erkennen.  Dass  er  aber  den  Christen  günstig 
war,  erhellt  auch  daraus,  dass  Origenes  an  seine  Gemahlin  Severa  Briefe 
richtete  ^).  Vielleicht  huldigte  er  gleich  wie  Alexander  Severus  einem 
religiösen  Eklekticismus. 

III.  In  Beziehung  auf  die  damalige  Lage  der  Christen  und  die  Ver- 
folgungen sind  sehr  lehrreich  die  Worte  des  Origenes  in  der  Schrift  gegen 
Celsus  ^).  Er  gibt  zu ,  dass  zu  Zeiten  wenige  und  leicht  zu  Zählende  für 
die  christliche  Religion  gestorben,  — ,  da  Gott  einen  Vertilgungskrieg  habe 
verhindern  wollen.  Er  spricht  von  der  Vermehrung  der  Christen,  von  der 
Freimüthigkeit  und  Offenheit,    womit  sie  auftreten.      Je   mehr  sie  verfolgt 


1;  Euseb.  6,  21. 

2)  Lampridius  sagt  nur,  christianos  esse  passus  est  c.  22.    nachdem   er  bevorwortet 
Judaeis  privilegia  reservavit. 

3)  Euseb.  6,  26. 

4)  Brief  des  B.  Firmilianus   von  Caesarea   in  Kappadocien    an  Bischof  Cyprian:    in 
der  Briefsammlung  des  letzteren  der  75.  §.  10. 

5)  Euseb.  6,  34  und  im  Chronicon. 

6)  Euseb.  6,  36. 

7)  IIb.  UI. 


fe4 

wurden,  desto  mehr  sei  ihre  Zahl  gewachsen,  und  desto  mehr  seien  sie 
erstarkt.  Er  hebt  hervor,  dass  Reiche,  Vornehme,  in  hohen  Aemtern 
Stehende  zur  christlichen  Kirche  gehören,  dass  selbst  ein  christlicher  Ge- 
meindelehrer auch  unter  den  Heiden  Ehre  erlangen  könne.  Doch  kündigt 
er  zugleich  an,  dass  die  seit  langer  Zeit  unterbrochenen  Verfolgungen 
wieder  ausbrechen  werden,  wenn  die  Verläumder  des  Christenthums  die 
Meinung  wieder  verbreitet  haben  werden,  die  Ursache  der  vielen  Em- 
pörungen (in  den  letzten  Jahren  des  Kaisers)  sei  die  grosse  Menge  der 
Christen,  welche  desshalb  sich  so  sehr  gemehrt  hätten,  weil  sie  nicht  mehr 
verfolgt  würden.  Er  sucht  seine  Glaubensgenossen  im  Voraus  gegen  die 
neue  Verfolgung,  die  er  kommen  sieht,  zu  waffnen:  die  alte  Religion 
werde  fallen,  die  christliche  Religion  werde  herrschen,  indem  sie  immer 
mehr  Seelen  anziehe. 

Dßs  Ürigenes  Vorherverkündigungen  trafen  nur  zu  bald  ein.  Die 
Christen  sowohl  die  Rischöfe  wie  die  Laien  durch  lange  Ruhe  und  Sicher-  I 
heit  in  Erschlatiiing  gerathen  i),  bedurften  einer  mächtigen  Erschütterung.  — 
Auf  Philippus  Arabs  folgte  Decius,  sein  liesieger  (249 — 251).  Erfüllt 
vom  Verlangen  ein  neuer  Trajan  zu  werden,  die  Herrlichkeit  des  Reiches 
wieder  herzustellen, '^^dasselbe  auf  seinen  Grundlagen  zu  befestigen,  wozu  er 
hauptsächlich  die  alte  Religion  rechnete,  fasste  er  den  Entschluss,  die 
Kirche  wo  möglich  zu  vertilgen.  Bald  nach  seiner  Tlu'onbesteigung  erliess 
er  ein  Edict,  des  Inhaltes,  dass  alle  Christen  am  Gottesdienste  des  Staates 
Antheil  nehmen  sollten.  Durch  Drohungen  und  wenn  diese  nichts  fruchteten, 
sollten  die  sich  weigernden  durch  Gewalt  gezwungen  werden.  Blieben  sie 
standhaft,  so  traf  vor  allem  die  Rischöfe  die  Todesstrafe.  Die  Verfolgung 
sollte  alle  Theile  des  Reiches  umfassen.  Ueberall  wurde  ein  Termin  an- 
gesetzt, bis  zu  welchem  alle  Christen  eines  Orts  vor  dem  Magistrate  er- 
scheinen, Christum  verlaugnen  und  opfern  sollten.  Den  Elüchtigen  wurde 
das  Vermögen  contiscirt  und  Todesstrafe  über  sie,  im  Falle  der  Rückkehr, 
verhängt.  Was  die  anderen  betrifft,  so  versuchte  man  alle  möglichen 
gelinden  und  harten  Mittel,  um  sie  zu  Falle  zu  bringen.  Diese  Edicte  und 
Massregeln  brachten  in  Folge  der  vorhandenen  Erschlaffung  die  traurigsten 
Wirkungen  hervor.  Sehr  viele  warteten  nicht,  bis  man  sie  ergriff*;  sie 
eilten  in  Haufen,  den  Glauben  an  Christus  zu  verlaugnen,  —  zum  Theil 
unter  mildernden  Formen;  es  waren  Austiüchte  des  bösen  Gewissens,  in 
welche  die  heidnischen  Obrigkeiten  gerne  einwilligten,  theils  aus  Habsucht, 
theils  aus  wirklicher  Schonung.  Demnach  gab  es  verschiedene  Classen  von 
Abgefallenen:  sacrißcati,  die  sich  zu  Opfern  verstanden,  tlturificati,  die 
Weihrauch  über  den  Opfern  anzündeten  —  schon  eine  mildere  Form  des 
Abfalles;  libellatici^  die  in  keiner  Weise  opferten,  sondern  sich  einen  Schein 
ausstellen  Hessen,  als  hätten  sie  wirklich  geopfert.  Andere  Hessen  sich 
einen  solchen  Schein  nicht  ausstellen,  erschienen  nicht  einmal  vor  den 
Behörden,  sorgten  aber  dafür,  dass  ihre  Namen  in  die  Zahl  derjenigen, 
die  dem  Edicte  Folge  geleistet,    eingetragen  würden  i).      Unter  den  Mär- 


1)  Cyprian  entwirft  im  Tractat  de  lapsis  ein  ergreifendes  Bild  davon. 

2)  Cyprian  ep.  31. 


55 

tyrern  dieser  Verfolgung  werden  genannt:  Fabianus,  Bischof  von  Rom, 
B  a  b  y  1  a  s ,  Bischof  von  Antiochien ,  P  i  o  n  i  u  s ,  Presbyter  zu  Smyrna  i) ; 
;,denn  der  Tyrann  war  gegen  die  Geistlichen  am  feindlichsten  gesinnt." 
Durch  auswärtige  Kriege  an  der  Fortsetzung  der  Verfolgung  gehindert, 
starb  er  schon  251;  sein  Nachfolger  Gallus  setzte  sie  fort  (251—253). 
Eine  verheerende  Seuche,  Landdürre  und  Hungersnoth  steigerten  die  Wuth 
des  Volkes  2).  Ein  neues  kaiserliches  Edict  gebot,  den  Göttern  zu  opfern, 
um  Rettung  von  diesen  Unglücksfällen  zu  erlangen  ^).  Valerian  (253  — 
260)  war  anfangs  den  Christen  günstig  und  hatte  mehrere  derselben  in 
seinem  Palaste  ^).  Durch  seinen  Günstling  Macrianus  umgestimmt,  erliess 
er  257  ein  Edikt,  dass  die  Bischöfe,  Presbyter  und  Diakonen  alsobald  mit 
dem  Tode  bestraft,  die  Senatoren  und  römischen  Ritter  ihrer  Würde  und 
Güter  beraubt,  und  wenn  sie  auf  dem  Bekenntniss  des  Christenthums  ver- 
harrten, auch  enthauptet  werden  sollten  0),  In  dieser  Verfolgung  fielen  als 
Opfer  Sixtus,  Bischof  von  Rom  und  drei  Diakonen  der  römischen  Ge- 
meinde, Cyprian,  Bischof  von  Carthago  am  14.  Sept.  258.  Nachdem 
Valerian  in  persische  Gefangenschaft  gerathen,  schlug  sein  Sohn  und 
Nachfolger  Gallienus  (260 — 268)  einen  anderen  Weg  ein.  Er  gestattete 
durch  ein  eigenes  Edict  den  Christen  freie  Religionsübung,  befahl  ihnen 
die  weggenommenen  Häuser  und  Grundstücke  zurückzugeben  und  erkannte 
sie  insofern  als  religio  licita  au  ^) ;  die  verbannten  Bischöfe  wurden  zu- 
rückgerufen. Von  dieser  Zeit  an  erfreute  sich  die  Kirche  einer  fast  vier- 
zigjährigen Ruhe.  Kriege  mit  auswärtigen  Feinden  und  innere  Empörun- 
gen lenkten  die  Aufmerksamkeit  von  den  Christen  ab.  Dem  Kaiser  Au- 
relian  (270 — 275)  wird  zwar  die  Absicht  zugeschrieben,  am  Ende  seiner 
Regierung  ein  Edict  gegen  die  Christen  zu  erhissen  - j .  er  sei  aber  durch 
Ermordung  daran  gehindert  worden.  Fortan  wurde  der  Zustand  der  Kirche 
äusserlich  immer  blühender.  Schöne,  grosse  Kirchen  wurden  erbaut, 
unter  anderen  eine  in  Nikomedien,  der  kaiserlichen  Residenz.  Christen 
gelangten  zu  hohen  und  niederen  Militärwürden,  zu  ansehnlichen  Hof- 
ämtern und  wurden  vom  neuen  Kaiser  Diocletian  wie  Kinder  des  Hauses 
behandelt. 

Wie  kam  es  nun ,  dass  auf  das  ungestörte  fröhliche  Gedeihen  für  die 
Kirche  die  furchtbarste  Verfolgung  ausbrach,  und  dass  derjenige  Kaiser, 
der  viele  Jahre  hindurch  die  Christen  hatte  gewähren  lassen  und  sich  ih- 
nen freundlich  erzeigt,  nun  ihr  heftigster,  unmenschlicher  Verfolger  wurde  ?  ^). 

Diocletian,  der  Sohn  dalmatischer  Sklaven,  ursprünglich  als  gemei- 


1)  Nähere  Angaben  über  die  Verfolgung  s.  bei  Euseb.  7,  89  —  42. 

2)  Cyprian  ad  Demetrianum. 

3)  Cyprian  ep.  55.  57.  58. 

4)  Euseb.  7,  10. 

5)  Cyprian  ep.  80. 
.     6)  Euseb.  7,  13. 

7)  Euseb.  7,  30.     Nach  Lactantius    de   mortibus  persecutorum  c.  6  wurde  das  Edirt 
wirklich  erlassen ,  konnte  aber  nicht  mehr  ausgeführt  werden. 

8)  Für  das  folgende  s.  besonders  Euseb.  8  —  10  B.,  sodann  dessen  Leben  Couslau- 
tins,  Lactantius  de  mortibus  persecutorum,  Burkhardt  a.  :i.  0, 


56 

ner  Soldat  in  das  Heer  getreten,  schnell  von  einer  Stufe  zur  anderen 
emporgestiegen,  wurde  284  nach  der  Ermordung  des  Carus  von  den  zu 
Chalcedon  versammelten  Generälen  zum  Beherrscher  des  römischen  Reiches 
erwählt.  Er  selber  sah  darin  die  Erfüllung  der  Weissagung  einer  Druidiu. 
Um  seine  Gewalt,  die  er  als  eine  völlig  unbeschränkte  ansah,  in  allen 
Provinzen  des  Reiches  und  für  alle  Folgezeit  zu  sichern,  berief  er  Maxi- 
mian 286  zur  Antheilnahme  an  der  Herrschaft,  indem  er  ihn  zum  Au- 
gustus  des  Abendlandes  ernannte,  während  er  selbst  als  Augustus  das 
Morgenland  beherrschte.  Um  besser  den  Barbaren  widerstehen  und  Usur- 
pationen entgegenarbeiten  zu  können,  stellte  er  292  zwei  Unterkaiser  odei- 
Cäsaren  auf,  Galerius,  seinen  Schwiegersohn,  im  Morgenlande,  und 
Constantius  Chlorus  im  Abendlande.  Diocletian  war  für  seine  Person 
der  alten  Staatsreligion  mit  Eifer  ergeben;  er  hielt  viel  auf  Auguren  und 
Haruspicien;  er  sah  die  ererbte  Religion  als  die  festeste  Stütze  des  Staa- 
tes an.  In  einem  Decrete  gegen  die  Manichaeer  296  erklärte  er,  es  sei  das 
grösste  Verbrechen,  das  umzustossen,  was  einmal  von  den  Vätern  festge- 
setzt und  was  im  Staate  herrschend  ist.  Was  ihn  von  der  Verfolgung 
während  einer  geraumen  Zahl  von  Jahren  abhielt,  war  die  Erwägung,  dass 
dadurch  die  Ruhe  des  Reiches  gestört  und  viel  Blutvergiessen  veranlasst 
würde.  Es  war  aber  am  Hofe  eine  grosse  heidnische  Partei,  worunter 
Priester,  Staatsmänner,  Philosophen,  voll  von  Unwillen  über  die  reissen- 
den Fortschritte  des  Christenthums.  Seele  dieser  Partei  war  Hierokles, 
Statthalter  von  Bithynien,  den  Grundsätzen  der  neuplatonischen  Schule 
ergeben.  Besonders  aber  Galerius,  Tochtermann  des  Kaisers,  zeigte  sich 
als  heftiger  Feind  der  Christen  und  suchte  den  Kaiser  gegen  sie  zu  stim- 
men. Auch  der  Augustus  Maximianus  (mit  dem  Zunamen  Herculius),  der 
alten  Religion  und  ihrem  Aberglauben  eifiig  ergeben,  war  gegen  die  Chri- 
sten, wenn  gleich  die  spätere  Nachricht,  dass  er  die  sogenannte  thebäische 
Legion  habe  tödten  lassen,  nicht  begründet  ist.  Diese  heidnische  Partei 
mochte  um  so  mehr  gereizt  worden  sein,  da  Spuren  vorhanden  sind,  dasS 
die  Christen,  nachdem  bereits  manche  am  kaiserlichen  Hofe  zum  Christen- 
thum  sich  bekehrt  hatten,  die  Hoffnung  hegten,  den  Kaiser  selbst  für  die 
christliche  Religion  zu  gewinnen;  bereits  wurde  im  Geheimen  bemerkt, 
dass  es  von  dem  grössten  Werthe  wäre,  wenn  ein  christlicher  Kammerherr 
die  Autsicht  über  die  kaiserliche  Bibliothek  erhielte  und  bei  Gelegenheit 
literarischer  Gespräche  den  Kaiser  behutsam  und  allmälig  von  der  Wahr- 
heit der  christlichen  Religion  überzeugen  könnte  i).  Darin  täuschten 
sich  aber  die  Christen  vollständig.  Die  alte  Natur  behielt  im  Kaiser  die 
Oberhand.  Seine  Gesinnung  gibt  sich  kund  in  einer  späteren  Inschrift, 
worin  er  sich  der  Unterdrückung  des  Christenthums  rühmt,  und  den  Chri- 
sten vorwirft ,  da&s  sie  den  Staat  zu  Grunde  richteten  2).  Und  in  dem 
Edicte,  wodurch  Galerius  der  von  ihm    angeregten  Verfolgung    ein  Ende 


1)  Diess  d.  Hauptinhalt  des  Schreibens  des  (^weiter  nicht  bekannten)  Bischofs  Theonas 
an  den  kaiserlichen  Oberkammerherrn  Lucian,  wahrscheinlich  am  Hofe  Diocletian's,  s. 
Neander  K.  G.  I.  244. 

2)  Ghristiani  qui  rem  publicam  evertebant. 


57 

machte,  erklärte  er,  es  sei  die  Absicht  der  Herrscher  gewesen,  Alles  den 
alten  Gesetzen  und  der  römischen  Staatsverfassung  gemäss  zu  verbessern. 

Wie  grosse,  verheerende  Naturereignisse  durch  einzelne  Vorzeichen 
sich  ankündigen,  so  geschah  es  auch  bei  jenem  letzten,  äussersten  An- 
griffe des  Heidenthums  gegen  das  sein  Leben  bedrohende  Christenthum. 
Einige  Zeit  vor  den  allgemeinen  Massregeln  wurden  Christen  aus  der  Ar- 
mee gestossen.  Bei  einer  Musterung  im  Jahre  298  wurde  ihnen  die  Wahl 
gelassen,  entweder  den  Göttern  zu  opfern  oder  ihre  Dienste  aufzugeben, 
worauf  die  meisten  ohne  Besinnen  das  letztere  vorzogen;  einige  sollen 
darob  schon  damals  das  Leben  eingebüsst  haben.  Man  könnte  glauben, 
dass  die  Kaiser  unter  christlichen  Truppen  sich  nicht  mehr  ganz  sicher 
glaubten.  Doch  haben  wir  kein  Beispiel,  dass  bei  den  mancherlei  Unruhen 
im  römischen  Reiche  seit  alter  Zeit  die  christlichen  Soldaten  einen  aufrüh- 
rerischen Geist  kundgegeben.  Die  Sache  erklärt  sich .  genügend  so :  wenn 
man  eine  Verfolgung  der  Kirche  anbahnen  wollte,  so  empfahl  sich  jene 
Ausscheidung  der  christlichen  Soldaten  als  geeignete  Vorbereitung  '^). 

Die  entscheidende  Wendung  Diocletian's  zu  allgemeinen  Massregeln 
erfolgte  erst  acht  Jahre  später,  da  im  Winter  des  Jahres  303  Galerius  in 
Nikomedien  mit  seinem  alten,  kranken  Schwiegervater  zusammentraf,  und, 
unterstützt  von  manchen  eifrigen  Heiden  unter  den  Staatsbeamten  alle  seine 
Beredtsamkeit  anwendete,  um  eine  allgemeine  Verfolgung  zu  betreiben. 
Diocletian  gab  endlich  nach,  das  Fest  des  Gottes  Terminus,  die  Termi- 
nalia  am  23.  Februar  304  wurden  die  Losung  zum  Anfang  der  Drang- 
sale der  Christen.  An  jenem  Tage  liess  der  Gardepräfect  die  grosse 
prächtige  Kirche  in  Nikomedien  durch  seine  Soldaten  plündern  und  nieder- 
reissen.  Am  folgenden  Tage  erschien  das  erste  Edict,  worin  die  Absicht 
einer  gänzlichen  Vertilgung  des  Christenthums  sich  noch  nicht  völlig  kund 


1)  Burkardt  hat  in  seiner  Schrift  über  Constantin  den  Ausbruch  der  Verfolgung 
auf  folgende  Weise  zu  erklären  gesucht:  „einige,  vielleicht  nur  sehr  wenige  christliche 
Hofleute  und  einige  christliche  Kriegsbefehlshaber  in  den  Provinzen  glaubten  mit  einem 
voreiligen  Gewaltstreich  das  Imperium  in  christliche  oder  christenfreundliche  Hände  brin- 
gen zu  können,  wobei  sie  vielleicht  die  kaiserlichen  Personen  zu  schonen  gedachten.  Es 
ist  möglich,  dass  in  der  That  Galerius  der  Sache  früher  auf  die  Spur  kam  als  Diocletian 
und  dass  dieser  sich  wirklich  nur  mit  Mühe  überreden  liess."  —  Burkhardt  setzt  hinzu: 
„man  kann  nicht  läugnen,  dass  es  unter  den  Christen  damals  Leute  gab,  die  für  solche 
Staatsstreiche  nicht  zu  gewissenhaft  waren.  Eusebius  Charakteristik  (8,  6)  redet  darüber 
deutlich  genug."  Das  wäre  schön  und  gut,  wenn  wir  nur  bestimmte  Angaben  über  den 
projektirten  Gewaltstreich  hätten ;  sie  fehlen  aber  gänzlich  und  wären  übrigens  einzig  in 
ihrer  Art  in  der  Geschichte  der  drei  ersten  Jahrhunderte,  wo  doch  die  Versuchungen  dazu 
nicht  mangelten.  Wenn  nun  einige  Bischöfe  vermöge  ihrer  weltlichen  Gesinnung  sich  so- 
weit konnten  hinreissen  lassen,  so  entscheidet  das  nicht  (a  posse  ad  esse  non  valet  con- 
sequentia).  Burkhardt  legt  auch  zu  grosses  Gewicht  darauf,  dass  bei  Anlass  der  Auf- 
rühre in  Melitene  (Kappadocien)  und  in  Syrien  die  Bischöfe  gefänglich  eingezogen  wur- 
den (Euseb.  8,  6).  Daraus  auf  das  oben  genannte  „Complott"  zu  schliessen,  ist  gar  zu 
voreilig.  Mit  Kecht  bemerkt  Burkhardt  selbst,  es  sei  im  Allgemeinen  unbillig,  aus  der 
Verfolgung  auf  eine  Verschuldung  zu  schliessen.  Die  wahre  Verschuldung  —  denn  eine 
solche  gab  es,  —  zeigt  Enseb.  8,  1  an,  in  dem  gesunkenen  Zustand  der  damaligen  Chri- 
stenheit. 


58 

gibt  1).  Es  sollten  die  gottesdienstlichen  Versamnilungen  der  Christen  ver- 
boten sein,  ihre  Kirchen  niedergerissen,  alle  Handschriften  der  Bibel  ver- 
brannt werden,  diejenigen,  welche  Ehrenstellen  und  Würden  im  Staate 
bekleideten,  sollten  dieselben  verlieren,  wenn  sie  nicht  das  Christenthum 
abschwuren,  gegen  alle  Christen,  von  welchem  Stande  sie  seien,  sollte  die 
Folter  angewendet  werden  können,  die  Christen  von  niedrigerem  Stande 
sollten  des  Genusses  ihrer  Rechte  als  Bürger  und  als  freie  Männer  be- 
raubt sein,  die  christlichen  Sklaven  sollten,  so  lange  sie  Christen  blieben, 
nie  freigelassen  werden  können  ^).  Gänzlich  neu  war  der  Befehl  die  heili- 
gen Schriften  zu  verbrennen,  —  wodurch  man  glaubte,  der  christlichen 
Kirche  die  empfindlichsten  Schläge  versetzen  zu  können.  Noch  hatten  die 
Christen  von  der  Ueberraschung ,  worin  sie  dieses  erste  Edict  versetzte, 
sich  noch  nicht  erholt,  als  ein  zweites  Edict,  bei  Anlass  jener  Aufstände 
in;;Melitene  und  Syrien  erlassen,  erschien,  welches  die  Einkerkerung  der 
Geistlichen  verordnete.  Ein  drittes  bestimmte,  dass  diejenigen,  die  den 
Glauben  abschwuren,  aus  den  Gefängnissen  entlassen,  die  anderen  aber 
auf  alle  mögliche  Weise  zum  Abfall  vom  christlichen  Glauben  gezwungen 
werden  sollten.  Ein  viertes  befahl  allen  Christen  jeglichen  Alters,  Ge- 
schlechts und  Standes  den  Göttern  zu  oi)fern. 

In  Folge  dieser  Verordnungen  wurden  die  christlichen  Gemeinden  des 
römischen  Reiches  der  schrecklichsten  Verfolgung  preisgegeben.  Eine  un- 
geheure Zahl  von  Christen  starb  in  den  Gefängnissen  und  Bergwerken,  wozu 
man  sie  verurtheilte ,  viele  unter  unsäglichen  Qualen  von  neu  erfundenen 
grässlichen  Todesarten,  so  dass  die  blosse  Enthau])tung  nur  als  Gnade 
gewährt  wurde  solchen,  die  sich  früher  Verdienste  erworben  ^).  Nur  die 
von  Constantius  Chlorus,  einem  der  alten  Religion  mehr  oder  w-eniger  ent- 
fremdeten Anbeter  des  höchsten  Gottes,  beherrschten  Länder  blieben  mehr 
oder  weniger  verschont.  Schandenhalber  musste  er  zwar  die  christlichen 
Kirchen  zerstören  (doch  blieben  manche  unversehrt)  die  Bibeln  (so  vieler 
er  habhaft  werden  konnte),  verbrennen,  die  gottesdienstlichen  Versamm- 
lungen der  Christen  aufheben;  aber  sie  blieben  wenigstens  am  Leben  ver- 
schont. Damals  gab  es  eine  neue  Classe  von  Abgefallenen,  TraditoreSy 
welche  die  Bibeln  auslieferten.  Uebrigens  zeigten  sich  die  Behörden  und 
ihre  Schergen  im  Autsuchen  der  Bibeln  ziemlich  tolerant.  Sie  nahmen 
manche  sonstige  selbst  häretische  Schriften  an  als  wären  es  heilige.    Eine 


1^  Euseb.  8,  2.    Lactantius  1.  c.  c.  18. 

2)  Als  erstes  Opfer  dieses  Edicts  fiel  eiii  angesehener  Christ,  der  dasselbe  abriss 
und  zerfetzte,  mit  dem  spöttischen  Bemerken,  es  seien  wieder  einmal  Siege  über  die  Gothen 
und  Sarmaten  angesclilagen  gewesen.  Er  wurde  lebendig  verbrannt.  Wenn  Burkhardt 
a.  a.  0.  S.  337  dazu  bemerkt:  „ein  solcher  Trotz  wäre  übrigens  ganz  sinnlos,  wenn  man 
nicht  annehmen  will,  dass  noch  in  jenem  kritisclien  Augenblicke  eine  geheime  Hoffnung 
auf  allgemeinen  Widerstand  vorhanden  war"  —  so  verkennt  er  die  Gesinnung,  die  jenen 
Mann  und  tausend  andere  vor  ihm  und  Manche  nach  ilmi  beseelte,  wogegen  seit  alten 
Zeiten  die  Vorsteher  der  Kirchen  protestirten ,  wie  denn  auch  Lactantius  jenen  Ausbruch 
des  Eifers  nicht  eigentlich  rechtfertigen  will. 

3)  Lact.  1.  c.  c.  22  auimadversio  gladii  admodum  paucis  quasi  beneficii  loco  defere- 
l?atur,  (j[ui  ob  merita  vetera  impetraverant  bonam  mortem. 


59 

seit  305  eingetretene  Aenderung  in  der  Kegierung  brachte  Unordnung  in 
das  Reich  und  that  der  Yerfolgung  Einhalt.  Nach  der  Abdankung  Diocle- 
tians  und  Maximians,  der  beiden  bisherigen  Augusti  wurden  es  die  bis- 
herigen Cäsaren  Galerius  und  Constantius  Chlorus,  jener  im  Morgenlande, 
dieser  im  Abendlande.  Zu  Cäsaren  wurden  gewählt  Maximin,  der  über 
Syrien  und  Egypten  herrschte  und  Julius  Severus,  Beherrscher  von 
Italien  und  Africa.  Constantius  Chlorus  Hess  in  den  ihm  unterworfenen 
Ländern  die  Verfolgung  gänzlich  einstellen.  In  dieFussstapfen  des  306  gestorbe- 
nen Vaters  trat  der  Sohn,  der  spätere  Kaiser  Co ns  tan t in.  In  andern  Theilen 
des  Reiches  Hess  die  Verfolgung  ebenfalls  nach.  Galerius,  der  ein  ganzes 
Jahr  lang  von  einer  fürchterlichen  Krankheit  geplagt  wurde,  Hess  die  Ver- 
folgung einstellen  (311)  durch  ein  Edict  ^),  worin  ausdrücklich  bezeugt  war, 
dass ,  da  die  früheren  Massregeln  zur  Bekehrung  der  Christen  nichts  ge- 
fruchtet hätten,  ihnen  gewährt  werde,  dass  sie  wieder  Christen  sein  und 
ihre  Versammlungen  halten  dürften,  doch  unter  der  Bedingung,  dass  sie  nichts 
gegen  die  öffentliche  Ordnung  unternähmen  2).  Es  traten  aber  Unruhen  ein. 
Constantin  wurde  nach  Besiegung  des  Maxentius,  des  Sohnes  des 
Augustus  Maximian  (312j  Beherrscher  des  ganzen  Abendlandes,  Licinius, 
der  bald  Gemahl  der  Constantia,  Schwester  des  Constantin,  wurde,  — 
herrschte  über  das  europäische  Morgenland  und  hatte  nur  noch  Maximin  in 
Asien  gegen  sich,  der  bald  die  Christen  wieder  zu  verfolgen  anfing,  doch 
nach  einiger  Zeit  der  Verfolgung  ein  Ende  machen  musste  ^).  Darauf  gaben 
(312)  die  beiden  Augusti,  Constantin  und  Licinius  ein  Edict,  welches  all- 
gemeine Religionsfreiheit  einführte.  Da  aber,  nach  dem  Wortlaute  dessel- 
ben die  Bekehrung  zum  Christenthum  ausgeschlossen,  die  Freiheit  der  Re- 
ligion nur  den  gebornen  Christen  gewährt  zu  sein  schien,  so  erliessen  die 
beiden  Augusti  313  von  Mailand  aus  ein  neues  Edict,  wodurch  der  Ueber- 
tritt  zum  Christenthum  gänzlich  freigestellt,  und  den  Christen  ihre  ihnen 
entrissenen  Kirchen  zurückgegeben  wurden.  Als  Zweck  dieser  Beschützung 
der  Clu'isten  wurde  im  Edict  der  Wunsch  angegeben,  alle  Götter  sich  ge- 
neigt zu  machen  ^). 

IV.    Kaiser  Constantin,  geboren  274,  der  von  nun  an  auf  den  Vorder- 
grund der  Geschichte  tritt  &),  huldigte  wie  sein  Vater  dem  Glauben  an  den 


1)  Euseb.  8,  17.     Lact.  1.  c.  34. 

2;  Ne  quid  contra  disciplinam  agant,  Moslieim  verstellt  darunter  die  römische  Re- 
ligion. 

3)  Euseb.  9,  10  der  das  Edict  Maximins  zu  Gunsten  der  Christen  mittheilt. 

4)  Lactantius  1.  c.  c.  48,  quo  quidquid  est  divinitatis  in  sede  coelesti,  nobis  atque 
Omnibus,  qui  sub  potestate  nostra  sunt  coustituti,  placatum  ac  propitium  possit  existere. 

oj  Es  hat  seinem  Rufe  sehr  geschadet,  dass  er  einen  so  beschränkten,  knechtischen 
Schmeichler,  wie  Euseb  von  Caesarea  in  dessen  Leben  Constantins  sich  zeigt,  als  Bio- 
graphen gefunden  hat.  Kritisch  verfährt  Manso  in  seinem  Leben  Constantins  des  Grossen 
1819,  ebenso  Ne  ander  und  Gieseler  in  ihren  allgemeinen  Werken  über  Kirchen- 
geschichte. Burkhardt  a.  a.  ü.  gibt,  wie  auch  Gass  im  Artikel  Constantin  und  seine 
Söhne  in  der  Realencyklopädie  es  anerkennt,  eine  im  ungünstigen  Sinne  befangene  Dar- 
stellung des  ersten  christlichen  Kaisers.  Keim  in  seiner  kleinen,  selir  inhaltreichen 
Schrift:  der  üebertritt  Cuustantins  des  Grossen  zum  Cliristenthum  1862,  akademischer 
Vortrag,  hat  die  Kritik  Burkhard t's  auf  das  rechte  Maass  zurückgeführt. 


60 

höchsten  Gott,  der  aber  die  Verehrung  der  heidnischen  Götter  nicht  aus- 
schloss,  unter  welchen  er  nach  dem  höchsten  Gotte  dem  Apollo,  dem  Gotte 
Helios ,  als  dessen  Offenbarer  die  erste  Stelle  anwies.  Nach  dem  so  eben 
erwähnten  Keligionsedict  war  er  noch  kein  Christ,  er  bekannte  sich  viel- 
melir  zu  einer  Art  von  Religionssyncretismus ,  ähnlich  dem  des  Alexander 
Severus  und  Philippus  Arabs.  Diese  Bemerkungen  stellen  uns  auf  den 
richtigen  Standpunkt,  um  die  wunderbare  Begebenheit  zu  beurtheilen,  die 
seinen  Uebertritt  zum  Christenthum  bev>irkt  haben  soll.  Er  selbst  erzählt(» 
am  Ende  seines  Lebens  dem  Bischof  Euseb  und  bekräftigte  mit  einem 
Eidschwur,  dass  er  im  Jahr  311,  im  Kriege  gegen  Maxentius,  als  er  über 
die  Mittel  nachdachte,  wie  er  sich  den  Sieg  verschaffen  könnte  und  den 
höchsten  Gott  bat,  ihm  beizustehen,  in  den  Nachmittagsstunden,  geger 
Sonnenuntergang  in  der  Luft  ein  hell  leuchtendes  Kreuz  gesehen  habe,  um 
welches  herum  die  Worte  standen:  ev  tovtm  vixa.  Er  war  von  der  Er- 
scheinung überrascht  wie  auch  die  ganze  Armee.  Noch  grösser  wurde  seine 
Ueberraschung ,  als  ihm  in  der  darauf  folgenden  Nacht  Jesus  erschien  mit 
der  Kreuzesfahne  in  der  Hand,  der  ihn  ermahnte,  eine  solche  Fahne  machen 
zu  lassen  zum  Schutz  gegen  die  Feinde,  worauf  er  den  Sieg  über  Maxen- 
tius erfocht,  der  dabei  in  den  Fluthen  der  Tiber  den  Tod  fand.  Der  Kaiser 
befolgte  die  ihm  gegebene  Anordnung,  Hess  christliche  Geistliche  kommen 
und  eine  solche  Fahne  verfertigen,  befragte  die  Geistlichen,  welcher  Gott 
ihm  erschienen,  und  welches  die  Bedeutung  des  ihm  erschienenen  Zeichens 
sei ;  sie  sagten  ihm,  es  sei  des  einen  und  einzigen  Gottes  eingeborner  Sohn, 
das  erschienene  Zeichen  aber  ein  Symbol  der  Unsterblichkeit  und  ein 
Zeichen  des  Sieges  über  den  Tod,  den  Christus  errungen  als  er  einst  auf 
Erden  wandelte.  Von  dieser  Zeit  an  begann  er,  die  göttliche  Sclirift 
zu  lesen,  nahm  die  Priester  Gottes  in  seine  Gesellschaft  auf  und  glaubte 
den  ihm  erschienenen  Gott  mit  allen  möglichen  Dienstbezeugungen  ehren 
zu  müssen  ^).  Um  diese  bis  auf  die  neusten  Tage  viel  besprochene  Sache 
richtig  zu  beurtheilen.  muss  vor  Allem  bemerkt  werden,  dass  Lactanz  de 
mortibus  persecutorum  c.  44  berichtet,  der  Kaiser  habe  ein  Traumgesicht 
gesehen.  Auch  Sozomenus  1,  3  weiss  nur  von  einem  solchen  2)  und  Engel 
flüstern  dem  Kaiser  das  Wort  zu:  „durch  dieses  Zeichen  wirst  du  siegen." 
Es  ist  diess  um  so  auffallender,  da  Sozomenus  die  Erzählung  des  Eusebius 
kennt  und  sie  anführt,  aber  ohne,  wie  es  scheint,  derselben  Glauben  zu 
schenken.  Dass  im  fünften  Jahrhundert  die  Annahme  einer  blossen  Traum- 
erscheinung sich  noch  erhalten  hatte,  ist  auch  aus  Rufin's  Kirchengeschichte  9, 9 
ersichtlich.  Was  überdiess  auffällt,  Tst,  dass  selbst  Euseb  an  der  Stelle 
seiner  Kirchengeschichte,  wo  er  den  Kampf  mit  Maxentius  beschreibt  (9,  9) 
nichts  von  dem  am  Himmel  erschienenen  Zeichen  zu  berichten  weiss,  was 
doch  nach  Aussage  des  Kaisers  das  ganze  Heer  mit  Staunen  wahrgenom- 
men haben  soll,  was  daher  unmöglich  unbekannt  bleiben  konnte.  Sodann 
kann  keine  Rede  davon  sein,  dass  der  Kaiser  bis  zu  jenem  Zeitpunkte  keine 
Kenntniss  des  Christenthums,  keine  Ahnung  vom  Kreuzeszeichen  und  dessen 


1)  Euseb.  de  vita  Const.  1,  28—32. 

2)  Oyag  f«Je  ro  tov  Ctkvqov  Gijjusiov  er  rm  ovgavta  delnyiCoy, 


61 

Bedeutung  gehabt  hat,  so  wie  denn  auf  der  andern  Seite  erwiesen  ist,  dass 
der  nach  dem  Siege  über  Maxentius  errichtete  Triumphbogen  ursprünglich 
die  Inschrift  trug:  J.  0.  M.  (Jovis  Optimi  Maximi).  Constantin  machte  be- 
kanntlich noch  eine  Zeitlang  heidnische  Ceremonien  mit,  nahm  Theil  an 
heidnischen  Opfern;  auf  Münzen  und  Inschriften  bis  in  das  Jahr  320,  ja  328 
erscheint  er  als  heidnischer  Oberpriester.  Das  ist  aber  gewiss,  dass  er 
von  jener  Zeit  an  eine  besondere  Verehrung  fiir  das  Kreuz  und  das  Kreu- 
zeszeichen an  den  Tag  legte.  Er  meinte,  durch  das  Kreuzeszeichen  die 
Wirkungen  der  von  Maxentius  verrichteten  heidnischen  Sacra,  Wirkungen 
die  er  ängstlich  befürchtete,  abgewendet  zu  haben.  Daher  Hess  er  nach 
dem  Siege  seine  Bildsäule  auf  dem  Forum  zu  Rom  mit  einer  Fahne  in  Ge- 
stalt eines  Kreuzeszeichens,  in  der  rechten  Hand  darstellen  und  die  In- 
schi"ift  darunter  setzen :  durch  dieses  heilbringende  Zeichen ,  das  wahre 
Zeichen  des  Muthes,  habe  ich  eure  Stadt  vom  Joche  des  Tyrannen  befreit.'^ 
Alles  diess  lässt  sich  mit  der  Annahme  vereinbaren,  dass  Constantin  im 
Traume  ein  Kreuz  gesehen  hat;  wenn  er  in  der  Erzählung  an  Euseb  der 
Sache  eine  äussere  Objectivität  gegeben,  so  ist  es  nicht  nöthig,  hier  eine 
bewusste  Lüge  und  Eidbruch  anzunehmen  i),  sondern  in  der  Erinnerung  des 
damals  bereits  mehr  als  60  Jahre  alten  Herrn  verwandelte  sich  der  Traum 
in  Wirklichkeit,  was  um  so  leichter  geschehen  konnte,  da  es  seiner  Eitelkeit 
schmeichelte  und  seiner  Politik  zusagte.  Er  mochte  auch  gerne  seinen 
Uebertritt  zum  Christenthum  früher  ansetzen  als  er  in  Wirklichkeit  erfolgte. 
V.  Welches  die  Ursachen  der  Verfolgungen  überhaupt  waren,  warum 
sie  mit  der  Ausbreitung  der  Kirche  zusammenfielen,  wie  diese  beiden  Reihen 
von  Ereignissen  sich  zu  einander  verhalten,  diese  Fragen  sind  dui'ch  die 
bisherige  Darstellung  noch  nicht  genügend  beantwortet.  Vor  Allem  ist  zu 
beachten,  dass,  sobald  das  Christenthum  nicht  mehr  blos  als  jüdische  Sekte 
sich  erwies ,  die  Duldung ,  die  den  Juden  zu  Theil  wurde ,  sich  nicht  .mehr 
auf  die  Christen  ausdehnte ,  sodann ,  dass  das  Evangelium ,  obschon  es  jede 
Regung  aufrührerischen  Geistes  niederhielt  (Rom.  13,  1),  so  dass,  wie  Ter- 
tullian  bemerkt,  bis  zu  seiner  Zeit  die  Christen  an  keiner  der  vielfachen 
Empörungen  Theil  genommen,  doch  das  Gewissen  unangetastet  Hess  und 
sogar  befahl,  denjenigen  Gesetzen,  welche  Gott  widerstreiten.  Trotz  zu 
bieten  (Apostelgesch.  4,  19.  5,  29).  Nun  aber  war  die  Verehrung  der  Götter, 
der  Kaiser  als  bürgerliche  Pflicht  angesehen.  Da  die  Christen  sich  der 
Beobachtung,  solcher  Pflichten  entzogen,  so  erklärte  man  sie  für  Aufrührer, 
Feinde  des  Staates,  der  Kaiser,  der  Götter,  für  Gottlos  2).  Daher  Hess 
man  ihnen  nicht  diejenige  Duldung  zukommen,  die  man  anderen  Religionen 
angedeihen  Hess ,  welche  nicht  auf  den  ausschliesslichen  Besitz  der  Wahr- 
heit Anspruch  machten  und  sich  weit  weniger  an  das  Gewissen  ihrer  An- 
hänger wendeten.  Da  einige  Christen  sich  weigerten,  am  Kriegsdienste 
Theil  zu  nehmen  und  gewisse  Erwerbszweige,  welche  mit  dem  Götzendienste 
in  Verbindung  standen,  zu  treiben,  so  gab  das  jenen  Beschuldigungen  eini- 
gen Schein  der  Wahrheit.    Wie  die  Erwartungen  der  Christen  vom  Reiche 


1)  Zosimus  2,  28  wirft  ihm  vor,  dass  er  gewohnt  war,  den  Eid  zu  brecheu. 

2)  Hostes  Caesarum,  populi,  tm^  »tcou  xa^ttiQeint,  afheot. 


62 

Gottes  in  politischem  Sinne  gedeutet  wurden,  davon  haben  wir  schon  in  der 
Apostelgesch.  17,  10  und  an  Domitian  ein  Beispiel  gefunden.  Allein,  obwohl 
widerlegt,  erhielten  sich  diese  Beschuldigungen.  ^^Wann  ilir  davon  hört, 
sagt  Justin  1),  dass  wir  einKeich  erwarten,  so  vermuthet  ihr  ohne  gehörige 
Unterscheidung,  wir  meinten  ein  menschliches  Reich,  da  wir  doch  vom 
Reiche  Gottes  reden.''  Wir  haben  gesehen,  wie  gerade  die  ausgezeichnet- 
sten Kaiser,  Trajan,  Mark-Aurel,  Decius,  Diocletian  das  Christenthum  nur 
als  neues  Mittel  den  Staat  zu  erschüttern,  betrachteten  und  sich  daher 
als  die  ärgsten  Feinde  der  Christen  zeigten.  Man  kann  sich  um  so  weniger 
darüber  wundern,  da  neuere  christliche  Historiker  ihnen  Recht  gegeben,  von 
der  Ansicht  ausgehend,  dass  der  römische  Staat  auf  die  alte  Religion  gegründet 
war,  dass  man  also  den  Staat  selbst  untergrub,  indem  man  die  alte  Religion 
beseitigte.  Daran  ist  so  viel  wahr ,  dass  die  Verfolgungen  einen  fieberhaf- 
ten Zustand  im  Staate  unterhielten,  dass  die  Menschen,  die  man  einkerken^e 
und  tödtete,  der  Gesellschaft,  entzogen  wurden.  Das  Christenthum  an  sich 
aber  hätte  die  festeste  Stütze  des  Staates  werden  können. 

Ueberdiess  schien  die  Einfachheit  des  christlichen  Gottesdienstes ,  die 
gegen  den  heidnischen  Prunk  einen  so  scharfen  Contrast  bildete,  das  Siegd 
einer  geheimen  Verschwörung  gegen  den  Staat  zu  sein.  Die  Liebe  der 
Christen  zur  Stille',  zur  Betrachtung,  ihr  Abscheu  vor  den  weltlicher, 
rauschenden  Vergnügungen,  das  im  öffentlichen  Auftreten  beobachtete  Still- 
schweigen, die  eifrigen  Mittheilungen,  welche  die  Christen  unter  einandei* 
pflogen,  das  alles  gab  ihnen  den  Schein  einer  Menschen  und  Götter  hassen- 
den gefährlichen  Verbrüderung.  Bald  kamen,  wie  wir  schon  angedeutet 
die  ärgsten  Gerüchte  über  sie  in  Umlauf.  Schon  der  Umstand,  dass  Jesu& 
auf  Befehl  der  römischen  Obrigkeit  hingerichtet  worden,  wurde  benützt,  um 
von  ihm  und  seinen  Anhängern  so  schlecht  als  möglich  zu  denken,  ihnen 
Schändliches  Schuld  zu  geben  2).  Schon  Tacitus  und  Sueton  lassen  sich, 
wie  wir  gesehen  haben,  in  diesem  Sinne  vernehmen.  Bald  trug  man  sich 
mit  Beschuldigungen  wie  folgende:  dass  die  Christen  in  ihren  Versammlun- 
gen bei  ausgelöschten  Lichtern  durch  Unzucht  und  Laster  wider  die  Natur 
sich  befleckten,  dass  sie  bei  der  Einweihungsfeierlichkeit  eines  Bekehrten 
kleine  Kinder  tödteten,  um  sie  zu  essen.  So  wurde  ihnen  Menschenfresserei 
und  Blutschande  vorgeworfen  3).  Solche  Beschuldigungen  wurden  beson- 
ders im  Antoninischen  Zeitalter  erhoben  und  dienten  damals  zumal  in  Lyon 
und  Vienne  als  Vorwand  der  Verfolgung,  als  Mittel,  um  die  Volkswuth  an- 
zuschüren, bei  welcher  Gelegenheit,  —  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen, 
Blandina  einen  Tag  lang  grässlich  gefoltert  wurde,  um  aus  ihr  die  Ver- 
läugnung  ihres  Glaubens  und  das  Geständniss  jener  schändlichen  Verbrechen 
herauszupressen.     Sie   beharrte    aber   auf  ihrer   Aussage:    ,jich    bin    eine 


1)  Apologie  I.  11. 

2)  Minucius  Felix  c.  8. 

3)  Athenagoras  c.  4.  Svfdriia  öetnvn.  Oi^mcdeiai  fxi^ftg.  Ebenso  Euseb.  5,  1. 
Justin  2,  12.  Minucius  Felix  spricht  ausführlich  von  diesen  Verläumdungen  c.  9,  die  der 
heidnische  Rhetor  Fronto  gegen  die  Christen  eifrig  zu  verbreiten  suchte.   Min.  FeUx  c.  9. 31. 


63 

Christin  und  bei  uns  geschieht  nichts  Schlechtes^  ^).  In  der  That  wurden 
von  dieser  Zeit  an  die  Christen  nicht  mehr  mit  solchen  Beschuldigungen 
belastet.  Doch  gab  es  genug  andere.  Zur  Zeit  der  diocletianischen  Ver- 
folgung bot  man  auch  einen  erdichteten  Bericht  des  Pontius  Pilatus  an 
Kaiser  Tiberius  herum,  worin  der  Charakter  des  Herrn  auf  lästerliche 
Weise  entstellt  war.  Der  Hass  gegen  die  Christen  nahm  noch  andere  For- 
men an.  In  den  Augen  der  Menge  w^aren  die  Christen  an  allem  Unglücke 
schuld,  welches  den  Staat  traf.  Noch  im  vierten  Jahrhundert  gab  es  in  xVfrika 
ein  Sprüchwort :  non  pluit  Dens,  diic  ad  Christianos.  —  Tertullian  sagt  im 
Apolog:  ,,wenn  die  Tiber  bis  zu  den  Mauern  der  Stadt  steigt,  wenn  die 
Ueberschwemmung  des  Nil  ausbleibt,  wenn  Hungersnoth  oder  Pest  ein 
Land  verheeren,  so  erhebt  sich  alsbald  das  Geschrei:  werft  die  Christen 
den  Löwen  vor :  j^christianos  ad  leonem.^' 

Wenn  alles  dieses  der  Verbreitung  des  Christenthums  entgegenstand 
und  das  Feuer  der  Verfolgung  schüren  half,  so  war  nichts  desto  weniger 
der  Sache  Christi  der  Sieg  zugesichert  durch  die  ihr  inwohnende  göttliche 
Kraft,  wie  sie  sich  in  den  Verfolgungen  und  in  manchen  anderen  Bezieh- 
ungen kund  gab.  Wenn  wir  bedenken,  welchen  Anklang  die  morgenlän- 
dische Culte  bei  den  Römern  fanden,  wie  viele  Prosehten  die  verachteten 
Juden  machten,  wie  war  es  möglich,  dass  nicht  auch  das  P]vangelium  viele 
Herzen  gewann?  Dazu  kam,  dass  die  damalige  Kirche  von  einem  feurigen 
Missionstriebe  beseelt  war.  Die  Sklaven  redeten  vom  Evangelium  zu  ihren 
Herrn,  der  eine  Gatte  zum  anderen,  die  Tochter  zum  Vater.  Wandernde 
Soldaten  brachten  das  Evangelium  in  die  Kolonien,  Gefangene  ihren  Sie- 
gern. Viele  Christen  wanderten,  nach  Vertheilung  ihres  Vermögens  unter 
die  Armen  aus,  um  Christum  zu  verkündigen  2). 

Die  Fortdauer  der  Wundergaben  trug  auch  (hizu  bei ,  den  Glauben  an 
die  göttliche  Kraft  des  Evangeliums  zu  w^ecken,  die  (lemüther  auf  dasselbe 
aufmerksam  zu  machen.  Diese  fortdauernden  Wundergaben  sind  durch  zu 
viele  Zeugnisse  von  Kirchenlehrern  bestätigt  als  dass  wir  sie  durchweg  in 
Zweifel  ziehen  könnten,  weimgleich  nicht  alle  die  berichteten  Wunder- 
wirkungen als  verbürgt  gelten  können  3).  Ein  Wunder  anderer  Art  und 
nicht  weniger  wirksam  war  die  Liebe  der  Christen  unter  einander  und 
gegen  ihre  Nächsten  aus  den  Heiden,  sowie  die  standhafte  Ertragung  all^r 
Leiden  und  Schmerzen.  In  jener  Zeit,  wo  unter  dem  römischen  Joche  der 
Gemeinsinn  so  sehr  verschv;unden  war,  wo  die  crasse  Selbstsucht  um  so 
ungezügelter,  unverschämter  hervortrat,  konnte  die  innige  Liebe  der  Christen 
unter  einander  ihres  Eindrucks  nicht  verfehlen.  „Sehet,  wie  sie  einander 
lieben",  hörte  man  die  Heiden  bewaindernd  sagen  ^).  Was  aber  noch  grös- 
seren Eindruck  machte,  war  dieses,  dass  die  Christen  ihr  Herz  nicht  gegen 
anders  Denkende   verschlossen.    Bei   öffentlichen  Unglücksfällen   sah   man 


1)  Euseb.  5,  1. 

2)  Euseb.  3,  37. 

3)  S.  Tholuck,  vermischte  Schriften.    1.  Theil.  ' 

4)  Tertull.  Apologeticum  c.  39.     Cäcilius  bei  Min.  Felix  c.  9.  occultis   se.   notis   et 
insignibus  noscunt,  et  amant  mutuo  paene  antequam  noverint. 


64 

sie  ihren  leidenden  heidnischen  Volksgenossen,  welche  von  den  ihrigen  ver- 
lassen waren ,  zu  Hülfe  kommen.  In  jener  Zeit  der  sittlichen  Entartung, 
der  Ausschweifungen,  die  unter  den  Reimern  riesige  Verhältnisse  annahmen, 
musste  die  heldenmüthige  Ausdauer  in  den  grässlichsten  Martern  die  Ge- 
rüchte über  die  von  ihnen  verübten  Laster  siegreich  widerlegen  und  auf 
die  in  ihnen  wirksame  göttliche  Kraft  hinweisen  3). 

Uebrigens  ist  wohl  zu  beachten,  dass  bis  zu  dem  Zeitpunkte,  wo  das 
Christenthum  in  allen  Theilen  des  Reiches  Wurzel  geschlagen,  es  keine 
allgemeine  Verfolgung  gab  und  nach  dem  Zeugnisse  des  Origenes  nicht  eine 
grosse  Zahl  von  Märtyrern.  Es  ist  auch  nicht  zu  vergessen,  dass  die 
grössten  Verfolgungen  durch  grosse  Zwischenräume  von  einander  getrennt 
sind,  in  welchen  Zwischenräumen  die  Kirche  sich  von  der  Blutarbeit  einigei*- 
massen  erholen  konnte.  Unter  Diocletian  wuchs  freilich  die  Zahl  der  Mär- 
tyrer ins  Ungeheure  an.  Aber  das  Siegesgeschrei  der  Heiden  über  die 
bevorstehende  gänzliche  Vertilgung  des  christlichen  Namens  erwies  sich 
bald  als  voreilig.  An  einigen  Orten  wurden  damals  im  buchstäblichen  Sinn  3 
des  Wortes  die  Schwerter  abgestumpft  ob  der  Menge  derer,  die  sich  dem 
Märtyrertode  unterwarfen.  Man  kann  aber  wohl  sagen:  der  Staat  hätt(i 
sein  Schwert  gänzlich  abgestumpft,  wenn  er  sein  Werk  hätte  fortsetzen 
wollen.  Die  Duldung  des  Christenthums  war  eine  politische  Nothwendigker; 
geworden.  Da  man  das  Christenthum  nicht  vertilgen  konnte  —  wovon  dif 
Christen  den  lebendigsten  Beweis  gegeben,  —  so  musste  man  es  gewahrer 
lassen.  Auf  diesen  Standpunkt  stellte  sich  Constantin.  Die  frühere  An- 
schauung hatte  sich  umgekehrt.  Nicht  mehr  erschien  das  Christenthum  als 
die  Existenz  des  Staates  bedrohend,  sondern  als  das  Hauptmittel,  um  den 
furchtbar  erschütterten  Staat  wieder  in's  Gleichgewicht  zu  bringen.  Das 
ist  der  Sinn  der  Sage  von  dem  Kreuz  in  den  Wolken  mit  der  den  Sieg 
verheissenden  Inschrift. 


Zweiter  Abschnitt. 


Angriffe    der  Juden  und   Heiden   auf   das   Christenthum,    in 
Wort  und  Schrift  und  die  Vertheidigung  desselben  durch  die 

Apologeten. 

Solche  Angriffe  waren  ebenso  unausbleiblich  wie  die  Verfolgungen  von 
Seiten  des  jüdischen  und  heidnischen  Staates  und  Volkes  es  gewesen,  und 
waren  zum  Theil  die  Veranlassung  und  treibende  Kraft  dazu.  Dem  Chri- 
stenthum stand  eine  geistige  Welt  feindlich  entgegen,  ein  Ganzes  von  Re- 
ligionsanstalten, ein  Complexus  von  religiösen  Begriffen  und  Anschauungen, 


3)  Justin.  ApoL  U.  12. 


Polemik  der  Juden  und  Apologetik  gegen  die  Juden.  65 

von  tief  eingewurzelten,  durch  alte  Tradition  und  lange  Uebung  noch  immer 
ehrwürdigen  und  stark  wirkenden  Principien ,  deren  Vertreter  sie  geltend 
machten,  um  das  Christenthum  zu  widerlegen,  herabzusetzen.  Es  fand  auch 
eine  solche  Bildung  vor,  welche  mit  der  Religion  überhaupt  mehr  oder 
weniger  gebrochen  hatte  und  die  von  diesem  Standpunkte  aus  ihre  Angriffe 
gegen  dasselbe  richtete.  Es  hatte  die  Aufgabe,  sich  dagegen  zu  verthei- 
digen,  und  nicht  blos  in  der  That,  sondern  auch  in  Wort  und  Schrift  sein 
eigenthümliches  Wesen  der  Welt  offen  darzulegen.  Die  Christen  sollten 
bereit  sein ,  Rechenschaft  zu  geben  von  der  Hoffnung ,  die  in  ihnen  war  ^). 
So  gab  denn  diese  Defensivstellung,  die  auch  in  die  Offensive  überging, 
vielfältigen  Anlass  zur  Entwicklung  des  christlichen  Lehrbegriffes. 


Erstes  Capitel.    Polemik  der  Juden  und  Apologetik  gegen  die  Juden. 

Von  Schriften,  welche  die  Juden  gegen  die  Christen  in  dieser  Zeit 
verfasst  hätten,  sind  uns  keine  erhalten  worden.  Nur  eine  wird  überhaupt 
genannt,  das  liber  Toledot  Jeschu,  angefüllt  mit  gemeinen  Beschuldig- 
ungen gegen  Jesum,  seine  Mutter  und  seine  Apostel.  Nachdem  Vol- 
taire aus  leicht  begreiflicher  Ursache  gerühmt  hatte,  es  sei  die  älteste 
Schritt  der  Juden  gegen  die  Christen,  noch  vor  unseren  Evangelien  ge- 
schrieben, haben  neuere  Untersuchungen  ergeben,  dass  sie  nicht  vor  dem  drei- 
zehnten Jahrhundert  verfasst  worden  2j.  Die  Beschuldigungen  selbst  sind  weit 
älteren  Datums,  wie  aus  der  Schrift  des  Celsus  zu  ersehen  ist.  Der  Hass 
der  Juden  gab  sich  noch  auf  andere  Weise  kund.  So  wie  man  diesen  in  alten 
Zeiten  vorgeworfen,  dass  sie  einen  Esel  anbeteten  3),  so  übertrugen  sie  nun 
diesen  Schimpf  auf  die  Christen  ^).  Durch  eigene  nach  allen  Weltgegenden 
gesandte  Emissäre  sprengten  sie  aus,  es  sei  von  einem  galiläischen  Be- 
trüger Jesus  eine  gottlose  und  gesetzlose  Sekte  gestiftet  worden,  welchen 
Jesus,  nachdem  ihn  die  Juden  gekreuzigt,  seine  Schüler  Nachts  aus  dem 
Grabe  gestohlen  hätten;  damit  betrügen  sie  nun  die  Leute,  indem  sie  vor- 
geben, er  sei  von  den  Todten  auferstanden  und  gen  Himmel  gefahren  ^). 

Das  älteste  Document  der  Apologetik  gegen  die  Juden  ist  die  avti- 
Xoyia  laffopog  xat  Jlaniffxov^  von  Celsus  bei  Origenes  ß)  angeführt,  später 
unter  dem  Namen  Siake^ig  erwähnt,  von  Origenes  als  eine  mittelmässige, 
doch  für  die  Ungebildeten  immerhin  nützliche  Schrift  bezeichnet,  wahr- 
scheinlich unter  Hadrian  verfasst,  verloren  gegangen  nebst  der  lateinischen 
Uebersetzung    eines    gewissen  Celsus,    von   dessen   Vorrede   dazu   in   den 


1)  1  Petr.  3,  15. 

2)  S.  das  Nähere  über  sie  in  d.  Studien  u.  Kritiken,  1873.  I.Heft:  die  Jesusmythen 
des  Jüdenthums  v.  Gustav  Kösch,  Pfarrer. 

8)  Tacitus  liist.  5,  4. 

4)  TertuUian  apologeticum  c.  16;  adnationes  1,14.  Vgl.  über  das  Ganze  den  Artikel 
asinarii  in  d.  Realencyklopädie. 

5)  Justin  im  Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  c.  108. 

6)  c.  Celsum  4,  52. 

Herzog,  Kirchengeschichte  g 


66  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Werken  des  Cyprian  sicli  ein  Fragment  vorfindet.  Sie  wurde  fälschlich 
dem  Ariston  v.  Polla,  einem  Judenchristen,  zugeschrieben.  Nach  Hierony- 
mus  ^)  sind  in  der  Schrift  die  ersten  Worte  der  Genesis  so  übersetzt:  in  filio 
fecit  deus  coehnn  et  terram. 

Besonders  wichtig  sind  folgende  zw^ei  Schriften :  Justin 's  des  Märtyrers 
Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon  und  des  Origencs  Schrift  gegen 
Celsus,  wo  im  1.  und  2.  Buche  ein  Jude  redend  eingeführt  wird,  der  seine 
Argumente  gegen  die  heilige  Schrift  vorbringt,  den  Christen  ihren  Abfall  vom 
mosaischen  Gesetze  vorwirft  und  sie  zur  Bückkehr  ermahnt.  Von  geringerer 
Bedeutung  sind  Tertullian's  Schrift  adversus  Jiidaeos  und  Cyprian 's 
Schrift:  testimonia  adversus  Jtidaeos. 

Des  Juden  Polemik  gegen  die  Christen  in  den  Fragmenten  der  Schrift  des 
Celsus  ist  übrigens  von  derselben  Art,  wie  die  im  genannten  Dialog  enthaltene.  Fs 
wird  da  zum  ersten  Male  die  Sage  von  der  ehebrecherischen  Verl)iii(lung  der 
Mutter  des  Herrn  mit  dem  Soldaten  Panthera  angeführt'^),  w^ogegen  Origenes 
treffend  bemerkt,  so  nehme  man  Zuflucht  zur  Lüge,  weil  man  nicht  läugneri 
könne,  dass  Jesus  auf  ausserordentliche  Weise  geboren  worden  sei.  Gegei 
die  Auferstehung  des  Hemi  bringt  der  Jude  einen  Grund  vor,  der  etwas 
Speziöses  hat:  gestraft  (d.  h.  am  Kreuze  hangend)  sei  Jesus  von  allen  gesehen 
worden,  auferstanden  nur  von  einem  (worunter  er  die  Maria  Magdalena  ver- 
steht); das  Gegen tlieil  wäre  am  Platze  gewesen.  Was  Origenes  dagegen  be- 
merkt, war  allerdings  nicht  geeignet,  auf  einen  ungläubigen  Juden  Eindruck 
zu  machen:  die  Feinde  hätten  den  Anblick  des  Auferstandenen  und  bereits 
Verklärten  nicht  ertragen  können,  daher  habe  der  Herr  aus  Schonung  sich 
ihnen  nicht  gezeigt  s). 

Ernster  sind  die  Einwendungen  des  Tryphon:  1)  die  messianischen 
Weissagungen  seien  in  Jesu  nicht  erfüllt,  da  sie  einen  mächtigen  König  ver- 
kündigten, Jesus  aber  unrühmlich  und  elend  gelebt  habe  und  elend  gestorben 
sei;  2)  die  Lehre  von  der  Gottheit  Christi  widerspreche  dem  Glauben  an 
Einen  Gott,  von  dem  es  heisse  (Jesaia  42,  8)  dialog.  c.  65,  dass  er  seine 
Ehre  keinem  andern  überlasse;  3)  die  Christen  thun  nicht  recht,  indem  sie 
das  mosaische  Cärimonialgesetz  verlassen,  an  dessen  Beobachtung  Gott  selbst 
die  Seligkeit  geknüpft  habe.  Justin  und  andere  Apologeten  vertheidigten 
sich  ausführiich  in  Beziehung  auf  diese  drei  Punkte.  Mit  Becht  berufen  sie 
sich  darauf,  dass  die  einen  Weissagungen  bei  der  zweiten  Zukunft  Christi  in 
Erfüllung  gehen  sollten.  Wenn  aber  Justin  auf  die  Frage  Tryphon's,  ob  denn 
auch  Jesu  Kreuzestod  geweissagt  sei,  antwortet,  indem  er  sich  auf  das  Gebet 
Mose  in  der  Schlacht  mit  den  Amalekitern,  w^obei  er  die  Arme  in  Kreuzes- 
form ausbreitete,  und  auf  die  eherne  Schlange  berief,  so  zeigt  sich  darin 
eine  Blosse  dieser  Apologetik;  ebenso,  w^enn  er  die  Auferstehung  Jesu  vorher 
verkündigt  sein  lässt  durch  den  Propheten  Jonas.    Ferner  berief  sich  Justin 


1)  qnaestiones  in  Genesin. 

2)  1,  32.  Auch  im  Talmnd  l^isst  Jesus  Solin  der  Pandira;  er  heisst  so  als  Sohn 
der  Buhlerin.  liav^rio  ist  wie  lupa  ein  Bild  habsüchtiger  Wollast,  die  auf  alles  Jagd 
macht,  ttJio  lov  Tictv  9)]Qr(^.  S.  Nitzsch.  St.  u.  Krit.  1840.  1.  S.  115. 

3)  Contra  Celsum 2,  64.  ipetdofayog  avicoy  ovx  eipaivixo  TinCtv  avaCTttg  tx  yfXQioy. 


Polemik  der  Juden  und  Apologetik  gegen  die  Juden.  67 

auf  dieselbe  Stelle,  Jesaia  42,  8,  die  Tiyphon  gegen  die  Gottheit  Christi  an- 
geführt hatte;  er  meint,  die  Worte:  meine  Ehre  gebe  ich  keinem  anderen, 
besagen  nur  so  viel,  dass  Gott  seine  Ehre  keinem  anderen  geben  werde  als 
demjenigen,  den  er  zum  Bundesmittler,  zum  Lichte  der  Heiden  l)estimmt 
habe,  worin  Justin  allerdings  über  den  Gedanken  des  Propheten  hinausgeht, 
doch  nur  in  consequenter  Fortführung  dieses  Gedankens.  Er  ist  vollkommen 
in  seinem  Rechte  mit  der  Behauptung,  dass  das  mosaische  Cärimonialgesetz 
blos  zeithchen  Bestand  habe,  dass  aber  die  Christen  Alles  das  dem  Wesen 
nach  hätten,  was  im  mosaischen  Ge>etz  blos  äusserlich  und  -  als' Vorbild  ge- 
geben sei. 

Die  Apologetik  gegenüber  den  Juden  gab  sich  in  Anführung  von  Bibel- 
stellen gefährliche  Blossen.  Die  Christen  nämlich,  des  Hebräischen  unkundig, 
bedienten  sich  in  ihren  Anführungen  aus  der  Schrift  der  LXX,  sowie  sie  denn 
den  fabelhaften  Erzählungen  vom  Ursprünge  dieser  Uebersetzung  Glauben 
schenkten,  nicht  blos  Justin  M.,  Apol.  1,  31,  sondern  auch  Irenäus  3,  21.  2, 
und  der  unbekannte  Verfasser  des  Xoyog  nooq  ^EXXrjyag  c.  13.  Nun  aber 
waren  manche  Exemplare  dieser  Uebersetzung  durch  christliche  Abschreiber 
zu  Gunsten  der  christlichen  Lehren  verändert  worden.  Es  waren  ursprüng- 
lich wohl  Randbemerkungen,  die  nach  und  nach  in  den  Text  Aufnahme  ge- 
fuiulen.  So  beklagt  sich  Justin  ^)  mit  einer  gewissen  Naivetät,  dass  die  Juden 
viele  Stellen  ausgemerzt  oder  verstünunelt  hätten,  betreffend  den  Kreuzestod 
und  die  Gottheit  Christi.  So  seien  Ps.  96,  10  hinter  o  xvgiog  sßacrdsvce,  (was 
selbst  etwas  erweiterte  Uebersetzung  ist),  die  Woite  ano  tov  ^vXov  ge- 
strichen worden,  (die  gar  nicht  im  hebräisclien  Texte  sich  finden  2).  Derselbe 
Justin  wirft  auch  den  Juden  .vor,  dass  sie  die  ganze  Stelle  Jeremia  11,  19 
ausgemerzt  hätten.  Die  Christen  sahen  darin  eine  Weissagung  auf  Christum 
nicht  blos  in  den  Anfangsworten:  ich  aber  bin  wie  ein  Hauslamm  u.  s.  w. 
sondern  hauptsächhch  in  den  Worten:  e^ßaXoifiev  ^vXop  eig  top  aqtoi' 
avToVy  falsche  Uebersetzung  des  Hebräischen :  lasst  uns  den  Baum  verderben 
mit  seiner  Frucht.  Es  ist  die  Rede  vom  Mordanschlag  wider  Jeremia^). 
Diese  Beispiele,  denen  wir  leicht  noch  mehrere  andre  hinzufügen  köimten, 
trieben  die  Juden  an,  die  streng  buchstäbliche  Uebersetzung  des  A.  T.  von 
Aquila  zu  gebrauchen*).  Auch  auf  christlicher  Seite  envachte  bald  die 
Erkenntniss  von  der  Unzulänglichkeit  der  Alexandrinischen  Bibelübersetzung. 


1)  Dialog  mit  Tryphon  c.  71.  72.  73.  67.  Justin  wirft  auch  den  Juden  vor,  dass  sie 
d.  Stelle  Jesaia  7,  14  falsch  übersetzten,  indem  sie  tluPV  nicht  als  nnQ^svo^,  sondern 
als  vf(iviq  übersetzten;  dass  dabei  nicht  an  Aquila  zu  denken  sei,  wie  Diestel,  Geschichte 
d.  A.  T.  S.  22  meint,  behauptet  Bleek,  Einig,  in  das  Ä.  T.  S.  764. 

2)  Dieselbe  Klage  führt  Tertullian  adv.  Marcionem  3,  19,  adv.  Judaeos  c.  10,  deus 
regnavit  a  ligno;  es  sei  Christus  gemeint,  qui  exinde  a  passione  ligni  superata  morte 
regnavit. 

3)  Tertullian  adv.  Marcionem  3,  19  führt  aucli  die  falsche  Uebersetzung  an:  venite, 
emmittaraus  lignum  in  panem  ejus,  utique  in  corpus,  u.  deutet  die  Worte  mittelst  künstlicher 
Exegese  auf  Christum,  der  seinem  Leibe  die  Figur  des  Brodes  gegeben. 

4)  wie  Origenes  in  seinem  Briefe  an  Julius  Africanus  bemerkt. 


68  Erste  Periode  des  alten  Katholicismug. 


Zweites  Capitel.    Polemik   der  Heiden    und  Apologetik   gegen   die 

Heiden« 

ij.  1.    Schriften  wider  und  für  das  Christenthum. 

Die  Einwürfe  der  Heiden  gegen  das  Christenthum  lernen  wir  wtit 
weniger  aus  ihren  eigenen  Schriften  als  aus  den  Apologieen  der  Christen 
kennen.  Jene  Schriften  sind  nämlich  nur  in  geringer  Anzahl  erschienen  und 
fast  alle  sind  verloren  gegangen  oder  vernichtet  worden.  Mussten  doch  nach 
einem  Gesetze  Valentinian's  III.  und  Theodosius  II.  alle  Schriften  heidnischer 
Philosophen  gegen  das  Christenthum  verbrannt  werden  (449). 

Hier  konmit  in  Betracht  des  Celsus  wahres  Wort  (Xoyog  aXrj^ric) 
Diese  Schrift,  nur  in  Bruchstücken  vorhanden  in  der  Widerlegungsschrift  des 
Origenes^),  gehört  jedenfalls  dem  zweiten  Jahrhundert  und  zwar  den  letzten 
Jahren  von  Marc-Aurel  an.  Der  Verfasser  ist  derselbe  Celsus,  dem  Lucian  seinen 
Alexander  widmet.  Er  ist  der  platonischen  Philosophie  ergeben,  wie  schon 
Mosheim  gegen  Origenes,  der  ihn  für  einen  Epicuriler  hielt,  bewiesen  hatte. 
Doch  schhesst  sein  Platonisnuis  einen  gewissen  Religionssyncretisnuis  nichi- 
aus.  Ob  die  Schrift  in  Egypten  oder,  wie  Keim  wahrscheinlich  zu  machei 
sucht,  in  Rom  entstanden  ist,  lassen  wir  dahin  gestellt.  .  Die  Schrift  ist  eine 
grobe,  äusserst  gehässige  Schmähschrift  gegen  das  Christenthum  und  dessen 
Anhänger.  Die  Person  Christi  ist  darin  unbiUiger  beurtheilt,  als  von  den 
Neuplatonikern.  Celsus  geht  auch  über  Lucian  hinaus  in  seinen  Angritlen 
auf  das  Christenthum.  Ob  er  mit  seiner  Schrift,  wie  Keim  meint,  einen  Ver- 
ständigungsversuch beabsichtigte,  ob  er  auf  dem  Wege  der  Ermässigung  der 
christlichen  Grundsätze  den  Christen  Duldung  im  römischen  Pantheon  an- 
bieten will?  jedenfalls  eine  eigene  Art  von  Verständigung,  wobei  Celsus  alles, 
was  die  Christen  Heiliges  haben,  mit  Koth  bewirft  und  an  ilmen  nichts  Gutes 
lässt,  als  schw^achsinnige  Gutmüthigkeit  und  Leichtgläubigkeit.  Darum  muthet 
er  ilmen  auch  zu,  wenn  sie  durchaus  etwas  Neues  haben  wollten,  so  könnten 
sie  sich  an  Hercules  oder  Orpheus  oder  an  einen  andern  von  denjenigen,  die 
eines  grossen  heiligen  Todes  gestorben  sind,  halten 2).  Derselben  Zeit  wie 
Celsus  gehört  Lucian,  der  leichtsinnige  Religionsspötter,  an.  Man  hat  ihn 
den  Voltaire  seiner  Zeit  genannt,  er  geht  aber  weit  über  den  Philosophen 
V.  Eerney  hinaus,  zwar  nicht  in  seinen  Angriffen  auf  das  Christenthum  und 
dessen  Anhänger,  in  der  Schrift  über  den  Tod  des  Peregrinus  und  ganz  kurz 
in  der  andern  Schrift  Alexander  von  Abonoteichos.  Viel  giftiger  als  gegen 
die  Christen,  deren  Gutmüthigkeit  und  Wohlthätigkeit  er  eigenthch  blos 
lächerhch  zu  machen  sucht,  tritt  er  gegen  die  eigenen  Rehgionsgenossen  auf. 
Kaum  haben  christliche  Schriftsteller  jener  Zeit  das  Heiden thum  so  meister- 
haft durchgehechelt  und  in  seiner  Blosse  hingestellt.     Insofern  gebührt  ihm 


1)  Uebersetzt  u.  mit  Erläuterungen  versehen  von  L.  Mosheim,  Hambuig  1745.  Der 
neueste  Bearbeiter  der  Schrift  des  Celsus  ist  Keim,  älteste  Streitschrift  antiker  Welt- 
anschauung  gegen  das  Christenthum  vom  J.  178  n.  Chr.  u.  s.  w.  1873. 

2)  Or.  c.  Celsum  7,  63. 


Polemik  der  Heiden  und  Apologetik  gegen  die  Heiden.  69 

das  Verdienst,  der  alten  Religion  die  empfindlichsten,  stärksten  Schläge  ver- 
setzt zu  haben,  freilich  auf  Kosten  des  rehgiösen  Gefühles  überhaupt. 

In  welcher  Beziehung  das  Leben  des  Schwänners  und  Zauberers  Apol- 
lonius  V.  Tyana,  verfasst  um  das  Jahr  200  von  Philostratus,  zum  Chri- 
stenthum  stehe ,  darüber  gehen  die  Meinungen  der  Gelehrten  auseinander  i). 
Das  steht  fest,  dass  Philostratus  auf  heidnischem  Gebiete  ein  Gegenbild  von 
Christus  aufstellen  wollte,  einen  Mann,  der  zum  Heidenthum  dieselbe  Stellung 
einnimmt,  wie  Christus  zum  Judenthum,  der  jenes  reformirt,  überall  auf  die 
ursprüngliche  Wahrheit  zurückgeht,  dieselben  Wunder  wie  Christus  ver- 
richtet und  zuletzt  gen  Himmel  fährt  {ate^x^iv  etg  ovqavov).  Vielleicht  han- 
delt es  sich  blos  darum,  wie  Baur  meint,  das  Heidenthum  auf  die  gleiche 
Höhe  mit  dem  Christenthum  zu  erheben,  um  so  eine  Verschmelzung  beider 
Rehgionen  anzubahnen,  welche  syncretistische  Bestrebungen  damals  stark 
hervortraten.  Nach  D.  Riekher  wäre  das  Werk  aus  dem  Bestreben  hervor- 
gegangen, den  wachsenden  Einfluss  des  Christenthums  auf  die  Volksmassen 
und  den  drohenden  Untergang  des  Heidenthums  aufzuhalten.  Doch  in  diesem 
Falle  würde  man  eine  Polemik  gegen  das  Christenthum  erwarten.  Diese 
trat  hervor  in  den  Schriften  der  neuplatonischen  Philosophen,  am  Ende  der 
Periode,  die  zwar  Christum  als  hebräischen  W^eisen  und  Theurgen  verehrten, 
aber  den  Jüngern  desselben  vorwarfen,  dass  sie  dessen  Lehre,  die  ursprüng- 
hch  mit  der  neuplatonischen  übereinstimmte,  entstellt  hätten.  Schon  Plotin 
polemisirt  an  manchen  Stellen  seiner  Werke  gegen  die  Christen,  doch  ohne 
sie  zu  nennen.  Unverhüllt  und  direct  sind  die  Angriffe,  welche  Porphyr 
in  seinen  fünfzehn  Reden  gegen  die  Christen  und  Hierokles,  Statthalter  in 
Bithynien,  in  seinen  wahrheitliebenden  Reden  an  die  Christen  {loyoi,  (fda- 
Xrj^etg  nqoq  ;fßfO'r*ai/oi;g)  machten. 

Zur  xVbwehr  solcher  Angriffe,  die  eine  weit  verbreitete  Sinnesart  be- 
kundeten und,  wie  wir  gesehen,  mit  Verfolgungen  zusannnenhingen,  erschienen 
seit  dem  Anfange  des  zweiten  Jahrimnderts  bis  zum  Ende  der  Periode  eine  Reihe 
von  Schriften,  Äpologieen  genannt,  zwar  von  verschiedenem  Werthe,  manche 
Blossen  gebend,  manche  schwache  Argumente  vorbringend,  doch  im  Ganzen 
genommen  das  Richtige  treffend,  die  Augriffe  meistens  kräftig  abweisend, 
daher  wohl  geeignet,  auf  die  Empfänglichen  einen  günstigen  Eindruck  zu 
machen. 

Leider  sind  einige  von  diesen  Äpologieen  verloren  gegangen,  diejenigen, 
welche  die  christlichen  Philosophen  Aristides  und  Quadratus  dem  Kaiser 
Hadrian  während  seines  Aufenthaltes  in  Athen  darreichten  2j,  eben  so  die  au 
Marc-Aurel  gerichteten  Äpologieen  des  Melito,  Bischofs  von  Sardes,  und  des 
Claudius  Apollinaris,  Bischofs  von  Hierapohs3),  des  Miltiades,  der  noch  bis 
in  die  Zeiten  des  Connnodus  lebte  ^).     Indessen  sind  uns  doch  mehrere  und 


1)  S.  D.  Baur,  ApoUonius  v.  Tyana  u.  Christus  in  d.  Tübinger  Zeitschrift  1832,  auch 
besonders  erschienen.    Riekher  in  d.  Studien  der  Würtemberg.  Geistlichkeit  1847. 

2)  im  Jahr  126.     Euseb.  4,  3.    Hieron.  de  viris  illustribus  c.  19.  20. 

3)  Euseb.  4,  26.    Hieron.  1.  c.  24.  26. 

4)  Euscb.    5,   17.     Hieron.  1.  c.  39.  —    Bei  Euseb.    sind    einige  Fragmente    dieser 
Äpologieen  aufbewahrt. 


70  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

zum  Theil  sehr  bedeutende  Apologieen  erhalten  worden,  von  Justin  dem 
Märtyrer  zwei,  die  eine  grössere  dem  Antoniuus  Pius  gewidmet  138  oder 
139,  (S.  Semisch,  Justin  der  Märtyrer  1,  64  ff.)  die  kleinere  dem  Marc- Aurel  und 
Lucius  Verus  161 — 166)  ^).  Alle  anderen  Schiiften,  die  demselben  Verfasser  zu- 
geschrieben werden,  mit  alleiniger  Ausnahme  des  Dialogs  mit  dem  Judea 
Tryphou,  sind  als  unächt  abzuweisen.  Justin's  Schüler,  Tatian  aus  Syrien,  schrieb 
vor  seinem  Uebertritte  zu  den  Gnostikern  in  heftig  polemischem  Tone  seine  Rede 
an  die  Griechen  ßoyog  ngog  '"ElXrjyag)  169 — 170.  Athenagoras,  von  dessen 
Leben  man  nichts  weiss,  schrieb  zwischen  165 — 177  seine  Schutzschrift  für  di(} 
Christen  {nqeGßeia  neqi  xQ^^^^^^^^^)^  ^'^it  milder  gehalten  als  die  Schrift 
Tatians.  Zwischen  170  und  180  schrieb  The ophilus,  Bischof  von  Antiochieii 
seine  an  einen  weiter  nicht  bekannten,  dem  Verfasser  befreundeten  Heiden. 
Namens  Antolykos,  gerichtete  Apologie  in  drei  Büchern.  Eine  sehr  schöne 
erhebende  Schutzschrift  für  das  Christeutluim  ist  der  wahrscheinlich  der  zwei- 
ten Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  angehörende  Brief  au  Diognet,  dessen 
Verfasser  unbekannt  ist;  die  Schrift  wurde  lange  Zeit  hindurch  als  Werk  des 
Justin  angesehen ,  von  dem  sie  unmöglich  herrühren  l^ann  ^) ,  so  verschieden 
ist  sie  von  Justin's  Schriften  in  Hinsicht  der  Diction  sowohl  als  der  Ge- 
danken ^).  Des  Hermias  Durchhechelung  der  auswärtigen  Philosophen 
(diacvQfiog  tcdp  f?w  (fiXoGO(fMv),  worin  der  Verfasser  mannichfaltige  Kennt- 
nisse der  alten  Philosophie,  aber  nur  ihrer  Schattenseiten  und  Blossen  zeigt, 
fällt  wohl  jedenfalls  noch  in  diese  Periode.  Des  Origenes  Schrift  gegen 
Celsus,  an  seinen  Freund  Ambrosius  gerichtet,  ist  die  bedeutendste  Apologie 
dieser  Zeit,  welcher  auch  aus  der  spätem  Zeit  nur  noch  Augustins  Schrift  de 
clvitate  Dei  an  die  Seite  gesetzt  werden  kann;  sie  ist  gegen  die  Mitte  des 
dritten  Jahrhunderts  abgefasst.  Noch  bemerken  wir,  dass  die  christhchen  Wider- 
legiuigsschriften  der  polemischen  Schriften  der  Neuplatoniker  sammt  diesen 
untergegangen  sind;  es  sind  die  Schriften  des  Methodius,  Bischofs  von 
Tyrus,  des  Eusebius  von  Caesarea,  des  Apollinaris,  Bischofs  von 
Laodicea. 

Auch  die  lateinische  Kirche  brachte  apologetische  Schriften  hervor, 
wenn  auch  keineswegs  in  solcher  Zahl  wie  die  griechische,  so  doch  zum  Theil 
bedeutende.  Wahrscheinhcli  in  das  Zeitalter  der  Antonine  fällt  die  Schrift 
des  Minucius  Felix  4),  eines  Sachwalters  in  Born,  des  ersten,  der  die 
Sache  des  Christenthums   in   römischer  Sprache  führte.      So  steht  er  an  der 


1)  Nach  Volkmar:  die  Zeit  Justins  des  Märtyrers  kritisch  untersucht.  Theol.  Jahrbb. 
1855  würden  beide  in  d.  Jahr  150  fallen. 

2)  c.  11  u.  12  sind  später  von  einem  anderen  Verfasser  angehängt  worden. 

3)  von  Semisch  gegen  Otto  nachgewiesen.  —  S.  d.  Art.  Justin  in  d.  Kealencyklopädie ; 
die  Hypothese  Overbeck's,  der  die  Schrift  250  oder  310  verfasst  sein  lässt,  ist  v.  Keim  u. 
Hilgenfeld  widerlegt  worden. 

4)  Neu  herausgegeben  von  Halm  1867,  im  2.  Bande  des  corpus  scriptorum  eccles. 
latinorum ,  welches  im  Auftrage  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  erscheint. 
S.  Behr,  der  Octavius  des  Minucius  Felix  in  seinem  Verhältniss  zu  Cicero's  lib.  de 
natura  deorum.  Ebert,  Untersuchungen  über  TertuUian's  Verhältniss  zu  Minucius  Felix 
in  den  Abhandlungen  der  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften.  Leipzig  1868.  S. 
auch  das  Programm  des  Gymnasiums  in  Erlangen  von  Prof.  Dombart.  1875. 


Polemik  der  Heiden  und  Apologetik  gegen  die  Heiden.  71 

Spitze  der  lateinischen  Kirchenlehrer.  Odavius  ist  der  Titel  der  Schrift,  — 
es  ist  ein  Gespräch  über  Heidenthum  und  Christenthum  zwischen  dem  Hei- 
den Cäcihus  und  dem  Christen  Octavius,  unter  dem  Vorsitze  des  Minucius  Fe- 
lix in  Ostia  während  der  Weinleseferien  gehalten,  —  Erzeugniss  eines  wissen- 
schafthch  gebildeten,  geistreichen  Mannes,  der  eine  vortretfliche  Zusammen- 
stellung alles  dessen,  was  die  Heiden  am  Christenthum  auszusetzen  hatten 
und  treffende  Erwiderungen  darauf  gibt.  TertuUian  ergriff"  auch  gegen  die 
Heiden  das  Wort  in  eigenen  Schriften,  worin  er  die  Schrift  des  Minucius 
Fehx  benützte,  vor  allem  in  seinem  mit  schwungvoller  Beredtsamkeit  ge- 
schriebenen Apologeticum  sc,  scriptum^  an  die  Antistites  romajii  impen'i 
gerichtet  197.  198.  Daran  schhesst  sich  die  sehr  ähnhche  Schrift  ad  natio- 
nes,  eben  so  de  testimonio  animae,  Entwicklung  eines  im  Apologet,  c.  17  aus- 
gesprochenen Gedankens,  dass  das  Christenthum  in  der  menschüchen  Natur 
Anknüpfungspunkte  finde.  In  den  Kreis  der  apologetischen  Schriften  gehören 
auch  Cyprians  Schrift  adversus  Demetrianum  und  de  idolorum  vanitate. 
Arnobius,  von  Sicca  in  Africa  proconsularis  gebürtig,  Lehrer  der  Beredt- 
samkeit, im  Heidenthum  geboren  und  erzogen,  hatte  schon  einiges  gegen 
die  Christen  geschrieben,  als  er,  durch  ein  Traumgesicht  erschreckt,  den 
christUchen  Glauben  annahm.  Der  Bischof  von  Sicca,  gegen  den  Neophyteu 
misstrauisch  wegen  dessen  bisheriger  Richtung,  verweigerte  ihm  die  Auf- 
nahme in  die  Kirche ,  bis  er  zu  seiner  Rechtfertigung  eine  Apologie  geschrie- 
ben hätte.  So  entstanden ,  nach  Hieronymus  ^)  disputationum  adversus  gen- 
tes  librl  VIL,  etwa  303  —  305,  während  der  diocletianischen  Verfolgung. 
Allerdings  gibt  Arnobius  zunächst  einen  anderen  Grund  der  Abfassung  seiner 
Schrift  an,  gleich  zu  Anfang,  nämhch  die  Widerlegung  der  Anklagen  der 
Heiden,  dass  das  Christenthum  alle  Uebel,  worunter  der  Staat  und  die  Völker 
des  römischen  Reiches  htteu,  verschuldet  habe.  Doch  der  eine  Zweck  schliesst 
den  anderen  nicht  aus.  Die  Schrift  trägt  deutliche  Spuren  der  Unreife  in 
Erkenntuiss  des  Christenthums,  z.  B.  wenn  Arnobius  lehrt,  dass  gewisse  Thiere 
und  die  Seelen  der  Menschen  vom  Demiurgos  geschaffen  worden,  dass  die 
Seelen  der  Gottlosen  vernichtet  werden,  wenn  die  evangehsche  Geschichte 
durch  Zusätze  erweitert  wird.  Die  Stärke  des  Ai'nobius  zeigt  sich  in  der 
kräftigen  Widerlegung  jener  Anklage,  in  der  Darstellung  der  Nichtigkeit  des 
Heidenthums,  so  wie  denn  auch  der  alte  und  immer  wieder  erneute  Versuch, 
dasselbe  durch  allegorische  Deutung  der  Mythen  zu  rechtfertigen,  in  seiner 
Blosse  aufgedeckt  wird.  Schüler  des  ^Vraobius,  obschon  er  ihn  nie  nament- 
lich anführt,  wird  von  Hieronymus  1.  c.  80  Lactantius  Firmianus  genannt. 
Geboren  zu  Finnium  im  picentinischen  Gebiete,  im  Heidenthum  aufgewach- 
sen, durch  Diocletian,  auf  Anlass  seines  Symposion,  als  Lehrer  der  latei- 
nischen Beredtsamkeit  nach  Nikomedien,  der  neuen  kaiserlichen  Residenz 
berufen,  fand  er  sich  olme  Schüler,  weil  die  Stadt  griechisch  war,  daher  er 
anfing  zu  Schriftstellern.  Um  diese  Zeit  wurde  er  Christ,  lebte  später  in 
Gallien  als  Lehrer  des  Crispus,  des  Sohnes  Constantins  des  Grossen.  Die 
Hauptschrift  des  Lactantius,  divinarum  institutionum  libri  VH.  ist  noch 
während  der  diocletianischen  Verfolgung  geschrieben,  auf  welche  einige  Stel- 


1)  De  viria  illustribua  c.  79  und  im  Clironicon. 


72  tlrste  Periode  des  alten  Katholicismuö. 

len  deutlich  anspielen.  Der  Zweck  ist  die  Vertheidigung  der  christlichen 
Religion  und  Widerlegung  des  Heidenthums,  in  der  Weise,  dass  die  Schriften 
des  Minucius  Fehx,  Tertulhans  und  Cyprians,  als  welche  zunächst  für  Gläu- 
bige geschrieben  und  nicht  geeignet  seien,  Ungläubige  zu  belehren,  ergänzt 
werden  sollen.  Lactantius  ist  wie  andere  Apologeten  weit  stärker  in  der 
Polemik  gegen  das  Heidenthum,  denn  als  Apologet  der  christlichen  Lehre, 
deren  Darstellung  bei  ihm  an  grosser  Unklarheit  leidet,  während  die  Polennk 
gegen  die  Heiden  von  reicher  Kenntniss  der  heidnischen  Rehgion  zeugt  und 
zugleich,  ungeachtet  einer  gewissen  Schärfe,  wie  sie  der  Gegenstand  mit  sich 
brachte,  durchaus  würdig  gehalten  ist.  Lactantius  glänzt  durch  eine  ver- 
hältnissmässig  reine  Diction,  daher  mit  dem  Beinamen:  ^,der  christhche  Ci- 
cero" geschmückt.  Die  Schrift  de  mortibus  persecutorum ,  worin  am  Bei- 
spiele mehrerer  römischer  Kaiser  gezeigt  wird,  welches  tragische  Loos  die 
Verfolger  der  Kirche  genommen,  ist  wahrscheinlich  von  Lactantius,  dieselbe 
Schrift,  welche  Hieronymus  1.  c.  c.  80  unter  dem  Titel  de  persecutione 
anführt  ^). 

§.  2.    Uebersicht  des  Inhaltes  der  Apologieen. 

Einiges  davon  ist  bereits  zur  Sprache  gekommen.  Anderes  wird  in  der 
Geschichte  der  Lehre  behandelt  werden.  Die  Apologeten  verfuhren,  wie 
bevorwortet,  zunächst  defensiv.  Es  war  vor  allem  nöthig,  die  mannigfaltigen 
Einwürfe  der  Heiden  gegen  das  Christenthum  abzuweisen  oder  zu  widerlegen. 
Die  aus  der  bisherigen  Darstellung  bekannten  gräuhchen  Verläumdungeu 
der  Christen,  wobei  der  ganzen  Christenheit  schuld  gegeben  wurde,  und 
zwar  in  höchst  übertriebener  Weise,  was  die  Schuld  Einzelner  war  oder  was 
Einzelnen  durch  die  Folter  ausgepresst  worden,  diese  Verläumdungeu  hörten 
mit  dem  dritten  Jahrhundert  auf.  Tertullian  ist  der  letzte  Schriftsteller,  der 
davon  spricht.  Es  war  von  vornherein  zu  erwarten,  dass  die  Heiden  dem 
Christenthum  seine  Neuheit  vorwerfen  würden,  wogegen  Justin  Apol.  1, 
c.  2  bemerkt,  dass  die  wahrhaft  Frommen  und  Philosophen  nur  das  Wahre 
ehren  und  heben  und  den  Meinungen  der  Vorfahren  nicht  folgen,  wenn  sie 
verwerflich  seien.  Auf  der  anderen  Seite  lassen  die  Apologeten  den  Vorwurf 
der  Neuheit  nicht  gelten  und  fassen  das  Christenthum  auf  als  die  volle  Oti'en- 
barung  und  Zusammenfassung  der  von  Anfang  der  Welt  dunkel  und  spora- 
disch erkannten  Wahrheiten;  daher  lehrten  sie,  dass  die  christhclie  Religion 
ihrer  Substanz  nach  älter  sei  als  alle  heidnischen  Religionen,  dass  Plato  aus 
Moses  geschöpft  habe. 

Ein  Vorwurf  anderer  Art  als  der  der  Neuheit  war  der,  dass  das  Wahre 
am  Christenthum,  namenthch  die  ethischen  Vorschriften  nicht  neu  seien,  son- 
dern sich  schon  bei  den  griechischen  Philosophen  landen,  und  die  Christen 
hätten  das  alles  durch  Aberglauben  und  Irrthümer  verunstaltet;  ferner  sagten 
die  Heiden:  eure  Lehre  stammt  von  den  Barbaren  ab,  eure  heiligen  Schrif- 
ten sind  in  einer  ungebildeten  Sprache  geschrieben.     Man  tadelte  am  Chri- 


1)  Die  letzte  ältere  Ausgabe  der  Apologeten  des    2.  Jahrhunderts  ist  die  von  Pru- 
dentius  Maranus.    Paris  1742;  die  neueste  ist  von  Otto  in  neun  Bänden. 


I^olemik  der  Heiden  und  Apologetik  gegen  die  Heiden.  73 

stentliiim ,  dass  es  blinden  Glauben  verlange,  die  Philosophie  verwerfe  und 
nur  bei  den  unteren  Volksklassen  Anhänger  suche  und  finde.  Aecht  antiker 
Art  ist  der  Vorwurf,  den  Celsus  gegen  das  Christenthum  erhob,  dass  es 
Anspruch  darauf  mache,  Universalrehgion  zu  werden.  Damit  verband  er  in 
seinem  Sinne  treö'end  den  anderen  Vorwurf,  hergenommen  von  der  Mannig- 
faltigkeit der  Sekten  unter  den  Christen,  wobei  er  einige  anführt,  die  wir 
nur  aus  seinem  Buche  kennen  lernen;  jeder  will,  bemerkt  er  höhnisch,  eine 
eigene  Sekte  stiften;  die  Christen  stimmen  nur  etwa  noch  im  Namen  überein, 
wogegen  Origenes  mit  Recht  bemerkt,  dass  in  allen  wichtigen  Dingen  sich 
abw  eichende  Meinungen  bilden  und  dass  der  Forschungsgeist  dadurch  gefördert 
werde,  —  wie  denn  auch  die  Entgegnungen  auf  die  anderen  der  genannten 
Einwürfe  meistens  treffend  zu  nennen  sind.  —  Von  den  dogmatischen  Leh- 
ren des  Christenthums  griffen  die  Heiden  vorzüglich  1)  die  von  einer  spe- 
ciellen  Vorsehung  an ,  worin  sie  nichts  als  Selbstüberhebung  sahen ;  2)  Alles, 
was  von  Christo  gelehrt  wurde,  von  seiner  Gottheit,  von  dor  Menschwerdung 
des  Wortes,  von  der  Wirkung  seines  Todes,  welches  hinlänglich  Anlass  zu 
weitschichtigen  und  tief  gehenden  Erörterungen  gab;  3)  die  Lehre  von  der 
Auferstehung  des  Fleisches,  welche  allerdings  bereits  sinnUch  ausgemalt 
wurde  und  insofern  den  heidnischen  Angriffen  eine  Handhabe  darbot  ij. 

Aus  der  Defensive  gingen  die  Apologeten,  durch  die  Natur  der  Sache 
getrieben ,  in  die  Offensive  über.  Der  Vertheidigung  des  Christenthums 
ging  zur  Seite  eine  Polemik  gegen  das  Heidenthum,  welche  schonungs- 
los dessen  Irrthümer  und  Greuel  aufdeckte;  dabei  aber  suchten  die  philo- 
sophisch Gebildeten  unter  den  Apologeten  Anknüpfungspunkte  an  das  Chri- 
stenthum im  Heidenthum  und  besonders  in  der  hellenischen  Philosophie.  — 
Sie  wiesen  die  Ungereimtheit  der  heidnischen  Götterlehre  nach;  ein  grosser 
Theil  der  als  Götter  verehrten  Wesen  seien  Menschen  gewesen.  Ein  beson- 
derer Gegenstand  des  Spottes  war  der  von  Hadrian  unter  die  Götter  ver- 
setzte Antinous.  Dass  Arnobius  die  Unhaltbarkeit  der  allegorischen  Erklärung 
der  Göttermythen  nachgewiesen,  ist  bereits  angeführt  worden;  wie  zu  erwar- 
ten, war  die  Unsitthchkeit  der  heidnischen  Götter  eine  reiche  Quelle  von 
polemischen  Ausfällen.  Das  ganze  Heidenthum  galt  den  Christen  als  Werk 
der  Dämonen.  Auch  der  heidnische  Cultus  war  Gegenstand  des  Angriffes; 
die  Apologeten  bewiesen,  wie  thöricht  der  Wahn  sei,  durch  sinnliche  Opfer 
die  Gunst  der  Gottheit  zu  gewinnen,  oder  ihren  Zorn  zu  stillen. 

In  Verbindung  mit  dieser  Polemik  verkündigen  die  Apologeten  mit  Zu- 
versicht den  bevorstehenden  Untergang  des  Heidenthums  und  den  Sieg  des 
Christenthums,  wobei  Tertullian  den  römischen  Machthabern  den  Satz  ent- 
gegenstellt: je  mehr  wir  von  euch  weggemäht  werden,  desto  grösser  wird 
unsere  Zahl:  seinen  est  sanguis  christianorum.  In  dieser  Beziehung  ver- 
schmähten es  die  Apologeten  (z.  B.  Justin)  nicht,   auf  die  sogenannten  sibil- 

1)  Die  Heiden  in  ihrer  blinden  Wuth  suchten  auch  praktisch  die  Lehre  von  der 
Auferstehung  zu  widerlegen ,  indem  sie  nicht  gestatteten ,  dass  die  Christen  die  Leichname 
der  Ihrigen  begruben,  sondern  sie  verbrannten  und  die  Asche  in  den  Fluss  warfen.  So 
in  Lyon,  wobei  die  Heiden  höhnisch  bemerkten:  „nun  wollen  wir  sehen,  ob  'sie  aufer- 
stehen werden  und  ob  ihr  Gott  ihnen  helfen  und  sie  aus  unseren  Händen  erretten  kann. 
Euseb.  5,  1. 


74  Erste  I*eriode  des  alten  Katholicismus. 

liiiisclien  Orakel  sich  zu  berufen  und  uuterliessen  es  auch  danu  nicht,  als  die 
Heiden  nicht  mit  Unrecht  jene  Schiiften  theils  für  verfälscht,  theils  für 
von  Christen  erdichtet  erklärten  i).  So  wurde  in  mehr  als  einer  Beziehung 
der  guten  Sache  des  Christenthums  durch  menschliche  Beschränktheit  Scha- 
den bereitet,  damit  offenbar  würde,  dass  nicht  menschhclie  Kunst  dieser  Sache 
den  Sieg  bereite. 

Ein  besonderer  Punkt  verdient  hier  noch  Erwähnung,  um  so  mehr,  da 
er  gewöhnhch  nicht  gehörig  beachtet  wird. 

Indem  Tertullian  nebst  anderen  Apologeten  sich  beklagt,  dass  man 
gegen  die  Christen  alle  Gesetze  der  Billigkeit  und  Gerechtigkeit  übertritt, 
indem  er  erklärt,  dass  es  unrecht  sei,  die  Christen  blos  desshalb  zu  verfol- 
gen, weil  sie  Christen  sind,  wie  man  denn  oft  sagen  höre:  ;,der  und  der  ist 
ein  rechtschaffener  Mann ,  nur  schade ,  dass  er  ein  Christ  ist" ,  kommt  er 
darauf  zu  sprechen,  dass  im  römischen  Reiche  alle  möghchen  Culte  gestattet, 
alle  möglichen  Götter  verehrt,  nur  den  Christen  liierin  keine  Freiheit  ge- 
stattet sei.  Bei  diesem  Anlasse  spricht  er  das  grosse  Princip  der  Beligions- 
freiheit  aus,  nicht  blos  der  Toleranz,  und  begründet  es  kurz  in  schlagen- 
der Weise:  „sehet  zu^,  spricht  er  zu  den  nimischen  Machthabern,  ^,dass  ihr 
nicht  die  Irreligiosität  befördert,  indem  ihr  die  Freiheit  der  Religion  aulliebt 
und  die  freie  Wahl  der  Gottheit  (die  einer  verehren  will)  verbietet,  so  dass 
mir  nicht  erlaubt  ist,  den  zu  verehren,  den  ich  will  verehren,  sondern  ge- 
zwungen werde,  den  zu  verehren,  den  ich  nicht  will.  Und  doch  wird  Nie- 
mand sich  von  einem  verehren  lassen,  der  ihn  nicht  verehren  will.  —  Jede 
Provinz,  jede  Stadt  verehrt  ihren  eigenen  Gott.  Wir  allein  dürfen  keine 
eigene  Religion  haben.  Man  darf  bei  euch  Alles  verehren,  nur  den  wahren 
Gott  nicht^  ^).  Derselbe  Tertullian  lehrt  anderswo:  es  sei  gottlos  und 
schniachvoll ,  die  Verehrung  der  Gottheit  nach  der  Willkür  menschlicher 
Meinung  zu  bestimmen,  so  dass  kein  Gott  sein  darf,  als  welchem  der  Senat 
erlaubt  hat  es  zu  sein  3).  Auch  Lactantius  spricht  sehr  schön  darüber,  dass 
die  Religion  durch  Zwangsmassregeln  nicht  gefördert  wird.  ^,Willst  du  die 
Religion  durch  Blut  und  Folter  vertheidigen ,  so  wird  sie  selbst  nicht  mehr 
vertheidigt,  sondern  vielmehr  befleckt  und  verletzt.  Nichts  ist  so  sehr  Sache 
des  freien  Willens  wie  die  Religion.  Wenn  das  Gemüth  des  Opfernden  da- 
von abgewendet  ist,  so  ist  sie  schon  hinweggeschafft  und  zu  Nichte  ge- 
worden^' ^). 

Es  gehört  diess  zur  hervorstechenden  Eigenthümhchkeit  der  lateinischen 
Apologetik.  Bei  den  griechischen  Apologeten  ist  der  Erweis  der  Wahrheit 
der  christhchen  Lehre  der  durchschlagende  Gedanke,  bei  den  lateinischen 
Apologeten,  lauter  Männern  von  juridischer  und  politischer  Bildung,  das  ge- 
kränkte Recht  des  Individuums  und  der  Gemeinschaft  als  moralische  Person 


1)  Lactantius  4,  15,    non    esse    illa    carmina    SibylHna  sed  a  nostris  ficta  et  com- 
posita. 

2>  Apolog.  c.  24. 

31  Ad  nationes  1,  10,  ut  deus  non  sit,  nisi  cui  esse  permiserit  senatua. 

4)  Divin.  instit.  5,  13. 


Die  Häresieen.  75 

betrachtet,  womit  aber  nicht  gesagt  sein  soll,  dass  die  latehiischeii  Apolo- 
geten sich  auf  den  Erweis  der  Wahrheit  der  christlichen  Lehre  gar  nicht 
eiuliessen. 


Dritter  Absclinitt '), 


Die  häretischen  Angriffe  auf  das  Christenthum  und  die  Gegen- 
austalten  der  sich  bildenden  katholischen  Kirche. 

Bis  jetzt  haben  wir  den  Kampf  der  Kirche  mit  den  äusseren  Feinden 
in  seinen  verschiedenen  Formen  und  Phasen  betrachtet.  Nun  gehen  wir  über 
zur  Darstellung  des  nicht  minder  gefährlichen  Kampfes,  den  die  Kirche  mit 
mannigfaltigen  inneren  Feinden  zu  bestehen  hatte,  —  gleich  einem  Kriegs- 
heere, das  Angesichts  des  Feindes,  ja  von  demselben  aufs  heftigste  ange- 
griffen, durch  innere  Paiteiungen  mit  innerer  Auflösung  und  daher  mit  gänz- 
licher Niederlage  bedroht  wird.  Diese  Parteiungen  waren  um  so  bedenk- 
licher, da  der  kirchliche  Lehrbegrift"  noch  so  wenig  lixiit  war. 

Erste  Abtheilung. 

Die  Häresieen. 

Es  ist  noch  nicht  an  der  Zeit,  den  Begriff  der  Häresie  selbst  festzu- 
stellen; diess  kann  nur  geschehen  in  Verbindung  mit  der  Bestimmung  des 
entgegengesetzten  Begriffes  der  Katholicität.  Wir  richten  unsere  Aufmerk- 
samkeit vorerst  auf  das  iSachliche.  Diejenigen,  die  innerhalb  des  christlichen 
Bekenntnisses  und  der  Kirche  verbleibend  das  Evangehum  verunstalteten, 
verfolgten  eine  zwiefache  Bichtung.  Die  einen  verschmolzen  das  Christen- 
thum mit  dem  Judenthum,  das  ist  die  judenchristliche  Häresie.  Die  an- 
deren, folgend  dem  in  jeuer  Zeit  stark  hervortretenden  Zuge  nach  ßeligious- 
mengerei,  verschmolzen  das  Christenthum  mit  griechischer  und  morgenlän- 
discher Beligionsphilosophie ,  wodurch  das  Christenthum  von  seinem  Zusam- 
menhange mit  der  Religion  des  alten  Testamentes  losgerissen  und  wesentlich 


1)  Ueber  diesen  und  den  vierten  Abschnitt,  der  die  Geschichte  der  katholischen 
Theologie  umfasst,  verweisen  wir  auf  M uns  eher  undfcoelln,  Lehrbuch  der  christlichen 
Dogmengeschichte.  1832—38.  —  Hagen  bach,  Lehrbuch  der  Dogmen geschichte  5.  Auti. 
1867.  —  B  aur,  Lehrb.  der  Dogmengeschichte  1858  —  uod  die  nach  seinem  Tode  erschienenen 
Vorlesungen  über  Dogmengeschichte.  Desselben  Werke  über  die  Geschichte  der  Lehre  von 
der  Dreieinigkeit  und  Menschwerdung  Jesu,  von  der  Versöhnung.  —  D  or  n  e r,  Entwicklungs- 
geschichte der  Lehre  von  der  Person  Christi.  2.  Aull.  1851.  —  Nitzsch,  Grundriss  der 
christlichen  Dogmengesch.  1870.  —  Thomasius,  die  christliche  Dograengesch.  1.  Bd., 
die  Dogmengesch.  der  alten  Kirche.  1874.  —  S.  ausserdem  Neander's  und  Gieseler's 
Dogmengesch.,  nach  ihrem  Tode  herausgegeben.  Diese  literarischen  Angaben  kommen 
schon  in  Betracht  bei  dem  vorhergehenden  zweiten  Abschnitte.  S.  auch  ühlhorn,  die 
Homilieen  und  Kecognitionen  des  Clemens  Kom. 


76  Erste  I*eriode  des  alten  !&atholicismu8. 

verändert  wurde.  Das  ist  die  heidenchristliche  Häresie.  Das  sind  also  die 
beiden  Hauptformen  der  Häresie,  deren  Anfänge  in  das  apostolische  Zeit- 
alter hinaufreichen.  Es  muss  aber  sogleich  bemerkt  werden,  dass  die  juden- 
christliche Häresie  im  Verlaufe  der  Zeit  heidnische  Elemente  aufnahm  und 
dadurch,  was  einen  Theil  ihrer  Anhänger  betrifft,  ihren  Charakter  we- 
sentlich veränderte.  Die  heidenchristliche  Häresie  hatte  jüdischchristlichti 
Vorläufer,  d.  h.  die  Gnosis  entstand,  wie  wir  I)ereits  gesehen,  auf  dem 
Gebiete  des  Judenchristenthums  und  machte  von  da  den  Uel)ergaug  auf  das 
Gebiet  des  Heidenchristenthums ,  auf  welchem  Gebiete  sie  ihre  grösste  Ent- 
faltung erreichte. 


Erstes  Capitel.    Die  Ebioniten 

sind  die  letzten  Ausläufer  einer  im  apostolischen  Zeitalter  innerlich  und 
meistens  auch  äusserUch  überwundenen  Richtung.  Der  Name  Ebioniten,  von 
"JVDS,  (arm)  abgeleitet,  bezeichnete,  sowie  der  Name  Nazaräer,  ur- 
sprünglich alle  Christen,  theils  weil  sie  wirklich  zu  der  armen  Classe  der 
Gesellschaft  gehörten,  was  besonders  von  der  Gemeinde  in  Jerusalem  galt, 
und  theils  weil  das  Armsein  im  Christenthum  eine  tiefere  Bedeutung  hatte. 
Daher  noch  ün  zweiten  Jahrhundert  auch  die  Heidenchristen  ^die  Armen ^ 
gescholten  wurden  i).  Weiterhin  wurde  nach  Origenes  (c.  Celsum  2,  1)  der 
Name  speziell  auf  alle  Judenchristen  angewendet.  Unter  diesen  bildeten  sich 
verschiedene  Parteien  und  eine  von  diesen,  die  am  meisten  an  das  Juden- 
thuni  sich  haltende,  die  extreme  Partei  erhielt  den  Namen,  der  ursprünglich 
Gesammtname  aller  Judenchristen  war.  So  ist  der  Name  theils  älter,  theils 
jünger  als  die  Partei.  Die  Ableitung  von  einem  Sektenstifter  Ebion  bei  Ter- 
tullian  2)  ist  v()lUg  zu  verwerfen.  Eine  sorgföltige  Abwägung  der  Berichte 
über  sie  gibt  folgende  Resultate.  Die  Gemeinde  in  Jerusalem  hatte  zwei 
Bestandtheile.  Die  einen,  im  Gegensatz  gegen  den  Apostelgesch.  15  und 
Gal.  2  gestifteten  Compromiss  hielten  das  Gesetz  auch  füi  die  Heiden  für 
verbindlich,  die  anderen  hielten  an  jenem  (Kompromisse  fest  und  wollten  den 
gläubigen  Heiden  das  Joch  des  jüdischen  Cärimonialgesetzes  nicht  auferlegen. 
Die  Gründung  von  Aelia  Capitolina  auf  der  Stelle  des  alten  Jenisalem  im  J. 
135,  nach  Unterdrückung  des  Aufstandes  von  Bar-cochba  durch  Hadriau, 
gab  das  Zeichen  zur  definitiven  Spaltung  zwischen  den  beiden  bisher  in  der- 
selben Gemeinde  vorhandenen  Richtungen.  Diese  Gemeinde,  die  bereits  vor 
der  Zerstörung  von  Jerusalem  im  J.  70  ihren  Sitz  in  Pella,  einer  der  zehn  Städte 
im  ostjordanischen  Palästina  *feenommen  3),  hätte  gerne  den  heiligen  Boden 
Jerusalems  wieder  betreten.  Allein  Hadrian,  um  dem  Empörungsgeiste  der 
Juden  keine  Nahrung  zu  geben,  hatte  allen  verboten,  sich  in  Aelia  Capitolina 
niederzulassen.      So   mussten   also   die   Judenchristen  sich   vom  mosaischen 


1)  Minucius  FeHx  c.  36:  quod  plerique  pauperes  dicimur,  non  est  infamia  nostra 
sed  gloria. 

2)  De  praescriptione  haereticorum  c.  33. 
,   3)  Euseb.  3,  5. 


Die  Ebioniten.  •  77 

Cärimonialgesetz  völlig  lossagen,  wenn  sie  sich  in  Aelia  Capitolina  ansiedeln 
wollten.  Dazu  eutschloss  sich  damals  ein  Theil  derselben,  die  theils  durcli 
die  Zerstörung  von  Jerusalem,  theils  durch  eigene  Erfahrung  des  Christen- 
timms zu  der  Einsicht  gekommen ,  dass  das  mosaische  Gesetz  in  Christo  sehie 
Erfüllung,  sein  Ende  und  Ziel  gefunden  habe.  Sie  siedelten  sich  in  Jeru- 
salem an,  vennischten  sich  mit  den  Heidenchristen  und  bildeten  eine  Ge- 
meinde, worin  die  Emancipation  vom  Mosaismus  durchgeführt  war. 

Die  übrigen  Judenchristen,  die  für  .sich  dem  mosaischen  Gesetz  treu 
blieben,  spalteten  sich  nun  in  zwei  Parteien;  die  Anfänge  dieser  Spaltung 
reichen  in  die  ersten  Jahre  des  zweiten  Jahrhunderts ;  aber  im  J.  135  kam  sie 
zum  Ausbruch.  Ein  Theil  bheb  auf  dem  alten,  milderen  Standpunkte  und 
wollte  das  Gesetz  den  Heidenchristen  nicht  auferlegen  ^).  Das  sind  die 
jedoch  erst  später  so  genannten  Nazaräer,  der  erste  Name  der  Christen  in 
Jerusalem  ^).  Im  4.  Jahrhundert  waren  sie  noch  im  ostjordanischen  Palästina 
zu  finden;  sie  galten  bei  den  Heidenchristen  nicht  für  häretisch,  um  so  we- 
niger, da  sie  keine  Aenderung  im  christlichen  Bekenntniss  vornahmen,  und 
da  die  meisten  Apostel  anfangs  denselben  Standpunkt  inne  geliabt  hatten. 
Man  sah  sie  an  als  etwas  beschränkte  Leute,  die  sich  in  die  Entwicklung 
und  den  Fortschritt  der  Zeit  nicht  finden  konnten.  Die  anderen  dagegen 
beharrten  auf  der  absoluten  Verbindlichkeit  des  mosaischen  Gesetzes  für  alle 
Gläubigen,  seien  es  Juden-  oder  Heidenchristen.  Sie  waren,  im  Gegensatz 
zu  den  stabilen  Nazaräern,  beweglicher,  durclüiefen  eine  Peihe  von  Bild- 
ungen und  Wandlungen,  nahmen  gnostische  Elemente  in  sich  auf,  wodurch  sie 
jedoch  über  ihren  anfänglichen  Standpunkt  hinausgingen.  Zunächst  versteiften 
sie  sich  hn  Judenthum,  gelangten  dahin,  den  Aimstel  Paulus  als  einen  Ab- 
trünnigen zu  verwerfen  und  die  Geburt  Jesu  aus  der  Jungfrau  zu  läugnen. 
In  dem  Evangelium,  dessen  sie  sich  bedienten,  das  sie  das  Evangelium  Mat- 
thäi  nannten,  von  dem  es  übrigens  mehrere  Pedactionen  gegel)en,  fehlte  die 
Geburtsgeschichte  des  Herrn;  es  fing  an  mit  der  Geschichte  de^s  Täufers  wie 
das  Evangehum  Marci  3). 

Indessen  nahmen  sie  doch  nach  und  nach  gnostische  Elemente  auf. 
Es  gab  gnostische  Ebioniten  in  den  Gegenden  des  todten  Meeres  schon  vor 
Abfluss  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts.  Es  sind  die  Elkesaiten, 
Elkessäer  oder  Sampsaer  *);  diesen  letzten  Namen,  griechisch  '^HXiaxoi 
übersetzt,  von  'ä'Ü'O  abzuleiten,  erhielten  sie,  weil  sie  gegen  die  Sonne 
gewendet  ihre  Gebete  verrichteten.  Der  Name  Elkesaiten  ist  nicht  vom 
Flecken  Elkesi  in  Galiläa,  noch  von  einem  angeblichen  Stifter  Elxai,  sondern 
vom  Hebräischen  ''DD^^n,  dvva^ig  x€xaXv^^€vf}  abzuleiten;  es  ist  der  heilige 
Geist,  die  övvaiiiq  aaaqxoq  in  den  clementinischen  Homiheen.     Es  ist  wahr- 


1)  Dialog,  mit  Tryphone  c.  47. 

2)  Apostelgesch.  24,  5. 

3)  Easeb.  3,  24.  Irenaeus  1,  26.  Epiphanius  haeresis  30.  c.  13,  35;  die  Evange- 
lien der  Hebräer,  der  Ebioniten,  der  Aegypter,  Petri  sind  eben  so  viele  häretisch  ver- 
fälschte Umarbeitungen  derselben  Urschrift,  des  Ev.  Matthäi. 

4)  Epiphanius  haeresis  19.  30.  53.  Hippolytus  fAfy;^o?  IX.  13.  Origenes  bei  Eu- 
seb.  6,  38. 


78  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

scheinlich  der  Titel  eines  Buches,  das  bei  diesen  Judenchristen  als  Haupt- 
autorität galt.  Wahrscheinlich  haben  wir  es  hier  nicht  mit  einer  abgeschlos- 
senen Sekte  zu  thun,  sondern  es  waren  die  nach  der  höhereu  Erkenntniss 
strebenden,  die  sich  um  jenes  Buch  sammelten.  Es  sollte,  nach  Origenes, 
vom  Himmel  gefallen,  nach  Hippolytus,  von  einem  Engel,  der  Sohn  Gottes 
war,  geoffenbart  sein.  Es  war  Gelieind)uch  und  der  Inhalt  desselben  wurde 
nur  gegen  einen  Eid,  w^odurch  man  Verschwiegenheit  gelobte,,  mitgetheih. 
Das  Judenthum  wird  darin  nicht  völlig  festgehalten,  namentlich  werden  di(3 
Opfer  verworfen,  wie  denn  auch  dhs  EvangeUum,  dessen  sich  die  Ebioniten 
bedienten,  dem  Herrn  die  Worte  in  den  Mund  legt:  ;,ich  bin  gekommen,  um 
die  Opfer  abzuschaffen,  und  wenn  ihr  nicht  aufhört  zu  opfeni,  wird  der  Zorn 
Gottes  über  euch  bleiben''  ^).  Vom  N.  T.  werden  in  jenem  Buche  die  paulini- 
schen  Briefe  beseitigt.  Christus  erscheint  darin  als  Engel  von  ungeheurer  Grösse, 
sechsuudneunzig  Meilen  hoch,  vierundzwanzig  Meilen  breit  (Hippolytus  9,  13). 
Andererseits  wird  eine  fortwährende  Incarnation  Christi  gelehrt.  l)ie  Taufe  wie- 
derholt sich  in  vielfachen  Waschungen,  welche  Sündenvergebung  bewirken;  da- 
neben besteht  die  Besclmeidung.  Das  Abendmahl  wird  mit  Brod  und  Salz  gehal- 
ten. Fleischgenuss  ist  verboten.  Der  p]ssenismus  einerseits  und  orientalisches 
Heidenthum  andererseits  haben  auf  die  Bildung  dieser  Partei  offenbar  Ein- 
fluss  gehabt.  Origenes  traf  234  in  Cäsarea  in  Palästina  mit  einem  ihrer 
Sendboten  zusammen.  Schon  früher  war  einer  derselben  in  Rom  gewesen, 
aus  Apamea  in  Syrien  gekommen,  fand  aber  in  Rom  keinen  Anklang. 

Diesem  Kreise  des  gnostischen  Judenthums  gehören  die  sogenannten 
Clementinen  (ra  xXrj^eptta,  xlrj^sPTiva)  an,  die  durch  den  Namen,  den  sie 
tragen,  die  grosse  Verehrung  bekunden,  welche  dem  Clemens  von  Rom  in  der 
Kirche  des  zweiten  Jahrhunderts  zuTheil  wurde.  Es  sind  drei  Schriften,  die 
Homilieen^),  die  Recognitionen,  die  Epitome,  die  einen  räthselhaften 
Kreis  unter  sich  verwandter  und  aus  Einer  Quelle  geflossener  Schriften 
bilden.  Die  Homilieen  sind  die  Hauptschrift :  Sie  enthalten  eine  weitläufige 
gnostisch -jüdische  Lehre,  eingekleidet  in  einen  historischen  Roman,  worin 
als  Hauptfiguren  Petrus  der  Fürsprecher  der  wahren  Gnosis,  Clemens,  der 
die  Wahrheit  suchende,  Simon  der  Magier,  der  aus  der  Apostelgeschichte 
bekannte  samaritanische  Goet,  der  Vertreter  der  falschen  Gnosis,  hervor- 
treten. Petrus  und  Clemens  unternehmen  verschiedene  Reisen.  Petrus 
disputirt  mit  Simon  und  überwindet  ihn,  er  untenichtet  Clemens.  Das  Ganze 
der  Lehre  läuft  daraus  hinaus,  dass,  nachdem  die  Uroff'enbarung  verdunkelt 
worden,  eine  fortgehende  Offenbarung  nöthig  geworden;  diese  ist  durch  den 
w^ahren  Propheten  vermittelt,  der  alles  weiss  und  den  heihgen  Geist  besitzt. 
Dieser  wahre  Prophet  ist  in  verschiedenen  Personen  erschienen,  unter  welchen 
drei  besonders  hervortreten,  Adam,  Moses,  Christus.  So  ist  denn  auch  die 
vom  wahren  Propheten  geoffenbarte  Religion  dieselbe.  Reiner  Mosaismus 
und  das  Evangelium  sind  identisch  s).  Das  Christenthum  ist  der  gereinigte 
Mosaismus,  seine  Hauptlehre  ist  die  von  Einem  Gotte,  die  oftmals  in  pan- 
theistischen  Formeln  ausgedrückt  wird.     Gott  hat  die  Welt  gebildet  in  Syzy- 

1)  Epiphanius  haeresis  30.  c.  16. 

2)  Ausgabe  von  Dressel  1863,  von  de  Lagarde  1865. 

3)  Homil.  8,  6.  fxias  yaQ  cT*'  a^ifoxegtüp  dtSacxaXtag  ovCijq. 


Die  Ebioniten.  79 

gien,  in  paarweise  ziisamniengehörigen  Gegeu^sätzeu,  Hiiiiinel  und  Erde,  Kain 
und  Abel,  Ismael-Isaak,  Esau- Jakob,  zuletzt  Antichrist  -  Christus.  Nach 
demselben  Gesetze  gehen  neben  dem  wahren  Propheten  auch  falsche  her, 
welche  die  Wahrheit  entstellen;  es  sind  die  vom  Weibe  geborenen,  wovon 
der  Herr  spricht  Matth.  11,  11.  Der  Mosaismus  ist  in  dem  nach  Mose  ab- 
gefassten  Pentateuch  nicht  rein  enthalten,  im  gegenwärtigen  Judenthum  in 
verderbter  Gestalt.  Zur  Bekämpfung  der  Sinnlichkeit  werden  emi)fohlen  Fasten, 
Enthaltung  von  Fleischspeisen,  Waschungen,  frühzeitige  Ehe,  freiwillige  Ar- 
muth;  die  Besclmeidung  wird  nicht  geboten;  doch  nehmen  die  Beschnittenen 
einen  höheren  Rang  ein.  Dagegen,  während  Petrus  als  der  Heidenapostel 
auftritt,  wird  Paulus  gar  nicht  envähnt  *),  die  Gnostiker,  besonders  die 
Marcioniten,  die  montanistischen  Propheten,  die  hypostatische  Trinitätslehre, 
der  Chiliasmus  bekämpft.  Die  Polemik  gegen  Marcion  ist  die  Ursache,  warum 
vom  Judenthum  Alles  beseitigt  wird,  was  angreifbar  war,  die  Anthropomor- 
l)hismen  und  die  Opfer.  Ausserdem  macht  sich  ganz  bestimmt  der  Einlluss 
der  stoischen  Philosophie  bemerkbar  2).  Die  Homiheen  kennen  übrigens  alle 
vier  Evangelien,  folgen  aber,  mit  Ausnahme  der  Geburtsgeschichte,  überwie- 
gend dem  Matthäus.  Daneben  gebrauchen  sie  eine  unkanonische  Schrift  aus 
dem  Stamme  des  Evangeliums  der  Hebräer.  Noch  ist  anzuführen,  dass  der 
den  Homilieen  vorgesetzte  Brief  des  Clemens  an  Jakobus  einen  nicht  unwich- 
tigen Beitrag  gibt  zu  der  sich  bildenden  Petrussage.  Nachdem  Clemens  in 
seinem  Briefe  an  die  Korinther,  wie  wir  gesehen  haben,  nur  von  Paulus 
gerühmt  hatte,  dass  er  in  das  Abendland  gekonnnen  sei,  wird  nun  Petrus  als 
derjenige  Apostel  bezeichnet,  der  den  Auftrag  erhalten,  als  der  am  meisten 
dazu  geeignete,  das  Abendland,  den  dunkleren  Theil  der  Welt  mit  seiner 
Lehre  zu  erleuchten;  es  wird  auch  von  ihm  gesagt,  was  im  Briefe  des 
Clemens  an  die  Korinther  allein  von  Paulus  ausgesagt  wird,  dass  er  darauf 
ausgegangen,  der  ganzen  Welt  (Hiristum  zu  verkündigen.  Deutlich  ist  das 
Bestreben,  den  Apostel  Petrus  hierin  dem  Apostel  Paulus  völlig  gleichzu- 
stellen. Nachdem  nun  noch  angeführt  worden,  dass  Petrus  nach  Bom  ge- 
kommen, daselbst  sein  Lehramt  ausgeübt  und  eines  gewaltsamen  Todes  ge- 
storben sei,  berichtet  Clemens  dem  Jakobus,  dass  Petrus,  als  er  seine  Hin- 
richtung herannahen  sah,  in  einer  Versammlung  der  Brüder,  ihn,  Clemens, 
zu  seinem  Nachfolger  ernannt  und  zum  Bischöfe  geweiht  habe.  Jakobus  wird 
dabei  von  Clemens  angeredet  als  Bischof  der  Bischöfe,  der  die  heilige  Kirche 
der  Hebräer  in  Jerusalem  und  die  allerwärts  gestifteten  Kirchen  leitet.  Ja- 
kobus erscheint  als  das  Haupt  der  Judenchristen. 

Die  Eecognitionen^),  Wiedererkennungen,  apayvoigicfioi.  so  genannt, 
weil  Clemens  auf  seinen  Wanderungen  an  verschiedenen  Oiten  mit  den 
Seinen  zusammeutrifil  und  sie  wieder  erkennt,  sind  ursprünglich  griechisch 
geschrieben ,  und  nur  noch  in  der  lateinischen  Uebersetzung  Rufin's  voriian- 
den,  die  jedoch  getreuer  zu  sein  scheint  als  die  übrigen  Uebersetzun^en  des- 


1)  In  dem  den  Homilien  vorgesetzten  Brief  des  Petrus  an  Jakobns  c.  2  ist  unter 
dem  f/Oon,;  «/','^of.j77  0f,  der  eine  von  der  petrinischen  abweichende  Lehre  verkündigte,  wahr- 
scheinlich der  Apostel  Paulus  verstanden.     ' 

2)  Uhlhorn  a.  a.  0.  404. 

3)  Ausgabe  von  Gersdorf  1838. 


so  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

selben.  lu  Hinsicht  des  Romanes,  in  welchen  die  Lehre  eingekleidet  ist,  sind 
sie  den  Homilieen  sehr  ähnlich;  die  Lehre  selbst  aber  ist  praktischer  und 
christlicher  gehalten  als  die  der  HomiUeen.  Der  Mosaismus  ist  an  sich  un- 
vollkommen und  lediglich  Vorbereitung  auf  das  Yollkonnnene ,  das  darauf  im 
Christenthum  gefolgt  ist.  Nur  in  Christo  ist  der  wahre  Prophet  erschienen, 
der  freilich  blos  lehrend  wirkt,  sodass  kein  Raum  übrig  bleibt  für  die  Ver- 
söhnung. —  Es  sind  sehr  verschiedenartige  Ansichten  über  diese  zwei 
Schriften  aufgestellt  worden.  Wahrscheinlich  sind  die  Recognitionen  später 
als  die  Homilieen  geschrieben  worden;  denn  in  vielen  Stücken  scheinen  sit3 
von  diesen  abhängig  zu  sein,  und  sie  citiren  des  Bardesanes  Schrift  de  fato. 
Hingegen  weisen  beide  auf  eine  gemeinsame  Urschrift  hin,  woraus  beide  geschöpft 
haben,  und  als  welche  Lipsius  die  nsgioSot  IJergov  erklärt  hat,  die  selbst 
wieder  Bearbeitung  einer  älteren  Schrift,  xrjQvy^aza  JTstqov  sein  sollen 
Beide  sind  wahrscheinlich  nicht  in  Rom,  sondern  in  der  ostsyrischen  Kiixhe 
entstanden,  w^o  schon  damals  sowie  noch  jetzt  Religionsmengerei  Statt  fand; 
keine  von  beiden  Schriften  ist  vor  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  entstanden, 
beide  wohl  etwas  später.  —  Die  dritte  Schrift,  die  epitome,  ist  ein  dürf- 
tiger, unvollständiger  Auszug  aus  den  Homilieen,  somit  ohne  Bedeutung.  Es 
gibt  noch  andre  etwas  frühere  Producte  dieses  häretischen  Judenchristenthums; 
die  genannten  Schriften  sind  die  letzten  Producte  desselben.  Es  erscheint 
darin  als  in  einer  Zersetzung  begriffen,  vennöge  welcher  es  theils  heidnisch- 
naturahstische  Elemente  aufnimmt,  theils  durchbricht  es  nach  der  Seite  des 
Christenthums  hin  die  Schranke  des  Judenthums  und  nähert  sich  dem  Christen- 
thum. Von  dieser  Zeit  an  verschwindet  es  aber  vom  Schauplatz  der  Geschichte. 
Es  hat  sich  überlebt  und  ist  von  der  kirchlichen  Entwicklung  überflügelt 
worden^).  Denn  die  eine  Zeitlang  mit  einem  grossen  Aufwände  von  Scharf- 
sinn und  Gelehrsamkeit  vertheidigte  Ansicht,  dass  das  Judenchristenthum 
mit  ebionitischer  Färbung  bis  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  geherrscht 
und  dass  erst  von  da  an  das  pauUnische  Christenthum  die  Oberhand  gewon- 
nen, diese  Ansicht  kann  jetzt  als  überwunden  angesehen  werden,  womit  aber 
keineswegs  gesagt  sein  soll,  dass  in  der  kirchlichen  Entwicklung  das  alte  und 
das  neue  Testament  in  allen  Beziehungen  in  das  rechte  Verhältniss  zu  ein- 
ander gebracht,  noch  dass  die  pauhuischen  Ideen  in  ihrer  Reinheit  erhalten 
wurden. 


Zweites  CapiteL    Die  heidenchristlichen  Gnostiker. 

Die  Hauptquellen  zur  Geschichte  der  Gnostiker  überhaupt  sind  die  "Werke  von  Iren  aus 
adv.  haereses,  von  Hippol3^tus,  refutatio  omnium  haeresium,  von  Epiphanius 
adv.  haereses,  dazu  kommt  Tertullian  adv.  Marcionem,  adv.  Valentinianos ,  de 
praescriptione  haereticorum,  Clemens  Alex,  in  den  Stromata  besonders  über  Basi- 
lides,  Theodorets  compendium  von  den  häretischen  Fabeln,  Plotins  Abhand- 
lung gegen  die  Gnostiker  im  zweiten  Buche  der  Enneaden.  lieber  das  Verhältniss 
dieser  haeresiologischen  Schriften  zu  einander  S.  Lipsius,  zur  Quellenkritik  des 
Epiphanios  1866.  —   Harnack,  zur  Quellenkritik  der  Geschichte  des  Gnosticismus 


1)  Es    gab   zwar  noch  bis  in  das  fünfte  Jahrhundert  Elkesaiten  und  Ebioniten   — 
nach  Epiphanius  (f  403). 


Die  heidenchristljcben  Gnostiker.  81 

in  der  Zeitschrift  für  historische  Theologie.  1874.  1.  nnd  2.  Heft.  Mit  Beziehung 
auf  Harnack:  Lipsius,  die  Quellen  der  ältesten  Ketzergeschichte  neu  untersucht. 
Leipzig  1875.  —  Unter  den  Bearbeitungen,  wobei  von  den  Monographieen  über  ein- 
zelne Männer  oder  einzelne  Sekten  abgesehen  wird,  S.  Neander,  Entwicklung 
der  gnostischen  Systeme  und  desselben  allgemeine  Kirchengeschichte.  Ritter,  Ge- 
schichte der  christlichen  Philosophie.  Baur,  die  christliche  Gnosis  und  das  Chri- 
,  stenthum  der  drei  ersten  Jahrhunderte.  Mo  eller,  Geschichte  der  Kosmologie  in 
der  griechischen  Theologie  bis  auf  Origenes.  —  Zusammenfassende  Uebersicht  in 
Jacobi's  Artikel  Gnosticismus ,  in  der  Realencyclopädie ,  bei  Nitzsch  in  der 
Dogmengeschichte  und  bei  Lipsius  im  Artikel  Gnosticismus  bei  Ersch  und  Gru- 
ber.   l.Bd.  71. 

L  Die  häretische,  vom  Grund  des  Heiles  abfallende  Gnosis,  deren 
Anfänge  wir  im  apostolischen  Zeitalter  zuerst  auf  dem  judencliristlichen  Ge- 
biete, sodann  aber  auch  schon  zum  Theil  auf  dem  heidenchristHchen  walir- 
genommen  haben,  entwickelt  sich  auf  diesem  nach  Abschhiss  jenes  Zeitalters  i) 
in  grossartigen  Dimensionen  und  mit  dem  sichtbaren  Bestreben,  in  der 
Kirche  zur  Herrschaft  zu  gelangen.  Obschon  in  Bildern  und  Mythen  sich 
bewegend,  trat  sie,  wie  der  Name  es  besagt,  mit  dem  Ansprüche  auf,  die 
vom  Apostel  Paulus  so  eifrig  empfohlene  tiefere  p]insicht  in  die  Geheimnisse 
des  Christenthums  zu  geben.  Im  Grunde  aber  war  sie,  wie  Neander  bemerkt, 
die  Reaction  des  antiken  Standpunktes  in  der  Rehgion  gegen  den  christlichen. 
Daher  Ritter  sie  ansieht  als  den  Uebergang  bildend  von  der  vorchristlichen 
in  die  christhche  Philosophie.  Wenn  die  Gnostiker,  sich  selbst  mit  diesem 
Namen,  der  einen  guten  Klang  hatte,  benennend  2),  darauf  Ansi)ruch  machten, 
das  Christenthum  mit  der  Philosophie,  den  Glauben  mit  dem  Wissen  auszu- 
söhnen und  diejenigen  zu  befriedigen,  welchen  der  blosse  Autoritätsglaube 
nicht  genügte  3),  so  begreift  man  leicht,  dass  sie  bei  den  Gebildeten  Anklang 
und  Anhang  fanden.  Eine  andere  Frage  ist  aber  die,  wie  ist  es  gekommen, 
dass  die  Gnosis  diese  besondere  Gestalt  und  Art,  wie  sie  geschichtlich  vor- 
liegen, angenommen? 

So  verkelirt  es  wäre,  diese  Erscheinung  blos  aus  dem  Triebe  abzuleiten, 
den  Ursprung  des  Bösen  zu  erklären,  so  steht  doch  fest,  dass  jener  Trieb 
zur  Ausbildung  der  Gnosis  wesenthch  mitgewirkt  hat.  -  Augustin  sagt  in 
seinen  Bekenntnissen,  es  habe  ihn  lange  und  viel  die  Frage  beschäftigt:  wo- 
her das  Böse?  Es  geschah  diess  zu  einer  Zeit,  da  er  eine  überwiegende 
Macht  der  Sünde  in  sich  wahrnahm,  die  er,  im  Bewusstsein  meines  besseren 
Selbst,  sich  nicht  erklären  konnte.  Zur  Zeit  der  Erscheinung  des  Christen- 
thums, da  ein  Heer  von  Sünden  die  von  Gott  entstammte  Menschheit  be- 
herrschte, so  dass  die  besten  und  edelsten  an  der  Menschheit  fest  verzwei- 
felten, da  beschäftigte  dieselbe  Frage   viele   denkende  Geister  und  empfäng- 


1)  Nach  Hegesipp  bei  Euseb.  3,  32  blieb  die  Kirche  eine  reine,  unbefleckte  Jung- 
frau bis  auf  den  Tod  Symeons  107  unter  Trajan. 

2)  So  die  Naassener,  Hippolytus  5,  6.  Naacarjvot  oi  ^ttvrovg  yvMCimovq  ano- 
xakovuTfg   —  (prtüxovrfg   uovo$   rrt   ßaS'Tj  ytvioGxfir. 

3)  Wie  Origenes  Tom.  V  in  Joannem  §.  4  von  seinem  Freunde  Ambrosius  sagt,  er  sei 
zum  Gnosticismus  geführt  worden  anoQia  tmu  nQBCßfvovKoy  ra  xnfiTTorn,  utj  <f,ff)(ov 
rtjv  akoyov  xcci   i^KOTtxrju   TTtffrtr, 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  a 


82  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

liehe  Gemüther.  Woher  das  Böse  und  warum?  ist  eine  der  Fragen,  welche 
Tertullian  bei  den  Häretikern  behandelt  findet  0-  I«i  Zusammenhange  damit 
fragte  man  sich:  wie  hat  die  Welt  das  werden  krmiien,  was  sie  ist,  sündHch 
und  verderbt?  Wie  soll  man  sich  Gott  denken  als  Urheber  einer  ihm  so 
fremdartigen  Welt?  Wie  den  Uebergang  vom  Unendlichen  zum  Endlichen? 
Woher,  wenn  Gott  das  Vollkommene  ist,  so  viele  Unvollkommenheiten  in 
der  Welt?  woher  unter  den  Menschen  so  grosse  Verschiedenheiten,  von  den 
göttUch  -  gesinnten  an  bis  zu  solchen,  in  welchen  keine  Spur  des  Vernünftigen 
und  Sittlichen  sich  findet?  Diese  Fragen  wurden  aufgeworfen  und  deren 
Beantwortung  und  Lösung  versucht,  theils  auf  dem  Grunde  der  platonischen 
Philosophie  —  und  das  ist  das  Wahre  an  der  Beliauptung  einiger  Kirchen- 
väter, dass  Plato  der  Stifter  aller  Ketzerei  sei  2),  theils  auf  dem  Grunde 
einer  orientahschen  Philosophie,  worin  Parsisches  und  selbst  Budhistisches 
sich  vermengte,  —  das  ist  das  Wahre  an  der  anderen  Behauptung  einiger 
Kirchenväter,  dass  Simon  der  Magier  der  Erzvater  aller  Ketzer  sei  3).  Da 
trat  das  Christenthum  hervor,  welches,  obwohl  auf  allen  Schmuck  der  Phi- 
losophie verzichtend,  jene  höchsten  Fragen  des  menschlichen  Geistes  noch 
lebhafter  anregte  und  deren  Beantwortung  auf  praktisch  -  positive  Weise  gab. 
Dadurch  geriethen  alle  jene  philosopliischen  Bestrebungen  in  eine  neue  Gäh- 
rung;  sie  nahmen  die  Richtung  darauf,  die  Erlösung  und  Versöhnung,  welche 
das  Christenthum  zu  verwirkhchen  darbot,  philosophisch  zu  construiren,  in 
Gedanken  zu  erfassen.  Die  Idee  der  Erlösung  wurde  ihr  Grundton,  aber 
nicht  vorwiegend  rehgiös  oder  als  Heilsprincip ,  sondern  kosmologisch ,  als 
Weltprincip,  nicht  vorwiegend  als  geschichtliche  Thatsache,  sondern  als  ab- 
stracte  Idee  gefasst.  Das  Christenthum  wurde  zwar  als  die  absolute  Reli- 
gion, als  das  Vollkommene  hingestellt,  im  Unterschiede  vom  Judenthum  als 
dem  Unvollkommenen,  und  von  dem  Heidenthum  als  dem  Schlechten  und 
ganz  und  gar  Verderbten;  aber  ungeachtet  dieser  hohen  Stellung,  so  aufge- 
fasst,  dass  sein  eigenthümhches  Wesen  von  Grund  aus  alterirt  wurde.  Es 
war  ein  ungünstiges  Zeichen  der  Zeit,  dass  die  ersten  Anfänge  philosophischen 
Denkens  inmitten  der  Christenheit  auf  solche  Abwege  führten. 

Es  ist  zum  Verwundern,  wie  viele  unter  den  Zeitgenossen  in  die  gno- 
stische  Bewegung  eintraten.  Nach  denjenigen,  die  schon  im  apostolischen 
Zeitalter  diese  Richtung  verfolgen,  kommen  jetzt  erst,  in  der  ersten  Hälfte 
des  zweiten  Jahrhunderts  die  wahren,  folgerechten  Gnostiker,  welche  ihre 
Theorieen  weit  ausspinnen  und  Gründer  von  eigenen  Schulen  oder  Sekten 
werden,  die  sich  selbst  wieder  in  neue  Schulen  und  Sekten  zerspalten.  Da 
begegnet  uns  zuerst  Basilides  c.  125  in  Alexaudrien,  dessen  Schüler,  die 
Basilidianer,  später  eine  vom  Meister  sehr  abweichende  Richtung  ein- 
schlugen, und  bis  zum  Jahre  400  ihr  Dasein  fristeten.  Eine  besonders  wich- 
tige Erscheinung  ist  Valentinus,  Urheber  des  sinnreichsten  gnostischen 
Systemes,  der  c.  140  von  Alexaudrien  nach  Rom  gekonnnen  und  c.  160  auf 


1)  De  praescript.  haeret.  c.  7.    Unde  malum  et  qua  re?    Dasselbe  berichtet  Euseb. 
5,  27;   nokvS^QvXltjTot^   nnQct  rotq  nigffriMinti;   to    noS^fy   //   xaxta. 

2)  Tertullian  de  anima  c.  23.     Plato  oranium  haereticorum  condimentarius. 

3)  Hegesipp  bei  Euseb.  4,  22.    Justin  M.  apol.  I.  26.  56. 


Die  heidenchristlichen  Gnostiker.  83 

der  Insel  Cyperu  starb  i).  Seine  Schule  verzweigte  sich  in  eine  morgenlän- 
dische und  eine  italische  und  zählte  manche  talentvolle  Männer,  Herakleon, 
den  ersten  oder  wenigstens  einen  der  ersten  neutestamentlichen  Exegeten,  Pto- 
lemäus,  Marcus,  Bardesanes,  einen  Armenier,  der  zu  Anfang  des  dritten 
Jahrhunderts  am  Hofe  des  Abgar  Manu  in  Edessa  lebte  2).  Nach  Einigen 
soll  er  sich  mehr  an  die  Lehren  der  Ophiten  gehalten  haben.  Diese,  auch 
Naassener  genannt  bei  Hippolyt,  Schlangenbrüder,  scheinen  mit  Valentin 
verwandt  gewesen  zu  sein,  vielleicht  bestanden  sie  schon  vor  Valentin  in 
Egypten.  Sie  theilten  sich  in  mehrere  Sekten,  Sethia'ner,  Kainiten,  Pe- 
raten.  Noch  im  Jahr  520  gab  Justinian  Gesetze  gegen  die  Ophiten.  Kar- 
pokrates,  der  ebenfalls  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  in 
Alexandrien  lebte,  that  sich  bei  mancher  Berührung  mit  den  bisher  genann- 
ten Gnostikern  hervor  durch  unsittliche  Richtung,  worin  sein  Sohn  Epipha- 
nes  sich  auch  hervorthat;  und  doch  errichteten  die  Schüler  diesem  im  sieb- 
zehnten Lebensjahre  verstorbenen  Sohn  des  Meisters  in  Cephalenia  einen 
Tempel.  Auch  die  verwandten  Sekten  der  Antitakten,  Prodicianer, 
Schüler  des  Prodicus,  brandmarkten  sich  diu'ch  unsittliche  Grundsätze.  — 
Die  bisher  genannten  Gnostiker  fasst  man  oft  unter  dem  Namen  alexan- 
drinische  Gnostiker  zusammen,  obschon  diese  Benennung  bei  Barde- 
sanes nicht  zutrifft.  Davon  unterscheidet  man  eine  andere  Classe,  die 
syrischen  Gnostiker.  Dazu  gehören  Saturnin  oder  Satornilus  in 
Antiochien,  Zeitgenosse  des  Basilides,  Tatian,  der  Syrer,  ein  Schüler  des 
Justin,  Stifter  einer  eigenen  Partei,  die  sich  durch  harte  Asketik  auszeich- 
nete und  über  das  vierte  Jahrhundert  hinaus  fortdauerte.  Die  Namen  iyxoa- 
tiTai,  vÖQonccqaCTCiTai, ,  aquarii ,  bezeichnen  eine  Richtung,  die  manchen 
Gnostikern  gemeinsam  war,  scheinen  aber  vorzugsweise  den  Anhängern  des 
Tatian  beigelegt  worden  zu  sein.  Zu  diesem  Kreise  gehört  vermöge  seines 
scharfen  Dualismus  sowie  seines  Doketismus  die  Gnosis  des  Marcion  von 
Sinope,  der  sich  an  den  Syrer  Kerdon  anschloss. 

Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  gnostischen  Erscheinungen  und  Richtungen 
ist  es  allerdings  kaum  möglich ,  irgend  welche  Eintheilung  und  Classification 
ganz  genau  durchzuführen.  Indessen  lassen  sich  in  Beziehung  auf  die  hei- 
denchristhcheu  Gnostiker  zwei  Hauptrichtungen  unterscheiden;  die  eine,  ver- 
treten durch  die  alexaudrinischen  Gnostiker  weist  entschieden  platonische 
Elemente  auf,  ohne  dass  man,  mit  Gie seier,  sagen  dürfte,  dass  die  Ema- 
nationslehre ihr  eigenthümlich  angehöre,  da  z.  B.  Karpokrates  mit  seinen 
platonischen  Grundansichten  die  Emanationslehre  nicht  verbunden  hat;  die 
andere  Richtung,  vertreten  durch  die  syrischen  Gnostiker  trägt,  veimöge 
des  scharfen  Dualismus  und  des  Doketismus  offenbar  das  Gepräge  der  orien- 
tahschen  Religionsphilosophie,  bestimmter  gesagt,  des  Parsismus.  Der  Unter- 
schied beider  Richtungen  gipfelt  in  den  Vorstellungen  über  den  Weltschöpfer, 
seine  Natur   und  seine  Wirksamkeit,   sein   Verhältniss  zum  höchsten   Gott 


1)  S.  über  ihn  insbesondere  Henrici,    die  Valentinianische    Gnosis    und   die  heilige 
Schrift.    Berlin  187L 

2)  Nach  den  neuesten  Forschungen  über   ihn,    worüber   S.    den   Art.  Bardesanes  in 
der  Realencyklopädie.     21.  Bd.  S.  585. 

6* 


84  ßiste  Periode  des  alten  Katholicismus.  i^ 

sowohl  als  zu  der  sichtbaren  Welt  und  zur  Vorgeschichte  des  Christenthums. 
In  Beziehung  auf  das  Christenthum  betrachtet  geht  diese  Eintheilung  von 
dem  verschiedenen  Verhältnisse  ans,  in  welches  die  Gnostiker  die  Offen- 
barung des  höchsten  Gottes  zur  Natui'  sowohl  als  zur  Vorgeschichte  setzen. 
Ausser  den  genannten  zwei  Classen,  wovon  wir  die  eine  auch  die  platonisi- 
rende,  mit  Hase  die  hellenistische,  mit  Gieseler  die  alexandrinische ,  die 
andere  die  dualistische,  orientalische,  syrische  nennen  können,  ist  eine  dritte 
Classe  anzuführen ,  die  der  j  u  d  a  i  s  i  r  e  n  d  e  n  Gnostiker.  Als  Repräsentanten 
derselben  vermögen  wir  aber  nur  die  dem  ai)ostolischen  Zeitalter  angehören- 
den Irrlehrer  von  Kolossae,  sodann  Kerinth  und  im  zweiten  Jahrhundert  di(3 
philosophirendeu  Ebioniten  anzuerkennen,  und  auch  diese  beiden  letzten 
wollen  sich  nicht  ganz  in  diese  Classe  einfügen,  insofern  jene  Ebioniten  zuletzt, 
dahin  gelangen,  Beschneidung  und  Opfer  bei  Seite  zu  lassen,  insofern  Ke- 
rinth den  Weltschöpfer  vom  höchsten  Gott  abscheidet,  so  dass  er  nur  durch 
sein  Festhalten  am  Gesetz  als  judaisirend  erscheint  i). 

IL  Eine  Beschreibung  der  einzelnen  Systeme  würde  zu  weit  führen. 
Wir  suchen  die  Frage  zu  beantworten,  was  war  der  Hauptinhalt  der  heiden- 
christlichen Gnosis  im  Unterschiede  vom  gewöhnhchen  Christenthum?  wobei 
wir  Anlass  haben  werden,  die  beiden  Hauptrichtungen  genauer  zu  be- 
schreiben. 

An  der  Spitze  des  Ganzen  steht  die  abstracte  Idee  Gottes,  nicht  blos, 
wie  der  gewöhnliche  Christenglaube  bekennt,  als  des  schlechthin  immateriellen 
und  unendlichen,  sondern  auch  als  des  schlechthin  jenseitigen,  bestimmungs- 
losen und  unergründlichen  Urwesens,  von  Basilides  genannt  ^eog  aqqriToq, 
avccTovo^acTtog,  selbst  ovx  cov ,  von  Valentin  Bv^og,  so  schlehthin  jenseitig, 
und  ruhend  vorgestellt,  dass  er  nicht  sowohl  Princip  (aQxr})  und  Vater  (na- 
trig)  von  Allem,  als  jiQoaQxrj  und  ngMTintajQ,  tiqomv  genannt  wird,  und 
doch  ist  er  der  unerschöpflich  reiche  Urgrund  einer  Fülle  von  Besonderungen. 
Saturnin  nennt  ihn  natriQ  äyvcofftog.  Aus  ihm  emanirt  oder  wurden  ge- 
schaffen oder  auch  gezeugt  eine  Stufenreihe  von  personiflcirten  Potenzen,  die 
an  der  Gottheit  und  ihrer  Ewigkeit,  je  nach  der  Stufe,  worauf  sie  sich  be- 
finden, Antheil  haben,  daher  sieAeonen  heissen.  Ihre  Zahl  ist  grösser  oder 
geringer,  ihre  Namen  und  Functionen  sind  verschieden  je  nach  den  verscliie- 
denen  Systemen  oder  Schulen.  Zusammen  bilden  sie  das  Lichtreich,  von 
Valentin  Pleroma  genannt.  Bei  Basilides  geht  aus  dem  unneimbaren  Gott 
eine  Siebenzahl  von  Aeonen  hervor,  die  durch  ihre  Namen  ihre  speculative 
Bedeutung  beurkunden  (Novg,  Xoyog,  (pQovrjCTig,  aocpia^  Svpa^ig,  dixaio- 
(Tvvfi,  stQrjvrj).  Die  oberste  Hebdomas  strahlt  aber  eine  zweite,  der  erste 
Himmel,  den  sie  mit  dem  Urvater  bewohnt  (daher  Ogdoas  genannt),  einen 
zweiten  ab,  und  diese  Abstrahlung  wiederholt  sich  den  Tagen  des  Sonnenjahres 
entsprechend  bis  zur  Zahl  von  365  Himmeln  oder  Geisterreichen,   deren  Ge- 


1)  Alle  heidenchristlichen  Gnostiker  gelten  uns  als  antijudaisirend,  insofern  sie  alle 
von  dem  Satze  ausgehen,  dass  der  Schöpfer  der  Welt  und  der  Erlöser  der  Welt  zwei 
verschiedene  Wesen  seien. 


Die  heidenchristlichen  Gnostiker.  85 

sammtheit  den  Namen  Aßgal^ag  (auch  Aßgacra^)  trägt  i).     Nach  Valentin 
ist   die   erste  Vermittlerin  aller  Hervorbringuugen   die   mit    dem  Bv&og  als 
dessen  Genossin  ((Tvl^vyog)  verbundene  Giyr}   oder  svvoiaj    der   schweigende 
Gedanke,  das  unmittelbare  Bewusstsein  seiner  selbst,    in  welchem  der  Bvd^og 
sich  erfasst,  um  aus  sich  herauszutreten.    TlatriQ  und  agxt}  %o>v  navtuiv  ist 
jedoch  erst  der  aus  der  Vermählung  des  Bv^og  mit  der  aiyri  entsprossene 
vovg  {ybovOYSvrig) ,  die  nach  aussen  thätiges  Subject  gewordene  Gottheit,  die 
sich  wiederum  in  der  aXrj^eia,  der  <Tvli,vyog  des  povg,  reflectirt.    Diese  vier 
Aeonen  bilden  die  erste  und  ursprüngliche  pythagoräische  Vierheit  (nv&ayoqi- 
xrip  TSTQaxTvv),  welche  sie  auch  die  Wurzel  aller  Dinge  nennen,  und  in  dem 
yovg  als  dem  eingebornen  offenbaren  Gotte   hegen   die  Keime   aller  weiteren 
Besonderungen,  die  Ideen  zunächst  aller  folgenden  Aeonen.    Ferner  erweitert 
sich  die  Vierzahl  zur  Achtzahl,   indem  aus  dem  vovg  und  der  aXri^eta  der 
Xoyog  als  das  schaffende  und  lebenspendende  Wort,  und  die  Icotj,  aus  diesen 
aber   der   av&Qconog^    der  Urmensch,    das  Urbild   der  Individuahsirung   des 
Göttlichen  und  die  exxXijff^a,  das  Urbild  der  göttlichen  Lebensgemeinschaft 
hervorgehen.    Dieser  Emanationsprocess  setzt  sich  noch  weiter  fort,  indem 
loyog  und  £«?/  noch  eine  Dekas,  av^qcanog  und  sxxXrjffia  noch  eine  Dodekas 
von  Aeonen  erzeugen  (wozu  naqccxXritog  und  nictig  gehören).     Demnach  sind 
es  dreissig  Aeonen,  die  das  nXrjQco^a,   das  Buch  der  göttlichen  Lebensfülle, 
die  göttliche  Idealwelt  darstellen.     Dieser  theogonische  Process  ist  aber  bei 
Valentin  wie  bei  andern  Gnostikern  theils  Vorspiel,  theils  Urbild  des  kosmo- 
logischen  Processes.    Hier  tritt  nun   ein   neues,   überaus   wichtiges  Moment 
hinzu:    Dem  göttlichen  Wesen  und  dem  Lichtreich  gegenüber  steht   die  un- 
götthche,   unerschaffene  Materie  {vXrj),   das  Substrat  der  Welt   und   zugleich 
Grund  des  Bösen,   das  Chaos,   der  Stoff,   aus   dem  die  sinnhche,   materielle 
Welt  gebildet  wird.    Denn  die  Gnostiker  verwarfen  die  Schöpfung  aus  Nichts, 
indem  sie  dagegen  einwendeten:  aus  Nichts  wird  Nichts.     Insofern  sind  alle 
Duaüsten.     Da  aber  der  höchste  Gott  mit   der  Materie  in  keine  Beziehung 
treten   kann,   so   wird   die  Entstehung  der  sinnlichen,    sichtbaren  Welt   auf 
untergeordnete,  vom  götthchen  Wesen  weit  abstehende  Mächte  oder  auf  Eine 
untergeordnete  schöpferische  Macht  zurückgeführt,  den  drjfiiovQyog ,  wie  ihn 
viele  Gnostiker  nennen,  nachdem  schon  Xenophon,  sodann  die  jüngeren  Pla- 
toniker  den  Weltbildner  vom  höchsten  Gott  unterschieden  und  Demiurg  ge- 
nannt haben.    Bei  BasiUdes  sind   die   sieben  Aeonen  des  untersten  Himmels 
und  besonders  ihr   uqxmv,  ^der   als  Gott   der   Juden,   nicht   namentlich   als 
Demiurg  aufgeführt  wird,   Weltschöpfer.     Von  einem  feindlichen  Verhältniss 
des  Weltschöpfers  gegen  den  höchsten  Gott  ist  keine  Rede.     Der  uqxmp  des 
Basihdes  ist  nur  beschränkt  ni  seinem  Wesen,   er  unterwirft  sich  der  höhe- 
ren Ordnung,  sobald  sie   ihm  bekannt  wird.     Auch   bei  Valentin   steht  der 
Weltschöpfer,  der  Demiurg,  durchaus  nicht  dem  höchsten  Gott  feindlich  ent- 
gegen.   Der  kosmogonische  Process  wird  im  Zusammenhange  damit  von  Va- 


1)  Der  Zahlenwerth  der  Bachstaben  dieses  Namens  beträgt  addirt  365:  3  «  =:  3 
/J  =  2,  ^  =  100,  (>  =  200,  $  =  60.  Wie  sehr  der  Gnosticismus  des  Basilides  und 
Beiner  Anhänger  sich  mit  heidnischen  Religionselementen  vermischte,  erhellt  aus  dem  Ar- 
tikel  von  Matter  über  Abraxas  in  der  Bealencyklopädie. 


8ß  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

lentin  mythologisch  beschrieben:  sowie  das  nkriq^na  sich  vollendet  hat, 
will  der  vovq  seine  Einsicht  in  das  ßvd^og  auch  den  niederen  Aeonen  mitthei- 
len. Die  Giyn  widersetzt  sich;  doch  die  brennende  Sehnsucht  darnach 
bemächtigt  sich  der  (To(pia,  des  letzten  Aeons.  Der  Aeon  o^oq,  zur  Auf- 
rechthaltiiiig"  der  Schranken  nachträghch  erzeugt,  führt  der  (Totpia  das  Ver- 
werfliche dieser  ev^vfirjcrig  zum  Bewusstsein  und  schied  diese  von  der  Gocpia 
aus,  als  unreife  Frucht;  sie  sank  als  die  xaton  aocpia,  als  die  axcc^coO^  in 
den  Ort  der  Leere,  in  das  xevcofia,  und  es  wird  nun  die  im  jikrjocopa  ge- 
störte Harmonie  durch  zwei  neue  von  vovg  erzeugte  Aeonen,  den  obern 
(apco)  Christus  und  den  heiligen  Geist  wiederhergestellt.  —  In  Folge  von 
neuen  mythologischen  Vorgängen,  wobei  Christus  betheiligt  ist,  wird  die  im 
Kenoma  herumirrende  Achamoth  Mutter  der  Sinnenwelt.  Gewisse  Affekte  de}'- 
selben  werden  die  Fundamente  der  sichtbaren  Welt,  —  aus  ihrer  flehenden 
Hinwendung  nach  oben  entsteht  das  ipixixov,  aus  den  übrigen  Aflecten  dss 
vhxov.  Die  so  gereinigte  Achamoth  und  durch  die  Engel  befruchtet,  wird 
fähig  zu  pneumatischen  Hervorbringungen;  ihr  Werkzeug  ist  der  Demiuri;, 
den  sie  aus  psychischem  Stoffe  gebildet.  Der  Demiurg  hält  sich  selbst  für 
den  höchsten  Gott  und  ist  Weltschöpfer.  Die  drei  bereits  genannten  Stoffe,  das 
Pneumatische,  das  Psychische  und  das  Hylische  sind  in  der  Welt  vermischt; 
in  seiner  Beschränktheit  ^ieht  der  Demiurg  nicht,  dass  in  den  Menschen  mit- 
telst der  Psyche,  die  er  ihm  mittheilt,  auch  Pneumatisches  eingeht,  welches 
die  Achamoth  in  ihn  einströmen  lässt.  So  wie  nun  in  jedem  Menschen  di(^ 
drei  genannten  Elemente  zu  unterscheiden  sind,  so  auch  im  Menschenge- 
schlecht überhaupt,  die  Heiden  sind  der  Masse  nach  Hyliker  (es  gibt  aber 
Ausnahmen) ;  die  dem  Demiurg  als  ihrem  Gott  unterworfenen  Juden  der  Masse 
nach  Psychiker.  Einige  Juden  haben  sich  zum  höchsten  Gott  erhoben.  — 
Pneumatiker  sind  die  bevorzugten  Geister  unter  Heiden  und  Juden,  w^elche 
die  Wahrheit  theils  w^eissagen,  wie  die  Propheten  des  alten  Bundes  oder 
derselben,  wenn  sie  ihnen  geoffenbart  wird,  entgegenkommen.  Im  Systeme 
der  Ophiten  ist  der  Weltschöpfer,  Jaldabaoth,  d.  h.  Sohn  des  Chaos, 
hervorgegangen  aus  der  Mutter  der  Lebenden,  noch  eines  Funkens  des  gött- 
lichen Lichtes  theilhaftig,  zugleich  aber  selbstsüchtig  der  Materie  zugewandt. 
Ohne  Erlaubniss  der  Mutter  erzeugt  er  einen  Sohn,  und  indem  dieser  Zeug- 
ungsprocess  sich  fortsetzt,  entsteht  noch  eine  Reihe  anderer  Engel,  welche 
mit  ihm  als  dem  Haupte  eine  den  sieben  Planeten  entsprechende  Siebenzahl 
bilden;  es  entsteht  ihm  ein  neuer  Sohn,  in  Schlangengestalt,  ocpcofiog^og, 
voll  Neid  und  Bosheit;  Jaldabaoth  selbst  verstockt  sich  in  Selbstsucht  und 
Hochmuth  so  sehr,  dass  er  sich  geradezu  für  den  höchsten  Gott  erklärt.  Er 
sucht  das  Pneumatische  in  den  Menschen,  das  sie  von  seiner  Mutter  haben,  zu 
unterdrücken.  Was  Saturnin  betrifl't,  so  nimmt  er  an,  dass  sieben  ay^e- 
koi^  xo(T^oxQatoQ€g ,  welche  die  unterste  Stelle  im  Lichtreich  einnehmen,  die 
Welt  schufen.  Auch  der  Mensch  ist  ihr  Geschöpf;  sie  vermochten  aber  nicht 
demselben  Lebenskraft  einzuflössen,  daher  der  Urvater,  nach  dessen  Bilde  der 
Mensch  geschaffen  war,  einen  Lebensfunken  herabsandte.  Aber  nicht  alle  Menschen 
haben  diesen  Lebensfunken  in  sich,  sondern  nur  die  guten;  ihnen  gegenüber 
stehen  die  bösen,  denen  die  Dämonen  Hülfe  leisten.  —  Saturnin  ist  nicht 
SO  schroff  dualistisch ,  wie  man  bis  jetzt  angenommen ,   sein  Satanas  ist  ein 


Die  heidenchristlichen  Gnostiker.  87 

gefallener  Engel  und  wahrscheinlich  nicht  der  S'-höpfer  der  hösen  Menschen.  — 
Es  hat  sich  uns  also  gezeigt,  dass  der  Weltschöpfer  in  doppelter  Weise  auf- 
gefasst  wird,  theils  als  beschränkt,  aber  dem  höchsten  Gotte  sich  unterord- 
nend, theils  als  Feind  des  höchsten  Gottes,  das  eine  nach  platonisirender  An- 
schauung, das  andere  nach  orientalischer. 

Nun  aber  haben  wir  noch   den   wichtigsten  Theil   der   aufgeworfenen 
Frage  zu  beantworten.     Wie   erfolgt   die  Erlösung?   wie   ist   sie   beschaffen? 
Im  Allgemeinen  ist  darüber  zu  sagen,   dass  sie  aufgefasst  wird   als  die  Be-  - 
freiung   des   pneumatischen  Elementes   im   Menschen   von   den  Banden  der 
Materie  und  des  W^eltschöpfers ,  als  die  Ausscheidung  des  Bösen,  als  arroxa- 
TQGxacTig  TMv  navtwv  (Apostelgesch.  3,  2).    Diese  Erlösung  wird  durch  einen 
der  Aeonen  bewirkt,  der  obere  Christus  öfter  genannt,  welchem  der  irdische 
Jesus  zum  Werkzeug  dient,    als  Maske   oder  als  Offenbarungsorgan,   wobei 
die  Menschheit  Christi  theils  festgehalten  (auf  Kosten   seiner  Gottheit)  oder 
in  doketischer  Weise  verflüchtigt  wird.  —    Diess  soll  bei  einigen  Gnostikern 
genauer  dargelegt  werden.    Nach  Basilides  hat  der  Archon,  der  Gott  der 
Juden   durch   die   Bildung   der  geordneten  Welt,   aus   den   einzelnen,   dem 
Lichtreich  entquollenen  Lichtstrahlen  und  dem  Chaos  schon  den  Anfang  zur 
Erlösung,   d.  h.   zur  Befreiung   des   in  der  Materie  gefangenen  Geistes  ge- 
macht,   der  im  Menschen  zum  Bewusstsein  kommt.     Der  Archon  wollte  da- 
durch sein  eigenes  Reich  erweitern,   in  Wahrheit  aber  ist  er  das  Werkzeug 
des   höchsten   Gottes,   genauer  gesprochen,    seiner   nqovoia,    welche   seine 
Zwecke  verwirklicht.     Der  Mensch   ist   in    dem  Maasse    der  Erlösung  fähig, 
als  sein  Geist  die  Anhängsel  der  Materie  abstreift.     Die  Erlösung  selbst  be- 
reitet der  Archon  wieder  unbewusst  dadurch  vor,  dass  er,  die  Heiden  seinen 
Engeln  überlassend,  die  Juden  unter  seine  besondere  Obhut  nimmt  und  Mo- 
sen  und  die  Propheten  sendet  und  dadurch  Ahnungen  der  W^ahrheit   in    die 
Menschheit   hineinwirft,    die   sich    vereinzelt  auch   ausserhalb   Israels   zeigt. 
Aber   erst   in  Folge   der  Erlösung  durch   den   himmlischen    vovq   (Siaxovog) 
vermag  die  kleine  Zahl  von  Auserwählten  in  Israel  und  den  andern  Nationen 
(exloyT})  sich  von  der  Welt  wahrhaft  frei  zu  machen.    Der  himmlische  vovg, 
vom  höchsten  Gotte  herabgesendet,    verbindet   sich   bei  der  Taufe  mit  dem 
irdischen   Jesus,    dem  Messias   des   Archon.     Dieser,    überrascht   durch    die 
heilsame  Wirkung  des  von  jenem  verkündigten  Evangeliums ,  erschrickt  zwar 
darüber,  unterwirft  sich  aber   demüthig   der   höchsten  Macht,    die   in  Jesu 
wirksam  ist.    Dieser  selbst  muss,   nachdem  der  vovg  ihn  wieder   verlassen, 
den  Tod  erleiden  und  zwar  für  eigene  Schuld;   so   sehr   ist  sein  Tod  ausser 
alle  Beziehung  zur  Erlösung  der  Menschen  gesetzt  ^).     Das  Heil  derselben  ist 
bedingt  durch  die  Hingebung  an  die  Offenbarung   des  vovg.    Nach  Valen- 
tin ist  GWTiiQ  IrjCTovg,  das  Product  der  gesammten  Aeonenreihe,   so  wie  er 
schon  bei  der  Weltschöpfung  betheiligt  ist,   so  aber  auch  derjenige,   der  die 
Erlösung  wesentlich  vollbringt,  —  durch  vollständige  Enthüllung  der  W^ahr- 
heit.    Diese  Enthüllung  der  Wahrheit  geschieht  dadurch,  dass  der  Soter  sich 
mit  dem  vom  Demiurgos,  dem  Judengotte,  gesendeten  psychischen  Messias  bei 


1)  Jesus  als  wirklicher  Mensch  gedacht  ist  nur  deV  Erstling  der  Erlösten   und    be« 
darf  selbst  der  Erlösung,  bei  Clem.  Strom.  4,  12  gemildert  ausgedrückt. 


88  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

der  Taufe  bis  zum  Tode  verbindet  und  durch  ihn  den  Urvater  offenbart. 
Durch  die  Kraft  der  geoffenbarten  Wahrheit  sammelt  er  um  sich  alle  pneu- 
matischen Naturen,  theilt  ihnen  die  Gnosis  mit,  wodurch  sie  fähig  werden, 
wenn  der  Bräutigam  sie  abholt,  in  das  nXriqwiia  einzugehen.  Die  psychischen 
Christen,  die  nur  bis  zur  ntcrtig  fortschreiten  und  dazu  Wunder  und  Weis- 
sagungen brauchen,  sannneln  sich  um  den  psychischen  Messias,  welcher  mit 
seinem  Reiche  den  Ort  der  Mitte,  zwischen  dem  Pleroma  und  der  Materie 
bildet.  Naclidem  diese  durch  P'euer  verzehrt  zum  xevMna  geworden,  tritt 
die  a7voxatK)C(j%aaiq  ein,  worüber  sich  selbst  der  Demiurg  als  Freund  des  Bräu- 
tigams freut.  Im  Lehrbegriffe  des  Saturnin  ist,  im  Vergleich  mit  den 
bis  jetzt  dargelegten  Ideen  anderer  Gnostiker,  der  Process  der  Erlösung 
ziemlich  vereinfacht.  Um  die  guten,  die  pneumatischen  Menschen  zu  erlösen, 
und  die  bösen  sammt  dem  Gotte  der  Juden  und  den  Dämonen  zu  vernich- 
ten, erschien  Christus  als  Heiland  in  einem  Scheinkörper,  doxrjdei  (Hip- 
polyt.  7,  28),  was  allerdings  auf  einen  ausgeprägten  Dualismus  schlies- 
sen  lässt. 

Die  sittlichen  Grundsätze  der  Gnostiker  sind  bedingt  durch  ihre  Re- 
ligionsphilosophie und  sollen  dieser  Eingang  und  Autorität  verschaffen. 
Da  sie  alle  die  Materie  als  Sitz  des  Bösen  betrachteten,  so  bekam  ihre 
Ethik  die  Gestalt  eines  Kampfes  mit  der  Materie,  die  besiegt  werden  sollte, 
damit  der  Geist  sich  ungehindert  der  Gnosis  hingeben  könnte.  Daher  bei  den 
von  sittlichem  Ernste  erfüllten  Gnostikern  die  Asketik  in  Ehren  war,  welche 
je  nach  Massgabe  ihres  Dualismus  milder  oder  herber  war.  So  ist  bei 
Basilides  die  Ehe  erlaubt,  wenigstens  für  einen  Theil  der  Gläubigen.  Sie 
galt  als  Abbild  eines  höheren,  durch  alle  Stufen  des  Daseins  hindurch 
gehenden  Verhältnisses.  Bei  Valentin  und  den  Seinen  war  die  Ehe  sogar 
Gesetz  für  die  Pneumatiker.  Herber  war  die  Askese  des  Saturnin,  der 
das  Gebot  des  Cölibats  aufstellte,  doch  ist  es  nicht  völlig  sicher,  dass  diess 
Gebot  für  alle  Mitglieder  der  Sekte  galt.  Tatian  stellte  in  einer  beson- 
deren Schrift  Christum  als  Urbild  des  ehelosen  Lebens  auf  und  wollte  aus 
1  Cor.  7,  7  beweisen,  dass  für  Paulus  Ehe  und  Unzucht  gleich  verwerflich 
seien.  Bei  unreinen  Menschen  artete  die  Abwendung  von  den  gewöhn- 
lichen ethischen  Verhältnissen  in  Unsittlichkeit,  in  freche  Verhöhnung  aller 
Sittengesetze  aus:  Alles  Aeussere  sei  gleichgültig;  der  Mensch  solle  sich 
dadurch  nicht  stören  lassen ;  wir  müssen  durch  den  Genuss  der  Lust  die  Lust 
bekämpfen.  Es  sei  nichts  Grosses,  sich  zu  enthalten,  wenn  man  die  Süssig- 
keit  der  Lust  nicht  geschmeckt  habe.  Das  sei  gross,  mitten  in  der  Lust 
stehend ,  von  derselben  nicht  überwältigt  zu  werden.  Nur  ein  kleines  Ge- 
niessen könne  durch  eingegossenen  Schmutz  verunreinigt  werden,  nicht 
der  Ocean ,  der  Alles  aufnehme ,  weil  er  seine  Grösse  kenne  ^).  Damit 
hing  zusammen  eine  gänzliche  Verachtung  des  Judenthums,  wobei  sie  sich 
auf  den  Apostel  Paulus  beriefen,  der  die  Unzulänglichkeit  des  Gesetzes 
für  die  Heiligung  gelehrt  habe.  Sie  nannten  sich  Söhne  Gottes,  das  kö- 
nigliche Geschlecht  in  dem  Sinne,  dass  sie  an  kein  Gesetz  gebunden  seien. 
Einige  suchten,   in  Nachahmung  der  heidnischen  Poeten  und  Philosophen 


1}  Neander,  Kirchengeschichte  1,  2.  657, 


Die  heidenchristlichen  Gnostikel*.  89 

durch  Magie  das  zerrissene  Band  mit  der  Gottheit  wieder  anzuknüpfen 
(s.  das  vierte  Buch  von  Hippolyt).  Diese  Richtung  befolgten  Karpokrates 
und  seine  Schule,  Prodikus  und  seine  Schule,  die  späteren  Markosianer, 
Schüler  des  Markus,  die  Saturnianer.  Die  Antitakten  (ungewiss  ob  als  eigne 
Sekte  aufzufassen)  gaben  vor,  sich  dem  Weltschöpfer  deswegen  entgegen- 
zustellen (daher  die  Benennung),  weil  der  Weltschöpfer  sich  dem  höchsten 
Gott  entgegenstelle.  Die  dem  Doketismus  ergebenen  Basilidianer  wurden  auch 
zu  Uebertretungen  der  sittlichen  Gebote  geführt.  Sie  verhöhnten  die  Mär- 
tyrer als  solche,  die  für  ein  Trugbild  ihr  Leben  hingäben,  und  entzogen  sich 
aller  Verfolgung  durch  Theilnahme  an  dem  heidnischen  Gottesdienste; 
denn,  so  sagten  sie,  sowie  Christus  sich  in  alle  Scheinlormen  einzuhüllen 
weiss,  so  könnten  sie  auch  alles  zum  Scheine  mitmachen,  um  die  fleisch- 
lich-gesinnte Menge  zu  täuschen  und  ihren  Verfolgungen  zu  entgehen. 
Man  sieht,  die  Gnostiker  hatten  Grundsätze  und  Verhaltungsregeln,  die 
für  sehr  verschiedenartige  Leute  berechnet  waren,  für  die  ernsten  ernste, 
für  die  frivolen  frivole,  doch  ohne  dass  solches,  wie  bei  den  Jesuiten, 
Sache  eines  Planes,  einer  Uebereinkunft  war. 

IIL  Wichtig  ist  für  uns  besonders  das  Verhältniss,  worin  sich  die 
Gnostiker  zum  Glauben,  zur  Lehre,  zur  Gemeinschaft  der  Kirche  stellten. 
Die  Gnosis,  deren  sie  sich  rühmten,  und  in  der  ihnen  das  Wesen  der  Re- 
hgion,  von  einer  Seite  betrachtet,  aufging,  unterschied  sich  von  dem  ge- 
wöhnlichen Christenglauben,  niatig,  yjUij  ni(TTig,  nicht  blos  theoretisch 
als  tiefe  Erkenntniss  der  Heilswahrheit,  sondern  auch  praktisch  als  Be- 
dingung der  Vollkommenheit  im  Christenthum ,  der  wahren  Vereinigung 
mit  der  Gottheit.  So  lehrten  die  Naassener,  die  sich  selbst  Gnostiker 
nannten,  ^^der  Anfang  der  Vervollkommnung  ist  die  Kenntniss  des  Men- 
schen, die  Erkenntniss  Gottes  aber  vollendete  Vervollkommnung'^  *).  Die 
psychischen  Menschen,  d.  h.  solche,  in  denen  blos  die  niederen  Seelen- 
kräfte obwalten,  sind  der  Gnosis  nicht  ftihig;  sie  müssen  durch  Autorität 
und  sinnliche  Bilder  geleitet  werden,  (als  ob  das  Denken  der  Gnostiker 
selbst  sich  nicht  in  lauter  sinnlichen  Bildern  bewegte).  Die  Gnosis  eignet 
den  pneumatischen  Menschen,  und  es  wird  ihr  eine  ethische  Bedeutung 
beigelegt,  die  für  das  sittliche  Leben  Bedenken  erregt.  So  lehrten  nach 
Irenäus  1,  6.  2  die  sonst  sittlich  ernsten  Valentinianer :  „die  psychischen 
Menschen,  die  nicht  die  vollkommene  Gnosis  haben,  werden  durch  Werke 
und  blossen  Glauben  in  psychischen  Dingen  unterrichtet.  Sie  sagen  aber, 
dass  wir,  die  wir  zur  Kirche  gehören,  solche  sind.  Daher  behaupten  sie, 
für  uns  sei  das  Gutesthun  {aya^ri  nqu^ig)  nöthig;  sonst  könnten  wir  nicht 
gerettet  werden;  sie  selbst  aber  würden  gerettet  nicht  durch  gute  That, 
sondern  blos  und  allein  dadurch,  dass  sie  von  Natur  pneumatisch  seien. 
Denn,  sowie  das  Irdische  (to  xoixov)  unmöglich  das  Heil  erlange  (denn  es 
sei  dessen  unfähig),  so  könne,  was  geistlich  ist  (wofür  sie  sich  ausgeben) 
unmöglich  dem  Verderben  anheimfallen,  was  für  Thaten  sie  auch  voll- 
bringen mögen.    Denn,  sowie  das  im  Kothe  liegende  Gold  seine  Schönheit 


1)  flippolytus  5.  6:  «qxv  TfXnüJCecog  ypioCts  ttv^Qoinov^  f^tot   de  yvioCis  anfj^* 


90  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

nicht  verliert,  sondern  seine  Natur  unversehrt  behält,  so  behaupten  sie 
auch  von  sich,  dass  sie,  in  was  für  materiellen  Dingen  sie  sich  herumtrei- 
ben, keinen  Schaden  leiden  und  ihre  pneumatische  Substanz  nicht  ver- 
lieren/^ 

Um  nun  den  Inhalt  der  Gnosis  mit  dem  geschichtlich  gegebenen  Evan- 
gelium  zu   vereinbaren,    schlugen    sie    zwei  entgegengesetzte  Wege   ein. 
Entweder  erkannten  sie  die  neutestamentlichen  Schriften,  wie  sie  vorlagen, 
als  gültig  und  als  die  gnostische  Lehre  enthaltend  an,    so  jedoch,  dass  sie 
diesen  Schriften   Gewalt  antliaten  und  ihren  eigenen   Sinn   hineinlegten  ^), 
oder  sie  nahmen  an,    das   neue  Testament   enthalte  die   christliche  Lehre 
in  verstümmelter  und  verfälschter  Gestalt.     Im   ersten  Falle  bedienten  sie 
sich  der  damals  so   sehr   beliebten,    in  heidnischen,   jüdischen  und  christ- 
lichen Kreisen    so    sehr  verbreiteten   allegorischen  Interpretation  —  mit 
Verschmähung  aller  Regeln  der  historisch -grammatischen  Auslegung,    als 
blos  für   die  psychischen  Menschen  geeignet.     Ihnen  sollte  der  Geist  alles 
offenbaren.    So  ist  nach  Valentin  der  Greis  Simeon,   der   das  Kind  Jesum 
auf  die  Arme  nimmt,  der  Demiurg,  der  den  wahren  Messias  aufnimmt,  ebenso 
der  Hauptmann  von  Kapernaum.    Die  dreissig  Jahre,  die  Jesus  vor  Antrit: 
seines  Amtes   verlebte,    sind   für  Valentin   eine  Bestätigung    der   dreissig: 
Aeonen  des  Pleroma.     Dieselbe  Bestätigung  fand  er  in  der  Erzählung  voi: 
den  Arbeitern  im  Weinberge,  Matth.  20,  1  ff.,  wo  die  verschiedenen  Stun- 
den,   in  welchen  die  Arbeiter  gedungen  werden,   die  dritte,    die    sechste, 
die  neunte  und  die  elfte,  zusammengerechnet,  die  Zahl  dreissig  ausmachen 
(mit  Hinzufügung  von   einer  Stunde),    die  Stunden    bedeuten   die  Aeonen. 
Das  sind,   bemerkt  Irenäus  1,  1.  3  die  grossen  und  wunderbaren  und  ver- 
borgenen Geheimnisse,  die   sie  vorbringen,  jedwede  Schriftstelle  sind  sie 
im  Stande  ihren  Erdichtungen   anzupassen.^'      So  ist  die  letzte  Emanation 
von  zwölf  Aeonen  bei  Valentin  dadurch  angedeutet,  dass  der  Herr,  zwölf  Jahre 
alt,    im  Tempel   mit  den  Schriftgelehrten   sich  unterhielt,    und    was  der- 
gleichen Spielereien  mehr  sind  -).  —     Sie  nahmen  daher  bei  Christo  und 
den   Aposteln   Accommodation    an,    und   meinten,    den    eigentlichen    Sinn 
Christi  und  der  Apostel  durch   ihre   accommodirenden  Reden  hindurch  fin- 
den zu  können;    die  hölieren  Wahrheiten  der  Gnosis  hätten  Christus  und 
die  Apostel  nur  der  kleinen  Zahl  von  Pneumatischen   mitgetheilt,   den  an- 
deren  blos   durch  Winke  und  Bilder  angedeutet.      Sie   beriefen  sich,    wie 
die  alexandrinischen  Religionsphilosophen,   wie   der  Verfasset*  der  Clemen- 
tinischen  Homilien,   auf   eine    geheime  Ueberlieferung,    welche   erst    den 
Schlüssel  gebe  zur  tieferen  Schrifterklärung.    So  rühmten  sich  die  Schüler 


1)  So  rauss  der  Prolog  des  Johannes  der  Gnosis  dienen,  um  die  Geheimnisse  des 
Pleroma  und  seiner  Offenbarung  zu  entschleiern.  Sehr  reichhaltig  ist  die  Darstellung  von 
Heinrici  über  die  Valentinische  Benützung  der  Schrift. 

2)  Phantastische  Willkür  der  Interpretation  zeigt  sich  auch  bei  Herakleon,  der 
sonst  in  manchen  Bemerkungen  sich  als  sinnigen  und  gewandten  Exegeten  zeigt  in  seiner 
Auslegung  des  Evangelisten  Johannes,  wovon  Origenes  Fragmente  aufbewahrt  hat.  S, 
Heinrici  a.  a.  0.  130  ff.  Die  Fragmente  sind  aus  den  ronoi  des  Origenes  zum  Evange- 
lium Johannis  zusammengedruckt  bei  Grabe  specileg.  IL  83—147.  236. 


Die  heidenchristlichen  Gnostiker.  Öl 

des  Karpokrates,    dass  Jesus    ihre  Lehren  insgeheim  den  Aposteln  mitge- 
theilt  habe ;  Basilides  führte  seine  Lehren  auf  Glaukias ,  den  Hermeneuten 
des  Petrus,    Valentin   auf  Theodas,    Bekannten  des   Paulus,  zurück.      Sie 
wagten  sogar  die  Behauptung,    Jesus    selbst   sei  in   die  Geheimnisse  der 
höheren  Welt  noch  nicht  völlig  eingeweiht  gewesen.    Einiges  h^be  aus  ihm 
der  psychische  Christus,    Anderes  der  povg,   der  himmlische  Christus,   ge- 
sprochen (kenäus  3,  1.  2.    Im  zweiten  Falle,  worin  sie  annahmen,  das  Neue 
Testament  enthalte  die  christliche  Lehre  nicht  in  ihrer  Reinheit  und  Unver- 
sehrtheit, lehrten   sie,   die  Apostel  selbst  hätten  Christum  missverstanden 
und  seine  Lelu'e  unrichtig  dargestellt.  —    Aus  dem  Verhältniss,  worin  die 
Gnostiker  sich  zur  Lehre  der  Kirche  stellten,   geht  hervor,  dass  sie  nicht 
daran  dachten,    aus  der  kirchlichen  Gemeinschaft  auszuscheiden.     Sie  ac- 
commodirten  sich,  soweit  sie  sich  öffentlich  aussprachen,  an  die  herrschen- 
den Vorstellungen,    Hessen    sich   herab   zum    Standpunkte    der   Psychiker. 
Besonders  Valentin  und  seinen  Schülern  wurde  von  Irenäus  (1,  1.  1)  vor- 
geworfen,  dass  sie   dasselbe  zwar  lehrten,    w^as  die  Kirche  lehrte,    aber 
etwas  Anderes  dabei  dächten  ^).     Allerdings  wollten  sie  eine  Art  von  theo- 
sophischen   Schulen   bilden,    ähnlich   den  Mysterienvereinen    des   Heiden- 
thums,  die  ja  auch  keine  Lostrennung  von  der  grösseren  Gemeinschaft  in 
sich  schlössen.    Die  idealisirenden  Gnostiker,   denen    die  Welt   ein  Abbild 
war  einer   höheren  Ordnung  der  Dinge,    wendeten    diese  Anschauung   auf 
den  Cultus   an,    den   sie   in   ihren   besonderen  Versammlungen    zu   feiern 
pflegten.     Er   stach   ab  gegen   die   Einfachheit   des   katholischen   Gottes- 
dienstes. —    Die  Markosier  führten  Bilder  und  Weihrauch  in  ihren  Gottes- 
dienst   ein,   —    damals    eine    völlige  Neuerung.      Sie   unterschieden    eine 
zwiefache  Taufe,  eine  auf  den  psychischen  Christus,  wodurch  die  Psychiker 
Sündenvergebung    und  Hoffnung    auf  Seligkeit    im  Reiche    des  Demiurgen 
erhielten  und  eine  auf  den  pneumatischen  Christus ,  wodurch  das  Pneuma- 
tische im  Menschen  zur  Vollendung  gelange  und  in  Gemeinschaft  trete  mit 
dem  Lichtreich. 

IV.  Eine  abgesonderte  Behandlung  erheischt  Marcion,  theils  weil 
er  sich  von  den  anderen  Gnostikern  auf  sehr  bezeichnende  Weise  unter- 
scheidet, theils,  wxil  er  mit  seiner  Schule  noch  grössere  Aufregung  in 
der  Kirche  angestiftet  als  die  übrigen  Gnostiker  2).  Sohn  des  Bischofs  von 
Sinope  in  Pontus,  nach  Epiphanius  von  seinem  Vater  wegen  Unzucht, 
wahrscheinlich  aber,  weil  er  zu  Heterodoxie  hinneigte,  aus  der  Kirchen- 
gemeinschaft ausgeschlossen,  kam  er  140  oder  150  nach  Rom,  vielleicht 
in  der  Hoffnung,  einen  füi'  seine  Richtung  günstigen  Boden  daselbst  zu 
finden.  Die  Frage,  die  er  den  römischen  Geistlichen  vorlegte,  wie  sie  die 
Stelle  Matth.  9,  17  erklärten,  dass  man  neuen  Wein  in  neue  Schläuche 
fassen  müsse,  zeigt  deutlich,  dass  er  die  Kirche  eines  Rückfalles  in  jüdi- 
sche Anschauungen  und  Gesetzeswesen  beschuldigte.  Er  stand  anfangs  in 
gutem  Verhältnisse  zur  römischen  Gemeinde,  machte  ihr  ein  ansehnliches 


1)  'Ofiotn  fxfy  XnlovyTKg,   avofioin  tff   (pQOvovrntt^. 

2)  S.  über  ihn  TertulHan   adv.    Marcionem.     Irenäus  1,  27.    Hippolyt.  7,    29  —  31. 
37.  10,  10.    Clem.  Alex.  Strom  3,  3.    Epiphanius,  haeresis  42.    Die  Realencyklopädie  s,  v, 


9^  terste  Periode  des  alten  Katholicisöiüs. 

Geldgeschenk  und  wurde  als  Askete  verehrt.  In  Eom  lernte  er  den  sy- 
rischen Gnostiker  Kerdon  kennen,  der  kurz  vor  Marcion  unter  Bischof  Hy- 
ginus  (137 — 141)  in  diese  Stadt  gekommen.  Kerdon  unterschied  zwischen 
dem  höchsten  unbekannten  Gott,  den  er  vielleicht  den  guten  Gott  nannte, 
und  dem  bekannten,  dem  Demiurgen,  der  sich  mit  der  Materie  vermischte 
und  aus  ihr  die  Welt  bildete;  er  war  speciell  der  Juden  Gott.  Seit  seiner 
Bekanntschaft  mit  diesem  Manne  trat  für  Marcion  eine  entscheidende 
Wendung  in  seinem  Leben  ein.  Er  schloss  sich  eifrig  an  Kerdon  an,  nahm 
seine  Ideen  auf,  bildete  sie  weiter  fort,  er  fand  darin  die  erwünschte  Un- 
terlage für  seine  auf  Ausweisung  des  Jüdischen  in  der  Kirche  ausgehende 
Kichtung.  Bald,  nachdem  Valentin  in  Rom  gelehrt  und  gewirkt  hatte, 
suchte  er  nun  daselbst  seine  Ansichten  zu  verbreiten,  fand  Schüler  und  An- 
hänger, aber  auch  eifrige  Gegner  und  wurde  mit  den  Seinen  excommuni- 
cirt;  in  seinen  Ansprachen  und  Sendschreiben  pflegte  er  sie  die  „Mitge- 
hassten,''  „die  Mitelenden''  {(Tvfifitcrovfjispoi,  uvvtaXamtaQoi)  zu  nennen 
Am  Ende  seines  Lebens  soll  er  Reue  gezeigt  und  den  Wunsch  ausge- 
sprochen haben,  in  die  Gemeinschaft  der  Kirche  wieder  aufgenommen  zu 
werden.  Die  Wiederaufnahme  wurde  ihm  versprochen  unter  der  Beding- 
ung, dass  er  seine  Anhänger  der  Kirche  wieder  zuführe;  er  starb,  ehe  er 
diese  Bedingung  erfüllen  konnte.  (Tertullian  de  praescript.  haeretic. 
c.  30).  Er  hinterliess  ein  Werk,  betitelt  antifheses.  Es  waren,  wie  Ter- 
tullian adv.  Marcionem  1,  19  bemerkt,  einander  widersprechende  Gegen- 
sätze (contrarine  opposifiones),  welche  dahin  gingen,  den  Zwiespalt  zwischen 
dem  Evangelium  und  dem  mosaischen  Gesetze  darzulegen ,  auf  dass  man 
aus  der  Verschiedenheit  der  beiderseitigen  Lehren  auf  eine  Verschieden- 
heit der  Götter  schliessen  solle.  Seine  Schüler  verbreiteten  sich  nicht  nur 
in  Rom  und  in  Italien,  sondern  auch  in  Aegypten,  Pontus,  Arabien,  Sy- 
rien ,  Cypern ,  Thebais.  Eine  Menge  ansehnlicher  Schriften  erschienen, 
um  ihn  zu  widerlegen,  wovon  die  bedeutendste  die  angeführte  des  Ter- 
tullian ist.  Constantin  erliess  Gesetze  gegen  die  Marcioniten,  wodurch 
aber  der  Sekte  keineswegs  ein  Ende  gemacht  wurde.  Will  doch  Theodo- 
ret  im  fünften  Jahrhundert  ungefähr  tausend  dieser  Leute  in  Syrien  be- 
kehrt haben.  Seine  Schüler,  die  auch  wieder  besondere  Sekten  bildeten, 
und  worunter  die  l)edeutendsten  Marcus  und  Apelles  sind,  näherten 
sich  zum  Theil  im  Verlaufe  der  Zeit  den  anderen  Gnostikern  mehr  als 
Marcion  selbst  es  gethan  hatte ;  während  andere  den  Gnosticismus  des 
Meisters  milderten. 

Was  ist  nun  aber  die  Lehre  des  Marcion?  Sie  ist  bei  weitem  nicht 
80  phantastisch  wie  die  der  übrigen  Gnostiker.  Er  hat  sich  nicht  viel 
mit  den  gnostischen  Speculationen ,  die  man  auch  mythologische  Versuche 
nennen  könnte,  abgegeben.  Er  dachte  nicht  daran,  eine  Geheimlehre  zur 
Quelle  des  Christenthums  zu  macheu.  Er  war  ein  Gegner  der  allegorischen 
Erklärung.  Er  erkannte  den  Werth  des  Glaubens,  auf  den  die  übrigen 
Gnostiker  so  stolz  herabsahen.  Die  Hauptsache  war  ihm  die  Losreissung 
des  Evangeliums  vom  Gesetz,  als  Mittel  dem  judäisirendeu  Wesen  in  der 
Kirche  ein  Ende  zu  machen.  Indem  er  aber  dabei  auf  grosse  Irrthümer 
verfiel,   hat  er  unwillkürlich  diesen  judäisirendeu  Zug   noch   bestärkt.   ^ 


Die  heidencbri  stlichen  Gnostiker.  93 

Nach  einigen  (so  nach  Hippolytus  X.  19)  nahm  er  drei  (nach  Theodoret 
sogar  vier)  Principien,  agxctt  an  —  den  guten  Gott,  der  die  ewige  Liebe 
ist,  —  den  Demiurgen,  ein  untergeordnetes  Wesen  zwischen  bös  und  gut 
in  der  Mitte  stehend,  erst  von  den  Schülern  eigentlich  bös  (TiovriQog)  ge- 
nannt, die  iXri,  den  diaßoXog,  nortjQog,  mit  dem  guten  Gotte  in  bestän- 
digem Kampfe  begriffen.  —  Nun  aber  sprechen  die  ältesten  Quellen  nur 
von  zwei  Principien:,  dem  guten  Gott  und  dem  Demiurgen,  daher  Marcion 
Dualist  genannt  wurde.  Die  Hyle  war  ihm  der  passive,  regungslose  Stoff 
der  Welt,  der  gute  Gott  und  der  Demiurg  waren  ihm  die  wirksamen  Mächte, 
die  Epochen  der  Offenbarung  bildend. 

Der  Demiurg  ist  der  Weltschöpfer.  Er  bildete  die  Hyle  zur  Welt. 
Sein  höchstes  Werk  ist  der  Mensch,  der  seiner  leiblichen  Natur  nach  aus 
der  Hyle  gebildet  ist,  daher  das  Böse  im  Menschen.  Die  Seele  ist  vom  De- 
miurg, dem  Wesen  des  letzteren  entsprechend  gebildet;  das  Pneuma 
konnte  er  ihr  nicht  mittheilen.  Der  Demiurg  ist  nun  als  solcher  das  Offen- 
barungsprincip  des  Alten  Testamentes.  Alle  Gegensätze  zwischen  dem 
Alten  und  Neuen  Testament  werden  auf  den  Gegensatz  des  guten  und 
gerechten  Gottes  zurückgeführt.  Der  Demiurgos  ist  nicht  blos  gerecht,  er 
ist  leidenschaftlich.  Er  ist  beschränkt  in  seinem  Wissen;  er  weiss  nicht, 
dass  Saul  in  Sünde  gerathen  wird.  Er  widerspricht  sich,  denn  er  verbietet 
am  Sabbath  zu  arbeiten  und  befiehlt  doch  am  Sabbath  die  Bundeslade 
herum  zu  tragen.  Er  verbietet,  Bilder  zu  verfertigen  und  lässt  die  eherne 
Schlange  aufrichten.  Selbst  Diebstahl  befiehlt  er  den  Is^'aeliten.  —  Er 
verstockt  Pharao  und  bestraft  ihn.  Im  Gesetz  fordert  er  Opfer  und  ver- 
bietet sie  durch  seine  Propheten.  Er  gab  dem  Menschen  ein  Gesetz,  um 
seinen  Gehorsam  zu  prüfen,  um  ihn  nach  Verdienst  zu  belohnen  oder  zu 
bestrafen.  Die  Kraft  der  Erfüllung  des  Gesetzes  konnte  er  nicht  geben, 
daher  der  Mensch  fiel  und  unter  die  Herrschaft  böser  Geister  gerieth. 
Unter  allen  Völkern  hat  er  eines  besonders  erwählt.  Er  verhiess  ihm 
den  Messias,  der  die  Juden,  nachdem  sie  aus  ihrer  Heimath  vertrieben 
worden,  dahin  zurückführen,  zum  herrschenden  Volke  auf  Erden  machen, 
sie  beseligen,  dagegen  die  Heiden  mit  eisernem  Zepter  richten  sollte. 

Doch  dieses  harte  Gericht  wollte  der  Gott  der  Liebe  nicht  zugeben. 
Da  stieg  im  vierzehnten  Jahre  der  Regierung  des  Kaisers  Tiberius  Gott 
plötzlich  in  die  Stadt  Kapernaum  herunter;  denn  der  Unterschied  zwischen 
Gott  und  Christo  ist  unbestimmt  gelassen;  Christus  ist  die  höchste 
Offenbarung  des  Gottes  der  Liebe.  Er  war  nicht  der  vom  Demiurgen  ver- 
heissene  Messias-  der  Juden,  —  mit  blossem  Scheinkörper  behaftet,  ge- 
kommen, um  das  Reich  des  Demiurgos  zu  zerstören,  daher  von  diesem 
gehasst ,  von  den  Juden,  auf  Anstiften  des  Demiurgos  verfolgt  und  getödtet. 
Nach  seinem  Tode  stieg  er  in  die  Unterwelt  hinunter,  um  die  darin  be- 
findlichen Seelen  der  Heiden  zu  erlösen.  —  Die  Sittenlehre  Marcions  war 
streng  asketisch.  Wahrscheinlich  erkannte  er  nur  Paulus  als  Apostel  an, 
die  anderen   beschuldigte    er   einer   judäisirenden  Verfälschung   des  Evan- 


1)  Tertullian:    adv.   M.  1,  19   separatio   legis   et  evangelii  proprium   et   principale 
opus  est  Marcionis. 


94  Erste  Periode  des  alten  Katholicismns. 

geliiims.  Er  nahm  zehn  paulinische  Briefe  an,  die  Pastoralbriefe  verwarf 
er  wegen  der  darin  enthaltenen  Vorschriften  über  den  geistlichen  Stand; 
auch  den  Brief  an  die  Hebräer  nahm  er  an,  überdiess  ein  Urevangelium, 
aus  der  Verstümmelung  des  Evangeliums  Lucä,  wie  er  meinte,  ent- 
standen, 


Zweite  Abtheilung  i). 
Die  Gegenanstalten  der  Kirche  gegen  die  häretischen  Angriffe. 

§.  1.    Zusammenfassung  der  Gläubigen  als  katholische  Kirche, 
gestützt  auf  die  mündliche  Ueberlieferung   und  die  mit  der- 
selben übereinstimmend  ausgelegte  Schrift. 

In  dieser  Zeit,  wo  die  Kirche  durch  die  genannten  Häresieen  bedroht 
wurde,  trat  mit  Macht  hervor  die  Idee  der  katholischen,  der  allgemeine.! 
Kirche,  im  Gegensatz  gegen  die  Häresie.  Wir  stehen  hier  an  einem 
Wendepunkte  der  kirchlichen  Entwicklung,  der  für  alle  folgenden  Zeiten 
von  unübersehbarer  Wichtigkeit  geworden  ist.  Die  Idee  der  katholischen 
Kirche  hatte  aber  eine  tiefere  Grundlage,  als  die  Bekämpfung  der  Häre- 
tiker, —  im  Wesen  des  Christenthums  selbst  und  in  den  Resultaten  der 
Entwicklung  des  apostolischen  Zeitalters.  Das  Christenthum  war  im  Gegen- 
satz gegen  die  heidnischen  Volksreligionen  üniversalreligion,  wodurch  die 
Menschheit  in  Eine  Familie  Gottes  vereinigt  werden  sollte.  Die  wesent- 
liche Anbahnung  dazu  war  gegeben  in  der  Vereinigung  der  Judenchristen 
und  Heidenchristen,  in  der  Aufhebung  der  Scheidewand  zwischen  diesen 
beiden  Bestandtheilen  der  Kirche.  Die  Allgemeinheit  des  Christenthums, 
in  dem  Sinne,  wie  der  Apostel  Paulus  sie  gelehrt  hatte,  ist  die  Grundlage 
der  Allgemeinheit  der  Kirche,  die  in  sich  selbst  durch  Einheit  des  Glau- 
bens verbunden  ist  (Ephes.  3 ,  4—7).  Die  Idee  des  allumfassenden  Reiches 
Gottes  wurde  entgegengesetzt  dem  jüdischen  Particularismus ,  der  heid- 
nischen Religionsmengerei,  entgegengesetzt  dem  römischen  W^eltreiche, 
welches  die  Einheit  auf  Unterdrückung  der  Nationalitäten  gründete.  Dem 
römischen  Weltreiche  stand  entgegen  die  erhabene  Idee  des  Reiches  Got- 
tes, worin  alle  Völker  durch  den  sanften  Hirtenstab  des  Menschensohnes 
zusammengefasst  werden  sollten.  Doch  diess  sind  nur  die  Vorbedingungen 
der  Katholicität. 

Nach  dem  Tode  des  letzten  Apostels,  Johannes,  befand  sich  die 
Kirche  in  grosser  Verlegenheit  wegen  der  Häretiker,  besonders  wegen  der 
heidenchristlichen  Gnostiker.  Juden  und  Heiden  warfen  den  Christen  vor, 
dass  es  so  viele  Sekten  unter  ihnen  gebe.  Es  galt,  die  Identität  des 
christlichen  Glaubens  darzulegen.  Verlassen  von  der  apostolischen  Hilfe 
musste  die  Kirche  doppelt   die  Schwierigkeit    dieser  Aufgabe   fühlen,    und 


1)  Ritschi,  die  altkathalische  Kirche.  2.  Ausgabe.  —  Hackenschmidt,  die 
Anfänge  des  katholischen  Kirchenbegriffs.  Strassb.  Schulz  u.  Comp.  1875.  —  Holtz- 
mann,  Kanon  und  Tradition  1859. 


ZusammenfassuDg  der  Gläubigen  als  katholische  Kirche.  95 

doch  hing  an  der  Bekämpfung  der  Häretiker,  an  dem  Siege  über  dieselben 
die  Fortdauer  des  Christenthums.  Wenn  die  genannten  Häresieen 
die  Oberhand  erhielten,  so  war  es  um  das  Christenthum  ge- 
schehen. Es  war  aber  unmöglich,  die  Häretiker  blos  durch  Berufung 
auf  die  Schrift  zu  widerlegen,  denn  erstens  war  diese  noch  sehr  wenig 
verbreitet.  Viele  hatten  das  Christenthum  blos  durch  mündlichen  Unter- 
richt, wie  Irenäus  3,  4  sich  treffend  ausdrückt,  ohne  Papier  und  Dinte 
(sine  carta  et  atramento)  erhalten.  Ueberdiess  war  es  für  die  Kirchen- 
lehrer eine  äusserst  schwierige  Aufgabe,  die  Interpretation  der  Häretiker, 
wodurch  sie  ihre  Ideen  in  die  Schrift  hineintrugen,  abzuweisen;  denn  sie 
selber  trieben  zum  Theil  dieselbe  Art  von  Auslegung.  Die  Häretiker 
Hessen  ja  auch  manche  Bücher  der  heiligen  Schrift  als  unächt  fallen,  sie 
gaben  vor,  allein  den  Schlüssel  des  richtigen  Verständnisses  der  Schrift 
zu  besitzen,  sie  beriefen  sich  auf  eine  geheime  Ueberlieferung  von  den 
Aposteln  her.  Hätte  sich  die  Kirche  ausschliesslich  auf  die  heilige  Schrift 
berufen,  so  würde  sich  die  Kirche  von  Anfang  an  in  kleine  Gemeinschat- 
ten aufgelöst  haben. 

Wie  sollte  in  dieser  äussersten  Gefahr  geholfen  werden?  Die  Kirche, 
noch  so  nahe  an  die  apostolische  Zeit  hinaufreichend,  hatte  ein  einfaches 
Mittel  an  der  Hand,  um  die  Häretiker  zu  widerlegen.  Der  Apostel  Stimme 
hatte  in  den  bedeutendsten  Städten  des  Reiches  ertönt;  sie  hatten  Ge- 
meinden daselbst  gestiftet  und  geleitet  und  sie  nachher  ihren  zum  Theil 
noch  lebenden  Schülern  übergeben,  im  Morgenlande,  ausser  in  Jerusalem, 
in  Antiochien,  in  Syrien,  in  Ephesus,  in  Kleinasien  und  in  anderen  Städten 
Kleinasiens,  in  Alexandrien,  sofern  man  die  Stiftung  der  dortigen  Ge- 
meinde auf  den  Evangelisten  Marcus  zurückführte,  in  Griechenland,  in 
Korinth,  in  Philippi,  in  Thessalonich,  —  im  Abendlande,  in  der  einzigen 
Stadt  Rom.  Von  diesen  Städten  war  das  Evangelium  in  die  kleineren 
Städte  und  Ortschaften  und  in  die  Landschaften  gedrungen.  Auf  diesen 
Thatbestand  richteten  die  angesehensten  Kirchenlehrer  die  Aufmerksam- 
keit der  Gläubigen,  welche  die  Häretiker  zu  sich  herüber  zu  ziehen  such- 
ten. Irenäus  (3,  3)  hob  hervor,  dass  Polykarp,  Bischof  von  Smyrna,  von 
den  Aposteln  unterrichtet,  mit  ihnen  umgehend,  von  ihnen  zum  Bischof 
eingesetzt,  den  auch  er  (Irenäus),  gesehen  und  gehört  habe,  immer  mir 
das  gelehrt,  was  er  von  den  Aposteln  empfangen.  Sein  Zeuguiss  sei  weit 
gewichtiger  als  dasjenige  eines  Valentin.  Auch  die  Kirche  von  Ei)hesus, 
von  Paulus  getiftet,  von  Johannes  geleitet,  sei  ein  getreuer  Zeuge  der 
apostolischen  Ueberlieferung.  Tertullian  (de  praescriptione  haereticorum 
c.  21J)  lehrt  übereinstimmend  mit  dem  Bischof  von  Lyon:  ,,Was  die  Apostel 
gelehrt,  das  kann  man  nicht  anders  erfahren  als  durch  dieselben  Kirchen, 
welche  sie  gegründet,  in  denen  sie  zuerst  mündlich,  sodann  durch  ihre 
Schriften  gepredigt  haben.  Mithin  ist  alle  Lehre  als  authentisch  anzu- 
sehen, welche  mit  diesen  apostolischen  Kirchen,  Gebärmüttern 
und  urspünglichen  Stätten  des  Glaubens  (matrices  et  originales 
fidei)  übereinstimmt,  ib.  c.  36.  Durchgehe  die  apostolichen  Kirchen,  in 
welchen  die  Lehrstühle  der  Apostel  selbst  das  Präsidium  führen,  in  welchen 
ihre  authentischen  Briefe  vorgelesen  werden,   welche   die  Stimme  und  das 


96  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Antlitz  eines  jeden  vergegenwärtigen/*  Er  spricht  noch  weiter  von  den 
sedes  apostolicae,  von  welchen  die  übrigen  Kirchen  die  Ueberlieferung  des 
Glaubens  und  den  Saamen  der  Lehre  (traducem  fidei  et  semina  doctrinae) 
entlehnt  haben  und  immerfort  noch  entlehnen,  um  Kirchen  zu  werden. 

Irenäus  (3,  4)  hob  hervor,  „man  solle  nicht  bei  Anderen  die  Wahrheit 
suchen,  welche  bei  der  Kirche  leicht  zu  linden  ist,  da  die  Apostel  selbst 
in  dieselbe  als  in  ein  reiches  Behältniss  (depositorium  dives)  vollständig 
Alles  hineingetragen  haben,  was  zur  Wahrheit  des  J>angeliums  gehört. 
Wenn  sich  ein  Streit  über  eine  theologische  Frage  erhebt,  sollte  man 
nicht  zu  den  ältesten  Kirchen  seine  Zuflucht  nehmen,  in  welchen  die  Apo- 
stel gelehrt  haben,  und  von  ihnen  die  Entscheidung  erw^arten?  Was  sagea 
wir?  Wenn  die  Apostel  uns  keine  Schriften  hinterlassen  hätten,  müsste  man 
nicht  die  Ordnung  der  Ueberlieferung  befolgen,  die  sie  denjenigen  anver- 
trauten, welchen  sie  die  Kirchen  übergaben?  Welcher  Ueberlieferung  viel'3 
barbarische  Völker  zustimmen,  die  an  Christum  glauben  und  ohne  Papier 
und  Dinte  das  Heil  in  ihren  Herzen  geschrieben  festhalten  und  die  alte 
Ueberlieferung  flejssig  befolgen.  Daher  kommt  ihnen  gar  nicht  in  den 
Sinn,  was  die  Gnostiker  Fabelhaftes  lehren.^'  Irenäus  macht  auch  darauf 
aufmerksam,  dass  die  Häretiker  die  heiligen  Schriften  selbst  verstümmeln, 
dass  die  Kirche  allein  die  wahren  unverfälschten  heiligen  Schriften  besitze, 
und  stellt  sie  entgegen  den  vielen  apokryphischen  Schriften,  die  in  der 
häretischen  Kreisen  im  Umlaufe  sich  befänden.  Die  Kirche  gibt  auch  alleiü 
die  wahre  Auslegung  derselben.  Es  ist  diejenige,  welche  mit  dem  Inhalt 
der  mündlichen  Lehre  der  Apostel  übereinstimmt,  wie  sie  noch  jetzt  in 
den  Apostelschülern  und  den  apostolischen  Kirchen  fortlebt.  So  gewöhnte 
sich  die  Mehrzahl  der  Christen  und  zwar  gewiss  schon  vor  den  Zeiten  des 
Irenäus  und  des  Tertullian,  sich  als  Einheit  zu  fühlen,  zusammengehalten 
durch  das  Festhalten  an  der  Ueberlieferung  und  an  der  gemäss  dieser 
Ueberlieferung  ausgelegten  Schrift,  zusammengehalten  durch  die  Aufein- 
anderfolge (successio)  der  Lehrer,  welche  die  reine  Lehre  bew^ahren.  So 
bildete  sich  die  mächtige  Idee  der  allgemeinen,  katholischen  Kirche,  über 
alle  Welt  verbreitet,  in  Einem  Glauben  vereinigt.  Der  Name  exxXijcTta 
xaS^oXixrj  kommt  zum  ersten  mal  vor  in  dem  Brief  des  Bischofs  Ignatius 
an  die  Gemeinde  zu  Smyrna  ^),  welcher  Brief  nebst  den  anderen  desselben 
Verfassers  jedenfalls  in  ein  hohes  Alter  hinaufreicht.  Sodann  kommt  der- 
selbe Name  vor  im  encyklischen  Sendschreiben  der  Gemeinde  zu  Smyrna' 
an  die  Gemeinden  im  Pontus  167  bei  Anlass  des  Todes  ihres  Bischofs  Poly- 
karp  erlassen  2),  woraus  hervorgeht,  dass  in  jenem  Jahre  der  Name  katho- 
lische Kirche  schon  seit  einiger  Zeit  im  Gebrauche  war. 

Mithin  traf  damals  der  Geist  der  jungen  Kirche  eine  andere  Ent- 
scheidung als  der  reformatorische  Geist  des  sechszehnten  Jahrhunderts. 
Die  Kirchenlehrer  des  zweiten  Jahrhunderts  setzen  den  Häretikern  die 
Tradition  entgegen;    die  Reformatoren  verwerfen  die  Tradition  und  gehen 


1)  C.   8.   oTJov   itv   (fayrj    6   fniüxonog ,    fxfi   to    nXrj^o^  €Cto),    loffnfQ   onov   ay   tj 
XQtüTog  Itjüovg,   fxet  rj   txyAtjCtn  xa&okixt]. 

2)  Bei  Euseb.  4,  15.  ytvo^svog  smCxoTioq  T/;f  fy  ^/uvQyrj  xa&oltxrjg  exxXijfftas» 


Sammlung  der  neutestamentlichen  Schriften.  97 

lediglich  auf  die  Schrift  zurück ;  und  doch  ist  bei  aller  nicht  zu  läug- 
nenden  Verschiedenheit  das  Ziel,  welches  beide  Theile  verfolgen,  dasselbe, 
nämlich  die  wahre  Lehre  der  Apostel  unverfälscht  durch  spätere  Zusätze 
kennen  zu  lernen  und  festzuhalten.  Weil  die  Lehrer  des  zweiten  Jahrhunderts 
sich  in  Berührung  mit  einer  noch  unverfälschten  Tradition  befanden,  darum 
gingen  sie  auf  diese  zurück  und  hielten  sich  an  sie,  während  die  Refor- 
matoren, weil  sie  es  mit  einer  im  Laufe  der  Jahrhunderte  sehr  verunrei- 
nigten Tradition  zu  thun  hatten,  sich  von  derselben  hinweg  wendeten,  um 
auf  die  Schrift  zurückzugehen.  Dasselbe  Streben,  welches  die  einen  zum 
Gebrauch  der  Tradition  hin  trieb,  bewog  die  andern,  von  ihr  abzusehen. 
Auf  beiden  Seiten  waltet  derselbe  Geist,  nur  anderer  Mittel  sich  bedienend, 
nur  in  andere  Formen  eingehend. 

Es  lag  also  im  Begriffe  der  Katholicität  die  Vereinigung  von  zwei 
Momenten,  erstens  das  Zurückgehen  auf  die  Apostel,  wobei  von  den  Kir- 
chenlehrern noch  bemerkt  wurde,  dass  alle  Häretiker  hinterher  gekom- 
men, dass  sie  schon  um  deswillen  nicht  im  Besitz  der  Wahrheit  sein  könn- 
ten ,  indem  ihre  Lehren  die  wahre  Lehre  voraussetzten,  sowie  der  Irrthum 
die  Wahrheit  voraussetze,  wovon  er  eben  die  Abirrung  sei.  Dazu  kommt 
als  zweites  Moment,  dass  die  überwiegende  Mehrheit  der  Gläubigen  sich 
auf  dieser  Seite  befindet,  in  Beziehung  worauf  Tertullian  den  Satz  geltend 
macht:  q\iod  apud  multos  unum  invenitur,  non  est  erratum.  Diese  beiden 
Momente  der  Katholicität  finden  wir  schon  bei  Paulus  vertreten.  Im  Briefe 
an  die  Koloss-er  1,5,  deutet  er  auf  das  höhere  Alter  des* reinen  Evan- 
geliums, das  ihnen  gepredigt  worden,  im  Gegensatze  zu  den  später  ge- 
kommenen Irrlehrern  (nQorjxovcrate) ,  sowie  auf  die  allgemeine  Verbreitung 
des  reinen  Evangeliums  {€P  Tiapti  zm  xoc/i«)  im  Gegensatz  zu  dem  ver- 
einzelten Häuflein  der  Irrlehrer  mit  ihrem  Anhange. 

§.  2.    Sammlung  der  ächten,  unverfälschten   neutestament- 
lichen Schriften. 

Die  Art,  wie  die  Häretiker  mit  den  heiligen  Schriften  umgingen,  die 
verstümmelten  und  interpolirten  Schriften,  die  so  in  Umlauf  kamen,  über- 
diess  die  apokryphischen  und  pseudepigraphischen  Schriften,  die  diese  Zeit 
in  Fülle  hervorbrachte  und  woran  auch  solche  sich  betheiligten,  die  durch- 
aus nicht  zu  den  Häretikern  gehörten,  diess  Alles  trieb  die  Kirchenlehrer 
an,  die  ächten,  unverfiilschten  heiligen  Schriften  aufzusuchen  und  sie^u 
unterscheiden  von  den  apokryphischen  und  pseudepigraphischen  Schriften.  — 
Die  Schriften,  die  unseren  neutestamentlichen  Kanon  bilden,  waren  jede 
zunächst  in  einem  gewissen  Kreise  von  Gemeinden  beschlossen  geblieben. 
Die  apostolischen  Briefe  wurden  in  denjenigen  Gemeinden,  an  welche  sie 
gerichtet  waren,  vorgelesen  Kol.  4,  16.  Bis  in  die  ersten  Decennien  des 
zweiten  Jahrhunderts  aber  gab  es  noch  durchaus  keine  Sammlung  der- 
selben. Nun  fing  man  noch  in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  an, 
sie  zu  sammeln.  Die  Sammlung,  erst  weit  später  Kanon  genannt,  umfasste 
zwei  Theile,  die  vier  Evangelien,  ausgeschieden,  w^ie  Irenäus  meldet^  aus 
einer  unzählbaren  Menge  von  apokryphischen  Evangelien;  das  nannte  man 

Herzog,  Kirchengesclüchte  I.  7 


98  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

to  evayyeXioPy  to  evayyeXixov.  —  Dazu  kamen  die  Apostelgeschichte  und 
die  apostolischen  Briefe,  unter  dem  Namen  6  anoatoXoti,  to  anoaiohxov. 
Die  Sammlung  war  noch  durchaus  nicht  vollendet,  im  Einzelnen  nicht  ganz 
festgestellt,  und  verschiedene  andere  Schriften  genossen  auch  ein  grosses 
Ansehen  und  wurden  in  den  Versammlungen  vorgelesen.  Immerhin  ist  es 
ein  grosses  Verdienst  der  katholischen  Kirche  dieser  Zeit,  diese  Sammlung 
gemacht  zu  haben.  Sie  verfuhr  dabei  mit  sicherem  Takte,  wie  die  Ver- 
gleichung  mit  den  apokryphischen  Producten  es  deutlich  beweist.  Was 
wäre  aus  dem  Christenthum  geworden ,  wenn  es  den  Häretikern  gelungen 
wäre,  die  von  ihnen  gebrauchten  heiligen  Schriften  selbst  nur  theilweise  in 
den  Kanon  einzuschmuggeln?  Auch  die  reiche  pseudepigraphische  Litera- 
tur, die  in  diesem  unkritischen  Zeitalter  viele  Bewunderer  fand,  konnte 
den  ächten  heiligen  Schriften  Eintrag  thun ;  schon  als  Gegengewicht  gegen 
diese  Literatur  war  die  genannte  Sammlung  von  grosser  Bedeutung,  und 
eine  Vergleichung  der  kanonisch  gewordenen  Schriften  mit  den  ausserkano- 
nischen  schon  vom  Ende  des  ersten  und  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts 
zeigt,  welche  tiefe  Kluft  zwischen  beiden  Classen  von  Schriften  befestigt  ist. 

§.  3.    Die  Glaubensregel  und  das  apostolische  Symbol. 

Der  Inbegriff  der  apostolischen  Verkündigung,  wie  sie  in  der  münd- 
lichen Ueberlieferung  und  in  den  neutestam entlichen  Schriften  niedergelegt 
worden,  war  .die  Glaubensregel  oder  kirchliche  Regel,  auch  Regel  der 
Wahrheit  genannt  (xapcop  axxXrjaiafTTixog)  bei  Clemens  Alexandr.  Strom. 
7,  15,  xavMf  triq  aXri^eiciq  bei  Irenäus  1,  L  Eeyula  fidei  bei  Tertullian  de 
virg,  veL  1^  de  praescriptione  haeretic.  c.  13.  Species  eornm,  guae  per  praedi- 
cationem  apostolicam  manifeste  tradvntur  bei  Origenes,  de  principiis^  Pro- 
oemiimi).  Diese  Regel  war  keineswegs  eine  von  den  Aposteln  angeerbte 
Formel,  enthielt  aber  die  Summe  der  apostolischen  Predigt,  wie  sie  durch 
die  Ueberlieferung  in  der  heiligen  Schrift  zu  den  späteren  Geschlech- 
tern gekommen  war;  und  darum  konnte  man  sie  als  a  Christo  instituta, 
ah  apostolis  tradita  hinstellen,  wiewohl  sie  in  ihrer  empirischen  Ge- 
stalt nicht  direct  auf  den  Herrn  und  seine  Jünger  zurückgeht.  Sie  wurden 
von  den  Lehrern  in  freier  Form  aufgezeichnet  und  von  ihnen  nach  dem 
jedesmaligen  Bedürfnisse  weiter  oder  enger  gefasst.  Daher  weichen  die 
verschiedenen  Formulare  derselben  von  einander  ab.  Deutlich  tritt  in 
all^n  die  Entgegensetzung  gegen  die  genannten  haeretischen  Irrthümer, 
insonderheit  gegen  die  judenchristlichen,  sodann  gegen  die  heidenchrist- 
lichen hervor.  Die  Glaubensregel  hatte  keinen  öffentlichen,  kirchenrecht- 
lichen Charakter,  zeigt  aber  deutlich  das  Bestreben  und  das  Bedürfniss, 
den  Hauptinhalt  des  Christenglaubens  zu  fixiren,  worauf  auch  der  Name 
xavtav,  regula  hinweist. 

Wir  übergehen  die  kleinen  Ansätze  dazu  in  den  ignatianischen  Brie- 
fen (ad  Trallianos  c.  9^  ad  Smyrnaeos  c.  2,  ad  Magnesios  c.  11)  und  bei 
Justin  (Apol.  1,  6)  und  gehen  sogleich  zu  der  ältesten  und  wichtigsten 
Formel  über,  wie  sie  Irenäus  1,  10,  1  mittheilt: 

;;Die  in  der  ganzen  bewohnten  Welt  bis  ans  Ende  der  Erde  verbreitete 


Die  Glaubensregel  und  das  apostolische  Symbolnm-  99 

Kirche  hat  von  den  Aposteln  und  ihren  Schülern  überkommen  den  Glau- 
ben an  Einen  Gott,  der  Himmel  und  Erde  erschaffen^  —  gegen  den  heid- 
nischen Polytheismus,  gegen  den  gnostischen  Weltschöpfer,  gegen  das 
Emanationssystem,  gegen  den  Dualismus  —  ;,und  an  Einen  Christus,  Sohn 
Gottes,  um  unseres  Heiles  willen  Fleisch  geworden''  —  gegen  die  gnostische 
Lehre  von  einem  oberen  und  unteren  Christus,  zugleich  gegen  den  Doke- 
tismus  —  ,,und  an  den  heiligen  Geist,  der  durch  die  Propheten  verkündigt 
hat  die  Heilsanstalten  (oixovofiiag),  das  Kommen  und  die  Geburt  aus  der 
Jungfrau''  —  gegen  die  Ebioniten  und  einen  Theil  der  Gnostiker  —  ,,das 
Leiden,  die  Auferstehung  und  die  leibliche  Auffahrt  gen  Himmel  unseres 
geliebten  Herrn  Jesu  Christi  und  seine  Wiederkunft  vom  Himmel  in  der 
Herrlichkeit  des  Vaters,  um  Alles  unter  Ein  Haupt  zusammenzufassen  und 
aufzuerwecken  alles  Fleisch  der  ganzen  Menschheit,  damit  vor  Jesu,  unsern 
Herrn  und  Gott,  Heiland  und  König  jegliches  Knie  sich  beuge  derer,  die 
im  Himmel,  auf  Erden,  unter  der  Erde  sind  und  jegliche  Zunge  ihn  bekenne, 
und  damit  er  ein  gerechtes  Gericht  halte  über  alle  Geister  der  Bos- 
heit, die  Gottlosen  und  Ungerechten  in  das  ewige  Feuer  werfe,  den  Ge- 
rechten aber  und  Heiligen,  die  seine  Gebote  gehalten  und  in  der  Liebe 
beharrt  haben,  sei  es  von  Anfang  an  oder  indem  sie  sich  durch  Busse 
erneuert  haben,  Leben,  Unsterblichkeit  und  ewige  Herrlichkeit  gebe." 

Bei  Tertullian  finden  wir  drei  verschiedene  Formeln,  kürzer  gefasst, 
aber  mit  einigen  neueren  Bestimmungen ;  die  kürzeste  ist  die  in  der  Schrift 
de  virg.  vel.  c.  1  mitgetheilte ,  das  neue  darin  ist  dieses,  dass  von  Christo 
gesagt  wird,  er  werde  wieder  kommen  und  richten  die  Lebendigen  und  die 
Todten  auch  durch  die  Auferweckung  des  Fleisches  (per  carnis  etiam  re- 
surr ectionem).  Die  Formel  in  der  Schrift  de  praesrriptione  haeretic.  c.  13 
ist  etwas  weitläufiger;  es  wird  die  Schöpfung  aus  Nichts  genannt,  die 
Schöpfung  durch  das  Wort ,  was  Gottes  Sohn  genannt  worden ;  er  sei  den 
Patriarchen  erschienen  und  zuletzt  in  der  Jungfrau  Maria  herunter  ge- 
bracht worden,  aus  dem  Geist  des  Vaters.  —  Erhöht  nach  der  Aufer- 
stehung zur  Rechten  des  Vaters  habe  er  den  heiligen  Geist  ausgesendet, 
er  werde  wieder  kommen  in  der  Herrlichkeit  u.  s.  w.  ,,Diese  Glaubens- 
regel, sagt  Tertullian,  von  Christo  angeordnet,  ist  bei  uns  keinen  weiteren 
Fragen  unterworfen."  In  der  Schrift  adver sus  Praxeam  c.  2  ist  im  Gan- 
zen dasselbe  gesagt,  nur  mit  montanistischer  Färbung.  Bei  Origenes  (de 
principiis  Prooemium  §.  4)  ist  die  Glaubensregel  schon  complicirter ,  wo- 
durch sich  die  spätere  Periode  der  Entwicklung  kund  gibt,  in  welcher  der 
Gegensatz  gegen  die  ebionitische  und  heidenchristliche  Häresis  weit  schär- 
fer und  ausführlicher  hervorgehoben  und  zugleich  das  Interesse  des  dog- 
matischen Systems  des  Origenes  gewahrt  ist,  indem  er  die  von  der  Kir- 
chenlehre unbestimmt  gelassenen  Punkte  scharf  abzirkelt,  um  für  seine 
Philosopheme  Raum  zu  gewinnen.  Zu  diesen  Formeln  kommt  noch  die 
Glaubensregel  bei  Novatian  de  trinitate  seu  de  regida  fidei,  welche  nur  die 
gewöhnlichen  Erweiterungen  der  Taufformel  bietet,  sodann  die  kurze 
mensura  fidei  bei  Victorin  von  Petavio  in  Oberpannonien ,  j  etzt  Petau  in 
Steyermark,  in  seinen  Scholien  zu  Offenbarung  Job.  11,  1,  und  die 
xadoXixri  didarrxaXia  in  den  apostolischen  Constitutionen  VI,  14  untermischt 

7» 


100  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

mit  sittlichen  Ermahnungen;  es  wird  die  Bemerkung  vorausgeschickt,  dass 
die  Apostel,  wozu  namentlich  Paulus  gerechnet  wird,  zusammen  dieses 
Bekenntniss  aufgesetzt  haben  i). 

In  der  Glaubensregel,  besonders  wie  sie  bei  Irenäus  und  TertuUian 
vorliegt,  haben  wir  das  Glaubensbekenntniss  der  katholischen  Kirche  im 
Kampfe  mit  der  Juden-  und  heidenchristlichen  Häresis  des  zweiten  Jahr- 
hunderts, „den  ersten  nicht  bloss  individuellen,  zusammenfassenden  Aus- 
druck für  den  wesentlichen  Inhalt  des  christlichen  Bewusstseins."  Die 
Fluctuationen  des  Inhalts  lassen  nur  um  so  deutlicher  den  festen  Kern 
erkennen,  der  zu  Grunde  liegt  und  bürgen  auch  für  die  Freiheit  der  Ent- 
wicklung. Wer  also  an  diesem  Bekenntniss  festhielt,  galt  für  katholisch. 
Mit  Recht  konnte  die  katholische  Kirche  erklären,  dass,  wer  sich  von  ihr 
in  dieser  Beziehung  trenne,  des  Heiles  verlustig  gehe. 

Verschieden  von  der  Glaubensregel,  obschon  damit  verwandt,  ist  das 
apostolische  Symbol  um.  Dass  es  nicht  von  den  Aposteln  ist  abge- 
fasst  worden,  so  dass  jeder  der  zwölf  Apostel  einen  Artikel  aufgestellt 
hätte,  diese  erst  im  vierten  Jahrhundert  aufgekommene  Sage  bedarf  heut 
zu  Tage  keiner  Widerlegung.  Eben  so  wenig  braucht  bewiesen  zu  wer- 
den, dass  die  Stellen  1  Tim.  6,  12  cofioXoyrjCTag  trjy  xaXriv  ö^oXoyiai^ 
evoaniov  noXXoav  fiaQzvQmp  und  1  Petri  3,  21  (TvyetdrjO'eMg  ayadi^g  eneQUi- 
trilia  eiq  ^eov ,  Nachfrage  eines  guten  Gewissens  an  Gott  bei  der  Taufe, 
nicht  nothwendig  auf  das  Bekenntniss  des  apostolischen  Symbols,  wie  es 
uns  seit  dem  vierten  Jalirhundert  vorliegt,  bezogen  werden  müssen.  Aller- 
dings war  mit  der  Taufe  ein  Bekenntniss  verbunden.  Wenn  Jesus  seinen 
Jüngern  befiehlt,  alle  Völker  auf  den  Namen  des  Vaters,  des  Sohnes  und 
des  heiligen  Geistes  zu  taufen  (Matth.  28,  19),  so  erhellt  daraus,  dass  die 
Täuflinge  das  Bekenntniss  des  Glaubens  an  den  dreieinigen  Gott  ablegten: 
das  wird  die  ofioXoyia  sein,  welche  Timotheus  ablegt,  das  eneqtüTruia  aig 
^eovy  insofern  der  Täufling  dabei  befragt  wurde  und  als  Antwort  seinen 
Glauben  bekannte  2).  Hilarius  von  Poitiers  derselbe,  der  behauptet,  in 
der  allerersten  Zeit  habe  das  Bekenntniss  des  dreieinigen  Gottes  genügt, 
fügt  hinzu,  dass  die  Tautformel  wegen  der  weit  verbreiteten  häretischen 
Meinungen  erweitert  worden.  Davon  haben  wir  ein  unzweideutiges  Zeug- 
niss  bei  TertuUian,  de  corona  militis  c.  3,  wo  er  die  Taufe  beschreibt: 
ter  mergitamur,  amplius  aliquid  respondentes  quam  Dominus 
in  Evangelio  determinavit.  Bis  in  die  zweite  Hälfte  des  zweitea 
Jahrhunderts  war  also  die  ursprünglich  auf  das  Bekenntniss  des  dreieini- 
gen Gottes  beschränkte  Tauflbrmel  in  etwas  erweitert  worden,  d.  h.  es 
waren  wohl  einige  der  Sätze,  wie  wir  sie  in  der  Glaubensregel  gefunden, 
hinzugekommen.  Doch  in  der  Schrift  de  baptismo  c.  6  deutet  TertuUian 
nur  so  viel  an,    dass   in  der  Taufformel  die  Kirche  erwähnt  werde.    Aus- 


1)  Die  verschiedenen  Formulare  der  Glaubensregel  sind  abgedruckt  in  Hahn,  Bi- 
bliothek der  Symbole  und  Glaubensregeln  der  apostolisch  -  katholischen  Kirche. 

2)  Allerdings  werden  in  der  Apostelgeschichte  die  Täuflinge  lediglich  auf  den  Na- 
men Christi  getauft:  Apostelgesch.  2,  38.  8,  16,  37.  10,  48.  Gal.  3,  27.  Allein  schon 
Basilius  M.  bemerkte  mit  Recht:  y  rov  Xqigtov  xctrtjyoQta  tov  navrog  fCny  ofAoXoyia* 


Die  Glaubensregel  und  das  apostolische  Symbolum.  101 

serdem  erhellt  aus  der  Schrift  de  praescriptione  haeretic.  c.  36,  dass  im 
Taufsymbol  die  Auferweckung  des  Fleisches  erwähnt  war.  Es  ist  mög- 
lich, dass  TertuUian  wegen  der  Arcandisciplin  die  Taufformel  nicht  ge- 
nauer beschreibt.  Bei  Cyprian  ist  sie  schon  weit  mehr  ausgebildet.  Er  führt 
als  Bestandtheile  derselben  die  Vergebung  der  Sünden  und  das  ewige  Leben 
an.  Am  Ende  des  dritten  oder  am  Anfange  des  vierten  Jahrhunderts,  noch  vor 
dem  Concil  von  Nicäa,  d.  h.  im  siebenten  Buche  der  apostolischen  Constitutio- 
nen erscheint  das  Taufbekenntniss  in  sehr  erweiterter  Gestalt ;  es  enthcält  theils 
wesentlich  dasselbe,  was  unser  Taufsymbol,  aber  in  grösserer  Ausführlich- 
keit, theils  fehlt  die  Erwähnung  des  heiligen  Geistes  bei  der  Zeugung 
Christi,  die  Höllenfahrt,  die  Gemeinschaft  der  Heiligen.  Später  verliert 
sich  jene  Weitläufigkeit ,  sowie  das  polemische  Interesse ,  welches  sie  her- 
vorgerufen, zurücktritt,  und  es  kommen  die  mangelnden  Stücke  hinzu,  und 
so  haben  wir  das  fertige  apostolische  Symbol,  aber  erst  im  fünften  Jahr- 
hundert ^). 

Nun   fragt  sich,  wie  verhalten   sich  die  Glaubensregel  und  das  apo- 
stolische Symbol   zu   einander?    Hiebei   ist  wohl  zu  beachten,   dass   dieses 
noch  sehr  unvollständig  entwickelt   war    zu  einer  Zeit,    da  uns  schon  aus- 
führliche Formulare  der  Glaubensregel  vorliegen.      Doch   kann   man    des- 
wegen nicht  sagen,   dass   diese   die  Mutter,    das  Symbol    die  Tochter  sei; 
denn  dieses    existirte   in    seiner    einfachsten  Gestalt    als   Bekenntniss   des 
Glaubens    an  den  dreieinigen  Gott   vor    der  Glaubensregel   und    dasselbe 
Bekenntniss  war  der  feste  Kern,    der  der  Glaubensregel  zu  Grunde  liegt. 
Nun  bildete  sich  um  jenen  festen  Kern  ein  Inbegriff  der  christlichen  Lehre 
und  wurde  im  Kampfe  mit  den  Häretikern  erweitert.      Er  mag  als  Grund- 
lage des  Katechumenenunterrichts  gedient  haben  und  wurde  auch  als  Au- 
toritätswaffe gegen  die  Häretiker  gebraucht,    während   die  Kirche  bei  Er- 
theilung  der  Taufe  sich  noch  einige    Zeit   mit  dem  einfachen  Bekenntniss 
des  Glaubens  an  den  dreieinigen  Gott  begnügte.      Nun   aber   entstand  das 
Bedürfniss,  den  Gegensatz  der  gesunden  Lehre  gegen  die  häretische  nicht 
nur  theologisch,  sondern  auch  kirchlich  festzustellen,    und  die  Katechume- 
nen  vor  der  Gefahr  der  Häresie  durch  ein  w^eitläufigeres  Bekenntniss  sicher 
zu  stellen.    So  wurde  das  Taufbekenntniss    allgemach   erweitert,   und  die- 
selben Verhältnisse,  welche  früher  die  einzelnen  Artikel  der  Glaubensregel 
ins  Leben  gerufen,  bewirkten  nun,  dass  dieselben  Artikel  einer  nach  dem 
anderen  dem  Taufsymbol  beigefügt  wurden;  so  wurde  es  factisch  der  Erbe 
der  Glaubensregel,   erhielt  auch  von  ihr  her  den  Ehrennamen  apostolisch 
und  wurde  vom  vierten  Jahrhundert  an  selbst  regida  fidei  genannt. 
S.  Stockmeyer,    wann  und  auf  welche  Veranlassung    ist  das  apostolische  Symbolnm 
entstanden.     Basel  1846.    —     Gas  pari,    Urkundensammlang   zur  Geschichte   des 
Taufs3'mbols  I.Band  —  der  es  in  seiner  römischen  Form  bei  Hahn  S.  3  in  das  apo- 
stohsche  Zeitalter   hinaufrückt.  —    Güder,   Artikel   Glauhensregel   in   der   Real- 
encyklopädie.  —    v.  Zezschwitz,  System  der  Katechetik  S.  70ff.  —    Semisch, 
das  apostolische  Glaubensbekenntniss ,  sein  Ursprung,  seine  Geschichte  1872. 


1)  In  der  römischen  Form  nach  Hufinus   In  der  eXpositio  symboli  apost.  bei  Hahn 
a.  ft.  0.  S.  3- 


1Ö2  ferste  Periode  des  alten  Katholicisniüä. 


§.  4.    Begriff  der  Häresis,  des  Häretischen. 

^iQSOig  war  zuvörderst  vox  media,  Bezeichnung  einer  jeden  durch 
eigenthümliche  Grundsätze  und  Tendenz  sich  kund  gebenden  Partei;  das 
Wort  wurde  angewendet  auf  die  Schulen  der  Philosophen,  selbst  der  Ju- 
risten, im  Neuen  Testament  zunächst  von  den  Sadducäern  Apostelgesch. 
5,  17,  von  den  Pharisäern  Apostelgesch.  15,  5  gebraucht,  auch  zur  Be- 
zeichnung der  Bekenjier  Christi  Apostelgesch.  24,  5.  28,  20.  Paulus  ge- 
braucht den  Ausdruck  von  den  Christen  aus  Accommodation,  Apostelgesch. 
24,  14  xata  triv  oöov  ri^  ksyovaiy  alqeaiv.  Also  findet  er  etwas  Tadelnh- 
werthes  in  der  Sache,  die  dadurch  bezeichnet  wird.  Dieses  Tadelnswerthe 
legt  Paulus  in  den  Begriff  Tit.  3,  10;  es  ist  Abirrung  von  der  gesunden 
Lehre,  die  Spaltung  erregt,  darunter  verstanden,  aber  noch  zusammenge- 
stellt mit  (Txicriia  1  Cor.  11,  19.  Gal.  5,  20.  Sehr  scharf  tritt  er  gegen  den 
häretischen  Menschen  auf,  den  man  nach  ein-  oder  zweimaliger  Ermahnung 
meiden  soll  Tit.  3,  10.  Auf  dieser  Grundlage  erbaute  sich  der  Begriff  der 
Häresis  mit  Hinzunahme  des  Begriffs  der  Katholicität. 

1)  Häretiker  <6ind  diejenigen,  die  von  der  apostolischen  Lehre  ab- 
weichen, wie  sie  zumal  in  der  Glaubensregel  zusammengefasst  ist.  ;,Sie 
bringen  fremdes  Feuer  auf  den  Altar  Gottes,  d.  h.  fremde  Lehre  und  wer- 
den daher  vom  himmlischen  Feuer  verzehrt  werden,"  sagt  Irenäus  4,  26.  2. 

2)  Insofern  sie  vom  gemeinsamen  Glauben  der  katholischen  Kirche  ab- 
weichen,   constituiren  sie  sich  als  Einzelpartei,    als   rebellische  Minorität. 

3)  Insofern  die  Glaubensregel  durch  die  Bischöfe  gehandhabt  wird,  sind  die 
Häretiker  solche,  welche  den  Bischöfen,  die  von  den  Aposteln  abstammen, 
den  Gehorsam  aufsagen ,  sich  von  ihnen  abwenden ,  um  da  und  dort  se- 
parirte  Häuflein  zu  bilden.  4)  Die  Häresis  führt  unter  christlichen  Namen 
unchristliche  Lehren  ein,  sie  verdirbt  den  Sinn  der  biblischen  Aus- 
drücke. Das  Gefährliche  der  Häresis  besteht  eben  in  diesem  äusseren 
Zusammenhange  mit  dem  Christenthum.  Sie  ist  ein  tödtendes  Gift  mit 
Honig  vermischt,  nach  Ignatius  an  die  Gemeinde  zu  Tralles  c.  6;  derselbe 
nennt  sie  auch  Wölfe,  die  sich  glaubwürdig  stellen  ßvxoi  a^ioTicatot,  an 
die  Philad.  c.  2).  5)  Die  Häresis  entspringt  aus  subjectiver  Willkür,  aus 
Mangel  an  Glauben,  aus  Vermischung  des  Christenthums  mit  der  Philo- 
sophie; dazu  kommen  Ehrgeiz,  Habsucht  und  andere  irdische  Motive.  Sie 
zeigt  eine  grosse  Zerfahrenheit,  wogegen  die  katholische  Lehre  dieselbe 
ist  in  allen  Kirchen  (doch  wie  viele  Ausnahmen  gab  es  davon!).  6)  Die 
Häresis  ist  das  hinterher  gekommene,  die  katholische  Wahrheit  das  Ur- 
sprüngliche und  schon  um  deswillen  das  Wahre.  1)  Ignatius  empfiehlt  für 
die  Häretiker  zu  beten  (ad  Smyrn.  c.  4),  im  Allgemeinen  wich  man 
den  Erörterungen  mit  ihnen  aus  und  schloss  sie  von  der  Gemein- 
schaft mit  der  Kirche  aus,  sie  dem  Schicksale  von  Chore,  Dathan  und 
Abiron  überlassend.  Es  zeigt  sich  darin  eine  polemische  Heftigkeit,  die 
leider  nur  zu  leicht  zu  erklären  ist.  Welche  Aeusserungen  in  dieser  Be- 
ziehung selbst  dem  Apostel  Johannes  zugeschrieben  wurden,  davon  ist 
schon  die  Rede  gewesen.    In  seinem  zweiten  Briefe  v.  10.  11  hatte  er  alle 


Geschichte  der  Rheologie.  1Ö3 

Gemeinschaft  mit  den  Häretikern  untersagt.  Es  war  allerdings  nöthig, 
dass  ein  starker  Abscheu  gegen  die  Häresis  entstünde,  damit  das  Ganze 
der  Kirche  vor  ihrem  Gifte  bewahrt  bliebe. 

So  waren  denn  die  Anstalten  getroffen,  welche  das  fernere  Eindrin- 
gen der  Häresis  in  die  Christenheit  verhindern  sollten.  Die  Kirchenlehrer 
begnügten  sich  aber  nicht  damit.  In  der  Behandlung  der  Dogmen,  im 
Ganzen  wie  im  Einzelnen  nahm  die  Kirche  eine  Kampfstellung  ein  gegen 
die  gefahrdrohende  Häresis,  dieselbe  Kampfstellung  nehmen  wir  wahr 
in  Hinsicht  der  Verfassung,  sogar  des  Cultus  und  der  Sitte.  In  allen 
Zweigen  der  kirchlichen  Entwicklung  bildete  sich  im  Gegensatz  gegen  die 
häretischen  Abirrungen  ein  bestimmter,  katholischer  Typus  aus,  zum 
deutlichen  Beweise,  welchen  mächtigen  indirecten  Einfluss  die  Häresis  auf 
die  Kirche  ausgeübt  hat. 


Vierter  Abschnitt. 


Die  Geschichte  der  Theologie. 

Dasselbe  polemische  Interesse,  welches  die  Gegenanstalten  der  Kirche 
gegen  die  judenchristliche  und  heidenchristliche  Häresis  hervorgerufen, 
wozu  noch  das  apologetische  Interesse  gegen  die  Angriffe  der  Juden  und 
Heiden  hinzukam,  gab  immerfort  mächtigen  Antrieb  zum  Anbau  der  Theo- 
logie, und  diese  erheischt  um  so  mehr  unsere  Aufmerksamkeit,  je  mehr 
sie  massgebend  wurde  für  alle  folgende  Zeit.  Es  entwickelte  sich  zumal 
in  der  griechich- morgenländischen  Kirche  schon  ein  ziemlich  reges  theo- 
logisches Leben,  welches,  von  bescheidenen  Anfängen  ausgehend,  bald 
kühn  genug  war,  sich  an  die  Lösung  der  schwierigsten  Probleme  der 
Theologie  zu  wagen.  Es  zeigte  sich  dabei,  welch'  einen  weiten  Gesichts- 
kreis das  Christenthum  dem  denkenden  Geiste  eröffnet.  Das  Streben  nach 
Uebereinstimmung  in  der  Lehre  beschränkte  so  wenig  die  Freiheit  der 
Entwicklung,  dass  bereits  sehr  verschiedenartige  Richtungen  aus  dem 
Schosse  der  katholischen  Kirche  hervorgingen.  So  zeigte  sich  eine  sehr  in 
die  Augen  fallende  Verschiedenheit  zwischen  der  griechisch- morgeiilän- 
dischen  und  der  lateinisch -abendländischen  Theologie  und  besonders  in 
jener  schon  sehr  verschiedenartige  Richtungen,  auch  neue  Abirrungen. 


Erstes  CapiteL    Die  Kirchenlehrer  und  Kirchenschriftsteller 

§.  1.   der  griechisch-morgenländischen  Kirche. 

Es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  dass  das  christliche  Dogma  zunächst 
weniger  entwickelt  und  erläutert,  als  einfach  bezeugt  wurde  nebst  prak- 
tischer Anwendung  desselben;  und  auch  dann,  als  es  nöthig  schien,  gegen 


1Q4  Erste  Periode  des  ^Iten  Katholicismus. 

die  waclisende  Macht  der  Häresie  noch  stärker  aufzutreten,  gab  es  Lehrer, 
welche  sorgfältig  jede  Anschliessuug  an  die  hellenische  Philosophie  ver- 
mieden, von  der  ja  eben  die  gnostische  Häresis  abgeleitet  wurde. 

I.  In  den  Kreis  dieser  Richtung  gehören  zuvörderst  einige  Männer, 
die  noch  zu  den  apostolischen  Vätern  gerechnet  werden. 

Hier  kommt  zunächst  der  Brief  des  Barnabas  in  Betracht  der  von 
Clemens  Alexandr.  Strom  2,  6  und  in  anderen  Stellen  sowie  von  Origenes 
c.  Celsum  1,  63  als  ächte  Schrift  dieses  aus  der  Apostelgeschichte  bekann- 
ten Mannes  angesehen  und  benützt,  dagegen  von  Euseb.*3,  25  zu  den  vo^oiq 
und  von  Hieronymus  de  viris  ill.  c.  6  zu  den  apokryphischen  Schriften 
gerechnet  wird.  Es  ist  allerdings  nicht  wohl  möglich,  dass  ein  aposto- 
lischer Mann  das  mosaische  Gesetz  als  das  Werk  eines  bösen  Engels  be- 
trachtete (c.  9),  die  Apostel  als  vor  allen  grosse  Sünder  bezeichnete  c.  ö 
(vnsQ  naaav  a^agtiap  apofiMT€Qövg)^  das  Fasten  der  Juden  völlig  verwarf 
c.  3 ,  da  doch  aus  der  Apostelgeschichte  bekannt  ist,  dass  Barnabas  fastete 
13,  2.  3.  14,  23.  Er  leugnet  sogar,  dass  Gott  jemals  mit  den  Israeliten 
im  Bundesverhältniss  gestanden.  Der  Verfasser  ist  ein  Heidenchrist,  dei' 
im  Anfang  der  Regierung  Hadrians  schrieb,  wie  aus  mehreren  Anzeichen 
hervorgeht.  Zweck  des  Briefes  ist,  zu  erweisen,  dass  der  alte  Bund, 
buchstäblich  verstanden,  nicht  giltig  ist,  dass  er  dagegen,  geistig  verstan- 
den, ein  Vorbild  ist  auf  den  neuen,  an  den  die  Christen  sich  allein  zu 
halten  haben;  diese  Erkenntniss,  diese  Gnosis  will  der  Verfasser  seiner 
Lesern  vermitteln  —  durch  ausschweifende  Anwendung  der  allegorischen 
Auslegung.  Das  autfallendste  Beispiel  davon  ist  die  allegorische  P>klärung 
der  Zahl  der  dreilmndertundachtzehn  Sclaven  des  Abraham,  wo  die  beiden 
ersten  Buchstaben  I  und  H  (10  +  8)  Jesum  bedeuten  und  weil  das  Kreuz 
Gnade  verschaffen  sollte,  so  w^erden  dreihundert  hinzugesetzt,  welche  durch  T 
das  Zeichen  des  Kreuzes  bezeichnet  werden;  ^ich  habe  das  noch  Niemand 
mitgetheilt,  setzt  der  Verfasser  hinzu,  aber  ich  weiss,  dass  ihr  dess  wür- 
dig seid"  c.  9.  Der  Brief  ist  gegen  judenchristliche  Häresie,  so  wie  auch 
gegen  die  Juden  selber  gerichtet,  und  das  Hervorheben  der  Gnosis  deutet 
darauf,  dass  zur  Zeit  der  Abfassung  das  Streben  nach  Gnosis  sich  in  der 
Kirche  lebhaft  kund  gab  i). 

Der  bereits  in  der  Geschichte  der  Verfolgungen  erwähnte  Ig- 
natius,  Bischof  von  Antiochien,  kommt  hier  in  Betracht  wegen  der 
ihm  zugeschriebenen  Briefe.  Er  war  Bischof  von  Antiochien  und  nach 
den  Märtyreracten  Schüler  des  Johannes,  was  jedoch  nicht  richtig 
sein  kann,  da  er  in  allen  Briefen,  die  seinen  Namen  tragen,  nirgends 
andeutet,  dass  er  einen  der  Apostel  gekannt  habe,  so  wie  er  auch  Bischof 
Polykarp  nicht  gesehen  bis  kurze  Zeit,  bevor  er    ihm    schrieb.     Er   erlitt 


1)  Dieser  Brief  ist  öfter  besonders  herausgegeben  worden,  zuletzt  1869  durch  J,  G. 
Müller,  auf  Grund  des  vollständigen  griechischen  Textes,  der  sich  glücklicherweise  im 
codex  sinaiticus  des  Neuen  Testaments  vorgefunden.  Die  beigefügten  Anmerkungen  geben 
eine  sehr  genaue  Erläuterung  des  Textes  —  so  wie  aller  einleitenden  Fragen  über  Be- 
schaffenheit des  Briefes,  der  Abfassung  u.  s.  w.  Kiggenbach  (der  sogenannte  Brief 
des  Barnabas  1873)  gibt  die  deutsche  üebersetzung  und  Bemerkungen  dazu.  —  Siehe 
ausserdem  das  Programm  von  Weizsäcker  zur  Kritik  des  Bamabasbriefea.  1863. 


Geschichte  der  Theologie.     Ignatius.  105 

unter  Trajan  109  —  oder  116  in  Rom  den  Märtyrertod,  indem  er  den 
wilden  Thieren  vorgeworfen  wurde.  Dass  der  Kaiser  ihn  nach  Rom  trans- 
portiren  Hess,  das  macht  keine  Schwierigkeit.  Es  geschah  oft,  dass  die 
Provincialstatthalter  Material  zu  Hinrichtungen  in  andere  Provinzen  schick- 
ten, also  nicht  auffallend,  dass  sie  auch  nach  Rom  solches  Material  lieferten. 
Vielleicht  hoffte  der  Kaiser,  Ignatius  werde  durch  die  beschwerliche  Reise 
in  der  treuen  Festhaltung  an  seinem  Bekenntnisse  wankend  gemacht  wer- 
den. Dieser  Mann  soll  nun,  auf  der  Wegführung  nach  Rom  verschiedene 
Briefe  geschrieben  haben,  die  wichtig  sind  für  die  Geschichte  der  Kirchen- 
verfassung, aber  auch  für  das  Dogma,  indem  wir  aus  ihnen  den  Zustand 
der  Häresis  in  diesem  Jahre,  wo  der  Verfasser  schrieb,  kennen  lernen.  — 
Im  Ganzen  tragen  fünfzehn  Briefe  den  Namen  des  Ignatius,  sind  aber 
offenbar  von  sehr  verschiedenem  Alter  und  Werthe.  Es  kommen  eigent- 
lich nur  die  sieben  von  Euseb.  3,  36  angeführten  in  Betracht:  an  die  Ge- 
meinde zu  Magnesia,  Tralles,  Philadelphia,  Smyrna,  Ephesus,  Rom  und 
der  an  Bischof  Polykarp.  Sie  finden  sich  in  einer  längeren  und  in  einer 
kürzeren  Recension  vor.  Im  Allgemeinen  neigt  sich  das  Urtheil  dahin, 
dass  die  kürzere  Recension  der  längeren  vorzuziehen,  dass  sie  als  dem 
ächten  Texte  näher  stehend  anzusehen  sei.  Euseb  kennt  keine  anderen 
Briefe,  als  die  genannten  sieben,  und  hat  niemals  von  einem  Zweifel  an  der 
Aechtheit  derselben  gehört.  Man  hat  in  der  starken  Anpreisung  des  Epis- 
kopats die  Spur  einer  späteren  Abfassung  oder  einer  Interpolation  dieser 
Briefe  zu  finden  geglaubt,  aber  gerade  diese  starke  Anpreisung  scheint 
darauf  zu  deuten ,  dass  der  Episkopat  noch  jungen  Datums  ist  und  gar 
sehr  der  Unterstützung  bedarf.  Ueberdiess  ist  der  Episkopat  anders  ge- 
fasst,  als  bei  den  anderen  Vätern,  z.  B.  bei  Irenäus,  der  die  Bischöfe  als 
Nachfolger  der  Apostel  ansieht,  während  die  Briefe  des  Ignatius  sie  als 
Nachfolger  und  Stellvertreter  Christi  auffassen,  und  die  Presbyter  als 
Nachfolger  der  Apostel,  ein  Verhältniss,  welches  an  die  Nähe  der  Ge- 
meinde zu  Jerusalem  erinnert,  welche  Gemeinde  eine  Zeitlang  leibliche 
Verwandte  des  Herrn  zu  Bischöfen  oder  Vorstehern  wählte.  Zudem  ist  der 
Episkopat  bei  Ignatius  nicht,  wie  er  sonst  in  der  katholischen  Kirche  auf- 
tritt, Organ  der  Verbindung  der  Gemeinden,  er  ist  lediglich  Gemeinde- 
amt, er  hat  keine  über  die  Grenzen  der  Ortsgemeinde  übergreifende  Be- 
deutung. Man  hat  in  der  ciyri ,  angeführt  im  Brief  an  die  Magnesier  c.  8, 
eine  deutliche  Spur  der  Valentinianischen  Gnosis  zu  finden  geglaubt  und  dar- 
aus einen  neuen  Grund  gegen  die  Aechtheit  abgeleitet.  Allein  bei  Hippolyt 
lib.  6, 18  wird  ein  Fragment  aus  der  anocfaaiq  ^eyalrj  des  Magiers  Simon  mit- 
getheilt ,  woraus  deutlich  erhellen  soll ,  dass  Simon  den  Begriff  der  (Tiyfj 
kannte  *).  Eine  starke  Instanz  gegen  die  Aechtheit  hat  man  gefunden  in  den 
Resultaten  der  Forschungen  des  Engländers  Cureton ;  er  hatte  1839  und  1843 
in  der  nitrischen  Wüste  zwei  syrische  Handschriften  gefunden,  welche  den 
Brief  an  Polykarp,  den  an  die  Ephesier  und  den  an  die  Römer  enthielten. 
Der  Text  dieser  syrischen  Briefe  ist  nun  noch  kürzer  als  der  der  kürzeren 


1)  Es  bleibt  freilich  mehr  als  unsicher,   ob  diese   nnoipaffts  /LKyttlrj  der  Zeit  vor 
Valentin  angehört,  ob  sie  von  Simon  herrührt. 


106  Erste  Periode  des  alten  Katholicismüs. 

bereits  genannten  Recension  der  sieben  Briefe,  und  es  wird  der  Episkopat 
nicht  gar  so  hoch  gestellt,  als  Stellvertretung  Christi,  wie  in  jener  Re- 
cension. Das  erklärt  sich  vielleicht  daraus,  dass  der  syrische  Auszug,  den 
Cure  ton  gefunden,  nur  für  den  liturgischen  Gebrauch  bestimmt  war.  Auf 
jeden  Fall  ist  kein  zwingender  Grund  da,  warum  man  diese  syrischen  Do- 
cumente  als  die  einzig  ächten  Reliquien  des  Ignatius  ansehen  sollte.  Auf 
der  anderen  Seite  muss  die  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlichkeit,  dass  Inter- 
polationen angebracht  wurden,  anerkannt  werden  i). 

Polykarp,  der  aus  der  Geschichte  der  Verfolgungen  bekannte  Bi- 
schof von  Smyrna,  der  daselbst  167  auf  dem  Scheiterhaufen  sein  Leben 
endete,  nach  Irenäus,  der  einst  sein  Schüler  gewesen,  von  Aposteln  un- 
terrichtet, von  Aposteln  zum  Bischof  von  Smyrna  eingesetzt  (Iren.  adv. 
haer.  3,  3.  4),  vertrat  im  Leben  und  im  Sterben  die  apostolische  Tradition 
der  kathohschen  Kirche  und  bezeugte  immer  einen  grossen  Abscheu  vor  den 
gnostischen  Lehren,  so  dass,  wenn  etwas  davon  vor  ihm  geäussert  ward, 
er  auszurufen  pflegte:  „o  guter  Gott,  auf  welche  Zeiten  hast  du  mich 
aufbewahrt,  dass  ich  solches  erleben  muss."  Euseb.  5,  20.  Derselbe  ist 
Verfasser  eines  Briefes  an  die  Gemeinde  zu  Philipp! ,  dessen  Aechtheit 
durch  das  Zeugniss  des  Irenäus,  des  Schülers  von  Polykarp,  bestätigt  wird 
(Iren.  3,  3.  4);  und  der  zugleich  die  erste  Anführung  der  ignatianischen 
Briefe  enthält  c.  9  und  13.  Der  Brief  verdankt  seine  Entstehung,  wie  es 
scheint,  einer  schmerzlichen  Erfahrung,  welche  die  Gemeinde  gemach', 
hatte  ,  da  der  Presbyter  Valens  mit  seiner  Frau  Gemeindegelder  unter- 
schlagen hatte.  Polykarp  ermahnt  die  Philipper  zu  sanfter  Behandlung 
dieser  Leute  und  wünscht,  dass  Gott  ihnen  wahre  Sinnesänderung  ein- 
flösse c.  11,  der  Brief  enthält  ausserdem  noch  allerlei  sittliche  Ermahn- 
ungen, die  sich  auch  speciell  an  die  einzelnen  Stände  richten.  Zugleich 
zeigt  sich  der  Verfasser  als  Bekenner  der  paulinischen  Rechtfertigungs- 
lehre (c.  1).  Er  warnt  vor  dem  gnostischen  Irrthum  des  Doketismus,  und 
zwar  mit  denselben  Worten  wie  Johannes.  Die  Menschwerdung  des  W^ortes 
heisst  bei  ihm  elevciq  ev  caqui  1  Joh,  4,  2  2). 

In  den  Testamenten  der  zwölf  Patriarchen,  geschrieben  zu 
Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  von  einem  Judenchristen,  der  in  der 
Form  erdichteter  Abschiedsreden  der  Söhne  Jakobs  an  ihre  Söhne  die  noch 
dem  Christenthum  fern  stehenden  Juden  zur  Annahme  desselben  einladet, 
sind  hauptsächlich  sittliche  Ermahnungen  enthalten,  woran  sich  Weissag- 
ungen anschliessen.  Das  Judenchristenthum  des  Verfassers  hat  nichts 
Ebionitisches  an  sich;  denn  er  erkennt  Paulus  als  Apostel  an  und  Christus 
ist  ihm  mehr  als  Prophet,  er  ist  ihm  Hoherpriester ,  nirgends  deutet  er 
an,  dass  die  Heiden  bei  dem  Eintritt  in  die  Kirche  sich  der  Beschneidung 
unterwerfen  sollen. 

Ebenfalls  judenchristlicb,  aber  nicht  ebionitisch  ist  der  Standpunkt  des 


1)  Vgl.  Ignatius  von  Antiochien  von  Dr.  Zahn.  187S. 

2)  Wegen  der  Aufforderung  c.  5  sich  den  Presbyteren  und  Diakonen  zu  untetwer* 
fen  (üg  d^fio  xai  ^gtcra,  eine  Interpolation  dieser  Stelle  anzunehmen,  scheint  nicht  ge» 
rechtfertigt. 


beschichte  der  Theologie.    Hermas.    Papias.  107 

Verfassers  der  Schrift:  der  Hirte  i),  der  sich  selbst  auf  den  Begleiter  des 
Apostels  Paulus,  Hermas  Rom.  16,  14  zurückführt.  Die  Schrift,  die  sich 
in  Visionen  bewegt,  ist  hauptsächlich  ethischen  Inhalts,  sie  ist  eine  Buss- 
predigt an  die  hochmüthigen  Geistlichen,  an  die  sittlich  erschlafften  Laien, 
eine  Busspredigt,  geschärft  durch  die  Ankündigung:  der  Herr  ist  nahe, 
plötzlich  kann  er  kommen.  Die  Schrift  hat  mit  dem  Montanismus  Aehn- 
lichkeit;  es  sind  dieselben  Fragen,  die  beide  behandeln,  Busse,  zweite 
Ehe,  Askese,  Verhältniss  von  Prophetie  und  Amt,  wobei  die  unächte  Pro- 
phetie  von  der  ächten  geschieden  wird.  Hermas,  obschon  er  die  hierar- 
chische Richtung  bekämpft,  wie  er  denn  gegen  die  Kathederreiter  pole- 
misirt  (nQcoTO'xa^eSQiTat)  will  doch,  dass  durch  sie  seine  Offenbarungen 
der  Kirche  mitgetheilt  werden;  die  Reaction  ist  noch  eine  innerkirchliche. 
Hermas  erscheint  nach  Dorn  er  als  Vorläufer  des  Montanismus.  Er  [ist  nach 
Nitzsch  auf  dem  Wege  vom  Judenchristenthum  zum  Dogma  der  Glaubens- 
regel; selbst  die  Christologie  geht  nicht  über  den  judenchristlichen  Monar- 
chianismus  hinaus,  doch  ist  keine  Spur  von  Festhaltung  der  Beschneidung 
wahrzunehmen,  an  deren  Stelle  die  christliche  Taufe  getreten.  Auftallend 
ist  seine  Empfehlung  der  Werke,  als  ob  er  bereits  opera  siipererogatoria 
aufstellen  wollte  2).  Verfasser  ist  auf  keinen  Fall  der  paulinische  Hermas, 
wie  Origenes  meinte,  sondern  er  ist  überhaupt  unbekannt.  Er  lebte  aber 
zu  einer  Zeit,  wo  bereits  die  häretische  Gnosis  sich  kund  gab  (Similitudo 
9,  22),  aber  von  Marcion  ist  nicht  die  Rede.  Die  Schrift  mag  in  dem  zwei- 
ten Viertel  des  zweiten  Jahrhunderts  entstanden  sein.  —  Dass  sie  unter 
Nerva  oder  unter  Domitian  geschrieben,  davon  muss  abgesehen  werden.  — 
Sie  genoss  unter  den  katholischen  Kirchenlehrern  ein  grosses  Ansehen. 
Erst  in  der  neuesten  Zeit  ist  der  ächte  griechische  Text  entdeckt  und 
veröffentlicht  worden  3). 

Papias,   Bischof  von  Hierapolis  in  Phrygien,    steht  wie  die  anderen 


1)  S.  Hermas,  der  Hirte  des,  von  Dr.  Th.  Zahn.  1867. 

2)  Visio  III.  3  kttv  de  ayct^oy  noii]ffiis  fxros  t//?  fyroXtjg  rov  &fov,  GfavTCD 
TTfQtnoiTjüTj  do^ny   TtfoiGGoTfgny  xm   fGrj   fydo^oTrgog   nctgct   to)   9fio  ov  f/nfUfg   ftyat. 

3)  Origenes  ad  Rom.  16,  14  stellt  die  Schrift  den  kanonischen  an  die  Seite.  Ire- 
näus  4,  20.  2  citirt  sie  als  tj  yQK(frj.  Auch  Clemens  spricht  davon  mit  Verehrung 
Strom  1,  29.  2,  1,  ebenso  TertuUian  vor  seiner  montanistischen  Periode,  de  oratione  c.  16, 
während  er  sie  de  pudicitia  c.  10  als  apocrypha  falsa,  adultera  verwirft.  Euseb.  3,  25 
setzt  sie  zwar  unter  die  ro&a,  aber  mit  dem  Brief  des  Barnabas  und  der  Apokalypse  des 
Johannes.  —  Die  Schrift  kannte  man  lange  Zeit  nur  nach  einer  alten  lateinischen  Ueber- 
setzung,  Paris  1513  zum  ersten  mal  gedruckt  —  vom  griechischen  Texte  waren  nur 
Bruchstücke  vorhanden.  —  Erste  Ausgabe  des  griechischen  Textes  von  Anger  und  Din- 
dorf.  Leipzig  1856,  nach  einer  von  Simonides  fabricirten  gefälschten  Copie  der  Abschrift 
des  griechischen  Textes,  die  sich  in  einem  Athoskloster  gefunden,  —  sodann  2.  Ausgabe  dea 
griechischen  Textes  von  Tischendorf  nach  der  ersten  ächten  Abschrift  des  Simonides. 
Tischendorf  fand  1859  im  Codex  sinaiticus  einen  nicht  vollständigen  griechischen  Text, 
dessen  Varianten  bei  Dressel  (2.  ed.)  verzeichnet  sind.  —  Es  sind  aber  seitdem  zwei  alte 
lateinische  und  eine  äthiopische  Uebersetzung  entdeckt  worden.  —  Diese  Materialien  benützte 
Hilgenfeld  für  seine  Ausgabe  des  Hermas.  Leipzig  1866  im  dritten  Fascikel  des  Neuen 
Testamentes  extra  canonem  receptum.  S.  auch  Tischendorf  über  den  Text  dea  Hermas  \j\ 
der  Realencyklopädie  19.  Band  S.  631. 


108  Erste  Periode  des  ;alteii  Katholic)smu3. 

bis  jetzt  genannten  Vertreter  der  sich  bildenden  katholischen  Theolo- 
gie an  der  Pforte  des  alten  Katholicismus ,  den  er  als  fleissiger  Sammler 
apostolischer  Traditionen  wesentlich  gefördert  hat.  Trenäus  5,  33,  4  nennt 
ihn  Zuhörer  des  Johannes;  aber  Euseb.  3,  39  sieht  diese  Angabe  an  ala 
auf  einer  Verwechslung  mit  dem  Presbyter  Johannes  beruhend.  In  seinem 
leider  bis  auf  Fragmente  verloren  gegangenen  Werke  loyiMv  xvgmxoiv 
€^riyrf(Ttc  hat  Papias,  auf  Grund  sorgfältiger  Nachforschung  bei  denen,  die  ihm 
authentischen  Bericht  über  das,  was  die  Apostel  und  die  Jünger  des  Herrn 
gesagt,  zu  geben  im  Stande  waren,  Aussprüche  Jesu  zusammengestellt 
und  mit  Erklärungen  begleitet.  Aus  den  von  Euseb.  aufbewahrten  Worten 
der  Einleitung  zu  diesem  Werke  sehen  wir  deutlich,  dass  die  Tradition  als 
die  Trägerin  des  in  der  Erinnerung  der  älteren  Zeitgenossen  noch  leben- 
den Bildes  Christi  aufgeüisst  wird.  Die  Schrift  des  Papias  war  vornehmlich 
auch  dahin  gerichtet,  die  falschen  gnostischen  Traditionen  durch  die  Ent- 
gegenstellung der  verbürgten  apostolischen  zu  bestreiten  und  zu  wider- 
legen. Doch  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  er  auch  sehr  unverbürgte,  geia- 
dezu  falsche  muss  aufgenommen  haben,  so  z.  B.  die,  betreffend  die  aus- 
serordentliche Fruchtbarkeit  der  Erde  im  tausendjährigen  Reiche  Iren.  5, 
33,  3,  daher  ihn  Euseb.  3,  39  einen  an  Geist  beschränkten  Mann  genanat 
hat.  Er  starb'  als  Märtyrer  in  Pergamus,  unter  Mark-Aurel  wahrscheia- 
lich  167. 

Hegesipp  ist  für  die  neue  Tübingerschule  eine  Hauptstütze  dc^r 
Ansicht,  dass  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  der  Ebionitis- 
mus  in  der  Kirche  herrschend  war  (S.  Euseb.  2,  23.  3,  11.  16.  20.  32.  4,  S. 
11.  21.  22).  Ein  geborener  Jude,  nachdem  er  den  christlichen  Glauben 
angenommen,  schenkte  er  der  Zerspaltenheit  der  jüdischen  Sekten  seiie 
Aufmerksamkeit.  Da  er  viele  Irrthümer  derselben  sich  in  die  Form  christ- 
licher Häresieen  kleiden  sah,  machte  er,  eifrig  für  die  Einheit  der  Lehro, 
um  „den  gesunden  Kanon  der  Heilsverkündigung  kennen  zu  lernen'^  (Euseb. 
3,  32)  Reisen  zu  sehr  vielen  Bischöfen  ,  um  zu  erfahren,  was  ihr  Glaube 
sei,  und  fand  in  allen  Kirchen,  die  er  besuchte,  denselben  Glauben,  wie 
das  Gesetz,  die  Propheten  und  Christus  ihn  bezeugen;  dieser  Einheit  stellte 
er  die  häretische  Vielheit  gegenüber.  Die  Früchte  seiner  Studien  sind 
fünf  Bücher  von  Denkwürdigkeiten,  vTrofn^rj^jata  bis  auf  werthvolle,  voi 
Euseb.  aufbewahrte  Fragmente  verloren  gegangen.  Er  suchte  darin,  nacli 
Euseb.  4,  8  in  einfacher  Schreibart  die  irrthumsfreie  Darstellung  der  apo- 
stolischen Predigt  zu  geben.  Der  Titel  und  einzelne  Anführungen  bei 
Euseb.  könnten  zur  Vermuthung  führen,  dass  das  Werk  ein  rein  geschicht- 
liches w^ar.  Es  geht  aber  aus  anderen  Indizien  hervor,  —  da  die  histo- 
rischen Notizen  nicht  chronologisch  geordnet  sind,  —  dass  das  Ganze  ein 
apologetisch -polemisches  Werk  war,  doch  angefüllt  mit  vielen  historischen, 
zum  Theil  sehr  wichtigen  Angaben.  Daher  führt  ihn  Euseb.  4,  8  unter  der. 
Vorkämpfern  für  die  christliche  Wahrheit  gegen  die  Häresieen  auf.  So  ist 
Hegesipp  eine  beachtenswerthe  Erscheinung  in  dem  Process  der  Bildung 
der  altkatholischen  Kirche  als  solcher,  wie  derselbe  durch  den  Gegensatz 
gegen  die  Häresis  bedingt  ist.  Dass  er  auf  ebionitischem  Standpunkt  ge- 
standen,   ist   ein  falscher    Schluss  aus   einigen   von  Euseb.   aufbewahrten 


Geschichte  der  Theologie.    Hegesipp.    Irenäus.  109 

Fragmenten  seiner  Schrift.  So  ist  seine  Schilderung  Jakobi,  des  Gerech- 
ten, des  Bruders  des  Herrn  allerdings  stark  judenchristlich  gefärbt  aber 
keineswegs  ebionitisch,  übrigens  aus  der  Tradition  geschöpft.  Wenn  der 
Umstand,  dass  Hegesipp  die  Orthodoxie  der  Kirche  im  Anschlüsse  an  Ge- 
setz, Propheten  und  Christum  findet,  beweisen  soll,  dass  er  Ebionit  ge- 
wesen, so  müsste  auch  Paulus  als  Ebionit  gelten,  da  er  von  sich  aussagt, 
Apostelgesch.  26,  22,  er  lehre  nichts,  als  was  in  Moses  und  den  Propheten 
enthalten  sei.  Eben  so  kann  man  nicht  sagen,  er  polemisire  gegen  Paulus, 
indem  er  sich  dagegen  erkläre,  dass  kein  Auge  die  den  Gerechten  berei- 
teten Güter  gesehen  habe  u.  s.  w.  (1  Cor.  2,  9  nach  Jesaia  64,  3),  wahr- 
scheinlich wurden  diese  Worte  von  Gnostikern  missbraucht.  Die  Gnosis 
ist  überhaupt  der  einzige  Feind,  durch  den  er  die  Einheit  der  Kirche  ge- 
fährdet sieht.  Wäre  er  ebionitisch  gesinnt,  wie  könnte  er  seinen  Glauben 
bei  Polykarp  und  Clemens  von  Rom  wieder  finden?  Die  in  Korinth  vor- 
gefundene Lehre  sieht  er  als  identisch  an  mit  derjenigen,  die  Clemens 
vorträgt.  Der  stärkste  Beweis  für  seine  nicht  ebionitische  Richtung  ist 
die  Ansicht  des  Euseb.  über  ihn,  der  doch  dessen  Schrift  genau  kennt  und 
ihn  an  die  Spitze  der  Kirchenlehrer  stellt,  die  von  der  apostolischen  Ver- 
kündigung im  Gegensatz  gegen  die  gnostische  Häresis  zeugen.  Er  lebte 
bis  c.  180. 

Der  als  Verfasser  einer  dem  Kaiser  Mark-Aurel  überreichten  Apo- 
logie bereits  angeführte  Melito,  Bischof  von  Sardes,  verfasste  auch  viele 
Schriften  gegen  die  Gnostiker,  zur  Vertheidigung  der  evangelischen  Ver- 
kündigung —  über  den  im  Körper  erschienenen  Gott  (n€Qi  xov  eycrw^atov 
&eov^),  darüber,  dass  Gott  nicht  Urheber  der  Sünde  sei,  über  die  Kirche, 
über  die  Natur  des  Menschen  u.  A.  (Euseb.  4,  26  2). 

Unter  den  Vertretern  der  katholischen  Lehre  und  Bekämpfen!  der 
Häresie,  die  wir  bis  jetzt  betrachtet  haben,  nimmt  die  bedeutendste  Stelle 
Irenäus,  Bischof  von  Lyon,  ein  3).  Von  Geburt  ein  Grieche,  wie  sein 
Name  und  seine  Schriften  es  bezeugen,  wahrscheinlich  in  der  Mitte  des 
zweiten  Jahrhunderts  geboren  und  im  Schoosse  einer  christlichen  Familie, 
wurde  er  frühe  Schüler  von  Polykarp,  Bald  begab  er  sich  nach  Gallien, 
vielleicht  zu  dem  Zwecke,  die  Gnostiker,  besonders  die  Valentinianer,  die 
sich  auch  in  diesem  Lande  eingenistet  und  Anhang  gefunden  hatten  (1,  13. 


1)  Neander  meint  zwar,  es  sei  die  Eede  von  der  Körperlichkeit  Gottes,  in  dem 
Sinne,  den  Tertullian  damit  verband.  Neander  beruft  sich  auf  Origenes,  der  diese  Vor- 
stellung bei  Melito  voraussetzt ;  er  gibt  aber  zu ,  dass  Origenes  des  Melito  Schrift  wabr- 
scheinlich  nicht  gelesen  habe.  —     S.  Steitz  unter  Melito  in  der  Eealencyklopädie. 

2)  Eine  der  verlorenen  Schriften  des  Mannes,  xXfig,  Schlüssel,  wahrscheinlich  eine 
in  die  heilige  Schrift  einleitende  oder  zur  Erklärung  derselben  dienliche  Schrift,  glaub- 
ten die  französichen  Benedictiner  wieder  gefunden  zu  haben  und  gaben  sie  heraus  im 
Spicilegium  Solesmense.  Vol.  II.  III.  Steiz  hat  in  den  Studien  und  Kritiken  1857  die 
tJnächtheit  der  Schrift  nachgewiesen. 

3)  S.  Graul,  die  christliche  Kirche  an  der  Schwelle  des  irenäischen  Zeitalters 
1860.  Ziegler,  Irenäus,  der  Bischof  von  Lyon.  Ein  Beitrag  zur  Entstehungsgeschichte 
der  altkatholischen  Kirche.  Berlin  1871.  Duncker,  des  heiligen  Irenäus  Christologie 
u.  8.  w.  1843. 


110  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

1 — 7),  zu  bekämpfen.  Er  verbrachte  daselbst  einige  Jahre  als  Presbyter 
(Euseb.  5,  4)  und  erlebte  die  schreckliche  Verfolgung  der  Gemeinden  von' 
Lyon  und  Vienne  177,  wurde  nach  dem  Tode  des  Bischofs  Pothinus  dessen : 
Nachfolger  (178)  und  starb  als  Märtyrer  im  Jahre  202. 

Mit  welcher  Innigkeit  und  Treue  er  an  dem  Lehrer  seiner  Jugend 
hing ,  das  bezeugt  er  in  der  Epistel  an  seinen  Jugendfreund  Florinus ,  der 
zu  den  Gnostikern  abgefallen  war.  „Was  wir,  sagt  er,  in  den  ersten  Jah- 
ren gehört  und  erfahren  haben,  wächst  mit  unserer  Seele  zusammen,  so 
dass  ich  noch  den  Ort  beschreiben  kann,  wo  der  selige  Polykarp  sass,  sein 
Ausgehen  und  sein  Eingehen,  seine  Lebensweise  und  seine  körperli(^.he 
Gestalt,  die  Reden,  die  er  zur  Gemeinde  hielt,  wie  er  seinen  Umgang 
mit  Johannes  und  den  übrigen,  die  den  Herrn  gesehen  hatten,  erzählte 
wie  er  ihre  Reden  wiederholte  und  welche  Worte  des  Herrn  er  aus  ihrem 
Munde  vernahm,  welche  Wunder  des  Herrn  sie  ihm  erzählten.  In  allen 
diesen  Dingen  theilte  er  nur  solches  mit,  was  mit  der  Schrift  (den  ge- 
schriebenen Evangelien)  übereinstimmte.  Diess  Alles  hörte  ich  nach  der 
mir  von  Gott  widerfahrenen  Gnade  eifrig  an  und  schrieb  es  nicht  auf  Pa- 
pier, sondern  in  meinem  Herzen  nieder  und  durch  die  Gnade  Gottes  be- 
wege ich  es  immerfort  in  meinem  Herzen^  (Euseb.  5,  20).  Das  ist  dar 
Mann,  der  die  Bedeutung  der  mündlichen  Tradition  überhaupt  für  die 
Kirche  so  sehr  hervorhob,  durch  seine  eigene  Erfahrung  sie  bestätigend. 
Es  gehörte  diess  zu  seiner  Kampfstellung  gegen  die  Häresie,  die  gnostische 
zumal.  Er  erkannte  aufs  tiefste  die  Gefahr,  womit  die  Gnosis  das  Christen-^ 
thum  bedrohte,  er  deckte  die  grundstürzenden  Irrthümer  der  Gnostiker, 
die  gänzliche  Haltlosigkeit  und  Willkürlichkeit  ihrer  glänzenden  Systemo, 
ihre  willkürliche  Behandlung  der  heiligen  Schrift  auf.  So  schlug  er,  wie 
Graul  sagt,  die  Riesenschlange,  die  an  der  Wiege  des  Christenthuncs 
lauerte,  zu  Boden.  Eine  gewisse  Einseitigkeit  war  aber  mit  dieser  pole- 
mischen Stellung  unmittelbar  gegeben,  und  in  jener  Phase  der  Entwick- 
lung auch  heilsam  als  Gegengewicht  gegen  die  gnostischen  Verirrungei. 
Es  ist  ihm  nicht  möglich,  das  Streben  nach  tieferer  Erfassung  des  Christen - 
thums,  welches  im  Gnosticismus  sich  dunkel  regte  und  auf  so  grosse  Ab- 
wege gerathen  war,  irgendwie  als  solches  anzuerkennen.  Die  Philosophen 
sind  ihm  diejenigen,  die  von  Gott  schlechterdings  nichts  wissen,  sie  sind  die 
Vorläufer  der  Gegner  des  Christenthums.  Irenäus  ist  von  der  Polemik 
gegen  die  Gnosis  so  sehr  beherrscht,  dass  ihm  der  Blick  für  die  Berühr- 
ungspunkte des  Christenthums  mit  der  Philosophie  völlig  verschlossen  bleibt : 
ausser  den  Wahrnehmungen  der  Sinne  und  des  natürlichen  Verstandes 
haben  für  ihn  allein  die  Aussprüche  der  Schrift  und  der  Ueberlieferung 
Gewissheit.  In  dieser  Beziehung  steht  er  im  Ganzen  sogar  unter  Justin. 
Dagegen  hat  er,  wie  wir  gesehen,  die  grossartige  Idee  der  allgemeinen, 
katholischen  Kirche  mit  Macht  erfasst,  wie  sie  auf  Tradition  und  Schrift 
sich  gründet  und  den  wesentlichen  Inhalt  ihres  Glaubens  in  der  Glaubens- 
regel ausspricht.  Es  lässt  sich  aber  nicht  verkennen,  dass  bei  Irenäus 
die  christliche  Kirche  im  Begriffe  ist,  aus  einer  nur  durch  geistige  Bande 
zusammengehaltenen  Gemeinschaft  zu  einer  streng  einheitlichen,  auch 
äusserlich  besonders  durch  den  Episkopat  festgeordneten  Anstalt  zu  werden, 


Geschichte  der  Theologie.    Irenäus.  111 

wodurch  das  Christenthum  ein  gewisses  gesetzliches  Gepräge  erhielt.  Die 
Polemik  gegen  die  gnostische  Verachtung  und  Verwerfung  des  Mosaismus 
trug  wesentlich  dazu  bei.  Uebrigens  griff  Irenäus  noch  in  anderer  Be- 
ziehung vielfach  in  die  Zeit  ein  und  erwies  sich  als  friedliebend,  seinem 
Namen  entsprechend  ^) ,  in  allem  gemässigte  Ansichten  festhaltend.  Er 
zeigt  sich  wohl  unterrichtet  in  der  Schrift  Alten  und  Neuen  Testamentes, 
wohl  bekannt  mit  den  alten  Dichtern  und  Philosophen,  besonders  mit  Plato 
und  Homer.  Es  finden  sich  in  ihm  Ansätze  zu  einer  wahrhaft  theologischen 
Behandlung  der  GlaubensNvahrheiten.  —  Seine  vielen  Schriften^  Euseb.  5,  20 
aufgezählt,  gegen  die  Gnostiker  hauptsächlich  gerichtet,  sind  meistens  ver- 
loren gegangen.  Erhalten  ist  nur  die  eine  bereits  angeführte  Hauptschrift: 
Widerlegung  und  Zerstörung  der  fälschlich  sogenannten  Erkenntniss  (ekey- 
Xog  xai  avatQonri  trjg  (fsiöoavvnov  yyaxTsojg),  gewöhnlich  unter  dem  Titel 
adversus  haereses  angeführt,  in  fünf  Büchern,  in  Gallien  vor  dem  Jahre  192 
geschrieben,  nur  in  einer  schlecht  lateinischen  Uebersetzung  erhalten. 
Fragmente  des  griechischen  Textes  finden  sich  bei  einigen  Kirchenvätern, 
und  sind  von  den  Herausgebern,  Massuet  (Paris  1710),  Stieren  (Leip- 
zig 1853),  Wigan  Harvey  (Cambridge  1857)  zusammengestellt  worden. 
Diese  Schrift,  eine  Hauptquelle  für  die  Kenntniss  des  Gnosticismus  ist 
besonders  gegen  die  in  Gallien  eingenisteten  Valentinianer  gerichtet. 

H.  Indem  die  Gnostiker  eine  philosophische  Auffassung  und  Begrün- 
dung des  Christenthums  erstrebten,  indem  die  Heiden  das  Christenthum  mit 
Hülfe  der  Philosophie  angriffen,  entstand  bei  denkenden,  gebildeten  Geistern 
unter  den  Christen  das  Streben,  sich  in  ihrer  Behandlung  der  christlichen 
Lehren  auf  diesen  philosophischen  Boden  zu  versetzen ,  den  Gegnern  die 
Waffe,  die  sie  gegen  das  Evangelium  brauchten,  zu  entwinden,  die  Berüh- 
rungspunkte zwischen  der  Philosophie  und  dem  Evangelium  aufzusuchen 
und  zu  verwerthen,  das  Christenthum  selbst  als  die  höchste  Philosophie  auf- 
zufassen und  es  auf  diese  Weise  mit  dem  wissenschaftlichen  Geiste  der  Zeit 
auszusöhnen.  Dadurch  erhielt  es  eine  für  gebildete  Heiden  ansprechendere 
Form  und  konnte  sich  um  deswillen  auch  unter  den  höheren  Classen  der 
Gesellschaft  mehr  verbreiten.  Dadurch  wurde  es  auch  vor  abergläubischer, 
fanatischer  und  roh  sinnlicher  Auffassung  bewahrt,  in  welche  eine  Religion 
leicht  geräth,  deren  Anhänger  ohne  wissenschaftliche  Ausbildung  blos  dem 
Gefühle  und  der  Phantasie  folgen.  Auf  der  andern  Seite  war  mit  derselben 
Richtung  eine  gewisse  Gefahr  verbunden,  die  einer  Vermengung  von  Chri- 
stenthum und  Philosophie,  und  diese  Gefahr  trat  wirklich  ein.  —  Es  war 
hauptsächlich  die  platonische  Philosophie,  an  welche  die  Kirchenlehrer 
sich  anschlössen,  freilich  keineswegs  rein,  sondern  es  war  eine  eklektische 
Philosophie,  doch  mit  Vorherrschen  des  Platonischen.  Wenn  nun  Plato  bis- 
weilen auf  einen  agxcciog  Xoyog  hindeutet,  nach  dem  er  sich  richte,  wenn  er 
auf  Männer  sich  beruft,  die  von  Gott  besonders  erleuchtet  worden,  so  be- 
ziehen diess  die  Väter  auf  Mosen ,  die  Propheten  und  die  alttestamentliche 
Offenbarung. 


1)  Euseb.   5,  24  xm  6   (Af.y  Eiorjvmos  (ftQMyvyog    Tti    u)V    rrj   ngosrjyootn,   ccvjt 
T€  TW   TQOTiü)   fiQr]yonotos. 


112  Erste  Periode  dos  alten  Katholicismus. 

Von  solchen  philosophischen  Christen  oder  christlichen  Philosophen, 
die  gewöhnlich  den  Philosophen-Mantel  beibehielten,  gab  es  eine  ziemliche 
Anzahl,  wovon  hier  nur  die  bedeutendsten  erwähnt  werden  sollen. 

Justin  der  Märtyrer,  der  schon  öfter  genannte,  kommt  zuerst  in 
Betracht  i).  Geboren  zu  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  in  Flavia  Nea- 
polis,  dem  alten  Sichem,  dem  heutigen  Nablus,  im  Schosse  einer  heid- 
nischen Familie,  fühlte  er  früh  in  sich  den  Trieb  nach  Erkenntniss  des 
Wahren.  Er  wandte  sich  der  Reihe  nach  an  mehrere  Philosophen,  die  ihn 
entweder  nicht  befriedigten  oder  durch  ungebührliche  Forderungen  ab- 
stiessen.  Der  Stoiker  theilte  ihm  nichts  über  Gott  mit,  indem  er  meinte, 
das  sei  überhaupt  kein  wichtiger  Gegenstand  der  philosophischen  Specula- 
tion.  Zu  einem  Platoniker  fühlte  er  sich  am  meisten  hingezogen;  denn 
dieser  versprach  ihm  unmittelbare  Anschauung  der  Gottheit.  Voll  von  sol- 
chen Gedanken,  um  sich  ungehindert  denselben  hingeben  zu  können,  begab 
er  sich  eines  Tages  an  das  Gestade  des  Meeres,  an  einen  einsamen  Ort. 
Da  sah  er  einen  Greis,  von  mildem,  ehrwürdigem  Ansehen,  der  an  dem- 
selben Gestade  die  Ankunft  einiger  Verwandten  erwartete,  auf  sich  zu- 
kommen. Es  entspann  sich  ein  Gespräch  zwischen  beiden.  Justin  brachte 
seine  platonische  Weisheit  vor,  wodurch  er  zur  Anschauung  Gottes  und  zur 
Seligkeit  zu  gelangen  hoffte.  Der  Greis  trieb  ihn  aber  durch  seine  Frage  i 
so  sehr  in  die  Enge,  dass  Justin  endlich  ausrief:  welche  Lehre  soll  ich  mir 
denn  aneignen,  wenn  bei  allen  Philosophen  keine  Wahrheit  zu  finden  ist.-^ 
worauf  der  Greis  erwiederte ,  dass  er  die  ersehnte  Wahrheit  leicht  finden 
könne,  wenn  er  sich  an  die  rechte  Quelle  wende;  es  seien  in  alten  Zeiten 
Propheten  aufgestanden,  bestätigt  durch  Wunder  und  Weissagungen  ah 
Organe  des  göttlichen  Geistes,  in  ihren  Schriften  seien  die  reichsten  Schätz»? 
untrüglicher  religiöser  Wahrheit  niedergelegt;  diese  solle  Justin  erforschen: 
^Bete,  dass  sich  die  Pforten  des  Lichtes  dir  erschliessen ,  denn  das  sine' 
Dinge,  die  Niemand  erkennen  kann,  als  welchem  Gott  und  sein  Christ  es 
gegeben^'  (Dialog  mit  Tryphon  c.  3—8).  Justin  befolgte  den  Rath  und  fühlte 
sich  mehr  und  mehr  zum  Christenthum  hingezogen.  Allein  es  waren  übei 
die  Christen  so  abscheuliche  Gerüchte  ausgesprengt  worden,  dass  er  zu  dem 
Glauben,  den  sie  bekannten,  kein  Vertrauen  fassen  konnte.  Da  sah  er  sie 
als  Märtyrer,  ohne  Furcht  im  Tode  und  bei  Allem,  was  die  Menschen 
schrecklich  nennen;  nun  erkannte  er,  dass  sie  unmöglich  in  Lastern  und 
Wollust  leben  könnten.  Apologie. IL  c.  12.  Justin  wurde  im  Jahre  133 
Christ,  etwa  dreissig  Jahre  alt ;  er  widmete  sich  der  Bekehrung  heidnischer 
Gelehrter  und  der  Vertheidigung  des  Christenthums  durch  Schriften  und 
öffentliche  Vorträge,  die  er  in  mehreren  Städten  des  Reiches,  namentlich 
in  Rom  hielt.  Er  ahnte,  dass  er  für  seinen  Glauben  das  Leben  werde  lassen 
müssen,  und -dass  der  Cyniker  Crescens,  dessen  scheinheilige  Unwissenheit 
er  öffentlich  blos  gestellt  hatte,  ihn  zu  verderben  suchen  werde.  (Apol.  IL 
c.  3).  So  geschah  es  auch  (Euseb  4,  16).  Sein  Tod  durch  Enthauptung  in 
Rom  fällt  nach  der  Berechnung  von  Semisch  in  das  Jahr  166,  unter  Marc-Aurel. 


1)  Vergl.  über  ihn  das  Werk  von  Semisch  1840  und  die  neue  Ausgabe  seiner  Werke 
von  Otto. 


Justin  der  Märtyrer.  113 

Justin's  Thätigkeit  war  nach  den  drei  Seiten  hin,  woher  die  Angriffe 
auf  das  Christenthmn  kamen ,  gerichtet ;  1)  gegen  die  Heiden  eine  apolo- 
getische; die  betreffenden  zwei  Apologieen  sind  bereits  angeführt ,  2)  gegen 
die  Juden;  das  Document  davon  ist  der  Dialog  mit  dem  Juden  Tryphon, 
3)  gegen  die  Häretiker;  aber  die  dahin  einschhägigen  Schriften  sind  ver- 
loren gegangen.  Gewiss  ist,  dass  Justin  eine  Zusammenstellung,  awrayiia 
aller  Häresieen  machte  (Apologie  I.  c.  26.  Euseb.  4,  11).  Er  schrieb  eine 
besondere  Schrift  gegen  Marcion  (Iren.  4,  14.  Euseb.  4,  14).  Alle  anderen 
ihm  beigelegten  Schriften  sind  als  unächt  abzuweisen. 

Um  Justin  richtig  zu  beurtheilen,  müssen  vor  Allem  zwei  irrthümliche 
Ansichten  über  ihn  abgewiesen  werden;    die  eine,   dass  er  eine  Entwick- 
lungsphase des  Ebionitismus  darstelle,  wobei  wir  uns  der  Kürze  halber  auf 
die  treffenden  Gegenbemerkungen   von  Semisch  im  Artikel  Justin   in   der 
Realencyklopädie  berufen;    die  andere,   dass   er   den  Piatonismus  auf  das 
Christenthum  geradezu   übertragen  habe.  —    „Justin  steht,  sagt  Semisch, 
als  Repräsentant   einer   neuen  Richtung   an  der  Spitze   seines  Zeitalters, 
einmal  darin,  dass  er,  angeregt  durch  Aristides,  das  Christenthum  mit  der 
classischen  Bildung  in  eine  nicht  mehr  zu  lösende  Verbindung  brachte  und 
durch  philosophische  Behandlung  des  Glaubens    die  Anfänge    einer   christ- 
lichen Theologie   einleitete,   sodann,   indem   er   durch  den  Rückschritt  zu 
einer  mehr  ethisch  gesetzlichen  Auffassung  des  Christenthums  i)  einer  der 
Hauptbegründer   des    seit   der  Mitte   des  zweiten  Jahrhunderts   sich   fest- 
stellenden kirchlichen  Katholicismus  wurde. ^     Was  seine  Anschliessung  an 
Plato  betrifft,    so  ist  zuvörderst  zu  bemerken,    dass  sie  sich  nicht  auf  die- 
sen Philosophen  beschränkte,   wie   denn   in  seiner  Logoslehre  der  Einfluss 
der  Stoiker   sich   zeigt.      Alles  Wahre   und  Gute,    was  sich  bei  den  grie- 
chischen Dichtern  und  Philosophen  findet,    gehört    den  Christen  an;   jeder 
hatte  etwas  vom  Vernunftsamen  {anequatixog  Xoyog).    Der  koyog  offenbarte 
sich  ihnen  und  wirkte  in  ihnen,    bevor   er  in  Christo  Mensch  wurde;    und 
es  hat  daher  Christen  gegeben  vor  Christo;   solche,    die  mit  dem  Xoyog  in 
Gemeinschaft  gelebt   haben,    sind  Christen.      Denn    die  Lehrsätze  Christi 
und  die  Plato's  sind  bei  aller  Verschiedenheit  einander  ähnlich.     (Apolog. 
n.  c.  13).    Das  Gute  und  Wahre  der  vorchristlichen  Zeit    bleibt   aber  nur 
das  Vorspiel  zu  dem,  was  in  der  christlichen  Zeit  in  vollendeter  Fülle  her- 
vortrat,   als   die   absolute  Wahrheit.      So    fasste  Justin  das  Cliristenthum 
mehr  als  Wissen,  als  die  höchste  Philosophie  auf  und  das  ist  bedingt  durch 
die  Einseitigkeit  seiner  griechischen  Bildung.  —     In  seinen  Schriften  gibt 
sich  Justin  einige  Blossen,  theils  durch  allegorische  Spielereien  (im  Dialog), 
theils   durch  unkritische  Nachlässigkeit   in  Prüfung   von    historischen  An- 
gaben,   allein   sein  Verdienst  ist,    der  Apologetik   ein   so  sprechendes  Ge- 
präge aufgedrückt  zu  haben,  dass  angesehene  Kirchenlehrer  manche  seiner 
Gedanken  und  Beweismittel  sich  aneigneten.    Die  Logoslehre,    der  Angel- 
punkt seiner  ganzen  Theologie  wurde  von   den  alexandrinischen  Theologen 
aufgenommen  und  weiter  entwickelt. 


1)  So  nennt  er  im  Dialog  mit  Tryphon  c.  18  Christum  6  xntpog  vofxo^errjg, 
Herzog,  Kirchengeschichte  I.  3 


114  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Hauptsächlich  kommen   in  Betracht   die  Lehrer   der   ale- 
xandrinischen  Katechetenschule  ^). 

Stiftungen  wie  das  novceiov  oder  die  Akademie  von  Alexandrien,  von 
den  römischen  Kaisern  reichlich  unterstützt,  und  wie  die  reichhaltige  Bi- 
bliothek veranlassten  in  dieser  Stadt  einen  grossen  Zusammenfluss  von 
Gelehrten  und  Philosophen  und  trugen  überhaupt  bei  zur  Verbreitung 
wissenschaftlicher  Bildung.  Diese  Sachlage  musste  auch  auf  die  Unter- 
richtsanstalten der  Kirche  Einfluss  ausüben.  Nirgends  traten  so  häufig  wie 
in  Alexandrien  Gelehrte  und  Philosophen  zur  christlichen  Partei  über;  in 
Alexandrien  standen,  wie  wir  gesehen,  einige  der  bedeutendsten  Gnostiker 
auf.  Daher  es  den  dortigen  Bischöfen  nöthig  schien,  den  Katechumenen- 
unterricht  nur  durch  bewährte,  kenntnissreiche  Männer  geben  zu  lassen, 
damit  er  den  hohen  Anforderungen  des  gelehrten  Alexandrien  genügen 
könnte.  Diese  Männer  fanden  bald  zahlreiche  Zuhörer;  denn  nicht  nur 
Katechumenen  besuchten  ihre  Vorträge ;  sie  zogen  auch  andere  junge  Mäi- 
ner  an,  welche  eine  tiefere  Kenntniss  vom  Christenthum  erstrebten  und 
sich  zum  Dienst  der  Kirche  vorbereiteten.  So  entstand  die  christliche 
Schule  von  Alexandrien,  die  katechetische  oder  kirchliche  genannt. 
Die  Anfänge  mögen  wohl  bis  in  die  ersten  Jahrzehnde  des  zweiten  Jahr- 
hunderts hinaufreichen.  Um  180  war  sie  vollkommen  ausgebildet,  oft  lehr- 
ten gleichzeitig  mehrere  Katecheten,  —  von  den  Zuhörern  nahmen  di«) 
Lehrer  kein  Honorar  an,  der  Unterricht  wurde  im  Hause  des  Lehrern 
ertheilt;  nicht  selten  wechselten  Fragen  und  Antworten,  es  kamen  auch 
Frauen  in  die  Vorträge,  wie  auch  Jungfrauen  und  Knaben  an  den  Vor- 
trägen der  heidnischen  Philosophen  Theil  nahmen  2).  Der  erste  Lehrei* 
war  Pantaenus  (181  —  203),  der  früher  Stoiker  und  Missionar  im  ferner 
Asien  gewesen  (Euseb  5,  10)  und  nun  als  Lehrer  sein  Leben  beschloss 
Von  seinen  zahlreichen  Schriften,  die  sich  alle  auf  die  Erklärung  der  Schrifi 
bezogen,  haben  sich  nur  wenige  Fragmente  erhalten. 

Wir  richten  unsre  Aufmerksamkeit  auf  die  zwei  folgenden  Lehrer.  Cle- 
mens  (Eus.  5,  11),  ob  in  Athen  oder  in  Alexandrien  geboren,  bleibt  unge- 
wiss, nach  Epiphanius  haer.  32,  6  jedenfolls  im  Schooss  einer  heidnischen 
Familie,  begabt  mit  beweglichem,  nach  Wahrheit  strebendem  Geiste,  tüch- 
tig gebildet  in  den  Schulen  seiner  Vaterstadt,  scheint  frühe  zum  Christen- 
thum übergetreten  zu  sein.  Von  jetzt  an  fühlte  er  den  Drang  nach  tieferer 
Erkenntniss  des  Christenthums ;  er  verlangte  etwas  mehr  als  den  einfachen 
Glauben ,  er  bereiste  viele  Länder  und  suchte  überall  die  Männer  auf,  von 
denen  er  Belehrung  zu  erhalten  hoffte.    Er  behauptet  von  ihnen,  worunter 


1)  S.  Guericke,  de  scbola  quae  Alexandriae  floruit  cateclietica  1824  —  25.  — 
Thomasius,  Origenes  1837.—  ßedepenning,  Origenes  1841  —  1846.—  Ausgaben  der 
Schriften  des  Clemens,  von  Sylburg  1592,  von  Heinsins  1616,  von  Migne.  Handausgabe 
von  Oberthür  1779,  von  Klotz  1831.  —  Ausgaben  der  Schriften  des  Origenes  von  de  la 
Rue,  —  eine  von  Lommatzsch  1831—46,  eine  von  Migne.  Mehreres  von  Origenes  ist  be- 
sonders edirt  worden,  so  die  Schrift  nfQi  kqxmv  von  Redepenning,  das  Werk  gegen  Cel- 
sus  u.  A. 

2)  Redepenning  I.  67—69. 


Clemens  von  Älexandrien.  115 

selbst  Apostelschüler,  die  ächte  apostolische  Tradition  empfangen  und  sich 
angeeignet  zu  haben  (Stromat.  1.  c.  1).  In  Älexandrien  land  er  den  Mann, 
der  allen  seinen  Wünschen  entsprach ;  er  nannte  ihn  die  sicilianische  Biene, 
weil  er  die  Blüthen  von  der  prophetischen  und  apostolischen  Wiesenfiur 
pflückte.  Unter  ihm  bildete  sich  Clemens  zum  Lehrer  heran.  Nachdem 
er  Presbyter  geworden,  ernannte  ihn  Bischof  Alexander  189  zum  Nachfolger 
des  Pantaenus  im  Vorsteheramt  an  der  katechetischen  Schule.  Auch  Hei- 
den besuchten  seine  gediegenen  Vorträge  und  viele  unter  ihnen  w^urden 
für  den  christlichen  Glauben  gewonnen.  Der  Verfolgung  unter  Septimius 
Severus  (202)  entzog  er  sich,  um  nicht  sich  selbst  der  Gefahr  preis  zu 
geben  (Strom.  4,  4),  er  begab  sich  zu  einem  ehemaligen  Schüler,  Bischof 
Alexander  zu  Flaviades  in  Kappadocien  (Euseb.  6,  11).  Von  seinen  späteren 
Schicksalen,  von  seinem  Tode  ist  nichts  bekannt  ^). 

Seine  drei  uns  erhaltenen  Hauptwerke  bilden  Ein  Ganzes,  zusammen- 
gehalten durch  die  Idee  des  göttlichen,  schon  vor  der  Menschwerdung  in 
der  Welt  wirksamen  Logos.  Dieser,  der  göttliche  Lehrer  der  Menschen, 
sucht  sie  zuerst  vom  Götzendienst  und  lasterhaften  heidnischen  Leben 
abwendig  zu  machen  und  sie  zum  Glauben  zu  bewegen ;  diess  ist  der  Inhalt 
der  Ermahnungsrede  an  die  Griechen  (Xoyog  ngotgentixog  ngog  '^EkXfjvag). 
Darauf  sucht  er  ihre  Sitten  umzuwandeln,  diess  der  Inhalt  des  Xoyog  nai- 
dayMyog;  endlich  führt  er  sie  ein  in  die  Geheimnisse  der  christlichen  Pie- 
ligion  in  den  Stromata  {aTqco^axsig  c.  9),  buntgewirkte  Teppiche,  was  wir 
miscellanea  nennen  würden;  der  Name  ist  hergenommen  von  ihrem  man- 
nigfaltigen Inhalte,  oder  vom  Mangel  an  methodischer  Ordnung.  Clemens 
behauptet,  den  Hauptinhalt  aus  Pantaenus  geschöpft  zu  haben.  Von  seinen 
übrigen  Schriften  ist  nur  die  eine  erhalten:  %i,g  6  (Tcoli^o^evog  nXovtrtogy  in 
welcher  am  Ende  die  schöne  Erzählung  (fiv&ov  ov  fiv&ov  nennt  sie  Cle- 
mens) von  dem  durch  den  Apostel  Johannes  bekehrten  Jüngling  sich  fin- 
det; —  die  übrigen  Schriften  sind  folgende:  das  Passah,  Gespräche  über 
das  Fasten;  über  die  Verläumdung,  eine  Ermahnung  zur  Standhaftigkeit 
oder  an  die  so  eben  Getauften;  dann  der  Kirchenkanon,  wodurch  er  gegen 
judaisirende  Irrthümer  beweisen  wollte,  dass  die  Schriftstellen  des  Alten, 
sowie  die  des  Neuen  Testamentes  unter  sich  übereinstimmen,  endlich  die 
leider  verloren  gegangenen  vnozvncocreig  in  acht  Büchern,  worin  man  in 
späterer  Zeit  viele  gottlose  und  fabelhafte  Reden  fand  2). 

Clemens  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  zunächst  vom  allgemeinen  Glau- 
ben der  Christen,  enthalten  in  der  Schrift  und  in  der  Tradition,  zusani- 
mengefasst  in  der  Glaubensregel.  Gegen  die  Abweichung  davon,  gegen 
die  Häretiker  spricht  er  sich  so  scharf  aus  wie  nur  irgend  ein  anderer 
katholischer  Lehrer  Strom.  7,  16:  so  wie  einer  aus  einem  Menschen  ein 
Thier  wird,  wie  diejenigen,  die  durch  die  Zaubertränke  der  Circe  be- 
rauscht waren,  so  hört  derjenige,  der  gegen  die  kirchliche  Tradition  an- 
kämpft und  zu  den  Meinungen  der  Häretiker  abfällt,  auf,  ein  Mann  Gottes 
zu  sein.    Wer  aber,  von  diesem  Irrthume  sich  abwendend,  der  Schrift  sich 


1)  S.  Moehler  Patrologie  S.  430. 

2)  Photius  codex  109.    Euseb.  6,  13. 


116  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

unterwirft  und  sein  Leben  der  Wahrheit  hingibt,  wird  aus  einem  Menschen 
gleichsam  Gott"  (otop  e|  ccvx^qmtiov  ^sog  anoteXettai).  Die  yvcaatq  sieht 
er  durchaus  an  als  auf  dem  Glauben  ruhend ;  er  beruft  sich  dabei  auf  Je- 
saia  7,  9,  nach  der  Uebersetzung  der  LXX.:  so  ihr  nicht  glauben  werdet, 
versteht  ihr  nicht  erkennen  {sav  fiij  niatevtTTiTe,  ovde  iiri  (xvvrjte.  Die 
Gnosis  hat  im  Glauben  ihren  wahren  Inhalt.  Dabei  bleibt  er  aber  durch- 
aus nicht  stehen.  Zur  Entwicklung  der  Gnosis  ist  die  Philosophie  nöthig, 
—  die  Philosophie,  die  auch  von  Gott  kommt  und  nicht,  wie  einige  wäh- 
nen, vom  Teufel ;  sie  war  das  den  Griechen  gegebene  Testament ;  gleichwie 
das  Gesetz  erzog  sie  (sTiaiöaycoye)  die  Hellenen  für  das  Christenthum. 
So  kommt  Clemens  dahin,  was  mit  seinen  grundlegenden  Erklärungen 
nicht  ganz  zusammenstimmt,  den  Glauben  nur  als  eine  abgekürzte  Er- 
kenntniss  des  Nothdürftigsten ,  worunter  er  wohl  die  Glaubensregel  ver- 
steht, aufzufassen  (^  niatiq  =  (xvvtofiog  roov  xaTsneiyovtuiv  ypcoatg)^  die 
tiefere  Erkenntniss  wird  nur  erlangt  mit  Hülfe  der  griechischen  Philoso- 
phie, worunter  er  nicht  ein  besonderes  System  derselben  versteht,  sondei'n 
eine  eklektische  Philosophie  (Strom.  1,  7),  worin  jedoch  das  platonische 
Element  vorherrscht.  Nach  Massgabe  des  angegebenen  Verhältnisses  der 
Philosophie  zur  Gnosis  muss  die  andere  Erklärung  verstanden  werden, 
dass  die  Gnosis  ein  zum  Wissen  erhobener  Glaube  (nifftig  enKTtrjfiovixr) 
seil).  Daher  nun  der  mit  Erkenntniss  ausgestattete,  der  Gnostiktr,  — 
so  nennt  ihn  Clemens  durchweg  — ,  weit  über  demjenigen  steht,  der  die 
blosse  TtiffTig  hat.  Gemäss  dem  platonischen  Satze,  dass  die  wahre  Ei- 
kenntniss  auch  mit  dem  richtigen  Handeln  verbunden  sein  müsse,  wird  der 
Gnostiker  die  wahi'e  Tugend  üben,  er  wird  .ein  im  Fleische  wandelnder 
Gott  sein  (av  aaqxt  neqmoXoav  d^eog).  Der  Gnostiker  allein  hat  die  wahr'3 
Liebe  (Job.  15,  14.  15),  während  die  ni(Jtig  durchaus  noch  mit  knechtischer 
Furcht  verbunden  ist;  der  Gnostiker  allein  ist  derjenige,  der  in  Wahrheit  dio 
Gottheit  verehrt  (fiovov  ovtoog  eivat  ^eoaeßri  top  yvcofftixov) ,  der  darum 
von  Gott  geliebt  wird  und  dahin  gelangt,  Gott  zu  lieben  (Strom.  7,  1). 
Was  aber  die  Quelle  dieser  so  Grosses  wirkenden  Gnosis  betrifft,  so  gib, 
Clemens  nicht  in  den  Stromaten,  sondern  in  einem  von  Euseb  aus  den 
Hypotyposen  aufbewahrten  Fragment  (Euseb.  2,  1)  eine  geheime  Ueber 
lieferung  an,  die  ihm  den  wesentlichen  Inhalt  seiner  Sätze  mittheilt;  die 
Gnosis,  sagt  Clemens,  übergab  der  Herr  nach  der  Auferstehung  Jakobue 
dem  Gerechten,  dem  Johannes  und  dem  Petrus,  diese  den  übrigen  Apo- 
steln, diese  den  siebenzig  Jüngern,  wovon  einer  Barnabas  war  2). 

Or igen  es,  mit  dem  Beinamen  des  Stählernen,  von  eisernen  Ein- 
geweiden, geschmückt  (adafiaptivog ,  /«Axerrf^og) ,  der  einflussreichste, 
bedeutendste  Theologe  der  alexandrinischen  Schule,  der  auch  weit  über 
sein  Zeitalter  hinaus  wirksam  gewesen,  geboren  185  zu  Alexandrien,  von 
christlichen  Aeltern,  anfangs  vom  Vater  in  den  Wissenschaften  und  im 
Christenthum  unterrichtet,  besuchte  darauf,  im  späteren  Knabenalter,  die 


1)  Auch  so  definirt  er  die   yj/ioffts'   ^niCTrj^oPixrj  nno^€i^ig   rojr  xnrn   ttjv  nlrj^ri 
fftXoüo<finv  7iaQa&t&ojusp(i)y.     Strom.  2,   11. 

2)  Clemens  hält  den  Brief  des  Barnabas  für  acht 


Origenes.  117 

Vorträge  des  Clemens,  noch  später  die  Schule  desAmmonius  Sakkas, 
um  sich  in  der  Philosophie  auszubilden.  Sein  Vater  starb  als  Mär- 
tyrer in  der  Verfolgung  des  Septimius  Severus,  sein  Vermögen  wurde 
confiscirt.  Origenes,  der  ihn  im  Kerker  ermahnt  hatte,  um  der  Sei- 
nen willen  seinen  Glauben  nicht  zu  verläugnen,  sorgte  durch  Copisten- 
arbeiten  für  den  nothdürftigen  Unterhalt  der  Familie,  bestehend  aus  der 
Wittwe  und  sechs  Brüdern.  Im  Jahre  202  wurde  er  Lehrer  an  der 
katechetischen  Schule.  Da  nicht  nur  Männer,  sondern  auch  Frauen  seine 
Vorträge  besuchten,  glaubte  er,  der  ohnehin  der  strengsten  Askese  erge- 
ben war,  —  er  schlief  auf  dem  blossen  Boden,  —  um  übelwollenden 
Verdacht  oder  sinnlichen  Anwandlungen  zu  entgehen,  an  sich  eine  damals 
nicht  blos  bei  Heiden  und  heidnischen  Priestern,  sondern  auch  bei  Christen 
vorkommende  Handlung  vornehmen  zu  müssen.  Sich  gründend  auf  die 
buchstäblich  ausgelegte  Stelle  Matth.  19,  12  (vielleicht  auch  auf  Jesaia  56, 
4.  5)  nahm  er,  ungewiss,  ob  durch  Anwendung  des  Schierling  oder  eines 
eisernen  Instrumentes,  an  sich  die  Entmannung  vor  ^),  die  er  selbst  später 
erkannte  als  aus  mangelhafter  Auslegung  der  Schrift  hervorgegangen. 
Aus  seinen  späteren  Aeusserungen  ersieht  man  deutlich,  dass,  was  dem 
Jünglinge  tiefere  Auslegung  schien,  dem  Manne  in  vorgerückten  Jahren 
als  fleischlicher  Irrthum  vorkam  ^).  Die  That  war  eine  Uebertretung  des 
zweiundzwanzigsten  der  apostolischen  Kanones  3),  von  denen  es  fi^eilich  nicht 
ganz  sicher  ist,  dass  sie  damals  schon  existirten.  So  viel  ist  gewiss,  dass 
Bischof  Demetrius  von  Alexandrien  Origenes  deswegen  nicht  blos  nicht 
tadelte,  sondern  ihn  sogar  deswegen  mit  Lob  überhäufte  (Euseb.  1.  c). 
Zur  Erweiterung  seiner  Kenntnisse  unternahm  er  mehrere  Reisen,  be- 
suchte Rom,  kam  aber  bald  wieder  nach  Alexandrien  zurück  (Euseb.  6,  14). 
Er  verliess  die  Stadt  wieder  im  Jahre  216,  als  Caracalla  mit  einem  Heere 
nach  Alexandrien  kam  und  daselbst  um  unbedeutender  Ursachen  willen  ein 
furchtbares  Blutbad  anrichtete.  In  Cäsarea  in  Palästina  wurde  er  vom 
Bischof  The  okti  st  US  mit  grosser  Auszeichnung  willkommen  geheissen 
und  aufgefordert,  in  der  Kirche  Lehrvorträge  zu  halten.  Da  diess  dem 
Gebrauche  der  Kirche  von  Alexandrien  zuwiderlief,  wo  nur  dem  Presbyter 
das  Lehren  in  der  Kirche  gestattet  wurde,  beklagte  sich  Bischof  Demetrius 
darüber  und  forderte  von  Origenes  Rückkehr  und  Wiederaufnahme  seines 
Katechetenamtes ,  was  Origenes  that.  Kirchliche  Wirren  und  Streitigkeiten 
in  Achaja  veranlassten  seine  Berufung  nach  diesem  Lande,  um  den  Frie- 
pen  wiederherzustellen.  Mit  dem  kirchlichen  Empfehlungschreiben  seines 
Bischofs  versehen,    wählte   er    den  Weg   durch  Palästina,    und    wurde    zu 


1)  Euseb.  6,  8,  die  That  ist  bezweifelt  worden,  mit  Unrecht,  wie  Redepenning  weit- 
läuiig  bewiesen  hat. 

2)  Tom.  XV,  in  Matthäus  yf.isig  (^e  XQtCroy  &fov,  roy  Xoyov  tov  &{ov  xma  CaQxa 
xat  xara  to  ygafu/ua  nort  votjGctvKQ,  vvv  ovxsti  ytyojGxovTfg,  wir  stimmen  denen 
nicht  bei,  die  unter  dem  Vorwande  des  Reiches  Gottes  den  dritten  Eunnchismus  über 
sich  bringen.    Redepenning  a.  a.  0.  S.  213. 

3)  Der  Wortlaut  besagt,  dass,  wer  sich  selbst  verstümmelt,  nicht  Kleriker  wer- 
den dürfe. 


118  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Cäsarea  von  den  Bischöfen  dieser  Gegend,  an  ihrer  Spitze  Bischof  Ale- 
xander von  Jerusalem  und  Bischof  Theoktistus  von  Cäsarea,  zum 
Presbyter  geweiht  (Euseb.  6,  23).  Origenes  musste  diess  sehr  willkommen 
sein,  da  die  Presbyterwürde  seinem  Wirken  in  Achajia  grösseren  Nach- 
druck gab  und  von  Demetrius  durfte  er  sich  die  Hoffnung  machen,  dass  er 
das  Urtheil  angesehener  Bischöfe  beachten  oder  wenigstens  dazu  schweigen 
werde.  Nach  einiger  Zeit  kehrte  er  nach  Alexandrien  zurück  (etwa  230). 
Hier  aber  nahmen  die  Dinge  für  ihn  eine  ungünstige  Wendung;  er  wurde 
231  durch  eine  Synode  unter  dem  Vorsitze  von  Demetrius  excommunicirt 
und  seines  Lehramtes  entsetzt,  bald  darauf  in  einer  kleinen  Synode  seiner 
Presbyter  würde  für  verlustig  erklärt.  Ursache  war  nicht  jene  strafbare 
Handlung,  —  denn  es  steht  kein  Wort  davon  in  den  Acten  jener  Synode,  — 
sondern  der  beginnende  Verdacht  gegen  seine  Heterodoxieen,  unter  andern 
gegen  die  Lehre  von  der  Wiederbringung  aller  Dinge,  und  der  Umstand, 
dass  er  mit  Umgehung  der  alexandrinischen  Kirche  sich  in  einer  auswär- 
tigen Kirche  um  die  Würde  des  Presbyter  beworben,  wobei  freilich  nicht  zu 
vergessen  ist,  dass  Demetrius  sich  früher  geweigert  hatte,  ihm  diese  Würde 
zu  ertheilen.  Alle  Kirchen,  ausgenommen  die  in  Palästina,  Phönicien, 
Achaja  und  Arabien  erkannten  das  Urtheil  jener  Synode  an,  besonders 
auch  Rom  mit  grosser  Bereitwilligkeit.  Origenes  hatte  Aegypten  wied(ir 
verlassen,  um  nicht  wieder  dahin  ziu'ückzukehren ,  obschon  er  die  Liebe 
zum  Vaterland  keineswegs  aufgab,  das,  wie  er  sagte,  Christum  und  die 
Propheten,  welche  in  Palästina  verworfen  wurden,  in  hohen  Ehren  hielt.  — 
Palästina  wurde  seine  zweite  Heimath.  In  Cäsarea  eröffnete  er  eine  ge- 
lehrte Schule,  die  den  Glanz  der  alexandrinischen  bald  überstrahlte.  Se  n 
Unterricht  umfasste  Philosophie  und  Theologie.  Er  unternahm  noch  meli- 
rere  Reisen  in  wichtigen  kirchlichen  Angelegenheiten  und  starb  254  tu 
den  Folgen  der  Misshandlungen,  die  er  während  der  Verfolgung  unt(T 
Decius  erlitten  hatte. 

Des  Origenes  Schriften  waren  so  zahlreich,  dass  er,  wie  Hieronymus 
sagt,  mehrere  schrieb,  als  Manche  lesen  können,  und  doch  sträubte  sich  ^u 
Anfang  der  seitdem  so  Unermüdliche,  die  Feder  in  die  Hand  zu  nehmen.  An 
seinem  Freunde  Ambrosius,  einem  vornehmen  und  reichen  Staatsbeamte!, 
den  er  von  der  falschen  Gnosis  zur  wahren  Gnosis  geführt,  hatte  vr 
einen  fortwährenden  Treiber  zur  Arbeit,  eQyoÖKoxtrjg ^  wie  er  ihn  selbem 
nannte.  In  ihm  fand  er  auch  eine  äusserst  wichtige  Unterstützung  für  seiie 
gelehrten  Arbeiten,  da  Ambrosius  ihm  sieben  Schnellschreiber  hielt  uüd 
kostbare  Handschriften  für  ihn  kaufte;  er  stellte  ihm  auch  sieben  Abschrei- 
ber und  einige  Schöuschreiberinnen.  Origenes  hat  zuvörderst  das  grosse 
Verdienst,  die  Wissenschaft  der  bibUschen  Textkritik  angebahnt  und  die 
Exegese  der  heiligen  Schrift  mächtig  gefördert  zu  haben.  Zuerst  unternahm 
er,  von  Ambrosius  dazu  ermuntert,  eine  Revision  des  Textes  der  LXX.  in 
seiner  Hexapla,  worüber  er  sich  selber  ausspricht  in  der  epistola  ad  Äfricmium, 
Durch  das  Vorhandensein  der  griechischen  Uebersetzungen  des  Alten  Testr- 
ments  von  Aquila,  Theodotion  und  Symmachus,  so  wie  durch  die  Disputatic- 
nen  mit  den  Juden,  stellte  es  sich  nämlich  mehr  und  mehr  heraus,  dass  die 
kiixhlich  recipirte  LXX.  den  hebräischen  Text  öfter  nicht  richtig  wiedergebt'. 


Origenes.  119 

Es  entstand  daher  das  Bedürfniss,  ein  Mittel  zu  finden,  um  namentlich  in 
den  Disputationen  mit  den  Juden,  auch  ohne  eigene  genügende  Kenntniss 
des  Hebräischen  erkennen  zu  können,  wo  und  wie  die  kirchUche  Ueber- 
setzung  im  Einzelnen  mit  dem  hebräischen  Texte  übereinstimmte  oder 
davon  abwich.  Dieses  Bedürfniss  suchte  Origenes  durch  seine  Hexapla  zu 
befriedigen.  Er  wollte  nicht  einen  neuen  Text  der  LXX  herausgeben, 
sondern  durch  eine  Art  synoptischer  Zusammenstellung  der  LXX  mit 
den  anderen  griechischen  Uebersetzungen  und  mit  dem  hebräischen  Texte 
und  durch  Andeutungen  und  diakritische  Zeichen  im  Texte  der  LXX 
selbst  theils  das  Verständniss  derselben  fördern,  theils  ihr  Verhältniss  zum 
hebräischen  Texte  bemerklich  machen,  um  so  die  Christen  abzuhalten, 
im  Streite  mit  den  Juden  aus  dem  Alten  Testament  solches  vorzubringen, 
was  sich  im  hebräischdn  Text  nicht  fand,  oder  auch  das  aus  dem  hebräischen 
Texte  vorgebrachte  desshalb  zu  verwerfen,  weil  es  sich  in  der  LXX  nicht 
finde.  Die  äussere  Einrichtung  war  folgende:  1)  der  hebräische  Text  in 
hebräischer  Schrift,  2)  derselbe  mit  griechischen  Buchstaben,  3)  Aquila, 
4)  Symmachus,  5)  LXX,  6)  Theodotion,  also  sechs  Columnen,  in  einzelnen 
Büchern  gab  es  deren  acht,  daher  der  Name  Octapla  bei  Epiphanius.  Die 
Tetrapia,  über  deren  Verhälniss  zur  Hexapla  man  ganz  im  Dunkeln  ist,  lassen 
wir  bei  Seite.  Origenes  verwendete  auf  die  Sammlung  der  Materialien  zu 
diesem  Werke,  so  wie  zu  dessen  Ausarbeitung  viele  Jahre.  Fünfzig  Jahre 
nach  dessen  Tode  wurde  es  aus  seiner  Verborgenheit,  wahrscheinhch  zu 
Tyrus  hervorgeholt  und  in  die  Bibliothek  des  Pamphilus  zu  Cäsarea  gebracht ; 
hier  von  Hieronynuis  benützt,  wurde  es  wahrscheinlich  im  Jahre  653  bei  der 
Einnahme  von  Cäsarea  durch  die  Araber  vernichtet.  (S.  ausser  Redepeuuing 
Bleek's  Einleitung  in  das  Alte  Testament  S.  767).  Auch  auf  die  Emeudation 
des  Textes  des  Neuen  Testaments  richtete  Origenes  seine  Aufmerksamkeit, 
ohne  Zweifel  angeregt  durch  seinen  Lehrer  Clemens,  der  schon  ein  sehr 
starkes  Beispiel  von  Corruption  des  Textes  Matth.  5,  10  anführt  (Strom. 
4,  6)  1).  Origenes  (in  Matth.  19,  19)  entwirft  ein  erschreckendes  Bild  des  Zu- 
standes  des  neutestamentlichen  Textes :  unter  den  Handschriften  des  Matthäus 
sei  eine  solche  Verschiedenheit,  dass  keine  einzige  mehr  mit  der  anderen 
übereinstimme  und  eben  so  sei  es  bei  den  übrigen  Evangehsten.  Diese  Ab- 
weichungen aber  seien  so  gross  geworden  theils  durch  Nachlässigkeit  der 
Abschreiber,  theils  durch  Kühnheit  der  Corruptoren,  theils  durch  willkür- 
Hche  Aenderung  der  Besitzer  der  Handschriften.  Durch  solche  Erscheinungen 
angeregt,  beschäftigte  sich  Origenes  viele  Jahre  hindurch  mit  kritischen  Un- 
tersuchungen über  den  Text  des  Neuen  Testamentes.  Es  cursirteu,  nach 
Hieronymus,  gewisse  von  ihm  besonders  revidirte  und  emendirte  Handschrif- 
e  n  ;  doch  scheint  er  nicht  dazu  gekommen  zu  sein,  eine  vollständige  Textes- 
recension  des  Neuen  Testamentes  vorzunehmen  (S.  Gu  er  icke,  neutestament- 
hche  Isagogik  S.  644).  Innnerhin  hat  er  an  seinem  Theile  dazu  beigetragen, 
dass  die  beginnende  Corruption  nicht  zu  sehr  um  sich  greifen  konnte.  — 
Was  die   exegetischen   Schriften   des   Origenes   betrifft,   so   bestehen  sie 

1)  Clemens  führt  hier  an,  dass  rivfg  nov  /ufrciTtl^ePTMu  tcc  fvnyytha  also 
lesen:  /nnxnQtot  oi  Jfdtcoy/ufyot  vTieo  rrjg  iStxaioGvvTj<;i  cri  nvroi  taovrai  TÜ.fioi  — 
l^axaQtoi  6t  Si6ib)y[xevot  tpfxa  €fxov  ort  i^ovCiy  ronoVi  önov  ov  ^Kax^iJ^ovrai' 


120  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

theils  aus  Schollen  ((rrifismffstg) ,  theils  aus  Commentaren  (tofioi);  sie 
umfiissten  einen  grossen  Theil  des  Alten  Testamentes  und  den  grössten  Theil 
des  Neuen  Testamentes,  ebenso  die  Homilieen,  auslegende  Predigten,  er- 
bauliche Erklärungen;  doch  sehr  Vieles  von  diesen  exegetischen  Arbeiten  ist 
verloren  gegangen  oder  nur  in  das  lateinische  übersetzt,  durch  Rufinus,  vor- 
handen. —  Bei  Origenes  war  die  Exegese  ein  Zusammenfluss  des  gesamm- 
ten  theologischen  Wissens.  Nach  den  vorausgegangenen  exegetischen  Ar- 
beiten von  Papias  (s.  oben),  von  Pthodon,  Candidus  und  Apion,  über 
die  mosaische  Schöpfungsgeschichte  (Euseb.  5,  27),  von  Heraklit,  über  die 
paulinischen  Briefe  (Euseb.  a.  a.  0.),  von  Melito  von  Sardes,  über  die 
Apokalypse  des  Johannes  (Euseb.  4,  26j,  gab  Origenes  diesen  Arbeiten  noch 
eine  mächtige  Anregung. 

Das  apologetische  Werk  des  Origenes,  das  sind  die  uns  bereits  hv- 
kannten  acht   Bücher  gegen   Celsus,   die   bedeutendste   Apologie  aus 
dieser  Periode   überhaupt.     Von   den   dogmatischen  Werken   des  Mannes 
hat  sich  nur  eines  erhalten,  und  zwar  das  Hauptwerk  tisqi  agxoyv,  de  prh- 
cipiis,   vier  Bücher,   in   neuerer  Zeit  besonders   herausgegeben   von   llede- 
penning.    Der  griechische  Text  ist   leider   bis  auf  Fragmente,   die  sich   bei 
einigen  Vätern  finden,   verloren  gegangen;   die  lateinische  Uebersetzung  von 
Bufinus  ist  vollständig  erhalten,   lässt  aber   vieles  zu  wünschen  übrig.    Das 
Wort  ccQxcti,  principia,   bedeutet   hier  nicht,   was  es   auch  bedeuten  kann, 
die  Grundprincipien  aller  Dinge,  sondern  es  sind  die  Fundamentalartikel  des 
christlichen   Glaubens,    die   wesenthchen  Heilsthatsachen ,    die   (Ttoix^ia   des 
christlichen  Glaubens,   wie  Origenes   sonst   sich  ausdrückt,   gemeint,   mithhi 
die  Glaubensregel,  die  er  im  Prooemium  angibt,  indem  er  zugleich  die  darin 
enthaltenen  Punkte  und  auch  die  Lücken,   die    sich   darin   finden,   aufweist. 
Sein  Zweck  ist  nun ,  eine  wissenschaftliche  Darstellung  des  christlichen  Glau- 
bens zu  geben,  zu  vervollständigen,   was  Clemens  in  seinen  Stromaten,   was 
er  selbst  in  eigenen  Stromaten   vorbereitet  hatte.     Aber  der  Hauptbestand- 
theil  der  Darstellung  ist  dasjenige,  was  der  philosophischen  Speculation  der 
Zeit  angehört.    In  die  Erörterung  solcher  Dinge  f^ind  die  einzelnen  Dogmen, 
aber  durchaus  nicht  alle  eingefügt.    Daher  man  diese  Schrift  auch  als  christ- 
liches Philosophen!  über  die  Urgründe  des  Daseins  angesehen  und   das  Wort 
ccQxcct  in  diesem  Sinne  verstanden  hat  ^).     Das  Werk   ist  aber  vielmehr  der 
Grundriss,   der   erste    Grundriss  eines   Lehrgebäudes   der  christlichen  Heils- 
wahrheiten.    Es   handelt   in   vier  Büchern   von  Gott,   vom  Logos,    von   der 
unsichtbaren  Welt,   den  Geistern,   von  der  sichtbaren  Welt  in  ihrem  gegen- 
wärtigen Zustande,   von   der  Auferstehung   der  Todten   und  der  Vergeltung 
nach   diesem   Leben,    von    der   Freiheit   des  Willens,    ihrem  Wesen,    ihren 
Kämpfen  mit  den  bösen  Mächten,   ihren   inneren  Versuchungen,   von   ihrem 
Siege  in  der  Wiederbringung  aller  Dinge.    Das  vierte  Buch  stellt  die  Grund- 
sätze der  wahren  Schriftauslegung  auf,   die   dazu   dienen   sollen,   die   philo- 
sophischen" aus  der  Speculation  gewonnenen   Sätze   in   der  Schrift  wieder  zu 
finden.  —    Dazu  kommen  ethisch -praktische  Schriften,   vom  Gebet,  —  eine 
Ermahnung  zum  Märtyrerthum  u.  s.  w. 


1)  So  zuletzt  noch  Neander,  Dogmengeschiclite,  1.  Theil.  1856. 


Origenes.  121 

Des  Örigenes  theologische  Arbeiten  sind  eine  Fortsetzung,  Vervollstän- 
digung und  theilweise  Berichtigung  der  Arbeiten  des  Clemens.  Örigenes, 
obwohl  auf  demselben  Boden  wie  sein  Lehrer  stehend,  unterscheidet  sich 
von  ihm  dadurch,  dass  er  den  einfachen  Glauben  höher  stellt  und  den  Gno- 
stiker  nicht  mit  so  idealen  Zügen  ausmalt.  Ausserdem  hat  er  wenigstens 
einen  Anfang  gemacht,  dasjenige,  was  Clemens  fragmentarisch  vorgetragen, 
systematisch  zu  gestalten.  Er  sieht  es  nämhch,  darin  übrigens  mit  Clemens 
vollkommen  übereinstimmend,  als  Aufgabe  des  Theologen  an,  sich  des  christ- 
lichen Glaubens  denkend  zu  bemächtigen,  Das  Christenthum ,  aus  der  höch- 
sten Vernunft,  aus  dem  Logos  entsprungen,  ist  seiner  Natur  nach  vernünf- 
tig. Die  menschhche  Vernunft,  ebenfalls  ein  Werk  der  höchsten  Vernunft, 
ist  durch  die  Sünde  verdunkelt,  wodurch  die  Offenbarung  nöthig  geworden. 
Insofern  aber  die  Vernunft  nicht  völlig  verdunkelt  ist,  insofern  der  Logos 
auch  ausserhalb  des  eigentlichen  Ott'enbarungskreises  seine  Wirksamkeit  hat, 
so  sind  die  Wahrheiten  des  Glaubens  in  Harmonie  mit  den  höchsten  Sätzen 
der  Vernunft  ^ j.  Daher  kommt  es ,  dass  bei  den  heidnischen  Weisen  viele 
Wahrheit  zu  finden  ist;  sie  haben  sie  empfangen  theils  unmittelbar  vom  Lo- 
gos, der  auch  in  ihnen  wirksam  war,  theils  mittelbar  durch  Moses  und  die 
Propheten,  aus  welchen  sie  geschöpft  haben.  Von  da  schreitet  Örigenes  zu 
dem  Satze  fort,  dass  der  unterschied,  der  zwischen  der  hellenischen  Philo- 
sophie und  der  biblischen  Offenbarung  stattfindet,  mehr  die  Form  als  die 
Gestalt  betrifft.  Plato  und  die  hellenischen  Philosophen  sind  insofern  mit 
den  Aerzten  zu  vergleichen,  die  nur  für  die  höheren  gebildeten  Stände  Sorge 
tragen.  Das  Verdienst  des  Christenthums  Ijesteht  darin ,  die  höchsten  Wahr- 
heiten der  Vernunft  zum  Gemeingute  Aller  gemacht  zu  haben,  indem  es  sie 
in  populärer  Form  vortrug;  aber  einige  dieser  Wahrheiten  sind  verborgen 
unter  der  Decke  der  Geschichte,  des  wörthchen  Sinnes,  des  Buchstabens. 
Die  Aufgabe  der  christhchen  Theologie  ist  nun,  diese  Wahrheiten  aus  der 
Schrift  herauszufinden ,  —  wozu  die  allegorische  Auslegung  dient  — ,  sie  mit- 
telst der  Philosophie  zu  erläutern;  so  nmss  die  Glaubensregel,  in  der  vieles 
unbestimmt  gelassen,  einiges  ganz  fehlt,  durch  Schrift  und  philosophische 
Speculation  ergänzt  werden.  Im  Verfolgen  dieser  Richtung  nimmt  Örigenes 
eigentlich  platonische  Sätze  auf,  die  Lehren  von  der  ewigen  Welt,  von  der 
Präexistenz  der  Seelen,  von  dem  Fall  derselben,  von  ihrer  Einkleidimg  in 
menschliche  Leiber.  Es  sind  das  Lehrsätze,  die  er  anwendet,  im  christ- 
hche  Sätze  zu  bestätigen;  so  dient  der  letzte  zur  Stütze  der  moralischen 
Freiheit  wie  bei  Julius  Müller.  Diess  leitet  uns  zu  dem  Gesichtspunkte,  aus 
welchem  das  System  des  Örigenes  aufzufassen  ist;  es  ist  das  System  der 
Freiheit,  der  freien  Willensbestimmung  auf  Seiten  Gottes  und  der  Menschen, 
durchgeführt  in  der  Auffassung  des  göttlichen  sowohl  als  des  menschlichen 
Wirkens:  Gott  ein  absolut  freies  Wesen,  die  Schöpfung  der  Welt  Werk  der 
Freiheit,  die  Zeugung  des  Sohnes  Werk  der  Freiheit,  nicht  göttlicher  Natur- 
process;  der  Mensch  mit  Freiheit  begabt,  frei  gefallen,  frei  zurückgebracht; 
damit  stehen   in  Verbindung   die  Sätze   von   der  Heiligkeit  Gottes,   von   der 


1)  T«  TJyf  7ttGT((og  rntg  xaipatg  fyvotectg  GvvayoQevovTtt' 


122  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

wahrhaft  menschUchen  Natur  Christi,  die  auch  eine  Bürgschaft  seiner  mora- 
lischen Freiheit  ist. 

Origenes  nimmt  in  der  dogmatischen  Entwicklung  seiner  Zeit  eine  ähn- 
liche Stellung  ein  wie  Schleiermacher  in  der  unsrigen,  nicht  als  ob  dieser  dieselben 
Lehren  vorgetragen  hätte  wie  Origenes,  aber  beide ,  obwohl  sie  wenig  Schüler 
hinterliessen ,  die  sich  im  Einzelnen  ganz  genau  an  sie  anschlössen,  haben 
eine  mächtige  Anregung  gegeben  zur  geistigen  Auffassung  des  Christen- 
thums.  Origenes  selbst  urtheilt  ziemlich  strenge  über  seine  Anhänger  sowohl 
als  über  seine  Gegner;  während  jene,  wie  er  sagt,  ihn  über  Gebühr  loben 
und  ihm  Meinungen  zuschreiben,  die  sein  Gewissen  verwirft,  beschuldigen 
ihn  die  anderen,  Dinge  vorzutragen,  an  die  er  nie  gedacht  habe  (hom.  25 
in  Lucam). 

Von  den  folgenden  Lehrern  der  alexandrinischen  Schule,  Heraklas, 
Dionysius,  Theonas,  Pierius,  Theognostus,  die  alle  mehr  oder  weniger 
des  Origenes  Richtung  verfolgten  und  deren  Schriften  alle  bis  auf  Fragmente 
verloren  gegangen,  ist  der  bedeutendste  Dionysius,  zubenannt  der  Grosse, 
sechszehn  Jahre  lang  Lehrer  an  der  Katechetenschule,  seit  247  Bischof  von 
Alexandrien,  bekannt  als  Bekämpfer  des  Chihasmus  durch  Schriften  und  in 
eigenen  Conferenzen  mit  den  Anhängern  dieser  Lehre,  an  deren  Spitze  Ne- 
pos,  Bischof  von  Arsinoe  in  Aegypten,  stand.  Dionysius  verdrängte  den  Clii- 
liasmus  aus  der  aegyptischen  Kirche  und  versetzte  ihm  überhaupt  einon 
schweren  Schlag.  Diese  Polemik  verleitete  ihn  zu  einer  Bekämpfung  der 
Authentie  der  Offenbarung  Johannes  Euseb.  7,  25.  Li  vier  Büchern  be- 
kämpfte er  den  Sabelhus,  gerieth  aber  dadurch  selbst  in  den  Verdacht  d«3r 
Heterodoxie,  als  ob  er  Christum  zum  Geschöpfe  mit  zeithchem  Anfang  ge- 
macht habe.  Theognostus  ist  insofern  beachtenswerth ,  als  Athanasius  n 
ihm  sein  ofjbovaiog  fand  i). 

Auch  ausserhalb  Aegyteus  fand  Origenes  nach  seinem  Tode  begeisterte 
Anhänger,  wenn  freihch  auch  Gegner;  vor  allem  ist  hier  zu  nennen  Pani- 
philus,  der  gelehrte  Priester  von  Cäsarea,  gestorben  als  Märtyrer  309;  (r 
fand  es  nöthig,  eine  Apologie  für  Origenes  zu  schreiben,  wovon  leider  nur  di  s 
erste  Buch  in  der  lateinischen  Uebersetzung  des  Rufinus  erhalten  '^)  ist,  und 
griechische  Fragmente  bei  Photius  cod.  118.  Zu  den  Verehrern  des  Origems 
gehört  auch  Gregorius,  dem  spätere  Sagen  den  Beinamen  Wunderthäte:*, 
Thaumaturgus  verschafft  haben,  seit  244  Bischof  von  Neucäsarea  in  Poi - 
tus,  t  c.  270,  Verfasser  einer  Apologie  für  Origenes  und  angeblich  von  zwei 
Glaubensbekenntnissen,  die  aber  höchst  wahrscheinHch  untergeschoben  sind.  — 
Als  Gegner  des  grossen  Alexandriners  trat  auf  Methodius,  Bischof  vo:i 
Olympus  und  Patura  in  Lycien,  dann  von  Tyrus,  Märtyrer  311  in  der  Ver- 
folgung durch  Maximin.  Sein  Realismus  konnte  sich  in  die  spiritualistisch(5 
Richtung  des  Origenes  nicht  finden;    er  griff'  dessen  Ansicht  von   der  Aufer- 


1)  Ovx  €^(t)9-£y  Ttg  iürtv  eipfvgff^ftßa  ij  rov  viov  ovGia,  ovdi  €x  /utj  ovtcji 
€7TftsrjX^V»  «^^'  **  ^V^  TOü  TittTQog  ovGtag  i(pv  dtg  rov  (pioTog  to  annvyaüfja  Äthan.  d( 
de'cretis  Synodi  Nicaenae  c.  25,  ans  dem  zweiten  Buch  der  Hypotyposen  des  Theognostus 

2)  Bei  de  la  ßue  opp.  Orig.  IV,  daraus  abgedruckt  bei  Lommatzsch  opp.  Orig 
XXV.  —  S.  überhaupt  auch  bei  Euseb.  6,  32.  33.  7,  32,  de  Martyribus  Palästinae  c.  11. 
Socrates  3,  7. 


Lucian  und  seine  Schnle.  123 

stehung  und  von  der  Schöpfung  in  den  Schriften  über  die  Auferstehung  und 
über  die  geschaffenen  Dinge  an  i).  —  Er  wirft  dem  Origenes  vor ,  dass  er 
das  Wesen  des  Menschen  blos  in  der  Seele  sehe,  er  bekämpft  die  Präexi- 
stenz der  Seelen  und  die  Auffassung  der  sichtbaren  Welt  als  eines  Straf- 
ortes. —  Von  seinen  Werken  ist  nur  das  Convivium  von  zehn  Jungfrauen 
erhalten,  ein  Gespräch  über  das  jungfräuliche  Leben.  —  Als  Gegner  des 
Origenes  ist  noch  hervorzuheben  der  schon  genannte  Bischof  Nepos,  ge- 
storben um  die  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts,  Verfasser  einer  verlorenen 
Schrift,  Widerlegung  der  Allegoristen  {sXeyxo?  aXli^yogicTTcov) ,  welche  von 
den  Anhängern  des  Chihasmus  als  unwiderleghche  Beweisführung  für  diese 
Lehre  angesehen  wurde.  Dionysius,  Patriarch  von  Alexandrien,  fand  es  nöthig, 
Unterredungen  mit  diesen  Chiliasten,  die  besonders  in  der  Gegend  von  Ar- 
sinoe  zu  finden  waren,  anzustellen,  es  gelang  ihm  sie  ihres  L-rthums  zu 
überführen.  Er  fand  es  auch  angezeigt,  das  Buch  des  Nepos  eigens  zu  wi- 
derlegen.    S.  Euseb.  7,  24. 

Endlich  sind  die  Anfänge  einer  theologischen  Schule  ^)  zu  nennen,  deren 
Keime  von  dem  Einflüsse  des  Origenes  abzuleiten  sind,  wenn  gleich  sie  bald 
einen  eigenthümlichen  Charakter  entwickelte  und  in  wesentUcher  Beziehung 
gegen  die  alexandrinische  Schule  einen  Gegensatz  bildete.  Die  Leistungen 
des  Origenes  auf  exegetischem  Gebiete  wirkten  noch  früher  anregend  als  er 
Widerspruch  fand.  Seine  exegetischen  und  kritischen  Werke  wurden  nicht 
blos  in  der  von  ihm  gegründeten  Schule  in  Cäsarea  studirt,  sondern  im  christ- 
lichen Asien  überhaupt.  In  Antioc  hie  n  hatte  schon  geraume  Zeit  vor 
Origenes  Theophilus,  der  bereits  genannte  Bischof,  die  Exegese  angebaut. 
Aber  Lucian  und  Dorotheus  sind  die  eigentlichen  Stammväter  der 
antiochenischen  Schule,  und  zwar  war  es  nicht  eine  Schule  blos  im  wei- 
teren Sinne,  als  eine  theologische  Richtung  bezeichnend,  sondern  eine  Schule 
im  engeren  Sinne  mit  Lehrern,  die  Schüler  unterrichteten.  Lucian,  wie  sein 
Homonymus,  aus  Samosata  gebürtig,  von  angesehenen  Eltern  abstanmiend, 
erhielt  seine  Bildung  in  der  Nachbarstadt  Edessa,  wo  Makarius,  ein  gründ- 
licher Schriftkenner,  Schule  hielt.  Neben  eifrigen  Studien  ergab  er  sich 
harten,  asketischen  Uebungen;  auch  nachdem  er  in  Antiochien  Presbyter  ge- 
worden, bheb  er  durch  seine  Enthaltsamkeit  berühmt.  Aber  eine  bessere 
Berühmtheit  erlangte  er  durch  seine  wissenschaftliche  Thätigkeit.  Vertraut 
mit  der  hebräischen  Sprache,  verbesserte  er  die  Uebersetzung  der  LXX,  und 
diese  emendirte  Ausgabe  der  LXX  wurde  herrschende  Autorität  in  Griechen- 
land, Kleinasien  und  Syrien.  Derselbe  machte  auch  eine  Revision  des  Textes 
des  Neuen  Testaments;  daher,  wie  Hieronymus  berichtet,  noch  zn  seinerzeit 
gewisse  Exemplare  des  Neuen  Testaments  Lucianea  genannt  wurden:  doch 
fand  diese  Recension  weniger  Verbreitung,  weil,  nach  dem  Zeugnisse  des 
Hieronymus,  viele  ihrer  Verbesserungen  und  Zusätze  durch  ältere  Ueber- 
setzungen  widerlegt  wurden.  Er  sammelte  in  Antiochien  um  sich  eine  grosse 
Zahl  von  Schülern,  angezogen  theils  durch  seine  wissenschaftliche  Tüchtigkeit, 
theils  durch  das  Beispiel  seines  frommen,  rechtschaffenen  Wandels  (Euseb  8, 13). 


1)  Von  welchen  beiden  Schriften  nur  Fragmente  zu  finden  bei  Epiphanius  haer.  64. 

2)  Kihn,  die  Bedeutung  der  antiochenischen  Schule  auf  exegetiscliem  Gebiete.  1866. 


124  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

9,  6.  Zu  diesen  Schülern  gehörten  spätere  Antiuicäner,  Arius,  der  sich  selbst 
für  solchen  erklärte,  Euseb  von  Nikomedien,  Maris  von  Chalcedon,  Theognis 
von  Nicäa  u.  s.  w.  Neben  ihm  arbeitete  in  gleichem  Sinne  der  Presbyter 
Dorotheas.  Als  Grundton  seiner  Eichtung  erscheint  die  verständige  und  kri- 
tische Behandlung  des  Schrifttextes.  Er  muss  aber  eine  Zeitlang  zu  den 
Ansichten  des  Paul  von  Samosata  hingeneigt  und  nach  .dessen  Absetzung 
lange  Zeit  hindurch  mit  den  drei  ersten  ihm  nachfolgenden  Bischöfen  keine 
Kircliengemeinschaft  gehalten  haben,  bis  er  endlich  zwischen  290  und  :iOO 
das  kirchliche  Band  wieder  anknüpfte.  Er  erlitt  311  unter  Maximin  den 
Märtyrertod  unter  mancherlei  Qualen.  Hieronynnis  führt  von  ihm  an  de  fide 
libelli  und  einige  Episteln,  deren  Inhalt  unbekannt  ist,  da  sie  verschwunden 
sind;  die  zweite  antiochenische  Formel  vom  Jahre  341  soll  von  ihm  her- 
rühren. Die  Blüthezeit  der  antiochenischen  Schule  fällt  in  die  zweite  Hallte 
des  vierten  Jahrhunderts. 

^.2.    Die  Kirchenlehrer   und   Kirchenschriftsteller  der   latei- 
nisch-abendländischen Kirche. 

Im  lateinischen  Abendlaude  zeigt  sich  weniger  theologisches  Leben  als 
im  griechischen  Morgenland;  jenes  verhält  sich  zu  diesem  wesentlich  recep- 
tiv:  es  nahm  einiges  Gute  aber  auch  einen  Theil  des  Schlechten  aus  dem 
Morgenlande  auf.  Doit  fanden  die  Häresieen,  wenngleich  sie  bis  dahin 
reichten,  doch  einen  w^eit  weniger  empfänglichen  Boden.  Die  lateinisclie 
Theologie,  —  soweit  von  einer  solchen  schon  die  Rede  sein  kann,  —  hit 
hauptsächlich  die  Dogmen  von  der  Kirche,  von  der  Tradition,  von  den  Si- 
cramenten  ausgebildet,  und  zwar  haben  wir  die  theologische  Entwicklung 
mehr  in  Afrika  als  in  Rom  und  Itahen  zu  suchen. 

Wenn  gleich  die  Schrift  des  Minucius  Felix  noch  in  das  Zeitalter  d<T 
Antonine  fällt,  so  muss  doch  der  obgleich  später  gekommene  Q.  Septimius 
Florens  Tertullianus  als  der  Vater  der  lateinisch -abendländischen  Theo- 
logie angesehen  werden.  Sohn  eines  centurlo  im  Dienste  des  proconsular's 
von  Africai),  geboren  c.  160  zu  Carthago  im  Heidenthum,  darin  auch  ei- 
zogen  und  eine  Zeitlang  dem  heidnischen  zügellosen  Leben  ergeben,  wie  er 
selbst  es  bekennt  (de  resiirrectione  carnis  c.  59),  übrigens  mit  sorgfältiger 
wissenschafthcher  Bildung  ausgerüstet,  mit  der  griechischen  Sprache  so  sehr 
vertraut,  dass  er  mehrere  Schriften  in  dieser  Sprache  verfasste,  widmete  er 
sich  dem  Studium  des  römischen  Rechts,  was  man  seinen  Schriften  anmerkt. 
Er  war  verheirathet.  Nach  seiner  Bekehrung  zum  Chris tenthum  w^urde  e: 
Presbyter  und  war  als  solcher  in  mannigfaltiger  Weise  für  die  Kirche  thätig; 
ein  feuriger  Geist,  voll  tiefer  Gedanken,  zu  Schroffheiten,  Extremen  geneigt, 
von  empfänglicher  Phantasie  und  streng  asketischer  Richtung,  dabei  überall 
das  Instinktartige,  Unvermittelte  über  das  Erlernte,  Vermittelte  setzend, 
w  urde  er  zum  Montanismus  hingezogen  (203)  2).     Die  montanistische  Ekstase 


1)  Nach  Hieronymns  de  viris  ill.  c.  53. 

2)  Nach  Hieronymus  1.  c.  sei  er  durch  den  Neid  und  die  Beleidigung  der  rümischen 
Geistlichkeit  zum  Montanismus  hingezogen  worden. 


Tertullian.  125 

und  Pi'ophetie  und  Herabsetzung  der  Hierarchie,  sowie  der  sittliche  Rigo- 
rismus des  Montanisnuis  entsprachen  seinem  eigensten  Wesen;  so  wurde  er 
der  eifrigste  Verfechter  der  montanistischen  Grundsätze  i). 

TertuUian's  Werke  sind  theils  vor,  theils  nach  seinem  Uebertritt  zum 
Montanismus  verfasst  worden,  und  es  ist  nicht  immer  leicht,  die  beiden 
Classen  von  Schriften  von  einander  zu  unterscheiden.  Sie  bieten  für  das 
Verständniss  erhebhche  Schwierigkeiten.  Tertullian  ringt  noch  mit  der 
Sprache  und  wird  sehr  oft  dunkel.  So  viele  Worte,  so  viele  Gedanken, 
sagt  von  ihm  Vincentius  von  Lerinum. 

Die  apologetischen  Schriften  haben  wir  bereits  kennen  gelernt.  Weit 
zahlreicher  sind  die  polemischen  Schriften,  gerichtet  gegen  die  Häretiker 
und  ihre  Lehren,  gegen  Marcion,  Hermogenes,  gegen  die  Valentinianer, 
gegen  diese  auch  das  Scorpiacum  (Mittel  gegen  den  Scorpionenstich)  contra 
Gnosticos.  In  den  Schriften  de  anima,  de  baptismo,  de  carne  Christi,  de 
resurredione  carnis  bekämpft  er  auch  gnostische  Lehren  und  stellt  die  katho- 
hsche  Wahrheit  ins  Licht;  sodaim  schrieb  er  auch  gegen  den  Unitarier 
Praxeas.  Die  wichtigsten  der  polemischen  Schriften  sind  1)  die  vier  Bücher 
gegen  Marcion  in  der  montanistischen  Periode  geschrieben,  wie  aus  der  Er- 
wähnung der  Psychici  hervorgeht,  wichtig  als  Quelle  der  Angabe  über  Mar- 
cion, sodann  als  Quelle  für  die  Theologie  des  Verfassers ;  2)  de  praescriptione 
haereticorum  oder  adversus  haereticos,  wahrscheinlich  vor  der  Schrift  gegen 
Marcion  geschrieben,  aber  nicht  sicher,  ob  vor  der  montanistischen  Periode. 
Denn  nach  wie  vor  hat  sich  TertuUian  zu  den  Häretikern  in  dasselbe  Ver- 
hältniss  gestellt  wie  in  diesem  Buche.  Das  argumentum  praescriptionis  ist 
dem  römischen  Rechte  entlehnt,  es  ist  ein  rein  formales  Argument,  wodurch 
die  Incompetenz  eines  anderen  abgewiesen  wird,  z.  B.  Abweisung  einer 
Klage  wegen  Verjährung,  so  dass  nach  Verfluss  einer  gewissen  Zeit  der 
Besitzstand  einer  Sache  als  der  rechtmässige  gilt  und  nicht  weiter  ange- 
fochten werden  darf;  praescriptio  ist  aber  nicht  die  Verjährung  selbst.  Diess 
wendet  Tertullian  auf  die  katholische  Kirche  in  ihrem  Verhältniss  zu  den 
Häretikern  an.  Mit  ihnen  brauche  sich  die  Kirche  in  keinen  Streit  einzu- 
lassen; zu  ihren  Gunsten  spreche  der  verjährte  Besitzstand.  Die  Häretiker 
als  die  später  gekonnnenen  seien  im  Rechtsnachtheile ;  es  ist  eine  schärfere 
Fassung  des  Beweises,  den  Irenäus  und  Clemens  Alexander  (Stromata  7,  17) 
gebraucht  hatten.  Es  ist  dabei  ein  Uebelstand,  indem  unentschieden  bleibt, 
ob  die  katholische  Kirche  ursprünglich  auf  rechtmässige  Weise  in  den  Besitz 
der  betreffenden  Lehren  gekommen;  doch  das  sieht  Tertullian  als  keines 
weiteren  Beweises  bedürftig  an.  Es  ist  ein  ziemUch  roher  Beweis,  der  uns 
schon  eine  gewisse  Veräusserlichung  im  Begriti  der  Katholicität  deutlich  zeigt. 
Tertullian  selbst  ist  diesem  Standpunkt  im  Interesse  des  Montanismus  nicht 
treu  gebheben.  Da  man  demselben  seine  Neuheit  zum  Vorwurfe  machte, 
erwiderte  er:  ,,was  zur  Widerlegung  der  Häresie  gereicht,  ist  nicht  sowohl 
die  Neuheit  als  die  Wahrheit.  Was  immer  der  Walu'heit  widerspricht,  das 
ist  Häresis,  selbst  eine  alte  Gewohnheit'^  ^). 


1)  S.  im  folgenden  die  Montanisten. 

2)  De  virginibus   vclandis   c.  1    haeregin   non   tarn  novitas   c[uam   veritas    revincit. 


126  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

Eiiiigermassen  Schüler  von  Tertullian  ist  Cyprian,  Therseires, 
Caecilius,  Bischof  von  Carthago,  gestorben  als  Märtyrer  258.  Er  hat  sich 
hauptsächlich  beschäftigt  mit  Erörterung  dessen,  was  die  Kirche,  die  Kirchen- 
verfassung, die  Kirchenzucht,  die  Sacraniente  betrifft.  Geboren  zu  Carthago 
im  Schoosse  einer  heidnischen  Familie,  von  der  Verderbniss  des  heidnischen 
Lebens  nicht  frei  gebheben,  eine  Zeitlang  Lehrer  der  Rhetorik,  was  man 
seinen  Schriften  anmerkt,  wurde  er  durch  den  Presbyter  Caecihus,  mit  dem 
er  dasselbe  Haus  bewohnte,  mit  dem  Evangelium  bekannt  und  zum  Lesen 
der  Schrift  angetrieben.  Bald  wurde  er  Katechumene,  gab  seine  meisten 
Güter  den  Armen,  gelobte  Keuschheit  und  empfing  die  Taufe,  deren  über- 
natürliche Wirkung  er  rühmt  (245  oder  246).  Von  dieser  Zeit  an  vertiefte 
er  sich  in  das  Studium  der  Scliriften  TertuUian's,  doch  ohne  dessen  singulare 
Meinungen  anzunehmen.  Er  wurde  nach  einiger  Zeit  Presbyter,  darauf  Bi- 
schof durch  Wahl  der  Gemeinde,  die  sein  anfängliches  Sträuben  überwand 
durch  ihr  dringendes  Verlangen.  Er  ist  eben  so  sehr  Kirchenregent  als  Schrift- 
steller; alle  seine  Schriften  haben  einen  bestimmt  ausgesprochenen  kirch- 
lichen, praktischen  Zweck.  Sie  beziehen  sich  hauptsächlich  auf  die  kirchlichen 
Bewegungen  und  Schismen,  mit  denen  er  zu  thun  hatte. ^  Eine  Hauptschrift 
ist  die  Abhandlung  de  unitate  ecclesiae,  wozu  viele  Briefe  als  Commenlar 
dienen  1).  Noch  ist  hier  zu  nennen  Novatian,  das  Haupt  des  novatia- 
nischen  Schisma,  Verfasser  einer  Schrift  de  trinitate,  die  zum  Theil  ein 
Auszug  ist  aus  der  Schrift  des  Tertulhan  gegen  Praxeas.  —  Auch  drei  lö- 
mische  Bischöfe  dieser  Zeit,  Cornelius,  Stephanus,  Dionysius,  die  vm 
dem  Jahr  251  bis  269  den  römischen  Bischofstuhl  inne  hatten,  haben  si-^h 
schriftlich  wenn  auch  nur  sehr  kurz  über  Kirchenzucht,  Dionysius  auch  übor 
die  Trinitätslehre  ausgesprochen.  In  dogmatischer  Beziehung  ist  er  d^r 
bedeutendste.  —    Arnobius  und  Lactanz  sind  uns  schon  bekannt. 

Zwei  Kirchenlehrer  des  Abendlandes  ausser  Irenäus  haben  griechisch 
geschrieben,  der  Presbyter  Cajus,  f  217,  der  gegen  die  Montanisten  schrieb, 
sodann  Hippolytus,  an  dessen  Namen  sich  eine  der  interessantesten  Ent- 
deckungen im  Fache  der  patristischen  Literatur  knüpft.  Die  darauf  be- 
züglichen Forschungen  haben  bereits  eine  kleine  Literatur  erzeugt  2).  —  G  3- 
boren  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts,  wahrscheiuhch  in 
Abendlande,  war  er  wohl  in  Lyon  selbst  Zuhörer  des  Irenäus  und  persön- 
lich mit  ihm  bekannt.  Zu  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  kam  er  nach 
Rom,  wurde  daselbst  Presbyter  und  gelangte  bald  zu  Ansehen  durch  seire 
Gelehrsamkeit  und  kirchhche  Thätigkeit.     Mit  den  römischen  Bischöfen  Zv- 


Quodeunque  adversus  veritatem  sapit,  hoc  erit  haeresis,   etiam  vetus  consuetudo.    S.  übiar 
Tertullian  die  Monographien  von  Neander  und  von  Hesseiberg. 

1)  S.  über  ihn  die  Monographie  von  Rettberg  1831.  —  Huther,  Cyprian's  Lehren 
von  der  Kirche  1839. 

2)  S.  Bunsen,  Hippolytus  und  seine  Zeit  1852.  1.  Ausgabe.  1855.  2.  Auil. 
Dr.  Baur,  theol.  Jahrbb.  1853.  —  D ö Hinge r,  Hippolytus  und  Callistus  1853.  -- 
Dunker  in  den  Göttinger  gelehrten  Anzeigen  1851.  —  Ritschi  in  den  theol.  Jahrbl. 
1854.  —  Gieseler  in  der  St.  und  Kritik  1853.  —  Jakobi  in  Müllers  Zeitschrüfc 
1851.  1853,  in  Neanders  Dogmengeschichte,  und  in  der  Realencyklopädie.  —  Volkmai, 
Hippolytus.  —     Lipsius,  Quellenkritik  des  Epiphanius. 


Hippolytus.  127 

phyriniis  und  Callistus  (Calixt),  welcher  letztere  ein  sittlich  anrüchiger 
Mann  war,  entzweite  er  sich  über  wichtige  Punkte  der  Disciplin  und  Lehre. 
Er  vertheidigte  nämlich  die  Grundsätze,  die  später  die  Fahne  der  Novatianer 
wurden.  Er  bestritt  die  patripassianische  Lehre  jener  Bischöfe  und  verthei- 
digte, was  die  göttliche  Trinität  betrifft,  die  Subordinationstheorie.  Es  be- 
reitete sich  damals  nämlich  in  Rom  das  novatianische  Schisma  vor.  Er  ist 
wahrscheinhch  vor  dem  Ausbruch  des  Schisma  gestorben,  vielleicht  235,  als 
Vorsteher  einer  kleinen,  von  der  Kirche  mehr  oder  weniger  getrennten 
Partei  in  oder  bei  Rom  *).  Er  vindicirt  nämlich  im  sXsyxoQ  für  sich  Nach- 
folge der  Apostel,  Ugatsta.  Euseb.  (6,  20)  versetzt  ihn  aus  Mangel  an 
Kenntniss  ins  Morgenland  als  Bischof. 

Hippolytus  ist  in  seiner  Zeit  ein  ausserordentlich  fruchtbarer  Schrift- 
steller gewesen ;  er  hat  viele  exegetische ,  dogmatische  und  polemische  Schrif- 
ten verfasst,  die  fast  alle  bis  auf  Fragmente  verloren  gegangen.  Sein  Haupt- 
werk, neben  dem  des  L:*enäus  eine  Hauptquelle  für  die  Geschichte  der 
Gnosis,  ist  ein  xata  ncecMp  algscremv  eXeyxog,  von  Euseb.  6,  22,  unter  dem 
Titel  nqo^  änacxag  tag  aigeaetg  angeführt,  auch  von  Hieronymus  de  viris 
illustribus  c.  61,  nebst  vielen  anderen  Schriften  des  Hippolytus.  Diese 
Hauptschrift  wurde  neuerdings  wieder  aufgefunden  von  einem  gelehrten 
Griechen,  Minoides  Minas,  den  der  französische  Cultusminister  Villemain 
1842  nach  Griechenland  geschickt  hatte;  die  Schrift  fand  sich  vor  in  einer 
Handschrift  des  vierzehnten  Jahrhunderts.  Es  zeigte  sich  nun,  dass  der 
erste  Theil  der  Schrift  schon  längst  vorhanden  war  und  als  Werk  des  Ori- 
genes  galt  unter  dem  Titel  (pdoffocpov^eva ;  daher  glaubte  man  das  neu  auf- 
gefundene Werk  sei  ebenftills  eine  Arbeit  des  Origenes;  und  so  erschien  das 
Ganze  zum  ersten  Male  von  Miller  in  Oxford  1851  als  Werk  des  Origines 
herausgegeben,  —  zum  zweiten  Male  als  Werk  des  Hippolytus  von  Duncker 
und  Schneidewin  1855  2).  Aus  dieser  Schrift  ersehen  wir  das  Verhältniss 
zum  novatianischen  Dogma,  das  man  eigentUch  kann  kommen  sehen.  Der 
Verfasser  zeigt  sich  als  nüchterner,  besonnener  Geist,  wohl  bewandert  in  den 
Schriften  der  alten  Philosophen,  die  er  zur  Beleuchtung  der  gnostischen 
Häresieen  verwendet:  in  Vergleichung  der  gnostischen  Lehren  zeigt  er  Scharf- 
sinn. Was  aber  seinem  Werke  den  grössten  Werth  verleiht,  das  sind  die 
vielfachen  Auszüge  aus  den  Werken  der  Gnostiker. 


1)  Man  hat  vennuthet,  dass  er  Bischof  von  Portus  Romanus  gewesen,  wo  er  nacli 
Prudentius  tj^qi  GTfq-avoiv  als  Märtyrer  starb;  man  fand  nämlich  1551  in  einer  Märty- 
rerkapelle bei  Portus  eine  Statue,  den  Hippolytus  darstellend,  der  auf  einem  »Qovog  sitzt." 
Am  Stuhl  ist  das  Verzeichniss  seiner  Schriften  angebracht ;  bei  Bunsen  ist  eine  Abbildung 
der  genannten  Statue.    Manche  meinen,  es  sei  die  Statue  eines  alten  Rhetors. 

2)  S.  ausserdem  D.  A.  Harnack,  über  eine  in  Moskau  entdeckte  und  edirte  alt- 
bulgarische  Version  der  Schrift  Hippolyts  de  antichristo,  —  in  der  Zeitschrift  für  histo- 
lische  Theologie  1875.     1.  Heft. 


128  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 


Zweites  Capitel.    Uebersicht  der  sich  bildenden  katholischen 
>  Theolojjie. 

Nachdem  wir  die  Kirchenlehrer  und  Kirchenschriftsteller  nach  ihrem 
Leben,  ihren  Arbeiten  und  der  eigenthündichen  Richtung,  die  sie  dabei  ein- 
schlugen, kennen  gelernt  haben,  wird  es  nöthig  sein,  uns  eine  Uebersicht  des 
von  ihnen  durchgearbeiteten  dogmatischen  Stoffes  zu  verschaffen,  wobei  wii* 
Anlass  haben  werden,  auf  gewisse  neue  häretische  Abirrungen.,  zwischen 
welchen  die  katholische  Kirchenlehre  sich  hindurch  arbeiten  musste,  ein- 
zugehen. 

§.  1.    Die  Lehre  von  den  Erkenntnissquellen  des  Christenthums. 

Was  den  Kanon  des  Alten  und  Neuen  Testamentes  betrifft,  so 
ist  zuvörderst   zu   bemerken,   dass  wir   hier   das  Wort  Kanon,   regula,   nur 
vermöge   einer  Anticipation   gebrauchen,    denn    in  dieser  Peiiode   wurde   es 
direct  nur  auf  die  Glaubensregel  bezogen.     Der  Kanon  des  Alten  Testamen- 
tes war  schon  längst  abgeschlossen.    Die  unter  uns  als  apokryphisch  bezeich- 
neten Schriften,   Werke  palästinensischer  und  aegyptischer  Juden,  nach  der 
Schliessung   des  jüdischen  Kanons,    theils   in  hebräischer  Sprache  abgefasst, 
aber  bald  in  die  griechische  übersetzt,  theils  in  dieser  Sprache  ursprünglich 
geschrieben,    wurden    von    den    Juden    den    kanonischen    Schriften    niemals 
gleichgestellt.     Da  abei    die  Christen   auch   diese  kanonischen  Schriften  nur 
in  griechischer  üebersetzuug  kannten,   so   verschwand   für  sie   gi'ossentheils 
der  Unterschied  zwischen  beiden  Classen  von  Schriften,   so   dass   sie  beiden 
fast  denselben  Werth  beilegten;  ja,  sie  nahmen  noch  mehrere  apokryidiische 
Schriften  als  kanonische  hinzu,    so  Barnabas   das  vierte  Buch  Esra,   Hermas 
das   Buch   Eidam    und  Modal,    Tertullian    (de  cultu  feminarum    1,  3),    das 
Buch  Henoch,    das  er  sogar  auf  diesen  zurückführen  will.    Indessen  regten 
sich  Zweifel  an  solcher  Ueberfülle  heiliger  Schriften;    dadurch  fand  sich  Bi- 
schof Meli  to   von  Sardes   bewogen,    nach   genauen  Erkundigungen   in  Palä- 
stina,  den  Kanon   des   Alten  Testamentes  aufzustellen.     Dieser  Kanon  des 
Melito  enthält  blos  die  auch  von  uns  als  kanonisch  geltenden  Schriften  (Eu- 
seb.  4,  26).    Im  Ganzen  denselben  Kanon  gibt  Or  igen  es  nach  der  Aussage 
der  Juden   (Euseb.  6,  25).    Doch   nimmt   er   anderwärts   die  Bücher  Judith 
und  Tobias  in  Schutz.    So  wurde  eine  Scheidung  wenigstens  angebahnt,    die 
später  in  der  griechischen  Kirche  vollzogen  wurde,    während   die  lateinische 
Kirche  die  alte  Vermischung   ausdrücklich   sanctionirte.   —     Was   den   sich 
bildenden  neutestamentlichen  Kanon  betrifft,  so  ist  bereits  früher  das  hieher 
Gehörige  erörtert   worden.     Der  Ausdruck  Neues  Testament   bei  Tertullian, 
adv.  Marcionem  4,  1,  ist  eine  Uebersetzung  von  xaivri  öia&rjxfi;    so   nannte 
der  Herr  selbst  die  von  ihm  zu  stiftende  Keligionsverfassung  (xMatth.  26,  28),  , 
der  Ausdruck  wurde  per  metonijmimn  auf  die  Schriften,    die    davon   zeugen, 
übertragen,   wie   schon  Paulus   die  alttestamentlichen  Schriften  nalaia  dia- 
^fjxri  nennt  (2  Kor.  3,  14);   daher  Origenes   auch   die   neutestamentlichen  ^ 
xaii^Tj  dia^TiXTi  nannte.     Jiadrjxrj  kann  lum  beides  heisseu:    Bund,  Vertrag, 


Lehre  von  der  Autorität  der  Bibel.    Inspiration.  129 

und  Vermach tniss ,  Testamentiim ;  diese  zweite  Bedeutung  wurde  also  in  der 
lateinischen  Benennung  des  Kanons  die  ausschliessliche,  der  Begriff  des  Bun- 
des trat  dagegen  zurück. 

Um  die  Autorität  der  Bibel  festzustellen,  musste  gegen  die  juden- 
christhche  Häresis  der  Unterschied  beider  Testamente,  gegen  die  heiden- 
christliche die  Uebereinstimmung  derselben  hervorgehoben  werden;  in  der 
That  bewegte  sich  die  kathohsche  Auffassung  zwischen  den  beiden  häretischen 
Meinungen.  Doch  wurde  weit  mehr  die  relative  Identität  als  die  Verschie- 
denheit hervorgehoben,  weil  die  heidenchristliche  Häresis  die  Kirche  mit 
grösseren  Gefahren  bedrohte  als  die  judenchristliche.  Diess  gilt  namentlich 
von  Irenäus,  dem  sonst  mit  Recht  nachgerühmt  wird,  dass  er  das  richtige 
Verhältniss  beider  Testamente  dargelegt  habe  (besonders  im  vierten  Buche, 
vom  neunten  Capitel  an);  was  er  da  vorbringt,  ist  ein  Commentar  zu  den 
Worten:  „das  Alte  und  das  Neue  Testament  lehren  einen  und  denselben 
Herrn  (Jesum).  Denn  der  Herr  ist  der  Famihenvater,  der  über  das  ganze 
väterliche  Haus  herrscht,  und  den  Unfreien  und  noch  Unerzogenen  das  Ge- 
setz, den  Kindern  aber  und  den  durch  den  Glauben  Gerechtfertigten  ent- 
sprechende Gebote  und  das  Erbe  gibt  (4,  9.  1)."  Daher  vergleicht  Irenäus 
beide  Testamente  mit  den  beiden  Säulen  des  Hauses,  unter  dessen  Trüm- 
mern Simson  sich  selbst  und  die  Philister  begrub.  Der  Irrthum  setzt  da 
an,  wo  er  das  alttestamentliche  Opferwesen  nur  in  etwas  veränderter  Form 
(species  immutata  tantum)  in  die  katholische  Kirche  überträgt  und  das 
Wort  des  Deuteronomiums  16,  16,  du  sollst  vor  deinem  Gotte  nicht  mit  lee- 
ren Händen  erscheinen,  buchstäblich  auf  die  neutestamentliche  Oekonomie 
anwendet  (4,  18.  1.  2).  Die  Autorität  der  göttlichen  Schriften  {^eiai  yga- 
(pai  Iren.  2,  27.  1),  des  Wortes  Gottes  (ta  Xoyta  xov  &eov  (Iren.  1,  8.  1) 
oder  dominicae  scripturae  (ib.  5,  20.  2)  beruht  auf  der  Inspiration  ihrer  Ver- 
fasser, die  man  sich  als  ein  Bewegtwerden  vom  heihgen  Geiste  dachte 
(Athen agoras,  nge^ßsia  c.  7),  doch  ohne  Ekstase,  was  gegen  die  Mon- 
tanisten besonders  betont  wurde  ^  daher  Miltiades  eine  eigene  Schrift  ver- 
fasste,  dass  der  Prophet  nicht  solle  in  der  Ekstase  reden  (negi  xov  iirj  deiv 
TtQOtpritrjv  kaXeip  ev  excrtacrst).  Die  Aimahme  einer  eigentlichen  götthchen 
Inspiration  der  heihgen  Schriftsteller  hinderte  die  Väter  keineswegs,  die 
menschhche  Seite  der  Schrift  zu  erkennen.  Irenäus  hat  sich  irgendwo  über 
die  Eigenthümlichkeit  des  paulinischen  Stiles  ausgesprochen  (3,  7).  Orige- 
nes  (bei  Euseb.  6,  25)  macht  über  denselben  Gegenstand  feine  Bemerk- 
ungen. Er  gibt  zu ,  dass  in  Betreff  der  letzten  Passahreise  Jesu  ein  Wider- 
spmch  zwischen  Matthäus  und  Johannes  statt  finde.  Tertullian  nimmt  bei 
Paulus  eine  fortschreitende  Entwicklung  des  christhchen  Geistes  an  (adv. 
Marcionem  1,  20). 

Der  Kampf  nnt  den  Häretikern,  besonders  der  mit  den  Gnostikern,  die 
vermittelst  künstUcher  Exegese  ihre  absonderlichen  Lehren  in  die  Schrift 
hineintmgen,  legte  den  Vätern  das  Bedürfuiss  nahe,  das  damals  so  wenig 
angebaute  Gebiet  der  bibhschen  Hermeneutik  zu  betreten.  Sie  hatten 
dabei  einen  schlimmen  Stand;  denn  während  sie,  so  z.  B.  Irenäus,  gegen  die 
Spielereien  der  allegorischen  Auslegung,  wie  sie  die  Gnostiker  übten,  sich 
scharf  erklärten,   })efolgten  sie  selbst  dieselbe  Methode   der  Auslegung,   die 

Herzog,  Kirchengcßchichte  I.  9 


130  Erste  Periode  des  alten  Katholicismns. 

ja  durch  die  grössten  Autoritäten  empfohlen  war.  Die  alexandrinischen 
Theologen  zumal  konnten  diese  Methode  nicht  entbehren,  da  sie  ihnen  die 
Mittel  an  die  Hand  gab,  ihr  Lehrsystem  mit  der  Schrift  zu  vereinbaren. 
Origenes  suchte  nun  jene  Art  der  Auslegung  auf  bestinnnte  Grundsätze  zu- 
rückzuführen und  zugleich  den  buchstäblichen  Siim  innerhalb  bestimmter 
Grenzen  als  gültig  zu  erweisen  (de  principiis  lih,  4  und  in  den  exegetischen 
Werken).  Er  geht  dabei  von  zwei  allgemeinen  Grundsätzen  aus:  1)  das3 
die  Schrift  buchstäbhch  verstanden,  öfter  Anstösstiges  und  Unwahres  vor- 
bringe und  dadurch  dem  Glauben  P^intrag  thue  (z.  B.  1  Sam.  15,  11.  18,  10. 
Jesaia  45,  7  und  andere  Stellen;  2)  dass  die  Schrift  von  unermesslich 
reichem  Inhalte  sei,  dass  kein  Jota  darin  zu  linden,  worin  nicht  eine  FülU^ 
von  Mysterien  enthalten  sei.  In  der  näheren  Darlegung  seiner  Theorie 
geht  er  auf  die  trichotomische  Eintheilung  der  menschlichen  Natur  als  aus 
Cö)/*«,  ipvxv»  Tvveviia  bestehend  zurück.  So  ist  auch  in  der  Schrift  1)  ein 
gemeintasshcher  und  historischer  Verstand,  der  Leib  der  Schrift,  wodurch 
die  Einfältigen  erbaut  werden;  2)  welche  etwas  mehr  vorwärts  geschritten 
sind,  die  werden  von  der  Seele  der  Schrift  erbaut,  das  ist  der  psychische, 
moralische  Sinn.  Es  sind  diess  diejenigen  Anwendungen  des  Textes,  die 
zur  Reinigung  und  Veredlung  der  Gesinnung  beitragen  können,  3)  welche 
aber  vollkommen  sind  (1  Kor.  2,  6.  7),  die  müssen  vom  geistlichen  Gesetz, 
welches  einen  Schatten  der  zukünftigen  Güter  besitzt,  als  vom  Geiste  (der 
Schrift)  erbaut  werden;  das  ist  der  mystische,  pneumatische,  eigentlich  alle- 
gorische Sinn  (Redepenning  1,  308).  Einen  zwiefachen  mystischen  Sinn  hat 
Origenes  nicht  angenommen.  In  Hinsicht  des  Buchstabens  der  Schrift  sind 
ihm  drei  Fälle  möglich:  1)  oft  bietet  der  Buchstabe  einen  ganz  guten  Sinn; 
da  ist  Allegorie  nicht  nöthig;  diese  Kategorie  von  Stellen  ist  gross,  und 
viele  sind  gläubig  geworden,  indem  sie  sich  blos  an  diesen  Sinn  hielten; 
2)  Anderes  ist  durchaus  nicht  nach  diesem  Sinne  zu  fassen,  da  bezieht  sich 
Origenes  auf  die  Polygamie  der  Väter,  auf  Xoahs  Trunkenheit  u.  s.  w.,  —  dazu 
bemerkt  er,  es  entstehen  viele  Uebelstände,  wenn  jemand  am  Fleische  der 
Schrift  (in  scriptiirae  carne)  hängen  bleibt',  —  dabei  offenbar  auf  sich  selbst 
zurückblickend;  wer  wird  glauben,  fährt  er  fort,  der  erste  und  zweite  Tag, 
Abend  und  Morgen  sei  ohne  Sonne,  Mond  und  Sterne  gewesen?  wer  ist  so 
thöricht,  dass  er  glaubt,  Gott  habe  einen  Garten  gepflanzt?  3)  Es  gibt  aber 
auch  Fälle,  wo  beides,  der  buchstäbliche  und  der  mystische  Sinn  stattfinden. 
So  z.  B.  als  Gott  schon  den  Hinnnel  geschaffen  hatte,  schuf  er  erst  das 
Firmament.  Nun  aber  ist  der  Hinnnel  unser  Geist,  d.  h.  unser  innerer, 
geistUcher  Mensch;  der  körperliche  Himmel,  d.  h.  das  Firmament,  ist  unser 
äusserhcher  Mensch;  wobei  Origenes  das  herausbringt,  dass  unsere  Seelen 
lange  vor  unseren  Leibern  in  vorweltlichem  Zustande  geschaffen  worden. 
Dass  durch  eine  solche  Behandlung  der  Schrift  nicht  allen  üebelständen  vor- 
gebeugt war,  liegt  am  Tage. 

Die  Frage  nach  der  richtigen  Auslegung  der  Schrift  verschhngt  sich 
übrigens  in  die  betreffend  das  Verhältniss  der  Schrift  zur  Tradition,  zur 
Glaubensregel  insbesondere.  Diese  galt  als  nöthig,  um  den  Sinn  der  Sclu'ift 
zu  fassen;  nur  in  der  Kirche,  die  den  wahren  Glauben  hat,  ist  ein  richtiges 
V^rständniss  der  Schrift  möglich.     So  äussern  sich  Clemens  von  Alexandrien 


Lehre  vom  Dasein  und  der  Einheit  Gottes.  131 

und  Tertulliau.  Da  aber  die  Glaubensregel  sehr  allgemein  gehalten  war,  so 
fingen  die  Kirchenlehrer  auf  die  Schrift  zurück.  Es  stand  fest,  dass  nichts 
Glaubensatz  sei,  was  nicht  aus  der  Schrift  bewiesen  werden  könne.  Es 
wurde  gar  nicht  als  denkbar  gedacht,  dass  es  solche  Glaubenssätze  geben 
könne.  Cyprian  (ep.  74  ad  Pompejum)  sprach  es  kühn  aus:  nur,  wenn  die 
Tradition  mit  der  Schrift  übereinstimme,  solle  man  sie  befolgen;  die  Ge- 
wohnheit, entblösst  von  Wahrheit  sei  nur  ein  alter  Irrthum  (consuefudo  sine 
Verität e  vetustas  erroris  est). 

§.  2.    Die  Lehren  von  Gott,   von   der  Dreieinigkeit    und  von   der 

Schöpfung. 

Was  das  Dasein  Gottes  betrifft,  so  entstand  für  die  Apologeten  die 
Aufgabe,  den  Heiden  gegenüber  zu  beweisen,  dass  ihr  Aufgeben  der  heid- 
nischen Götter  nicht  Atheismus  sei.  Sie  appeUiren  dabei  an  das  allgemeine 
Gottesbewusstsein ,  und  sehen  übrigens  wohl  ein,  dass  die  Beweise  nicht  aus- 
reichen; der  Uranfang  der  Dinge,  lehrt  Clemens  von  Alexaudrien ,  ist  gänzlich 
unerweisbar.  Sie  gehen  zurück  auf  die  innere  Anlage  und  Disposition  des 
Menschen.  „Alle  haben  Augen,  lehrt Theophilus  von  Antiochien,  aber  einige 
haben  verfinsterte  Augen,  die  das  Sonnenlicht  nicht  sehen  können.  So  ist 
es  mit  dir,  o  Mensch!  die  Augen  deiner  Seele  sind  durch  die  Sünde  ver- 
finstert. Gleich  einem  glänzenden  Spiegel  muss  der  Mensch  eine  reine  Seele 
haben.  Wenn  Rost  auf  dem  Spiegel  sitzt,  so  kann  man  das  Angesicht  des 
Menschen  nicht  im  Spiegel  sehen.  So  kann  auch,  wo  Sünde  im  Menschen 
ist,  ein  solcher  Gott  nicht  sehen.''  Clemens  von  Alex  and  rijen  empfiehlt 
die  SelbsterktMintniss  als  Bedingung  der  Gotteserkenutniss  ^). 

Was  die  Einheit  Gottes  betritt"t,  so  gehen  die  Kirchenlehrer  auch 
zurück  auf  das  eingepflanzte  Gottesbewusstsein,  das  auch  den  Heiden  die 
Einheit  Gottes  bezeuge,  und  berufen  sich  auf  Aussprüche  wie :  Gott  ist  gross, 
—  wenn  Gott  es  gil)t  u.  s.  w.,  ebenso  auf  Aussprüche  der  griechischen  Philo- 
sophen, so  dass  mau  sagen  könne,  entweder,  dass  jetzt  die  Christen  Philoso- 
phen seien  oder  dass  die  Philosophen  vor  Zeiten  Christen  gewesen:  soMinucius 
Felix.  Athenagoras  führt  aus,  dass  der  wahre  Begriff  der  Gottheit  eine 
Vielheit  göttlicher  Wesen  schlechterdings  ausschliesse.  In  Hinsicht  der  Be- 
stimmung über  Gottes  Wesen  bemerken  wir  den  Gegensatz  des  Authropo- 
morphismus  und  des  Ideahsnuis  oder  Spiritualisnuis.  Dass  schon  Melito  von 
Sardes  Gott  einen  Leib  zugeschrieben  habe,  ist  höchst  unwahrscheinlich 
(s.  das  über  Melito  Gesagte).  Hingegen  Tertulliau  {de  carne  Christi  c.  11) 
schreibt,  darin  übereinstimmend  mit  Cicero  de  natura  deorum  1,  18,  Gott 
entschieden  einen  Leib  zu,  worunter  er  jedoch  blos  die  nothwendige  Form 
alles  Daseins  sich  dachte,  indem  er  lehrte,  dass  nichts  uukörperlich  sei,  als 
was  nicht  existire.  Auf  der  anderen  Seite  stehen  die  alexandrinischen  Theo- 
logen mit  ihrem  Bestreben,  von  der  Vorstellung  von  Gott  Alles  ferne  zu 
halten,   was   ihn   irgendwie  in  den  Kreis  des  Menschlichen  und  des  Körper- 


1)  PaedagOgUS  3,    1,  trevrou   yno   Ttg  fni'   yy(ofj,    .^fo»'  fiGfrcct- 

9* 


132  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

liehen  ziehen  könnte.     Origenes  erklärt   sich  aufs  entschiedenste  gegen  die- 
jenigen, die  sich  Gott  als  körperliches  Wesen  vorstellen. 

Von  besonderer  Bedeutung  an  sich  und  in  Beziehung  auf  die  nachfol- 
genden Entwicklungen  ist 

die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  i). 

Diese  Lehre  hängt  mit  der  Heilsökonomie  oder  Heilsveranstaltung  aufs 
inüigste  zusammen.  Es  handelt  sich  darum,  für  die  Hauptmomente  dersel- 
ben eine  Begründung  im  Gottesl)egriffe  zu  finden.  Der  Glaube  an  den  sich 
offenbarenden  Gott,  in  seiner  Einfachheit  ausgesprochen,  in  der  Taufformel 
(Matth.  28,  19),  sodann  in  anderen  Stellen  (1  Kor.  12,  4—6),  ringt  nach 
einer  Begründung  im  Gottesbegriffe  selbst.  Die  Kirche  sucht  für  das,  was 
sie  weiss  und  erfahren,  einen  objectiven  Halt  in  der  Gottesidee  zu  gewinnen 
Gott  der  Vater  aufgefasst  als  Urgnmd  des  Heiles,  Gott  der  Sohn  als  der 
die  Erlösung  der  Menschen  objectiv  vollziehende,  Gott  der  heilige  Gott  ah 
Princip  der  subjectiven  Aneignung  der  Erlösung  und  Versöhnung,  das  sind 
die  drei  Momente,  die  in  der  immanenten,  d.  h.  Wesenstrinität  ihre  objec- 
tive  Grundlage  suchen.  Es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  dass  in  dieser 
schwierigen  Operation  manche  Schwankungen  und  Unklarheiten  hervortraten. 
Ln  Neuen  Testament  sind  die  Voraussetzungen  der  späteren  kirchlichen 
Lehre  gegeben,  jedoch  das  Dogma  selbst  ist  noch  nicht  zu  seiner  Entwicklung 
gelangt.  Die  apostohschen  Väter  sind  hauptsächlich  mit  der  Heilsökonomie,  mit 
der  ökonomischen  Trinität  beschäftigt.  Der  Ausdruck  tgtag  kommt  zuerst  voi 
bei  Theophilus  von  Antiochien  2 ,  15,  darauf  bei  Origenes  zu  Joh.  6 ,  47,  Matth, 
15,  31,  der  Ausdruck  trinitas  zuerst  bei  TertuUian  de  pudicitia  c.  21. 

So  wie  aber  Basilius  der  Grosse  zur  Rechtfertigung  der  kürzeren  Tauf- 
formel (auf  den  Namen  Jesu)   im  Unterschiede  von  der  längeren   (auf  die 
Dreieinigkeit)  lehrt,   dass  das  Bekenntniss   des  einen  Jesus   das   der  ganzen 
Dreieinigkeit   in    sich   enthalte,    so   handelte   es   sich   bei  Ausbildung  dieser 
Lehre  zunächst  hauptsächhch  um  Christum,  —  und  zwar  um  die  Bestimm- 
ungen, das  Göttliche   in  Christo   betreffend.      Gott   in  Christo,    Christus  der 
Abglanz  der  Herrhchkeit  des  Vaters,   das   ewige  Wort   in   ihm  Fleisch   ge 
worden,   das   war  ja  das  wesentlich  Neue  in  der  apostohschen  Verkündigung 
vom  erschienenen  Messias.     ,,Wie  die  Kirche  durch  Christum  gegründet  wor- 
den ist,  so  hat  sie  auch  von  Anfang  an  den  Glauben  an  ihn  als  an  eine  gott- 
menschliche  Persönlichkeit  im  Herzen  getragen''  2j. 

Das  bezeugen  sämmtliche  apostolische  Väter.  Clemens  von  Rom  (c.  16) 
nennt  Christum  das  Zepter  der  Herrschermacht  Gottes ,  den  Abglanz  der  gött- 
lichen Herrlichkeit.  Barnabas  preist  ihn  als  den  Herrn  der  ganzen  Welt, 
zu  welchem  Gott  schon  bei  der  Schöpfung  gesprochen:  lasst  uns  Menschen 
machen,  —  und  der  im  Fleisch  ersclieinen  musste,  weil  wir  Menschen  seinen 
AnbHck  sonst  nicht  hätten  ertragen  können,  so  wenig  als  die  Strahlen  der 
irdischen   Sonne,    das  Werk   seiner  Hände   c.  5.    Er  ist   das   unerschaffene 


1)  S.  die  angeführten  Werke  von  Baur   und  von  Dorner    und    von  Thomasius 
und  Mayer,  Lehre  von  der  Trinität  in  ihrer  historischen  Entwicklung.  2  Bde.  1844. 

2)  Thomasius  a.  a.  0.  S.  156. 


Lehre  von  der  Dreieinigkeit.     Justin,  133 

Licht,  nicht  der  Sohn  eines  Menschen,  sondern  der  Sohn  Gottes  im  Fleische 
ueoffenbart,  Urheber  der  ersten  und  zweiten  Schöpfung.  Dem  Ignatius  ist 
diristus  die  vollkommene  Offenbarung  Gottes  zur  Ueberwindung  der  Todes- 
herrschaft und  Einsenkung  eines  neuen  Lebens  in  die  Menschheit,  beides 
wahrer  Mensch  und  Gott,  Menschensohn  und  Gottessohn  aus  Maria  und  aus 
(rott  —  €P  av^QCono)  d^eog,  ev  (xagxi  yepo^spog  ^eog,  6  ^eog  ruidov  iriaovg 
XQKTTog  (ad  Smyrnaeos  c.  10,  ad  Rom.  Inschrift  und  c.  2,  ad  Ephes.  c.  15,  18. 
20  u.  a.  Stellen).  Dazu  kommt  das  Zeugniss  Euseb's  5,  28,  dass  die  Gläu- 
bigen in  alten  Liedern  Christum  als  Gott  besungen,  das  andere  Zeugniss  im 
Briefe  des  Phnius  au  Trajan,  dass  die  Christen  Carmen  Christo  quasi  Deo 
canunt. 

Hieb  ei  entstand  nothwendig  die  Frage  nach  dem  Verhältniss  Christi 
zu  Gott  Vater.  Zur  Verständigung  darüber  bot  sich  den  folgenden  Kirchen- 
lehrern Justin,  Theophilus,  Athenagoras,  Tatiau  das  Theologumenon  vom 
Logos  dar,  welches  von  der  alexandrinischen  Rehgionsphilosophie  in  den 
Doppelgedanken  der  göttlichen  Vernunft  und  des  göttlichen  Schöpfungswortes 
umgebildet  worden  war.  Li  solcher  Gestalt  wurde  es  von  Justin  und  an- 
deren Apologeten  auf  Christum  angewendet.  Logos  ist  ihnen  das  Göttliche 
in  Christo,  im  Unterschiede  von  dessen  menschlichen  Wesen  und  im  Unter- 
schiede von  Gott  dem  Vater,  —  er  ist  der  Vermittler  zwischen  Gott  und  der 
Welt,  der  Träger  der  ganzen  Weltgeschichte,  Inbegriff  der  göttlichen  Ver- 
nunft, dabei  Gott  von  Art  und  Namen,  wobei  Justin  sich  auf  die  Theopha- 
nien  beruft  (Gen.  1 ,  18 ,  1  ff"  Exod.  3 ,  1  tl.).  Er  existirte  bei  dem  Vater 
erst  potentiell  und  ideell,  und  wurde  vor  der  Schöpfung  der  Welt  und  zum 
Behuf  derselben  vom  Vater  gezeugt,  durcli  dessen  Kraft  und  Willen  aus  Gott 
herausgesetzt ;  es  ist  ein  Akt  der  Selbstmittheilung,  ähnlich  wie  die  menschliche 
Vernunft  ein  vernünftiges  Wort  erzeugt.  Dabei  ist  das  Verhältniss  zwischen 
Gott  Vater  und  dem  Logos  durchaus  als  Subordination  gedacht.  Irenäus 
dagegen  weist  alle  Fragen,  in  welcher  Weise  der  Sohn  aus  dem  Vater 
hervorgebracht  (prolattis)  worden,  als  vorwitzig  ab,  hält  aber  fest  am 
trinitarischen  (Hauben  der  Kirche  als  dem  unmittelbaren  Ausdruck  des 
chiistlichen  Selbstbewusstseins.  Was  den  heiligen  Geist  betrifft,  so  ergaben 
sich  aus  dem  Bestreben ,  dessen  Wesen  und  Verhältniss  zum  Vater  und  zum 
Sohne  l)egrifflich  darzulegen,  Schwierigkeiten,  die  vorerst  ungelöst  blieben, 
sei  es,  dass  man  (wie  Theophilus  1,  1)  die  alttestamentliche  Weisheit,  aus 
der  die  Logoslehre  sich  entwickelte,  als  nveviia  ctyiov  neben  den  Logos 
stellte,  oder  dass  beide,  Logos  und  Geist  nur  undeutlich  unterschieden 
wurden  (Justin  Apol.  1,  33).  Weniger  hat  es  zu  sagen,  dass  bisweilen  der 
Geist  als  Gabe  Gottes  gedacht  wurde  (in  der  cohortatio  ad  Graecos  c.  32), 
insofern  auch  von  Christo  in  der  Schrift  gesagt  wird,  dass  ihn  Gott  gegeben 
habe  (Joh.  3,  16).  Justin  nimmt  den  Geist  in  die  Trias  auf,  in  der  er  ihm 
den  dritten  Rang  anweist  (Apol.  1,  6). 

Die  katholische  Lehre  über  diese  Punkte  ^entwickelt  sich  fortan  im 
Gegensatze  gegen  zwei  von  einander  abweichende  Lehrformen,  als  die  Mitte 
haltend  zwischen  zwei  extremen  Ansichten,  denen  es  aber  gelungen  war,  eine 
ziemliche  Anzahl  von  Anhängern  zu  gewinnen,  Monarchianer,  Uni  tarier, 
An titr initarier  genannt.     Es   regte   sich   in   einigen  Theileu   der  Kirclie 


Ö' 


J34  Erste  Periode  des  alten  Katholicismiis. 

eine  judäisirende  Richtimg,  vermöge  welcher  mau  die  abstracte  pjuheit  der 
Gottesidee,  die  Monarchie  Gottes  festhaltend  i) ,  die  Vermitthmg  der  Ein- 
heit durch  die  Dreiheit  einer  heidnischen  Vervielfältigung  des  göttlichen 
Wesens  beschuldigte,  in  welcher  Richtung  aber  zwei  verschiedene  Wege  ein- 
geschlagen wurden. 

1)  Von  Christo,  als  blossem  Menschen  gedacht  —  nach  Art  der  Ebio- 
niten,  Kerinths  und  der  platonisirenden  Gnostiker   —   stieg   man   zum  gött- 
lichen Wesen  auf,  um  eine  Verbindung  des  Menschen  Jesus  mit  jenem  gött- 
lichen Wesen  nachzuweisen.     Es   sollte  auf  Christum  blos  eingewirkt  haben. 
Die  Vertreter  dieser  Ansicht  sind  ziemlich  zahlreich.     Theodotus,   ein  Le- 
derarbeiter {(TxvT€vg)   aus  Byzanz,   am  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  nacfc 
Rom  gekommen,   der  erste,   der   abgesehen   von   den   genannten  Häretikern 
Christum  einen  blossen  Menschen  nannte  nach  einem   alten  Zeugniss  bei  p]u- 
seb.  5,  28,   und  der  deswegen  c.  200  vom  römischen  Bischof  Victor  excom- 
nuinicirt  wurde.    Ihm  stimmte  bei  ein  anderer  Theodotus,    ein  Geldwechsler 
(tQaTTslitrjg),  ebenso  Artemon,  der  überdiess  behauptete,  die  Apostel  hät- 
ten dasselbe  gelehrt  und  die  alte  Kirche.    Zu  dieser  Classe  werden  auch  die 
von  Epiphanius  haeres.  54,  1  genannten  Aloger   gerechnet  (Irenäus  3,  11), 
aber  als  eigene  Sekte  haben  sie   nicht   existirt.     Der   hervorragendste  Mann 
dieser  Richtung  ist  Paul  von  Samosata,    Risihof  von  Antiochien  in  Syrien 
seit  250,  zugleich  weltlicher  Beamter,  ein  weltlicher,   prachthebender  Mann, 
269  von  der  Synode  zu  Antiochien   seines  Amtes   entsetzt   (und   zwar   nicht, 
blos  wegen  seiner  Heterodoxien)  Euseb.  7,  29 — 30.    Epiphanius  liaeresis  65, 1. 
Er  nahm    den  johanneischen  Begriff  vom  Xoyog   auf,    den   Xo/og   avco^ey); 
davon  unterschied  er  den  Menschen  Jesus,    von    der  Jungfrau  geboren,    em-^ 
pfangen   vom   heiligen  Geiste,    der   durch   seine  Weisheit   und  Tugend   sich 
würdig  machte ,  dass  der  Logos  sich  mit  ihm  vereinigte.    Er  war  aber  schon  ^ 
von  Natur  besser  als  alle  anderen  Menschen,   weil   aus   dem   heiligen  Geist 
gezeugt.    Durch  die  Verbindung  mit   dem  Logos  (^rw^jy,   (Tvpfj(f^f])   wurde 
Christus  noch  mehr  über  die  Linie  der  Menschheit  erhaben,   dadurch  wurde 
er  Wunderthäter  und  Erlöser  der  Menschen. 

2)  Der  zweite  Weg,  der  eingeschlagen  wurde,  war  der,  dass  die  we- 
sentliche Einheit  Christi  mit  dem  Vater  als  Aufgeben  des  persönlichen  Un- 
terschiedes zwischen  beiden  gedacht  wurde,  wobei  zuletzt  die  Menschheit 
Christi  als  gefährdet  erschien,  doch  ohne  Abirrung  in  den  eigenthchen  Do- 
ketismus. 

Der  erste  Mann,  der  diese  Richtung  vertrat,  ist  Praxeas,  der  aus 
Kleinasien  nach  Rom  gekommen,  daselbst  den  Montanismus  mit  Erfolg  be- 
kämpfte und  zugleich  seine  Lehre  von  Christo  vortrug,  mit  welcher  er  in 
Rom  vielen  Anklang  land  —  entweder  unter  Victor  185—197,  oder  unter 
Eleutherus  170—185.  Tertullian  wirft  ihm  vor,  dass  er  den  Paraklet  ver- 
trieb und  den  Vater  gekreuzigt  habe.  Sich  auf  Jesaia  45,  5.  Joh.  10,  30. 
14,  9.  10  gründend,  verwarf  er  allen  Unterschied  und  Selbstvermittlung  im 
göttlichen  Wesen,  vielleicht   in   der  Weise,   dass   Jesus   keine   menschliche 


1)  Monarchiam  tenemus,  sagten   sie.    Tertullian  ad  Praxeam  c.  3   ib.  dnos  et  trefl 
deos  jactitant  a  nobis  praedicari.    Tertullian  nennt  sie  daher  Monarchiaiier. 


Lehre  von  der  Dreieinigkeit.    Sabellius.  ^35 

Seele  gehabt  habe.  Jedenfalls  hat  er  Vater  und  Sohn  nicht  gehörig  von  ein- 
ander unterschieden^),  daher  Tertulhan  ihm  vorwirft,  dass  nach  seiner  Lehre 
der  Vater  geboren  worden  und  gelitten  habe,  daher  der  Name  Patri- 
passianer  bei  Origenes.  Tertullian  erschütterte  in  Rom  das  Ansehen,  das 
Praxeas  genoss,  durch  seine  Schrift  gegen  diesen.  Aehnliche  Vorstellungen 
finden  wir  bei  E p i g o n u s  und  Kleomenes,  Vorgänger  des  Noet,  w^elcher, 
aus  Smyrna  gebürtig,  daselbst  c.  200  excommunicirt  worden.  In  dieselbe 
Kategorie  gehört  B  e  r  y  1 1  u  s  von  B  o  s  t  r  a  in  Arabien,  dessen  Hauptsatz  w^ar, 
dass  Jesus  vor  der  Menschwerdung  nicht  als  eigene  Hypostase  der  Gottheit 
existirt  habe  (xat'  idiav  ovaiag  neqiYQf^fpriv).  Beryllus  wurde  244  auf  einer 
Synode  zu  Bostra  durch  Origenes  seines  Irrthums  überführt.    Euseb.  6,  33. 

Der  vorzüglichste  Vertreter  dieser  Richtung,  derjenige,  der  sie  am  mei- 
sten begrifflich  gestaltet  hat,    ist  Sabellius,   von  dem  es  ungewiss  ist,   ob 
er  aus  Libyen  oder  aus  Italien  gebürtig  ist.     Er   wurde   in  Rom  unter  dem 
Episkopate  von  Zephyrin  (200—217)    durch  den  nachmahgen  Bischof  CalHstus 
(Calixtj  für  die  Lehre  von  Kleomenes  gewonnen ,   welche  er  jedoch  selbstän- 
dig ausbildete.     Cahxt,  als  er  Bischof  wurde,    sagte   sich  von  Sabellius  los, 
und    vielleicht    verhess    dieser    um    deswillen    Rom,    um    sich     nach     dem 
Oriente  zu   begeben  2) ,    wo  er  in  Ptolemais  Presbyter  wurde.     In   der  Pen- 
tapohs   fand   er   viele  Anhänger,   so  dass  Dionysius   von  Alexandrien    gegen 
ihn  schrieb.  Seine  Lehre  erinnert  au  die  der  clementinischen  Homilieen  16,  12 
von   der  zur  Dyas  sich  ausdehnenden  und  aus  der  Dyas  sich  wieder  in  Eins 
zusammenziehenden  Ilonas.     Er  geht  also  aus  von  der  Monas,  als  der  abso- 
luten Substanz,  es  ist  der  schweigende  Gott,  der  in  sich  verschlossen  bleibt, 
als  solcher  ist  er  unwirksam  und  unthätig.     In  Thätigkeit  kommt  die  Monas 
in  ihrer  Offenbarung,    die    als   ein  sich  Ausdehnen  [nkatvved^ai)   als   eine 
Verwandlung  ({j^ezaiioQ^ovcrO^ai)    als    ein   Reden  (XaXeiv)    geschildert   wird. 
Daraus   ergibt   sich,   dass   die  Monas   in   erster  Reihe   sich   zum  Logos  ent- 
wickelt.   Der  Logos  ist  Gott,   sofern   er  offenbar  wird,   er  ist  der  offenbare 
Gott  überhaupt.    P^inmal  aber  ist  es  der  Vater,  der  sich  ausdehnt  zum  Sohne 
und   zum   Geist  3j,    ein   anderes   Mal  wird   dasselbe   von   der  .Monas  ausge- 
sagt ^).    Sie  entfaltet  sich  zur  Trias.     Es   gibt  also  drei  Offenbarungsw^eisen 
Gottes,   TiqoqoiTia^    drei   verschiedene  Antlitze  der  Gottheit,   sofern  sie  sich 
offenl)art.     Der   sich  offenbarende  Gott  jetzt  sich  zur  Welt  in  ein  dreifaches 
\'erhi\ltniss ,    entsprechend   drei   auf  einander   folgenden   Off'enbarungsstufen. 
Im  alten  Bunde  hat  Gott  als  Vater  das  Gesetz   gegeben,    im   neuen  ist   der 
Sohn  Mensch  geworden;    als  heiUger  Geist   ist   er  zu   den  Aposteln  gekom- 
men ^j.    Dem  \'ater  konnnt  die  vorchristliche  Oekonomie  zu,  dem  Sohne  die 
objective  Erlösung,   dem  Geiste  die  Aneignung  der  Erlösung,   die  Heiligung. 
Diese  verschiedeneu  Off'enbarungsmodi  suchte  SabeUius  auf  verschiedene  Weise 


1)  Adv.  Praxean  c.  5  duos  ununi  volunt  esse,  ut  idem  pater  et  filius  habeatur. 

2)  Hippol}t.  1,  9.  IL  12. 

3)  6  TittTTiQ  —  TiXttivvntti    eis    viov   aat    -nvtvf.ia    Athanas.    or.  IV.   c.  Arianos 
8.  25. 

4)  ^  fdopttg  nkarvy^fiGa  y^yove  rgtag  ibid.  §.  12. 

5)  ibid.  S.  IL 


136  iGrste  t^eriode  des  alten  KiathoUcismuä. 

begreiflich  zu  machen.  Er  verglich  sie  mit  den  verschiedenen  Charismen,  die 
von  demselben  Geiste  ausgehen  ^)  —  auch,  nach  Epiphanius  (haeresis  62,  1), 
mit  der  Sonne,  welche  eine  ist  der  vnoataGiq  nach,  aber  dreierlei  Wirk- 
ungen hat.  Zuerst  unterschied  er  den  Körper,  den  Discus  der  Sonne,  den 
Vater;  doch  der  Körper  der  Sonne  ist  ja  eigenthch  keine  Wirkung  dersel- 
ben, worin  sich  eben  zeigt,  dass  Sabellius  den  schweigenden  und  den  reden- 
den Gott  nicht  ganz  zu  scheiden  vermag;  das  göttliche  Wesen  selbst  und 
das  erste  nqoaooTTov  der  Gottlieit  fallen  ihm  unversehens  zusammen.  Sodann 
unterschied  SabeUius  das  Erleuchtende  {ro  (pMtiaTixop) ,  den  Sohn,  drittens 
das  Erwärmende  (to  ^alnov),  den  heiligen  Geist.  Zugleich  aber  wird  spe- 
ciell  vom  Sohne  Gottes  gelelirt,  dass  er  der  Mensch  gewordene  Logos  sei, 
während  er  eben  so  gut  hätte  sagen  können,  oder  eigentlich  hätte  sagen 
müssen,  dass  der  Logos  in  allen  drei  Formen  sich  oftenbart.  Gregor  von 
Nyssa  und  neuere  Theologen  (Dr.  Baur)  haben  nun  behauptet,  der  Sohn  sei 
nach  Sabellius  nur  eine  vorübergehende  Manifestation  Gottes.  In  der  That 
wird  vom  Sohne  bestinnnt  gesagt,  dass  er  nach  Vollendung  aller  Dinge  in 
Gott  zurückkehren  werde.  Dasselbe  gilt  aber  von  der  ganzen  Trias,  eben 
weil  sie  nur  das  Verhältniss  der  Gottheit  nach  aussen  bezeichnen  soll,  so 
dkss  diese  nach  Vollendung  der  Offenbarung  sich  in  sich  selbst  in  die  unbe- 
wegte Stille  der  Monas  zurückzielit  {(tvctto^.  avaveXle(7&c(i).  Wenn  Arius 
den  Sabellius  beschuldigt,  dass  er  die  Monas  vionazcog  genannt,  so  muss 
sich  diess  auf  die  erste,  noch  unentwickelte  Gestalt  seines  Lehrbegriffes  be- 
ziehen 2).  Beachtenswerth  ist,  dass  derselbe  den  Sohn  gleichen  Wesens  mit 
dem  Vater,  öfjLovciog  tco  natqi,  genannt  hatte,  welclien  Ausdruck  die  Sy- 
node von  Antiochien  269  verwarf. 

In  der  ferneren  Ausbildung  der  Trinitätslehre  ist  von  wesentlicher 
Bedeutung  die  Lehrform  der  alexandrinischen  Theologen,  die  im  Gegen- 
satze gegen  die  der  Monarchianer  sich  ausbildete ;  was  jedoch  weniger  von  Cle- 
mens als  von  Origenes  gilt.  Die  Lehre  des  letzteren  ist  weit  bestimmter  als 
die  des  Clemens.  Was  bei  diesem  nicht  recht  verbunden  erscheint,  Logos 
und  Sohn  Gottes ,  das  sucht  Origenes  mehr  zusammenzufassen  3). 

Gott,  das  Princip  seiner  selbst,  avzo^eog,  allein  eigentlich  ^eog,  o 
«r,  offenbart  sich  zunächst  in  sich  und  diese  innere  Offen])arung  ist  das 
Princip  aller  weiteren  ()ffenl)arung  und  Vermittlung.  Gott  nniss  sich  aber 
auch  ausser  sich  offenbaren,  denn  es  ist  gottlos  und  ungereimt,  sich  Gottes 
Wesen  als  müssig  und  unbeweglich  zu  denken.  Daher  vor  dieser  Welt  schon 
eine  unendliche  Keihe  von  Welten  gewesen,  und  eine  unendliche  Reihe  wird 
ihr  folgen.  —  Gott  vermittelt  sich  in  sich  selbst  zunächst  im  Sohne,  im 
Ebenbilde  seiner  selbst,  dem  Abglanz  der  Gottheit;  Weisheit,  co^m,  ist 
der  ältere  Name  (Sprüchwörter  c.  8),  und  bezeichnet  die  Gesammtheit  der 
urbikUichen  und  weltbildenden  Gedanken,  die  im  Sohne  zur  Einheit  verbun- 


1)  ibid.  §.  25. 

2)  Arii  ep.  ad  Alex.  —  bei  Epiphanius  haeres.  62,  L 

3)  S.  ausser  Baur  und  Dorner  und  Thomasius  die  Abhandlung  von  Schultz  über 
die  ChHstologie  des  Origenes  in  den  Jahrbüchern  für  protestantische  Theologie.  1875. 
2,  und  3.  Heft. 


Lehre  von  der  Dreieinigkeit.     Origenes.  137 

den  siud.    Der  Ausdruck  Logos  bezieht  sich   auf  die  Offenbarung  und  Mit- 
theilung der  in  der  Weisheit  enthaltenen  göttUchen  Gedanken,  als  solche  ist 
der  Logos  der  Sohn,  Organ  der  Weltschöpfung.    Man  kann  aber  nicht  sagen, 
dass  er  durch  den  Willen  Gottes  gesetzt  ist;  denn  der  götthche  Wille  selbst 
gehört  zur  Fülle  der  So^a,   die   sich  im  Sohne  hypostasirt  hat;   er   ist  der 
ausgeprägte  Wille  des  Vaters,   und   insofern   ist   die  Welt   durch  den  Sohn 
gesetzt.    Dieser  ist  vom  Vater  gezeugt,  von  welchem  Begriffe  alle  sinnhchen 
Vorstellungen  ferne  gehalten  werden.    Man  kann  auch  nicht  sagen,  dass  ein 
Theil  der  Substanz  Gottes  sich  in  den  Sohn  verwandelt  habe,  oder  dass  er  aus 
Nichts  (ex  nullis  substantibus)  vom  Vater  geschaffen  worden,  de  princ.  4,  28 
u.  ff'.    Es  gibt  keinen  Augenblick,  wo  Gott  noch  nicht  Vater  des  Sohnes  war, 
ovx  riv  Ute  ovx  yv.;  auch  diese   Bezeichnung  ist   der  Sache   nicht   adäquat, 
^denn  es  findet  eine  ewige  Zeugung  statt  nach  Psalm  2,  7;    für  Gott   ist  es 
immer  heute,    ewige  Gegenwart.     Der  Sohn   wird  aus   dem  Vater  geboren, 
wie  der  Glanz  aus  dem  Lichte;    daher  Origenes  ihn   wesensgleichen  Ausfluss 
{anoQQoia  öfjioovcTiog)   aus   der  Herrlichkeit  des  Allmächtigen  nennt.     Doch 
ist  die  Weseusgleichheit ,  Homousie,  eine  bedingte,  insofern  der  Vater  allein 
das  Absohlte,   Gott  durch  und  von  ihm  selber  ist,   der  Sohn  aber  darin  ihm 
nicht  gleich  ist,   sondern   ihm   untergeordnet,   geringer   als   der  Vater,   der 
zweite  Gott.     .,Es  mögen  einige  annehmen,   der  Erlöser   sei   der   über   alle 
erhabene  höchste  Gott,  wir  aber  thun  es  nicht,  folgend  ihm,  der  da  spricht: 
„der  Vater  ist  grösser  denn  ich'',  daher  Anbetung  im  eigentlichen  Sinne  nur 
dem  Vater  gebührt,    und   diejenigen,   welche   den  Sohn   mit  oder  ohne  den 
Vater   als   eigentlichen   Anbetungsgegenstand    betrachten,    in   Sünde   fallen. 
Daher  Origenes    im    Anschluss   an   Sprüchw.  8,  22   den   Sohn   bisweilen  Ge- 
schöpf, xTitJua,  dri^tovQyriiia  nennt.    Die  Unterordnung  des  Sohnes  unter  den 
Vater  zeigt  sich  auch  in  seiner  Wirksamkeit.     Der  Sohn   thut  dasselbe  was 
der  Vater,  aber  der  Impuls  geht  vom  Vater  aus;  er  ist  das  Werkzeug,  ver- 
mittelst welches  der  Vater  wirkt.  —     Was   den  belügen  Geist  betrifft,    so 
ist  er  durch  den  Sohn  geschaffen;   denn  Alles  ist  durch  denselben  geschaffen 
Joh.  1,  3.     Er   ist   das  erste   und  vorzüghchste    der   vom  Vater   durch   den 
Sohn  geschaffenen  Wesen,   und   dem  Sohne  untergeordnet.     Er  verhält  sich 
zum  Sohne  wie  dieser  zum  Vater.     Seine  Wii'ksamkeit  beschränkt  sich  aber 
auf  die  Heiligen.     In   der  origenistischeu  Trinitätslehre   ist   demnach  Subor- 
dinatianisnuis  nicht  zu  verkennen,    der  aber,  was  das  Verhältniss  des  Logos 
2um  Vater   betrifft,   nicht   durchgefühlt  ist.     Mit  Recht  bemerkt  Schultz 
a.  a.  0.,   dass  die  Logoslehre  des  Origenes  so  wenig  wie  die  seiner  Vorgän- 
ger aus  der  Verlegenheit  herauskommt,   entweder  die  Fülle  des  in  Gott  lie- 
genden Lebens  unpersönlich  auszudrücken,    dannt   aber  den   bibhschen  For- 
derungen  in  Betreff  eines   persönUchen  Gottessohnes   nicht   zu  entsprechen, 
oder  eine  Persönhchkeit  festzuhalten  neben  der  Persönlichkeit  Gottes,   dann 
aber  ihr  jenen  Lebensinhalt  in   vermittelter  Weise  beizulegen,  also  sie  zu 
subordiniren,  und  damit  die  Einheit  des  Gottesbegriffs  zu  gefährden.  —    In- 
sofern Origenes   die  Wesensgleichheit  des  Sohnes  betont,  ist  er  Vorgänger 
des  Athanasius,  insofern  er  die  Subordination  lehrt,  konnte  der  Aiianismus 
aus  ihm  schöpfen. 

In   der   übrigens   sehr  wenig  entwickelten  Lehrform   der  lateinischen 


138  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Kirchenlehrer  ist  bestimmend  die  Opposition  gegen  die  Monarchianer ,  vor- 
nehmlich gegen  die  Patripassianer ,  die  Tertullian  in  seiner  Schrift  gegen 
Praxeas  bektämpfte.  Er  nimmt  durchaus  die  Subordination  an,  und  zwar  so, 
dass  der  Vater  die  ganze  Substanz  der  Gottheit  ist,  der  Sohn  aber  eine 
Ableitung  (derivatto)  und  Theil  (portio)  davon  ist,  wobei  er  sich  auf  das 
Wort  beruft:  „der  Vater  ist  grösser  als  ich.''  Der  Geist  ist  bei  TertuUian 
in  derselben  Rangstellung  wie  bei  Origenes.  Zu  bemerken  ist  noch  als 
Beweis,  wie  sehr  die  patripassianische  Vorstellung  sich  ausbreitete,  dass  der 
christliche  Dichter  Commodianus,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  dritten 
Jahrhunderts  lebte,  dieser  Richtung  entschieden  angehörte,  wobei  er  jedoch 
meinte ,  mit  der  Kirchenlehre  in  Uebereinstimmung  zu  sein  i). 

Was  die  Schöpfung  der  Welt  betrifft,  so  hielten  die  Lehrer  gegen 
die  heidnische  Philosophie  durchaus  den  Satz  fest,  dass  Gott  die  Welt  nicht 
blos  aus  einer  vorhandenen,  ungeschaffenen  Materie  ge])ildet  habe,  sondern 
dass  er  auch  Urheber  der  Materie .  sei.  Darin  stimmen  alle  überein  und  auch 
Justinus  Martyr  macht  keine  Ausnahme.  Denn  derselbe,  der  Apolog. 
1,  10  lehrt,  dass  Gott  aus  gestaltloser  Masse  die  Welt  gebildet,  lehrt  ande- 
rerseits im  Dialog  mit  Tryphon  c.  5,  dass  die  Welt  geschaffen  sei,  d.  h. 
Gott  hat  zuerst  die  formlose  Materie  geschaffen  und  aus  dieser  die  Welt 
gebildet.  Man  gründete  sich  hiebei  auf  2  Makkab.  7.  28,  dass  Gott  die 
Welt  «?  ovx  ovxfov  geschaffen  habe.  Am  eingehendsten  hat  TertuUian  die 
paganische  Ansicht  widerlegt  in  seiner  Schrift  gegen  llermogenes.  Gegen 
die  Gnostiker  heben  die  Kirchenlehrer  mit  Macht  hervor,  dass  derselbe  Gott 
die  Welt  erschaffen  habe,  der  sie  auch  erlöste:  durch  dasselbe  göttliche 
Wort  ist  die  Welt  erschaffen  und  erlöst  worden  —  mit  Beziehung  auf  Joh. 
1,  3  u.  a.  Stellen.  Gegen  die  Gnostiker  wurde  auch  das  geltend  gemacht, 
dass  Gott  nicht  in  Folge  einer  Naturnothwendigkeit ,  sondeni  durch  einen 
freien  Akt  seines  Willens  oder  seiner  Liebe  die  Welt  hervorgebracht  habe. 
Es  wird  im  Zusammenhang  damit  gelehrt,  dass  Gott  der  Welt  nicht  bedurfte, 
dass  er  die  Welt  nicht  für  sich,  sondern  für  die  Menschen  geschaffen  habe, 
wobei  im  schroffen  Gegensätze  gegen  die  paganischen  Anschauungen  die 
göttliche  Vorsehung,  nqoroia,  betont  und  die  antike  Lehre  vom  Schicksal 
verworfen  wurde,  so  dass  Gott  in  keiner  Weise  als  Urheber  des  Bösen  zu 
denken  ist.  Gott  ist  auch  der  Schöpfer  der  unsichtbaren  Welt,  der  Engel, 
deren  sich  Gott  bedient  bei  der  Weltregienmg ,  die  aber  nicht  anzurufen  sind, 
wie  Irenäus  2,  32.  5  bestimmt  lehrt.  Bei  Justin,  Apologie  1,6  ist  freihch 
von  einem  Anbeten  der  Engel  die  Rede,  doch  ist  diess  etw^as  vereinzeltes. 
Was  den  Teufel  betrifft,  so  war  die  Zeit  nicht  geneigt,  dessen  Dasein  und 
Wirken  zu  leugnen,  sondern  vielmehr  die  Vorstellirag  davon  zu  weit  auszu- 
dehnen, so  dass  theils  Gottes  Wirksamkeit,  theils  des  Menschen  Freiheit 
geschmälert  wurde.  Dagegen  kämpft  schon  Heimas  an  (lib.  II  mandatum  7). 
^So  du  Gott  fürchtest,  wirst  du  über  den  Teufel  Meister  werden.''  Origenes 
bestreitet  die  Ansicht,  dass  es,  ohne  den  Teufel  keine  Sünde  geben  würde. 
Zu  Grunde  liegt  ein  vertiefter  Begriff  von  der  Sünde. 

'1)  S.  Neander's  Dogmengeschichte  1,  180.  —  Jacobi  in  der  deutschen  Zeitschrift 
1853.  Das  neu  aufgefundene  Gedicht,  worauf  sich  die  Angabe  gründet,  ist  aufgenommen 
in  die  erste  Lieferung  des  Spicilegium  Solesmense, 


Die  Anthropologie.  l39 


§.  3.    Die  Anthropologie. 

Das  Heidenthum,  das  in  manchen  Stücken  den  Menschen  so  hoch  stellt 
und  seinen  Stolz  nährt,  hat  doch  durchaus  nicht  den  wahren  Begriff  von  der 
Hoheit  der  menschlichen  Natur.     Die  biblische  Offenbarung  dagegen  gibt  die 
erhabenste  Vorstellung   von   der   mensclüichen   Natur,  ihrer   ursprünglichen 
Anlage  und  Bestimmung,   und   eben   darum  sieht  sie  den  gegenwärtigen  Zu- 
stand der  Menschheit  als  Folge  eines  Falles  an.    Je  höher  sie  den  Menschen 
stellt  seinem  Ursprünge  nach,    desto   tiefer   setzt   sie   ihn   herab   in   seinem 
empirischen  Zustande.     Beides   gehört  zusammen  und  ist  unzertrennlich  von 
einander;  daher  TeiluUian  sagt:  keine  Seele  ist  ohne  Sünde,  weil  keine  ohne 
Samen  des  Guten  i).    Kaum  hatte  das  Christenthum  begonnen ,    diese  gesun- 
den Anschauungen  in  der  Welt   einzubürgern,   so  fuhren  die  Guostiker  da- 
zwischen   und   verwirrten  die    Anthropologie.      Gegen    sie   hauptsächlich   ist 
die  katholische  Dogmenbildung  auf  diesem  Gebiete  gerichtet.     Was  den  Ur- 
sprung  der   Seele  betrifft,   so  gingen  die  Kirchenlehrer,   soweit  sie  sich 
darauf  einliessen ,  sehr  auseinander,  und  in  dieser  Periode  wurde  die  richtige 
Vorstellung  davon  noch  nicht  gefunden.    Nach  Origenes,  de  principiis  3,  5,  4 
ist  die  Seele  lange  vor   dem  Körper   geschaffen;   ihr  kommt  Präexistenz 
zu;    sie  ist  zur  Strafe   für   die  in   der  intelligibleu  Welt  begangenen  Sünden 
in  den  Leib  eingeschlossen  worden,  ein  platonischer  Satz,  auch  von  der  spä- 
teren jüdischen  Theologie   aufgenommen,   unter   den  Schülern   des  Origenes 
von  Pierius  und  Pamphilus.     Tertullian,    der  jenen  Satz   bestritt  (de  anima 
23,  28)  lehrte,  sich  gründend  auf  die  AehnUchkeit  der  Geistes-  und  Gemüths- 
art  zwischen  Eltern   und  Kindern   eine  Fortpflanzung   der   Seele   durch   die 
Zeugung,  doch  mit  der  besonderen  Bestinnnung,  dass  die  Seele  jedes  Menschen 
als  ein  Zweig  aus  der  fortgepflanzten  Mutterseele  Adams  erscheint.   Es  ist  die 
später  sogenannte   tradu dänische  Lehre,   die  aber  Tertullian  unter  die- 
sem Namen  nicht  kennt.     Origenes  kennt  sie  als  seminis  tradux  und  behan- 
delt sie  als  disputablen  Punkt,  Lactanz  3,  8  dagegen  verwirft  sie.    Bei  Ter- 
tuUian  hängt  diese  Lehre  zusannnen   mit  der  Lehre  von   der  KörperKchkeit 
der  Seele,  wofür  auch  Methodius  sich  aussprach,  welche  aber  Origenes  ent- 
schieden verwarf. 

Was  die  Bestimmungen  über  das  Bild  Gottes  betrifft,  so  führte  die 
tautologische  Bezeichnung  Genesis  1 ,  26  '.311^^13  ^:^/.^:i  ^^ie  Kirchen- 
lehrer auf  die  willkürliche  Unterscheidung  von  tibi?,  ei^Mv ,  imago  und 
m^ÜM,  onomffig,  similitudo.  Demnach  wird  jenes ,  d.  h.  der  Inbegriff  der 
vernünftigen  und  sittlichen  Anlagen  dem  Menschen  mitgetheilt;  die  Aehn- 
Uchkeit mit  Gott  erhält  er  nachgehends  in  dem  Maasse,  als  er  sich  der  Voll- 
kommenheit nähert  {xara  teleionGiv).  Die  Unterscheidung  an  sich  ist  voll- 
kommen zulässig,  nur  ergibt  sie  sich  nicht  aus  der  angeführten  Stelle  der 
Genesis.  —  Der  Mensch  nun,  sofern  er  mit  dem  Bilde  Gottes  versehen 
worden,   glich   einem,   wie  Theophilus  von  Autiochien  sagt,  mit  herrlichen 


1)  De  anima  c.  41  nuUa  anima  sine  crimine,  quia  nulla  sine  boni  semine. 


240  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Anlagen  ausgerüsteten  Kinde;  die  Aehnlichkeit  mit  Gott  sollte  er  durch  die 
Entwicklung  dieser  Anlagen  erhalten;  das  lehrt  auch  Irenäus  4,  38. 

Ein  besonderes  Gewicht  wurde  im  Gegensatze  gegen  die  antike  Idee 
vom  Schicksale  und  gegen  gnostische  Verirrungen,  wonach  ein  Theil  der 
Menschen  vermöge  ihrer  ursprünghchen  Anlage  vom  Heile  ausgeschlossen 
waren,  auf  die  freie  Willensbestimmung  (ro  avte^ovcrtop ^  eXevi^eqa 
TiQoaiQScng,  liberum  arbitrium)  gesetzt.  Justinus  Martyr  Apol.  1,  43  be- 
kämpft die  €lfi(XQ^€Pij:  Gott  hat  den  Menschen  nicht  geschaffen,  gleich  den 
Bäumen  und  Thieren,  die  aus  freier  Wahl  nichts  thun  können.  Denn,  wenn 
er  nicht  aus  freier  Wahl  das  Gute  wählte,  würde  er  weder  Lob  noch  Tadel 
verdienen.  Wenn  er  böse  wäre,  könnte  er  gerechterweise  nicht  gestraft 
werden,  da  er  kein  anderer  sein  kann  als  der  er  von  Natur  geworden.  In 
demselben  Sinne  sprechen  sich  Clemens  von  Alexandrien,  Origeues  und 
Tertullian  aus. 

Die  Unsterldichkeit  der  Seele,  sofern  sie  als  natürliche  Unsterblichkeit 
gefasst  wird,  wurde  von  mehreren  Kirchenlehrern  verworfen.  Der  Jude  Tryphon 
im  Dialog  mit  ihm  c.  4  spricht  gewiss  die  Meinung  Justins  aus,  wenn  er  sagt, 
dass  die  Seelen  nicht  unsterblich  seien;  die  Seelen  der  Guten,  die  Gott 
suchen,  die  werden  erhalten,  unsterbhch.  Die  Seelen  der  Bösen  werden 
geplagt  und  am  Leben  erhalten,  so  lange  es  Gott  gefällt.  —  Gott  allein  ist, 
wie  ohne  Anfang ,  so  auch  unvergänglich.  Die  Seele  hat  ihr  Leben  von  Gott 
empfongen,  der  es  ihr  wieder  nehmen  kann.  In  demselben  Sinne  sprechen 
sich  Tatian,  Theoi)hilus  von  Autiochien.  Irenäus  aus  (2,  64),  nur  Tertulhan 
de  anima  c.  14 ,  Grigenes  de  principiis  4,  36  lehren  die  natürliche  Unsterb- 
lichkeit der  Seele.  Derselbe  überführte  auf  einer  Synode  einige  Lehrer  in 
Arabien  ihres  Irrthums,  der  darin  bestand,  dass  sie  lehrten,  die  Seele  sterbe 
mit  dem  Leibe  und  werde  mit  demselben  wieder  auferweckt  Euseb,  6,  37. 
Arabici  werden  sie  bei  Augustin  benannt  de  haeresibus  c.  83,  dvfitonnaxircit 
von  Johannes  von  Damascus. 

Was  die  Lehre  von  der  Sünde  und  vom  geistlichen  Elende  des  Menschen 
betrifft,  so  hatten  die  Kirchenlehrer  die  Aufgabe,  das  entsetzHch  abgestumpfte 
sittliche  Bewusstsein  zu  wecken,  zu  schärfen.  Obwohl  sie  nun  über  das  We- 
sen der  Sünde  zum  Theil  schwankende  Bestimnuingen  geben,  so  sind  doch 
alle  weit  entfernt  vom  Irrthum  der  Gnostiker,  welche  das  Böse  von  der 
Materie  oder  vom  Demiurgos  ableiteten.  Nur  Justinus  Martyr.  (Apol.  1 ,  10) 
setzt  sie  in  die  Sinnhchkeit,  wogegen  Clemens  von  Alexandrien  scharf  pro- 
testiit  (Strom.  4,  36).  Origenes  betrachtet  die  Sünde  als  das  Nichtige  % 
insofern  Grundlose,  von  unerklärbarem  Ursprünge,  wie  denn  schon  sein  Leh- 
rer Clemens  gesagt  hatte:  wir  kommen  zur  Sünde,  wir  wissen  selbst  nicht 
wie.  Auch  Ii'enäus  sieht  die  Sünde  als  unerklärhche  Störung  der  normalen 
Entwicklung  des  Menschen  an. 

Der  Sündenfall  wurde  alles  Ernstes  gelehrt,  und  im  Ganzen  nach 
dem  dritten  Capitel  der  Genesis  behandelt,  diese  Erzählung  als  wirkliche  Ge- 
schichte betrachtet.  Origenes  dagegen  deutete  sie  allegorisch,  um  sie  mit  seinem 
Systeme  zu  vereinbaren.     Die  mosaische  Erzählung  ist  ihm  die  allegorische 


1)  naca  ?/  x«)cm  ov^iv  de  princip.  2,  9.  2. 


Anthropologie.    Christologie.  141 

Darstellung  des  Heraustretens  der  Menschheit  aus  der  Gemeinschaft  mit 
Gott  in  der  vorzeitlichen  Existenz  der  Seelen.  Die  Vertreibung  aus  dem 
Paradies  ist  der  Verlust  der  ursprünglichen  Seligkeit,  die  Bekleidung  der 
Protoplasten  mit  Thierfellen  ist  die  Einkleidung  der  Seelen  in  menschliche 
Leiber. 

Die  eigentliche  Lehre  von  der  Erbsünde,  wie  sie  später  ausgebil- 
det wurde,  fehlte  noch  in  dieser  Periode.  Sünder  und  dem  Tode  unter- 
worfen sind  nach  Justinus  Martyr  alle  Nachkommen  Adams  desshalb,  weil 
sie  mit  Freiheit  sich  dem  Adam  gleichmachen  (dialog.  c.  124)  und  jeder 
von  ihnen  durch  eigene  Schuld  sich  dem  Bösen  hingegeben  hat  (dialog. 
c.  88).  Was  Irenäus  betrifft,  so  stimmte  er  mit  Justin  und  den  übrigen 
Vätern  darin  überein,  dass  die  Sünde  ein  im  ganzen  menschlichen  Ge- 
schlecht verbreitetes  Uebel  sei,  dass  sie  mit  dem  Sündenfall  Adams  den 
Anfang  genommen  habe.  Doch  sieht  er  den  physischen  Tod  an  als  vermittelt 
durch  die  Sünde  des  Einzelnen;  daraus  folgt,  dass  er  die  eigentliche  Erb- 
sünde nicht  gekannt;  er  sieht  die  Sünde,  abgesehen  von  der  Versündigung 
Adams,  als  fi'eie  That  des  Menschen  an.  Es  hing  diess  bei  ihm  zusam- 
men mit  der  Hervorhebung  der  moralischen  Freiheit  des  Menschen,  im 
Gegensatze  gegen  die  gnostische  Läugnung  derselben.  Bei  Tertullian  de 
anima  c.  41  finden  wir  am  meisten  Annäherung  an  die  spätere  abendlän- 
dische Dogmenbildung.  Er  leitet  das  Böse,  malum  a)dmae,  aus  dem  ori- 
ginis  vitium  ab  und  nennt  es  daher  quodammodo  naturale,  insofern  die  Ver- 
derbniss  der  Natur  zur  anderen  Natur  geworden.  Doch  kann  derselbe 
Tertullian  gegen  die  Taufe  der  neugeborenen  Kinder  geltend  machen: 
quid  festinat  innocens  aetas  ad  remissionem  peccatorum  (de  haptismo  c.  18)? 
Aehnlich  Cyprian  (ep.  64  ad  Fidum). 

§.  4.    Die  Christologie. 

Inmitten  der  häretischen  Gegensätze  der  Ebioniten  und  der  duali- 
stischen, doketischen  Gnostiker,  später  im  Gegensatze  gegen  die  beiden 
Richtungen  der  Monarchianer  entwickelte  sich  die  kathoHsche  Lehre  von 
Christi  Person,  gleichweit  entfernt  von  beiden  Abwegen.  Gegen  die  Do- 
keten  hat  schon  Ignatius  angekämpft.  Gegen  die  Ebioniten  hob  Justin,  der 
Märtyrer  die  wunderbare  Geburt  Jesu  hervor.  Irenäus  spricht  mit  grosser 
Klarheit  das  Wesentliche  des  Glaubens  an  Christum  aus:  um  Gott  und 
Mensch  zu  vermitteln,  musste  Jesus  in  sich  selbst  die  Harmonie  des  Irdi- 
schen und  des  Himmlischen  darstellen.  —  Christus  ist  geworden,  was  wir 
sind,  damit  wir  würden,  was  er  ist  (3,  10—20).  Denselben  Ausspruch, 
der  übrigens  cum  gram  salis  zu  verstehen  ist,  findet  man  auch  bei  Cy- 
prian 1).  Dabei  wird  mit  Sorgfalt  die  volle  Menschheit  Christi  gelehrt  von 
Irenäus  und  Anderen,  besonders  von  Origenes  weitläufig  behandelt.  Er 
erklärt  sich  sowohl  gegen  diejenigen,  welche  die  Menschheit  des  Herrn 
aulheben  und  allein  dessen  Gottheit   bestehen   lassen,   als  gegen  die  ande- 


1)  Quod  homo  est,    Christus  esse  voluit,    ut  et  homo   possit  esse,    quod  Christus 
est.    De  idolorum  vanitate  c.  11. 


142  Erste  Periode  dos  alten  Katholicismus. 

ren,  welche  seine  Gottheit  zu  scharf  abgrenzend  (nsQiyQaipaPTsg)  Chri- 
stum nur  als  den  gerechtesten  aller  Menschen  bekennen.  Er  bestrebt 
sich,  die  Unveränderlichkkeit  des  Sohnes  Gottes  festzuhalten,  so  dass  die 
göttliche  Natur  desselben  nicht  aus  der  Einheit  mit  dem  Vater  heraus- 
gerissen und  in  die  engen  Schranken  der  menschlichen  Natur  eingeschlos- 
sen erscheine,  wogegen  das  Wort  streitet;  ;,wo  zwei  oder  drei  in  meinem 
Namen  versammelt  sind,  da  bin  ich  mitten  unter  ihnen. ^  Ebenso  hielt 
Origenes  dieses  fest,  dass  durch  die  Einigung  mit  der  menschlichen  Natur 
der  Gottesbegriff  nicht  verunreinigt  werden  dürfe. 

Das  führt  ihn  zu  seiner  eigenthümlichen  Lehre  von  der  menschlichen 
Seele  Christi.  Mit  dem  Leibe  konnte  die  göttliche  Natur  (der  Lo- 
gos, der  Gottessohn,  Christus)  sich  nicht  unmittelbar  vereinigen,  ohne  sich 
in  eine  Gottes  unwürdige  Leidentlichkeit  zu  setzen.  Daher  nahm  der  Lo- 
gos unmittelbar  die  Jesusseele  an  und  mittelbar  den  Leib.  Die  Jesusseele 
ist  fähig,  alle  Leiden  und  Schmerzen  der  Menschheit  zu  theilen  und  zu- 
gleich sich  mit  dem  Sohne  Gottes  vollkommen  zu  einigen.  Der  Logos  oder 
Sohn  Gottes  ist  also  zwar  nicht  eigentlich  Mensch  geworden,  aber  die  an- 
genommene vollständige  Menschennatur  und  Seele  wurde  für  ihn  Organ 
der  Offenbarung.  Die  Jesusseele  war  von  Anfang  an  in  der  intelligiblen 
Welt  mit  dem  Logos  völlig  Eins  geblieben,  sie  ist  durch  bewahrte  Sünd- 
losigkeit  unfähig  geworden,  zu  sündigen;  sie  ist  in  den  Logos  ganz  ver- 
gottet worden,  so  dass  nun  beide  eins  geworden  sind  durch  Mischung  des 
Wesens.  Wie  das  Eisen,  vom  Feuer  ganz  durchglüht,  gänzlich  Gluth  ist, 
so  ist  die  Seele,  die  dem  Logos  sich  ganz  hingab,  in  allen  ihrem  Denken, 
Fühlen,  Thun  von  seiner  Gottheit  durchglüht,  mit  ihm  unwandelbar  eins 
geworden.  Die  Menschwerdung  des  Sohnes  Gottes  bestand  nun  darin,  dass 
er  mit  der  Jesusseele  in  das  Leben  der  Menschen  herabstieg;  man  kann 
sie  auch  nennen  die  fortdauernde  moralische  Verbindung  des  nun  in  die 
irdische  Leiblichkeit  eingegangenen  Jesus  mit  Christo,  dem  Gottessohne. 
So  versteht  Origenes  den  Begriff  der  Gottmenschheit  Christi.  Er  ist  der 
erste  Lehrer,  der  den  Ausdruck  ^sap^QO)Tiog  gebraucht.  Dieser  Gott- 
mensch war  seit  dem  Falle  der  Geister  Notliwendigkeit,  wenn  sie  gerettet 
werden  sollten.  Zuletzt  aber  löst  sich  das  Menschliche  in  Christo  in  seine 
ewige  Gottheit  auf;  in  der  Erhöhung  verschwindet  des  Herrn  menschliche 
Natur,  so  dass  von  ihm  nichts  als  das  Göttliche,  der  Logos  übrig  bleibt. 
Daher  Origenes  mit  dürren  Worten  sagt:  „wenn  auch  Christus  ein  Mensch 
gewesen,  so  ist  er  es  jetzt  nicht  mehr."  —  „Einst  war  er  Mensch,  jetzt 
hat  er  aufgehört,  Mensch  zu  sein."  In  den  Bestimmungen  über  Christi 
Leiblichkeit  hält  sich  Origenes  im  Ganzen  frei  vom  Doketisnms. 

Was  das  Werk  Christi  betrifft,  so  wird  mit  Recht  darauf  hinge- 
wiesen, dass  die  ganze  Erscheinung  des  Gottmenschen  erlösend  wirkte. 
Irenäus  hebt  hervor,  dass  die  Erlösung  durch  alle  Lebensstufen  sich  hindurch- 
zieht. Jesus  wurde  ein  Kind,  um  die  Kinder  zu  heiligen,  ein  Vorbild 
kindlicher  Pietät  und  kindlichen  Gehorsams.  Er  wurde  als  Jüngling  ein 
Vorbild  für  die  Jünglinge,  sie  Gott  heiligend,  so  auch  wurde  er  ein  Er- 
wachsener unter  den  Erwachsenen,  um  ein  vollkommener  Lehrer  aller  Le- 
bensstufen zu  sein.    Darauf  kam  er  auch  bis    zum  Tode ,   um    der  Ergtge- 


Christologie.    Werk  Christi.  143 

borene  aus  den  Todten  zu  werden,  den  Primat  festhaltend  in  allen  Din- 
gen, der  Fürst  des  Lebens.  Es  ist  in  Christo  „apaxecpaXaioicrig'^  Wieder- 
herstellung und  endgiltige  Zusammenfassung  Alles  dessen  gegeben,  was  zu 
einem  vollkommenen  Leben  des  Menschen  in  der  Einheit  mit  Gott  gehört 
(2,  22.  4.  3,  18).  Der  Schrift  gemäss  wird  die  Erlösung  auf  den  Tod  Christi 
bezogen,  aber  oft  in  wenig  bestimmten  Ausdrücken.  Clemens  Rom.  c.  7 
hebt  das  ethische  Moment  hervor,  dass  das  um  unserer  Erlösung  willen 
vergossene  Blut  Christi  der  ganzen  Welt  die  Gnadengabe  der  Sinnes- 
änderung verschafft  habe.  Der  Tod  Christi  wird  insbesondere  als  Sieg  über 
den  Teufel  betrachtet.  So  lehrt  Irenäus  5,  1.  1 :  ,, durch  die  Sünde  sind 
wir  in  die  Gefangenschaft  des  Teufels  gerathen,  ungerechterweise,  da  wir 
von  Natur  Gott  angehören.  Gerechterweise  wendete  sich  der  Logos  gegen 
den  Teufel,  von  ihm  das  Seinige  (des  Logos)  loskaufend,  nicht  mit  Gewalt, 
sondern  secundum  suadelam,  dadurch,  dass  den  Menschen  eine  bessere 
üeberzeugung  beigebracht  wurde,  mittelst  welcher  sie  die  Befreiung  er- 
hielten aus  des  Teufels  Gefangenschaft.  Dazu  gehörte,  dass  zuerst  Ein 
Mensch  aus  freier  Üeberzeugung  und  aus  eigenem  Antriebe  sich  der  Herr- 
schaft des  Teufels  entzog,  dass  also  in  der  Menschennatur  ein  selbständiger 
Anfangspunkt  des  vollkommenen  Gehorsams  gegeben  wurde.  Damit  steht  in 
Verbindung  die  Xothwendigkeit  der  Gottmenschlichkeit  des  Erlösers  3,  18. 
Hätte  Jesus  nicht  als  Mensch  den  Teufel  besiegt,  so  wäre  dieser  nicht 
gerechterweise  besiegt  \vorden,  und  auf  der  anderen  Seite  wäre  ein  blosser 
Mensch  nicht  im  Stande  gewesen ^  jenen  vollkommenen  Gehorsam  zu  lei- 
sten ;  darum  musste  mit  der  menschlichen  Seele  der  göttliche  Logos  verbun- 
den sein.  Doch  ist  mit  diesem  Gehorsam  die  Erlösung  nicht  vollzogen, 
sondern  nur  die  Bedingung  erfüllt,  unter  welcher  sie  stattfinden  konnte. 
Aber  wie  der  Tod  die  Erlösung  bewirkt,  darüber  spricht  sich  L'enäus 
nicht  deutlich  aus.  Insofern  der  Teufel  kein  Recht  auf  Jesum  hatte  und 
ihn  doch  dem  Tode  überlieferte,  bekam  dieser  das  Recht,  durch  seine  Hin- 
gabe in  den  Tod  diejenigen  aus  des  Teufels  Gewalt  zu  befreien,  welche 
dieser  durch  eine  Ungerechtigkeit  in  seine  Gewalt  bekommen  hatte.  So 
ist  der  Tod  Jesu  das  Lösegeld  geworden  für  die  bis  dahin  unter  der  Ge- 
walt des  Teufels  Gefangenen.  In  diesen  Sätzen  ist  die  Idee  von  einer 
Ueberlistung  des  Teufels  nicht  ausgesprochen. 

Bei  Origenes  M  finden  wir  zum  ersten  Male  die  Vorstellung  von 
einem  dem  Teufel  gespielten  Betrug,  wodurch  die  Erlösung  der  Menschen 
zu  Stande  gekommen.  Die  Menschen  hatten  sich  durch  die  Sünde  faktisch 
dem  Teufel  verkauft.  Die  Erlösung  konnte  daher  nicht  geschehen  ohne 
ein  dem  Teufel  gegebenes  Aequivalent.  Da  aber  der  Mensch  dieses  nicht 
zu  geben  vermochte ,  so  gab  Gott  aus  Menschenfreundlichkeit  die  heilige 
Seele  Jesu,  welche  der  Teufel  als  Lösegeld  von  Gott  gefordert  hatte.  Weil 
nun  der  Teufel  befürchtete,  Jesus  möchte  durch  seine  Wunder  und  Lehre 
das  Menschengeschlecht  seiner  Herrschaft  entreissen,  überlieferte  er  ihn 
sofort  in  die  Hände  der  Juden,  damit  er  von  diesen  getödtet  in  seine 
Gewalt  käme.    Damit  täuschte  er  sich  selbst;  denn  er  war  nicht  im  Stande, 


1)  S.  Thomasius.    Origenes  S.  222. 


144  Erste  Periode  des  alten  Katholicisraus. 

diesen  Stärkeren  festzuhalten.  Die  Qualen,  die  ihm  das  Festhalten  dieser 
reinen  Seele  verursachte,  konnte  er  nicht  ertragen.  So  musste  er  das 
Lösegeld  wieder  frei  geben,  damit  wurde  zugleich  seine  und  der  Dämonen 
Kraft  gebrochen,  sein  Reich  zerstört  und  die  Gewalt,  die  er  bisher  über 
die  Menschen  ausgeübt,  so  sehr  geschwächt,  dass  diese  nun  dem  Erlöser 
aus  der  Gefangenschaft  zur  Freiheit,  aus  dem  Tode  zum  Leben  folgen 
können.  Diese  in  sich  selbst  unhaltbare  Theorie  hindert  aber  Origenes 
nicht  an  der  Anerkennung  des  versöhnenden  Moments  in  Jesu  Tode,  wo- 
durch er  die  Strafe  litt,  die  uns  gebührte.  Indem  er  die  menschliche 
Natur  mit  ihren  Leiden  und  Schwachheiten  auf  sich  nahm,  machte  er  un- 
sere Sünde  und  Ungerechtigkeit  zu  der  seinigen,  so  dass  er  noch  im 
höheren  Grade  als  die  Apostel  als  Auswurf  der  Welt  erschien  (1  Kor.  4,  13). 
Dadurch  vernichtet^e  er  die  Sünde,  was  ihn  selbst  betrifft;  aber  vermöge 
des  Zusammenhanges,  worin  er  als  Haupt  der  Menschheit  mit  uns  steht, 
hat,  was  er  gethan,  auch  Kraft  und  Geltung  für  uns  alle.  Wenn  hier  das 
versöhnende  Moment  des  Todes  nicht  in  voller  Reinheit  hervortritt,  so 
nimmt  Origenes  auf  der  anderen  Seite  eine  versöhnende  Wirkung  Christi 
im  Himmel  an,  wo  er  die  lebendige  Kraft  seines  Leibes  als  ein  geistliches 
Opfer  dargebracht  (Hehr.  7,  25.  9,  24),  und  diess  kommt  nicht  blos  uns 
zu  Gute,  sondern  auch  den  übrigen  vernünftigen  Geschöpfen.  Dabei 
muss  festgehalten  werden,  dass  Origenes  keine  göttliche  Strafgerechtigkeit, 
welche  um  ihrer  selbst  willen  Genugthuung  fordern  müsste,  noch  göttlichen 
Zorn  kennt. 

Die  Höllenfahrt  Christi,  worüber  die  Apostelgesch.  2,  27.  31,  Paulus 
im  Briefe  an  die  Epheser  4,9,  Petrus  im  ersten  Briefe  2,  19 .  20  An- 
deutungen geben,  wurde  von  den  Kirchenlehrern  zunächst  gedacht  als 
Hinabsteigen  der  Seele  Christi  an  den  Ort  der  abgeschiedenen  Seelen,  wo- 
mit ein  Zeugniss  gegeben  sein  sollte,  theils  von  der  zweifellosen  Gewiss- 
heit des  Todes  Christi,  theils  (doch  diess  erst  später)  von  der  vollkomme- 
nen Menschheit  Christi.  Daran  knüpfte  sich  die  Vorstellung  einer  Wirk- 
samkeit, die  verschieden  gedacht  wurde.  Petrus  scheint  anzunehmen,  dass 
Jesus  denjenigen  Seelen  das  Heil  verkündigte,  die  zur  Zeit  Noah  unge- 
horsam gewesen  waren.  Die  Väter  lassen  Jesum  den  Frommen  des  alten 
Bundes  das  Heil  verkündigen  (Justinus  Martvr  dialog.  c.  72.  Irenäus  4,  27,  2), 
womit  die  Ausschliesslichkeit  des  Christenthums  auch  für  die  vorchristliche 
Welt  festgestellt  wurde,  —  das  spätere  Evangelium  des  Nikodemus  gibt 
c.  17  ff.  eine  glänzende  Beschreibung  von  der  Wirksamkeit  Chi'isti  in  der 
Unterwelt. 

§.5.    Die  Heilsordnung  ^). 

Besonders  auf  diesem  Gebiete  zeigt  sich  das  Eigenthümliche  derjeni- 
gen religiösen  Richtung,  die  wir  im  Begriff  der  katholischen  Kirche  ge- 
funden haben.     Allerdings  wird  der  Glaube  als  Bedingung  des  Heiles  auf- 


1)  S.  Landerer,    das  Verhältniss    von  Gnade   und  Freiheit   in    der   Aneignung   des 
Heiles.    Jahrbücher  für  deutsche  Theologie.  1857.  S.  500  ff. 


Art  und  Umfang  der  göttlichen  Gnadenwirkung.  145 

-i'tasst,  es  fehlt  aber  der  volle  Begriff  vom  Glauben,  wie  ihn  Paulus 
aufgestellt  und  geltend  gemacht  hatte.  Irenäus  fasst  den  Glauben  auf  als 
Erfüllung  des  göttlichen  Willens  ^),  das  Christenthum  als  neues  Gesetz, 
nur  quantitativ  vom  alten  unterschieden  2).  In  beiden ,  im  Gesetze  und 
im  Evangelio  ist  das  erste  und  höchste  Gebot,  Gott  zu  lieben,  und  das 
nächste,  den  Nächsten  zu  lieben  wie  sich  selbst.  Man  kann  sagen,  es 
ist  eine  Neigung  vorhanden,  das  sittliche  Verhalten  des  Menschen  zu  Gott 
über  das  religiöse  Verhältniss  zu  setzen,  so  dass  das  richtige  Gleich- 
gewicht zwischen  beiden  Seiten  der  religiösen  Vorstellung  nicht  fest- 
gehalten wird.  Es  wird  die  Pflicht  der  Gesetzeserfüllung  nicht  durch 
die  Idee  der  Wiedergeburt  beherrscht,  und  diese  durchaus  nicht  auf  die 
Idee  der  Rechtfertigung  gegründet  3).  So  sehr  wurden  Busse  und  gute 
Werke  als  Mittel  der  Piechtfertigung  angesehen,  dass  schon  auf  auöallende 
Bussübung  grosses  Gewicht  gelegt  wurde,  gemäss  dem  von  Tertullian  aus- 
gesprochenen Grundsatze:  „in  wie  weit  du  deiner  (in  deinen  Bussübungen) 
nicht  geschont  hast,  in  so  weit  wird,  glaube  es  mir,  Gott  deiner  schonen'^^ 
dass  schon  Hermas,  wie.  wir  gesehen,  einen  Ansatz  zu  der  Lehre  vom 
überschüssigen  Verdienst  gewisser  Werke  hat  (lib.  3,  Similitudo  5,  3). 

Damit  hängen  zusammen  die  Sätze  über  Art  und  Umfang  der  gött- 
lichen Gnadenwirkungen.  Zunächst  ist  der  Gegensatz  gegen  die  Gnostiker 
das  Bestimmende ;  sie  lehrten,  dass  ein  Theil  der  Menschen  schon  vermöge 
ihrer  Naturanlage  gerettet  werden  (es  ist  diess  die  BasiHdianische  Lehre 
vom  (fivcei  aml^ea&at),  dass  sie  demnach  zum  Heil  organisirt  und  prädesti- 
nirt  seien,  —  andere  zum  Verderben.  Dagegen  lehrten  die  Kirchenlehrer 
(z.  B.  Clemens  Alexandrinus,  Irenäus),  dass  Gott  Niemanden  zum  Glauben 
zwingt.  Gott  steht  den  Seelen  bei,  soweit  sie  es  wollen,  sagt  Clemens 
Alexandr.  Tertullian  adv.  Marc.  2,  8  hebt  hervor,  dass  im  Menschen  noch 
immer  dieselbe  Freiheit  des  Willens  sei,  wie  sie  in  Adam  vor  dem  Falle 
gewesen.  Es  wird  zwar  die  Wirkung  der  Gnade  keineswegs  geleugnet, 
aber  der  erste  Entschluss  zum  Guten  muss  vom  Menschen  ausgehen;  er 
ist  zwar  durch  christliche  Anfassung  bedingt  und  wird  durch  die  göttliche 
Gnade  bekräftigt,  immerhin  aber  ruht  in  der  Heilsordnung  der  Schwer- 
punkt auf  dem  Thun  des  Menschen.  Auf  eigenthümliche  Weise  sucht  Ori- 
genes  das  menschliche  und  göttliche  Wirken,  was  den  Glauben  betrifft,  zu 
vereinbaren,  insofern  er  einen  Glauben,  der  in  uns  ist,  und  einen  Glau- 
ben, der  durch  die  Gnade  gegeben  wird,  unterscheidet.  Dabei  läuft  jener 
Lehrtropus  darauf  hinaus,  dass  vor  der  Gnade  und  ihrer  Mittheilung  des 
Glaubens  schon  Glaube  im  Menschen  sein  muss  als  dessen  Leistung  und 
Tugend  (S.  Landerer  a.  a.  0.  S.  545).  Die  Prädestination  ist  durchaus 
bedingt  durch  das  Vorherwissen  Gottes.  Gott  verordnet  diejenigen  zum 
Heil,  von  welchen  er  vorhersah,  dass  sie  ihm  von  Herzen  dienen  werden. 
So  lehrt  auch  Irenäus:  Gott  lässt  in  ihren  Sünden  diejenigen,  von  welchen 


1)  4,  6.  5  credere  Deo  est  facere  ejus  voluutatem. 

2)  Irenäus  4,  9.  1.  2.    Auch  bei  Tertullian  de  praescript.  c.  13  in    der  daselbst  be- 
findlichen Formel  der  Glaubensregel. 

3)  Kitschi,  altkatholische  Kirche  ö.  331. 

U erzog,  KircücJigCbcliiclite  I.  Iv 


146  Erste  Periode  des  alten  Katbolicismus, 

er  vorherweiss,  dass  sie  nicht  glauben  werden.  Das  Verstecken  des  Pha- 
rao will  nur  so  viel  sagen,  dass  Gott  ihn  seinem  Unglauben  überlassen. 
In  demselben  Sinne  spricht  sich  im  Ganzen  Origenes  aus,  nur  dass  er  die 
VerStockung  Pharao's  etwas  anders  erklärt,  in  der  Weise,  wie  etwa  gü- 
tige Herren  zu  den  Knechten,  die  durch  ihre  Güte  nachlässig  geworden, 
sagen  mögen:  ich  habe  dich  verdorben.  Wenn  Paulus  Phil.  2,  13  sagt, 
Gott  ist  es,  der  da  wirket  das  Wollen  und  das  Vollbringen,  so  will  er 
damit  dieses  sagen,  dass  wir  das  Vermögen,  zu  wollen  und  zu  wirken, 
von  Gott  empfangen  haben  (womit  jedoch  die  Meinung  des  Apostels  niclit 
richtig  ausgedi'ückt  ist).  Die  Anwendung  jenes  Vermögens  auf  das  Gute 
und  das  Gegentheil  davon  kommt  uns  zu.  Zur  Vollbringung  des  Guten, 
wofür  wir  uns  entschieden  haben,  bedarf  es  des  göttlichen  Beistandes, 
d.  h.  der  Wirksamkeit  des  heiligen  Geistes.  Das  Fehlerhafte  dieser  Lehi- 
weise  der  Väter  ist  darin  zu  suchen,  dass  im  Werke  der  Heilsaneignung 
der  erste  Anfang  des  Glaubens  nicht  als  Wirkung  der  zuvorkommenden 
Gnade,  sondern  lediglich  als  vom  Menschen  kommend  angesehen  und  be- 
handelt wird.  Es  wird  über  dem  Bestreben,  die  Freiheit  des  Menschen 
aufrecht  zu  halten,  die  gnostischen  Irrthümer  abzuweisen  und  die  absolute 
Prädestination  zu  vermeiden,  die  geheimnissvolle  Wirkung  des  heiligen 
Geistes  nicht  gehörig  beachtet,  welcher  in  denjenigen,  die  das  Evangelium 
hören ,  den  Glauben  wirkt ,  wo  und  wann  es  Gott  gefällt  ^j.  Die  Folge- 
davon  war,  dass  die  Heilsanstalten  der  Kirche  eine  um  so  grössere  Be- 
deutung erhielten,  und  dass  die  paulinische  Gnaden-  und  Heilslehre  ver- 
äusserlicht  wurde. 

§.  6.    Die  Eschatologie. 

Da  die  Lehren  von  der  Kirche  und  von  den  Sacramenten  in  Ver- 
bindung theils  mit  der  Geschichte  der  Kirchenverfassung ,  theils  mit  der 
Geschichte  des  Cultus  zu  behandeln  sind,  so  erübrigt  nur  noch  eine  Ueber- 
sicht  über  die  Lehre  von  den  letzten  Dingen. 

Die  ersten  Christen  erwarteten  nach  dem  Vorgange  der  Apostel  die 
nahe  bevorstehende  Wiederkunft  Christi  und  damit  verbunden  den  Sieg 
Christi  über  alle  seine  Feinde.  Diese  Erwartung  nahm  bei  Vielen  die 
Gestalt  des  Chiliasmus  an  (Apokal.  20,  4),  d.  h.  der  Erwartung 
eines  tausendjährigen  Reiches  Christi  auf  Erden ,  in  welchem  er  mit  den 
auferweckten  und  verklärten  Frommen  und  Gerechten  herrschen  werde,  — 
das  Ganze  als  Vorbereitungsstufe  für  die  Welt  des  Jenseits.  Auch  die 
Polemik  gegen  die  Gnostiker,  die  alle  eschatologischen  Begriffe  verflüchtig- 
ten, trieb  Manche  zum  Chiliasmus  hin  oder  bestärkte  sie  darin.  Das  älteste 
Denkmal  des  Chiliasmus  nach  dem  Ablauf  des  apostolischen  Zeitalters  ist 
der  Brief  des  Barnabas  c.  15,  wo  gesagt  wird,  dass  die  Welt  in  sechs- 
tausend Jahren  verläuft,  nach  Analogie  der  sechs  Schöpfungstage  und  nach 
dem  Maasstabe  des  Wortes,  dass  vor  Gott  Ein  Tag  soviel  ist  wie  tausend 
Jahre;  der  siebente  Tag,  das  siebente  Jahrtausend  ist  der  Tag  der  Ruhe, 


1)  Wie  die  Augsburgische  Confession  im  fünften  Artikel  lehrt. 


Eschatologie.    Chiliasmug.    Anferstelmng  der  Todten.  147 

wo  der  Sohn  alle  Feinde  überwunden  haben  wird,  und  wo  die  GLäubigen, 
vollkommen  erneuert  diesen  Tag  mit  reinen  Herzen  und  Händen  heiligen 
werden.  Weniger  geistig  und  sittlich  sind  die  Ansichten  des  Justinus 
Martyr  (dialog.  c.  80,  81).  Des  Papias  angebliche  Aussprüche  Jesu, 
die  er  in  den  mündlichen  Ueberlieferungen  gesammelt  hat,  sind  der  deut- 
lichste Beweis,  wie  sehr  der  Chiliasmus  in  sinnlichen  Vorstellungen  und 
Erwartungen  sich  gefiel  (bei  Irenäus  5 ,  33.  3  aus  dem  vierten  Buche  der 
Xoycüp  xvQtaxMP  €^r}yriaig).  Irenäus  berief  sich  auf  das  Wort  des  Herrn 
Matth.  26,  29  auf  Jesaias  11,  6,  auf  das  Wort  Pauli  1  Cor.  7,  31,  um  die 
Neuschöpfung  der  Welt  zu  beweisen.  Tertullian's  Chiliasmus  fand  eine 
Stütze  in  seinem  Montanismus.  Am  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  be- 
kämpfte der  Presbyter  Cajus  in  Rom  den  Chiliasmus  in  der  Person  des 
Kerinth,  doch  ohne  dass  er  ihm  geradezu  die  Abfassung  der  Apokalypse 
zuschriebe  (Euseb.  3,  28).  Bedeutender  wurde  der  Widerspruch  der  ale- 
xandrinischen  Theologen.  Origenes  bezeichnet  die  Vorstellungen  als  thö- 
richte  Fabeln  und  leere  Einbildungen.  Dionysius  verdrängte,  wie  bevör- 
wortet,  den  Chiliasmus  aus  der  egyptischen  Kirche.  Uebrigens  waren  auch 
Clemens  von  Rom,  Ignatius,  Polykarp,  Athenagoras  und  Theophilus  frei 
von  chiliastischen  Vorstellungen.  Mit  dem  Siege  des  Christenthums  über 
das  Heidenthum,  als  der  Staat  begann,  das  Christenthum  zu  schützen  und 
zu  begünstigen,  verschwand  der  Chiliasmus  gänzlich. 

Was  die  Auferstehung  der  Todten  betrifft,  so  hatten  die 
Kirchenlehrer  gegenüber  den  Heiden  und  Gnostikern  gegründeten  Anlass, 
das  Dogma  zu  erläutern,  ,\<^obei  sie  aber  sich  nicht  immer  von  sinnlichen 
Vorstellungen  frei  hielten.  So  lehrt  Justinus  Martyr,  dass  sogar 
Krüppel  als  solche  auferweckt,  aber  .in  demselben  Momente  von  Christo 
geheilt  werden.  Er  stellt  den  im  Allgemeinen  richtigen  Grundsatz  auf, 
dass  Seele  und  Leib  FAn  Gespann  bilden  und  unzertrennlich  sind.  Athe- 
nagoras m  seiner  Schrift  über  die  Auferstehung  bringt  zum  Theil  die- 
selben Beweise  vor,  welche  die  spätere  natürliche  Theologie  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  vorbrachte.  Irenäus,  um  die  Identität  des  auf- 
erstandenen und  des  fi'üheren  Leibes  zu  beweisen,  beruft  sich  auf  die 
Analogie  der  Wiederbelebung  einzelner  Organe  bei  Jesu  wunderbaren 
Heilungen.  Die  Stelle  1  Kor.  15,  50,  dass  Fleich  und  Blut  das  Reich  Got- 
tes nicht  ererben  werden,  welche  Stelle  von  den  Gegnern  der  Aufersteh- 
ungslehre als  Waffe  gebraucht  wurde,  verstand  er,  was  übrigens  nicht 
richtig  war,  vom  fleischlichen  Verstände.  Tertullian  in  der  Schrift  de 
resurredione  verleugnet,  wie  zu  erwarten,  seinen  derben  Realismus  nicht. 
Origenes  gibt  die  Identität  des  jetzigen  und  des  Auferstehungsleibes  auf, 
fussend  auf  1  Kor.  15,  37:  „das  du  säest,  ist  nicht  der  Leib,  der  werden 
soll,  sondern  ein  blosses  Korn.^  Der  verweste  Leib  komme  so  wenig  in 
seine  frühere  Natur  zurück  als  das  in  die  Erde  gesäete  Samenkorn,  aus 
dem  eine  Aehre  wird.  Er  geht  von  dem  Grundsatze  aus,  dass  jeder  Kör- 
per der  ihn  umgebenden  Welt  angemessen  sein  müsse.  Sollten  wir  im 
Wasser  leben,  so  niüssten  wir  wie  die  Fische  organisirt  sein.  So  erfordert 
der  himmliche  Zustand  hinnnliche  Leiber.  Diess  ist  gegen  Celsus  gerich- 
tet, der  das  Dogma  bespöttelt  hatte;   daher  Origenes  um   so   mehr   sich 

10* 


148  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus, 

bestrebt,  es  geistig  zu  fassen.  Uebrigens  lehrte  er,  man  könne  seine  Hoff- 
nung auf  Christum  setzen,  ohne  an  die  leibliche  Auferstehung  zu  glauben, 
sobald  man  nur  die  Unsterblichkeit  der  Seele  festhalte;  diess  sollte  viel- 
leicht zur  Kechtfertigung  seines  Lehrers  Clemens  dienen. 

Was  den  Zustand  nach  dem  Tode  betrifft,  so  war  die  Annahme 
sehr  verbreitet,  dass  die  Seelen  nach  dem  Abscheiden  aus  diesem  Leben  niclit 
unmittelbar  zu  Gott  kommen,  weil  erst  mit  der  Auferstehung  das  Endgericht 
eintritt.  So  lässt  Justinus  Martyr  die  Seelen  der  Guten  an  einen 
besseren  Ort  kommen,  als  die  Seelen  der  Bösen;  ebenso  Tertullian;  jener 
Ort  ist  der  Schooss  Abrahams ,  in  Gemässheit  der  Parabel  von  Lazarus  und 
dem  reichen  Manne.  Auch  Origenes  hält  die  Annahme  eines  Mittelzustan- 
des fest,  wo  die  Seelen  gleichwie  in  einer  Schule  für  die  höheren  WoIid- 
ungen  vorbereitet  werden.  Die  Vorstellung  von  einem  reinigenden  Feuer 
findet  sich  bei  den  alexandrinischen  Theologen.  So  spricht  Clemens  von 
einem  intellektuellen  Feuer  (tivq  (pQovifior),  welches  die  sündigen  Seelen 
heiligt,  wohl  mit  Anspielung  auf  das  Wort  des  Täufers,  dass  der  Messias 
mit  Feuer  taufen  werde  Matth.  3,  11.  Origenes  dagegen  geht  von  dem 
Feuer  aus,  das  am  Ende  der  Tage  die  Welt  verzehren  wird  2  Petr.  3,  12, 
welches  Feuer  er  —  irrigerweise  —  in  der  Stelle  1  Kor.  3,  12  findet  und 
welches  er  Reinigungsfeuer,  nvg  xctd^agtriov,  nennt.  Keiner,  auch  Petrm 
und  Paulus  nicht ,  kann  sich  diesem  Feuer  entziehen  ;  es  ist  aber  für  dit 
dadurch  gereinigt  werden,  schmerzlos,  nach  Jesaia  43,  2 ,  ein  zweites  sacra- 
mentum  regenerationis ,  für  diejenigen  nothwendig,  welche  der  Geistes- 
taufe wieder  verlustig  gegangen  sind,  für  die  Uebrigen  ist  es  ein  Prüf- 
ungsfeuer. 

Im  Allgemeinen  herrschte  der  Glaube,  dass  im  anderen  Leben  keine 
Besserung  mehr  statt  finde;  daher  wird  die  Ewigkeit  der  Höllenstrafen 
von  Clemens  Romanus,  von  C}  prian  und  Anderen  gelehrt.  Andere  Kirchen- 
lehrer nahmen  eine  endliche  Vernichtung  der  Seelen  der  Bösen  an,  so 
Justinus  Martyr  und  Irenäus.  Die  Hölle  und  das  höllische  Feuer  werden 
auch  sinnlich  ausgemalt.  Origenes  de  princip.  L  6,  sich  gründend  auf 
1  Kor.  15,  25 — 28  nimmt  eine  Wiederherstellung  {cmoitataataaiq  Apg. 
4,  21)  aller  Dinge  an,  die  sogar  die  endliche  Bekehrung  nicht  blos  der 
gottlosen  Menschenseelen,  sondern  auch  des  Teufels  und  seiner  Engel  in 
sich  schliesst;  doch  wird  diess  Alles  problematisch  hingestellt,  und  zuge- 
geben, dass  diese  Lehre  für  die  noch  Unbekehrten  schädlich  werden  könne, 
während  Origenes  die  Lehre  von  den  ewigen  Strafen  einen  heilsamen  Be- 
trug nennt.  —  Das  Feuer  der  Hölle  denkt  sich  Origenes  als  geistige 
Qual.  Der  Brennstoff'  des  ewigen  Feuers  sind  die  in  das  Bewusstsein  tre- 
tenden Sünden;  die  Unseligkeit  besteht  in  der  Entfernung  von  Gott;  voll- 
kommene Erkenntniss  und  Anschauung  Gottes,  vollkommene  Gotteben- 
bildlichkeit und  Seligkeit  —  sind  identisch. 


149 


Anhang  zur  Geschichte  der  Lehre. 

Die   Manichäer. 

S.  Isaac  de  Beausobrc  histoire  critique  de  Manichee  et  du  Manicheisme.  Amster- 
dam 1734.  —  Baur,  Das  manichäische  Religionssystem  u.  s.  w.  Tübingen  1831, 
—  von  Seh  necke  nburger  recensirt  in  den  Studien  und  Kritiken  1833.  S. 
875.  —  Coldik,  das  manichäische  Eeligionssystem  1837.  Artikel  von  Trechsel 
in  der  Realencyklopädie. 

Schon  längst  war  der  Gnosticismus  überwunden,  als  er  im  Manichäis- 
mus  seinen  Gipfel,  seine  Vollendung  erreichte.  Nicht  nur  zeigt  sich  in 
ihm  die  ausgebildetste  Gestalt  der  gnostischen  Speculation  in  ihrer  mytho- 
logisirenden  Form,  sondern,  während  die  Gnostiker  sich  nur  als  Schulen 
der  Erkennenden  darstellten,  ohne  aus  der  Kirche  austreten  zu  wollen, 
traten  die  Manichäer  mit  dem  olfenen  Bestreben  auf,  gegenüber  der  be- 
stehenden Kirche  eine  Gegenkirche  zu  gründen.  Der  Stifter  des  Mani- 
chäismus  ist  M  a  n  i ,  auch  M  a  n  e  s ,  M  a  n  i  c  h  ä  u  s ,  C  u  b  r  i  c  u  s  genannt ,  über 
den  morgenländische  und  abendländische  Quellen  vorliegen,  die  selbst  in 
den  Namen,  die  sie  dem  Stifter  geben,  nicht  übereinstimmen.  Sein  Auf- 
treten hängt  zusammen  mit  den  inneren  Bewegungen  des  Parsismus  im 
neupersischen  Reiche.  Unter  den  Sassaniden  seit  227  wurde  der  rohe 
Dualismus,  der  eine  Zeitlang  die  Oberhand  erhalten,  verworfen  nebst 
dessen  Anhängern  ,  M  a  g  u  s  ä  e  r  genannt.  Mani  trat  auf  als  entschiedener 
Bekenner  der  verworfenen  Lehre  und  versuchte  das  Cliristenthum  mit  der- 
selben zu  verbinden  i).  Von  den  Magiern  gehasst,  von  den  persischen 
Königen  verfolgt,  wurde  er  c.  277  enthauptet  (nicht  lebendig  geschunden). 

Grundlage  des  Lehrsystems  ist  der  absolute  Dualismus,  die  Lehre 
von  zwei  entgegengesetzten  Principien  und  Welten:  1)  Gott,  das  Urgute, 
von  dem  nur  Gutes  kommen  kann,  das  Urlicht,  der  K()nig  des  Lichtreiches, 
Urquell  einer  ihm  verwandten  Emanationswelt,  mit  ihm  zunächst  verbun- 
nen  eine  Anzahl  von  Aeonen  oder  himmlischer  Geister,  die  Canäle  der 
Lichtoffenbarung  aus  dem  Urlichte;  2)  das  Urböse,  das  nur  zerstörend 
wirken  kann,  der  böse  Fürst  der  Finsterniss,  die  Materie,  die  vlrj,  kein 
blos  negativer  Begriff,  sondern  eine  positive  Macht,  der  Herrscher  eines 
unheilschwangeren  Reiches  (terra  pestifera)  voll  ihm  ähnlicher  Wesen. 
Zwischen  beiden  Principien  und  Welten  gibt  es  absolut  keine  Gemein- 
schaft 2).  Die  Mächte  der  Finsterniss ,  in  wildem  Toben  gegen  einander 
begriffen,  kamen  dem  Lichtreich  so  nahe,  dass  ein  Schimmer  aus  dem- 
selben auf  sie  herableuciitete.  Von  diesem  Glänze  unwillkürlich  angezo- 
gen, —   eigentlich  eine  Inconsequenz  des  Systems  — ,  vergassen    sie    ihre 


1)  Ein  Buddaistisches  Element  ist  im  Manichäismus  wohl  vorhanden,  aber  es  tritt 
durchaus  zurück  hinter  dem  christlichen  und  namentlich  hinter  dem  parsischen. 

2)  Anfang  der  f^vGTTjotit  von  Mani  bei  Epiphanias  "hacresis  64,  14,  Tjy  f^sog  xat 
vkrj ,  (flog  xnt  axorog,  ayaO^ov  xcct  xaxoy ,  rotg  naCiv  aXQißcjg  ivavritti  (Lgrs  xara 
fitjJet^  €7iixoifovy  &(tT€Qoy  (harfQco. 


250  Erste  Periode  dos  alten  Katholicismus. 

Streitigkeiten  und  verbanden  sich  unter  einander,  um  in  das  Liclitreich 
einzudringen.  Zur  Bewachung  des  Liclitreiches  liess  der  König  desselben 
den  Aeon,  die  Mutter  des  Lebens,  die  Weltseele  aus  sich  emaniren.  Sie 
liess  den  Urmenschen  {nqonog  avagojnog)  aus  sich  hervorgehen,  um  ihn 
den  Mächten  der  Finsterniss  entgegenzustellen,  angethan  mit  den  fünf  rei- 
nen Elementen ,  Feuer,  Licht,  Luft,  Wasser,  Erde.  Der  Urmensch  kämpft 
in  wechselnden  Gestalten  mit  der  vki^,  wobei  ein  Theil  seiner  Waffen- 
rüstung ,  seines  Lichtwesens  von  der  vkri  verschlungen  wird.  Da  sendet 
ihm  seine  Mutter  den  lebendigen  Geist  zu  Hülfe,  aber  den  verlorenen 
Theil  seines  Lichtwesens  kann  er  nicht  wieder  erhalten.  Als  von  der  tXri 
verschlungen,  ist  er  der  leidende  Messias  {viog  ay^Qtanov  enna^riq^  Jesus 
patibilis),  der  nun  zwar  in  den  Mächten  der  Finsterniss  wirkt,  aber  ihr  Ge- 
fangener ist  und  sich  nach  Erlösung  sehnt.  Diese  Erlösung  sucht  der 
lebendige  Geist  herbeizuführen,  indem  er  aus  der  mit  Licht  vermischten 
Materie,  die  Welt  bildete,  damit  nach  und  nach  die  gefangene  Lichtmateri(^ 
wieder  befreit  würde.  Der  unverschlungen  gebliebene  Theil  der  Licht- 
materie, in  Sonne  und  Mond  wohnend  als  1^05  av^Qoanov  ana&riq  und  der 
heilige  Geist  im  Aether  wohnend ,  sollen  dem  Jesus  patibilis  zur  Befreiung 
helfen,  die  Rückkehr  der  Lichtmaterie  befördern.  Kaum  merken  diess  die 
Mächte  der  Finsterniss,  so  suchen  sie  um  so  eifriger  sich  der  gefangenen 
Lichtmaterie  zu  versichern.  Es  wird  von  den  flächten  der  Finsterniss 
durch  eine  Beihe  von  Zeugungen  Adam  erschaffen,  nach  dem  Bilde  des 
Fürsten  der  Finsterniss  so  wie  nach  dem  Bilde  des  Urmenschen,  so  dass 
G()ttliches  und  Hylisches,  Licht  und  Finsterniss  in  ihm  vereinigt  waren, 
das  Göttliche  als  im  Körper  festgebannt.  Damit  die  Lichtmaterie  ja  nicht 
daraus  befreit  werden  könne,  gesellten  ihm  die  Dämonen  die  Eva  bei, 
durch  welche  Adam  zum  Sündigen  verleitet  wurde.  Durch  den  Sündenfall 
gerieth  er  gänzlich  unter  die  Herrschaft  der  vXri.  Die  Lichtmaterie  'ist 
in  ihm  als  Seele;  sie  ist  der  göttliche  Funke  im  Menschen.  Die  Aufgabe 
des  Menschen  ist,  der  Lichtseele  in  ihm  den  Sieg  über  die  vXri  zu  ver- 
schaffen, von  den  in  der  Natur  zerstreuten  Lichtelementen  so  viele  wie 
möglich  mit  der  eigenen  Lichtseele  zu  vereinigen,  sie  dadurch  von  den 
Fesseln  des  Bösen  zu  befreien  und  so  die  Bückkehr  der  Seele  in  das  Licht- 
reich vorzubereiten.  Die  Menschen  wurden  lange  durch  falsche  Religio- 
nen ,  Judenthum  und  Heidenthum  irre  geleitet.  Endlich  stieg  Christus  von 
der  Sonne  in  einem  Scheinkörper  auf  die  Erde,  um  durch  seine  Lehre  die 
Lichtseele  zu  befreien,  den  Menschen  ihr  wahres  Wesen  zu  offenbaren. 
Seine  Kreuzigung  ist  Symbol  des  Jesus  patibilis;  in  der  Verklärung  zeigt 
er  sich  als  das,  was  er  eigentlich  ist,  als  Lichtnatur.  Doch  schon  in  den 
Jüngern  reagirte  die  vlri;  sie  verstanden  Christum  nicht,  noch  weniger  die 
übrigen  Christen,  daher  verächtlich  Galiläer  genannt.  Jesus,  der  diess 
vorausgesehen,  verhiess  den  Paraklet,  der  in  alle  Wahrheit  leiten  sollte; 
er  erschien  in  Mani,  d.  h.  Mani  ist  sein  Organ;  er  selbst  nannte  sich 
Apostel.  Er  verwarf  das  Alte  Testament  völlig,  als  stelle  es  Gottes  un- 
würdige Begriffe  auf  (Baur  S.  358).  Aber  auch  das  Neue  Testament  ist 
nicht  reine  Quelle  des  Christenthums ,  sofern  die  Apostel  den  Herrn  nicht 
recht  verstanden  haben.    Der  Paraklet  lehrt  uns,  was  wir  aus  dem  Neuen 


Anhang  zur  Geschichte  der  Lehre.    Manichäer.  151 

restament  annehmen,  was  wir  verwerfen  sollen  (Baur  S.  376)  i).  Die  Evan- 
uelien  sind  lange  nach  dem  Tode  der  Apostel  geschrieben.  Die  Apostelge- 
>cliichte  war  den  Manichäern  besonders  zuwider.  Kanonisch  war  für  sie 
eigentlich  nur  die  Schrift  des  Mani,  hauptsächlich  das  Buch  von  den  Myste- 
rien und  mehrere  Briefe. 

In  der  von  Mani  gestifteten  Gemeinschaft  sind  zwei  Hauptclassen  zu 
unterscheiden :  1)  die  perfecfi,  Tslstoi,  electi,  in  strenger  Enthaltung  lebend, 
der  Sphäre  der  niedrigen  Welt  vollkommen  entrückt,  dem  Lichtreiche 
völlig  zugewendet,  die  eigentliche,  heilige  Kirche  bildend,  von  den  Andern 
ernährt  und  versorgt;  die  älteren  durften  im  Abendmahl  den  Kelch  ge- 
messen. Mani  sandte  12  Apostel  aus,  fortan  gab  es  12  Magistri  als  Ge- 
genbilder der  Apostel,  mit  einem  13.  unsichtbaren,  offenbar  Mani  selbst, 
an  der  Spitze.  Auf  diese  Magistri  folgten  70  oder  72  Bischöfe,  entspre- 
chend den  72  Jüngern.  2)  Die  2.  Classe  war  die  der  Gläubigen,  der  Zu- 
hörer, der  Katechumenen,  die  nur  das  Brod  im  Abendmahl  empfingen,  nicht 
in  strenger  Enthaltung  lebten ,  sich  von  den  gewöhnlichen  Geschäften  nicht 
zurückzogen-  und  für  den  Unterhalt  der  ersten  Classe  zu  sorgen  hatten.  Nach 
ihrem  Tode  gelangen  sie  nicht  sogleich  in  das  Lichtreich,  sondern  sie  durch- 
laufen mehrere  Pflanzen-  und  Thierkörper.  —  Die  nicht  zur  Gemeinschaft 
der  Manichäer  gehören,  werden  am  Ende  der  Tage  zu  einem  Klumpen  ver- 
brannt. Zuletzt  wird  das  Reich  der  Finsterniss  in  seine  alten  Grenzen  zu- 
rückgedrängt. — 

In  Persien  verfolgt,  —  wie  ihr  Meister,  suchten  die  Manichäer  sich 
im  römischen  Reiche  auszubreiten,  was  ihnen  noch  vor  Abfluss  dieser 
Periode  in  Africa  proconsularis  soweit  gelang,  dass  Diocletian  c.  287  ein 
scharfes  Edict  gegen  sie  erliess,  in  welchem  der  Proconsul  von  Africa  Ju- 
lianus angewiesen  wurde,  die  Führer  der  Manichäer  nebst  ihren  Büchern 
zu  verbrennen,  die  andern  zu  enthaupten  und  ihre  Güter  zu  confisciren. 
Dass  diese  Massregeln  der  Secte  doch  kein  Ende  zu  machen  im  Stande 
waren,  dass  sie  vielmehr  bis  in  das  Mittelalter  sich  erhalten  konnte,  da- 
von wird  später  die  Rede  sein. 


1)  Mani  läugnete  nicht  die  Willensfreiheit.    S.  Baur  484. 


2-52  Erste  Periode  des  alten  KatholicismUä. 


Fünfter  Abschnitt. 


Die   Geschichte    der    Kirchenverfassung,    der    Kirchenzucht 
und  der  Reactionen  gegen  die  erstrebte  Art  der  Kirchenver- 
fassung und  der  Kirchenzucht  1). 

Neben  den  Werken  der  Kirchenlehrer  sind  hier  wichtig  als  Zeugnisse 
für  die  Kirchenvertassung  und  Kirchenzucht  gegen  das  Ende  dieser  Periode 
die  sogenannten  apostolischen  Constitutionen  öiatal^eiq,  diataya/, 
öidaxcci  T(üv  anofftolcop^  abgerechnet  einige  Interpolationen  (5,  13.  17).  Die 
sechs  ersten  Bücher  sind  gegen  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  geschrieben, 
das  siebente  zu  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts,  das  achte  Buch,  welches 
sich  blos  mit  dem  Cultus  befasst,  ist  in  der  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts 
geschrieben.  Die  apostolischen  Kanones,  bei  den  Griechen  85,  bei  den 
Lateinern  50,  sind  erst  nach  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  zusam- 
mengestellt worden.  Neueste  Ausgabe  beider  Documente  von  Uelzen, 
Schwerin  und  Rostock  1853.  Die  beste  Bearbeitung  von  Drey,  neue  Un- 
tersuchungen über  die  Constitutionen  und  Kanones  der  Apostel.  Tübingen  1832 

Erstes  Capitel.    Gescliichte  der  Kirclienverfassung. 

Ntächst  der  Lehre  ist  die  Verfassung  das  vorzüglichste  Gebiet,  woraul 
sich  die  Idee  der  katholischen  Kirche  entwickelte.  Sie  trat  hier  hervor 
als  Idee  der  Einheit  der  Kirche.  Sie  enthielt  diess  beides,  1)  Concentrirung 
der  Kirchengewalt  und  der  kirchlichen  Dienstleistungen  auf  eine  bestimmte 
Classe  von  Personen  in  der  einzelnen  Gemeinde,  2)  Verbindung  der  ein- 
zelnen Gemeinden  untereinander,  wobei  einige  Ansätze  gemacht  werden 
zur  Zusammenlassung  der  einzelnen  Gemeinden  unter  einem  (irtlichen 
Centrum  der  katholischen  Einheit. 

I.  Die  einzelne  Gemeinde,  womit  wir  uns  zunächst  beschäftigen,  hiess 
nccQotxia.  (Euseb  3,  28  u.  a.  St.),  woher  das  deutsche  Wort  Pfarrei,  das 
französische  paroisse ,  das  englische  parisJi  stammt.  Die  Christen  betrach- 
teten sich  nämlich  nach  Ps.  39,  13  als  Fremdlinge,  Beisassen,  tkxqoixoi,  hienie- 
den  (1  Petri  2,  11)  und  drückten  diess  Bewusstsein  aus  in  der  Benennung,  die 
sie  ihrer  Vereinigung  gaben  2).  In  der  einzelnen  Gemeinde  bemerken  wir 
zuerst  eine  fortschreitende  Entwicklung  des  geistlichen  Stan- 
des. Die  im  apostolischen  Zeitalter  herrschende  Lehrlreiheit,  die  der  Zeit 
der  ersten  Begeisterung  entsprach,  wurde  schon  vor  dem  Tode  des  Apostels 

1)  G.  J.  Planck,  Geschichte  der  christHch-kirchhchen  Gesellschaftsverfassung. 
6  Bände.    1803  u.  ft.    Kitschi,  a.  a.  0.,    Rothe,  Anfänge  der  christlichen  Kirche  1837. 

2)  Daher  im  Briefe  an  Diognet  c.  5  gesagt  wirH  von  den  Christen:  ^ftTQi(fag  oi- 
xovdiu  iiStag  «AA'  wg  nciQoixoi)  daher  auch  die  Aufschrift  des  Briefes  des  Clemens  von 
Eom  an  die  Gemeinde  zu  Korinth  ^  .^y^Xrjam  rov  (^eov  ^  nago.xovßa  Ptojuw  rv  ntt- 
QotxovGiJ  KoQiv.^op,  —  Im  Neuen  Testament  heisst  naQotxin  irdisclier  Aufenthalt  oder 
Wallfahrt.    Apg.  13,  17.    1  Petr.  1,  17. 


Kirchenverfassung.    Öer  geistliche  Stand.  l53 

Paulus  bedeutend  eingeschränkt,  das  Amt  des  Lehrens  wo  möglich  den 
Bischöfen  oder  Presbytern  angewiesen.  Es  geschah  bald  nur  noch  aus- 
nahmsweise, dass  Laien  in  der  Versammlung  lehrend  auftraten,  so  Orige- 
nes  in  Cäsarea  in  Palästina  mit  besonderer  Erlaubniss  des  dortigen  Bischofs. 
Die  Idee  vom  allgemeinen  Priesterthum  wurde  aber  deswegen  nicht  aufge- 
<>eben.  Justin  (Dialog,  c.  116)  stellt  den  Juden  die  Christen  entgegen  als 
die  allein  wahren  Priester  (legeig)^  die  überall  Gott  wohlgefällige  und  wahre 
Opfer  darbringen.  Auch  bei  Irenäus  erscheint  immer  die  ganze  Gemeinde, 
nie  ein  besonderer  Stand  derselben  als  Subjekt  der  Darbringung.  ;,Denn 
alle  Christen,  sagt  er,  haben  priesterliche  Würde^^  (4,  8.  3).  Darum  hielt 
er  auch  die  allgemeine  Belehrung  aller  Glieder  der  christlichen  Kirche 
durch  den  heiligen  Geist  fest  (4,  20.  8),  darum  meldet  er,  dass  es  auch  zu 
seiner  Zeit  wie  zur  Zeit  Pauli  Gläubige  gebe,  die  vorzugsweise  die  Gabe 
der  Prophetie  und  der  Sprache  besitzen  (5,  6.  1).  So  gelangt  er  zur  Idee 
der  wesentlichen  Einheit  und  Gleichberechtigung  aller  Glieder  der  Ge- 
meinde, welche  gleichmässigen  Zugang  zu  Gott  haben.  Darauf  gründet 
sich  bei  Irenäus  die  Idee  des  allgemeinen  Priesterthums  und  damit  das 
Streben  nach  Autonomie  der  Gemeinde  als  einer  Gemeinde  von  Priestern, 
die  das  Recht  des  unmittelbaren  Verkehrs  mit  Gott,  mit  Ausschluss  jeder 
menschlichen  Vermittlung  erlangt  haben.  Origcnes  hält  "das  allgemeine 
Priesterthum  fest  als  Correlat  der  christlichen  Opfer  (in  Levit.  hom.  9,  1). 
Tertullian  dehnt  den  Gedanken  noch  weiter  aus.  „Sind  nicht  auch  wir 
Laien  Priester?  Wo  kein  Geistlicher  vorhanden  ist,  da  bringst  du  allein 
das  Opfer  und  bist  dir  selbst  Priester.  Wo  drei  sind,  da  ist  die  Kirche, 
wenn  gleich  es  nur  Laien  sind'^.  So  lehrt  Tertullian  in  einer  Schrift  aus 
seiner  montanistischen  Periode,  de  exhortatione  castitatis  c.  7,  aber  dem 
Wesen  nach  lehrt  er  dasselbe  in  einer  seiner  frühesten  Schriften,  de  oratione 
c,  28.  Als  das  Opfer,  welches  diesem  allgemeinen  Priesterthum  entspricht, 
betrachtet  das  christliche  Alterthum  hauptsächlich  das  Lob-  und  Dankgebet 
zu  Gott,  al)er  auch  die  Darbringung  von  Brod  und  Wein  zum  Abendmahl  i). 
Auch  in  anderer  Beziehung  wurde  das  Recht  der  Gemeinde  aufrecht  ge- 
halten 2) ,  was  alles  nicht  hinderte ,  den  Laien  die  Pflicht  der  Unterordnung 
unter  die  von  den  Aposteln  eingesetzten  Bischöfe  und  Diakonen  einzuschär- 
fen; (dem.  R.  ad  Cor.  c.  40  ff.).  Um  diesen  grössere  Autorität  zu  ver- 
schaflien,  vergleicht  sie  Clemens  (1.  c.)  mit  den  jüdischen  Priestern  und 
Leviten,  eben  so  Tertullian  und  die  apostolischen  Constitutionen  2,  27.  34. 
Doch  erst  Cyprian  macht  vollen  Ernst  mit  dieser  Vergleichung.  Die  Vor- 
stellung von  einem  mittlerischen  Charakter  der  Geistlichen,  die  der  früheren 
katholischen  Kirche  unbekannt  geblieben,  beginnt  besonders,  seitdem  der 
Montauismus  seinen  Einfiuss  geltend  machte,  und  im  Gegensatze  dagegen. 
Der  Ausdruck  Klerus  für  den  geistlichen  Stand  war  anfangs  unverfäng- 
lich. Umfasste  er  doch  anfänglich  auch  die  Laien  in  der  Bedeutung  von 
Reihe,  Rang,  Stand.  So  bilden  1  Petri  5,  3  die  xlriQoi  die  Stände,  worein 
die  Heerde   zerfällt;  daher  bei  Euseb.  5,  1.  4.  20  der  alriqoq  twp  [laQTv- 


1)  Worüber  das  Nähere  in  der  Geschichte  des  Cultus. 

2)  Worüber  das  Nähere  in  der  Geschichte  der  Kirchenzucht. 


154  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismuä. 

Qojp  als  Bezeichnung  der  Gesammtheit  der  Märtyrer  erwähnt  wird.  Da- 
her bei  Ignatius  ad  Ephes.  c.  11  der  xXriqoi;  der  ephesinischen  Christen 
als  Gott  zugehörige  Schaaren^  umfassend  beide,  die  Geistlichen  und  die 
Laien,  aufgeführt  wird.  Daher  in  den  apostolischen  Constitutionen  8,  40, 
die  Ermahnung,  dass  jeder  in  dem  Range  (xXriQoq)  bleiben  soll,  in  welchen 
er  ist  gesetzt  worden,  und  die  Ordnung  beobachten  ij.  Doch  gewöhnlich 
wurde  der  Begriff  Aai;f05  sc.  av^gconog  im  Unterschiede  von  den  Bischöfen  wie 
von  geistlichen  Personen  angewendet  ^j.  Dem  Ausdruck  xlrjQog  als  der  aus- 
zeichnenden Benennung  der  Mitglieder  des  geistlichen  Standes  entspricht  in 
der  lateinischen  Kirche  der  Name  ordo,  entlehnt  von  den  Stadträthen  in 
den  Municipalstädten,  welche  nach  der  Analogie  des  römischen  Senats  ordo 
decurionum  oder  blos  ordo  im  Gegensatz  zur  plebs,  zu  den  plebeji  hiessen. 

IL  Die  wichtigste  neue  Einrichtung,  obschon  nicht  ganz  neu,  sondern 
an  Gegebenes  sich  anschliessend,  war  der  Episkopat,  der  im  Kreise  der 
Einzelgemeinde  entstanden,  zunächst  als  Gemeindeamt  geltend,  bald  zu 
einem  wahren  Kirchenamte  heranwuchs  und  das  wichtigste  Verbindungs- 
glied der  einzelnen  Gemeinden  untereinander,  die  bedeutendste  Stütze  der 
katholischen  Kirche  wurde.  Der  Ursprung  des  Episkopates  ist  verschie- 
dentlich erklärt  worden  3) ;  es  ist  allerdings  nicht  möglich ,  ihn  in  allen  ein- 
zelnen Punkten  befriedigend  zu  erklären.  Es  haben  auch  verschiedenartige 
Factoren  darauf  eingewirkt.  Soviel  steht  aber  fest,  dass  die  Entwicklung 
der  Kirche  zur  Ausbildung  des  Episkopates  hindrängte. 

Er  scheint,  wenn  nicht  dem  Namen  so  doch  der  Sache  nach,  zuerst 
in  der  Muttergemeinde  von  Jerusalem  eingeführt  worden  zu  sein  in  der 
Person  des  Jakobus,  des  Bruders  des  Herrn,  der  nicht  blos  wegen  seiner 
grossen  Frömmigkeit,  sondern  auch  als  leiblicher  Bruder  Christi  der  Vor- 
steher der  Gemeinde  wurde,  ohne  den  Bischofstitel  zu  erhalten,  noch  ihn 
zu  beanspruchen  ^j.  Seine  Stellung  entsprach  wohl  der  des  Synagogen- 
hauptes bei  den  Juden.  Nach  Jacobi  Tode  im  Jahre  69  wurde  Symeon, 
ein  leiblicher  Verwandter   des  Herrn   an  seine  Stelle  gewählt  &) ,    so    wie 


1)  Wenn  die  Geistlichkeit  später  auf  Num.  18,  20  Deut.  10,  9  sich  berief,  wo  es 
heisst,  dass  der  Herr  selber  den  Leviten  ihr  xktjQog,  ihr  Erbe  und  Antheil  sein  werde, 
so  gehört  das  nicht  hieher.  —  Der  Ausdruck  y.h]Qog  nahm  aber  schon  im  apostolischen 
Zeitalter  die  Bedeutung  Amt  an,  xXrjQog  Ttjg  (Tmxormf.  Apostelg.  1,  17.  —  Euseb.  7,  2 
u.  a.  St. 

2)  So  Clem.  ad  Cor.  40—  nach  Analogie  der  Verhältnisse  des  alten  Bundes,  2  Chron.  36, 14. 

3)  S.  Baur,  über  den  Ursprung  des  Episkopates.  1838  und  Artikel  Bischof  in  der 
Kealencyklopädie.     Gieseler  K.  G.  1,  1.  140  fif. 

4)  Wenn  ihn  die  Olementinen  als  Bischof  der  judenchristlichen  Kirchen  überhaupt 
darstellen  (S,  vor  den  dement.  Homilieen  den  Brief  Petri  an  Jacobus  und  des  Clemens 
Brief  an  Petrus),  so  ist  insofern  etwas  wahres  daran,  als  der  Einfluss  des  Jacobus  sich 
allerdings  über  Jerusalem  hinaus  erstreckte  (S.  Gal.  c.  2  und  den  Brief  des  Jacobus  im 
neutestamentlichen  Kanon). 

5)  Euseb.  3,  11  berichtet,  es  werde  erzählt  {Xoyoc  xanx^t),  dass  damals  die 
noch  lebenden  Apostel  und  Jünger  Christi  nebst  dessen  leiblichen  Anverwandten  von  allen 
Orten  nach  Jerusalem  zusammengekommen  seien  und  darüber  berathschlagt  hätten,  wer 
würdig  sei,  Nachfolger  des  Jacobus  zu  werden;  ihre  Wahl  sei  auf  Symeon  gefallen.  Die 
Sache  ist  au  sich  selbst  nicht  sehr  wahrscheinUch,  wie  sie  denn  auch  Euseb.  nur  als  Sago 


förchen  Verfassung.    Der  Episcopat.  155 

denn  auch  jene  zwei  leiblichen  Verwandten  des  Herrn ,  die  Kaiser  Domitian 
ausforschte,  Vorsteher  verschiedener  Gemeinden  wurden,  weil  sie  nicht 
allein  Glaubenszeugen,  sondern  auch  Verwandte  Christi  waren  (Euseb  3,  20). 
Nicht  die  apostolische  Succession ,  sondern  die  leibliche  Verwandtschaft  mit 
Jesu  war  das  Bestimmende. 

Das  Beispiel  der  Muttergemeinde  fand,  wie  Gieseler  bemerkt,  zunächst 
in  Antiochien  in  Syrien  Nachahmung,  bewusste  oder  unbewusste,  und  zwar 
in  solcher  Forili,  dass  der  Bischof  als  Nachfolger  oder  Stellvertreter  Jesu, 
das  Collegium  der  Presbyter  als  Nachfolger  und  Stellvertreter  der  Apostel 
erscheint;   so  schreibt  Ignatius  an  die  Gemeinde  zu  Tralles  c.  2:    ,,unter- 
werfet  euch  dem  Bischof  als    wie  Christo,   dem  Presbyterium  als  wie  den 
Aposteln/^    Dass   der  Episkopat  damals  noch  eine    neue  Einrichtung  war, 
erhellt  deutlich  aus  den  gehäuften  Ermahnungen  des  Ignatius,  sich  dem  Bi- 
schöfe zu  unterwerfen ,  nichts  zu  thun  ohne  sein  Geheiss  u.  s.  w.   Im  Briefe 
an  Polykarp.  c.  6  redet  er  diesen  als  Bischof  an,  im  Unterschiede  von  den 
Presbytern,   obwohl  Polykarp   in  seinem  Briefe   an  die  Philipper  sich   nur 
als  Vorsitzenden  unter  denen ,   die  mit  ihm  Presbyter  sind ,    nennt.    Igna- 
tius scheint  überhaui)t    die  hervorragenden  Presbyter   als  Bischöfe   zu  be- 
handeln; er  fordert  die  Gemeinden  auf,  sie  als  Bischöfe  anzuerkennen  und 
ihnen   Gehorsam   zu  beweisen.     So   schreibt   er   den  Ephesiern  c.   1   von 
Onesimus,  „eurem  Bischof  nach  dem  Fleisch" :  „ich  bitte  euch,  dass  ihr  ihn 
in  Christo  liebet,  und  dass  ihr  alle  ihm  ähnlich  werdet ;  denn  gesegnet  sei, 
der  euch  gewürdigt  hat ,    einen  solchen  Mann  zu  besitzen"  ^).    In  Alexan- 
drien   scheint    der   Episkopat   die   ursprüngliche   Form   der  Gemeindever- 
fassung gewesen  zu  sein.    Dort  soll  vom  Evangelisten  Marcus  an,  der  schon 
einen  Vorrang   vor  den  übrigen  Presbytern  hatte,    einer  als  primus  hifer 
imres  erwählt  worden  sein,  der  den  Andern  vorstünde.    Das  sei  geschehen, 
berichtet  Hieronymus  (ep.  101),  um  schismatischen  Bewegungen  vorzubeu- 
gen.   Clemens  von  Bom,  später  immer  als  einer  der  ersten  römischen  Bi- 
schöfe erwähnt,  kennt  durchaus  keinen  Unterschied  zwischen  Bischöfen  und 
Presbytern,   weder  in  Korinth  noch   in  Rom,   sondern   blos  Bischöfe  (i.  e. 
Presbyter)  und  Diakonen  c.  42.    P^rst  später  rückten  die  vornehmsten  Pres- 
byter in  die  Stelle  von  ersten  Bischöfen  der  Gemeinden  ein ;  daher  die  ver- 
schiedenen  Angaben  über  die  llcihenfolge   der  ersten  römischen  Bischöfe. 
Zu  Justins  Zeit  war  schon   in  allen  Gemeinden    ein  Vorsteher,    ngoscicog^ 
(Apol.  1  c.  65).    Die  Kirche,   von  aussen  gedrängt,  durch  die  ausbrechen- 
den Verfolgungen,    von  innen  durch   die  seit  130  ihr  Haupt  mächtig  erhe- 
benden Häresieen,  suchte  ihre  Stütze  im  Episkopat,  eine  Thatsache,  wovon 
uns  schon   die  ignatianischen  Briefe    eine  anschauliche  Vorstellung  geben. 
Die  sich  entwickelnde  Autorität  der  Tradition  wurde  damit  in  Verbindung 


anfahrt.  Auf  keinen  Fall  kann  aber  daraus  gefolgert  werden,  dass  die  Apostel  damals 
den  Episkopat  eingerichtet  hätten,  —  wie  Rothe,  Anfänge  der  cliristlichen  Kirche,  be- 
hauptet hat. 

1)  Anderen  Gemeinden  empficlilt  er  andere  Männer  als  Bischöfe,  ad  Trall.  c.  1,  ad 
Magnesios  c.  2,  ad  Philad.  c.  1. 


J56  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismtis. 

gebracht.  Es  wurde  der  Grundsatz  aufgestellt,  dass  die  Successioii  der 
Bischöfe  von  den  Aposteln  her  eine  Gewähr  sei  für  die  Erhaltung  der 
reinen  Lehre  (Irenäus  4,  26).  Die  Autorität,  welche  die  Bischöfe  als 
Nachfolger  der  Apostel  genossen,  wurde  durch  das  allgemeine  Priester- 
thum  der  Gläubigen,  wenn  auch  in  gewisser  Hinsicht  beschränkt,  so  doch 
keineswegs  neutralisirt ,  und  in  Folge  des  Grundsatzes  der  apostolischem 
Nachfolge  der  Bischöfe  erhielt  der  Episkopat  Bedeutung  und  Macht  niclit 
blos  für  die  einzelnen  Gemeinden,  sondern  auch  für  die  ganze  katholische 
Kirche;  er  wurde  zum  Kirchenamt,  zum  höchsten  Kirchenamte.  Wenn  an- 
fänglich kein  hierarchisches  Band  die  einzelnen  Gemeinden  untereinander 
verknüpfte,  so  ist  fortan  das  Bestreben  sichtbar,  den  Episkopat  als  solches 
anzusehen  und  zu  verwenden,  ohne  jedoch  principiell  die  Unabhängigkeit 
der  einzelnen  Gemeinden  und  Bischöfe  von  einander  aufzuheben.  Der 
Montanismus  bewirkte  die  Feststellung  des  gottesdienstlichen  Charakters 
des  Klerus  und  das  Zurücktreten  der  Idee  des  allgemeinen  Priesterthums, 
von  welchem  z.  B.  Cyprian  gar  nichts  mehr  weiss,  während  Irenäus  es 
noch  vollständig  anerkannt  hatte. 

Jeder  Bischof  erhielt  den  Ehrennamen  Tlana,  Tlana  UgcoTatog.  Dh) 
Wahl  wurde  in  einer  allgemeinen  Gemeindeversammlung  durch  einige  be- 
nachbarte Bischöfe ,  auf  deren  Zuziehung  Cyprian  grossen  Wcrth  legte,  um 
durch  die  Geistlichen  der  betreffenden  Parochie  in  der  Weise  vorgenom- 
men, dass  die  Gemeinde  das  Recht  behielt,  den  ihr  vorgeschlagenen  abzu- 
weisen. Es  geschah  aber ,  dass  die  Gemeinde  selbst  wählend  auftrat ,  wie 
denn  Cyprian  gegen  den  Willen  einiger  seiner  Presbyter  von  der  Gemeinde 
gewählt  wurde.  Die  Gewalt  des  Bischofs  war  keineswegs  unbeschränkt. 
Er  ernannte  zwar  die  unteren  Kleriker;  aber  die  Presbyter  mussten  in 
einer  Gemeindeversammlung  für  würdig  erkannt  worden  sein.  Der  Bischof 
musste  in  allen  kirchlichen  Angelegenheiten  seinen  Klerus  befragen;  in 
wichtigen  Fällen,  z.  B.  bei  der  Frage  über  die  Wiederaufnahme  der  Ge- 
fallenen, befragte  er  die  ganze  Gemeinde.  So  sehr  Cyprian  bemüht  war, 
die  bischöfliche  Gewalt  zu  vertheidigen  und  zu  steigern,  so  vermochte  ihn 
doch  das  aristokratische  Element,  das  im  Klerus  gegeben  war,  und  das 
hohe  Ansehen,  das  die  Märtyrer  und  Confessores  genossen  und  wovon  sie 
Misbrauch  machten,  die  Autonomie  der  Gemeinde  zu  vertreten.  Der  Bi- 
schof hatte  dadurch  grossen  Einfluss ,  dass  alle  Hülflosen  und  Nothleiden- 
den  an  ihn  gewiesen  waren ,  dass  er  das  Kirchenvermögen  verwaltete  und 
Schiedsrichter  war  in  allen  Bechtshändeln  seiner  Gemeindeglieder.  Diess 
gründete  man  zunächst  auf  die  Ermahnung  des  Apostels  (1  Kor.  6,  1),  wie 
denn  das  römische  Recht  das  Arbitralverfahren  begünstigte.  (S.  apostoli- 
sche Constitutionen  2,  45  ff).  Zur  Steigerung  der  bischöflichen  Gewalt 
trugen  mehrere  Verbindungsformen  des  grösseren  Kirchenkörpers  bei. 

III.  Im  Zusammenhange  mit  der  Ausbildung  des  geistlichen  Standes 
und  zum  Theil  des  Episkopats  erfolgte  auch  eine  Vermehrung  der 
Kirchenämter,  im  Verlaufe  oder  gegen  das  Ende  der  Periode.  Zu  den 
Diakonen  kamen  Unter diakonen,  vnodiaxopoi,  suhdiacom,  welche  bei 
der  Verrichtung  des  Gottesdienstes  den  Diakonen  beistanden,   daher  auch 


Kirchenverfassung.    Conföderation  der  Gemeinden.  157 

vTcriQEtai  tcav  Siaxov(op  benannt  i).  Die  Akoluthen,  ungeachtet  ihres 
m'iechischen  Namens  in  der  römischen  Kirche  entstanden,  hatten  bei  Ver- 
richtung des  Gottesdienstes   die  Abendmahlsgefässe  mit  Wein  und  Wasser 


zu  füllen,  das  Abendmahl  zu  den  Kranken  zu  tragen.  Die  Anagnosten, 
ledores,  die  Vorleser  der  biblischen  Abschnitte  bei  dem  Gottesdienste,  er- 
scheinen erst  am  Ende  des  zweiten  oder  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts 
als  besonderes  Kirchenamt,  da  bis  dahin  diese  Vorlesungen  vom  Presbyter 
oder  Diakon  waren  gehalten  worden;  sie  werden 'zuerst  von  TertuUian  er- 
wähnt de  praescriptione  haeret.  c.  41;  er  tadelt  die  Häretiker,  dass  sie 
keine  kirchliche  Ordnung  beobachten:  ,,heute  ist  Diakon  derjenige,  der  mor- 
gen Vorleser  ist."  So  übte  denn  die  Polemik  gegen  die  Häretiker  auch 
in  diesem  Kreise  ihren  Einfiuss  aus.'  Die  Exor eisten  bildeten  erst  seit 
dem  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  eine  eigene  Classe  von  Beamten  und* 
zwar  nur  in  der  lateinischen  Kirche;  in  der  griechischen  Kirche  galt  der 
Exorcisnms  als  Gabe  der  freien  Gnade  Gottes.  Je  mehr  der  Gesang  in  die 
gottesdienstlichen  Versammlungen  eingeführt  wurde,  je  mehr  er  Ausbildung 
erhielt,  desto  mehr  w^ar  es  nöthig,  Vorsänger  zu  haben.  U^aXtaL,  xpaXtco- 
doi.  Endlich  siml  noch  zu  nennen  die  nvlcogot,  ostiarü^  mansionarii, 
janitores,  Thürhüter,  die  ausserdem  jedem  seinen  Platz  anwiesen  und  für 
Stille  und  Anstand  in  den  Versammlungen  sorgten.  Alle  die  genannten 
Aeniter  bildeten  die  ordines  minores,  im  Unterschiede  von  den  ordlnes  ma- 
jores^ worunter  man  seit  dem  zweiten  Jahrhundert  die  Bischöfe,  Presbyter 
und  Diakonen  verstand. 

IV.  Es  entstand  aber  auch  eine  Conföderation  der  einzelnen  Ge- 
meinden und  zwar  theils  in  Form  der  Subordination,  theils  der  Co  Or- 
dination. 

Was  das  erste  betrifft,  so  kommt  hier  zunächst  in  Betracht  die  P^r- 
weiterung  der  bischöflichen  Parochie.  Das  Evangelium,  zuerst  in  den 
Städten  verkündigt,  wurde  es  bald  auch  auf  dem  Lande  und  zwar  von  den 
Städten  aus.  Die  Christen  auf  dem  Lande,  anfangs  nicht  zahlreich,  be- 
suchten den  Gottesdienst  in  der  Stadt;  bald  mehrte  sich  ihre  Zahl,  das 
Evangelium  drang  auch  in  Orte,  die  von  Städten  entfernter  waren.  Da 
entstanden  eigene  Gemeinden;  es  ist  an  sich  natürlich,  dass  die  dafür  nöthi- 
gen  Geistlichen  ihnen  aus  der  Stadt,  woher  sie  das  Evangelium  empfangen 
hatten,  zugeschickt  wurden.  Es  waren  Presbyter  und  Diakonen  der  dem 
Bischof  untergebenen  Stadtgemeinde.  Sie  hielten  sich  so  viel  wie  möglich  zu 
derselben  und  traten  zu  ihr  in  ein  Verhältniss  der  Subordination.  Sie 
hiessen  aber  ebenfalls  Bischöfe ,  nämlich  x«9«7r«(Txo7i:o«,  episcopi  rurales. 
Es  scheint,  dass  sie  sich  gerne  den  Stadtbischöfen  gleich  stellten,  daher 
das  Concil  von  Ancyra  315  ihnen  verbot,  Presbyter  oder  Diakonen  zu  be- 
stellen. In  der  nordafrikanischen  Kirche  scheinen  sie  am  meisten  Gleich- 
stellung mit  den  Stadtbischöfen  erlangt  zu  haben.  —  In  diese  Periode  fal- 
len auch  die  Anfange  der  Metropolit  an  Verfassung,  wobei  zu  be- 
merken,   dass  die  Benennung  vor  dem  nicänischen  Concilc  325   nicht  vor- 


1)  Man  kann  sagen,    dass  die  vnodittxofoti   die   am  Ende   der  Periode  aufkamen 
dieselben  Geschäfte  verrichteten,  die  bis  dahin  den  nvliogoi  und  vmjQdKi  oblagen. 


158  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

kommt.    So  wie  nämlich  das  Christenthum  sich  später  auf  dem  Lande  ver- 
breitete als  in  den  Städten,    so  auch  später   in   den  kleineren  als  in  den 
grösseren  Städten.    Die  Gemeinden   in  diesen  wurden  die  Mütter  derjeni- 
gen in  den  kleineren,  firjtgoTioXtg,  im  Alterthum  bekanntlich  Name  der  Mut- 
terstadt im  Verhältniss  zu  den  Kolonieen,  damals  noch  Ehrenname  mehrerer 
Städte  in  Kleinasien.    Dieses  Verhältniss  wurde  also  auf  das  kirchliche  Ge- 
biet übertragen.    Da   die  Mutterkirchen  öfter   zu   den  sedes  apostolicae  ge- 
hörten, da  sie  überhaupt  die  bedeutendsten  Städte  der  Provinz  waren,  zwi- 
schen welchen  und  den  kleinen  Städten  ein  reger  Verkehr   stattfand,    so 
geschah  es,  dass  man  sich  an  den  Bischof  der  Hauptstadt  wendete  in  vie- 
len Fällen,  wo  er  geeignet  schien  zu  helfen,  und  in  allen  Fällen,    welche 
die  Sachen  der  ganzen  Provinz  betrafen.  Bei  Beratlumg  gemeinschaftlicher 
*  Angelegenheiten  kam  man   in    der  Metropole  zusammen;   der  Bischof  der- 
selben leitete   die  Berathungen,   aut   seinen  Rath  und   seine  Zustimnmng 
wurde  ein  besonderes  Gewicht  gelegt.     Die   dem  Metropoliten  sich  unter- 
ordnenden Particularkirchen  hiessen  enctqx^^t  provincia\    das   Verhältniss 
wurde  nicht  überall  ausgebildet,  in  Italien  blos,  was  Rom  betrifft,  inAfricf. 
mit  eigenthümlicher  Ausbildung  »).     Aber  schon  in  unserer  Periode  entstan- 
den grössere  Metropolitensprengel   und   wurden   gewisse  Metropoliten   voi 
den  anderen  ausgezeichnet,    Rom,   Alexandrien,   Antiochien  (in  Sy- 
rien) hatten  die  grössten  Eparchieen  und  auf  die  Zustimnumg  der  dortigen 
Metropoliten  wurde  das  grösste  Gewicht  gelegt.    Daneben  wurde  aber  von 
Cyprian   die   Gleichheit   aller  [Bischöfe  hervorgehoben   und   behauptet,  es 
dürfe  kein  Bischof  sich  zum  Richter  über  den  andern  aufwerfen,    da    nur 
dem  Herrn  diess  zukomme,    welchem  allein  jeder  Bischof  für  seine  Hand- 
lungen verantwortlich  sei. 

Die    bedeutendste  Conföderation    in   Form   der   Coordination   ist    die 
Synodalverbindung  2).     Das  erste  Beispiel   einer  Synode   ist  gegeben 
im  sogenannten  Apostelconvent,  Apostelg.  15,  woran  auch  Laien  Theif  nah- 
men und  zwar  mit  consultativer  und  deliberirender  Stimme.    Doch  ging  es 
lange,   bis  dieses  Beispiel  Nachahmung  fand.    Zuerst  wird  von  Zusammen- 
künften der  Gläubigen  {t(ov  nKTTo^v)  berichtet ,  welche,  in  Folge  der  durch 
die  Montanisten  veranlassten  Bewegung  der  Gemüther,  c.  160  in  Kleinasien: 
öfter  und   an  vielen  Orten  stattfanden,   wobei   die  Sätze   der  Montanisten! 
geprüft  wurden,    und  wovon  das  Resultat  war,    dass   die  Montanisten  ausj 
der  Kirchengemeinschaft  ausgeschlossen  wurden.     (Euseb  5,  16).     Ein   an-| 
derer  Anlass   zu  solchen  Zusammenkünften  fand  sich    im  Passahstreite  ge- 
gen Ende  des  zweiten  Jahrhunderts.    Euseb,  der  darüber  berichtet  (5,  23) 
hebt  hervor,    dass  damals  Synoden   und  Zusanunenkünfte   der  Bischöfe  ge- 
halten  wurden,    nach   Eusdb's  Urtheil    die   ersten    eigentlichen   Synoden. 
Es  gab  aber  genug  Anlässe,    wo   es  passend  und   sogar  nöthig  erscheinen 
mochte,   gemeinsame  Berathungen   zu   halten.     Wie  weit  das  Vorbild   der 
noch   bestehenden  Amphictyonen    auf    das  Zustandekommen   der   Synodal- 


1)  Worüber  vgl.  den  Art.  nordafricanische  Kirche  in  der  Kealencyklopädie. 

2)  Das  Hauptwerk  über  die  Geschichte  der  Concilien  ist  das  von  Hefele.   7  Bände. 


Kirchen  Verfassung.    Synodal  Verbindung.  159 

einrichtung    eingewirkt  hat,    lässt   sich   nicht   mit  Gewissheit  bestimmen. 
Näher  lag  als  Vorbild  in    den  meisten  Provinzen  Kleinasiens   das  xoivov, 
commune^    der  Städte,  eine  Art  Tagsatzung,  welche  sich  von  Zeit  zu  Zeit 
in  der  Metropolis    der  Provinz  versammelte  und  die  gemeinsamen  Angele- 
genheiten berieth,  auch  concilium  provinciale,    oder  kurzweg  concilium  ge- 
nannt.   Zu  den  Zeiten  TertuUian's  müssen  die  kirchlichen  Synoden  in  Grie- 
chenland und  Kleinasien    schon    als  ziemlich   feste  Einrichtung   bestanden 
haben.    Sie  galten  als  ehrwürdige  und  feierliche  Selbstdarstellung  der  gan- 
zen Christenheit  i).     Dasselbe   fand   statt   in  anderen  Theilen   der  Kirche. 
In  der  Zusammensetzung    derselben    zeigt    sich   noch  deutlich   der  freiere 
Geist  der  Kirche,    wie   er  sich  im  Apostelconvente  ein  Denkmal  gestiftet. 
Von    den    gegen    die   Montanisten    gehaltenen   Versannnlungen    heisst   es 
(Euseb  I.  c.)  nicht  einmal ,  dass  Bischöfe  oder  Kleriker  daran  Theil  genom- 
men.   Wenn  wir  aber  bedenken,  dass  in  diesen  Versammlungen  die  Lehren 
der  Montanisten  geprüft,   dass  darauf  diese  excommunizirt  wurden,    so  ist 
doch  damit  gesagt,   dass  Geistliche  daran  Theil  nahmen,   die  im  allgemei- 
nen Ausdruck  Gläubige    inbegriffen   sind.    Immerhin   geht   daraus   hervor, 
dass  diese    durch   die  Montanisten   veranlassten  Versanmilungen    ziendich 
formlos  waren;    es   ging  dabei,   wie    es  scheint,    etwas  tumultuarisch  her. 
Seitdem  gestaltete    sich  die  Sache  so,    dass    die  Bischöfe  der  Provinz  den 
Hauptbestandtheil  bildeten;   andere  Bischöfe   wurden  ehrenhalber  eingela- 
den.   Es  gab  Synoden,   worauf  blos  Bischöfe  erschienen,    meistens  waren 
aber   auch  Presbyter  anwesend;    sie  hatten  Sitz    und  Stimme.    An   vielen 
Synoden  nahmen    auch  Diakonen    und   Laien  Theil;    die    confessores    und 
stantes  laici  nahmen  zu  Cyprian's  Zeit  Theil  an  Synoden,  betreffend  die  Auf- 
nahme der  lapsi.  Bei  der  Synode  zu  Carthago  über  die  Ketzertaufe  waren  aus- 
ser 87  Bischöfen  viele  Priester  und  Diakonen  und  ein  grosser  Theil  des  Volkes 
gegenwärtig.    Die  Bischöfe  nahmen  den  Rath  der  Laien  und  Kleriker  ent- 
gegen,   aber   diese  hatten   dabei  kein  votum  derisivuni.    Auch  auf  der  Sy- 
node zu  Antiochien  gegen  Paul  von  Samosata  264  oder  2()0  waren  Presbyter 
und  Diakonen  gegenwärtig.   Das  Circularschreiben  der  Synode  ist  im  Namen 
nicht  nur  der  Bischöfe,    sondern  auch  der  übrigen  Mitglieder  des  Klerus 
erlassen.    Diese  Synoden   wurden    in  mehreren  Provinzen  jährlich  einmal 
oder  zweimal  gehalten.    Die  Formel  für  die  Beschlüsse  derselben:    spiritu 
sancto  suggerente,  (nach  Apostelg.  15,  28  edo^e  tw  äyiM  nveviiati  xat  fifAiv) 
wurde  252  von  Cyprian  zum  ersten  Male  im  Namen  einer  carthagischen  Sy- 
node gebraucht.     Aus  der  Synodalverfassung  ergab  sich  eine  doppelte  Art 
von  Rückwirkung  auf  die  Stellung  und  Wirksamkeit  des  einzelnen  Bischofs. 
Wenn  der  Bischof  gewohnt  war,  die  kirchlichen  Angelegenheiten  mit  seinem 
Klerus  zu  berathen,    so  mussten  nun   diese  Berathungen  eine  gewisse  Be- 
schränkung erleiden,  obgleich  sie,  was  das  Beispiel  Cyprian's  deutlich  bezeugt, 
keineswegs  aufhörten.   Die  Synodalverbindung  hob  ebenfalls  die  isolirte,  un- 


2)  De  jejuniis  c.  13.  Aguntur  praeterea  per  Graeciam  illa  certis  in  locis  concilia 
ex  universis  ecclesiis,  per  quae  et  altiora  quaeque  in  commune  tractantur  et  ipsa  reprae- 
sentatio  totius  nominis  christiani  magna  veneratione  celebratur. 


IßO  Erste  Periode  des  alten  Katholicisinus. 

abhängige  Stellung  des  einzelnen  Bischofs  gegenüber  von  seinen  Collegen 
auf.  Sollte  die  Gemeinde  sich  den  Synodalbeschlüssen  fügen,  so  musste 
der  Bischof  mit  dem  guten  Beispiel  vorangehen.  Die  einzelnen  Bischöfe 
wurden  dadurch  der  Gesammtheit  der  Bischöfe  der  Provinz,  dem  corpus 
e/)iscoporum,  sacerdot um  suhoYdinirt.  Doch  geschah  es  noch  immer,  dass  ge- 
wisse Bischöfe  die  Synodalbeschlüsse  ungestraft  nicht  annahmen.  Auch  da- 
für galt  der  Grundsatz,  dass  jeder  Bischof  auf  eigene  Verantwortung  die 
Kirche  leite  (Cyprian  epist.  72).  Phidlich,  indem  die  Synode  sich  in  der 
Metropole  versammelte,  vom  Metropoliten  ])erufen  und  präsidirt  wurde, 
der  zugleich  auf  den  Gang  der  Verhandlungen  Eintluss  ausübte,  wurde  durch 
das  Synodalinstitut  das  Ansehen  des  Metropoliten  befestigt. 

Die  bisherigen  Conföderationsformen  betrafen  denn  doch  nur  die  Theile 
der  Kirche  als  einzelne  betrachtet;  denn  auch  die  grösste  Eparchie  des 
angesehensten  Metropoliten  war  doch  nur  ein  Theil  der  Kirche.  Betrachten 
wir  die  Kirche  aus  dem  Gesichtsi)unkte  dieser  Verbindungsformen,  so  er- 
scheint sie  uns  als  Aggregat  von  einzelnen  Staaten,  die  von  einander  un- 
abhängig sind  und  zunächst  durch  kein  anderes  organisches  Band  als  das- 
jenige des  gemeinsamen  Glaubens  verbunden.  Wie  denn  aber  die  Kircht 
das  Erzeugniss  eines  und  desselben  Geistes  war,  und  derselbe  Geist  über- 
all hin  wehte ,  so  erzeugte  er  auch  Versuche  zur  Verbindung  aller  auf  der 
Erde  zerstreuten  christlichen  Kirchen.  —  So  entstand  früh  der  Gebrauch, 
dass  die  Kirchen  von  benachbarten  Provinzen  ihre  Synodalbeschlüsse  ein- 
ander mittheilten.  Auch  entfernteren  Kirchen  wurden  wichtigere  Artikel, 
besonders  die  Kirchenlehre  betreffend,  durch  die  sogenannten  Synodalbriefe 
mitgetheilt.  Es  wurde  gebräuchlich,  dass  die  Bischöfe  und  zwar  besonders 
die  Metropoliten  einander  ihre  Wahlen  und  Amtsantritte  ankündigten,  durch 
die  yga^fiara  xotvcavtxa,  die  €7Tt(TtoXai  xoivMVixai  (später  €v^QOvi(TTixai) 
eplstolae  commmticatoriae.  Eerner  kam  es  auf,  dass  jeder  Christ,  der  den 
Wohnort  wechselte  oder  wohin  reiste,  Kleriker  oder  Laie,  von  seinem  Bi- 
schof ein  Empfehlungsschreiben  mitbrachte,  wodurch  er  als  Glaubensbruder 
legitimirt  wurde  {literae  formatae ,  yoapfiara  xavovixa^  tetvnoy^spa,  weil 
sie  mit  einem  Kirchensiegel  versehen  waren,  um  Verfälschungen  vorzubeu-- 
gen).  Der  Gründe  für  solche  Schreiben  gab  es  in  den  damaligen  Verhält- 
nissen der  Kirche  genug.  Herumreisende  Betrüger  benützten  die  christ- 
liche Wohlthätigkeit,  um  sich  Gewinn  zu  verschaffen  (S.  die  Schrift  des 
Lucian  de  morle  Peregrlni).  Je  mehr  die  Häresieen  aufkamen ,  desto  niehi* 
wollte  man  Sorge  tragen,  dass  nicht  unerkannte  Häretiker  sich  in  die  Ge- 
meinden einschlichen.  Es  mochten  unter  dem  Schutze  des  Christennamens 
auch  Spione  sich  einschleichen  und  hernach  als  Ankhiger  der  Christen  auf- 
treten. Eerner  entstand  der  Gebrauch,  dass  jede  Gemeinde  von  denjeni- 
gen ,  welche  sie  ausstiess ,  den  anderen  Gemeinden  Nachricht  gab ,  zunächst 
den  benachbarten,  in  wichtigeren  Eällen  auch  den  entfernteren,  indem 
man  von  dem  Grundsatze  ausgieng,  dass,  wer  V(m  einer  Gemeinde  ausge- 
schlossen, es  auch  von  der  ganzen  Kirche  sei.  Doch  gab  es  liievon  wich- 
tige Ausnahmen.  Die  Montanisten  in  Kleinasien  excomnmnizirt,  wurden  es 
erst  weit  später  in  Africa.  Origenes,  von  seinem  Bischof  excommunizirt, 
wurde  von  den  Kirchen  in  Palästina,    Arabien    und  Achaja   in  Schutz  ge- 


Kirchenverfassung.    Einheit  der  Kirche.  161 

iiommen.  Endlich  wurden  auch  Anstalten  getroffen ,  dass  diejenigen,  welche 
^ich  selbst  von  einer  Gemeinde  lostrennten,  angesehen  wurden  als  aus  der 
Kirche  überhaupt  austretend.  Doch  auch  hievon  gab  es  Ausnahmen.  So 
wurde  ein  Novatianischer  Bischof  zur  Synode  von  Nicaea  325  berufen  — 
durch  die  Bemühungen  des  Athanasius,  der  im  Punkte  der  Trinitätslehre 
zu  ihm  Vertrauen  gefasst  hatte. 

V.  Die  Einheit  der  Kirche.  Unter  den  genannten  Verhältnissen 
und  in  Folge  der  erwähnten  Einrichtungen  trat  die  Idee  der  Einheit  der  Kirche 
mit  Macht  hervor.  Es  kamen  aber  noch  andere  Dinge  als  Factoren  hinzu. 
In  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  brachen  in  der  nordafricanischen 
Kirche  Spaltungen  aus ,  welche,  allerdings  für  das  geistliche  Gedeihen  der 
Kirche  gefahrdrohend  waren.  Sie  wurden  am  eifrigsten  und  entschiedensten 
mit  Wort  und  That  von  Cyprian  bekämpft.  Gegen  die  Schismatiker  hob  er  die 
bischöiiiche  Würde  und  Gewalt,  die  Einheit  des  Bischofsamtes  hervor  und 
brachte  damit  die  Einheit  der  Kirche  in  die  engste  Verbindung.  Er  hat 
sich  darüber  ausgesprochen  theils  in  jenem  Tractate  de  unitate  ecclesiae, 
theils  in  vielen  Briefen,  die  als  Commentar  zu  jenem  Tractate  gelten 
können.  Gegen  jene  Schismatiker  konnte  man  nicht  mehr  blos  auf  die 
Glaubensregel  sich  berufen;  sie  erkannten  sie  eben  so  sehr  an  wie  alle 
übrigen  katholischen  Christen.  Um  irgend  eines  untergeordneten  Punktes 
willen  trennten  sie  sich  von  der  Kirche.  Ihnen  wurde  die  Einheit  des  Bi- 
schofsamtes, die  Einheit  der  Kirche  entgegengehalten. 

Es  gibt  nur  Eine  Kirche,  die  heilige,  allgemeine,  d.  h.  katholische 
Kirche.  Sie  ist  die  Erzeugerin  und  Trägerin  der  gesammten  Fülle  des 
christlichen  Lebens,  zusammengehalten  durch  das  Band  der  Liebe,  Ein- 
tracht, Uebereinstimmung.  So  wie  es  viele  Strahlen  derselben  Sonne  gibt 
und  viele  Zweige  desselben  Baumes,  so  wie  viele  Bäche  aus  derselben 
Quelle  fliessen,  so  verhalten  sich  die  einzelnen  Gläubigen  und  die  Parti- 
cularkirchen  zu  der  ganzen  Kirche.  Wie  der  Strahl  verschwindet ,  der  sich 
von  der  Sonne  lostrennt,  wie  der  Bach  versiegt,  der  von  der  Quelle  abge- 
schnitten wird,  wie  der  vom  Baume  abgerissene  Zweig  verdorrt ,  so  ein  Je- 
der, der  sich  von  der  Kirche  trennt;  er  geht  der  Verheissungen  verlustig, 
welche  der  Herr  seiner  Kirche  gegeben.  So  wenig  derjenige  dem  Ver- 
derben entrann ,  der  nicht  in  der  Arche  Noah  war,  so  wenig  kann  ihm  der 
entrinnen,  der  ausserhalb  der  Kirche  ist.  Er  verliert  die  Substanz  seiner 
Seligkeit.  Daher  kann  Niemand  Gott  zum  Vater  haben,  der  nicht  die 
Kirche  zur  Mutter  hat.  Wer  nicht  in  der  Kirche  ist ,  kann  nicht  Märtyrer 
werden,  weil  er  nicht  stirbt  als  Zeuge  Christi,  der  nur  in  der  Kirche  zu 
linden  ist. 

Der  Einzelne  steht  dadurch  auf  dem  Boden  der  einen  allgemeinen 
Kirche,  er  ist  dadurch  ein  Mitglied  derselben,  dass  er  sich  an  seinen  Bi- 
schof hält.  So  verhält  es  sich  auch  mit  der  Gemeinde ,  deren  Mitglied 
er  ist.  Die  Gemeinde  ist  plehs  episcopo  adiinata;  die  Gemeinde  ist  virtuell 
im  Bischöfe  (ecclesia  est  in  episcopo).  Der  rechtmässige  Bischof,  der  Nach- 
folger der  Apostel,  der  Erbe  und  Träger  ihrer  Schlüsselgewalt  ist  das  con- 
stituirende  Princip  der  Gemeinde;  er  allein  sichert  ihr  ihre  Stelle  im  Ge- 
sammtorganismus  der  Kirche.    Er  ist   es,    der   das  allgemeine  Leben   der 

Herzog,  Kircheugeecliiclite  I.  11 


jß2  Erste  Periode  des  alten  Katholicisraus. 

Kirche  in  die  einzelnen  Canäle  leitet.  Wer  ihn  verachtet,  der  verachtet 
Gott.  Wer  neben  dem  einen  rechtmässigen  Bischof  einen  anderen  aufstellt, 
ist  ausserhalb  der  Kirche.  Es  gibt  nur  einen  Bischof  in  einer  Gemeinde, 
so  wie  der  Herr  auch  nur  Einem  der  Apostel  die  Schlüsselgewalt  überge- 
l)eii,  —  nicht  als  ob  die  anderen  sie  nicht  auch  empfangen  hätten,  aber  es 
sollte  so  die  Einheit  des  Bischofsamtes  symbolisch  dargestellt  werden.  — 
Die  Schismatiker  beriefen  sich  auf  den  Spruch:  ;,wo  Zwei  oder  Drei  in  mei- 
nem Namen  versammelt  sind,  da  bin  ich  mitten  unter  ihnen '^,  ein  Spruch, 
den  zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten  die  mit  Recht  oder  Unrecht  von 
ihrer  Kirche  sich  trennenden  Partheien  auf  sich  beziehen.  Nun  wendet  aber 
Cyprian  die  Sache  so,  dass  man  im  Namen  des  Herrn  gar  nicht  versannnelt 
sein  könne,  wenn  man  sich  von  seinem  rechtmässigen  Bischof  losgesagt 
habe,  durch  den  allein  man  mit  Christo  in  Verbindung  stehe. 

Doch  derselbe  Bischof,  der  in  seiner  Gemeinde  Gott,  Christum  und 
die  Apostel  vertritt,  er  ist  selbst  nur  dadurch  in  der  Kirche,  dass  er  an 
dem  Körper  der  in  der  ganzen  Welt  zerstreuten  Bischöfe  (corpus  sacerdo- 
tum)  festhält  und  in  Gemeinschaft  mit  ihnen  handelt.  Diese  Einheit  alle]' 
Bischöfe  ist  wiederum  in  Petrus  dargestellt,  auf  welchen  der  Herr  di(' 
Kirche  gegründet  hat,  um  auf  symbolische  Weise  die  Einheit  der  Bischofs- 
würde aller  und  alle  Bischöfe  als  Einen  Mann  darzustellen.  Mithin  ist 
Petrus ,  was  die  einzelne  Gemeinde  betrifft ,  Symbol  und  Gewähr  der  Ein- 
heit des  Episkopates,  der  Oberhoheit  des  rechtmässigen  Bischofs  in  dersel- 
ben, so  dass  keiner  ausser  dem  einen  auf  bischöfliche  Rechte  Anspruch 
machen  darf.  Was  die  ganze  Kirche  betriff't,  ist  Petrus  Symbol  der  Ge- 
meinschaft der  Bischöfe  untereinander,  Symbol  der  Einheit  des  gesammten 
Episkopates,  als  einheitliche  Corporation  betrachtet. 

Die  Bischöfe  also  sind  es,  die  den  Körper  der  Sonne  halten,  deren 
Strahlen  alle  Welt  erleuchten  und  beleben ;  sie  halten  die  Wurzeln  des  die 
Welt  überschattenden  Baumes,  die  Quellen  der  weithinströmenden  und 
Eruchtbarkeit  verbreitenden  Bäche,  aber  an  sich  selbst  sind  sie  nur  ein- 
zelne Strahlen,  einzelne  Zweige,  einzelne  Bäche,  und  verderben,  wenn  sie 
sich  vom  Ganzen  losreissen,  dem  sie  angehören.  —  Ja  der  Himmel  selbst 
steht  unter  dem  Gesetze  der  Einheit,  wie  denn  geschrieben  steht:  Vater, 
Sohn  und  Geist  sind  Eins,  und  Christus  sagt :  ich  und  der  Vater  sind  Eins. 
So  besteht  denn  Eine  Kirche,  Ein  Bischofsamt,  Eine  Taufe,  Ein  Gott,  Ein 
Herr,  Ein  Glaube,  Ein  Geist  in  der  ganzen  Kirche. 

Diess  die  Grundzüge  der  grossartigen,  begeisternden  Idee  der  katho- 
lischen Einheit  der  Kirche ^  des  Episkopalsystems  insbesondere,  das  fortan 
sich  mehr  und  mehr  entwickelte  und  zu  einer  Zeit,  da  das  die  Kirche 
beherrschende  Papalsystem  in  Gemeinheit  und  Laster  versunken  war,  die 
katholische  Kirche  rettete.  Was  die  Stellung  des  Bischofs  zu  seiner  Pa- 
rochie  betrifft,  so  war  dieses  System  schon  in  den  ignatianischen  Ikiefen 
vorgebildet.  Bei  Cyprian  ist  es  in  siegreichem  Fortschreiten  begriffen, 
doch  keineswegs  zum  Abschlüsse  gelangt,  sofern  in  der  einzelnen  Gemeinde 
nicht  alle  Gewalt  auf  den  Bischof  übertragen  war,  sofern  die  Verbindung 
der  Gemeinden  und  der  Bischöfe  untereinander  im  Ganzen  noch  sehr  locker 
war  und  Raum  genug  darbot   für  allerlei  Differenzen.    Cyprian  fügt  sich 


Kirchenverfassung.    Der  Bischof  von  Rom.  163 

aus  wohl  überlegter  Kirchenpolitik  in  einige  Beschränkungen  seiner  leiten- 
den Grundsätze;  genug,  dass  sie  ausgesprochen  wurden  und,  wenn  auch 
nur  theilweise,  als  Normen  gelten  durften.  Was  aber  bei  Cyprian  in  leben- 
digem Bildungsprocess  begi'ifFen  ist,  das  ist  in  den  letzten  Büchern  der 
apostolischen  Constitutionen  als  fertiges  Resultat  zum  Abschluss  gebracht. 
Offenbar  aber  ist  in  dieser  Form  der  Kirchenverfassung  zu  viel  Werth  auf 
den  äusseren  Organismus  gelegt. 

Ergänzend  setzen  wir  hinzu:  die  anderen  Kirchenlehrer  kennen  auch 
diese  Einheit  der  katholischen  Kirche  und  heben  hervor,  dass  ausserhalb  der- 
selben kein  Heil  sei,  so  wenig  wie  ausserhalb  der  Arche  Noah  Bettung 
vor  der  Sindfluth  war.  Irenäus  (3,  24.  1),  nachdem  er  gelehrt  hat,  dass  die 
Schätze  der  Wahrheit  in  der  Kirche  niedergelegt  seien,  setzt  hinzu:  ;,aus- 
ser  ihr  sind  Räuber  und  Diebe,  Pfützen  stinkenden  Wassers.  Denn,  wo 
die  Kirche,  da  ist  auch  der  Geist  Gottes,  und  wo  der  Geist  Gottes,  da  ist 
auch  die  Kirche  und  die  Fülle  der  Gnade^^  (jenes  ist  das  katholische,  die- 
ses das  evangelisch-protestantische  Princip).  In  die  Kirche  hat  Gott  die 
gesammte  Wirksamkeit  des  heiligen  Geistes  niedergelegt,  deren  alle  die- 
jenigen nicht  theilhaftig  sind,  welche  nicht  zur  Kirche  sich  halten.  Bei 
den  Alexandrinern,  bei  Clemens  zumal,  vergeistigt  sich  der  Begritf  der 
Kirche;  dieser  leitet  Namen  und  Begriff  der  Kirche  von  den  Auserwählten 
ab,  die  zur  Gemeinschaft  sich  sammeln  ^) ,  die  wahren  Gnostiker  bilden  die 
Kirche,  den  Leib  des  Herrn,  die  Mutter  und  Jungfrau  zugleich  ist. 

VI.  Der  Bischof  von  Rom.  Im  Zusammenhange  mit  dem  über 
die  Einheit  der  Kirche  Gesagten  muss  die  Stellung  des  römischen  Bischofs  in 
dieser  Periode  aufgefasst  werden.  So  lange  solche  Grundsätze,  wenn  auch 
nur  in  unvollständiger  Durchführung  massgebend  blieben ,  konnte  von  einer 
eigentlichen  Herrschaft  desselben  über  die  gesammte  Kirche  durchaus  keine 
Rede  sein.  Es  widersprach  auch  dem  Begi'iff  der  Katholicität,  wie  er  noch 
heut  zu  Tage  im  Bewusstsein  der  morgenländisch  -  griechischen  Kirche 
fortlebt,  dass  irgend  eine  Particularkirche  über  die  katholische  die  Ober- 
herrschaft führe,  und  dass  Ein  Apostel  über  alle  anderen  gesetzt  werde. 
In  der  Seele  der  römischen  Bischöfe  selbst  war  das  eigentliche  Pabstideal 
noch  gar  nicht  entwickelt,  wenn  gleich  Ansätze  dazu  vorhanden  waren, 
die  aber  auf  kräftigen  Widerstand  stiessen. 

Uebrigens  war  in  Rom  bis  an  das  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  nicht 
einmal  ein  eigentlicher  Bischof  im  Unterschiede  von  den  Presbyteren ;  der 
Brief,  der  in  der  Tradition  den  Namen  des  Clemens  von  Rom  trägt,  zeugt 
dafür.  Er  kennt  nur  Bischöfe,  d.  h.  Presbyter  und  Diakonen  (c.  42).  Der 
Episkopat  hat  sich  in  Rom  im  Laufe  des  zweiten  Jahrhunderts  entwickelt; 
und  nun  kam  es  auf,  dass  man  ihn  zurückdatirte ,  indem  man  den  jedes- 
maligen Presbyter ,  der  am  meisten  Ansehen  genoss ,  als  Bischof  xat  e^o- 
xn^  bezeichnete.  Als  Hegesipp  gegen  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts 
nach  Rom  kam,  fand  er  den  Episkopat  schon  ganz  entwickelt 2). 


1)  To   a^QoiG^a   7WV   fxlf-XTMv  exxXrjfftccv   xnlo). 

2)  Man   gab   ihm    aucli   die  Rcihcfolge  der  Bischöfe,    die   bis   dahin    die  Gemeinde 
sollten  regiert  hatten,  an  (Euseb.  4,  11).    Diese  Liste  ist  verloren  gegangen,  hingegen  ist 

11* 


jß4  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Verschiedenes  wirkte  nun  zusaiiimen ,  um  die  Autorität  des  römischen 
Bischofs  zu  heben,  vor  allem  der  .üiite  Rufi),  den  die  römische  Gemeinde  von 
Alters  her  genoss  (Römer  1,  8)  und  der  durch  Wohlthätigkeit  gegen  entfernte 
Gemeinden  und  gegen  manche  um  des  Glaubens  willen  leidende  Christen 
(Euseb.  4,  23)  noch  gehoben  wurde,  sodann  'der  ZusammenHuss  von  Gläubi- 
gen aus  allen  Theilen  der  Welt  in  der  Welthauptstadt,  die  auch  als  solche 
einen  Strahl  des  Ruhmes  auf  die  christhche  Gemeinde  |in  ihrer  Mitte  fallen 
Hess.  Die  römischen  Bischöfe  waren  nicht  gerade  als  Schriftsteller,  als, 
Theologen  ausgezeichnet;  unter  ihnen  fanden  sich  kein  Irenäus,  kein  Diom^- 
sius  von  Alexandrien,  kein  Cyprian ,  kein  Hippolyt ,  aber  auch  kein  Paul  von 
Samosata,  kein  Sabellius.  Es  waren  praktische,  kluge  Männer,  gute  Kirchen- 
fürsten, einige  mit  der  Märtyrerkrone  geschmückt,  und  einige  Male  wurden 
sie  glückhch  vor  der  öffentlichen  Anerkennung  des  ]\lontanisinus  und  des 
Monarchianismus  bewahrt.  Obschon  sie  im  Streite  über  die  Osterfeier  und 
über  die  Ketzertaufe  sich  wegen  ihres  herrischen  Auftretens  herben  Tadel 
von  anderen  Bischöfen  zuzogen,  so  schadete  das  ihrem  Ansehen  nicht  viel,  da 
sie  doch  zuletzt  Recht  behielten  und  wirklich  die  bessere  Ansicht  vertraten. 
Wenn  gleich  zu  Anfang  des  dritten  Jcflirhunderts  der  schwache,  charakter- 
lose und  geldgierige  Zephyrinus,  der  durch  und  durch  nichtswürdige  Calixtl 
den  bischöÜichen  Stuhl  inne  hatten  und  in  wichtigen  Punkten  der  Disciplii 
und  der  Lehre  gerechten  Anstoss  gaben  (Ilippolyt.  9,  114),  wenn  überhaupt 
damals  inmitten  der  römischen  Gemeinde  eine  arge  sittliche  Erschlaffung 
eingetreten  war,  so  war  doch  das  Ansehen,  sei  es  der  Bischöfe,  sei  es 
der  römischen  Gemeinde  bereits  so  gesichert  und  feststehend,  dass  es  durch 
jene  Uebelstände  auf  die  Länge  nicht  erschüttert  werden  konnte. 

Dazu  trug  wesentlich  auch  dieses  bei,  nicht  nur,  dass  Rom  nebst  Alex- 
andrien und  Antiochien  in  Syrien  die  grösste  Eparchie  hatte,  sondern,  dass  es 
schon  von  früher  her  die  einzige  sedes  apostolica  des  Abendlandes  war.  In  der 
verschönernden,  vergrössernden,  auch  geradezu  dichtenden  Sage  galt  nänüich 
die  römische  Gemeinde  als  durch  die  beiden  grossen  Apostel  Paulus  und 
Petrus  gegründet ,  als  zuerst  von  Petrus  geleitet ,  und  die  römischen  Bischöfe 
erhoben  den  Anspruch,  Nachfolger  des  Apostelfürsten  zu  sein. 

Mit  dem  zweiten  Jahrhundert  ergoss  sich  nändich  über  die  Kirche  eine 
Flut  von  Sagen  und  apokryphischen  Schriften ,  welche  für  Viele  die  geschicht- 
liche Wahrheit,  wie  es  scheint,  auf  ewige  Zeiten  verdeckt  und  verborgen 
haben.  Diess  gilt  insbesondere  von  der  Sage  von  Petri  Aufenthalt,  Wirk- 
samkeit und  Märtyrertod  in  Rom.    Es  kam  dem  Triebe  nach  Sagenbildung 


diejenige,  die  Irenäus  während  seines  Aufentlialtes  in  Korn  sich  verschafft  hat,  noch  erhal- 
ten (3,  3,  3).  Mit  ihr  stimmen  überein  die  Angaben  des  Euseb  3,  2.  13.  15,  31,  und  die 
des  Hicronymus.  Es  sind  folgende  Namen:  Linus,  Anencletus,  Clemens,  Evarestus,  Alex- 
andras, Xystus,  Telesphorus,  Hyginus,  Pius,  Anicetus,  Soter,  Eleuthcrus.  Zum  Theil  ver- 
schieden davon  sind  die  Angaben  der  Clementinen  und  der  lateinisclien  Kataloge.  S.  Lip- 
sius,  Chronologie  der  römischen  Bischöfe  bis  zur  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts. 

1)  Ein  Beweis  des  guten  Kufes   ist  die  Art,   wie  Ignatius  die  römische  Gameinde 
anredet,   in  dem   an   sie  gerichteten  Briefe.    Er  nennt  sie  Vorsteherin   des  Liebesbundes, 


Kirchenverfassung.    Der  Bischof  von  Rom..  165 

der  Umstand  zu  statten,  dass  im  Briefe  des  Clemens  von  Rom  die  Sache 
nicht  geradezu  verneint  war.  Es  ist  übrigens,  wie  wir  früher  bemerkten  (S.  35) , 
möghch,  dass  Petrus  auf  kurze  Zeit  in  Rom  gewesen  und  daselbst  hinge- 
richtet worden.  An  diesem  Punkte  scheint  die  Sagenbildung  angesetzt  zu 
haben.  Da  man  durchaus  nichts  Näheres  über  Petri  Aufenthalt  und  Tod  in 
Rom  wusste,  so  war  hinlänglicher  Raum  für  Sagenbildung  vorhanden,  in 
welcher  sich  sowohl  judaisirende  als  kathohsche  Christen  hervorthaten.  Sie 
nahm  eine  doppelte  Gestalt  und  Wendung;  einmal  betrilft  sie  den  Kampf 
des  Petrus  mit  dem  Magier  Simon,  aus  der  Apostelg.  c.  8  bekannt,  das 
andere  Mal  die  Verbindung  des  Petrus  mit  Paulus.  Die  erste  Gestalt  der 
Sage  spaltet  sich  wieder  in  zwei,  die  Von  Simons  Aufenthalt  in  Rom,  und 
die  von  Petri  Aufenthalt  ebendaselbst;  diese  beiden  Sagen  stehen  zunächst 
in  keiner  Verbindung  mit  einander.  Zuerst  kommt  der  Magier  nach  Rom 
unter  Claudius  und  treibt  daselbst  sein  Wesen.  Durch  seine  magischen 
Künste  machte  er  auf  den  Senat  und  das  römische  Volk  einen  solchen  Ein- 
druck, dass  er  für  einen  Gott  erklärt  und  ihm  eine  Statue  errichtet  wurde, 
mit  der  Inschrift :  Simoni  deo  sancto.  So  berichtet  Justinus  Martyr  Apol.  I.  26. 
56  1) ,  der  von  einem  Aufenthalte  des  Petrus  in  Rom  gar  nichts  weiss.  Nun 
bihlet  sich  auch  die  Sage,  dass  Petrus  nach  Rom  gekommen  und  daselbst 
gelelirt  habe,  ohne  dass  von  einem  Streite  mit  dem  Magier  die  Rede  ist, 
diess  ist  wahrscheinlich  die  Meinung  des  Papias  bei  f]useb  2,  15  und  3,  39: 
des  Clemens  von  Alexandrien  nacli  seinen  Hypotyposen  (bei  Euseb  6,  14  — 
dazu  2,  15).  Dasselbe  ist  bestimmt  der  Fall  mit  Irenäus,  der  beide  Sagen 
kennt,  des  Petrus  Aufenthalt  in  Rom  (3,  3.  2)  und  den  des  Simon  1,  23.  1; 
von  einem  Zusammentreffen  beider  Männer  weiss  er  nichts.  Unterdessen 
bildete  sich  die  syrische  Sage,  niedergelegt  in  den  Clementinen,  von  einem 
Kampf  zwischen  Petrus  und  Simon  in  Antiochien  und  von  einer  Besiegung  des 
letzteren  durch  Petrus.  Da  nun  Simon,  obwohl  besiegt,  doch  nicht  vernichtet 
worden  war,  da  man  ausserdem  von  einem  Aufenthalte  des  Petrus  in  Rom 
wusste,  so  lag  es  nahe,  beide  Sagen  zu  coml)iniren,  beide  Männer  auch  in 
Rom  untereinander  streiten  zu  lassen ,  und  nach  der  Gemeinde  der  Weltstadt 
die  gänzHche  Besiegung  und  den  Tod  des  Magiers  zu  verlegen.  Wie  die 
syrische  Sage  eine  Nachbihhnig  der  Erzählung  in  der  Apostelgeschichte  (c.  8),  so 
ist  die  römische  eine  Na('hl)il(hing  der  syrischen  2).  Die  riimische  Sage  wird 
zuerst  in  den  apostolischen  Constitutionen  6,  9  ausführlich  erwähnt.  Simon, 
nachdem  er  in  Rom  durch  magische  Künste  das  Volk  bethört  hat,  erhebt 
sich  mit  Hülfe  der  bösen  Mächte  gen  Himmel,  als  wolle  er  von  da  gute  Gaben 
herabbringen;  worauf,  bewogen  durch  das  Gebet  des  Petrus,  die  bösen 
Mächte  aulliören,  Simon  zu  halten,  und  er  herunterßlllt ,  am  Leibe  zwar 
schwer  verietzt,  doch  nicht  getödtet,  so  dass  er  sogar  noch  einige  Anhänger 
behielt.    Viel  weiter  ausgemalt  und  ausgesponnen   ist  dieselbe  Sage  in  den 


1)  Dasselhe  berichtet  Euseb.  2,  13.  Die  Statue  ist  1574  auf  der  Tiberinsel  an 
der  von  Justin  bezeichneten  Stelle  aufgefunden  worden,  woraus  sich  ergab,  dass  Justin  die 
Inschrift  ganz  falsch  wiedergegeben;  sie  lautet  so:  Semoni  Sanco  Deo  Fidio  Sacrum;  es 
ist  eine  sabinischc  Gottheit  gemeint. 

2)  S.  Ulilhorn,  die  Homiliccn  und  Recognitionen  des  Clem.     Rom.    S.  377. 


■[Qß  Erste  Periode  des  alten  Katholicismtiä. 

TtQa^sig  toov  äyicop  anofftolcav  Jlerqov  xai  Ilavlov^),  hier  in  Verbinduug 
mit  der  Sage  vom  Zusammentreffen  der  beiden  Apostel  Petrus  und  Paulus 
in  Rom.  Beide  sind  vollkommen  eins  in  Allem,  was  sie  lehren.  Petrus  sagt 
zu  Nero:  Alles,  was  Paulus  geredet  hat,  ist  wahr.  Paulus  sagt  zu  Nero: 
Was  du  von  Petrus  gehört  hast,  ist  so  gut,  als  wäre  es  auch  von  mir  gesagt. 
Denn  wir  sind  eines  Sinnes,  weil  wir  einen  Herrn  Jesum,  den  Christ,  haben. 
Also  nicht  blos  Zusammentreffen  beider  Apostel ,  sondern  auch  völlige  geistige 
Vereinbarung.    Paulus  wird  Bruder  des  Petrus  genannt. 

Dieses  ging  nun  in  das  allgemeine  Bewusstsein  der  Kirche  über,  und 
zwar  völlig  abgetrennt  vom  Zusammentreffen  Petri  mit  Simon  in  Piom ;  so  in  - 
der  Praedicatio  Pauli,  die  den  letzten  Theil  der  Praedicatio  Petri  gebildet  zu 
haben  scheint,  und  die  wohl  in  die  erste  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts 
fällt  '^).  Die  Sage  ist  noch  weiter  ausgeführt  in  dem  Briefe  des  Bischofs 
Dionysius  von  Korinth  c.  170  an  die  Gemeinde  in  Rom.  (Bei  Euseb.  2,  25). 
Da  sind  beide  Apostel  bereits  in  Korinth  zusammengetroffen ,  haben  beide  die 
dortige  Gemeinde  gestiftet,  sind  beide  miteinander  nach  Itahen  gewandert,  haben 
daselbst  gemeinsam  gelehrt  und  sind  zu  derselben  Zeit  (in  Rom)  als  Märtyrer 
gestorben.  Cajus,  ein  kirchlicher  Schriftsteller  aus  dem  Anfang  des  dritten 
Jahrhunderts,  rühmt  sich,  die  Gräber  der  beiden  Apostel  auf  dem  vaticani- 
schen  Berge  und  auf  dem  Wege  nach  Ostia  zeigen  zu  können  ^).  Eine  ähn- 
liche Steigerung  findet  statt  in  der  Sage  über  den  Märtyreitod  des  Petrus. 
Dionysius  berichtet  nur  im  Allgemeinen  den  Mäityrertod;  nach  Tertullian 
{de  praescriptione  haereticorum  c.  SO)  ist  Petrus  gekreuzigt  worden ,  während 
Paulus  enthauptet  wurde.  Nach  den  oben  genannten  apokryphischen  nqal^eiq, 
denen  Origenes  bei  Euseb.  beistimmt,  ist  er  auf  sein  ausdrückliches 
Verlangen,  um  nicht  im  Tode  dem  Herrn  sich  gleich  zu  stellen,  köpflings 
gekreuzigt  worden.  In  denselben  Tiga^ftg  wird  erzählt,  dass  er  dem  Mär- 
tyrertode in  Rom  entfliehen  wollte.  .Auf  der  Flucht,  doch  noch  in  der  Stadt 
begegnet  er  dem  Herrn,  den  er  fragt:  wohin  gehest  duV  Auf  die  Antwort 
des  Herrn ,  er  gehe,  sich  kreuzigen  zu  lassen ,  kehrt  Petrus  beschämt  zurück 
und  überliefert  sich  dem  Tode*).    So  ergibt  sich,  dass  seit  dem  Anfang  des 


1)  Bei  Tiscliendorf,  acta  apostolorum  apocrypha.  1851.  Simon,  der  sich  für  den 
Sohn  Gottes  ausgegeben,  erbietet  sich,  gen  Himmel  zu  fliegen.  Nero ,  dem  Simon  günstig, 
—  die  Scene  ist  wegen  Paulus  unter  diesen  Kaiser  verlegt,  —  Nero  lässt  einen  Thurm 
erbauen,  von  wo  aus  Simon  sich  in  die  Lüfte  erhebt.  Petrus  beschwört  die  Satansengel, 
die  Simon  tragen,  ihn  fallen  zu  lassen,  worauf  er  in  vier  Stücke  auseinander  fällt. 

2)  Diese  Schrift  wird  tadelnd  erwähnt  in  der  Schrift  de  non  iterando  baptisrao  hin- 
ter Cypriani  opera  ed.  Rigaltius;  obgleich  die  wahre  Geschichte  beide  Apostel  schon 
längst  in  Berührung  kommen  lasse,  lasse  sie  der  Verfasser  dieser  Schrift  erst  in  Rom  zu- 
sammen kommen.  Vorher  wird  gesagt,  dass  noch  anderes  Mytliisclie  über  Jesum  selbst 
in  der  Schrift  enthalten  war. 

3)  Euseb.  2,  25.  Nach  anderen  Quellen  wurde  Petrus  auf  dem  vaticanischen  Berge, 
Paulus  auf  dem  Wege  nach  Ostia  begraben. 

4)  Vergl.  über  das  Ganze  ausser  den  bereits  angeführten  Schriften:  Baur,  über 
den  Ursprung  des  Episkopates,  Lipsius,  die  Quellen  der  römischen  Petrussage,  Hil- 
genfeld,  Petrus  in  Rom,  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliclie  Theologie.  1872.  3. 
Heft.  S.  350  (gegen  Lipsius).    Gegen  Gieseler,  der  K.  G.  L  103  die  Annahme,  dass  die  Sage 


Kirchen  Verfassung.    Der  Bischof  von  Eom.  lg"? 

zweiten  Jahrhimdeits  keine  einzige  Nachricht  über  den  Aufenthalt  des  Petrus 
in  Rom  sich  findet,  die  nicht  durch  mythische  Zusätze  entstellt  wäre.  Man 
hat  dagegen  bemerkt,  dass  als  fester  Kern  in  allen  Nachrichten  die  Kunde 
von  Petri  Aufenthalt  in  Rom  übrig  bleibe.  Aber,  dass  dieser  feste  Kern  nir- 
gends als  bei  Clemens  Rom.  auf  die  dargestellte  Weise  heraus  tritt,  darin 
liegt   eben  die  Schwierigkeit. 

Bei  alledem  war  das  wichtigste  der  Gewinn,  den  Rom  aus  der  Sache 
zog.  Roms  Autorität  hob  sich  zunächst  in  doctrinärer  Beziehung.  Im 
Kampfe  mit  der  Häresie,  besonders  mit  dem  Gnosticismus  suchte  man  Roms 
Autorität  geltend  7^  machen.  Tertullian  (de  praescriptione  haereticorum  c.  21) 
weist  die  Christen  des  Abendlandes,  wenn  sie  die  wahre  apostolische  Lehre 
kennen  lernen  wollen,  an  Rom,  „das  auch  uns  (den  Africanern)  als  Autorität 
dienen  kann''  i) ,  und  nun  beruft  er  sich  darauf,  dass  die  Apostel  Petrus  und 
Paulus  daselbst  Märtyrer  geworden,  —  so  wie  Johannes,  der,  in  siedendes 
Oel  geworfen ,  daraus  unversehrt  hervcjrgegangen.  Man  mochte  nämlich  gerne 
mehrere  Apostel  als  Zeugen  der  kathohschen  Lehre  aufführen.  Als  Waffe  ge- 
gen die  gefahrdrohende  Häresie,  besonders  gegen  den  Gnosticismus  ge- 
brauchte auch  Irenäus  die  Auctorität  Roms.  Er  beruft  sich  aber  nicht  nur 
darauf,  dass  die  beiden  Apostel  Petrus  und  Paulus  die  dortige  Gemeinde 
gestiftet  und  daselbst  den  Märtyrertod  erlitten  haben,  sondern  auch  darauf, 
dass  in  der  Welthauptstadt  innnerfort  ein  grosser  Zusammenlauf  von  Christen 
aus  verschiedenen  Gegenden  der  Welt  statt  finde,  woraus  man  schliessen 
könne,  dass  sich  der  allgemeine  Glaube  der  Christen  daselbst  immerfort  mit 
vorzüglicher  Reinheit  erhalten  habe.  Diess  ist  der  Sinn  der  Stelle  bei  Ire- 
näus (3,  3j:  „denn  mit  dieser  Kirche  nuiss  wegen  ihres  bedeutenderen  Vor- 
rangs der  Natur  der  Sache  nach  die  ganze  Kirche  übereinstimmen,  in  wel- 
cher innner  in  (Jemeinschaft  mit  den  Gläul)igen  aus  allen  Orten  die  aposto- 
lische Tradition  erhalten  worden  ist"  ^).  Irenäus  will  l)eweisen,  dass  die 
Lehre  der  katholischen  Kirche  apostolisch  sei,  durch  die  Nachfolger  der  von 
den  Aposteln  eingesetzten  P>ischöfe  erhalten.  Da  es  aber  zu  weitläufig  ist, 
diesen  Zusammenhang  mit  den  Ai)osteln  von  allen  Kirchen  nachzuweisen, 
beschränkt  er  sich  auf  die  römische  Kirche  und  will  zuletzt  daithun,  dass 
die  Lehre  der  ganzen  Kirche  nothwendig  mit  derjenigen  der  römischen  Kirche 


von  den  judaisironden  Christen  erdichtet  worden,  bestreitend  dieses  anführt,  dass  die  Er- 
diclitung  von  den  römischen  Paulinern  als  solche  aufgedeckt  worden  wäre,  ist  zu  bemerken, 
dass  nicht  blos  die  judaisirenden,  sondern  auch  die  katholischen  Christen  ein  nahe  liegen- 
des Interesse  hatten,  Petrus  dem  Paulus  gleichzustellen.  Die  Idee  der  Katholicität  ver- 
trug sich  nicht  mit  der  einseitigen  Hervorhebung  des  Pauliniamus,  —  sowie  der  Autorität 
des  Petrus. 

1)  Unde  nobis  quoqiie  auctoritas  praesto  est. 

2)  Ad  hanc  enim  ecclesiam  propter  potentiorem  principalitatem  necesse  est  convenire 
omnem  ecclesiam  h.  e.  eos,  «lui  sunt  undique  fideles,  in  qua  semper  ab  his,  qui  sunt  un- 
dique ,  couservata  est  ea ,  quae  est  ab  apostolis  traditio.  Dass  principalitas  Vorrang  be- 
deutet, erhellt  aus  4,  38.  3,  wo  die  Stelle:  principalitatem  quidem  habebit  in  omnibus 
Deus,  in  dem  erhaltenen  griechischen  Texte  also  lautet:  nQooTfvd  /uev  ey  nccciy  6  ^'hfog. 
—  Ein  Vorrang  kam  allen  ai)ostolischen  Kirchen  zu,  der  römischen  Gemeinde  ein  bedeu- 
tenderer wegen  ihrer  Grösse  und  ihrer  Stiftung  durch  die  zwei  vornehmsten  Apostel. 


Ißg  Erste  Periode  des  alten  Katholicismtis. 

Übereinstimme.  Daher  beruft  er  sich  auf  den  Brief  des  Clemens  von  Rom, 
auf  Polykarps  Aufenthalt  in  Rom  0  zi"»  Beweise  jener  ununterbrochenen 
Gemeinschaft.  Mag  nun  aber  jene  Nothwendigkeit  noch  so  selir  eine  blos 
natürliche,  nicht  dogmatisch  abgeleitete  sein,  mag  Irenäus  nur  beispielsweise 
sich  auf  die  römische  Gemeinde  berufen  2),  so  wird  nichts  desto  weniger 
diese  Gemeinde  als  Einheitspunkt  für  die  ganze  Kirche  aufgefasst »).  Docli 
würde  man  sich  sehr  irren,  wenn  man  annehmen  wollte,  dass  Irenäus  der 
römischen  Gemeinde  eine  Autorität  über  die  anderen  Kirchen  zutheilen 
wollte,  wie  diess  sein  Auftreten  gegen  den  r()mischen  Bischof  Victor  c.  19(; 
beweist,  der  die  kleinasiatischen  Bischöfe  excomnninizirt  hatte,  weil  sie  die 
abendländische  Osterfeier  nicht  hatten  annehmen  wollen.  Aehnlich  verhält 
es  sich  mit  Cyprian.  Wie  er  in  wesentlicher  Beziehung  Petrum  auffasst. 
ist  schon  zur  Sprache  gekommen.  Daher  konnnt  es,  dass  er  der  erste  ist,  wel- 
cher den  römischen  Stuhl  als  locum  Petri  und  als  Petri  cathedram  bezeich- 
net (ep.  52.  55).  Er  sprach  es  aus,  dass  der  Herr  auf  Petrum  die  Kirche 
gegründet,  aber  er  war  weit  entfernt,  eigentliche  Rechte  daraus  herzuleiten 
und  dem  Petrus  den  Primat  zuzutlieilen  (ep.  71)*).  Gerade  um  deswillen, 
weil  der  römische  Bischof  Petri  cathedra  inne  hat,  soll  er  sich  nicht  in  die 
Angelegenheiten  anderer  Kirchen  einmischen,  weil  Petrus  das  Symbol  der 
Einheit  des  Bischofsamtes  in  jeder  einzelnen  Gemeinde  ist  ^).  Im  Streite 
über  die  Ketzertaufe  erhielt  er  von  Cyprian  und  anderen  Bischöfen  die 
schärfsten  Verweise.  Man  liess  ihm  auch  das  nicht  gelten,  worauf  er  gerne 
sich  vieles  zu  gute  that,  dass  Petrus  der  erste  römische  Bischof  gewesen,  — 
eine  von  den  Clementinen  ersonnene  Dichtung,  —  und  dass  der  römische 
Bischof  eigenthcher  Nachfolger  des  Petrus  sei^j.  Ueberhaupt  wurde  die 
Stelle  Mat.  16,  18  nicht  auf  die  Person  des  Petrus,  sondern  auf  jeden  Gläu- 
bigen bezogen,  der  Petri  Glauben  besitzt.  So  Origenes  zu  der  genannten 
Stelle  und  er  setzt  hinzu:  ,,Wenn  auf  Petrus  allein  die  Kirche  erbaut  ist, 
was  sollen  wir  halten  von  Johannes  und  den  anderen  Aposteln  V  Sollen  die 
Pforten  der  Hölle  nur  gegen  Petrum  nichts  vermögen?'*  —  Immerhin  aber 
sehen  wir  in  Rom  ehie  Macht  heranwachsen,  welche  je  nach  den  Umständen 
und  Verhältnissen,  so\\1e  auch  je  nach  den  leitenden  Persönlichkeiten  in  der 
Zukunft  noch  eine  bedeutende  Erweiterung  erhalten  konnte.     Leicht  mochten 


1)  Neben  Polykarp  wären  noch  manche  Andere  zu  nennen,  z.  B.  Origenes.  Frei- 
lich kamen  auch  Gnostiker  nach  Rom. 

2)  So  Graul,  die  christliche  Kirche  an  der  Schwelle  des  irenäsclien  Zeitalters  S.  188. 

3)  So  Ziegler,  Irenäus  S.  150. 

4)  Die  Stelle  der  Schrift  de  unitate  ecclesiae,  wo  es  hcisst:  priraatus  Petro  datur 
findet  sich  nicht  in  den  ältesten  Manuscripten  und  ist  späterer  römisclicr  Zusatz.  S. 
Gieseler  I.  363.  364. 

5)  Darnach  sind  die  Worte  des  Briefes  5,5  an  Cornelius,  betreifend  Felicissimus, 
welchen  Cornelius  als  Gesandten  des  Gegenbiscliofs  Fortunatus  in  Carthago  angenommen 
hatte,  zu  verstehen:  „navigare  audent  et  ad  cathedram  Petri,  atque  ad  ecclesiam  i»rinci- 
palem,  unde  unitas  sacerdotum  exorta  est. 

6)  Firmilian',  Bischof  von  Cäsarea  in  Kappadocien,  ep.  an  Cyprian,  in  den  Werken 
des  letzteren  ep.  75:  Stephanus,  qui  sie  de  episcopatus  sui  loco  gloriatur  et  se  succes- 
sionera  Petri  habere  contendit. 


förchenzuchi  1^9 

schon  damals  manche  dem  römischen  Bischof  seine  herrische  Sprache  und  die 
erwähnten  Ansprüche  verzeihen,  mit  Rücksicht  darauf,  dass  er  eine  voll- 
ivommen  richtige  Ansicht  vertrat,  so  im  Streite  über  die  Osterfeier,  so  auch 
in  dem  über  die  Taufe  der  Ketzer. 

Zweites  Capitel.    Geschichte  der  Kirchenzucht. 

Das  lateinische  Wort  für  Zucht,  disciplina,  hatte  wie  viele  andere  Wör- 
ter im  kirchlichen  Sprachgebrauche  der  patristischen  Zeit  einen  sehr  ausge- 
dehnten Sinn.  Bei  Tertullian  ist  disciplina  jede  Anstalt  und  Vorschrift, 
welche  das  rehgiös  -  sittliche  Leben,  die  gesellschafthch  -  kirclüichen  Verhcält- 
nisse  und  den  Gottesdienst  der  Christen  betrifft.  (Apolog.  c.  39).  So  nennt 
Tertullian  sc^gar  den  Dekalog  disciplina  (Apol.  c.  2).  Wir  nehmen  hier  das 
Wort  im  engeren  Sinne  als  Kirchenzucht.  Die  häretischen  Bewegungen  üb- 
ten auch  auf  dieses  Gebiet  des  kirchlichen  Lebens  ihren  Einfluss  aus.  Die 
katholische  Kirchenzucht  bildete  sich  zum  Theil  im  Gegensatze  gegen  die 
Zuchtlosigk^it,  welche  man  den  Häretikern  vorwarf.  Tertullian,  (de  praescript. 
haeret.  41)  sagt:  ^man  wisse  nicht,  wer  Katechumene,  wer  Gläubiger  sei,  sie 
werfen  die  Perlen  vor  die  Säue ,  verachten  alle  Zucht"  u.  s.  w.  Den  Gegen- 
satz dagegen  l)ildeten  die  Montanisten  mit  ihren  übertrieben  rigorosen  Grund- 
sätzen. Es  entstand  inmitten  der  katholischen  Kirche  selbst  der  Gegensatz 
einer  milderen,  wohl  auch  laxeren  und  einer  strengereu  Richtung,  und  aus 
den  Contlikten  'zwischen  beiden  entstanden  Spaltungen,  während  die  ka- 
tholische Kirclienzucht  die  richtige  Mitte  zwischen  beiden  Richtungen  zu  hal- 
ten suchte.  Li  diesen  Bewegungen  wurde  auch  die  Llee  der  Einheit  der 
Kirche  befestigt. 

Die  Kirchenzucht  betraf  hauptsächlich  die  Ausstossung  aus  der  Kirche 
und  die  Wiederaufnahme  in  dieselbe.  Ln  weiteren  Sinne  gehörte  dazu  die 
Aufnahme  der  von  aussen  Hinzutretenden  und  die  Vorbereitungen  dazu,  die 
in  der  Geschichte  der  Taufe  in  Betracht  konunen  werden. 

Nach  apostolischem  Vorgange  wurden  Ketzer,  Abtrünnige  und  sonstige 
grobe  Sünder,  Mörder,  P^hebrecher  u.  s.  w,  von  der  Kirchengemeinschaft 
ausgeschlossen.  Dass  denen,  welche  die  Wiederaufnahme  in  die  Kirche  be- 
gehrten und  hinlängliche  Reue  zeigten,  jene  gewährt  werden  solle,  stand 
allen  besonnenen  Kirchenlehrern  fest,  wie  denn  auch  Paulus  sich  für  die 
Wiederaufnahme  des  Blutschänders  in  Korinth  ausgesprochen  (1  Kor.  5,  1 
cf.  mit  2  Kor.  2,  5  ff.).  Strenger  Gesinnte  beharrten  bei  einer  von  Hermas 
imandatum  4,  1)  und  Clemens  Alex.  (Stromata,  2,  13)  gegebenen  Regel, 
dass  nach  erhaltener  Taufe  nur  noch  ein  einziges  Mal  Bussfrist  gestattet 
werden  solle.  Auch  glaubten  sie,  dass  jene  Sünden,  wenn  sie  nach  der  Taufe 
geschehen  waren,  als  Todsünden  (1  Joh.  o,  16)  auf  immer  die  Excommuni- 
cation  nach  sich  ziehen  müssten.  Das  Concil  von  Elvira  in  Spanien  im  Jahre 
305  macht  eine  Menge  solcher  Fälle  nandiaft,  die  gar  nicht  immer  Todsün- 
den betreffen,  z.  B.  wenn  ein  Vater  seine  Tochter  einem  heidnischen  Priester 
zur  Frau  gibt  c.  0.  Die  mildere  Bussdisciplin  herrschte  in  Rom,  Aegypten 
und  im  Oriente  vor,  und  wird  auch  in  den  apostohschen  Constitutionen 
2,  16  vertreten.    Diese   milde  Bussdisciplin   gipfelte   in   dem   vom  römischen 


270  fiwte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Bischof  Kallistus  aufgestellten  Grundsatze ,  dass  ein  Bischof  auch  wegen  einer 
Todsünde  nicht  abgesetzt  werden  solle.  (Ilippol^tus  9,  12).  Strenger  war 
man  in  Nordafrika  und  in  Spanien.  In  Nordafrika  schloss  man  die  durcli 
Unzucht ,  Mord  und  Götzendienst  Befleckten  für  immer  aus ,  in  Folge  monta- 
nistischen Einflusses;  diess  noch  zur  Zeit  Cyprians.  Damals  machte  man 
zuerst  eine  Ausnahme  mit  den  Unzüchtigen ,  hernach  mit  den  in  Götzendienst 
Gefallenen  (lapsi),  deren  Zahl  zu  gross  geworden.  In  Spanien  hielt  man  noch 
zur  Zeit  des  Concils  von  Elvira  die  absolute  Exconnnunication  fest. 

Die  Busse,  e^ofjioloyrjaig,  Bekenntniss ,  d.  h.  mit  Wort  und  Tliat,  wurde 
bald  ziemlich  hart  und  geeignet,  eine  gewisse  Werkheiligkeit  zu  befördern. 
Tertullian  de  poenitentia  c.  9  beschreibt  sie  mit  grellen  Farben.  Die  poeni- 
tentes,  welche  mit  der  Kirche  ausgesöhnt  zu  werden  wünschten,  nuissten  durch 
nachlcässige  Kleidung,  in  Sack  und  Asche  ihre  Trauer  au  den  Tag  legen, 
fasten,  über  die  begangenen  Sünden  ernst  nachdenken,  Tag  und  Nacht  wei- 
nen, seufzen,  zu  den  Füssen  der  Presbyter  sich  niederwerfen,  vor  der  Ge- 
meinde und  vor  Gott  das  Bekenntniss  ihrer  Sünden  ablegen ;  denn ,  sagt  Ter- 
tullian, glaube  mir,  in  soweit  du  deiner  nicht  schonest,  in  soweit  wird  Gott 
deiner  schonen  ^).  Ueber  die  Busszeit  stand  zur  Zeit  Cyi)rians  noch  nichts 
fest.  Er  fordert  eine  angemessene  Zeitdauer  (justiun  tempm)  nach  ander- 
weitigen Aeusserungen  Ein  Jahr.  Seit  den  novatianischen  Streitigkeiten  über- 
gaben die  Orientalen  die  Pflege  der  Büssenden  einem  eigenen  Geistlichen 
(TcqeaßvtSQog  sni  ti^g  ^STccvocag).  Im  Occidente  war  das  nicht  der  Fall.  Zur 
endgültigen  Wiederaufnahme  hatte  die  ganze  Gemeinde  ihre  Zustimmung  zu 
geben,  worin  sich  noch  die  Idee  des  allgemeinen  Priesterthums  geltend  macht. 
Die  Absolution  konnte  nur  der  Bischof  oder  im  Nothfalle,  mit  Genehmigung 
des  Bischofs,  ein  Presbyter  oder  Diakon  ertheilen;  es  geschah  durch  Iland- 
auflegung. 

Verschiedene  Umstände  führten  bis  zum  Ende  der  Periode  eine  Schärf- 
ung der  Bussdisciplin  herbei.  Da  man  sich  entschloss,  die  vielen  reuigen 
lapsi  wiederaufzunehmen,  so  schien  es  nöthig,  sich  ihrer  Sinnesänderung 
gehörig  zn  versichern.  Sodann  konunt  in  Betracht,  dass  die  Märtyrer  und 
Confessores  das  ihnen  zugestandene  Recht,  die  lapsi  zur  Wiederaufnahme 
zu  empfehlen,  misbrauchten  und  libelli  pacis  ausstellten  {communicet  ille 
cum  suis)  die  einer  eigenthchen  Absolution  gleich  kamen.  Bei  dieser  Ge- 
legenheit prägte  Cyprian  den  Gefallenen,  die  sich  auf  die  Autorität  der  Mär- 
tyrer und  Confessores  beriefen,  ein,  dass  bloss  derjenige  die  Sünden  vergeben 
könne,  der  sie  getragen.  Daher  sie  an  den  Herrn  sich  wenden  sollen.  ^Deu 
Herrn  müssen  wir  durch  unsere  Genugthuung  uns  geneigt  machen  2)-  und  zwar 
wird  das  Gebet  ofi*enbar  als  satisf actio  angesehen. 

Die  Bussstadien  oder  Bussgrade  werden  erst  im  vierten  Jahrhun- 
dert erwähnt,  aber  als  schon  bestehende  Einrichtung,  vom  Concil  von  An- 
cyra  im  Jahre  313,  c.  4  und  vom  Concil  von  Nicäa  hn  Jahre  325,  c.  11.  Man 
unterschied  damals  vier  Bussgrade.  Die  auf  der  ersten  Stufe,  nQogxlaiovtsg, 
flentes,  awdi  xeiiia^opteg,  kaltem,  stürmischen  Wetter  Ausgesetzte ,  hiemantes 

1)  In  quantum  non  peperceris  tibi,  tantum  tibi  Dens,  crede,  parcet. 

2)  Dens  nostra  satisfactione  placandus. 


Reaction.    Der  Montanismtis.  I71 

genannt,  mussten  im  Bussgewande  vor  den  Kirchthüren  unter  freiem  Him- 
mel stehen  und  die  eintretenden  Gläubigen  mit  Thränen  um  die  Wiederauf- 
nahme bitten.  Nach  einem  oder  zwei  Jahren  traten  sie  auf  die  zweite 
Stufe,  der  axQooofjbsvoi^  audientes,  wo  sie  im  Hintergrund  der  Kirche  mit  den 
Katechumeneu  der  Predigt  und  dem  Vorlesen  der  Schrift  beiwohnen  durften. 
Nach  Verfluss  von  drei  Jahren  traten  sie  in  die  Reihe  der  vnonintopteg, 
yopvxXiyofjiSPOi,  (jenvflectentes ,  welche,  weiter  im  Schiffe  der  Kirche  vorge- 
rückt, nach  Entlassung  der  Katechumeneu  kniend  über  sich  vom  Bischof  be- 
ten hessen  und  selber  mit  der  Gemeinde  beteten.  Nun  wurden  ihnen  für 
kürzere  oder  längere  Zeit  verschiedene  Bussübungen  vorgeschrieben,  bis 
ihnen  gestattet  wurde,  aufrecht  stehend,  daher  (Twictafisroi ,  consis- 
fentes,  mit  der  Gemeinde  zusammen  zu  beten  und  dem  Gottesdienste  bis 
zum  Ende  der  inissa  fidelium  beizuwohnen.  Am  Abendmahl  nahmen  sie 
Theil  nach  der  feierlichen  Wiederaufnahme  in  die  Kirche,  der  reconciliatio^ 
die  durch  HandauHegung  geschah.  Das  Concil  von  Ancyra  Canon  4  und  6 
gebraucht  dafür  den  Ausdruck  eX&eiv  sig  zo  teXeiov.  Die  Stufe  zwischen 
der  vollendeten  I^usse  und  der  reconciliatio  ist  mit  Unrecht  von  Einigen  als 
fünfte  Stufe  bezeichnet  worden.  Aus  dem  ^lorgenlande  gieng  diese  Buss- 
ordnung in  das  Abendland  über.  Mit  dem  Wegfallen  der  öffentlichen  Busse 
hörte  sie  auf. 

Drittes  Cap|tel.    Oeschiclite  der  Reactioiien  gegen  die  erstrebte  Art 
der  Kirclienzucht  und  Kirchenverfassung. 

1)   Der  Montanismusi). 

Der  bei  Anlass  der  Clementinen,  Tertullians,  der  ersten  Synoden,  der 
strengeren  Richtung  in  Handhabung  der  Kirchenzucht  bereits  erwähnte  Mon- 
tanismus ist  zwar  keineswegs  ausschliesslich  das  Erzeugniss  des  Mannes,  von 
welchem  zuletzt  die  ganze  Erscheinung  den  Namen  erhalten  hat.  Wohl  ver- 
körperte sie  sich  zunächst  in  Montanus,  wohl  gab  dieser  einen  mächtigen 
Impuls;  dass  er  aber  Erfolg  hatte,  einen  empfänglichen  Boden  fand,  An- 
hänger gewann,  die  in  seine  Anschauung  und  Bestrebungen  eingingen,  dass 
er  eine  bedeutsame  Krisis  in  der  katholischen  Kirche  hervorbrachte,  das 
rührt  daher,  dass  er  in  eine  bereits  angefangene  Bewegung  eintrat,  sich  an 
bereits  vorhandene  Anschauungen  und  Bestrebungen  anschloss,  sie  überbie- 
tend und  übei-treiben(].  Ebensowenig  kann  der  Montanismus  lediglich  aus 
dem  Einflüsse  des  zu  sinnlich  -  enthusiastischer  Gottesverehrung  geneigten 
phrygischen  Volkscharakters  abgeleitet  werden.  Dabei  darf  man  aber  nicht 
verkennen,  dass  sich  ein  solches  heidnisch-phrygisches  Element  durch  den 
Montanisnuis  hindurchzieht,  so  dass  wir  ihn  auch  als  Reaction  des  Heiden- 
thunis  auf  die  christliche  Religionssphäre  anzusehen  berechtigt  sind.    Dage- 


1)  Euseb.  5,  16  u.  ff.  Capitel.  Epiphanius  haeresis  48  und  49.  Tertullian's 
Werke.  Nea n der,  Antignosticus,  Geist  des  Tertullianus.  2.  Auflage.  1849.  Schwegler, 
der  Montanismus  und  die  christUclie  Kirche.  1841.  Ritschi,  a.  a.  0.  Neander, 
Gl  es  clor  und  Baur  in  ihren  Werken  über  allgemeine  Kirchengeschichte. 


2Y2  tlrste  Periode  des  alten  :ß;atholicismus. 

gen  kann  nicht  der  Einwand  erhoben  werden,  dass  die  Montanisten  —  es 
genügt  den  einen  Tertullian  zu  nennen  —  hinliliiglich  gegen  (his  Heideuthuin 
polemisirt  haben,  so  wenig  wie  wir  den  heidnischen  Zug  im  späteren  römi- 
schen Katholicismus  abläugnen  werden  aus  dem  Grunde,  weil  derselbe  theo- 
retisch sich  scharf  genug  gegen  das  Heidenthum  ausspricht.  Jenes  heid- 
nisch-phrygische  Element  ist  der  faule  Eleck,  an  dem  der  Mon-^ 
tanismus  schliesslich  zu  Grunde  gehen  musste.  Uebrigens  ist  der 
Name  Montanisten  erst  späteren  Ursprungs,  sowohl  Tertullian  als  Euseb  kennen 
ihn  nicht.  Bezeichnend  ist  es  in  doppelter  Hinsicht,  dass  Euseb  und  die 
von  ihm  benutzten  und  ausgezogenen  älteren  Schriftsteller  nur  von  einer 
Sekte  der  Phrygier  (tfQvyf^p  algetrig),  von  phrygisch  Gesinnten  {oi 
xata  (pQvyag)  sprechen. 

Um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  —  näher  kann  der  Zeitpunkt 
nicht  bestimmt  werden  —  machte  sich  unter  denjenigen,  die  sich  damals  in 
und  in  der  Nähe  von  Phrygien  als  Inspirirte  ausgaben  0,  ein  gewisser  Mon- 
tanus,  wahrschehüich  ein  ehemaliger  Priester  der  Kybele  2) ,  der  seit  kurzer 
Zeit  zur  christlichen  Parthei  übergetreten  war,  besonders  bemerkhch^)  zu- 
nächst in  Ardaban,  einem  Flecken  (xo)fiT})  in  Mysien,  an  der  Grenze  gegen 
Phrygien  hin,  später  in  Pepuza  in  Phrygien  (daher  der  Name  Pepuzianei 
bei  Epiphanius).  Wahrscheinlich  in  den  Gemeindeversamnüungen  selbst  ge- 
rieth  er  in  Entzücken,  in  'Ekstase,  rühmte  sich  besondere  übernatürliche 
Oti'enbarungen  vom  Paraklet  empfangen  zu  haben,  vom  Paraklat,  als  dessen 
Organ  er  sich  betrachtete.  In  räthselhaften ,  mystisclien  Ausdrücken,  von 
den  Zeitgenossen  ^€vo(p(opiai  genannt,  kündigte  er  den  durch  die  bis- 
herigen Verfolgungen  erschreckten  Seelen  neue  Verfolgungen  an  und  er- 
mahnte zum  unerschrockenen  Bekenntnisse  des  Glaul)ens.  Er  verkündigte 
die  Strafgerichte  Gottes  über  die  Verfolger  der  Kirche,  die  nahe  Wieder- 
kunft Christi  und  die  baldige  Verwirklichung  des  tausendjährigen  Reiches, 
dessen  Herrhchkeit  er  in  anziehenden  Bildern  schilderte.  Er  stellte  sich 
auch  dar  als  sittlich-religiöser  Reformator.  Durcli  ihn  sollte  die  Kirche  zu 
einer  höheren  Stufe  der  Vollkommenheit  geführt,  zu  einer  strengeren  Sitt- 
lichkeit in  Grundsätzen  und  im  Wandel  geführt  werden.  Er  berief  sich  auf 
die  Verheissung  Christi,  dass  der  Geist  Dinge  ottenbaren  werde,  die  der  Er- 
löser seinen  Jüngern  noch  nicht  offenbaren  konnte.  Er  glaubte  auch  berufen 
zu  sein,  Aufschlüsse,  betreuend  die  dogmatischen  Zeitfragen,  zu  geben.  Die 
kathohsche  Lehre,  soweit  sie  zu  seiner  Zeit  fest  stand,  grift'  er  aber  nicht 
an.  Zwei  Frauen,  Maximilla  und  Priscilla  (Prisca)  schlössen  sich  ihm 
an;  sie  wollten  als  Prophetinnen  anerkannt  sein.  Der  Priscilla  erschien 
der  Herr,  wie  sie  angab,  in  Gestalt  eines  Weibes,  bekleidet  mit  glänzendem 


1)  Die  Zusätze  zu  Tertullians  de  praescript.  haeret.  1.  52  nennen  Proclus  und 
Aescliines  Eusebius  1.  c.  Alcibiades,  Theodot,  Alexander,  Themiso,  der  spanische  Bischof 
Pacian  nennt  Blastus  und  Leucius  Carinus  als  Stifter  der  Sekte. 

2)  Didymus  de  trinitate  lib.  DI.  sagt,  er  sei  früher  ffQfv^  mfoyXov  gewesen. 
Hieron.  27  ad  Marcellam  nennt  ihn  abscissum  et  semivirnm. 

3)  Was  wir  mit  Sicherheit  daraus  schliesscn ,  dass  über  ihn  die  ausführlichsten  An- 
gaben vorliegen. 


Der  Montanismus.  173 

Gewände.  ^^So  angethan  kam  er,  wie  sie  sagte,  zu  mir  und  goss  Weisheit 
in  mich  aus  und  lehrte  mich,  dieser  Ort  (nänüich  Pepuza)  sei  heilig  und  hier 
werde  das  himndische  Jerusalem  niedersteigen.  ^^  Was  nun  durch  Montanus 
und  seine  schwärmerischen  Begleiterinnen  nur  fragmentarisch  in  der  Sprache 
des  Gefühls  vorgetragen  worden,  wurde  durch  den  Geist  eines  TertuUian 
mit  klarerem  Bewusstsein  aufgefasst  und  zu  einem  systematischen  Ganzen 
verarbeitet,  wobei  man  sich  aber  hüten  muss,  alle  Gedanken  des  durch 
seine  Geistesentwicklung  viel  bedeutenderen  TertuUian  dem  ungebildeteren 
Montanus  beizulegen. 

Das  montanistische  Offenbarungsprincip  nahm  von  Anfang  an  die  Form 
der  heidnischen  Mantik  an.  Montanus  erklärt  sich  darüber  mit  unzweideu- 
tiger Otlenheit:  „Siehe,  der  Mensch  ist  wie  eine  Leier,  und  ich  (der  Geist) 
spiele  darauf  wie  ein  Plektron.  Der  Mensch  schläft  und  ich  wache.  Siehe, 
der  Herr  ist  es,  der  die  Herzen  der  Menschen  in  Entzücken  versetzt  (e^KTtct' 
vüüu)  und  den  Menschen  ein  Herz  gibt;"  „ich  bin  der  Herr,  der  alhnächtige 
Gott,  der  in  dem  Menschen  Wohnung  macht''  ^j.  Der  Mensch  verhält  sich 
also  zur  Einwirkung  des  Geistes  vollkommen  leidend,  so  sehr,  dass  er  das 
Selbstbewusstsein  verhert.  Der  Montanismus ,  der  in  anderer  Beziehung  dar- 
auf ausging,  das  subjektive  Element  in  sein  Recht  einzusetzen,  fängt  also 
damit  an,  dass  er  die  Subjektivität  unterdrückt,  freilich  nur  um  eine  desto 
grössere  Verherrlichung  derselben  vorzubereiten.  In  ähnUcher  Weise  spra- 
chen sich  die  Begleiterinnen  des  Montanus  aus.  Sie  beriefen  sich  auf  Stellen 
des  alten  und  neuen  Testaments,  —  dass  der  Herr  eine  extjxaaig  (falsche 
Uebersetzung  der  LXX  Genesis  2,  21),  auf  Adam  fallen  liess.  TertuUian  be- 
rief sich  darauf,  dass  Petrus  bei  der  Verklärung  Christi  nicht  wusste,  was 
er  sagte,  nach  Lukas  9^  33,  dass  die  grössere  Menge  der  Menschen  Gott 
aus  Träumen  kennen  lernt  (de  anima  c.  47),  und  Anderes  dergleichen.  Da- 
her konnnt  TertuUian  dazu,  das  montanistische  Offenbarungsprincip  so  zu 
fornuiliren:  ^der  Mensch,  der  unter  dem  Einflüsse  des  Geistes  Gottes  steht, 
muss  nothwendig  das  Bewusstsein  verheren,  sofern  er  von  der  göttlichen 
Kraft  überschattet  wird"  2).  Das  war  ein  der  bibUschen  Offenbarung  alten 
und  neuen  Testaments  durchaus  widersprechendes,  wahrhaft  paganisches 
Princii),  welches,  wenn  man  es  hätte  gewähren  lassen,  die  bedauerlichsten 
Verwüstungen  hätte  anrichten  können.  Die  Montanisten  selbst  suchten  die 
Tragweite  dieses  Princips  zu  verringern,  damit  es  weniger  gefährlich  er- 
scheine, sei  es,  dass  sie  lehrten,  wenigstens  in  einigen  Punkten  bringe  der 
Paraklet  nichts  Neues  vor  3) ,  «ei  er  mehr  restitutor  als  institutor ,  sei  es, 
dass  sie  erklärten ,  nach  Montanus  und  seinen  Begleiterinnen  werde  kein  Pro- 
phet noch  Prophetin  mehr  auf  Erden  aufstehen,  sondern  das  Ende  kommen  *). 


1)  Gewissermassen  ähnUcli  haben  sich  Justin  M.  und  Athenagoias  über  die  pro- 
phetische  Begeisterung  ausgesprochen. 

2y  Homo  in  spiritu  Bei  constitutus  necesse  est  excidat  sensu,  obumbratus  virtute  di- 
vina.  adv.  Marcioncra  4,  22.  Ebendaselbst  sagt  er:  in  causa  novae  prophctiae  gratiae  ecs- 
tasin  i.  e.  amentiam  con venire. 

o)  Nihil  novi  paraclotus  inducit.  TertuUian  de  monogaraia  c.  o  hat  im  Sinne  die 
Enthaltung  von  der  Ehe. 

4)  Maximilla  sagte:  ^n'  f/^iov  nQotprjTig  /ufjxfrt  ecrai  akka  cv^reketa. 


174  •  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

Sie  priesen  den  sich  ihnen  oHenbarenden  Paralclet  als  den  Führer  in  alle 
Wahrheit. 

Die  christliche  Sitte  war  das  nächste  Feld  der  Bethtltiji;ung  des  Mon- 
tanismus. Grundsatz  war,  dass  jeniehr  die  Welt  ihrem  Ende  entgegen  geht 
Ccollectiore  tempore,  sub  cxtremitatibus  temporum),  um  so  weniger  die  Schwach- 
heit des  Fleisches  geschont  werden  solle,  und  so  wie  die  Sünden  der  Men- 
schen vor  allem  libido  und  gula  betreffen,  so  wurden  die  strengsten  Aus- 
sprüche dagegen  gerichtet,  daher  das  strenge  Fasten,  (Xeropliagiae),  wie 
es  die  Asketen  übten,  zum  Gesetz  gemacht,  daher  das  Fasten  auch  an  deii 
dies  stationum  (wovon  später)  vorgeschrieben,  daher  unbedingtes  Verbot  der 
zweiten  Ehe,  übertriebene  Werthschätzung  des  ehelosen  Lebens  und  ent- 
schiedene Geringschätzung  der  Ehe ,  von  der  gesagt  wird ,  dass  sie  von  der 
Hurerei  nicht  wesentlich  verschieden  sei  ^).  Namentlich  für  die  Geistlichen 
und  die  Gültigkeit  ihrer  Verwaltung  der  Sacramente  ist  der  Coelibat  von  we- 
sentlicher Bedeutung  2j. 

Derselbe  übertriebene  Rigorismus  zeigt  sich  in  dem  unbedingten  Ver- 
bote, sich  durch  die  Flucht  der  Verfolgung  zu  entziehen;  ^wünscht  nicht  in 
euren  Betten  zu  sterben,  sondern  als  Märtyrer,  auf  dass  derjenige  verherr- 
licht werde,  der  für  euch  gelitten  hat,'^  das  ist  auch  eine  der  Offenbarungen 
des  Paraklet,  deren  Montanus  sich  rühmte. 

Aus  denselben  Offenbarungen  ergab  sich  für  diejenigen,  die  sich  daran 
hielten,  ein  eigenthündiches  Verhältniss  zum  Christenthum ,  zur  Kirche,  zur 
Kirchenverfassung,  zur  Kirchenzucht.  Obwohl  die  Montanisten  anerkennen, 
dass  sie  mit  der  Gesammtkirche  denselben  Glauben,  dieselben  Sacramente  ha- 
ben ,  so  sehen  sie  sich  doch  als  solche  an ,  welche  den  realisirten  Begriff'  der 
Kirche  innerhalb  des  katholischen  Ganzen  darstellen,  als  die  Gemeinde  des 
Geistes,  die  aus  erleuchteten  Christen,  aus  geheiligten  ^litgliedern  zusammen- 
gesetzt ist.  Sie  sind  die  wahrhaft  geistlichen  Menschen,  die  Pneuma- 
tik er,  im  Unterschiede  von  den  Psychikern,  die  nach  1  Kor.  2,  14  den 
Geist  nicht  empfangen  3),  Anhänger  der  Bischöfe,  Gegner  des  Geistes,  Men- 
schen der  blosen  Seele  {im  Gegensatz  vom  nvev^a)  und  des  Fleisches,  so 
dass  bei  solchen  Ansichten  das  Bewusstsein  der  Zusannnengehörigkeit  mit 
den  übrigen  kathohschen  Christen ,  die  Anerkennung  der  katholischen  Kirche 
als  der  Kirche  Christi  dem  TertuUian  bisweilen  fast  abhanden  kam. 

Aus  denselben  Offenbarungen  des  Geistes,  wie  sie  regellos  bald  in  die- 
sem, bald  in  jenem  hervorquellen,  aus  der  an  alle  Gläubigen  in  gleicher 
Weise  ergehenden  Forderung  vollkommener  Heihgkeit  ergab  sich  ferner,  dass 
von  einem  eigenen,   mit  den  götthchen  Dingen  betrauten  Stande  nicht  mehr 


1)  TertuUian  de  exhortatione  castitatis  c.  1  ijtsae  (nuptiae)  ex  eo  constant,  quod 
est  stuprum. 

2)  Diess  liegt  schon  in  der  Stelle  de  exbortat.  castitatis  c.  7,  —  deutlicher  noch  in 
den  der  Priscilla  zugeschriebenen  Worten:  quod  sanctus  (eheloser)  minister  sanctinioniam 
noverit  ministrare.  Purificantia  enim  concordat,  d.  h.  denn  die  Reinigung  (die  Virgini- 
tät)  verbindet  den  Menschen  mit  dem  Heiligen. 

3)  Non  recipientes  spiritum.  (Tert.  de  monogamia  c.  1).  So  nennt  er  auch  den  Glau- 
ben der  Psychiker  eine  fides  animalis. 


Der  Montanismus.  175 

die  Rede  sein  konnte.  Die  Idee  des  allgemeinen  Priesterthums  wird  ge- 
braucht als  Angriffswalle  gegen  den  geistlichen  Stand,  gegen  die  Bischöfe 
zumal.  „Wenn  es  gilt,  sagt  TertuUian,  uns  gegen  den  Klerus  zu  erheben, 
sind  wir  alle  eins,  dann  sind  wir  alle  Priester,  weil  der  Herr  uns  Gott  und 
dem  Vater  zu' Priestern  gemacht  hat,*^  (Apokalypse  1,  6.  5,  10).  Jeder  Christ 
steht  daher  in  gleichem  Verhältniss  zu  der  Disciplin,  so  dass  z.  B.  das  Ge- 
bot tler  Monogamie  für  die  Bischöfe  nicht  mehr  gilt  als  für  die  Laien.  Auch 
der  Laie,  sofern  er  sich  vom  Geiste  leiten  lässt,  hat  die  Befugniss ,  die  Sacra- 
mente  auszutheilen ,  und  wenn  er  die  Ausübung  dieses  Rechts  den  Bischöfen 
überlässt,  so  thut  er  dies  nur  nach  menschlichem,  nicht  nach  göttlichem 
Recht  (propter  ecclesiae  honorem).  Den  Unterschied  zwischen  Klerus  und 
Volk  hat  lediglich  die  Autorität  der  Kirche  festgesetzt  (de  exhortat.  cast.  c.  7), 
der  Kirche ,  die  eigentlich  nicht  die  wahre ,  dem  Begriff  entsprechende  Kirche 
ist,  „Denn  die  Kirche  ist  eigentlich  und  hauptsächlich  der 
Geist;  dieser  ist  es,  der  diejenige  Kirche  sammelt,  welche  der  Herr  auch 
aus  dreien  bestehend  erklärt  hat."  Die  kirchlichen  Befugnisse  hat  und  übt 
daher  nur  die  Kirche  des  Geistes  durch  geistliche  Menschen,  nicht  die 
Kirche ,  die  aus  einer  Anzahl  von  Bischöfen  besteht  (de  piidicitia  c.  21)  i). 
Jene  Kirche  allein,  sie,  deren  I^ischcife  und  Gesetzgeber  die  Schüler  des  Pa- 
raklet  sind,  kann  Sünden  vergeben,  aber  sie  thut  es  nicht,  um  die  Leute  nicht 
zur  Sünde  zu  verleiten  2). 

Wie  das  montanistische  Offenbarungsprincip  eine  völlige  Umgestaltung  der 
Kirchenverfassung,  eine  Art  von  Auflösung  derselben  in  sich  schloss,  so  musste, 
wo  jenes  Princip  Geltung  fand ,  auch  eine  gewisse  Umgestaltung  der  Kirchen- 
zuclit  erfolgen.  Dass  es  Sünden  gebe,  wofür  der  Mensch  durch  Busse  Ver- 
gebung erlangen  könne,  (hirin  stimmten  die  Montanisten  mit  den  Katholiken 
überein.  Davon  unterschied  man  solche  Sünden,  welche  den  ganzen  Grund 
des  Christentliums  umstossen,  und  welche  zu  vergeben  die  Kirche  keine  Be- 
fugniss hat;  auch  darin  waren  die  Montanisten  mit  den  Katholiken  einig.  Un- 
ter diesen  Sünden,  den  eigentlichen  Todsünden  verstand  man  in  der  ka- 
tholisclien  Kirche  Gcitzendienst  und  Mord;  ndt  dieser  Beschränkung  der  Tod- 
sünden waren  aber  die  Montanisten  nicht  einverstanden ;  sie  wollten  die  ttoq- 
reia  und  fiotxeta  aucli  unter  die  Todsünden  gerechnet  wissen.  Ihr  Wider- 
spruch wurde  [)esonders  hiut,  als  Bischof  Zephyrinus  von  Rom  erklärte,  solche 
Sünder,  nachdem  sie  Busse  geleistet,  in  die  christliche  Gemeinschaft  wieder 
aufnelimcMi  zu  wollen.  In  dem  darob  entbrannten  Streite  handelte  es  sich 
niclit  darum,  ob  solche  Sünder  nicht  noch  lUisse  thun  und  Vergebung  erlan- 
gen könnten,  sondern  ob  die  Kirche  die  Befugniss  habe,  sie  wieder  aufzu- 
nehmen; das  erste  läugneten  die  Montanisten  durchaus  nicht  unbedingt,  aber 
sie  meinten,  das  müsse  man  Gott  anheimstellen;  das  zweite  wollten  sie  in 
keiner  Weise  zugeben.  Denn  das  widersprach  ihrem  Begriffe  von  der  Heilig- 
keit der  Kirche. 


1)  Non  ecclcsia  numerus  episcoporum. 

2)  Ausspruch  eines  montanistischen  Propheten  bei  Tert.  de  pudic.  c.  21:  potest  ec- 
clesia  donare  delictum,  sed  non  faciam,  ne  et  alia  delinquant. 


176  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

So  sollten  denn  die  kirchlichen  Einrichtungen  nach  dem  Bedürfnisse 
der  Zeit  durch  die  fortlaufenden  Belehrungen  des  Paraklet  verändert  und 
vervollkommnet  werden.  Er  kann  abändern,  was  Paulus  noch  zugelassen  i). 
Er  ist  auch  au  keine  in  der  Kirche  herrschende  Gewohnlioit  gebunden. 
„Denn  unser  Herr  Christus  nannte  sich  die  Wahrheit,  nicht  die  Gewohnheit. 
Die  Häresien  widerlegt  nicht  sowohl  ihre  Neuheit  als  die  Wahrlieit.  Was 
wider  die  Wahrheit  streitet,  das  ist  für  uns  Häresis,  auch  die  alte  Gewohn- 
heit^^ (de  virg.  vel.  c.  1).  TertuUian  macht  liier  das  Gesetz  der  allmälichea 
Entwicklung  in  der  Natur  geltend  und  wendet  es  auf  die  Entwicklung  der 
bibhschen  OÜ'enbarung  an. 

^^Sieli  doch,  wie  ein  Naturgewächs  sich  nach  und  nach  zur  Frucht 
entwickelt,  zuerst  das  Samenkorn,  aus  dem  Samenkorn  wird  ein  Straucli 
u.  s.  w.  So  auch  die  Gerechtigkeit.  In  ihren  ersten  Anfängen  war  si(; 
die  sich  selbst  überlassene,  Gott  fürchtende  Natur,  dann  schritt  sie  durch 
Gesetz  und  Propheten  zur  Kindlieit  fort,  durch  das  Evangelium  erhielt  si(5 
ihre  feurige  Jugendkraft,  durch  den  Paraklet  bildet  sie  sich  nun  zur  Reife 
aus.'^  Hier  gerieth  der  Montanisnuis  freilich  an  einen  gefährlichen  Punkt 
Ist  nänüich  jetzt  die  Periode  des  Paraklet,  so  folgt,  dass  die  Apostel  den 
Paraklet  nicht  hatten.  Dazu  stinnnt,  was  wir  oben  anführten ,  dass  der  Para- 
klet abschafft,  was  Paulus  angeordnet,  dass  die  Herrscliaft  des  Paraklet  in 
der  nachapostohschen  Zeit  beginnt,  dass  die  Zeit  der  Apostel  sich  als  Ju- 
gendperiode von  der  Zeit  der  männhchen  Reife,  im  Montanisnuis  erreicht,  un- 
terscheidet. Die  Montanisten  behalfen  sieh  in  dieser  Verlegenheit,  um  nicht 
in  zu  evidenten  Widerspruch  mit  sich  selbst  zu  gerathen,  mit  der  Unter- 
scheidung zwischen  dem  in  den  Aposteln  wirksamen  lieiligen  Geist  und  dem 
Paraklet  in  Montan  und  den  Seinen.  Mit  Recht  haben  aber  die  späteren 
Häreseologen ,  selbst  Augustin  (Häresis  26)  diesen  Unterschied  nicht  gelten 
lassen.  So  entspricht  der  Ausgang  des  Montanisnuis  seinem  Anfange.  Ist  er 
in  seinem  Ursprünge  von  der  Linie  der  Schrift  abgewichen,  so  kann  man 
sich  nicht  wundern,  dass  er  auch  in  seinem  Ausgange  davon  abweicht. 

Es  war  von  vornherein  zu  erwarten,  dass  eine  Erscheinung  wie  der 
Montanismus  grosse  Aufregung  verursachen,  theils  begeisterte  Anhänger, 
theils  entschiedene  und  heftige  Gegner  linden  würde.  Was  dem  Montanis- 
mus Anhänger  zuführte  und  erhielt ,  war  der  schwärmerische  Charakter  des- 
selben, ein  gewisser  geistUcher  Stolz,  ein  gewisses  Unbeliagen  mit  dem  sich 
consolidirenden  Episkopat,  so  wie  auch  ein  ^gewisser  sittlicher  Rigorismus, 
der  davon  ausging  dass  das  christliche  Leben  hinter  seinem  Ideale  gar  zu 
weit  zurückbleibe.  Dazu  kam  bei  vielen  vielleicht  auch  die  Furcht  v(U*  den 
das  Christenthum  verllüchtigenden  Speculationen  der  Gnostiker.  Die  Anzahl 
derjenigen,  die  sich  bei  dem  ersten  Auttreten  des  Montanus  hatten  verführen 
lassen,  niuss  nicht  so  gering  gewesen  sein,  wie  der  anonyme  Verfasser  einer 
Gegenschrift  bei  Euseb.  5,  16  es  angibt.  Hatte  doch  derselbe  anonyme  Ver- 
fasser die. Gemeinde  von  Ancyra  in  Galatien  von  der  neuen  Prophetie  über- 
täubt gefunden.    Unter  den  Gegnern  in  Kleinasien  sind  besonders  zu  nennen 


1)  Si  Christus  abstulit,  quod  Moyses  praecepit,  cur  uon  paracletus  abstaiorit,  quod 
Paulus  indulsit?  de  monogamia  c.  14. 


Der  Montanismus.  177 

Claudius  Apollinaris,  Bischof  von  Hierapolis  in  Phrygien,  Miltiades, 
der  eigens  gegen  das  Offenbarungsprincip  der  Montanisten  schrieb,  sodann  der 
schon  genannte  Anonymus,  welcher  höchst  ungünstige  Dinge  über  den  Ausgang 
des  Montanus  und  seiner  Begleiterinen,  sowie  des  Theodotus,  berichtet,  Dinge, 
von  denen  er  selbst  nicht  zu  behaupten  wagt,  dass  sie  der  Wahrheit  ent- 
sprechen, derselbe,  der  auch  die  Inspiration,  deren  sie  sich  rühmten,  für 
etwas  Dämonisches  ansah.  —  Ihre  heftigsten  Gegner  sind  die  sogenannten 
Aloger.  Dass  die  Montanisten,  wie  der  genannte  Anonymus  berichtet,  schon 
um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  in  Kleinasien  aus  der  Kirche  aus- 
gestossen  wurden,  ist  kaum  glauWich.  Es  scheint,  dass  die  Initiative,  aus 
der  Kirche  auszuscheiden,  nach  einiger  Zeit,  als  sie  durch  den  Widerspruch, 
den  sie  erfuhren,  in  ihrer  Ansicht  sich  versteift  hatten,  von  ihnen  selber  aus- 
ging. In  Rom  fand  der  Montanismus  bei  Vielen  Anklang,  wie  die  novatia- 
nische  Bewegung  es  beweist.  Selbst  ein  römischer  Bischof,  wahrscheinlich 
Eleutherus  170  — 185,  war  im  Begriffe,  wie  Tertullian  berichtet,  die  monta- 
nistischen Propheten  anzuerkennen,  —  doch  gewiss  in  höchst  bedingter 
Weise  — ,  als  er  durch  Praxeas  davon  abgehalten  wurde.  Eleutherus  war  zu 
einem  milderen  Urtheil  über  die  Montanisten  bewogen  worden  durch  einen 
Brief  der  Gemeinde  in  Lyon,  in  welcher  viele  Montanistisch -gesinnte  aus 
Phrygien  sich  befanden.  Der  Brief,  vom  Presbyter  Irenäus  überbracht,  so 
wie  auch  wahrscheinlich  von  ihm  verfasst,  scheint  das  Gewicht  der  Streit- 
punkte zwischen  den  Kathohken  und  den  Montanisten  herabgesetzt,  manche 
übertriebene  Beschuldigung  derselben  widerlegt  und  die  christliche  Eintracht 
mit  denselben  empfohlen  zu  haben.  Praxeas  brachte  Eleutherus  auf  andere 
Gedanken,  theils  durch  die  Berufung  auf  das  Verfahren  der  Vorgänger 
Anicet  und  Soter,  theils  durch  ungünstige  Schilderung  der  montanistischen 
Gemeinden.  Irenäus  selbst  scheint  bald  von  seinem  milderen  Urtheile  über 
den  Moutanisnuis  zurückgekommen  zq  sein,  obgleich  er  nicht  dahin  kam, 
mit  den  extremen  Antimontanisten  alle  aussergewölmUchen  Erscheinungen 
der  neuen  Prophetie  zu  verwerfen  (adv.  haer.  3,  11.  9).  Er  bekämpfte  den 
Montanismus  in  der  Schrift  gegen  Blastus  nsQi  (TxKTficctog^  welcher  (nach 
Euseb.  5,  14.  15),  wahrscheinlich  zu  den  Montanisten  gehörte.  In  Africa 
waren  schon  vor  dem  entschiedenen  Auftreten  Tertullian's  Grundsätze  und 
Bestrebungen  vorhanden,  offenbar  gleichlautend  mit  denen  der  Montani- 
sten ,  wie  die  Mäityreracten  von  Perpetua  und  Fehcitas  es  deutlich  beweisen. 
Die  beiden  edlen  Märtyrerinen  dachten  nicht  an  eine  Trennung  von  der  Kirche, 
wurden  auch  wegen  ihrer  montanistischen  Richtung  nicht  beunruhigt,  und  wer- 
den bis  auf  den  heutigen  Tag  in  der  katholischen  Kirche  als  Heilige  verehrt. 
TertuUian  vertrat  den  seiner  Eigenthümlichkeit  zusagenden  Montanismus  mit 
aller  Kraft  seines  originellen,  ideenreichen  Geistes  und  vertiefte  sich  immer 
mehr  in  dieser  Richtung.  Wenn  er  früher  noch  Eine  Busse  nach  der  Taufe 
gestattet  hatte  (de  poenit.  c.  7  fg.) ,  verwarf  er  sie  nun  (de  pudic.  c.  16), 
wenn  er  früher  die  Flucht  bei  der  Verfolgung  erlaubt  hatte  (ad  uxorem 
c.  3) ,  verwarf  er  sie  nun  und  schrieb  eine  eigene  Schrift  dagegen  (de  fuga 
in  persecutione').  Es  nuiss  sich  eine  montanistische  Gemeinde  in  Carthago 
gebildet  haben,  die  den  Namen  der  Tertullianisten  erhielt  und  zur  Zeit 
Augustins  (de  haeresibus  c.  86)   zur  katholischen  Kirche  zurückkehrte.    Der 

Herzog,  Kirchenyeschichte  I.  12 


178  ISrste  Periode  des  alten  Katholicismua. 

Montanismus  wurde  dem  Namen  nach  im  Occideute  verworfen,  aber  es 
erhielten  sich  montanistische  Grundsätze  und  TertuUian's  Schriften  blieben  in 
Ansehen.  Cyprian  nährte  sich  aus  ihnen.  Aber  selbst  der  gewaltig^e  Geist 
eines  Tertulhan  vermochte  nicht,  dem  Montanismus  als  solchem  eine  sieg- 
reiche Bahn  zu  eröffnen. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  ist  die  indirecte  Einwirkung  des  Monta- 
nismus auf  die  katholische  'Kirche.  So  darf  man  wohl  behaupten,  dass  das 
Zurücktreten  des  allgemeinen  Priesterthums  und  die  Feststellung  des  gottes- 
diensthchen  Charakters  des  Klerus  als  Gegenwirkung  gegen  den  Montanis- 
mus erfolgten.  Insofern  der  Montanismus  alle  Einrichtungen  verwarf,  welche 
zur  äusseren  Einheit  und  Ordnung  der  Kirche  nothwendig  waren,  sie  als 
Concessionen  an  das  Princip  der  Welt  verwarf,  beki'äftigte  er  indirect  des  Ii'enäi.s 
Bestreben,  den  Abschluss  der  katholischen  Kirche  durch  feste  bischöfliche 
Verfassung  zu  verstärken.  Was  der  Montanismus  an  seinen  Führern  und 
Propheten  hatte,  das  sollte  durch  eine  geordnete,  von  Amtswegen  im  Besitze 
des  heihgen  Geistes  befindhche  Hierarchie  ersetzt  und  dadurch  das  monta- 
nistische Princip  als  überflüssig  und  falsch  erwiesen  werden  (Ziegler  S.  284^. 
Der  Episcopat  gestaltete  sich  so  zu  einer  Reaction  gegen  den  Montanismus 
wie  gegen  die  Gnosis,  so  wie  der  Montanismus  eine  Reaction  gegen  den  Epis- 
copat war.  Der  Montanismus  musste  nothwendig  auch  auf  den  katholischen 
Kirchenbegriff  eine  Rückwirkung  üben.  Der  montanistische  Grundsatz,  dass 
die  Heiligkeit  der  Kirche  in  der  gesetzhchen  Strenge  ihrer  Mitglieder  wurzle, 
trieb  zum  anderen  Grundsatze  hin,  dass  die  Heihgkeit  der  Kirche  lediglich  vom 
Besitze  der  Sacramente  abhänge.  So  kam  der  Satz  zur  Geltung,  dass  die- 
empirische  kathoüsche  Kirche  mit  ihrem  Begriffe  identisch  sei,  während  dei' 
Montanismus  mit  seinen  gesteigerten  Anforderungen  an  die  Mitglieder  dei 
Kuxhe  zuletzt  die  Bildung  des  Begriffs  der  sichtbaren  und  unsichtbaren 
Kirche  vorbereitete. 

2)  Kirchenspaltung  des  Felicissimus  in  Carthago.i). 

Dass  in  der  heftigen  Decischen  Verfolgung,  welche  nach  langer  Ruhe 
die  Christen  in  einem  Zustande  der  Erschlaffung  übeiTaschte,  Viele  in  ver- 
schiedenen Formen  den  Glauben  verläugneten ,  davon  ist  in  der  Geschichte 
der  Verfolgungen  die  Rede  gewesen.  In  dem  Sprengel  des  Bischofs  Cy- 
prian us  von  Caithago,  der  während  der  Verfolgung  die  Flucht  ergritten, 
entstanden  bei  diesem  Anlasse  bedenkliche  Um'uhen.  Die  Märtyrer  miss-_ 
brauchten  ihr  altes  Vorrecht,  die  Gefallenen  zur  Wiederaufnahme  in  diej 
Kirche  zu  empfehlen,  wobei  immer  vorausgesetzt  wurde,  dass  diese  zuvor' 
Busse  gethan,  und  dass  Bischof,  Klerus  und  Volk  die  eigenthche  Entscheid- 
ung gaben.  Nun  aber  erhessen  die  Märtyrer  viele  sogenannte  lihelli  pacis 
in  gebieterischem  Tone  abgefasst :  communicet  ille  cum  suis.  Darauf  fussend 
zwangen  einige  lapsi  mehrere  Geistliche ,  sie  ohne  weiteres  in  die  Kirche 
wieder  aufzunehmen.  Mit  den  Märtyrern  und  diesen  lapsi  machte  gemein-- 
schaftliche  Sache  ein  Theil  des  Klerus  in  Carthago,  der  sich  schon  der  Wahl 
des  Cyprian  zum  Bischof  widersetzt  hatte.  Dieser,  sich  gründend  auf  die 
vorher  entwickelten  Grundsätze,  widersetzte  sich  aufs  eifrigste  solchem  Ver- 

1)  S.  Cypr.  epist.  38—40.  42.  55. 


Dag  novatianische  Schisma.  I79 

fahren.  Dadurch  wurde  die  Partei  der  Missvergnügten,  an  deren  Spitze  der 
Diakonus  Felicissimus  stand,  nur  noch  gereizter.  Nach  der  Eückkehr. 
des  Cyprian  im  Jahre  251  wurden  sie  excommunizirt  und  wählten  den  For- 
tunatus  zum  Bischof,  einen  jener  alten  Gegner  Cyprian's;  sie  bestanden 
aber  nicht  lange.  Sie  hatten  zwar  die  bischöfliche  Gewalt  an  sich  nicht  ab- 
zuschauen gesucht,  aber  die  Einheit  derselben  durchbrochen  durch  die  eigen- 
mächtige Aufstellung  eines  Gegenbischofs. 

3)  Das  novatianische  Schisma  in  Romi). 

In  diesem  Theile  der  Kirche  traten  die  Gegensätze  der  milderen  und 
strengeren  Handhabung  der  Kirchenzucht  mit  besonderer  Intensität  hervor, 
einander  gegenseitig  verstärkend,  wobei  jedoch  zu  beachten  ist,  dass  die 
Anhänger  der  strengeren  Richtung  nicht  soweit  giengen,  denjenigen,  welchen 
sie  die  Wiederaufnahme  in  die  Kirche  verweigerten,  die  Hoffnung  der  Selig- 
keit abzusprechen.  Ihr  Grundsatz  war,  man  müsse  sie  zur  Busse  ermahnen 
und  sie  der  göttlichen  Bannherzigkeit  empfehlen.  Die  Vergebung  ihrer 
Sünden  müsse  man  dem  Gott  anheimstellen,  der  allein  die  Macht  habe,  die 
Sünden  zu  vergeben.  Dieselbe  Partei  stellte  den  Grundsatz  auf,  dass  eine 
Kirche,  welche  die  in  Götzendienst  und  andere  Todsünden  Gefallenen  wieder 
aufnehme,  den  Charakter  und  die  Rechte  der  wahren  Karche  verliere,  inso- 
fern Reinheit  und  Heiligkeit  ein  wesentliches  Merkmal  der  wahren  Kirche  seien 
(Sokrates  K.  G.  4,  28).  In  Festhaltung  dieses  Grundsatzes  tauften  sie  sogar 
die  zu  ihnen  übertretenden  Katholiken  aufs  neue.  Sie  nannten  sich  in  den 
Schreiben,  die  sie  an  griechische  Gemeinden  richteten,  die  Reinen,  oi  xa- 
^agoi  2),  und  ihre  Geistlichen  trugen  wenigstens  später  weisse  Kleider  als 
Symbol  der  inneren  Reinheit  (Sokrates  K.  G.  6,  22). 

An  der  Spitze  dieser  Partei  stand  der  vorhin  schon  als  Schriftsteller 
erwähnte  römische  Presbyter  Novatianus,  von  Euseb.  6,  43  irrigerweise 
Novatus  genannt,  von  seinem  Gegner  Cornelius  zwar  in  den  schwärzesten 
Farben  geschildert,  doch  ein  redlicher  Mensch  von  strenger  Denkart,  ein 
christhcher  Ascete,  deswegen  in  Ansehen  stehend,  aber  nicht  von  gehöriger 
Festigkeit  des  Charakters.  Es  gesellte  sich  zu  ihm  der  carthagische  Pres- 
byter Novatus,  einer  der  Gegner  des  Cyprian  in  Carthago,  Theilnehmer  am 
Schisma  des  Felicissimus  und  in  Folge  dessen  nach  Rom  gekommen,  ein 
unruhiger  Mann,  von  dem  man  glauben  könnte,  dass  er  sich  widersprechende 
Handlungsweise  erlaubte,  wenn  es  galt,  Unruhen  zu  erregen  und  sich  selbst 
geltend  zu  macheu  3).  Indess  er  in  Carthago  der  Partei  derjenigen  ergeben 
gewesen,  welche  die  laxeren  Gnmdsätze  vertheidigten,  trat  er  in  Rom  als  Ver- 


1)  S.  Cypr.  epist.  41—52.    Der  Brief  des  Cornelius  an  B.  Fabius  v.  Ant.  bei  Eus. 

6,  43.    Brief  des  Dionys.  v.  Alex,  an  Novatian,    Eus.  6,  45,    und   an  Dionys.    von  Eom, 

7,  8.  —     Ein  Vorläufer  dieser  Bewegung  war  die  Gemeinde,   die  sich  um  Hippolytus  ge- 
sammelt hatte.     S.  oben  S.  127. 

2)  Daher  spricht  auch  das  Concil  von  Nicea  im  achten  Kanon   71€qi    zcou    opofxa- 
Covrtav  httvrovg   Ka&agovg. 

3)  Doch  vielleicht   hatte   er  aus  Unzufriedenheit   mit   seiner   Partei  Carthago  ver- 
lassen. 

12* 


jgQ  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

theidiger  der  strengen,  montanistischen  Grundsätze  auf.  Die  Partei,  die 
solche  aufgestellt,  zerfiel  251  mit  dem  neuerwählten  Bischof  Cornelius,  gegen 
den  sie  die  zwei  Anklagen  erhob,  dass  er  die  Gefallenen  in  die  Kirche  wie- 
der aufnehme  und  überdiess  ein  libellaticus  sei.  Obgleich  Novatus  die  thätige 
Seele  der  Partei  war,  so  wurde  doch  Novatianus,  der  einen  sehr  guten  Ruf 
hatte,  der  als  römischer  Presbyter  grosse  Autorität  ausüben  konnte,  der 
übrigens  jene  strengen  Grundsätze  mit  ganzer  Seele  sich  angeeignet  hatte, 
vorgeschoben  und,  wie  er  selbst  bezeugte,  wider  seinen  Willen  zum  Biscliof 
gemacht  ^).  Die  Novatianer  suchten  und  fanden  bei  anderen  Bischöfen  An- 
erkennung. Als  sie  sich  nach  Carthago  gewendet,  trat  ihnen  Cyprian,  der 
früher  ähnUche  Grundsätze  gehegt  hatte,  schroff  entgegen  und  zeigte  sich 
als  der  eifrigste  Vertheidiger  des  Cornelius.  Er  erklärte  sich  gegen  die 
absolute  Ausschhessung  der  Gefallenen  aus  der  Kirche,  gegen  die  darauf 
gegründete  Forderung  der  Reinheit  der  Kirche,  in  welcher  das  Unkraut  mit 
dem  Weizen  vermischt  sei,  und  stellte  bei  diesem  Anlasse  so  wie  bei  Anlass 
des  Schismas  des  Fehcissimus  seine  Theorie  von  der  Einheit  der  Kirche  auf. 
Obwohl  er  Alles  anwendete,  um  recht  viele  Bischöfe  gegen  die  Novatianer  zu 
stimmen,  erhielten  sie  sich  noch  lange.  Constantin  der  Grosse  und  das 
nicänische  Consil  liessen  sie  gewähren.  Einer  ihrer  Bischöfe,  der  die  Ai- 
sicht  des  Athanasius  theilte,  war  ein  Mitglied  des  Concils  von  Nicäa  unl 
durfte  ungestraft  den  eigenthümhchen  Grundsatz  seiner  Partei  über  die  ab- 
solute Excommunication  aussprechen  (Sokr.  K.  G.  1,  10).  In  Phrygien  ver- 
einigten sich  die  Novatianer  mit  den  Ueberresten  der  Montanisten. 

4)  Schisma  zwischen  der  afrikanischen  und  der  römischen 
Kirche  über  die  Taufe  der  Häretiker. 

Diese  Spaltung  läuft  zuletzt  auf  eine  dogmatische  Streitfrage  hinaus, 
sie  verschlingt  sich  aber  auch  in  eine  Frage,  die  Kirchenverfassung  betref- 
fend. Denn  es  handelte  sich  dabei  um  Zurückweisung  der  Ansprüche  des 
römischen  Bischofs  auf  den  Primat.  Diese  Ansprüche  sind  anzusehen  als 
Reaction  gegen  die  durch  die  grosse  Mehrheit  der  Bischöfe  erstrebte  Art 
der  Einheit  der  Kirche,  welche  die  Oberherrschaft  einer  einzelnen  Kirche 
schlechterdings  ausschloss. 

In  Afrika,  Aegypten,  Syi'ien  und  Kleinasien  bestand  die  Sitte,  die 
Häretiker,  die  von  Häretikern  getauft  worden,  bei  ihi'em  Eintritt  in  die 
kathohsche  Kirche  wieder  zu  taufen,  d.  h.  die  durch  Häretiker  ertheilte 
Taufe  als  nichtig  zu  betrachten  und  ihnen  nun  erst  die  wahre  Taufe  zu 
ertheilen,  keine  Wiedertaufe.  In  Afrika  wenigstens  war  aber  diese  Sitte 
nicht  alt,^  sondern  ziemhch  neuen  Ursprunges.  Cyprian  (ep.  73)  datirt  sie 
von  den  Zeiten  des  Bischof  Agrippinus  her,  um  das  Jahr  220.  Damals  war 
auf  einem  Concile  von  Carthago  die  Sitte  angenommen  worden.    Noch  später 


1)  Cornelius  in  dem  angeführten  Schreiben  an  Fabius  stellt  die  Sache  so  dar,  als 
ob  Novatian  lediglich  aus  Ehrgeiz  gehandelt  und  sich  eigenmächtig  vorgedrängt  habe. 
Novatian  selbst  sagte,  er  sei  axMv  vorwärts  getrieben  worden j  das  hält  ihm  Dionysius 
im  angeführten  Schreiben  vor. 


Schisma  über  die  Taufe  der  Häretiker.  1$1 

geschah  diess  in  Kleinasien  auf  den  Concilien  von  Iconium  und  Synnada  im 
Jahre  235  (Cypr.  ep.  75,  Brief  des  Firmilian).  Cyprian  und  Firmilian,  Bi- 
schof von  Cäsarea  in  Kappadocien  erkennen  sehr  wohl,  dass  die  Sitte  die 
consuetudo  gegen  sich  habe. 

Sie  gab  Anstoss,  seit  dem  die  Novatianer  ebenfalls  die  zu  ihrer  Sekte 
üebertretenden  zu  taufen  anfingen.  Es  wurden  darüber  in  Afrika  zwei  Kir- 
chenversammlungen gehalten,  welche  durch  den  überwiegenden  Einfluss  Cy- 
prian's  geleitet,  sich  für  die  Taufe  der  Häretiker  erklärten  (255.  256).  Der 
Bischof  ging  nämlich  von  dem  Gesichtspunkte  aus,  dass  die  von  Häretikern 
ertheilte  Taufe  völlig  ungültig  sei,  dass  die  Häretiker  den  heiligen  Geist, 
um  den  es  sich  ja  in  der  Taufe  handle,  nicht  geben  könnten,  weil  sie  selbst 
ihn  nicht  besässen.  Es  gebe  nur  Eine  Taufe,  wie  es  nur  Einen  Glauben^ 
nur  Eine  Hoffnung  gebe,  und  diess  sei  allein  in  der  Kirche  zu  finden;  das 
habe  nichts  zu  sagen,  dass  die  Novatianer  die  zu  ihnen  Üebertretenden 
taufen,  da  es  ihn  nichts  angehe,  was  die  Feinde  der  Kirche  thun.  So  wie 
die  Affen  die  Menschen  nachahmen,  so  wolle  Novatian  die  Auctorität  der 
Kirche  und  die  Wahrheit  nachäffen  (ep.  70 — 73).  Gemäss  der  kirchhchen 
Sitte  der  gegenseitigen  Mittheilung  der  Synodalbeschlüsse,  überdiess  geleitet 
durch  das  Bestreben,  eine  Uebereinstimmung  mit  Rom  zu  Stande  zu  bringen, 
theilte  die  zweite  jener  carthagischen  Synoden  vom  Jahre  256  dem  römischen 
Bischof  Stephanus  ihre  Beschlüsse  mit.  Cyprian  bemerkte  im  Begleitschrei- 
ben ,  dass  Einige  andere  Ansichten  hätten ,  dass  sie  übrigens  Niemandem  ein 
Gesetz  vorschreiben  wollten,  da  jeder  Bischof  für  seine  Person  verantwort- 
lich sei,  worauf  Stephanus  in  stolzen  Ausdrücken  den  Afrikanern  seine 
Verwunderung  zu  erkennen  gab.  ;,Es  solle  keine  Neuerung  vorgenommen 
werden,  sie  sei  denn  in  der  Tradition  begründet  ^),  so  dass  dem,  der  von 
der  Häresis  zur  katholischen  Kirche  kommt,  die  Hände  aufgelegt  werden 
als  einem  Büssenden  (ad  poenitentiam)" .  Es  wurden  bei  diesem  Anlasse 
heftige  Briefe  zwischen  den  beiden  Männern  gewechselt.  Cyprian  beschuldigte 
den  römischen  Bischof,  dass  er  nicht  zur  Sache  Gehöriges ,  sich  selbst  Wider- 
sprechendes ohne  Verstand  vorgebracht  habe,  dazu  bemerkte  er,'dass  es  eine  eitle 
Hartnäckigkeit  sei,  die  menschliche  Tradition  der  göttlichen  Anordnung  vorzu- 
ziehen, dass  die  Gewohnheit  •  ohne  die  Wahrheit  nur  ein  alter  Irrthum  sei  2), 
woraus  aufs  neue  hervorgeht,  dass  die  Taufe  der  Häretiker  nicht  von  Anfang 
bestanden.  Stephanus  wurde  auch  beleidigend;  er  nannte  Cyprian  einen 
PseudoChrist,  falschen  Apostel,  betriigerischen  Arbeiter  (ep.  75).  Darauf 
hob  derselbe  die  lürchengemeinschaft  mit  der  afrikanischen  Kirche  auf. 
Eine  dritte  Synode  in  Carthago  (1.  Sept.  256),  in  derselben  Angelegenheit 
versammelt,  bestätigte  den  Gebrauch  der  Ketzertaufe,  unbekümmert  um  die 
Excomnmnication  des  römischen  Bischofs.  Bischof  Firmilianus  bezeugte  dem 
Bischof  von  Carthago  in  einem  bereits  angeführten  langen  Briefe  (ep.  75  in 
der  Briefsammlung  des  Cyprian)  die  volle  Einstimmung  der  Kirchen  seiner 
Provinz.  Das  Schreiben  enthält  die  stärksten  Beschuldigungen  gegen  Ste- 
phanus.   Es  wird  ihm  Thorheit  (stultitia)  vorgeworfen,    dass   er  sich  rühme, 


1)  Nihil  innovetur,  nisi  quod  traditum  est. 

2)  Consuetudo  sine  veritate  vetustas  erroris  est  ep.  74. 


Jgg  jferste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Petri  Nachfolger  zu  sein,  dass  er  die  grosse  Sünde  begangen,  sich  von  so 
vielen  Gemeinden  zu  trennen.  ;,Du  hast  dich  selbst  losgerissen,  täusche 
dich  nicht  darüber ,''  so  redet  er  den  römischen  Bischof  an,  „denn  der  ist 
der  wahre  Schismatiker,  der  die  Gemeinschaft  der  kirchhchen  Einheit  auf- 
gibt. Ja,  du  bist  ärger  als  alle  Häeretiker,  da  du  den  Häretikern,  die 
zur  Kirche  zurückkehren,  die  Vergebung  der  Sünden  entziehst,  indem  du 
ihnen  die  Taufe  verweigerst^^  ^).  Auch  Dionysius  von  Alexandrien  sprach  sich 
in  einem  Schreiben  an  Sixt.  IL,  Nachfolger  des  Stephanus  (bei  Euseb.  7,  5) 
missbilligend  aus  über  Stephanus  und  beistimmend  der  Ansicht  der  Afrika- 
2ier.  —  Was  war  das  Ende  des  heftigen  Streites?  Dass  die  Ansicht  des 
römischen  Bischofs  obsiegte,  und  zwar  mit  Recht.  Der  Kirchenfriede  wurde 
wieder  hergestellt  auf  Grund  des  Votums  eines  afrikanischen  Bischofs  auf  der 
Synode  von  Carthago  vom  Jahre  256,  dass,  wenn  der  übeltretende  Häreti- 
ker auf  die  Dreieinigkeit  getauft  worden,  er  nicht  wieder  getauft  werden 
solle,  sondern  blos  die  HandauÜegung  empfangen,  —  zum  Zeichen  der 
Aussöhnung  mit  der  Kirche.  Das  war  aber  eigentlich  des  Stephanus  Mein- 
ung, der  immer  vorausgesetzt  hatte,  dass  die  Häretiker  die  Taufe  auf  den 
Namen  des  dreieiuigen  Gottes  vollzögen ;  daher  er  nur  unter  dieser  Bedingung 
die  von  ihnen  eitheilte  Taufe  als  gültig  erklärte. 

5)  Meletianische  Spaltung  in  Aegypten. 

Meletius,  Bischof  von  Lykopolis  in  Oberägypten,  von  strengen  Buss- 
gruudsätzen  ausgehend,  wollte  die  in  der  diocletianischen  Verfolgung  Abge- 
fallenen nicht  vor  Herstellung  der  Ruhe  aufgenommen  wissen.  Ihm  stand 
entgegen  sein  Metropoht,  Bischof  Petrus  von  Alexandrien,  daher  Meletius 
sich  von  ihm  trennte  und  in  den  ihm  anhängenden  Gemeinden  die  Metro- 
politan -  Geschäfte  übernahm.  Die  Spaltung  dauerte  ül)er  ein  Jahrhun- 
dert fort  und  gewann  viele  Anhänger  2).  Endlich  üillen  in  diese  Periode 
die  allerersten  Anfänge  der  donatistischen  Spaltung,  die  wir  im  Ziisam- 
sammenhang  mit  der  späteren  Entwicklung  in  der  zweiten  Periode  des  Ka- 
tholicismus  behandeln  werden. 


1)  Dieser  dem  römischen  Stuhle  höchst  unangenehme  Brief  wurde  in  der  Ausgabe 
von  Cyprian's  Werken  vom  Jahr  1563  mitAbsiclit  ausgelassen  und  zuerst  in  der  Ausgabe 
von  Morellius  vom  Jahr  1564  mitgetheilt,  worüber  der  Herausgeber  von  den  eigenen 
Keligionsgenossen  scharf  getadelt  wurde. 

2)  S.  Epiphan.  haeresis  68. 


183 


Sechster  Abschnitt. 


Geschichte  des  Cultus  und  der  Sitte  in  der  katholischen 

Kirche. 

Bis  dahin  haben  wir  in  den  Vorhallen  der  christlichen  Religion  ver- 
weilt. Jetzt  aber  betreten  wir  das  Heiligthum  derselben.  Auch  auf  diesem 
Gebiete  können  wir  die  Herausbildung  des  KathoHschen  verfolgen,  des  Alt- 
katholischen, wie  wir  es  nennen  können,  das  zwar  in  wichtigen  Beziehungen 
sich  vom  späteren  Kathohschen  unterscheidet,  aber  dasselbe  in  eben  so 
wichtigen  Beziehungen  heranwachsen  lässt. 


Erstes  CapiteK    Geschichte  des  Cultus  ^). 

Zwei  Hauptgrundsätze  beherrschen  die  Ausbildung  des  kathohschen 
Cultus,  entsprechend  den  beiden  Gegensätzen,  innerhalb  welcher  sich  die 
kirchliche  Entwicklung  bewegte,  nämhch  erstens  die  Polemik  gegen  das 
Heidenthum,  sodann  diejenige  gegen  die  Häresis.  Die  Polemik  gegen  das 
Heidenthum  verband  sich  mit  der  Anschliessung  an  den  Synagogencultus  und 
trat  hervor  im  Vorherrschen  des  didaktischen  Elementes,  in  der  starken 
Abneigung  gegen  Alles,  was  an  die  sinnlichen,  äusserlichen  Formen  des 
Heidenthums,  an  Bilder,  an  Bildercultus  und  Opfercultus  erinnerte.  Den 
Heiden,  die  auch  um  deswillen  die  Christen  mit  Vorwürfen  überhäuften, 
bUeben  die  Apologeten  die  Antwort  nicht  schuldig.  So  Octavius  bei  Mi- 
uucius  Felix:  „Glaubt  ihi*,  dass  wir  die  Gegenstände  unserer  Verehrung 
verbergen,  weil  wir  keine  Heiligthümer  (delubra)  und  Altäre  haben?  Was 
für  ein  Bild  von  Gott  sollen  wii*  erdichten,  da  eigenthch  der  Mensch  selbst 
Gottes  Bild  ist?  Soll  ich  ihm  einen  Tempel  erbauen,  da  doch  die  ganze 
Welt,  von  ihm  geschaffen,  ihn  nicht  zu  fassen  vermag?  Soll  ich  ihm  als 
Opfer  darbringen,  was  er  mii'  zu  meinem  Gebrauche  gegeben,  so  dass  ich 
seine  Geschenke  ihm  wieder  vor  die  Füsse  werfe?  Das  wäre  ein  Beweis 
von  Undankbarkeit.  Keine  Gesinnung,  reines  Gewissen,  das  ist  ein  Gott 
angenehmes  Opfer.  —  Wer  sich  der  Schuldlosigkeit  befleisst,  der  liehet  zu 
Gott.  Wer  Gerechtigkeit  übt,  der  bringt  Gott  ein  Trankopfer  dar.  Wer 
sich  des  Betruges  enthält,  der  macht  sich  Gott  geneigt.  Das  sind  unsere 
Opfer,  das  sind  Gottes  Heihgthümer.  Den  Gott  aber,  den  wir  verehren, 
zeigen  wir  nicht  noch  sehen  wir  ihn.'^  Auf  ähnhche  Weise  eifert  Lactanz 
gegen  das  heidnische  Gepränge  und  spricht  den  grossartigen  Gedanken  aus. 


1)  S.  Augusti,  Denkwürdigkeiten  aus  der  christlichen  Archäologie  12  Bde.  1816 
—  31.  —  Derselbe,  Handbuch  der  christlichen  Archäologie  in  3  Bänden.  —  Ehein- 
wald,  kirchliclie  Archäologie.  —  H.  Alt,  der  christliche  Cultus  historisch  dargestellt 
1851  u.  ff.  —  Guericke,  Lehrbuch  der  christlich  -  kirchlichen  Archäologie  1859.  — 
Piper,  Einleitung  in  die  monumentale  Theologie  1867. 


184  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

dass,  nachdem  Gott  im  Fleische  erschienen,  wir  keines  Bildes  von  ihm  be- 
dürfen 1).  Einige  gebildete  Römer  mochten  sich  durch  den  bilderlosen  Cul- 
tus  der  altkatholischen  Kirche  angezogen  fühlen.  Denn  er  war  eine  that- 
sächliche  Rückkehr  zur  altrömischen  Einfachheit  2).  Aehnlich  wie  Lactanz 
antwortet  Ai^nobius  (adv.  gentes  lib.  6)  auf  die  Vorwürfe  der  Heiden,  be- 
treffend den  katholischen  Gottesdienst.  Er  widerlegt  auch  die  Rehauptung 
der  Heiden,  dass  die  Bilder  zum  Unterrichte  des  Volkes  dienen  und  die 
Bücher  ersetzen.  Wenn  man  diese  und  andere  Apologeten  dieser  Zeit  liest, 
wird  man  an  die  Polemik  der  reformatorischen  Schriftsteller  des  sechzehn- 
ten Jahrhunderts  gegen  den  Bilder-  und  Opfercultus  erinnert,  der  im  Laufe 
der  Zeit  die  katholische  Kirche  überwuchert  hatte.  Was  den  Opfercultus 
betrifft,  so  wird  sich  uns  freihch  zeigen,  dass  sehr  bald  unter  christlicher 
Aussenseite  und  Namen  eine  verhängnissvolle  Reaction  des  Heidenthums  und 
des  Judenthums  auf  die  christhche  Rehgionssphäre  statt  fand. 

Der  Gottesdienst  wurde  aber  auch  ausgebildet  im  Gegensatze  gegen  die 
Häretiker.  Wenn  diese  zum  Theil  jenes  heidnische  Gepränge  annahmen, 
Bilder,  Lichter,  Weihrauch,  so  mochten  die  katholischen  Christen  sich  dadurch  in 
ihrer  puritanischen  Strenge  bestärkt  fühlen.  Auch  die  Lehre  vom  Abend- 
mahl und  vom  Opfer  im  Abendmahl  ist  wesentlich  bedingt  durch  die  Pole- 
mik gegen  die  Gnostiker.  Sodann  galt  als  Gnmdsatz ,  dass  nur  der  Gottes- 
dienst in  der  katholischen  Kirche  die  götthchen  Gnadengaben  vermittle,  nur 
dieser  Gottesdienst  Gott  wohlgefäUig  sei.  ^Dem  Häretiker  wird  selbst  sein 
Gebet  zur  Sünde  angerechnet,^  sagt  derselbe  Origenes,  der  doch  auch  zum 
Theil  wegen  seiner  Heterodoxieen  von  seinem  Bischof  war  excommunicirt 
worden.    So  stark  war  schon  damals  das  katholische  Bewusstsein. 

1)  Versammlungsorte  der  katholischen  Christen  3). 

Zuerst  gab  es  gar  keine  dem  Gottesdienst  ausschliesslich  gewidmete 
Gebäude.  Die  Gläubigen  versammelten  sich  im  Tempel  von  Jerusalem,  in 
einer  Synagoge,  im  Hause  eines  Bruders,  bei  Verfolgungen  in  einsamen 
Stätten ,  in  Katakomben ,  in  Gefängnissen ,  in  einem  Wirthshaus ,  auf  einem 
Schiffe  (Dion.  von  Korinth  bei  Euseb.  7,  22).  Am  Ende  des  zweiten  Jahr- 
hunderts finden  wir  einige  dem  Gottesdienste  ausschliesslich  gewidmete  Ge- 
bäude. Mehrere  wurden  errichtet  in  den  ruhigen  Zeiten  zwischen  der  vale- 
rianischen  und  der  diocletianischen  Verfolgung  (Euseb.  8,  1),  benannt  xvgia- 
xoy  (woraus  das  Wort  Kirche  sich  gebildet),  dominicum,  Haus  des  Herrn, 
nqoq  svxttiqiop,  Gebethaus,  oixog  sxx^criag,  oder  metonymisch  €xxXf}(na, 
woraus  das  französische  4glise  entstanden,  erst  seit  Constantin  vaog  oder 
templum,   niemals  aber  delubrum  oder  fanum.    Die  Einrichtung  ent- 


1)  Div.  instit.  2,  2:   postqnam  Dens  ille  praesto   esse  coepit,   jam    simulacro  ejus 

opus  non  est. 

2)  Nach  Varro   bei  Augustin  de  civitate  Dei  4,  31    haben    die  Römer   mehr  als 
170  Jahre  hindurch  Gott  ohne  Bild  verehrt. 

3)  S.  Lübke,  Grundriss  der  Kunstgescliichte  3.  Auflage.  1866.  —     Desselben  Ab- 
riss  der  Geschichte  der  Baukunst.  1866. 


Cnltns.    Versammlnngsorte  der  Christen.  1Ö5 

Sprach  dem  einfachen  Wesen  des  katholischen  Gottesdienstes;  ein  erhöhter 
Standpunkt  für  das  Vorlesen  der  heiligen  Schrift  und  für  den  sich  daran 
anschliessenden  Vortrag,  so  wie  ein  hölzerner  Abendmahlstisch  waren  die 
Hauptzierden  der  Kirche.  Je  melu'  die  Bildung  des  geistlichen  Standes  fort- 
schritt,  wurde  auch  die  Einrichtung  zusammengesetzter.  Nach  dem  Vorbilde 
des  Tempels  in  Jerusalem  war  ein  Theil  der  Kirche  nur  den  Geistlichen 
zugänglich,  äyiacxfiaj  ßrnia,  chorus;  er  enthielt  den  hölzernen  Abendmahls- 
tisch, tqans'Qa  ayia,  mensa  Sacra  (die  Ausdrücke  ßcofiog,  aqa  wurden 
strenge  gemieden  i),  die  Sitze  der  GeistUchen,  diese  im  Hintergrunde  des 
Chors,  an  der  Mauer,  wobei  der  Sitz  des  Bischofs,  xad-eÖQa,  etwas  höher 
als  die  übrigen  ^govot  der  GeistUchen,  in  der  Mitte  derselben  stand  2). 

Gemälde  und  Bilder  duldete  man  nicht  in  den  Kiixhen  nach  Exod.  20, 4, 
während  die  Karpokratianer  Bilder  Christi  hatten  und  sie  in  heidnischer 
Weise  verehrten  (Irenäus  1,  25).  Es  galt  als  Grundsatz,  was  Clemens  von 
Alexandrien  sagt:  „die  Gewohnheit  des  täghchen  AnbHckes  entweihe  die 
Würde  des  göttlichen  Wesens;  dasselbe  mittelst  irdischen  Stoffes  verehren, 
sei  soviel,  als  es  durch  Sinnlichkeit  entwürdigen.^  Gegen  die  Versuche,  Bil- 
der in  die  Kirchen  einzuführen ,  erklärte  sich  auf  das  bestimmteste  das  Con- 
cil  von  Elvira  bei  Granada  305,  im  c.  36  ^).  So  antikünstlerisch  war  die  alte 
katholische  Kirche,  dass  sie  sich  Jesum  als  unschön  dachte  nach  Jes.  53,  2.  3. 
So  Tertullian  (adv.  Judaeos  c.  14).  Er  meint,  Christus  hätte  nicht  verachtet 
werden  und  leiden  können,  wenn  etwas  von  seiner  himmhschen  Herrlichkeit 
in  seinem  Fleische  sich  gezeigt  hätte  (de  carne  Christ,  c.  9).  Clemens  Ale- 
xandrinus  sich  berufend  auf  dieselbe  Stelle  aus  Jesaia  meint  auch,  der  Herr 
sei  von  Angesicht  hässlich  aicrxQog  gewesen  (Paedagogus  3,  1).  Ebenso 
Origenes,  der  ganze  Leib  Christi  sei  hässlich  dvgsideg  gewesen  (c.  Celsum 
lib.  6).  Hiebei  ist  noch  anzuführen,  dass  auch  das  Anzünden  von  Lichtern 
w^ährend  des  Gottesdienstes  nicht  gestattet  wurde.  Das  Concil  von  Elvira, 
woraus  wir  diese  Angabe  schöpfen,  spricht  zwar  c.  20  nur  von  Lichtern  auf 
den  Gottesäckern  ^),  es  scheint  aber  der  Gebrauch  der  Lichter  überhaupt 
lücht  statt  gefunden  zu  haben.  Denn  Lactanz  div.  instit.  6 ,  2  spottet  über 
die  Heiden,  dass  sie  am  hellen  Tage  Lichter  anzünden  bei  dem  Gottes- 
dienste. 

Ln  häuslichen  Leben  begann  der  Gebrauch  der  Bilder  vermöge  einer 
unschuldigen,  ja  berechtigten  Nachahnumg  heidnischer  Sitte.  Denn  überall 
sah  man  Bilder  in  den  lieidnischen  Häusern,   auch   auf  den  Trinkgeschirren 


1)  Doch  Ara  Del  erwähnt  v.  Tert.  de  oratione  c.  19. 

2)  Die  apostohsclien  Constit.  2,  57  geben  eine  kurze  Vorschrift  für  die  Anlage  der 
Kirchen;  eine  weitläufige  Beschreibung  der  neuen  Kirche  in  Tyrus  gibt  Euseb.  10,  4; 
diese  Kirche,  nach  dem  Aufliören  der  Verfolgung  erbaut,  gibt  einen  Maassstab  ab  für  die 
vorher  erbauten  Kirchen.  In  der  Ausgabe  von  Heinichen  ist  der  Grundriss  jener  Kirche 
beigegeben. 

3)  Placuit  picturas  in  ecclesia  esse  non  debere,  ne  qnod  coütur  et  adoratur,  in 
parictibus  depingatur. 

4)  In  coemeteriis ;  —  der  Grund,  worauf  das  Concil  sich  stützt,  mahnt  noch  eini- 
gennassen  an  die  heidnisclie  Vorstellung  vom  Schweben  der  Seelen  um  den  Ort  herum, 
wo  ihre  Körper  begraben  liegen:  inquietandi  enim  Spiritus  sanctorum  non  sunt. 


jgß  Erste  Periode  des  alten  Katholioismus. 

und  Siegelringen.  Ihnen  setzten  die  Christen  Bilder  entgegen,  die  ihren 
christhchen  Anschauungen  entsprachen,  auf  den  Büchern  das  Bild  eines 
Hirten,  der  ein  Lamm  auf  seinen  Schultern  davon  trägt  (Tertullian  de  pu- 
dicitia  c.  10).  Clemens  Alexandrinus  (Paedag.  3,  11)  eifert  für  christhche  Simi- 
bilder  auf  den  Siegelringen.  Er  nennt  eine  Taube  (als  Sinnbild  des  heihgen 
Geistes)  oder  einen  Fisch  (Anspielung  auf  Luc.  5,  10  oder  auf  das  Ana- 
gramm Christi  *x^ve,  bestehend  aus  den  Anfangsbuchstaben  der  Worte: 
Iri(Tovg  XQKTTog  Seov  Yioq  lonfjQ),  oder  ein  Schiff,  welches  in  schnellem 
Laufe  vom  Winde  getrieben  wird  (Sinnbild  der  christlichen  Kirche),  oder  eine 
Leyer  (als  Sinnbild  der  christhchen  Freude),  oder  einen  Anker  (Sinnbild  der 
christhchen  Hoffnung  i).  Dass  schon  Kreuze  in  den  Häusern  oder  gar  in 
den  Kirchen  aufgestellt  wurden,  davon  findet  sich  in  unserer  Periode  noch 
keine  Spur.  Die  Christen  scheinen  eine  gewisse  Scheu  empfunden  zu  haben 
vor  dem  Marterinstrument  des  Herra.  Vom  Crucifix  ist  eben  so  wenig  die 
Kede.  Dagegen  war  zu  Tertulhan's  Zeit  das  sich  Bekreuzen  schon  Verbreiter, 
und  bei  allen  möglichen  Anlässen  des  tägUchen  Lebens  gebräuchlich,  nicht 
ohne  Beimischung  abergläubiger  Vorstellungen.  Wie  das  Zeichen  des  Kreu- 
zes gemacht  wurde,  wird  nicht  näher  angegeben,  auf  jeden  Fall  nui'  auf  der 
Stirne  2). 

Eine  besondere  Betrachtung  erheischen  die  Katakomben,  theils  weil 
sie  Anlass  gaben  zur  Entwicklung  der  christlichen  Kunst  in  den  Sculptureu 
und  Gemälden,  womit  sie  ausgeschmückt  wurden,  theils  weil  sie  als  Be- 
gräbnissstätten nicht  nur,  sondern  auch  als  interimistische  Stätten  für  den 
Gottesdienst,  auch  als  Zufluchtsstätten  in  den  Verfolgungen  verwendet 
wurden  ^). 


1)  Siehe  den  Artikel  Sinnbilder  von  Merz  in  der  Realencyklopädie,  so  wie  die 
bei  Anlass  der  Katakomben  anzuführenden  Werke. 

2)  Tertullian  de  Corona  miütis  c.  3:  Ad  omnem  progressum  atque  promotum,  ad 
omnem  aditum  et  exitum,  ad  vestitum  et  calciatum,  ad  lavacra,  ad  mensas,  ad  himina,  ad 
cubilia,  ad  sedilia,  quaecunque  nos  conversatio  exercet,  frontem  signaculo  terimus.  Es  ist 
aber  zu  vermuthen,  dass  diese  Uebertreibung  im  Gebrauche  des  Zeichens,  welches  an  das 
Leiden  des  Herrn  erinnert,  hauptsächlich  in  montanistischen  Kreisen  vorkam. 

3)  Dieser  Gegenstand,  der  so  viellach  in  die  ältere  Geschichte  der  Kirche,  beson- 
ders was  Kom  betrifft,  eingreift,  hat  eine  eigene  Literatur  erzeugt.  Unter  den  Forschern 
auf  diesem  Gebiete  ist  hauptsächlich  der  Cavaliere  G.  B.  de  Rossi  in  unseren  Tagen  zu 
nennen.  Seine  Hauptwerke  sind  inscriptiones  christianae.  Rom  1861  und  Roma  sötte r- 
ranea.  2  Bände.  Rom  1864.  1867.  —  Dieses  Werk  liegt  zu  Grunde  den  Arbeiten  des 
deutschen  Gelehrten  Kraus:  Roma  sotterranea.  Die  römischen  Katakomben.  Eine  Dar- 
stellung der  neuesten  Forschungen,  mit  Zugrundlegung  des  Werkes  von  J.  Spencer 
Northcote  und  W.  R.  Brownlow,  M.  A.,  bearbeitet  von  D.  Fr.  X.  Kraus,  Professor  an  der 
Universität  Strassburg.  Freiburg  im  Br.  1873.  —  Zusammengefasst  in  desselben  Gelelir- 
ten  Schrift:  die  christliche  Kunst  in  ihren  frühesten  Anfängen. 

Das  Wort  Katacumbae  ist  von  ungewissem  Ursprünge;  es  wird  zuerst  von  Gr.  L 
gebraucht  für»  die  Grabgewölbe  unter  der  Basilica  von  San  Sebastiane  in  Rom  (ep.  3,  30) 
und  wurde  weiterhin  die  Benennung  aller  unterirdischen  grösseren  Begräbnissstellen,  der- 
gleichen es  nicht  nur  in  Rom,  sondern  auch  in  Neapel,  Malta,  Paris  und  anderen  Orten 
gab.  Es  kommt  auch  in  der  Form  catatumba  vor:  so  nennt  Joa.  diaconus  die  neapo- 
litanischen Grüfte.    Wir  befassen  uns  hier  ausschliessUch  mit  den  römischen  Katakomben. 


18t 


Zweites  Capitel.    Gottesdienstliche  Tersammlungszeiten. 

Wenn  schon,   wie  Clemens  (Strom.  7,  7)  lehrt,   das    ganze  Leben  der 
Christen  ein  fortwährender  Gottesdienst  sein  sollte,   wobei  er  jedes   cerimo- 


Sie  sind  ja  nicht  zu  verwechseln  mit  den  arenariae,  Sandsteingruben  von  Puzzolan- 
erde,  worin  Verbrecher  und  Sklaven  verscharrt  wurden,  obwohl  eine  Anzahl,  doch  eine 
sehr  geringe,  von  Christen  in  diesen  arenariae  begraben,  diese  oder  jene  arenaria  in  einen 
christlichen  Friedhof  umgewandelt  wurde.  —  Die  eigentlichen  Katakomben  in  festerem 
Boden  angebracht,  oestelien  aus  einem  weitschichtigen  Labyrinthe  von  Galerieen,  die  im 
Schoosse  der  Erde  und  unter  den  die  Stadt  umgebenden  Hügeln,  nicht  unter  der  Stadt 
selbst  angebracht  sind.  Die  Ausdehnung  ist  zwar  sehr  begrenzt,  aber  oft  liegen  fünf 
Galerieen  übereinander,  sie  haben  eine  Breite  von  zwei  bis  vier  Fuss;  die  Höhe  wecliselt 
nach  der  Beschaffenheit  des  Felsens,  in  dem  sie  ausgegraben  sind.  Die  Wände  sind  zu 
beiden  Seiten  von  horizontalen  Grabhöhlen  oder  Nischen  durchbrochen;  in  jeder  dieser 
Höhlen  lagen  eine  oder  mehrere  Leichen.  Manchmal  ist  eine  ganze  Kammer  einer  Fa- 
milie überwiesen;  das  nannte  man  cubiculum,  Schlafgemach;  im  Hintergründe  in  einer 
Art  von  Nische  oder  Absitz  befand  sich  bisweilen  das  Grab  eines  Märtyrers;  denn  es 
gereichte  den  alten  Cliristen  zum  Tröste,  die  Gebeine  der  Ihrigen  in  der  Nähe  der 
heiligen  Märtyrer  zu  wissen.  Hier  wurden  auch  die  Todestage  der  Märtyrer  gefeiert  mit 
Opfer  und  Abendmahl;  demgemäss  wurde  in  den  Verfolgungen  der  Gottesdienst  regel- 
mässig darin  gehalten;  dafür  wurden  grössere  Räume  in  Anspruch  genommen.  Der  Um- 
stand, dass  die  Katakomben  Friedhöfe  waren,  machte  die  Anlegung  neuer  nöthig.  Seit 
Constantin  wurden  aber  keine  neuen  erbaut,  sondern  die  alten  erweitert,  was  besonders 
dadurch  nöthig  wurde,  dass  seit  Constantin  der  gottesdienstliche  Gebrauch  sich  steigerte 
durch  die  immer  mehr  steigernde  Verehrung  der  Märtyrer.  Leider  wurden  viele  Gräber 
der  Märtyrer  im  vierten  Jahrhundert  zerstört,  da  die  Christen  sich  gerne  in  der  Nähe 
derselben  ihre  Ruhestätte  bereiteten,  der  Bischof  Damasus  that  vieles  für  Erweiterung 
und  Bewahrung  der  Katakomben.  Aber  von  410  an  nach  der  Einnahme  Roms  durch 
Alarich  hörte  die  Beisetzung  in  die  Katakomben  auf  Sie  hatten  fortan  nur  als  Ruhe- 
stätte für  die  Märtyrer  Bedeutung.  Nach  den  Verwüstungen  derselben  durch  die  Gothen 
und  die  Longobarden,  welche  eine  Anzahl  von  Märtyrerleichen  wegnahmen,  Hess  Paul  I. 
757  die  Reliquien  der  Märtyrer  soviel  wie  möglich  erheben  und  in  die  Basiliken,  Diako- 
nieen  und  Klöster  der  Stadt  schaffen;  folgende  Päbste  setzten  diese  Uebertragungen  fort. 

Von  den  in  den  Katakomben  gefundenen  Kunstgegenständen,  sei  es  aus  festem 
Stoffe  (terra  cotta,  Metall,  Glas)  oder  als  Sarkophage  oder  in  Gestalt  von  Malereien,  ge- 
hören einige  noch  in  die  Zeit  vor  Constantin  und  erscheinen  daher  als  die  ersten  Anfänge 
christlicher  Sculptur  und  christlicher  Malerei.  Gegenstand  derselben  sind  theils  christ- 
liche Sinnbilder,  theils  Scenen  aus  der  heiligen  Geschichte,  theils  Abbildungen  der  in 
den  betreffenden  Gräbern  ruhenden  Gläubigen.  Dabei  zeigt  sich  eine  eigenthümliche  Ver- 
mischung heidnisclier  und  christlicher  Kunst.  Orpheus  wird  dreimal  als  Christus  ver- 
wendet, selbst  Odysseus,   Hercules   und  Theseus  wurden  im  christlichen   Sinne  benützt. 

Die  römische  Kirche  hat  seit  alten  Zeiten  in  diesen  Katakomben  nach  Beweisen 
für  ihre  besonderen  Dogmen  gesucht;  es  ist  ihr  aber  nicht  gelungen,  de  Rossi  und  Kraus 
haben  ihr  sonstiges  richtiges  Urtheil  durch  das  katholische  Parteiinteresse  beeinflussen 
lassen;  das  stärkste  Beispiel  ist  die  unblutige  Opferung  Isaaks  als  Darstellung  des  un- 
blutigen Messopfers  aufgefasst. 

Es  musste  die  Palme,  ein  allgemein  christliches  Symbol  (Apokal.  7,  9),  selbst  auf 
heidnischen  Gräbern  vorkommend,  als  untrügliches  Kennzeichen  eines  Märtyrergrabes  gel- 
ten, ebenso  die  röthlich  gefärbte  Phiole,  wovon  ein  Fünftel  bei  Christenkindern  und  noch 
dazu  erst  aus  der  Zeit  nach  Constantin  gefunden  wurde. 


it 


|gg  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

nialgesetzliche  Gebundenseiu  der  Handlungen  des  christlichen  Gottesdienstes 
an  bestimmte  Zeiten,  Oeiter  und  Personen  geradezu  leugnet,  wenn  gleich 
die  Christen  alle  Tage  zum  Gebet  zusammenkamen,  so  konnte  es  doch  nicht 
fehlen,  dass  einzelne  Tage  zu  diesem  Zwecke  herausgehoben  wurden.  Zu- 
nächst wurde  der  Sonntag  gefeiert,  woran  sich  bald  andere  Wochentage  an- 
schlössen. 

a)  Wöchentliche  Feiertage. 

Nach  den  Spuren  einer  Feier  des  ersten  Wochentages  im  Neuen  Te- 
stamente (Apostelgesch.  20,  7.  1  Kor.  16,  2.  Apokal.  1,  10)  begegnen  wi]' 
bei  Barnabas  c.  15  einer  Anführung  jenes  Tages ,  die  an  Deutlichkeit  nichts 
zu  wünschen  übrig  lässt.  Barnabas  erachtet,  dass  der  Sabbath  im  neuen 
Bunde  gänzUch  abgeschafft  sei  und  dass  an  dessen  Stelle  der  achte  Tag  trete, 
an  welchem  Gott  durch  die  Auferstehung  Christi  den  Anfang  einer  neuen  Weh 
machte.  ^^Darum  bringen  wir  den  achten  Tag  in  Freude  (ev  evtfQoavvrD 
zu,  an  welchem  Christus  von  den  Todten  auferstand.''  Derselbe  Tag  wird 
von  anderen  Schriftstellern  früh  erwähnt,  von  Ignatius  (ad  Magnesios  c.  9), 
von  Justinus  Martyr  (erste  Apologie  c.  67).  Da  die  vorherrschende  Stimm- 
ung die  der  Freude  war,  der  Freude  über  die  Auferstehung  Christi,  wie  sie 
auch  von  TertuUian  bezeugt  wird  (Apologet,  c.  16),  so  pflCf2,te  man  an  die- 
sem Tage  nicht  knieend,  sondern  stehend  zu  beten  und  das  Fasten  gänzlich 
zu  unterlassen  (Tert.  de  Corona  mil.  c.  3,  de  idolatria  c.  14).  Bereits  wurde 
in  dieser  Zeit  auf  das  Unterlassen  der  Arbeit  am  Sonntage  gedrungen.  Tert. 
de  oratione  c.  23  stellt  es  zusammen  mit  dem  Unterlassen  der  Kniebeugung. 
Es  sollte  damit,  meint  er,  aller  anxietatis  habitus  abgethan  sein,  d.  h.  alles, 
was  an  ängstliche  Furcht  vor  Gott  erinnert,  zugleich  sollte  durch  das  Unter- 
lassen der  Arbeit  verhütet  werden,  dass  der  Teufel  Gelegenheit  zur  Ver- 
suchung erhalte.  Bereits  heisst  der  achte  Wochentag  Sonntag  (^  riXiov 
riiisqa  bei  Justin  Martyr  1  apol.  c.  67,  bei  Tertulhan  Apolog.  c.  16). 
♦  Wurde  aber  allwöchenthch  die  Auferstehung  gefeiert,  so  lag  es  nahe, 
gewisse  andere  Wochentage  dem  Andenken  des  Leidens  Christi  zu  widmen; 
es  waren  der  Mittwoch  und  der  Freitag,  die  feria  quarta  und  sexta^ 
gefeiert  mit  Gebetsversammlungen  und  Fasten  bis  drei  Uhr  Nachmittags, 
dies  statiomim  genannt,  Wachen  der  Streiter  Christi  auf  ihrem  Posten, 
wie  denn  die  kathohschen  Christen  ihr  Leben  gerne  als  Kriegsdienst  unter 
Christi  Fahne  und  Befehl  auffassten  ^).  Statio  wurde  der  technische  Aus- 
druck für  dieses  Halbfasten.  Die  erste  Spur  davon  findet  sich  im  Pastor 
Hermae,  similit.  5,  1,  sodann  bei  TertuUian  de  oratione  c.  19,  wobei  man 
durch  Abbitte  für  die  Sünden  Genugthuung  leistete.  Es  waren  also  Buss- 
tage, wo  man  Gott  versöhnte  durch  reumüthiges  Gebet,  Fasten,  Knieen  bei 
dem  Gebete.     Der  Mittwoch  galt  besonders   dem  Andenken   an   den  Rath- 


üeber  die  Katakomben  von  Neapel  s.  Bellermann  über  die  ältesten  christlichen 
Begräbnissstätten  und  besonders  die  Katakomben  zu  Neapel  mit  ihren  Wandgemälden. 
Hamburg  1839. 

1)  Statio  de  militari  exemplo  nomen  accepit,  nam  et  militia  Bei  sumus.  Tert.  de 
oratione  c,  19. 


Wöchentlich«  Feiertage.    Jahresfeste.  189 

schlag  der  Juden  zur  Gefangennehmung  des  Herrn;  der  Freitag  dem  An- 
denken an  den  Tod  Christi.  So  vergegenwärtigte  jede  Woche  die  Haupt- 
momente des  Heiles  in  Christo.  Das  Fasten  war  übrigens  nicht  geboten ; 
die  Montanisten  geboten  es  und  setzten  es  nicht  selten  bis  zum  Abend  fort 
(Tert.  de  jejuniis  c.  10),  daher  bei  den  Montanisten  jene  Stationsfasten  blos 
bis  drei  Ulu'  Nachmittags  reichend  Halbfasteu  (semijejmiia)  hiessen,  im 
Unterschiede  von  der  superpositio,  vneQ^ecTig,  Jejunii,  d.  h.  von  der  Fort- 
setzung  des  Fastens   bis   zum  Abend. 

Judenchristliche  Gemeinden  feierten  noch  den  Sabbath,  den  siebenten 
Wochentag,  wogegen  der  Brief  des  Barnabas  offenbar  ankämpft.  Es  mag 
vorgekonmien  sein,  dass  solche  Gemeinden  den  Sonntag  nicht  feierten,  aber 
gewiss  höchst  selten.  In  der  morgenländischen  Kirche  entstand  der  Ge- 
brauch, den  Sabbath  dui'ch  Nichtfasten  und  Gebet  in  aufrechter  Stellung 
auszuzeichnen,  hingegen  in  der  römischen  Kirche  wurde  er  als  Fasttag  be- 
obachtet. Das  nannte  man  auch  superpositio  jejunii,  d.  h.  Verlän- 
gerung der  Fasten  vom  Freitag  auf  Samstag.  Dieses  Fasten  galt  dann  als 
Vorbereitung  auf  die  Communion  am  Sonntage. 

b)  Jahresfeste. 

Es  ist  die  Frage  aufgeworfen  worden,  ob  schon  im  apostolischen  Zeit- 
alter Jahresfeste  in  der  Kirche  gefeiert  wurden.  Dass  die  Judenchristen 
anfangs  die  jüdischen  Feste  beibehielten ,  ist  ausser  Zweifel.  Was  die  Hei- 
denchristen betrifft,  so  ist  es  .nicht  erweislich,  dass  sie  schon  im  apostolischen 
Zeitalter  Jahresfeste  gefeiert  haben,  aber  gegen  Ende  desselben  mag  es 
vorgekommen,  sein,  auf  jeden  Fall  sind  sie  im  heidenchiistlichen  Kreise 
sehr  alt. 

Es  kommt  hier  haujjtsächlich  das  Passahfest^)  in  Betracht.  Passah 
bedeutet  in  dieser  Zeit  durchaus  nur  die  Feier  des  Andenkens  an  den  Tod 
Christi,  nicht  aber  seine  Auferstehung;  erst  weit  später  kam  diese  Beziehung 
hinzu,  und  zwar  zunächst  ohne  die  ältere  zu  verdrängen,  so  dass  man  im 
vierten  Jahrhundert  ein  nacxa  atavQcoG-tfiov  und  ein  naG^a  avaataaiinov 
unterschied.  Nach  und  nach  behielt  das  letztere  die  Oberhand  und  verdrängte 
das  erste.  Jene  ursprüngliche  Bedeutung  des  christlichen  Passah  rührt  her 
von  der  Bedeutung  des  jüdischen  Passah.  nö5^  ^)  ist  zunächst  das  Lamm, 
als  Schlachtopfer  gedacht,  das  Versöhnungsopfer  zum  Andenken  der  Ver- 
schonung  der  Erstgeburt  in  Aegypten,  Exod.  12,  27,  daher  der  Ausdruck 
nOSn  ^DN  ,  das  Passahlannn  essen.  Es  wurde  am  vierzehnten  Nisan  und 
zwischen  den  Abenden  geschlachtet  nach  .Exod.  12,  6,  zur  Zeit  Jesu  um 
drei  Uhr  Nachmittags.  Damit  hing  das  Passahmahl  zusammen,  am  Abend  des 
vierzehnten  Nisan  oder  nach  jüdischer  Tagesabgrenzung  in  der  Nacht  gehal- 
ten, wo  der  fünfzehnte  Nisan  begann;  die  folgenden  Tage  hiessen  das  Fest 
der  ungesäuerten  Brode,   Levit.   23,  5,   der  at,v^a.     Passah  heisst   auch 


1)  Siehe  Weitzel,  Geschichte    der  Paschafeier   in   den  drei   ersten  Jahrhunderten 
1848.     Steitz  in  der  Kealencyklopädie. 

2)  Uttüya  geht  von  der  aramäischen  Form   XHDS    aus. 


190  Brste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

überhaupt  Passahfest,  mit  weiterem  oder  engerem  Umfange,  also  einmal  dasr 
gesammte  Fest  des  Passah  und  der  süssen  Brode  vom  Abend  des  vierzehnten 
bis  zum  Abend  des  einundzwauzigsten  Nisan  reichend,  das  andere  mal  der 
Passahfesttag  im  Unterschiede  von  den  Tagen  der  süssen  Brode,  der  fünf- 
zehnte Nisan,  welcher  sowie  der  sechzehnte  und  einundzwanzigste  besondc^rs 
feierlich  begangen  wurde;  der  vierzehnte  Nisan  hiess  die  nagacrxevij  des 
Passah.  Joh.  19,  14.  Bei  Josephus  und  Philo  ist  Passah  bereits  der  vier- 
zehnte Nisan,  an  dessen  Nachmittage  das  Passahlamm  geschlachtet  wurde, 
daher  auch  Ttgoot^  tcov  at,v[ji(ov  genannt  (Luc.  22,  7.  Marc.  14,  2),  deim 
die  Juden  schafften  schon  in  der  Nacht  vor  dem  vierzehnten  das  gesäuerte 
Brod  aus  den  Häusern. 

Die  Kirchenväter  des  zweiten  und  dritten  Jahrhunderts  gehen  von  dt^r 
Voraussetzung  aus,  dass  Christus,  wie  ihn  schon  Paulus  1  Kor.  5,  7  genannt 
hatte,  das  wahrhaftige  Passahlamm  sei,  mithin  Christus  im  Tode;  sie  sehen 
die  Andeutung  davon  im  Gleichklaug  der  Worte  na^xcc  und  Tiaax^ip.  Werl 
das  Passahlamm  mit  zwei  Spiessen  kreuzfönnig  durchbohrt  und  so  gebraten 
wurde,  sah  man  darin  ein  Symbol  des  Kreuzes.  Auch  auf  die  chi'onologische 
Bestimmung  wirkte  die  Beziehung  von  Passah  auf  das  Leiden  Christi  ein. 
Die  einen  nämlich  nahmen  an,  Christus  habe  am  fünfzehnten  Nisan  geüttei, 
also  an  dem  Tage  der  vorzugsweise  Passah  hiess;  so  Justin  im  Dialoji: 
mitTryphon,  gemäss  der  synoptischen  Relation  im  Unterschiede  von  der  johan- 
neischen,  wonach  also  Jesus  am  vierzehnten  Nisan  ein  eigentliches  Passah- 
mahl  gehalten  hat  und  am  fünfzehnten  gekreuzigt  wurde.  Ob  Iren  aus, 
T  er  t  Ulli  an,  Origenes  dieselbe  Ansicht  hatten,  ist  aus  ihren  Eröitenm- 
gen  nicht  deuthch  zu  ersehen. 

Von  derselben  Voraussetzung  ausgehend,  dass  Christus  das  wahre 
Passahlamm  sei,  gelangten  viele  Väter  zu  einer  anderen,  zu  der  johanneischen 
chronologischen  Bestimmung,  so  A  p  o  1 1  i  n  a  r  i  s,  Bischof  von  Hierapolis,  Clemens 
A 1  e  X  a  n  d  r  i  n  u  s,  H  i  p  p  0 1  y  t  u  s,  die  so  argumentiren :  war  Jesus  das  Passahlanun, 
so  kann  sein  Tod  nur  an  dem  Tage  statt  gefunden  haben,  wo  die  Juden  das 
Passahlamm  schlachteten.  Diess  geschah  am  vierzehnten  Nisan,  an  der  na- 
Qaaxevij  des  Passah,  um  drei  Uhr  Nachmittags.  Daher  glaubten  viele  Vä- 
ter auch  nicht,  dass  Jesus  ein  wahres  Passahmahl  mit  seinen  Jüngern  ge- 
halten habe.  Als  Grund  führt  Hippolytus  an,  weil  diess  keinen  Sinn  gehabt 
hätte  und  weil  Johannes  ihn  schon  gestorben  sein  lässt,  ehe  die  Juden  das 
Passahmahl  hielten  (Joh.  18,  28).  Hippolytus  meint  sogar,  auch  Lucas  deute 
diess  an  22,  16,  wenn  Christus  sagt,  er  werde  das  Passahmahl  nicht  mehr 
mit  den  Jüngern  essen,  bis  es  erfüllt  werde  im  Reiche  Gottes. 

Dieses  christHche  Passah  wurde,  wie  natürlicli,  mit  Fasten  begangen. 
Es  war  das  einzige  gebotene  Fasten  im  ganzen  Jahre;  die  Kirche  sollte 
trauern  an  den  Tagen,  wo  der  Bräutigam  von  ihr  genommen  wurde,  wie 
TertuUian  bemerkt.  Allein,  nach  Irenäus  (bei  Euseb.  5,  24)  herrschte  so- 
wohl über  den  Tag,  wo  das  Fasten  beendigt  wurde,  als  auch  über  die  Form 
des  Fastens  Verschiedenheit.  Einige  berechneten  ihre  Fastenzeit  auf  vierzig 
Stunden  bei  Tag  und  Nacht,  die  anderen  fasteten  einen,  zwei  oder  mehrere 
Tage.  Einen  Tag  fastete  die  kleinasiatische  Kirche,  die  römische  und  die 
afrüianische  Kirche  zwei  Tage,    zur  Erinnerung  an  den  Tag,    an  dem  Jesus 


Jahresfeste.    Passah.  191 

gelitten  und  an  den,  wo  er  im  Grabe  gelegen,  daher  später  dieser  Tag 
der  grosse  Sabbath  genannt  wurde.  Diejenigen,  die  drei  Tage  lang  faste- 
ten, nahmen  wohl  den  Mittwoch  dazu.  Demnach  war  die  Passahfeier  der 
drei  ersten  Jahrhunderte  Fastenzeit,  Passionszeit,  Trauerzeit.  Der  darauf 
folgende  Sonntag  gehörte  nicht  mehr  dazu;  er  hiess  im  speziellen  Sinne 
xvQiaxtj  tvi^  ccvafftaffecog  oder  ngcotf}  xvgiaxri  sc.  trig  TtepnjxoffTrjg. 

Hiebei  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  der  kleinasiatischen  und  der 
abendländischen  Kirche  zu  erwähnen.  Es  war  nämlich  in  jener  Kirche 
nicht  Gesetz,  dass  das  Passah  auf  einen  Freitag  fallen  musste,  wohl  aber 
in  dieser. 

Die  Kleinasiaten  hielten  den  vierzehnten  Nisan  als  Passahtag  fest, 
er  mochte  auf  einen  Freitag  oder  auf  irgend  einen  anderen  Tag  fallen; 
sie  folgten  also  der  jüdischen  Sitte.  Sie  beschlossen  den  Tag  mit  Agape 
(so  lange  überhaupt  die  Agape  bestand)  und  mit  Abendmahl,  zum  An- 
denken an  das  letzte  Mahl  Jesu  mit  seinen  Jüngern;  so  feierten  sie  ihr 
Abendmahl  zu  derselben  Zeit,  wo  die  Juden  ihr  Passahmahl  hielten.  Po- 
lykrates,  Bischof  vonEphesus  (beiEuseb.  5,  24)  berief  sich  für  diese  Sitte 
sogar  auf  den  Apostel  Johannes ,  der  ebenfalls  am  vierzehnten  Nisan  das 
Passahfest  gefeiert  habe  mit  der  kleinasiatischen  Kirche.  Johannes  that 
diess  in  dem  Sinne,  dass  Jesus  am  vierzehnten  getödtet  worden  sei  und 
so  das  Passahlamm  vorstelle  und  brachte  diess  zum  Ausdruck  in  seinem 
Evangelium;  es  war  seine  Darstellung  eine  Berichtigung  der  kleinasiati- 
schen Ansicht,  nach  welcher  Jesus  am  Tage  vor  seinem  Tode  das  Passah 
mit  den  Juden  gegessen  habe. 

Die  Occidentalen  hielten  sich  nicht  so  genau  an  die  jüdische  Sitte. 
Wenn  der  vierzehnte  Nisan  auf  einen  Freitag  fiel,  so  feierten  sie  an  die- 
sem Tage  die  Passion.  Fiel  er  auf  einen  vorausgehenden  Tag  der  Woche, 
so  wurde  der  Freitag  derselben  Woche  als  Passah  gefeiert.  Fiel  der  vier- 
zehnte Nisan  auf  den  Samstag,  so  wurde  die  Passahfeier  auf  den  Freitag 
der  folgenden  Woche  verlegt  und  fiel  dann  auf  den  zwanzigsten  Nisan.  — 
Mithin  feierten  die  verschiedenen  Theile  der  Kirche  Passah  an  sehr  ver- 
schiedenen Tagen,  allerdings  ein  Uebelstand.  Im  Jahr  222  fiel  der  vier- 
zehnte Nisan  auf  einen  Samstag,  den  13.  April;  demgemäss  fiel  die  Pas- 
sahfeier der  Occidentalen  auf  den  19.  April  oder  achtzehnten  Nisan,  den 
Freitag  der  folgenden  Woche,  das  Auferstehungsfest  auf  den  zwanzigsten 
Nisan.  Damit  hing  eine  andere  Verschiedenheit  zusammen.  Die  Klein- 
asiaten fasteten  nicht  über  den  vierzehnten  Nisan  hinaus,  wenn  gleich 
dieser  auf  einen  der  ersten  Wochentage  fiel.  So  wurde  das  Fasten  öfter 
lange  vor  dem  Auferstehungssonntage  geschlossen.  Die  Kleinasiaten  schei- 
nen dann  die  Auferstehung  noch  vor  dem  Sonntage  gefeiert  zu  haben. 
Die  Occidentalen  aber  und  viele  andere  Kirchen  hatten  den  Grundsatz^ 
dass  man  an  keinem  anderen  Tage  als  am  Sonntage  die  Auferstehung 
feiern  dürfe  und  dass  mit  diesem  Tage  (exclusive)  das*  Fasten  ein  Ende 
haben  solle.  Also  die  einen  fasteten  schon  nicht  mehr  am  Montag,  die 
anderen  setzten  das  Fasten  fort  bis  Sonntag  Morgen.  Die  Asiaten  fasteten 
am  vierzehnten  Nisan  bis  drei  Uhr  Nachmittags,  worauf  sie  das  Abend- 
mahl in  Verbindung  mit  einer  Agape  genossen.    Der  Unterschied  der  chro- 


192  Erste  Periode  des  alten  Katholicisirius. 

nologischen  Bestimmungen  über  den  Todestag  Jesu  war  hiebei  von  unter- 
geordneter Bedeutung  (Euseb.  5,  23—25). 

Als  c.  160  Bischof  P  o  1  y  k  a  r  p  den  römischen  Bischof  A  n  i  c  e  t  besuchte, 
kam  zwischen  diesen  beiden  Männern   diese  Verschiedenheit  zur  Sprache. 
Anicet  konnte  Polykarp  nicht  bestimmen,  die  Beobachtung  des  vierzehnten 
Nisan  als  Passahtages  aufzugeben.    Eben  so  wenig  konnte  Polykarp  Anicet 
bewegen,  die  kleinasiatische  Sitte  anzunehmen.    Allein  beide  Bischöfe  blie- 
ben in  gutem  Vernehmen.    Polykarp  durfte  mit  Genehmigung  Anicet's  das 
Abendmahl  administriren.     So  berichtet    Irenäus   bei  Euseb.  5,  24.     Erst 
c.  190,  als  der  römische  Bischof  Victor   mit  dem  Ansprüche  auf  eine  ge- 
wisse  Oberhoheit   den    Kleinasiaten    die   occidentalische    Sitte   aufdringe  a 
wollte,    entstand  eigentlicher  Streit.      Victor  trat  mit  anderen  Landeskir- 
chen in  Verbindung,  in  Palästina,  Pontus,  in  Gallien,  in  Osroene,  Alexan- 
drien,  Korinth,  es  wurden  in  diesen  Ländern  bei  diesem  Anlasse  Synoden 
gehalten  und  die  römische  Sitte  für  die  richtige  erklärt.    Bereits  bedi'ohte 
Victor  die  kleinasiatischen  Bischöfe,   die   ihre  von  Alters  her  überlieferte 
feste  Sitte  festhielten,  mit  Excommunication.      Da   erliess  im  Namen  der- 
selben   der    alte   Bischof   Polykrates    von   Ephesus    ein    encyklische^ 
Sclireiben,  worin  er  sich  auf  die  Autorität  der  Apostel  Johannes  und  Phi- 
lippus,  vieler  Bischöfe,  Polykarps  und  Anderer  berief,  die  alle  Passah  am 
vierzehnten  Nisan  gefeiert  hätten.     Er   lasse  sich  diuxh  keine  Drohungen 
erschrecken;  denn  grössere  Männer  als  er  hätten  gesagt,  man  müsse  Gott 
mehr  gehorchen  als  den  Menschen.     Darauf  suchte  Victor   in   einem   en- 
cyklischen  Schreiben  die   kleinasiatischen  Gemeinden   als   heterodoxe    von 
der  allgemeinen  Einigung  auszuschliessen  und  erklärte  in  einem  Schi'eiben 
die  dortigen  Brüder  alle  für  excommunizirt.      Die    mit   ihm  verbundenen 
Kirchen  blieben  zwar  bei  ihrem  Gebrauche,    missbilligten    aber   das  Ver- 
fahren des  römischen  Bischofs  auf  das  strengste  und  ermahnten  ihn,  mehi* 
auf  Einigkeit   bedacht   zu   sein.     Ii'enäus    Hess    in   einem    im  Namen  der 
Brüder  in  Gallien   erlassenen    Schreiben  Victor  besonders   scharf  an,   ob- 
schon  auch  er  bekannte,    dass   man  nur  am  Sonntage  das  Geheimniss  der 
Auferstehung  Christi  feiern  solle.    Nachdem  er  erwähnt,  dass  auch  Victor's 
Vorgänger  den  vierzehnten  Nisan  nicht  als  Passah  ,gefeiert   und   doch  mit 
den   Anhängern   dieser   Sitte  die  Gemeinschaft   nicht    aufgehoben   hätten, 
fährt  er  also  fort :  ^die  Apostel  haben  befohlen,  Niemanden  um  der  Speise, 
oder  um  der  Feste,    Neumonde   und  Sabbathe  willen  zu  richten.     Woher 
nun  alle  diese  Streitigkeiten  und  Spaltungen?    Wir  halten  Feste,  aber  im 
Sauerteige  der  Bosheit,  wir  zerreissen  die  Kirche  Christi,  wir  halten  uns 
an  Aeusserliches    und  werfen  von   uns   das  Bessere,   Glauben  und  Liebe. 
Dass  solche  Feier  und  Fasten  dem  Herrn  missfallen,   das    wissen  wir  aus  ^ 
den  Propheten. ^^    Damit  erwies  sich,    wie  Euseb  mit  Recht  bemerkt,    Ii'e-  \ 
näus  so  recht  als  Irenäus,    als  Mann  des  Friedens,    zugleich  ein  Beweis,  ; 
wie  weitherzig  damals   noch  der  Begriff  der  Katholicität    gefasst   wurde.  \ 
Seine  Bemühungen  waren  auch  nicht  vergeblich.     Nur  zwischen  Rom  und  ^ 
Ephesus  kam  es  zum  vorübergehenden  Bruche.     Zuletzt  behielt  der  römi- 
sehe  Bischof  doch  Recht;    denn    er    vertrat   allerdings   die   bessere  Sitte. 
Das  Concil  von  Nicaea  325  erklärte  die  römische  Sitte  für  die  richtige  und 


Jahresfeste.    Pfingsten.    Märtyrertage.  193 

verwarf  die  kleinasiatische,  deren  Anhänger  seitdem  als  Häretiker  galten, 
Quartodecimani ,  teaffagegSexatttat  seit  dem  Concil  von  Laodicea  364 
genannt.  —  Ein  anderer  Streit  über  das  Passah,  dessen  Gegenstand  nicht 
deutlich  ist,  brach  aus  c.  170.  Er  betraf  eine  innere  Differenz  unter  den 
Kleinasiaten  selbst.  Es  war  davon  die  Rede  in  einer  verlorenen  Schrift 
des  Melito  von  Sardes  über  das  Passah  (Euseb.  4,  26). 

Das  zweite  christliche  Hauptfest,  Pfingsten,  führt  uns  wieder  zum 
jüdischen  Cultus  zurück.  Pfingsten  war  eines  der  drei  grossen  Feste  der 
Juden,  gefeiert  sieben  Wochen  nach  dem  Anfang  der  Ernte  (Deut.  16,  9), 
nämlich  von  dem  auf  den  Ostersabbath  folgenden  Tage  an  gerechnet,  am 
fünfzigsten  Tage.  Levit.  23,  15.  Es  war  Erntedankfest,  zugleich  Fest  der 
Promulgation  des  Gesetzes  auf  dem  Berge  Sinai.  Daran  Hessen  sich  leicht 
und  ungezwungen  christliche  Ideen  anreihen.  So  wurde  Pfingsten  das  Fest 
der  mächtigen  ersten  Wirkungen  des  zur  Rechten  der  Kraft  erhöhten 
Erlösers,  das  Fest  der  Ausgiessung  des  Geistes.  Es  scheint  nun,  dass 
man  von  Anfang  an  die  Zeit  von  Ostern  inclusive  bis  zum  fünfzigsten  Tage 
nach  Ostern  als  freudige  Festzeit  feierte,  wo  man  nicht  fastete  und  stehend 
betete  und  an  einigen  Orten  sich  alle  Tage  zum  Gottesdienste  versammelte. 
So  ergeben  sich  zwei  Bedeutungen  der  Pentekoste,  1)  die  fünfzig  Tage  nach 
Ostern  ^),  so  dass  Ostern  selbst  dazu  gerechnet  wurde  als  ngcottj  xvQiaxij 
sc.  trjg  Ttevtfixofftfjg ,  2)  der  fünfzigste  Tag  selbst,  die  eigentliche  Pfingsten. 
Ausser  diesem  Tage  und  Ostern  wurde  in  diesen  fünfzig  Tagen  noch  be- 
sonders hervorgehoben  das  Fest  der  Himmelfahrt  Christi  {apceXrjifjsMg, 
ascensionis) ^  der  40.  Tag,  womit  einige  Gemeinden  in  Spanien  die  Pente- 
koste schlössen,  wogegen  das  Concil  von  Elvira  c.  43  sich  aussprach.  — 
Zu  diesen  Festen  kam  in  der  orientalischen  Kirche  das  Fest  der  Taufe 
Christi  als  das  Fest  zum  Andenken  dessen,  dass  der  Herr  den  Menschen 
als  Messias  offenbar  geworden  sei ,  das  Fest  der  ent(paveia  t.  Xq.  ,  t« 
eni(paria  hinzu,  wovon  wir  im  Abendlande  erst  360  die  erste  Spur  finden, 
während  es  im  Morgenlande  schon  in  dieser  Periode  eingeführt  wurde.  Das 
Weihnachtsfest  kannte  in  dieser  Periode  weder  die  morgenländische  noch 
die  abendländische  Kirche. 

Eine  folgenreiche  Erweiterung  des  Festcyklus  stellt  sich  uns  dar  in 
den  Festen  zum  Andenken  der  Märtyrer,  deren  Todestage  als  ihre  Ge- 
burtstage für  ein  verklärtes  Dasein  angesehen  wurden  {dies  natales ,  nafa- 
litia  martyrum,  fj^ega  yeve&Xiog^  yeve&Xice  toov  fiagtVQdov).  Der  Tod  des 
Märtyrers  als  des  Zeugen  Christi,  (Apostelgesch.  22,  30.  Hebr.  12,  1. 
Apokal.  17,  6),  mit  dem  Nebenbegriffe,  dass  er  um  dieses  Zeugnisses  willen 
das  Leben  verloren  habe,  dieser  Tod  galt  als  Sünden  tilgend,  wie  auch 
Clemens  Alexandrinus  lehrt,  —  er  galt  als  Blut  taufe,  als  Taufe  durch 
das  Feuer  (mit  Beziehung  auf  Luc.  12,  50.  Marc.  10,  39)  und  ersetzte 
die  Taufe.  Nach  dem  Pastor  Hermae  und  nach  Tertullian  de  resurrect. 
carnis  43  gelangten  blos  die  Märtyrer  unmittelbar  nach  dem  Tode  in  das 
Paradies,    wie    auch  nach   den  älteren  Griechen  nur    die  Heroen   in    das 


1)  u4i  tjjg  neyrtjxoffrtig   j/LifQai,  bei  Origenes  c.  Celsum  8,  22. 
Herzog,  Klrchcngcschichte  I.  13 


jg4  Erste  Periode  des  alten  Katbolicismas. 

Elysium  oder  auf  die  Inseln  der  Glückseligen,    deren  Lage   gerade  so  wie 
die   des  Paradieses   gedacht   wurde,    gelangten.     Doch   hatte   die  Kirche 
keineswegs  festgesetzt,  dass  nur  die  Märtyrer  unmittelbar  nach  dem  Tode 
ins  Paradies  gelangten.    Immerhin  wurde  ihnen  grosse  Verehrung  zu  Theil, 
die  aber  innerhalb  bestimmter  Grenzen  festgehalten   wurde.     Mit  Sorgfalt 
wurden  ihre  sterblichen  Ueberreste  bestattet.     An   ihrem  Todestage   vcir- 
sammelte  sich  die  Gemeinde  auf  ihren  Gräbern;    es    wurden  Erzählungen 
von  ihrem  Märtyrerthum  vorgelesen.     Man  feierte  das  Abendmahl  im  Be- 
wusstsein  der  fortwährenden  Gemeinschaft  mit  ihnen ;  das  nannte  man  nach 
dem  Sprachgebrauche  jener  Zeit  oblationes,  sacrificia  pro  martyribm,  wo- 
bei,  was   wohl  zu  beachten,    noch  Fürbitte   für  sie  eingelegt  wurde,    ein 
Gebrauch,   der  bis  auf  Augustin's  Zeit  fortdauerte.    In  Beziehung  auf  die 
Vorwürfe  der  Heiden  und  der  Juden,  dass  die  Christen  die  Märtyrer  mehr 
als  Christum  selbst  verehrten,   drückte   sich  die  Gemeinde  von  Smyrna  in 
ihrem  encyklischen  Schreiben  über  den  Tod   ihres  Bischofs  Polykarp  (bei 
Euseb.  4,  15)  so  aus:    ;, Christum  beten  wir  an  als  Sohn  Gottes,  die  Mär- 
tyrer aber  lieben  wir  wegen  ihrer  unübertrefflichen  Liebe  zu  ihrem  Herrn, 
wie  denn  auch  wir  ihre  Mitgenossen  und  Mitjünger  zu  werden  wünschen.^  — 
^Wir  nahmen,  so  fährt  das  Schreiben  fort,  —  seine  (Polykarps)  Gebeint, 
die  köstlicher  sind  als  Silber  und  Gold,   und  legten  sie  an  dem  geziemen- 
den Orte  nieder.    Gott  wird  uns  verleihen ,  dass  wir  uns  da  in  Freude  und 
Jubel  versammeln  und  das  Geburtsfest  seines  Märtyrerthums   feiern  zum 
Andenken    an   die   abgeschiedenen  Kämpfer  und  zur  Uebung  und  Rüstung; 
derjenigen,  welchen  der  Kampf  noch  bevorsteht.^     Diess   der  unschuldige 
menschlich -schöne    Anfang   der  nachher  so  abgöttisch   gewordenen  Heili- 
genverehrung.   Uebrigens  waren  das  keine  allgemeinen  Feste;  jede  Kirche 
feierte  nur  das  Andenken  ilirer  besonderen  Märtyrer.  —    Diese  Märtyrer- 
feste knüpften  sich   an   die  fromme  Sitte,    dass    die  Verwandten  der  Ver- 
storbenen überhaupt  den  Todestag  derselben  religiös  begingen.    Es  wurde 
das  Abendmahl  genossen  im  Bewusstsein  der   fortdauernden  Gemeinschaft 
mit  den  Verstorbenen.    Man  brachte  in  ihrem  Namen,  als  ob  sie  noch  am 
Leben  wären,    eine  Gabe  in  die  Kirche.     In  dem  der  Communion  voran- 
gehenden Gebete  wurde  dann  auch  für  die  Verstorbenen  gebetet  ^). 


Drittes  Capitel.    Der  Gottesdienst  im  Ganzen  und  die  einzelnen 
Handlungen  desselben  2). 

Vom  sonntäglichen  Gottesdienste  gibt  uns  das  erste  Bild  der 
früher  (S.  47)  angeführte  Bericht  des  Plinius  an  Trajan  (ep.  X,  96)  nach  den 
Aussagen  der  Inquirirten:  vor  Tagesanbruch  versammelte  sich  die  Ge- 
meinde an  einem  bestimmten  Tage,  der  kein  anderer  als  der  Sonntag  sein 
kann.    Die  Gläubigen  intonirten  mit  Antiphonieen  ein  Lied  Christo  zu  Ehren, 


1)  TertuUian  de  Corona  etc.  oblationes  pro  defunctis  annua  die  facinms. 

2)  S.  insbesondere  Har na ck,  der  christliche  Gemeindegottesdienst  im  apostolischen 
und  altkatholischen  Zeitalter  1854.    Ein  Gegenstück  zu  unserer  Darstellung. 


Der  Gottesdienst  und  dessen  einzelne  Handlungen.  195 

(carmen  de  Christo)  hörten  darauf  eine  Ermahnung  zum  tugendhaften 
Leben  an,  und  verpflichteten  sich  eidlich,  keinen  Diebstahl  noch  Ehebruch 
zu  begehen ,  das  gegebene  Wort  nicht  zu  brechen ,  das  ihnen  Anvertraute 
nicht  abzuläugnen.  Darauf  ging  die  Versammlung  auseinander  und  kam 
später  wieder  zusammen,  um  Speise  zu  sich  zu  nehmen,  jedoch  gewöhn- 
liche und  unschuldige  (nicht  ein  thyesteisches  Mahl,  dessen  man  die  Chri- 
sten beschuldigte).  Mithin  wurde  damals  die  Comnmnion  noch  nicht  am 
Morgen  administrirt,  sondern  des  Abends,  und  zwar  in  Verbindung  mit 
einer  Agape. 

Schon  verändert  und  etwas  mehr  ausgebildet  ist  dieser  sonntägliche 
Gottesdienst  nach  der  Beschreibung  von  Justinus  Martyr  (I.  apol.  c.  67): 
^An  demjenigen  Tage,  den  man  den  Sonntag  nennt,  versammeln  sich  die 
Christen,  welche  in  den  Städten  und  in  der  umliegenden  Landschaft  woh- 
nen, an  einem  gemeinschaftlichen  Orte.  Der  Gottesdienst  beginnt  mit  dem 
Lesen  der  Denkwürdigkeiten  der  Apostel  i) ,  oder  der  Schriften  der  Pro- 
pheten, soweit  die  Zeit  es  gestattet.  Wenn  die  Vorlesung  zu  Ende  ist, 
so  ermahnt  der  Vorsteher  (Bischof)  die  Versammlung,  den  Tugenden  nach- 
zustreben, wovon  der  vorgelesene  Abschnitt  der  Schrift  Zeugniss  gibt. 
Hernach  stehen  wir  alle  auf  und  verrichten  Gebete.  Nach  dem  Gebete 
begrüssen  wir  uns  mit  dem  heiligen  Kusse  {(fi'lruia  ayiov)  nach  einer  im 
apostolischen  Zeitalter  eingeführten  Sitte.  Darauf  wird  dem  Vorsteher  der 
Brüder  Brod  und  Wein,  nach  antiker  Sitte  mit  Wasser  vermischt,  dar- 
gebracht. Der  Vorsteher  spricht  darüber  Lob  -  und  Dankgebete ,  so  gut 
er  es  vermag  2) ,  und  alles  Volk  spricht  dazu  Amen.  Hernach  erfolgt  die 
Vertheilung  von  Brod  und  Wein,  worüber  das  Dankgebet  gesprochen  wor- 
den, unter  jeden  Einzelnen,  und  den  Abwesenden  wird  es  durch  die 
Diakonen  zugeschickt.  Die  Wohlhabenden,  überhaupt  Alle,  die  den  Willen 
dazu  haben,  geben  nach  ihrem  freien  Belieben  Almosen.  Man  sammelt 
sie  und  legt  sie  bei  dem  Vorsteher  nieder;  dieser  vertheilt  sie  unter  die 
Waisen,  die  Wittwen,  unter  die,  welche  wegen  Krankheit  oder  aus  einer 
anderen  Ursache  in  der  Noth  sind,  unter  die  um  des  Glaubens  willen  in 
den  Gefängnissen  Befindlichen  sowie  unter  die  Fremden,  überhaupt  unter 
Alle,  welche  einer  Unterstützung  bedürfen.  Wir  versammeln  uns  am  Sonn- 
tage; weil  es  der  erste  Tag  ist,  an  welchem  Gott  die  Finsterniss  ver- 
scheuchend die  Welt  schuf,  und  weil  an  demselben  Tage  unser  Herr  Jesus 
Christus  von  den  Todten  auferstanden  ist.'' 

Noch  mehr  ausgebildet  erscheint  der  sonntägliche  Gottesdienst  in  den 
apostolischen  Constitutionen  2,  57,  welche  die  gottesdienstliche  Ordnung 
von  193  bis  324  darstellen  sollen,  soweit  sich  darüber  etwas  feststellen 
lässt.  Die  Vermuthung  ist  gegründet,  dass  der  Gottesdienst  in  den  ruhi- 
gen Zeiten  zwischen  der  valerianischen  und  der  diocletianischen  Verfolg- 
ung diese  Gestalt  hatte. 


1)  nno^yrjjuopfv/iinia  tw»/  anoojoXMy,  nach  den  neuesten  und  besten  Forschungen 
unsere  kanonischen  Evangelien. 

2)  Justin  kennt  also  noch    keine    stehenden  Gebetsfonnulare.      So   fasst   die  Sache 
auch  Harnack  a.  a.  0.  S.  279. 

13* 


igg  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Nach  einer  Verordnung  über  die  Einrichtung  der  Kirchen,  die  gegen 
Osten  gewendet  sein  sollen,  folgen  solche,  betreffend  die  Ordnung  in  der 
Versammlung,  so  dass  die  Geistlichen  und  die  Laien  gesondert  sind,  unter 
diesen  Mcänner  und  Weiber  gesondert,  und  beide  wieder  in  verschiedene 
Classen  (ta^eig)  vertheilt.  Junge,  Alte,  Verheirathete ,  Wittwen.  Die 
Diakonen  sollen  Jedem  beim  Eintritt  in  die  Kirche  seinen  Platz  anweistm 
und  für  Ruhe  und  Anstand  in  der  Versammlung  sorgen.  In  der  Mitte  d«3r 
Kirche  soll  der  Lector  von  einem  erhöhten  Orte  herab  abwechselnd  vor- 
lesen aus  dem  Pentateuch,  Josua,  Richter  und  anderen  heiligen  Schriften, 
aus  Hiob,  den  Schriften  Salomo's  und  den  Propheten.  Nach  Vorlesung 
von  je  zwei  Abschnitten  soll  ein  anderer  Diakon  die  Psalmen  Davids  an- 
stimmen, und  das  Volk  leise  die  Versanfänge  ertönen  lassen.  Darauf  folgt 
eine  Vorlesung  aus  der  Apostelgeschichte,  aus  den  Briefen  Pauli  und  den 
Evangelien.  Nach  Vorlesung  des  evangelischen  Abschnittes  sollen  alle 
Presbyter,  Diakonen  und  Laien  aufrecht  stehen  (offenbar  um  die  Vorträge 
anzuhören);  denn  es  heisst  Deuteron.  27,  19:  Schweige  und  höre,  Israel. 
Der  Reihe  nach  sollen  nun  die  Presbyter  das  Volk  ermahnen,  doch  nicht 
alle  jedesmal,  zuletzt  von  allen  der  Bischof.  Darauf,  nach  Entfernung  de;' 
Katechumenen  und  Pönitenten  beten  alle  aufrecht  stehend  und  gegen  Mor- 
gen gewendet.  Die  Diakonen  nehmen  die  Opfergaben  'in  Empfang  und 
weisen  das  Volk  zur  Ruhe.  Der  neben  dem  Bischof  stehende  Diakon  ruft : 
^,es  habe  keiner  etwas  gegen  den  anderen,  es  sei  keiner  hier  in  heuch- 
lerischer Gesinnung"  i).  Dann  begrüssen  alle  einander  mit  dem  heiliger- 
Kusse,  doch  Männer  und  Weiber  gesondert.  Darauf  spricht  der  Diakor 
ein  Gebet  für  die  gesammte  Kirche  und  für  die  ganze  Welt  und  alle  ihre 
Theile,  für  die  Priester  (isgeig)  und  die  weltlichen  Obrigkeiten,  für  den 
Oberpriester  (aQxieQsvg,  Bischof)  und  den  König  (wobei  die  Voranstellung 
der  geistlichen  Obern  zu  beachten  ist).  Darauf  ertheilt  der  Oberpriester 
den  Segen  nach  Anleitung  von  Numeri  6,  24— 26.  Dann  geschieht  das 
Opfer  iSvaia)  2),  während  das  aufrechtstehende  Volk  still  betet.  Wenn 
das  Opfer  dargebracht  ist,  soll  jede  Classe  der  Anwesenden,  abgesondert 
von  den  übrigen,  Leib  und  Blut  des  Herrn  empfcingen ,  mit  Scheu  und 
Furcht,  als  hinzutretend  zum  Leibe  eines  Königs.  Die  Weiber  sollen 
hinzutreten  mit  verhülltem  Haupte,  wie  es  sich  für  die  Weiber  geziemt.  — 
Die  Thüren  sollen  bewacht  werden,  damit  kein  Ungläubiger  oder  nicht 
Eingeweihter  eintrete. 

Was  die  einzelnen  Handlungen  des  Gottesdienstes  betrifft,  so  erscheint 
an  erster  Stelle,  wie  wir  so  eben  gesehen  haben,  das  Vorlesen  der 
heiligen  Schrift  durch  eigens  dazu  bestellte  Vorleser,  Nachahmung  der 
jüdischen  Sitte,  selbstverständlich  in  der  dem  Volke  verständlichen  Sprache; 
das  waren  in  den  meisten  Gegenden  des  römischen  Reiches  die  griechische 
und  die  lateinische  Sprache.   Selbst  in  Rom  war  bis  in  die  Mitte  des  di'itten 


1)  Diese  Formeln  hat  Oekolampad  in"" die  Basler  Liturgie  des   heiligen  Abendmahls 
aufgenommen ,  und  sie  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  darin  verblieben. 

2)  Mf^TK  Tavrct  yiu€<rfho)  rj  (^vßtn\    ~    was   bei  Justin  noch  unter  die  Ausdrücke 
Lob-  und  Dankgebete  sich  versteckt,  ist  hier  mit  den  Gaben  deutlich  als  Opfer  bezeichnet. 


Der  Gottesdienst.    Die  Schriftlesung  und  Predigt.  197 

Jahrhunderts  die  griechische  Sprache  neben  der  lateinischen  die  herrschende. 
Doch,  ob  der  Gottesdienst  in  Rom  anfänglich  griechisch  abgehalten  wurde,  dar- 
über fehlen  die  genaueren  Angaben;  wenn  es  der  Fall  war,  so  wurde  er  dadurch 
zugänglicher  für  die  vielen  Gläubigen  aus  dem  Morgenland,  die  sich  immerfort 
in  Rom  einfanden.  Eine  Zeitlang  wurden  auch  nicht  kanonische  Schriften 
vorgelesen,  z.  B.  der  Pastor  Hermae,  des  Clemens  Brief  an  die  Korinther  und 
zwar  nicht  blos  in  dieser  Stadt  (Euseb  3,  16;  4,  23).  Später  wurde  diess 
unterlassen.  Es  scheint  überhaupt  niemals  in  allen  Gemeinden  gebräuch- 
lich gewesen  zu  sein.  Dass  die  Briefe,  die  gewisse,  angesehene  Bischöfe, 
z.  B.  Dionysius  von  Korinth  an  andere  Gemeinden  richteten,  —  wie  denn 
dieser  Dionysius  eine  ziemliche  Anzahl  derselben  verfasst  hat  — ,  bei  dem 
Empfang  derselben  in  den  Gemeindeversammlungen  vorgelesen  wurden, 
ergab  sich  von  selbst,  aber  nur  wenigen  widerfuhr  die  Ehre  eines  wieder- 
holten Vorlesens.  Die  Vorträge,  die  sich  an  das  Vorgelesene  anschlössen, 
waren  sehr  einfacher  und  vertraulicher  Art,  daher  ofiiXtat  genannt,  wohl 
nicht  von  der  jüdischen  Synagoge  entlehnt,  wo  die  Gemeindeglieder  reli- 
giöse Fragen  aufwarfen,  die  der  jedesmal  Vortragende  beantwortete;  denn 
diese  Gesprächsform  lässt  sich  bei  der  christlichen  Predigt  nicht  nach- 
weisen. Möglich  ist  es,  dass  anfangs,  als  Redefi'eiheit  gestattet  war,  sich 
die  Gesprächsform  bisweilen  ergab.  Auf  jeden  Fall  bedeutet  der  Ausdruck 
Homilie  eine  vertrauliche  Ansprache.  Im  griechischen  Morgenlande  waren 
diese  Ansprachen  länger,  als  im  lateinischen  Abendlande,  und  wurden  nach 
und  nach  mit  rhetorischem  Schmucke  behaftet,  wie  z.  B.  bei  Paul  von 
Samosata,  dem  bereits  Beifall  zugeklascht  wurde.  Doch  diess  fand  Miss- 
billigung. Grosses  Verdienst  erwarb  sich  ürigenes  durch  seine  Homilieen 
über  mehrere  Bücher  der  heiligen  Schrift,  durch  die  Schriftauslegung, 
wozu  er  mächtige  Anregung  gab,  durch  die  trefflichen  homiletischen  An- 
weisungen, die  er  ertheilte  ^j.  Als  Zweck  alles  Redens  in  der  Gemeinde  sieht 
er  die  Erbauung  an,  die  ihm  sowohl  Belehrung  als  Ervveckung  ist  ^).  Auch 
der  Kirchengesang  ging  von  dem  jüdischen  Cultus  in  den  christlichen 
über.  Aus  dem  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts  haben  wir,  nach  dem 
angeführten  Berichte  des  Plinius,  das  erste  deutliche  Zeugniss,  dass  die 
Christen  in  ihren  Zusammenkünften  ein  carmen  de  Christo  sangen.  Einen 
Hymnus  auf  Christum  theilt  Clemens  Alexandrinus  am  Schlüsse  des  Paeda- 
gogus  mit.  —  Es  wurden,  wie  wir  gesehen,  auch  die  Psalmen  in  den  Ge- 
meindeversammlungen gesungen;  der  Gesang  muss  allerdings  mehr  ein 
recitativer  Vortrag,  als  eigentlicher  Gesang  gewesen  sein. 

Das  Abendmahl,  im  apostolischen  Zeitalter  täglich  gefeiert,  des 
Abends  und  in  Verl)indung  mit  einer  Agape  (1  Kor.  11,  24.  Apostelgesch. 
2,  42.  46.  Brief  Judä  v.  12),  wurde  von  Anfang  des  zweiten  Jahrhunderts 
tn  nur  noch  am  Sonntage  in  gemeinschaftlicher  Feier  genossen,  zunächst 
zwar  noch  des  Abends  und  in  Verbindung   mit  einer  Agape,   wie  der  Be- 


1)  Der  Ausdruck  of^Ufty  kommt  vor  von  den  Ansprachen  in  den  Gemeindever- 
sammlungen Apostelgesch.  20,  11.  Siehe  überhaupt  über  diesen  Gegenstand,  Paniel, 
Gescliichte  der  christlichen  Beredtsamkeit  und  Homiletik. 

2)  Kedepeuuing  2,  248. 


198  Erste  Periode  des  alten  Katholicismns. 

rieht  des  Plinius  es  beweist.  In  manchen  Gegenden  ist  das  Abendmahl 
vielleicht  niemals  täglich  administrirt  worden.  Im  Laufe  des  zweiten  Jahr- 
hunderts wurde  die  Agape  vom  Abendmahl  getrennt  und  dieses  mit  dem 
sonntäglichen  Morgengottesdienste  verbunden.  Die  Agapen  erhielten  sich 
in  einigen  Gegenden,  verbunden  mit  Gebet  und  gewürzt  mit  erbaulichen 
Gesprächen  (Tert.  apol.  c.  39).  Doch  waren  noch  immer  Uebelstände  da- 
mit verbunden  (Tert.  de  jej.  c.  17.  Clemens  Alexandrinus  im  Paedagogus); 
die  Reichen  nämlich  veranstalteten  solche  Mahlzeiten  und  meinten  damit 
ein  Gott  besonders  wohlgefälliges  Werk  zu  verrichten.  Daher  an  manchen 
Orten  die  alte  Sitte  in  Verfall  gerieth  und  verachtet  wurde,  wogegen 
noch  das  Concil  von  Gangra  (c.  360)  sich  aussprach. 

So  lange  die  Agape  und  das  Abendmahl  mit  einander  verbunden 
waren,  machte  die  Feier  des  letzteern  keinen  Theil  des  Gottesdienstes  aus. 
Am  Abendmahl  nun  konnte  natürlich  kein  Ungläubiger  oder  Unge taufte r 
Theil  nehmen,  wohl  aber  an  dem  Gottesdienste  des  Morgens,  der  ohne 
Abendmahl  gefeiert  wurde.  Aus  1.  Kor.  14,  23—25  erhellt,  dass  Ungläu- 
bige, d.  h.  Heiden  zugelassen  wurden,  weil  sie  dabei  heilsame  Eindrücke 
erhalten  konnten.  Die  Oelfentlichkeit  des  Gottesdienstes  war  auch  das 
beste  Mittel,  die  Unschuld  der  Christen  ins  Licht  zu  stellen,  die  ja  schon 
seit  geraumer  Zeit  durch  abscheuliche  Verläumdungen  angegriffen  wurde. 
Seitdem  nun  das  Abendmahl  nicht  mehr  am  Abend  gehalten,  sondern  mit  dem 
sonntäglichen  Morgengottesdienste  verbunden  wurde,  kam  der  Gebrauch 
auf,  dass  man- die  Katechumenen  und  Büssenden  vor  der  Feier  des  Abend- 
mahls entliess.  Bei  dem  Abendmahle  wurde  gewöhnliches  Brod  (xoipöc 
aQtog,  wie  Justin  sagt),  gebraucht.  Denn  diejenigen  Gemeinden,  welche 
der  Johanneischen  Relation  folgten,  hatten  keine  Veranlassung,  ungesäuer- 
tes Brod  zu  nehmen,  und  die  der  synoptischen  Relation  folgenden  setzten 
sich  über  diesen  Unterschied  von  der  jüdischen  Passahfeier  hinweg.  Doch 
scheinen  die  kleinasiatischen  Gemeinden,  dieselben,  welche  so  eifrig  am 
vierzehnten  Nisan  hingen,  ungesäuertes  Brod  gebraucht  zu  haben.  Der 
Wein  wurde ,  nach  antiker  Sitte ,  mit  Wasser  vermischt ,  obwohl  die  Juden 
am  Passahfeste  den  Wein  unvermischt  tranken.  Das  Abendmahl  wurde 
bekanntlich  in  beiden  Gestalten  und  zwar  nicht  knieend,  sondern  stehend 
empfangen. 

In  manchen  Kirchen,  namentlich  in  den  nordafrikanischen,  hielt  man 
die  tägliche  Communion  für  nothwendig,    in  Gemässheit   der  Bitte:    unser 
tägliches  Brod  gib  uns  heute,    die    neben    dem   buchstäblichen  Sinn   auch 
einen  geistlichen  Sinn  habe,   betreffend  das  Brod  des  Abendmahles.    (Cy- 
prianus  de  oratione  c.  18).     Da  aber  in  den  Gemeindeversammlungen  das 
Abendmahl  nur  am  Sonntage  ausgetheilt  wurde,  so  blieb  nichts  übrig,   als 
einen  Theil  des  gesegneten  Brodes  mit  nach  Hause   zu   nehmen,   welch^ 
nun,  privatim  genossen,  die  Stelle  der  ganzen  Communion  vertrat,  —  die 
erste  Spur  einer  Communion  unter  Einer  Gestalt.    So    genoss  denn  Jeder;, 
zu  Hause  nach  dem  Morgengebet  mit  den  Seinigen  das  Abendmahlbrod.    Aus-! 
serdem  fand  das  Abendmahl  statt  bei  der  Taufe  Neubekehrter.     Seit  dem  j 
Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  gab  man  auch  den  neugeborenen  Kindern  j 
unmittelbar  nach  der  Taufe  die  Communion.  Da  man  nämlich  Joh.  6  die  Rede  Jesu . 


Der  Gottesdienst.    Das  Abendmahl.  199 

vom  Essen  seines  Fleisches  und  Trinken  seines  Blutes  direct  auf  das  Abendmahl 
bezog,  so  wären  die  Kinder,  welche  starben,  ohne  das  Abendmahl  empfangen 
zu  haben,  der  Seligkeit  verlustig  gewesen  (Cyprian  de  lapsis  c.  2b).  Doch 
diess  war  melir  oder  minder  vereinzelte  Vorstellung  und  Praxis.  Immer- 
hin zeigt  sich  darin  eine  Veräusserlichung  des  geistigen  Actes  der  Com- 
munion,  wie  denn  die  frommen  Geschichten,  die  Cyprian  bei  diesem  An- 
lasse erzählt,  an  das  Magische  grenzen.  Wenn  die  Kinder  noch  nicht  im 
Stande  waren,  Brod  zu  essen,  wurde  ihnen  etwas  vom  Abendmahls- Wein 
eingegossen,  doch  diess  nicht  allgemein,  aus  dem  Grunde,  weil  die  Kin- 
dertaufe nicht  allgemein  eingeführt  war. 

In  der  vorstehenden  Darstellung  ist  von  einem  mit  dem  Abend- 
mahl verbundenen  sichtbaren,  materiellen  Opfer,  welches  der 
Communion  vorausging,  sowie  von  dieser  als  von  dem  Empfang  des 
Leibes  und  Blutes  des  Herrn  die  Rede  gewesen.  Diese  zwei  Punkte 
erheischen  eine  genaue  Erörterung  i). 

Nichts  sieht  weniger  einer  Opferhandlung  ähnlich ,  als  das  letzte  Mahl 
des  Herrn  mit  seinen  Jüngern,  gleichviel  ob  wir  es  mit  den  synoptischen 
Evangelien  als  Passahmahlzeit  oder  mit  Johannes  als  dem  Passah  voraus- 
gehende gewöhnliche  Mahlzeit  auffassen.  Das  Abendmahl  ist  sogar  der 
directe  Gegensatz  vom  Opfer  und  schliesst  es  geradezu  aus.  Die  Opfer- 
handlung setzt  ein  zu  opferndes  Object  voraus,  welches  der  Opfernde  Gott 
darbringt,  um  ihm  seinen  Dank  zu  bezeugen  oder  dessen  Gnade  sich 
zuzuwenden.  Im  Abendmahl  aber  sind  es  nicht  die  Theilnehmenden ,  die 
da  geben,  sondern  der  Herr  gibt  und  die  Jünger  sind  die  Empfangenden, 
üeberdiess  wissen  wir  ja,  dass  im  neuen  Bunde,  wovon  das  Abendmahl  die 
rituelle  Einweihung  ist,  alle  sichtbaren,  materiellen  Opfer  durch  das  einige 
Opfer  Christi  abgethan  sind,  jene  Opfer,  die  schon  durch  die  Propheten 
virtuell  waren  abgethan  worden.  Das  Neue  Testament  spricht  wohl  noch 
von  Opfern  im  geistigen  Sinne,  wozu  alle  Gläubigen  berufen  sind  1.  Petri  2, 
5.  9;  der  Brief  an  die  Hebr.  13,  16  nennt  die  Almosen  Opfer,  an  de- 
nen Gott  Wohlgefallen  habe,  Paulus  ermahnt  die  Gläubigen,  ihre  Leiber 
Gott  als  Opfer  darzubringen  Rom.  12,  1.  Aber  das  Alles  hat  nichts  zu 
schaffen  mit  dem  sichtbaren  Opfer  im  Abendmahl.  Man  kann  sich,  um  die 
Opferidee  zu  beweisen,  auch  nicht  darauf  berufen,  dass  der  Herr,  ehe  er 
die  Elemente  austheilte ,  nach  dem  Vorbilde  des  jüdischen  Familienvaters 
den  Segen ,  den  Dank  sprach.  Dieser  Segen ,  dieser  Dank  war  kein  Opfer 
und  auch  nicht  die  Einleitung  dazu.  Der  Herr  segnet  und  dankt  noch  bei 
anderen  Mahlzeiten  (Job.  6,  11.  Matth.  15,  36.  Luc.  24,  30),  sowie  auch 
Paulus  (Apostelgesch.  27,  35). 

Wie  so  kam  denn   die  Idee  eines  sichtbaren,  materiellen  Opfers  in 
den  geschlossenen  Kreis  der   altchristlichen  Anschauung?    Da  in  der  Ein- 


1)  Siehe  Ebrard,  das  Dogma  vom  heiligen  Abendmahl  und  seine  Geschichte 
1845.  —  Kahnis,  dieLehre  vom  Abendmahl  1851.  —  Eückert,  das  Abendmahl,  sein 
Wesen  und  seine  Geschichte  1856.  —  Steitz,  die  Abendmahlslehre  der  griechischen 
Kirche  u.  s.  w.  in  den  Jahrbüchern  für  deutsche  Theologie  1864  —  1867.  —  Höfling, 
die  Lehre  der  ältesten  Kirche  vom  Opfer  im  Loben  und  Cultua  der  Christenheit  1851. 


200  Etste  Periode  des  alten  KatliolicismüS. 

Setzung  des  Abendmahls  durch  den  Herrn  weder  direct  noch  indirect  die 
leiseste  Andeutung  davon  gegeben  war,  so  muss  sie  von  aussen  her  hin- 
eingetragen worden  sein.  Ein  der  ursprünglichen  Einsetzung  völlig  frem- 
der Gebrauch,  an  sich  von  zufälliger  Natui*,  schon  seit  undenklichen  Zeiten 
aufgegeben,  ist,  wenn  nicht  die  eigentliche  Ursache,  so  doch  die  Veran- 
lassung geworden  für  die  Entstehung  eines  sichtbaren  mit  dem  Abendmahl 
verbundenen  Opfers.  Denn  dieser  Gebrauch  hätte  die  genannte  Veran- 
lassung nicht  darbieten  können,  wenn  die  Geister  dazu  nicht  vorbereitet 
gewesen  wären  durch  ihre  ererbten  religiösen  Vorstellungen  und  wenn  man 
den  Opferbegritf,  obgleich  auf  noch  so  künstliche  und  willkürliche  Weise, 
mit  den  Angaben  der  Schrift  nicht  zu  vereinbaren  gewusst  hätte.  Wir 
stehen  hier  bei  dem  punctum  sallens  einer  unbiblischen  Lehre  und  Praxis, 
die  seitdem  in  riesigen  Dimensionen  sich  entwickelt  hat. 

Der  aus  dem  apostolischen  Zeitalter  herrührende  Gebrauch,  das;^ 
die  Gläubigen  für  die  Agapen  Speise  und  Trank  herzubrachten,  die  nun 
gemeinsam  genossen  wurden,  dieser  Gebrauch  bestand  fort  und  fort,  auch 
nachdem  das  Abendmahl  von  der  Agape  abgesondert  und  am  Morgen  ge- 
feiert wurde.  Diese  Gaben  der  Gläubigen,  aus  Brod  und  Wein  bestehend 
dienten  auch  zum  Unterhalte  des  Klerus  und  zur  Unterstützung  der  Armen 
In  der  Sprache  des  Volkes ,  die  übrigens  mit  Hebr.  13,  16  übereinstimmte, 
nannte  man  diese  Gaben  Darbringungen,  (jiQogcpoQai,  ohlationes), 
auch  Opfer,  {^vtriat,  sacrificia).  Es  galt  als  Grundsatz,  dass  Niemand 
ohne  solche  Gabe  sich  dem  Tische  des  Herrn  nahen  durfte.  Daher  Cy- 
prian  (de  opere  et  eleemosynis  c.  15)  eine  reiche  Dame,  die  nicht  geopfert 
hatte,  scharf  rügt:  „du  bist  reich,  und  du  bildest  dir  ein,  das  Mahl 
des  Herrn  zu  feiern,  du,  die  du  einen  Theil  des  von  den  Armen  dargebrach- 
ten Opfers  verzehrst"?  Der  Bischof  spricht  hier,  sich  dem  Volksausdrucke 
anbequemend.  Denn,  da  man  im  Alterthum  keinen  Gottesdienst  ohne 
sichtbares,  materielles  Opfer  sich  denken  konnte,  so  war  das  Volk  froh, 
in  jenen  Darbringungen  ein  Aequivalent  der  abgethanen  heidnischen  Opfer 
unter  anderer  Form  zu  finden.  So  wurde  die  Feier  des  Abendmahls 
nach  diesem  von  aussen  herbeigezogenen  Gebrauche  benannt.  Das  Abend- 
mahl gemessen,  das  hiess  opfern,  —  es  geniessen  im  Andenken  an  die 
Märtyrer  oder  an  andere  Verstorbene,  das  hiess  für  dieselben  Opfer  dar- 
bringen. Denn  die  Communicanten  bestritten  durch  ihre  Darbringungen 
die  Kosten  der  Communion  (Tert.  de  Corona  c.  2;  de  exhortat.  castit. 
c.  11;  de  monogamia  c.J  10.  Cyprian  ep.  34.  37).  Die  Vorwürfe,  welche 
die  Heiden  gegen  die  Christen  erhoben  wegei>  ihres  opferlosen  Cultus,  ^ 
haben  gewiss  dazu  beigetragen ,  die  Christen  in  dieser  Anschauungsweise  1 
zu  bestärken.  Von  Anfang  an  war  aber  noch  ein  anderer  Ausdruck  für  * 
dieselbe  Sache  aufgekommen,  der  Ausdruck  evxccQKTtia  für  Brod  und 
Wein,  worüber  das  Danksagungsgebet  gesprochen  worden.  Die  Art  wie 
Justin  (1  apol.  66)  i)  und  Origenes  (c.  Celsuni  8,  33)  2)  davon  reden ,  zu- 
sammengestellt mit  den  übrigen  Auslassungen    der  Väter   über    denselben 

1)  Kat  ttVTt]  j   TQ0(p?j  xalfiTttt   nng'   ij^ip  fvxttQterta, 

2)  uiQxog  evxagiCTitt  xaXov^evog, 


Der  Gottesdienst.    Der  Öpfercnltus.  201 

Gegenstand,  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  sie  den  populären  Ausdruck  im 
Auge  haben.  Das  Missliche  in  dieser  Sache  war,  dass  die  Einsetzung  des 
Herrn  nach  dem  benannt  wurde,  was  der  Mensch  dazu  gab,  dabei  that,  — 
was  den  Ausdruck  Eucharistie  betrifft,  zwar  mit  Anschliessung  an  das, 
was  der  Herr  gethan,  jedoch  in  veränderter  Bedeutung. 

Die  Väter  eigneten  sich  diese  Anschauungsweise  und  Ausdrucksweise 
an,  aber  nicht  ohne  sie  nach  der  Norm  der  Schrift  zu  begrenzen  und  zu 
berichtigen,  und  eben  daraus  schliessen  wir,  dass  die  Verbindung  des 
Abendmahls  mit  der  Opferidee  den  erwähnten  volksmässigen  Ursprung  hat. 
Doch  so  löblich  die  Bemühungen  der  Väter  in  dieser  Hinsicht  sein  mögen,  so 
sehr  sie  im  Einzelnen  Richtiges  vorbringen,  so  gelingt  es  ihnen  doch  nicht, 
den  keimenden  Irrthum  auszureissen ;  sie  lassen  den  Keim,  die  Wurzel 
stehen  und  legen  so  unbewusst  und  unwillkürlich  den  Grund  zu  verstärk- 
tem Irrthum. 

Nach  den  ersten  Spuren  des  Opfercultus  bei  Clemens  1  Kor.  c.  40. 
41.  44  ^j  finden  wir  bei  Justinus  Martyr  diesen  Opfercultus  schon  viel 
mehr  ausgeprägt,  in  Verbindung  leider!  mit  einem  Glauben  an  Christum, 
der  ihn  mehr  als  Lehrer  (öiSaaxaXog  1  Apol.  13)  denn  als  Versöhner 
auffasst.  Vor  allem  ist  zu  beachten,  was  Justinus  a.  a.  0.  zur  Rechtfer- 
tigung des  opferloseu  Cultu.s  der  Christen  sagt:  Sie  bringen  Gott  keine 
blutigen  Opfer,  noch  Libationen,  noch  Weihrauch,  dar,  —  deren  er  nicht 
bedarf.  Sie  erachten,  die  einzig  wahre  Verehrung,  die  sie  ihm  darbringen 
können,  bestehe  nicht  darin,  durch  Feuer  zu  verzehren,  was  er  ihnen  zur 
Nahrung  gegeben,  sondern  es  füi'  sich  selbst  zu  gebrauchen  und  es  den 
Dürftigen  mitzutheilen.  Doch  sieht  er  Brod  und  Wein  des  Abendmahles 
als  Opfer  (^vaiai)  an;  sie  sind  das  reine  Opfer,  wovon  Maleachi  1,  11 
spricht,  das  Gott  überall  unter  den  Völkern  dargebracht  wird  (Dialog  c.  41. 
116).  Diese  sichtbaren  Opfer  verschmelzen  sich  aber  mit  den  Gebeten  und 
Danksagungen,  die  nun  doch,  sofern  sie  nämlich  von  den  Christen,  nicht  von 
den  Juden  verrichtet  werden,  „die  einzig  wahren,  vollkommenen,  Gott  wohl- 
gefälligen Opfer"  sind  (Dialog,  c.  117),  so  dass  die  Elemente  des  Abendmahles 
als  die  sinnlichen  Substrate  dieser  einzig  wahren  Opfer  aufgefasst  zu  sein  schei- 
nen. Doch  dieser  Gedanke  ist  nicht  ausgedi"ückt,  sondern  Thesis  und  Antithesis, 
die  volksmässige  Anschauung  und  die  berichtigende  theologische  Anschauung 
werden  unvermittelt  neben  einander  gestellt.  Der  Inhalt  aber  dieser 
Danksagung  oder  dieses  Opfers  ist  ziemlich  weit  hergeholt,  damit  sie  um 
so  bedeutsamer  erscheine.  Man  dankte  1)  für  die  Erschaffung  der  Welt, 
insbesondere  für  alle  trockene  und  flüssige  Nahrung,  repräsentirt  durch 
die  Gaben  von  Brod  und  Wein,  2)  für  die  Menschwerdung  des  Wortes, 
3)  für  das  Leiden  Christi  und  dessen  Wirkungen  (Dialog,  c.  41.  70).    Diese 


1)  Er  kennzeichnet  die  Bischöfe  oder  Presbyter  als  diejenigen,  welche  die  Gaben 
der  Gemeinde  bei  dem  Abendmahl  darbringen  {rovg  7i()ogeyfyxovras  rrt  (fojQa).  Höfling 
weist  unwidersprcchlich  nach,  dass  Clemens  hierin  keineswegs  die  katholische  Messopfer- 
lehrc  vertritt;  das  Neue  und  Auffallende  der  Sache  ist,  im  Vergleiche  mit  der  Art,  wie 
Paulus  das  Amt  und  die  Functionen  der  Bischöfe  beschreibt,  dieses,  dass  Clemens  über- 
haupt von  einem  Opferdienst  derselben  redet,  wovon  Paulus  nichts  weiss. 


202  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Danksagung,  gesprochen  über  die  Elemente,  bildete  die  eigentliche  Opfer- 
handlung und  war  zugleich  die  Consecration,  wodurch  Brod  und  Wein,  Leib 
und  Blut  Christi  wurden  (1.  Apol.  c.  66).  Brod  und  Wein,  nachdem  sie 
diese  Consecration  empfangen,  hiessen  nun  selbst  Eucharistie,  so  dass 
dasselbe  Wort  die  Danksagung,  die  Consecration,  die  Opferhandlung  und 
die  consecrirten  Elemente  bedeutete.  Demnach  ruht  für  Justin  der  Schwer- 
punkt der  ganzen  Eeier  des  Abendmahles  nicht  in  der  Comnmnion,  son- 
dern in  der  eucharistischen  Consecration,  und  zwar  in  solchem  Grade,  dass 
Justin  im  Interesse  dieser  Idee  sich  erlaubt,  die  Reihenfolge  in  den  Wor- 
ten der  Einsetzung  und  den  Sinn  dieser  Worte  zu  ändern.  ;,Der  Herr 
nahm  das  Brod,  dankte  und  sprach:  dieses  thut  zu  meinem  Gedächtniss. 
Das  ist  mein  Leib.  Gleicherweise  nahm  er  den  Kelch,  dankte  und  sprach: 
das  ist  mein  Blut,  und  befahl,  solches  allein  ihnen,  (d.  h.  den  getauften 
Gläubigen)  zu  geben. ^  (I  Apol.  c.  66).  So  beziehen  sich  die  Worte:  thu*. 
solches  zu  meinem  Gedächtniss,  nicht  auf  die  Worte :  nelimet,  esset,  welche; 
gar  nicht  angeführt  sind,  sondern  auf  die  Consecration  mittelst  der  Dank- 
sagung, wodurch  die  Elemente  Leib  und  Blut  Christi  werden;  nicht  darauf 
legt  er  Gewicht,  dass  die  Elemente  zum  Genüsse  ausgetheilt,  sondern, 
dass  sie  nur  unter  die  getauften  Gläubigen  ausgetheilt  werden.  Denn  das 
steht  im  Zusammenhang  damit,  dass  Brod  und  Wein  durch  die  Conse- 
cration Leib  und  Blut  Christi  werden.  Dahin  also  ist  ein  Kirchenlehrer 
so  nahe  am  apostolischen  Zeitalter,  —  die  genannte  Apologie  datirt  aus 
den  Jahren  138  oder  139,  —  geführt  worden  in  Eolge  eines  Gebrauches, 
welcher  der  ursprünglichen  Einsetzung  des  Abendmahles  völlig  'fremd  ist. 
Immerhin  ist  anzuerkennen,  dass  Justin  nirgends  eine  Opferung  des  Leibes 
und  Blutes  Christi  im  Abendmahl  andeutet.  Der  deutlichste  Beweis,  dass 
ihm  ein  solcher  Gedanke  fremde  ist ,  liegt  in  der  Anführung ,  dass  Gott 
die  Opfer  der  Christen  denjenigen  der  Juden  vorzieht,  nicht  weil  jene 
Christi  Leib  und  Blut  opfern,  sondern  weil  sein  Name  durch  sie  verherr- 
licht wird.  Er  bezieht  sich  also  nicht  auf  den  Unterschied  der  Objecte, 
um  den  Opfern  der  Christen  den  Vorzug  vor  denen  der  Juden  zu  geben, 
sondern  auf  den  Unterschied  der  subjectiven  Gesinnung  beider.  Ebenso 
ist  anzuerkennen,  dass  Justin  das  allgemeine  Priesterthum  der  Gläubigen 
vollkommen  gelten  lässt.  Sie  bringen  die  Gaben  dar  als  Priester;  denn, 
sagt  er,  von  Niemand  nimmt  Gott  Opfer  an  als  durch  Vermittlung  der 
Priester  (dialog.  c.  116). 

Irena  US  kennt  und  behandelt  das  eucharistische  Opfer  und  beweist 
es  auf  dieselbe  Weise  wie  Justin,  jedoch  neue  Gesichtspunkte  aufstellend. 
Er  hat  im  Auge  die  Polemik  gegen  Gnostiker  und  Ebioniten,  und  gegen 
die  einen  wie  gegen  die  anderen  sucht  er  die  Einheit  und  Harmonie 
zwischen  beiden  Testamenten  so  wie  ihre  Verschiedenheit  ins  Licht  zu 
setzen.  Daher  stellt  er  den  Satz  auf,  dass  die  levitischen  Verordnungen 
über  die  Opfer  keineswegs  voraussetzen,  dass  Gott  der  Opfer  bedürfe, 
noch  dass  er  dadurch  gegen  uns  gnädig  gestimmt  werde.  Sie  entsprechen 
lediglich  einem  Bedürfnisse  der  Menschen.  Ihr  Zweck  ist,  die  Menschen 
mittelst  äusserlicher  Dinge  zu  geistigen  Dingen,  durch  Bilder  und  Typen 
zum  Wesen    hinzuleiten.     Zur  Bestätigung    dieser   Behauptung    führt    er 


Der  Gottesdienst.    Der  Opfercultus.  203 

mehrere  Stellen  aus  den  Psalmen  und  Propheten  an,  nach  welchen  Gott 
keine  Opfer  von  Thieren  verlangt,  weil  die  Erde  una  Alles,  was  sie  ent- 
hält, ihm  gehört,  Stellen,  in  denen  das  einzige  wahrhafte  Opfer,  das  des 
zerknirschten  Herzens,  erwähnt  wird,  und  woraus  hervorgeht,  dass  Gott 
von  den  Juden  keine  ßrandopfer  forderte,  sondern  Glaube,  Gehorsam  und 
Gerechtigkeit  zu  ihrem  Heile. 

Man  würde  darin  schwerlich  die  Prämissen  zu  einem  sichtbaren ,  ma- 
teriellen Opfer,  welches  mit  dem  Abendmahle  verbunden  wäre,  erkennen. 
Doch  stellt  Irenäus  ein  solches  auf,  zwar  nicht,  ohne  es  einigermassen  zu 
vergeistigen,  aber  auch  nicht,  ohne  den  Worten  der  Einsetzung  einen  Sinn 
unterzulegen,  der  gewiss  nicht  der  Sinn  war,  den  der  Herr  damit  ver- 
band 4,  17.  5.  ;,Seinen  Jüngern  den  Rath  gebend,  Gott  die  Erstlinge 
seiner  Creaturen  zu  opfern,  nicht  als  ob  er  deren  bedürfte,  sondern  auf 
dass  sie  nicht  unfruchtbar  und  undankbar  wären,  nahm  der  Herr  das  Brod, 
welches  von  der  (sichtbaren)  Schöpfung  herkommt  und  sprach  die  Dank- 
sagung ,  indem  er  sagte :  das  ist  mein  Leib  ^).  Ebenso  bekannte  er ,  dass 
der  Becher ,  welcher  von  der  Schöpfung  herkommt,  wozu  wir  gehören,  sein 
Blut  ist  (enthält),  und  so  setzte  er  das  Opfer  (oblatio)  des  neuen  Testa- 
mentes ein,  welches  die  Kirche  von  den  Aposteln  empfangen  hat  und 
welches  sie  in  der  ganzen  Welt  Gott  darbringt,  der  uns  die  Nahrung  gibt, 
die  Erstlinge  seiner  Gaben  im  Neuen  Testament,  von  welchem  Opfer  Ma- 
lachias  (1,  11)  gesprochen  hat."  Wie  bei  Justin  sind  die  Worte:  das  ist 
mein  Leib,  von  den  anderen  Worten  der  Einsetzung:  nehmet,  esset,  ge- 
trennt, diese  sind  wie  bei  Justin  nicht  einmal  erwähnt,  denn  sie  passten 
wie  für  Justin  so  auch  für  Irenäus  nicht,  der  ebenfalls  den  Schwerpunkt 
der  Feier  nicht  in  die  Communion,  sondern  in  die  Consecration  setzt. 
Irenäus  verfährt  noch  willkürlicher,  als  Justin,  indem  er  die  Danksagung 
deren  ursprünglicher  Begriff  ihm  schon  ganz  entschwunden  ist,  so  dass  sie 
lediglich  Consecration  ist ,  auf  die  Worte :  das  ist  mein  Leib ,  beschränkt. 
Nun  folgen  zwar  als  Cautelen  mehrere  Stellen  aus  dem  Alten  Testament, 
ähnlich  oder  gleichlautend  den  aus  Anlass  der  levitischen  Opfer  beige- 
brachten ,  damit  n  icht  der  Wahn  genährt  werde ,  als  ob  die  sichtbaren 
Opfer  genügten,  um  Gottes  Gnade  dem  Opfernden  zuzuwenden,  als  ob  nicht 
die  subjective  Gesinnung  desselben  es  sei,  wodurch  sein  Opfer  Gott  ange- 
nehm gemacht  werde.  Irenäus  schreitet  sogar  bis  zu  der  Behauptung  fort, 
dass  der  Altar  und  der  Tempel,  wo  man  die  wahren  Opfer  bringt,  nicht 
auf  der  Erde,  sondern  im  Himmel  sind;  ;,denn  gen  Himmel  sind  unsere 
Gebete  und  Opfer  gerichtet"  (4,  18,  6).  Daher  die  Sache  wie  bei  Justin 
den  Anschein  gewinnt,  als  ob  die  sichtbaren  Opfer  von  Brod  und  Wein 
nur  der  symbolische  Ausdruck  seien  des  inwendigen  Opfers  der  Seele,  die 
sich  Gott  mit  allem,  was  sie  besitzt,  hingibt.  Doch  besteht  Irenäus  darauf, 
dass  auch  im  neuen  Bunde  das  Gebot  des  Deuteronom.  (16,  16)  gelte :  „du 
sollst  vor  Gott  nicht  mit  leeren  Händen  erscheinen."  Er  hält  fest,  dass 
es  im  neuen  Bunde  wie  im  alten   sichtbare  Opfer   gebe.      Auch    im  Alten 


1)  Gratias  egit  dicens:  hoc  est  corpus  meum. 


204  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Testamente  wurden  Gott  die  Erstlinge  seiner  Creaturen  dargebracht. 
Wenn  aber  demnach  das  Genus  der  Oblationen  keine  Veränderung  erfah- 
ren hat,  so  ist  doch  die  Species  eine  andere  geworden.  Die  Veränderung 
besteht  darin,  dass  die  Oblationen  jetzt  nicht  mehr  mit  knechtischem  Sinne 
als  von  Knechten,  sondern  mit  freiem,  kindlichem  Sinne  als  von  Freien 
und  Kindern  geschehen  *).  Während  jene  gesetzlich  gezwungen  den  Zehn- 
ten von  ihrer  Habe  gaben,  widmen  diese,  weil  sie  die  Hoffnung  höherer 
Güter  haben,  all  das  Ihrige  Gott,  wie  jene  Wittwe,  die  all  das  Ihrige  in 
den  Kasten  Gottes  warf. 

Hiezu  ist  zu  bemerken:  1)  sofern  Ii'enäus  die  Verordnung  des  Deu- 
teron. 16,  16  in  ihrem  buchstäblichen  Sinn  auf  den  neuen  Bund  bezieht, 
begeht  er  eine  Verquickung  des  neuen  Bundes  durch  den  alten,  welche, 
ungeachtet  der  darauf  folgenden  Bemerkungen,  der  christlichen  Religion 
ein  gesetzliches  Gepräge  aufdi'ücken  und  die  Vorstellung  begünstigen  musste, 
dass  man  von  Gott  nichts  empfangen  könne,  es  sei  denn,  dass  ihm  zuvor 
etwas  gegeben  worden,  gleichviel  ob  es  materieller  oder  geistiger  Natu]' 
sei.  2)  In  der  ganzen  Ausfühi'ung  ist  nicht  die  leiseste  Andeutung,  dass 
Gott  Leib  und  Blut  Christi  dargebracht  werden;  im  Gegentheil,  diese  Vor- 
stellung ist  durch  die  ganze  Ausführung  geradezu  ausgeschlossen  2).  Wi€ 
hätte  Irenäus  sonst  den  Unterschied  zwischen  den  Opfern  des  alten  und  denen 
des  neuen  Bundes  blos  auf  dem  Gebiete  des  Subjectiven  gesucht  und  nur  in 
einer  Verschiedenheit  des  Sinnes  der  Darbringenden  gefunden  V  3)  Die  an- 
geführten Worte  vom  Brode,  welches  von  der  Schöpfung  herkommt  Oiui  est 
ex  creatura),  vom  Becher,  welcher  von  der  Schöpfung  herkommt,  wozu  wir 
gehören  (qui  est  ex  ea  creatura,  quae  est  secundum  nos) ,  betreffen  die 
Polemik  gegen  die  Gnostiker.  Dass  diese  Polemik  selbst  auf  dieses  der- 
selben fern  liegende  Gebiet  übertragen  wurde,  ist  ein  neuer  Beweis  dafür, 
wie  sehr  sie  die  Geister  beschäftigte.  Nur  ist  es  zu  bedauern,  dass  sie 
Anlass  gab,  die  ursprüngliche  Lehre  vom  Abendmahl  in  Verwirrung  zu 
bringen.  Der  Gedanke  des  Irenäus  wird  aus  einer  anderen  Stelle  (4,  18) 
klar.  Die  Lehre  der  Gnostiker,  meint  er,  wird  durch  das  Abendmahl 
widerlegt.  Denn  sie  können,  ihren  Grundsätzen  gemäss,  nicht  glauben, 
dass  Brod  und  Wein  Fleisch  und  Blut  Christi  sind,  wenn  sie  ihn  nicht  für 
den  Sohn  Gottes  des  Schöpfers  halten,  d.  h.  Christus  kann  nicht  aus  Din- 
gen der  sichtbaren  Schöpfung,  wozu  auch  wir  gehören,  seinen  Leib  und 
sein  Blut  bereiten,  es  sei  denn,  dass  er  der  Sohn  des  Schöpfers  sei, 
das  Wort,   durch   welches  alle  Dinge  gemacht  worden.    4)  Wenn  Irenäus 


1)  Daher  wohl  der  obige  Ausdruck,  dass  der  Herr  den  Jüngern  den  Rath  (nicht 
das  Gebot)  gab,  Gott  die  Erstlinge  seiner  Creaturen  zu  opfern. 

2)  Die  katholischen  Theologen  haben  zwar  diese  Vorstellung  zu  finden  gewähnt 
in  der  Lesart  einiger  codd.:  Judaei  autera  non  oflferunt.  Manus  enim  eorum  sanguine 
plenae  sunt.  Non  enim  receperunt  verbum,  quod  offertur  Deo,  —  statt  per  quod 
offer tur  Deo  (4.  18,  4),  wie  andere  codd.  lesen.  Aber  die  Vorstellung,  dass  der 
göttliche  Logos  Gott  geopfert  werde,  ist  der  katholisclien  Theologie  dieser  Zeit  völlig 
fremd.  Es  lässt  sich  viel  eher  erklären,  dass  per  gestrichen  worden,  als  dass  es  hinzu- 
gesetzt wurde.  Stieren  lässt  auch  per  aus,  bezieht  aber  verbum  auf  die  Gebete  bei  der 
Teier  des  Abendmahles. 


Der  Gottesdienst.    Der  Opfercultus.  205 

lehrt,  dass  die  Kirche  die  Oblation  des  neuen  Bundes  von  den  Aposteln 
empfangen  hat,  so  meint  er  nicht,  es  sei  durch  Vermittlung  der  münd- 
lichen Tradition  geschehen,  sondern  er  bezieht  sich  auf  die  Deutung,  die 
er,  Justin  nachfolgend,  den  Worten  der  Einsetzung  gegeben  hat.  5)  Wie 
willkürlich  und  falsch  diese  Deutung  sei,  springt  sogleich  in  die  Augen, 
ist  aber  sonderbarer  Weise  bis  jetzt  wenig  beachtet  worden.  In  jener  feier- 
lichen Stunde,  da  der  Herr,  erfüllt  vom  Gedanken  seines  Todes,  das  Mahl 
des  neuen  Bundes  der  Gnade  stiftete,  lag  ihm  gewiss  nichts  ferner,  als, 
indem  er  das  gewohnte  Tischgebet  sprach,  den  Aposteln  den  Bath  zu  ge- 
ben, sie  sollten  die  Erstlinge  der  Schöpfung  Gott  als  Opfer  darbringen. 
Damit  verschliesst  sich  Irenäus  die  Einsicht  in  das  Wesen  des  heiligen 
Mahles  und  in  die  heilsökonomische  Bedeutung  desselben.  Daher  von  der 
Versicherung  der  Sündenvergebung  auch  bei  ihm  durchaus  keine  Rede  ist. 

Die  alexandrinischen  Kirchenlehrer  so  wie  Tertullian  kennen  das 
eucharistische  Opfer,  wir  finden  aber  bei  ihnen  keine  Weiterentwicklung 
des  Begriffes.  Clemens  Alexandrinus  führt  es  nur  an  zwei  Stellen,  Stromata 
1,  19.  4,  25,  ganz  kurz  an,  während  er  sich  über  die  geistigen  Opfer  aus- 
führlich verbreitet  1).  Origenes  spricht  deutlich  den  Gedanken  aus,  dass 
das  Abendmahlsbrod ,  welches  der  Gläubige  gestiftet  hat,  ein  Symbol  ist 
unserer  Dankbarkeit  gegen  Gott  ^).  Was  derselbe  Lehrer  von  den  Opfern 
im  Allgemeinen  sagt,  zeigt  uns  schon  sehr  deutlich  die  gefährliche  Wend- 
ung, welche  diese  Sache  nahm.  Er  lehrt  zu  wiederholten  Malen,  dass  der 
Mensch  Gott  geben  nuiss,  wenn  er  will',  dass  Gott  ihm  gebe.  Er  lehrt  zwar 
auch,  dass  der  Mensch  nur  dann  Gott  geben  kann,  wann  er  zuvor  von  ihm 
empfangen  hat.  Aber  er  kommt  immer  wieder  zum  ersten  Satze  zurück: 
,,Gott  will  vor  allem  von  uns  empfangen  und  darnach  uns  geben^^  —  die 
Frucht  der  Lehrweise  des  Justin  wie  des  Irenäus.  —  Seit  Tertullian  und 
von  ihm  empfohlen  kam  die  bedenkliche  Sitte  auf,  das  eucharistische  Opfer 
auch  für  die  Verstorbenen  (Märtyrer  und  Verwandte)  zu  bringen.  Wenn 
es  auch  dabei  auf  die  Erweisung  einer  fortdauernden  Gemeinschaft  mit 
den  Abgeschiedenen  abgesehen  war,  so  ist  doch  nicht  zu  läugnen,  dass 
die  kirchliche  Fürbitte  sich  dadurch  in  ein  Gebiet,  für  welches  sie  keine 
Verheissung  empfangen,  wagte  und  so  den  Grund  legte  zu  grossen  Ver- 
irrungen. 

Bei  Cyprian  in  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  nimmt  der 
eucharistische  Opferbegriff  eine  überraschend  neue  Wendung,  obschon, 
wenn  wir  die  Sache  genau  ansehen ,  der  Keim  dazu  in  dem  Lehrtropus  des 
Justin  und  des  Irenäus  gegeben  war.  In  der  That,  wenn  die  consecrirten 
Elemente  Eucharistie  genannt  werden,  wenn  sie  durch  die  Consecration 
Leib  und  Blut  Christi  werden,  wenn  die  Eucharistie  das  einzig  wahre 
Opfer  ist,  das  die  Christen  darbringen,  kann  man  sich  wundern,  wenn  die 
Vorstellung  sich  bildet,  dass  im  eucharistischen  Opfer  Leib  und  Blut  Christi 


1)  Zu  beachten  ist,  dass  er  das  Wort  sv/rt^KiTsty  als  Opfern  gebraucht  und  wie 
ein  verbum  activum  construirt:  ftGt  yuQ,  sagt  er  Strom.  1,  19,  oi  xai  v^(o()  \lnXov  fv 
XnQtGTovfTiy. 

2)  2:v/iißoi.oy   TJjq   ttqq^  roy  ^€ov  fvxftQKtrtag  C.   Celsum  5,  7. 


2Qß  Erste  Periode  des  alten  Katholicisinus. 

geopfert  werden?  Dazu  schreitet  der  Bischof  von  Carthago  fort  bei  einem 
an  sich  sehr  äusserlichen  Anlass,  d.  h.  bei  Gelegenheit  des  Gebrauches 
statt  gemischten  Weines  im  Abemlmahl  blos  Wasser  zu  verwenden,  welchen 
Gebrauch  Cyprian  mit  Recht  durchaus  verwirft  ep.  63.  Es  muss  davon 
ausgegangen  werden,  dass  wie  schon  bei  TertuUian,  so  auch  bei  Cyprian 
(ep.  5.  c.  2)  offerre  ohne  beigefügten  Accusativ  bisweilen  die  ganze  prie- 
sterliche Verrichtung  bei  dem  Abendmahle,  insbesondere  auch  die  Distri- 
bution ausdrückt,  so  dass  die  Sacramentsverwaltung  selbst  in  ihrem  ganzen 
Verlauf  zum  sacrificium  wird.  War  einmal  der  Begriff  offerre  so  unklar 
über  seine  Grenzen  erweitert,  so  konnte  er  auch  auf  alle  Objecte  bezogen 
werden,  welche  überhaupt  bei  der  Abendmahlsfeier  in  Betracht  kamen. 
Daher  führt  Cyprian  in  völlig  neuem  Sprachgebrauche  Leib  und  Blut  Christi, 
ja  das  Leiden  Christi  (passio  est  Bomini  sacrificium)  und  sogar  die  Namen 
der  Darbringenden  als  Gegenstände  des  Opfers  an.  Diese  Auffassung  der 
Sache  erhält  die  stärkste  Bestätigung  durch  die  Behauptung,  dass  Christus 
bei  der  Stiftung  des  Abendmahls  sich  selbst  geopfert  und  dass  gleicher- 
massen  bei  jeder  Abendmahlsfeier  der  Priester  ein  wahres  Opfer  dai- 
bringe  ^).  Nun  modificirt  und  limitirt  sich  die  Sache  zwar  dadurch,  dass 
es  sich  um  eine  Gedächtnissfeier  handelt,  wo  man  doch  folgerechter  Weiso 
eine  Wiederholung  des  Opfers  Christi  nicht  erwartet,  und  dass  zuletzt  da> 
Abendmahl  als  Vermählung  Christi  und  der  Kirche  aufgefasst  wird  (63,  12; , 
deren  symbolischer  Ausdruck  das  die  Gemeinde  nach  Apokal.  17,  15  vor- 
stellende Wasser  ist,  was  mit  dem  Weine  des  Abendmahls  vermischt  wird, 
während  auch  das  aus  vielen  zusammengemahlenen  Körnern  bestehende 
Brod  die  Gemeinde  vorstellt,  die  in  Christo,  dem  himmlischen  Brode  ge- 
einigt, Einen  Körper  bildet.  Diese  mit  Christo  sacramentlich  geeinigtt 
Gemeinde  ist  es,  welche  der  Priester  Gott  zum  Opfer  darbringt,  dieses 
Opfer  der  Gemeinde  kommt  hinzu  zum  Opfer  des  Herrn.  Auf  der  Ver- 
bindung beider  Opfer  ruht  die  veritas  und  plenitudo  des  eucharistischen 
Opfers.  Darum  kann  Cyprian  die  Gemeindecommunion  nicht  vom  Opfer 
trennen;  darum  leitet  er  die  Vergebung  der  Sünden  und  den  Frieden  der 
Versöhnung  nicht  aus  der  priesterlichen  Oblation,  sondern  aus  dem  Genüsse 
des  Sacramentes  ab  (63, 11).  Der  wichtige  Fortschritt,  den  Cyprian  über  die 
frühere  Auffassung  hinaus  gemacht  hat,  liegt  somit  auch  darin,  dass  die  freie 
Selbstaufopferung  der  Gemeinde  vor  dem  Abendmahl  ihm  zu  einer  Aufopfer- 
ung derselben  durch  die  priesterliche  Function  wurde  und  dass  ihr  sacra- 
mentales  Geeintsein  mit  Christo  schon  als  constitutives  Moment  an  den 
Opferbegriff  herantritt,  was  das  völlige  Zerfliessen  von  sacramentum  und 
sacrificium  zur  Folge  hat.  Auf  der  einen  Seite  also  präfigiu'irt  Cyprian  das 
spätere  katholische  Dogma  von  der  Opferung  des  Leibes  und  Blutes  Christi, 
auf  der  anderen  Seite  hebt  er  es  wieder  zum  Theil  auf. 


1)  Ep.  63 ,  14.  Si  Jesus  Christus . . .  ipse  est  summus  sacerdos  Dei  patris  et 
sacrificium  patri  se  ipsum  primum  obtulit  et  hoc  fieri  in  sui  commemoratioDem  praecepit, 
utique  ille  sacerdos  vice  Christi  vere  fungitur,  qui  id,  quod  Christus  fecit,  imitatur  et 
sacrificium  verum  et  plenuin  tunc  offert  in  ecclesia  Deo  patri,  si  sie  incipiat  offerre.  se- 
cundum  quod  ipsum  Christum  videat  obtulisse. 


Der  Gottesdienst.    Das  Abendmahl.  207 

Durch  die  eucharistische  Consecration  werden  Brod  und  Wein  des 
Abendmahls  Leib  und  Blut  Christi.  Es  lässt  sich  von  vorn  herein  erwar- 
ten, dass  wenn  dem  evxaQiatsiv  des  Herrn,  dem  Tischgebete  die  Kraft 
einer  eigentlichen  Consecration  zugeschrieben  wurde,  die  Vorstellung  von 
der  Wirkung  davon  sich  entsprechend  jener  Kraft  gestalten  musste. 
Doch  finden  wir  sehr  divergirende  Ansichten  über  das  Verhältniss  der 
Elemente  zu  Leib  und  Blut  Christi,  über  die  Art  der  Gegenwart  Christi 
im  Abendmahl.  Es  lässt  sich  in  den  Lehrerörterungen  der  Väter  dieser 
Periode  der  römisch-katholische,  der  lutherische  und  der  reformirte  Lehr- 
begriff nachweisen,  doch  keiner  vollständig,  keiner  zur  Reife  entwickelt, 
was  man  von  vornherein  erwarten  muss  in  dieser  Anfangsperiode.  Zum 
Verwundern  ist  es  aber,  dass  die  divergirenden  Anschauungen  in  keinen 
Conflict  miteinander  geriethen,  dass  sich  kein  Streit  über  das  Abendmahl 
erhob.  Es  lässt  sich  diess  nur  erklären  theils  aus  der  elementaren  Gestalt 
der  Spendeformel  (der  Leib  Christi,  das  Blut  Christi),  theils  aus  dem 
Umstände ,  dass  die  junge,  von  äusseren  und  inneren  Feinden  angefochtene 
Kirche  ungleich  Wichtigeres  zu  thun  hatte. 

Obwohl  die  symbolische  Bedeutung  der  Einsetzungsworte  des  Abend- 
mahls deutlich  genug  in  die  Augen  springt ,  so  war  doch  bei  der  im  heid- 
nischen Kreise  herrschenden  Vermengung  von  Gott  und  Welt  Gefahr  vor- 
handen, dass  dieselbe  auch  auf  das  christliche  Gebiet  zurückwirken  möchte. 
Man  hat  Spuren  davon  bei  Ignatius  (ad  Smyrn.  c.  7  ad  Ephes.  c.  20)  finden 
wollen,  aber  näher  besehen,  verschwinden  diese  Spuren  in  Nichts.  Ignatius 
bewegt  sich  im  Kreise  der  symbolischen  Auffassung  i). 

Bei  Justinus  Martyr  beginnt  die  Verdichtung  der  auf  das  Abendmahl 
bezüglichen  Anschauungen,  dieselbe  Verdichtung,  die  sich  auch  darin  zeigt, 
dass  derselbe  Philosoph  die  Wiedergeburt  durch  das  Wasser  der  Taufe  mit 
der  physischen  Entstehung  des  Menschen  e?  vYQa(;  (rnogag  zusammenstellt 
(1  Apol  c.  61).  Die  oft  angeführte  Hauptstelle  vom  Abendmahl  ist  die 
1  Apol.  c.  66.  Nachdem  Justinus  erwähnt  hat,  dass  die  Eucharistie  nur  den 
getauften  Gläubigen  gereicht  werde,  führt  er  als  Grund  an:  ^.Denn  nicht 
als  gemeines  Brod  noch  als  gemeinen  Trank  empfangen  wir  dies,  sondern, 
wie  durch  das  Wort  Gottes  Fleisch  geworden  Jesus  Christus  unser  Erlöser 
sowohl  Fleisch  als  Blut  um  unseres  Heiles  willen  hatte,  so  sind  wir  auch 
gelehrt  worden,  dass  die  durch  das  von  ihm  stammende  Wort  des  Gebetes 
gesegnete  Nahrung,  wodurch  unser  Fleisch  und  Blut  gemäss  der  Umwand- 
lung (xata  fxetaßoXrjv)  genährt  werden.  Fleisch  und  Blut  jenes  Fleisch  gewor- 
denen Jesus  seien.''  Der  Satz  stellt  zwei  analoge  Vorgänge  auf:  1)  das 
Fleischwerden  Christi  (ungeschickter  Ausdruck),  2)  das  Fleischwerden  des 
Brodes.  Der  Nachdruck  liegt  auf  den  Worten:  durch  das  Wort  Gottes 
(dia  Xoyov  ^eov),  durch  das  von  ihm  stammende  Wort  des  Gebetes 
{di:  €vxf}g  Xoyov  tov  naq'  avtov).  Durch  sie  sind  beide  Vorgänge  als 
duixh  höhere  Kraft  bewirkt  bezeichnet,  dort  durch  ein  allmächtiges  Gottes- 
Wort  (Luc.  1,  31),  hier  durch  ein  Wort  Christi  im  Munde  seiner  betenden 


1)  Diess  hat  Steitz  a.  a.  0.  bewiesen. 


208  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Kirche  (wohin  Justin  wohl  auch  die  Worte:  das  ist  mein  Leib,  hinzu- 
nimmt); es  erfolgt  ein  Fleischsein  des  Brodes  durch  dieselbe  Kraft  des 
Wortes,  wodurch  Christus  Fleisch  geworden.  Die  Verwandlung  aber,  wo- 
von Justin  spricht,  ist  nicht  vom  Werden  des  Brodes  zum  Leib  Christi, 
sondern  zu  unserem  Leibe  zu  verstehen.  Sowie  nun  Brod  und  Wein  im 
natürlichen  Nahrungsprocesse  unser  Fleisch  und  Blut  werden,  so  werden 
sie  durch  übernatürliche  Kraft  Fleisch  und  Blut  Christi,  durch  dieselbe 
Kraft,  die  Christi  Fleischwerdung  bewirkte.  Justin  scheint  anzunehmen, 
dass  Brod  und  Wein  nicht  durch  Umwandlung  der  Substanz  Leib  und  Blut 
Christi  geworden  sind,  sondern  vermöge  der  Veränderung,  durch  welche 
ein  und  derselbe  Stoff  in  dem  allgemeinen  Stoffwechsel  der  Natur  in  andere 
Formen  des  organischen  Lebens  übergeht,  also  eine  Transformation 
scheint  Justin  anzunehmen. 

Irenäus  gibt  der  Lehre  von  der  leiblichen  Gegenwart  des  Herrn  eine 
andere  Wendung  und  bringt  sie  in  neue  Beziehungen  (4,  18.  4.  5).  Ei* 
geht  aus  von  der  Bestreitung  der  Auferstehungslehre  durch  die  Gnostikei* 
und  gebraucht  die  Eucharistie  als  Beweis  für  diese  Lehre;  darauf  scheint 
er  die  heilsökonomische  Bedeutung  des  Abendmahls  zu  beschränken.  Wie- 
derum also  greift  die  Polemik  gegen  die  Gnostiker  störend  in  die  Entwicklung 
des  Dogma's  ein.  ;,Wie  das  von  der  Erde  stammende  Brod,  wenn  es  die 
Anrufung  (exxXfjcrig^  eigentlich  Herausforderung,  soviel  als  das  später  in 
den  Liturgieen  oft  vorkommende  enixXrjtng)  Gottes  empfängt,  nicht  mehr 
gemeines  Brod  ist^  sondern  Eucharistie,  welche  aus  zwei  Stücken  (Ttgccy- 
liaxa)  besteht,  einem  irdischen  (nämlich  Brod  und  Wein)  und  einem  himm- 
lischen (nämlich  dem  Weihesegen  und  der  dadurch  hervorgebrachten  Wirk- 
ung), so  sind  auch  unsere  Leiber,  wenn  sie  die  Eucharistie  empfangen, 
nicht  mehr  vergänglich,  da  sie  die  Hoffnung  der  Auferstehung  haben.* 
Irenäus  nimmt  nicht  eine  Veränderung  oder  Verwandlung  der  Substanz 
des  Brodes  und  Weines  an,  sondern  eine  Veränderung  der  Wirksamkeit 
dieser  irdischen  Stoffe,  mithin  eine  dynamische  Veränderung. 

Die  folgenden  Lehrer  der  griechischen  Kirche  machen  überwiegend 
die  symbolische  Auffassung  geltend,  die  nun  bis  zum  Ende  des  vier- 
ten Jahrhunderts  die  griechische  Theologie  beherrscht.  Die  Lehrer 
der  alexandrinischen  Schule  sind  die  ersten  ausgesprochenen  Vertreter  der 
symbolischen  Auffassung.  Es  genügen  einige  Anfühiimgen  aus  Origenes, 
der  in  die  Fussstapfen  seines  Lehres  Clemens  getreten  ist  und  ;,das  soge- 
nannte Brod  des  Herrn,''  dessen  typischen  und  symbolischen  Leib 
nennt.  —  ,, Jenes  Brod,  sagt  er,  welches  der  göttliche  Logos  als  seinen 
Leib  bekennt,  ist  das  Wort,  das  die  Seelen  nährt.  Jener  Trank,  den 
der  göttliche  Logos  als  sein  Blut  bekennt,  ist  das  Wort,  das  die  Herzen 
der  Trinkenden  tränkt  und  herrlich  berauscht.  So  wenig  ist  der  Ausdruck, 
sein  Blut  trinken,  im  eigentlichen  Sinne  zu  nehmen,  dass  wir  mit  dem- 
selben Rechte  auch  sagen  können ,  wir  trinken  der  Ai)ostel  Blut ,  denn  wir 
nehmen  auch  ihr  Wort  von  Christo  als  Lebens  wort  in  uns  auf.-'  Origenes 
war  vorbereitet,  sich  solche  richtige  Vorstellungen  zu  bilden,  durch  die 
schmerzlichen  Erfahrungen,  die  er  gemacht  hatte  von  der  ünzulässigkeit 
des  buchstäblichen  Sinnes  in  vielen  Stellen  der  Schrift.    Er  weiss  aber  selir 


Der  Gottesdienst.    Das  Abendmahl.  209 

wohl,  dass  das  Volk  im  Allgemeinen  am  Buchstaben  haftet,  und  dass  man 
ihm  den  mystischen  Sinn  davon  (mysticus  sermo)  nur  in  Bildern  und  Gleich- 
nissen mittheilen  kann.  Da  er  demgemäss  keinen  Anstand  nimmt,  die 
Elemente  Leib  und  Blut  des  Herrn  zu  nennen,  da  er  sogar  anempfiehlt, 
„den  Leib  Gottes^^  mit  Sorgfalt  und  Ehrfurcht  zu  behandeln,  auf  dass  nichts 
davon  auf  den  Boden  falle,  so  begreift  man,  dass  das  Volk  in  seiner  fleisch- 
lichen Aufi'assungsweise  nicht  gestört  wurde,  dass  die  Wahrheit  in  dieser 
Sache  selbst  in  Alexandrien  das  Eigenthum  Weniger  blieb. 

Unter  den  Lehrern  der  lateinischen  Kirche  kommt  vor  allem  und 
hauptsächlich  Tertullian  in  Betracht,  über  den  die  Meinungen  und  An- 
sichten seit  der  Reformation  sehi'  von  einander  abweichen.  Während 
Oecolampad  und  Zwingli  und  in  der  Neuzeit  andere  reformirte  Theologen 
ihn  als  Vertreter  der  symbolischen  Auffassung  ansehen,  haben  Luther  und 
nach  ihm  manche  lutherische  Theologen  ihn  als  ihrer  Ansicht  zugethan  zu 
erweisen  gesucht.  Die  katholischen  Theologen  (Döllinger)  sehen  ihn  als 
Vorkämpfer  ihrer  Geistesrichtung  an.  Der  Streit  ist  durch  die  neuesten 
Forschungen  dahin  entschieden,  dass  Tertullian  mehr  oder  weniger  auf 
die  Seite  derer  zu  stehen  kommt,  welche  die  lutherische  Auffassung  ver- 
treten, ja  sogar,  dass  er  wenigstens  an  einer  Stelle  der  Transsubstantia- 
tion  das  Wort  zu  reden  scheint  i).  Diess  Letztere  hat  bei  dem  derb  rea- 
listischen Tertullian  nichts  Befremdendes;  es  zeigt  aber,  wie  nahe  sich  die 
lutherische  und  die  römisch-katholische  Auffassung  in  gewissen  Geistern 
berühren.  Uebrigens  kennen  wir  Tertullian's  Lehre  vom  Abendmahl  zu 
wenig,  als  dass  wir  ihn  in  allen  Stücken  als  Vertreter  der  lutherischen 
Auffassung  aufführen  dürften.  Wenn  selbst  T>aschas  Radbert  geläugnet  hat, 
dass  die  Gottlosen  Christi  Leib  bekommen,  wie  viel  eher  mag  Tertullian 
ebenso  gedacht  haben?  —  Was  Cyprian  betrifft,  so  neigt  er  entschieden 
zur  realistischen  Auffassung  hin,  obschon  in  der  ep.  63,  die  hier  wesentlich 
in  Betracht  kommt,  Ausdrücke  vorkommen,  welche  die  symbolische  Auffassung 
voraussetzen.  Unter  solchen  Halbheiten,  dergleichen  bei  den  Vätern  so 
viele  vorkommen,  konnte  sich  der  Irrthum  verstecken  und  unbemerkt  sich 
entwickeln. 

Was  die  Taufe,  den  Ritus  der  Aufnahme  in  die  katholische  Kirche  be- 
trifft, so  wurden  von  den  Vätern  in  dieser  Periode  dreierlei  Wirkungen  daran 


1)  Wir  beziehen  uns  hier  anf  die  „Beiträge  zur  Abendmahlslehre  Tertullian's  von 
Lic.  theol.  L.  Leimbach.  Gotha,  Perthes  1874- "  Leimbach  weist,  auf  Grund  der  ge- 
nauen Erforschung  des  S4)rachgebrauches ,  nach,  dass  bei  Tertullian  die  Ausdrücke  ligura, 
census,  repraesentare  nicht  den  Sinn  haben,  den  man  gewöhnhch  annimmt  (adv.  Marc.  1, 
14.  3,  19.  4,  40),  sondern  die  Annahme  der  leiblichen  Gegenwart  Jesu  im  Abendmahl 
theils  geradezu  setzen,  theils  Wenigstens  nicht  ausschliessen ,  welche  Stellen  nun  durch 
andere  ihre  völlige  Klarheit  erhalten,  wenn  z.  B.  de  resurrectione  carnis  c.  37  gesagt 
wird,  dass  unser  Fleisch  mit  Leib  und  Blut  Christi  genährt  wird,  auf  dass  unsere  Seele 
mit  Gott  gesättigt  werde,  und  de  pudicitia  c.  9,  dass  der  Christ  sich  mit  der  Herrlich- 
keit (optimitate)  des  Leibes  Christi  nährt.  Dazu  kommt  eine  von  Leimbach  in  seiner 
Schrift  nicht  angeführte,  mir  aber  privatim  von  demselben  mitgetheilte  Stelle  de  idola- 
tria  c.  7,  wo  Tertullian  der  Lehre  von  der  Wandelung  sich  nähert,  da  er  von  einem  ma- 
nus  admovere  corpori  domini  redet. 

Herrog,  KirchengeBchicMe  L  14 


210  Erste  Periode  des  alten  Katholicismua. 

geknüpft:  1)  Vergebung  aller  vorher  begangenen  Sünden  (Justin  Martyr 
1  Apol.  c.  61).  2)  Mittheilung  des  heiligen  Geistes  und  seiner  (iahen 
(Dialogus  c.  Tr.  c.  29.  3)  Einpflanzung  eines  himmlischen  Lebensprincips, 
welches  den  Sieg  über  den  Tod  und  die  Unsterblichkeit  verleiht.  Durch 
die  Sündenvergebung;  veranschaulicht  im  Ritus  des  Untertauchens,  wird 
die  Einkehr  des  heiligen  Geistes  ermöglicht  (Tert.  de  bai)tismo  c.  6),  für 
diese  wird  aber  noch  die  Handauflegung  herbeigezogen.  Auf  die  dritte 
Wirkung  legte  nicht  nur  Tertullian  (de  bai)tismo  c.  5:  deletur  mors  per 
aUutionem  peccatorum^  exemto  seil,  reatu  exlnütur  et  p>oena)  Gewicht, 
sondern  auch  schon  Hermas  (lib.  HI.  Simil.  9,  16)  und  Irenäus  (3,  17,  2) 
der,  wie  bevorwortet,  dieselbe  Wirkung  dem  Abendmahl  zuschreibt.  Es 
lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  dem  sinnlichen  Elemente  des  Wassers  mit- 
unter eine  mehr  als  blos  rituelle  Bedeutung  beigelegt  wird,  wie  denn 
Tertullian  sich  in  naturalistische  Anschauungen  verliert.  Doch  wird  immer 
festgehalten,  dass  nicht  das  Wasser  allein  jene  Wirkungen  hervorbringt, 
sondern  es  muss  der  Geist  sich  mit  dem  Wasser  verbinden,  und  das  W8,r 
der  Irrthum,  zum  Theil  wieder  gut  gemacht  durch  die  der  Taufe  voraus- 
gehende Vorbereitung  und  die  mit  derselben  verbundene  und  übernommene 
Verpflichtung. 

Je  mehr  nämlich  die  Kirche  sich  ausbreitete,  desto  mehr  fand  man  es 
für  nöthig,  den  zu  Taufenden  einen  Unterricht  zu  ertheilen,  der  etwas  auf-- 
führlicher  war,  als  die  apostolische  Praxis  es  gestattete  (Justin  Martyr  1  Ai)o  . 
c.  62);  die  Täuflinge  hiessen  xatrjxov^evoi^  axQoatai,  auditores,  für  welche 
das  Concil  von  Elvira  (c.  42)  zwei  Jahre  als  Lehr-  und  Vorbereitungszeit 
festsetzte,  die  apostolischen  Constitutionen  8,  32,  drei  Jahre.  Origenes  unter- 
scheidet zwei  Classen:  1)  solche,  welche  einen  Privatunterricht  erhielten, 
2)  solche,  welche  in  den  Gemeindeversammlungen  zugelassen  waren  um 
unmittelbar  auf  die  Taufe  vorbereitet  wurden  ^).  Den  Unterricht  ertheiltt 
einer  der  niederen  Geistlichen,  in  Alexandrien  Laien  von  gelehrter  Bild- 
ung, woraus  die  alexandrinische  Katechetenschule  hervorging.  Die  Täuf- 
linge legten  bei  Empfang  der  Taufe  ein  Glaubensbekenntniss  {ffVfißoXov, 
naqadoaiq  aTiofTtoXtxf] ,  xriQvyfxa  ano(Ttohxov)  ab,  in  Fragen  und  Ant- 
worten ,  woraus  nach  und  nach  unser  apostolisches  Symbol  erwuchs  2). 
Mit  dem  Ablegen  des  Taufbekenntnisses  war  eine  sittliche  Verpflichtung 
verbunden.  Der  Täufling  gelobte  durch  einen  dem  Bischof  gegebenen 
Handschlag,  dass  er  dem  Teufel  und  dessen  Gepränge  und  Engeln  entsage. 
Das  war  der  christliche  Soldatenneid,  das  sacramentum  militiae 
christianae,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Exorcismus,  der  Austreibung 
des  Teufels  aus  den  neugeborenen  Kindern,   wovon  die  erste  sichere  Spur 


1)  Zur  Zeit  des  nicänischen  Concils  gab  es  drei  Katechuraenatsstnfeu :  1)  ttXQoiofiC 
voiy  audientes,  2)  yovvxXiPOPT8s,  genuflectentes,  auch  xaTTjyov^fvoi  im  engeren 
Sinne,  3)  (pcüTi^ofxfvot,  competentes. 

2)  1  Petri  3,  21  wird  auf  Fragen  und  Antworten  der  Täuflinge  angespielt,  —  ebenso 
von  Tert.  de  Corona  c.  3-de  resurrectione  camis  c.  48;  anima  responsione  sancitur;  ebenso 
von  Dion.  von  Kor.  bei  Euseb.  7,  9. 


Der  Gottesdienst.    Die  Taufe.  211 

im  Concil  von  Carthago  vom  Jahr  256  vorkommt  c.  8  ^),  als  Nachwirkung 
des  Exorcismus  bei  den  Besessenen.  Die  Taufe  geschah  durch  dreimaliges 
Untertauchen  (iinmersio).  Kranke  erhielten  die  Besprengung  (aspersio), 
welche  Art  der  Taufe  (Baptismus  clinicorum)  bei  einigen  nicht  als 
vollgültig  galt,  wogegen  jedoch  Cyprian  sich  mit  Kraft  erklärte.  Es  kamen 
zur  Taufe  noch  einige  Gebräuche  hinzu,  die,  an  sich  unschuldiger  Art, 
doch  die  ursprüngliche  Einsetzung  des  Herrn  etwas  verdunkelten.  Nach 
dem  Untertauchen  oder  Besprengen  erhielten  die  Täuflinge  eine  Mischung 
von  Milch  und  Honig,  wodurch  sie  als  Kinder  dargestellt  werden  sollten, 
sodann  das  Chrisam,  das  Salböl,  wodurch  sie  das  geistliche  Priester- 
thum  erhalten  sollten;  dann  folgte  die  Handauflegung  und  das  Herabflehen 
des  Geistes  auf  die  Täuflinge.  So  ging  es  zu  seit  Tertullian's  Zeit,  im 
Zeitalter  des  Justinus  Martyr  war  alles  weit  einfacher.  Die  zuletzt  ange- 
führten Gebräuche  waren  die  Anfänge  des  späteren  Sacramentes  der  Fir- 
melung, confirmatio.  Im  Morgenlande  konnten  auch  Presbyter  und 
Diakonen  die  Taufe  mit  Salbung  vornehmen,  im  Abendlande  war  man  geneigt 
die  Salbung  und  Handauflegung  den  Bischöfen  vorzubehalten,  mit  Berufung 
auf  Apostelgesch.  8,  wonach  den  getauften  Samaritanern  erst  durch  die 
Handauflegung  der  Apostel  der  Geist  ertheilt  worden  sei.  Die  Kindertaufe 
gehört  wahrscheinlich  nicht  dem  apostolischen  Zeitalter  an,  obwohl  Orige- 
nes  sie  als  apostolische  Tradition  aufführt.  Bei  Irenäus  zeigt  sich  die  erste 
Spur  davon.  Sie  verbreitete  sich  mit  dem  christlichen  Familienleben,  in- 
dem Kinder  christlicher  Eltern  in  anderem  Verhältnisse  zum  Christenthum 
und  zur  christlichen  Gemeinschaft  standen,  als  solche,  die  mitten  aus  dem 
Schmutze  des  heidnischen  Lebens  kamen.  Die  angesehensten  Kirchenlehrer 
waren  für  die  Kindertaufe,  sie  war  aber  nicht  gesetzlich  geboten.  Tertullian 
bekämpfte  sie  Upiid  festinat  innocens  aetas  ad  remissionem  peccatorum'^  de 
baptismo  18),  daher  viele  die  Taufe  aufschoben,  weil  die  Ansicht  galt,  sie 
könnten  die  nach  der  Taufe  begangenen  Sünden  nur  durch  schwere  Busse 
abbüssen.  Die  für  die  Kindertaufe  waren,  sprachen  sich  für  die  Vollzieh- 
ung derselben  am  achten  Tage  nach  der  Geburt  aus,  an  welchem  Tage 
die  Beschneidung  der  jüdischen  Kinder  erfolgte;  Cyprian  wollte  sie  noch 
früher  ansetzen.  Mit  der  Kindertaufe  hing  zusammen  die  Einführung  der 
Taufzeugen,  avadoxot,  Sponsor  es.  Die  Kindertaufe  wurde  sehr  ver- 
breitet, doch  gab  es  immer  noch  Ausnahmen,  selbst  im  Laufe  des  vierten 
Jahrhunderts  2). 

Taufe  und  Abendmahl  wurden  zuerst  von  Tertullian  unter  den  Begriff 
vom  Sacrament  zusammengefasst :  aber  dieser  Begriff  selbst  war  noch  sehr 
unbestimmt.  —  Von  sacrare  (so  viel  als  dedicare,  consecrare)  sich  ablei- 
tend bezeichnet  das  Wort  im  classischen  Sprachgebrauch  den  Soldateneid, 
den  Fahneneid,  welche  Bedeutung  zuerst  Tertullian  ins  Auge  fasst  (ad 
Martyres   c.  3,  de   Corona  c.  11);    er  nennt  die    abrenuntiatio    diaholi    und 


1)  Cyprian  ep.  76  scheint  nicht  einen  besonderen  Act  des  Exorcismus  zu  kennen, 
sondern  er  sieht  die  Taufe  selbst  an  als  Austreibung  des  Teufels,  dessen  Macht  nur  bis 
an  das  heilbringende  Wasser  reiche. 

2)  Der  Streit  über  die  Taufe  der  Häretiker  ist  bereits  dargestellt  worden. 


212  Erste  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

das  Glaubensbekenntniss  bei  der  Taufe  sacramentum.  Ausserdem  übersetzt 
er  so  das  griechisclie  Wort  fivcrtriQtov.  Daher  nennt  er  so  1)  ein  in  Gott 
verborgenes  Geheimniss,  2)  mystischen  Tiefsinn  ,  Typus,  3)  Taufe  und 
Abendmahl,  4)  die  geheimnissvollen  Kräfte  der  Taufe  und  des  Abendmahles. 
Demnach  ist  ihm  sacramentum  auch  eine  die  natürliche  Fassungskraft 
übersteigende  Lehre,  —  er  kennt  ein  sacramentum  incarnationis ^  Cyprian 
ein  mysterium  trinitatis,  er  nennt  auch  d.  U.V.  sacramentum,  wie  denn  schon 
in  der  altlateinischen  Bibel -Uebersetzung  fivatfjQiov  so  übersetzt  wird. 
Ephes.  1,  9.  3,  9.  5,  32.    Col.  1,  27.     1  Tim.  3,  16.    Apokal.  1,  20.  17,  7. 

Wahrscheinlich  lag  eine  Zusammenstellung  mit  den  heidnischen  m//- 
Sterten  zu  Grunde.  In  denselben  vergegenwcärtigte  man  sich  der  Gött(;r 
Leiden,  Sterben,  Neugeburt,  —  Büssungen,  Sühnungen,  Reinigungen  dienten 
dazu,  die  letzte  Weihe  vorzubereiten,  und  vertheilten  sich  auf  die  verschie- 
denen Grade.  Analogieen  dazu  finden  sich  in  der  christlichen  Sacraments- 
feier;  selbst  die  Aufforderung  des  Herolds  an  gewisse  Classen  oder  Per- 
sonen, sich  zu  entfernen,  fand  Nachahmung  im  christlichen  Gottesdienste. 
Auch  der  Ausdruck  (pcotKr^og,  womit  man  die  Wirkung  der  Taufe  bezeich- 
nete, wurde  daher  entlehnt.  Es  bildete  sich  die  Vorstellung  aus,  das^ 
man  in  Taufe  und  Abendmahl  die  Wahrheit  dessen  besitze,  wovon  dio 
Heiden  in  den  Mysterien  nur  die  dämonische  Nachahmung  hätten  (Justin';^ 
1.  Apol.  66). 

Im  Zusammenhang  damit  steht,  was  man  seit  Dalläus  Arcandis- 
ciplin  genannt  hat.  Es  kam  nämlich  seit  den  letzten  Decennien  de^ 
zweiten  Jahrhunderts  der  Gebrauch  auf,  die  Feier  der  Taufe  und  de^ 
Abendmahls  nicht  nur  vor  den  Heiden,  sondern  auch  vor  den  Katechume- 
nen,  welche  die  Taufe  noch  nicht  empfangen  hatten,  geheim  zu  halten 
und  daher  die  Katechumenen  vor  der  Feier  des  Abendmahls  zu  verab- 
schieden. Die  Lehre  selbst,  betreffend  Taufe  und  Abendmahl,  wurde  im 
katechetischen  Unterricht  behandelt,  aber  nicht  gesagt,  dass  Wasser,  Brod 
und  Wein,  noch  welche  liturgische  Formeln  dabei  angewendet  wurden, 
wie  denn  die  apostolischen  Constitutionen  2,  57  in  der  Ordnung  des  Gottes- 
dienstes diess  sorgfältig  beobachteten,  nachdem  Justin  von  den  Elementen 
des  Abendmahls  und  den  darüber  gesprochenen  Gebeten  ganz  offen  ge- 
redet hatte  1). 


1)  Siehe  den  Artikel  Arcandisciplin  von  Rothe  in  der  Realencyklopädie  und  dessen 
Schrift  darüber:  de  disciplina  arcani,  quae  dicitur,  in  ecclesia  cbristiana  origine  1841.  — 
Harnack  a.a.O.  —  Zezschwitz,  Katechetik.  —  Artikel  von  Boowetsch,  über  Ent- 
stehung, Wesen  und  Fortgang  der  Arcandisciplin  bei  Kahnis,  Zeitschrift  für  historische 
Theologie  1873.    2.  Heft. 


213 


Viertes  Capitel.    Sittliche  Wirkungen  des  Christenthums. 

Sitten  und  Leben  der  katholischen  Christen  i). 

In  der  Seele  der  Christen  war  das  Bewusstsein  vorherrschend  von 
dem  tiefgehenden  Gegensatze  zwischen  dem  heidnischen  befleckten  Leben 
und  dem  neuen  Leben  des  Christenthums.  Damit  war  unmittelbar  die 
Kampfstellung  gegen  dieses  heidnische  Leben  verbunden,  dieselbe  Kampf- 
stellung, die  wir  auch  auf  den  anderen  Gebieten  des  Lebens  der  Christen 
gefunden  haben.  Daraus  ergab  sich  für  die  Christen  die  Verpflichtung, 
auf  diese  heidnische  Welt  einzuwirken.  Es  spricht  sich  darüber  der  Ver- 
fasser des  Briefes  an  Diognet  2j  in  unnachahmlich  schönen  Worten  aus 
c.  5 :  „Die  Christen  unterscheiden  sich  von  den  übrigen  Menschen  weder 
durch  ein  besonderes  Vaterland ,  noch  durch  eine  besondere  Sprache,  noch 
durch  eigenthümliche  Volkssitten.  Sie  bewohnen  ihr  Vaterland,  aber  nur 
wie  Beisassen  (nagoixoi).  Sie  tragen  alle  Lasten  der  Staatsbürger  und 
werden  doch  wie  Fremde  behandelt.  Jede  Fremde  ist  ihr  Vaterland  und 
jedes  Vaterland  ist  ihnen  fi'emd.  Sie  sind  im  Fleische,  aber  sie  leben 
nicht  nach  dem  Fleische.  Sie  wandeln  auf  Erden ,  aber  ihr  Bürgerthum 
ist  im  Himmel.  Sie  gehorchen  den  eingeführten  Gesetzen,  aber  ihr  Leben 
ist  über  den  Gesetzen.  Sie  lieben  alle,  und  sie  werden  von  allen  verfolgt. 
Man  kennt  sie  nicht,  und  doch  verurtheilt  man  sie.  Man  tödtet  sie  und 
eben  dadurch  gibt  man  ihnen  das  Leben.  Sie  sind  arm,  und  machen  Viele 
reich,  sie  leiden  allen  Mangel  und  haben  in  Allem  Ueberfluss.  Sie  wer- 
den entehrt  und  in  der  Entehrung  verherrlicht.  Sie  werden  verläumdet 
und  doch  gerechtfertigt;  sie  werden  geschmäht,  und  sie  segnen.^^ 

„Um  Alles  mit  Einem  Worte  zu  sagen,  was  die  Seele  im  Leibe  ist, 
das  sind  die  Christen  in  der  Welt.  Ueber  alle  Glieder  des  Leibes  ist  die 
Seele  ausgebreitet,  gleicherweise  sind  es  die  Christen  über  die  Städte  der 
Erde.  Die  Seele  wohnt  im  Körper  und  ist  doch  nicht  körperlich.  So 
wohnen  die  Christen  in  der  Welt  und  sind  doch  nicht  von  der  Welt.  Das 
Fleisch  hasst  die  Seele  und  streitet  wider  die  Seele,  ohne  von  ihr  belei- 
digt zu  sein,  blos  weil  es  von  ihr  im  Genüsse  der  Lüste  verhindert  wird. 
So  hasset  die  Welt  die  Christen,  ohne  von  ihnen  beleidigt  zu  sein-,  weil 
sie  gegen  die  Lust  dieser  Welt  sind.  Die  Seele  liebt  den  Leib,  der  sie 
hasst;  auch  die  Christen  lieben  diejenigen,  welche  sie  hassen.  Die  Seele 
ist  eingeschlossen  in  den  Leib  und  doch  erhält  sie  ihn.  Auch  die  Christen 
sind  in  der  Welt  als  wie  in  einem  Gefängnisse,  und  sie  sind  es  doch,  welche 
die  Welt  im  Bestand  erhalten.  Ob  auch  Hunger  und  Durst  die  Seele 
quälen,   wird   sie  doch  täglich  besser.     Ob    auch  die  Christen  täglich  hin- 


1)  Siehe  hauptsächlich  C.  Schmidt,    essai    sur   la  societe    civile    dans   le  monde 
romain  et  sur  sa  transformation  par  le  christianisme.     Strassburg  1853. 

2)  Davon  dass  Overbeck  diesen  Brief  in    die  Zeit   nach  Constantin    verlegt,    sehen 
wir  hier  als  von  einer  unhaltbaren  Hypothese  ab. 


214  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

gerichtet  und  gequält  werden,  mehrt  sich  doch  ihre  Zahl.  Gott  selbst  hat 
ihnen  ihre  Stellung  angewiesen,  welche  sie  nicht  verlassen  dürfen^. 
Diese  Beschreibung  ist  idealisch  gehalten^  und  die  Christen  mochten  in 
dieser  Beziehung  Anlass  haben,  das  Wort  des  Apostels  zu  beherzigen: 
;,wir  tragen  aber  solchen  Schatz  in  irdischen  Gelassen,  auf  dass  die  über- 
schwängliche  Kraft  sei  Gottes  und  nicht  von  uns''  (2  Kor.  4,  7).  Wir 
wissen,  dass  die  Kirche  manche  unwürdige  Mitglieder  in  ihrem  Schoosse 
hegte,  dass  sie  nicht  blos  die  Elite  der  Bevölkerungen  in  sich  schloss,  dass 
mithin  auch  auf  dem  Gebiete  der  Sitte ,  besonders  in  grossen  Städten  eine 
Eeaction  des  befleckten  heidnischen  Lebens  auf  die  Kirche  statt  fand.  Dass 
aber  inmitten  der  christlichen  Gesellschaft  ein  solches  Ideal  sich  bilden, 
dass  es  diesen  Ausdruck  linden  konnte,  dass  nach  Verwirklichung  dessel- 
ben gestrebt  wurde,  das  ist  ein  beredtes  Zeugniss  des  Geistes,  der  die 
Kirche  beseelte,  das  mochte  auch  auf  Heiden  den  Eindruck  machen,  dass 
die  Kirche  eine  grosse  Zukunft  habe. 

Zuerst  kommt  in  Betracht  das  Verhalten  der  Christen  zum 
Staate  und  zum  bürgerlich  gesellschaftlichen  Leben.  Wi]' 
kennen  die  Christen  bereits  als  gute ,  loyale  Unterthanen  ^) ,  die  durch  alle 
Verfolgungen  sich  nicht  abhalten  lassen,  für  die  Kaiser  zu  beten.  Ihre 
Unterwerfung  unter  die  Gesetze  fand  allerdings  ihre  Grenze  da,  wo  sie  etwas 
gegen  ihr  Gewissen  thun  sollten.  Die  Christen  haben  die  Idee  der  religiösen 
Freiheit,  wenn  nicht  eigentlich  in  die  Welt  eingeführt,  so  doch  auf  da? 
Kräftigste  und  mit  Aufopferung  des  Lebens  vertreten.  Von  ihnen  ging  der 
Grundsatz  aus,  dass  die  Religion  sich  nicht  erzwingen  lasse.  Ihre  zahl- 
reichen Märtyrer  sind  das  lebendige  Zeugniss  davon.  Allerdings  fand  bis- 
weilen ein  fanatisches  Hinzudrängen  zum  Märtyrertode  statt.  Als  der  Prä- 
fect  Arrius  Antoninus  in  Asia  proconsularis  zur  Zeit  Hadrian\s  die  Chri- 
sten heftig  bedrängte ,  lieferten  sich  ihm  alle  Christen  derselben  Stadt  aus, 
worauf  er  einige  hinrichten  Hess  und  zu  den  übrigen  sagte :  ^,0  ihr  Wichte, 
wenn  ihr  sterben  wollt,  so  habt  ihr  Felsen  und  Stricke''  (Tert.  ad  Scapu- 
lam  c.  5).  Andere  Heiden  sagten  zu  den  Christen:  ^tödtet  euch  selbst  und 
gehet  zu  eurem  Gott  und  lasst  uns  ungeschoren"  (Justin  IL  Apol.  c.  4). 
Je  mehr  solche  Vorfälle  der  christlichen  Sache  Eintrag  thaten,  desto  mehr 
erklärte  sich  die  Kirche  gegen  solchen  Fanatismus,  so  wie  gegen  die  Mon- 
tanisten, die  ihn  beförderten.  Die  Gemeinde  zu  Smyrna  sagte  daher  in 
ihrem  encyklischen  Schreiben:  „wir  loben  diejenigen  nicht,  die  sich  selbst 
angeben,  da  das  Evangelium  nicht  so  lehrt."  So  wurde  denn  die  von  den 
Montanisten  so  entschieden  verbotene  Flucht  in  den  Verfolgungen  durcliaus 
anempfohlen;  mit  Berufung  auf  Matth.  10,  23.  Daher  Pantaenus  und  Cle- 
mens Alexandrinus  bei  Beginn  der  Verfolgung  des  Septimius  Severus  die  Stadt 
verliessen.  Clemens  Alexandrinus  tadelt  wiederholt  und  stark  den  unver- 
ständigen Eifer  derer,  die  freiwillig  sich  dem  Tode  darboten.  (Rede- 
penning  S.  186). 


* 

I 


2)  TertuUian    ad  Scapulam  c.  2:    sie  et    circa   majestatem   imperatoris  infamamur, 
tarnen  nunquam  Albiniani  nee  Nigriani  vel  Cassiani  inveniri  potuenmt  cliristiani. 


Sitten  und  Leben  der  Christen.  2l5 

Auch  in  anderer  Beziehung  gab  es  unter  den  Christen   eine  strengere 
Partei  und  eine  mit  milderen  Grundsätzen.     Die  einen  hielten  die  Ausübung 
jedes   obrigkeitlichen   Amtes,    weil   sie   vielfache  Versuchungen   darbot,   für 
unverträglich  mit  dem  Bekenntnisse  des  christlichen  Glaubens.     Die  Synode 
von  Elvira  bestimmte,  dass  die  Duumviren  aus  den  Christen,  welche  in  den 
Gerichten  über  Leben  und  Tod  zu  entscheiden  hatten,  während  der  Dauer  ihres 
Amtes  die  lürchen  nicht  besuchen  dürften.     Von  einem  Theile  der  Christen 
wurde  auch  der  Kriegsdienst  verweigert,  indem  sie  Degradation  und  Tod  einer 
Verletzung  ihres  Gewissens  vorzogen.     Doch  haben  die  Kirchenlehrer  dieses 
Benehmen  keineswegs  angerathen,   wie  Gibbon   behauptet;    selbst  Tert.   (de 
Corona  c.  11)  empfiehlt  den  christlichen  Soldaten  nur,  nichts   gegen  ihr  Ge- 
wissen zu  thun.     Im  Allgemeinen   aber    wurde   der  Kriegsdienst   als  Pflicht 
gegen  den  Staat  angesehen;   bald   gab   es   ni   den   römischen  Armeen   viele 
Christen,    wie   schon  die  Sage  von  der  Donnerlegion   und   die   von   der  the- 
bäischen  Legion  es  beweisen.      Noch  mehr  war  diess   der  Fall  zur  Zeit  Dio- 
cletian's  ^).    Gewisse  Handwerke ,  welche  sich  auf  den  Götzendienst  bezogen, 
durften  die  Christen  auch  nicht  wohl  treiben.    Namentlich  war  das  Gewerbe 
des  Schauspielers  mit  dem  Christenberufe  unverträghch,  sogar  schon  der  Besuch 
der  Schauspiele,  die  ja  auch  die  ernst  gesinnten  Heiden  als  eine  Schule  der 
Unsitthchkeit  betrachteten.     War  es  doch  geschehen,  dass  unbefestigte  Ge- 
müther dadurch   das  Heidenthum  wieder  lieb   gewannen   und   vom  Glauben 
abfielen.    Was  Wunder,   wenn  Tertullian   die   Schauspiele   als  einen  Haupt- 
platz der  Wirksamkeit  der  Dämonen  ansieht    und    daher  auf  das    entschie- 
denste gegen  den  Besuch  derselben  eifert! 

Was  die  anderweitigen  Beziehungen  zum  socialen  Leben  betriff't,  so  ist 
noch  anzuführen,  dass  es  verboten  war,  die  Ehe  mit  Heiden  einzugehen,  wor- 
auf schon  Paulus  (1  Kor.  7,  39)  hingedeutet  hatte.  Teitulhan  sieht  eine 
solche  Ehe  als  Hurerei  an  (ad  uxorem  lib.  2,  3),  das  Concil  von  Elvira  (c.  15) 
verbot  nicht  nur,  den  Heiden  christliche  Jungfrauen  zur  Ehe  zu  geben,  son- 
dern belahl  auch,  die  Eltern,  die  solches  gethan  hätten,  zu  excommuniziren 
(c.  16),  wozu  mannigtache  Ermahnungen  der  Kirchenlehrer  und  Anordnungen 
der  ConciHen  hinzukamen.  Der  allerdings  triftige  Grund  dazu  war  gegeben 
in  den  vieliachen  Versuchungen,  die  solche  Ehen  besonders  dem  weiblichen 
Theile  darboten.  Doch  gab  es  hin  und  wieder  solche  Ehen,  und  nicht  alle 
waren  unglücklich.  —  Wenn  aber  der  eine  der  heidnischen  Ehegatten  zum 
Christenthum  übertrat,  dann  galt  durchaus  die  Verordnung  des  Apostels, 
dass  die  Ehe  nicht  solle  gelöst  werden,  es  sei  denn,  dass  der  heidnische 
(iatte  oder  Gattin  die  Ehe  selbst  auflöste  (1  Kor.  7,  12.  13).  Es  gab  Bei- 
spiele von  solchen  gemischten  Ehen ,  die  durchaus  glücklich  waren  2).  Man 
hat  es  der  christlichen  Kii'che  zum  Vorwurfe  gemacht,  dass  sie  in  ihrem 
Bereiche  die  Sklaverei  nicht  abgeschafft  hat;  doch  das  hätte  sie  nicht  durch- 
setzen können ,  ohne  eine  grosse  Störung  in  das  sociale  Leben  überhaupt  zu 
bringen  und  sich  dadurch  als  revolutionäre  Partei  zu  qualificiren.    Eine  förni- 


1)  Siehe  S.  57  und  Euseb.  8,  4.  _ 

2)  Siehe  Münster,  die  Christin  im  heidnischen  Hause  vor  den  Zelten  Constantins  des 

Grossen« 


216  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

liehe  Aufhebung  der  Sklaverei  musste  alle  Staatsbürger  gleichmilssig  umfassen 
und  konnte  daher  niu'  vom  Staate  ausgehen.  Das  Christenthum  hat  hingegen 
die  Sklaverei  virtuell  abgeschafft,  indem  es  die  religiöse  Gleichheit  und  auch 
die  sociale  Gleichheit  aller  Menschen ,  diese  wenigstens  im  Princii)  procla- 
mirte^)  und  die  Christen  zu  einer  menschlichen  Behandlung  der  Sklaven  anhielt, 
darin  übrigens  übereinstimmend  mit  der  Tendenz  der  römischen  Gesetzgebung 
seit  Trajan  und  Hadrian.  Schon  Claudius  hatte  die  Aussetzung  alter  und  kranker 
Sklaven  verboten.  Hadrian  strafte  eine  Matrone,  welche  um  geringfügiger 
Dinge  willen  Sklavinnen  gequält  hatte.  Derselbe  entzog  den  Herren  die  Be'- 
fugniss,  alte  und  kranke  Sklaven  auszusetzen.  Ulpian,  der  berühmte  Rechts- 
gelehrte, der  unter  Alexander  Severus  und  Caracalla  lebte  und  ihr  Rathgeber 
war,  sprach  den  Grundsatz  aus,  dass  alle  Menschen  mit  gleichen  Rechten 
und  frei  geboren  werden,  dass  die  Sklaverei  dem  Naturrechte  widerspricht  2). 
Doch  wie  sehr  zu  wünschen  war,  dass  das  Christenthum  auf  dieses  Gebiet 
des  socialen  Lebens  noch  grösseren  Einfluss  erlange,  erhellt  daraus,  dass 
die  Herren  ungestraft  die  Sklaven  zu  den  Werkzeugen  unnatürlicher  Lastei* 
machen  durften  3). 

Im  Verhalten  der  Christen  untereinander  trat  vor  allem  her- 
vor der  innige  Gemeingeist,  die  brüderliche  und  werkthätige  Liebe.  Hierin 
fanden  auch  die  Heiden  ein  Merkmal  des  Christenthums  ^).  Der  Kuss  der 
Liebe,  womit  sie  sich  begrüssten,  war  kein  leeres  Zeichen.  Wie  in  jener  selbst- 
süchtigen Zeit  auch  die  Heiden  durch  die  Liebe  der  Christen  zu  einander 
ergriffen  wurden,  davon  ist  schon  die  Rede  gewesen  (S.  63).  Die  Idee  des 
Reiches  Gottes,  worin  alle  Völker  aufgenonmien  werden  sollten,  hob  für  die 
Christen  die  Schranken  der  Nationalität  und  der  Selbstsucht  auf.  Im  Alter- 
thum  hebte  man  das  Vaterland.  Seitdem  dieses  in  der  römischen  Weltherr- 
schaft untergegangen,  kannte  die  Selbstsucht  keine  Schranken  mehr.  Die  Kirche 
dagegen  zeichnete  sich  früh  aus  durch  eine  weitverzweigte  Wohlthätigkeit,  die, 
allerdings  zunächst  für  die  eigenen  Angehörigen  in  vielerlei  Weise  sorgte, 
aber  auch  die  Auswärtigen  und  Heiden  umfasste.  So  kamen  die  gesannnel- 
ten  Collecten  auch  entfernten  Gemeinden  zu  gute.  ^So  ein  Glied  leidet,  so 
leiden  alle  Glieder  mit,'^  schrieb  Cyprian,  als  er  eine  bedeutende  Geldsumme 
zur  Loskaufung  numidischer  Christen  aus  der  Gefangenschaft  überschickte.  — 
Während  der  Pest  Hessen  die  Heiden  die  Leichname  der  Ihrigen  vor  den 
Häusern  liegen;  die  Christen,  von  Cyprian  aufgennmtert ,  trugen  sie  fort. 
^,So  wir  nur  den  Unsrigen  Gutes  thun,  so  thun  wir  nicht  mehr  als  (he  Hei- 
den und  Zöllner.'^  Im  häuslichen  Kreise  gründete  das  Christenthum  ein  en- 
geres Famihenleben,  es  hob  die  Würde  des  Weibes;  „jetzt  erst  konnte  es, 
im  Vollgefühl  der  ihm  eigenen  Natur  und  der  hohen  Bedeutung  derselben  seines 


1)  Keiner  ist  Öclave  von  Natur,  sagt  Clemens  Alexandrinus  (Paedagogus  lib.  3,  12) 
und  nach  ihm  andere  Kirchenlehrer. 

2)  Jure  naturali  omnes  liberi  nascuntur,  —  quod  ad  jus  naturale  attinet  omnes 
homines  aequales  sunt.  —     Jure  gentium  servitus  invasit. 

3)  Alexander  Severus  und  PhiKppus  Arabs  hätten  gerne  die  von  scorta  virilia 
bewohnten  Häuser  abgeschafft,  aber  sie  wagten  es  nicht,  weil  dieses  Heilmittel  keinen 
Erfolg  versprach,  weil  die  Macht  des  Lasters  nocli  zu  gross  war. 

4)  Lucian  de  morte  Peregrini  c.  13. 


Sitten  und  Leben  der  Christen.  217 

menschlichen  Berufes  vollkommen  sich  bewusst  werden  und  ihn  zu  erfüllen 
den  reichsten  Wirkungskreis  finden.  Das  weibliche  Ideal  ist  ein  Werk  des 
Christenthums"  i). 

Im  Verhalten  der  Christen,  als  Einzelne  betrachtet,  zu 
sich  selbst,  kommt  in  Betracht  die  Askese,  acrxriffig,  sittliche  Uebung, 
als  solche  für  jeden  nöthig,  in  speciellem  Sinne  auf  die  im  Morgenlande  so 
beüebte  Beschaulichkeit  und  Enthaltsamkeit  bezogen.  In  dieser  Beziehung 
lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  neben  einer  gesunden  Richtung  eine  ungesunde 
sich  kund  gab,  die  im  Verlaufe  der  Periode  sich  nicht  wenig  verstärkte.  Vor 
allem  aber  ist  diess  zu  erwähnen,  dass  die  übertriebene  Rigorosität  der  Mon- 
tanisten nicht  beliebt  wurde  und  dass  man  sie  auch  um  derselben  willen  aus  der 
Kirchengemeinschaft  ausschloss.  Ebenso  verhielt  man  sich  zu  der  übertrie- 
benen Askese  mancher  Gnostiker,  welche  die  Ehe  überhaupt  verboten.  Doch 
wurde  gefastet  und  auf  das  Easten  Werth  gelegt.  Die  Kirchenlehrer  fanden 
aber  auch  vielfachen  Anlass,  zur  Ausübung  der  christlichen  Tugenden  und 
zum  Aufgeben  der  heidnischen  Sünden  und  Laster  zu  ermuntern;  denn 
die  Kirche  dieser  Zeit  war  so  wenig  wie  die  apostolische  ohne  Flecken  und 
Runzel;  auch  den  Märtyrern  und  Bekennern  musste  Cyprian  sehr  ernste 
Ermahnungen  geben:  „die  Würde  derBekenner  mache  nicht  frei  von  den  An- 
griffen des  Teufels  und  den  Anfällen  der  Welt.  Sonst  würde  man  an  ihnen 
keinen  Betrug,  Unzucht  und  Ehebruch  später  entdecken.^' 

Es  gab  nun  speciell  sogenannte  Asketen,  continentes '^).  Im  ersten 
Feuer  der  Begeisterung  gaben  sie  ihr  Vermögen  ganz  oder  theilweise  den 
Armen,  genossen  die  magerste  Kost,  gaben,  was  sie  darüber  erwarben,  wie- 
der den  Armen  und  weihten  sich  d^m  Studium  der  heiligen  Schrift.  Es  gab 
deren  in  beiden  Geschlechtern.  Leuchtende  Beispiele  davon  sind  Marcion 
und  Cyprian  nach  seiner  Bekehrung.  Sie  sonderten  sich  von  der  Gesellschaft 
nicht  ab,  und  kein  Gelübde  band  sie  an  das  Cülibat.  In  Beziehung  auf  viele 
Jungfrauen,  die  sich  sogar  mit  Klerikern  vergangen  hatten,  sprach  Cyprian 
es  offen  aus,  wenn  sie  nicht  ausharren  wollten,  noch  könnten,  so  sei  es 
besser,  dass  sie  heiratheu,  als  dass  sie  sich  durch  ihre  Sünden  in  das  Feuer 
stürzten.  Derselbe  Mann,  der  in  dieser  Hinsicht  so  abschreckende  Erfahr- 
ungen machte,  kann  nicht  Worte  genug  finden,  um  besonders  dem  weiblichen 
Geschlechte  die  f^helosigkeit  zu  empfehlen  und  die  Ehe  von  der  ungünstig- 
sten Seite  darzustellen.  ;,Was  wir  einst  sein  werden  (Engel),  das  habt  ihr 
schon  angefangen  zu  sein;  der  alte  Bund  befahl  zu  wachsen  und  zu  zeugen, 
der  neue  hat  die  Enthaltung  angerathen.  Wenn  der  Herr  von  den  vielen 
Wohnungen  im  Hause  seines  Vaters  spricht,  so  weist  er  hin  auf  die  besseren 
Wohnungen.  Nach  diesen  besseren  Wohnungen  verlanget  ihr,  des  Fleisches 
Lüste  abschneidend.     Jenes  Bild   des  himmlischen  Menschen,   wovon  Paulus 


1)  Ebert,  allgemeine  Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters  im  Abendlande 
1.  Band  S.  16. 

2)  Darauf  beruft  sich  Min.  Felix  c.  31  im  Gegensatz  gegen  die  Beschuldigungen  un- 
natürlicher Laster:  tantum  abest  incesti  cupido,  ut  nonnullis  rubori  sit  etiam  pudica 
conjunctio.  Jene  Beschuldigung  mag  dazu  beigetragen  haben,  die  continentes  zu  vermeh- 
ren und  im  asketisclien  Eifer  zu  bestärken. 


21g  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

spricht,  trägt  die  Jungfräulichkeit''  (de  habitu  virgiuum  c.  22.  23).  Zur  Em- 
pfehlung dieser  Askese  diente  die  Unterscheidung  einer  niederen  und  einer 
höheren  Tugend,  jene  bestehend  im  Gehorsam  gegen  die  Gebote,  diese  im 
Befolgen  der  Eathschläge,  nach  1  Kor.  7,  25,  eine  Unterscheidung,  die  schon 
Hermas  gemacht  hatte.  Die  alexandrinischen  Theologen,  die  um  deswillen 
diese  Schrift  sehr  hoch  schätzten,  ergriffen  mit  besonderem  Eifer  die  genannte 
Unterscheidung.  Origenes  lehrte:  wer  das  Gebot  erfülle,  zu  dem  werde 
gesagt,  er  sei  ein  unnützer  Knecht  (Lukas  17,  10),  wer  aber  über  das  Gebot 
hinaus  etwas  thue,  zu  dem  werde  gesagt:  o  du  guter  und  getreuer  Knecht 
(Matth.  25,  21).  Was  aber  über  die  Schuldigkeit  hinaus  gethan  werde,  das 
sage  der  Apostel  mit  den  Worten:  was  die  Jungfrauen  betrifft,  so  habe  ich 
kein  Gebot  (praeceptum,  snitayr})  des  Herrn,  ich  gebe  aber  meinen  llath 
(yvcofiTj,  consilium).  Das  bedenklichste  war,  dass  solche  Grundsätze  nebsj 
der  dazu  gehörigen  Askese  unter  katholische  Firma  gebracht  wurden. 

Diess  musste  auf  die  Anforderungen  an  den  geistlichen  Stand  zurück- 
wirken, obschon  das  Beispiel  der  Apostel,  von  denen  man  wusste,  dass  sie 
fast  alle  verheirathet  gewiesen,  gegen  diese  Askese  ein  heilsames  Gegen- 
gewicht brachte,  das  durch  die  willkürhche  Behauptung  Teitullian's ,  die 
Apostel  seien  continentes  oder  spadones  gewesen,  nicht  aufgehoben  werden 
konnte,  noch  durch  die  montanistische  Lehre,  dass  nur  ein  unverheiratheter 
Geistlicher  die  Sacramente  mit  Segen  verwalten  könne.  Es  gab  in  der  da- 
maligen kathohschen  Kirche  viele  verheirathete  Bischöfe  und  andere  Geist- 
hche.  Es  gab  Synoden,  welche  denjenigen,  die  als  Ehemänner  in  den  geist- 
hchen  Stand  getreten  waren,  verboten,  ihre  Frauen  zu  verlassen.  Es  gab 
sogar  zum  zweiten  Male  verheirathete  Geisthche.  Doch  diess  war  im  Allge- 
meinen verboten,  nach  1  Tim.  3,  2.  Bald  kam  aber  der  Gebrauch  auf,  dass 
der  Geisthche  als  solcher  nicht  heirathen,  sondern  nur  die  früher  genommene 
Frau  behalten  durfte.  Das  Concil  von  Elvira,  dessen  Kigorismus  wir  kennen, 
verordnete,  dass  den  Geistlichen  der  drei  höheren  Grade,  Bischof,  Presbyter 
und  Diakon  das  ehehche  Leben  gar  nicht  gestattet  sei,  und  es  auch  den 
übrigen  Geisthchen  verboten  sei,  die  ehehche  Ptiicht  zu  üben ,  solange  sie  im 
Kirchendienste  thätig  seien.  Doch  solche  Gebote  fanden  durchaus  nicht  all- 
gemeine Befolgung.  Von  denjenigen,  die  sich  selbst  zu  Eunuchen  machten, 
und  von  der  Verordnung  dagegen  ist  bei  Anlass  von  Origenes  bereits  die 
Bede  gewesen.  Je  mehr  aber  die  falsche  Werthschätzung  des  ehelosen  Stan- 
des grassirte,  desto  öfter  geschah  es,  dass  die  Asketen  junge  uuverheirathete 
Frauenzimmer  als  geistliche  Schwestern  mit  sich  herum  führten  ( 1  Kor.  9,  5), 
gegen  welche  gefährliche  Gewohnheit  Kirchenlehrer  und  Synoden  sich  aus- 
sprachen 1).  Am  Ende  der  Periode  trat  eine  neue  Art  von  Asketen  auf. 
Bisher  hatten  sie  unter  den  übrigen  Christen  zerstreut  gelebt,  ohne  äussere 
Auszeichnung.  Nun  aber  geschah  es,  dass  während  der  diocletianischeu 
Verfolgung  und  zum  Theil  schon  früher  einige  in  die  thebaische  Wüste 
flüchteten,  und  sich  einer  bis  dahin  unerhört  strengen  Askese  ergaben.    Schon 


1)  Sie  hiessen  cvyftgaxrot  bei  den  Antiochenern  nach  Enseb.  7,  30,  subintro- 
duetae,  ccyanTjTat,  extraneae,  die  erste  Spur  davon  bei  den  Valentiuianern  Iren.  1,  1,  bei 
den  Enkratiten  Epiph.  haoresis  47,  3,  bei  den  Kathohken  Hermas  pastor.  3,  sim.  9,  S-  H- 


Scbluss.  219 

währeild  der  decischen  Verfolgung  hatte  sich  Paulus  von  Theben  in  die 
thebaische  Wüste  geflüchtet,  wo  er,  von  der  Welt  gänzlich  abgeschieden 
und  ihr  durchaus  unbekannt,  siebenundneunzig  Jahre  verweilte,  bis  ihn  der 
neunzigjährige  Antonius  aufsuchte,  worauf  er  in  einigen  Tagen  verschied. 
Im  Jahre  311  erschien  in  Alexandrien  derselbe  Antonius  ni  auffallendem 
Anzüge.  An  ihn  grossentheils  knüpft  sich  eine  neue  Gestaltung  des  aske- 
tischen Lebens. 

Schluss. 

Wir  haben  die  Entwicklung  und  die  Schicksale  der  katholischen  Kirche 
seit  dem  Ausgange  des  apostolischen  Zeitalters  verfolgt.  Wir  sind  Zeugen 
ihrer  Leiden,  ihrer  Verfolgungen,  ihres  glorreichen  Märtyrerthums,  so  wie 
auch  ihrer  wachsenden  Ausbreitung  gewesen.  Wir  haben  gesehen,  wie  sie, 
mit  geistigen  AVatfen  angegriffen,  mit  Waffen  des  Geistes  sich  vertheidigte 
und  zwar  in  solcher  Weise ,  dass  sie  den  Gebildeten  Hochachtung  abnöthigte. 
Da  aber  die  gefährlichsten  Feinde  sich  in  ihrem  eigenen  Schoosse  bildeten, 
so  ergriff  sie  dagegen  die  wirksamsten  Maassregeln.  Hier  fanden  die  Idee 
der  Katholicität ,  die  mündliche  Tradition,  die  Sammlung  der  neutestament- 
lichen  Schriften,  die  Glaubensregel,  das  apostohsche  Symbolum,  weiterhin 
die  auf  dieser  Grundlage  sich  erbauende  kathoHsche  Theologie  ihre  Stelle. 
Die  begritlliche  Fassung  der  Glaubenswahrheiten  ist  allerdings  nicht  zum 
Abschluss  gekonunen,  aber  es  gibt  doch  kaum  ein  Dogma,  wofür  nicht  we- 
nigstens einige  richtige,  leitende  Gesichtspunkte  wären  aufgestellt  worden. 
Eine  Fülle  von  Ideen,  betreffend  die  höchsten  Fragen  des  meuschhchen  Gei- 
stes, die  höchsten  Interessen  der  menschlichen  Seele  ist  in  die  Menschheit 
hineingeworfen  worden,  Ideen,  die  in  Folge  ihrer  innewohnenden  Macht  fort- 
wirken mussten  und  die  geeignet  waren,  eine  neue  Welt  des  Geistes  zu 
schaffen,  den  Grund  zur  Erneuerung  der  Menschheit  in  intellectueller ,  sitt- 
lich-rehgiöser,  politischer  und  socialer  Beziehung  zu  legen,  zumal  da  mit 
der  Ausbildung  der  Heilslehre  die  entsprechenden  ethischen  Grundsätze, 
Anschauungen,  Bestrebungen,  die  entsprechende  Gestaltung  des  individuellen 
sowohl  als  des  Gemeinschaftslebens  verbunden  wurden,  wobei  allerdings  nicht 
zu  läugnen  ist,  dass  auf  dem  Gebiete  des  individuellen  Lebens  die  Askese 
und  was  damit  unmittelbar  zusannnenhängt ,  störend  eingriff*  Doch  wurden 
grelle  Auswüchse  nicht  geduldet. 

-  Die  Mannigfaltigkeit  der  theologischen  Richtungen  und  Ansichten,  die 
unter  den  weiten  Begriff  der  katholischen  Einheit  zusammengefasst  wurden, 
so  dass  Differenzen,  die  in  der  Neuzeit  zir  schroff  getrennten  Kii'chengemein- 
schaften  geführt  haben,  friedlich  neben  einander  bestanden,  diese  Erscheinung, 
worin  sich  recht  deutüch  das  Jugendzeitalter  der  Kirche  zeigt,  that  der 
heihgen  Sache,  um  die  es  sich  handelte,  keinen  Eintrag.  Auf  der  anderen 
Seite  wurden  manche  sonderbare  Gedanken,  die  zur  Aufhellung  der  Glaubens- 
wahrheiten vorgebracht  worden,  manche  Unklarkeit  und  Unbeholfenheit, 
welche  die  Kirchenlehrer  kund  gaben,  damals  weniger  bemerkt,  noch  als 
solche  erkannt  i).    Darin  zeigte 'sich  recht  deutlich,  wie  sehr  Lehre  und  Leben 


1)  Ein  Beispiel  davon  ist  des  Origenos  Lehrform  von  der  menschlichen  Seele  Christi, 


220  Erste  Periode  des  alten  Katholicismus. 

auseinander  zu  halten  sind.  Dieselben  Männer,  bei  denen  wir  in  Ifnisiclit 
der  Lehrentwicklung  Manches  missen,  Manches  auszusetzen  haben,  dieselben 
sind  es,  die  in  einem  langen  Leben  der  Kirche  die  wichtigsten  Dienste  gelei- 
stet haben,  und  viele  sind  als  Märtyrer  gestorben.  Sie  bezeugen  uns  in  ihrem 
Leben  wie  in  ihrem  Tode,  dass  die  Christen  in  ihrem  Inneren  Grösseres  be- 
sitzen, als  was  ihnen  gegeben  wird,  begrifflich  auszudrücken. 

So  nahm  denn  auch  die  katholische  Idee,  unter  deren  Herrschaft  bald 
nach  dem  Anfange  des  zweiten  Jahrhunderts  das  Cliristenthum  war  gestellt 
worden,  nachdem  sie  im  Kampfe  gegen  die  inneren  Feinde  der  Kirche  eine 
heilsame  Wirkung  gehabt  hatte,  eine  solche  Wendung,  wodurch  in  mehr- 
facher Beziehung  die  Reinheit  des  Evangeliums  beeinträchtigt  wurde.  Wii* 
haben  nachgewiesen,  dass  sich  eine  Richtung  geltend  machte,  das  Christen- 
thum  als  Gesetz  aufzuessen.  Schon  bei  Justin  dem  Märtyrer  hatte  sich  der 
Gedanke  angebahnt,  dass  das  Christenthum  lediglich  das  von  dem  rituellen 
Stoffe  gereinigte  Gesetz  sei  ^).  Der  Einfluss  der  beginnenden  gesetzlichen 
Richtung  gab  sich  kund  in  der  Heilsordnung ,  in  den  Vorschriften  der  Kirche 
über  Kirchenzucht,  in  einigen  Punkten,  betreffend  die  Auffassung  und  Ge- 
staltung des  christlichen  Lebens  überhaupt.  In  Verbindung  mit  dem  durch 
die  montanistischen  Excesse  herbeigeführten  Zurücktreten  des  allgemeinen 
Priesterthums  der  Gläubigen,  in  Verbindung  mit  dem  ()i)fercultus ,  sofern  er 
durchaus  nicht  blos  als  allegorischer  oder  als  mnemonischer  Act  gedacht,  sondern 
als  Darbringung  eines  materiellen,  sinnlichen  Opfers  gehandhabt  wird,  be- 
ginnt die  Entwicklung  der  Idee  des  Priesterthums,  mit  mittlerischem  Cha- 
rakter, wobei  die  Worte  legevg,  sacerdos  in  ihrem  strengen  Sinne  gebraucht 
werden  als  Benennungen  derjenigen  Personen,  welche  im  Unterschiede  von 
den  übrigen  Gläubigen  die  Berechtigung ,  Kraft  und  Vollmaclit  erhalten  ha- 
ben, die  durch  das  christliche  Gesetz  geforderten  Opfer  darzubringen.  Je 
mehr  der  Opfercultus  sich  befestigt,  je  mehr  darauf  der  Grundsatz  ange- 
wendet wird,  dass  man,  um  von  Gott  zu  empfangen,  ihm  zuvor  geben  muss, 
desto  mehr  befestigt  sich  auch  die  gesetzliche  Richtung,  und  mit  ihr  die 
Anschauung,  wonach  die  Kirche  mehr  als  Anstalt,  denn  als  Gemeinschaft 
aufgefasst  wird. 

Gesetz,  Priesterthum  2)  und  Opfer,  diese  drei  Punkte,  worin  sich 
die  Reaction  der  ausserchristlichen ,  sei  es  jüdischen,  sei  es  heidnischen  Re- 
ligionssphäre auf  die  christliche  vollzieht,  suchen  also  sich  im  kathohschen 
Christenthum  einzubürgern,  mit  der  Tendenz,  den  ursprünglichen  Begriff  des 
Katholischen  umzuändern.  Es  ist  zwar  Alles  erst  im  Werden  begriffen, 
Nichts  ist  abgeschlossen,  es  ist  aber  zu  befürchten,  dass,  wenn  in  Folge 
des  neuen  Verhältnisses  zwischen  Khxhe  und  Staat  die  Völker  haufenweise 
in  die  kathoHsche  Kirche  aufgenommen  werden,  die  Kirche  mehr  und  mehr 
die  Richtung  auf  Gesetz,  Priesterthum  und  Opfer  verfolgen  und  ausbeuten 
wird,  als  das  kräftigste  Mittel,  um  die  Massen  der  Völker  anzuziehen  und 
die  angezogenen  zu  beherrschen. 


1)  Ritschi  a.  a.  0.  S.  306. 

2)  Als  ausschliesslich  einer  bestimmten  Classe  der  Gläubigen  zukommend. 


Zweite  Periode  des  alten  Katliolicisiiiiis. 

Vom  Jahre  313  bis  zum  Jahre  451,  vom  Rehgionsedict  der  Kaiser 
Constantin  und  Liciuius  bis  zur  KirchenversammUmg  von  Chaicedou. 

Einleitung. 

So  kurz  der  Zeitraum  ist,  der  von  dieser  Periode  umschlossen  wird,  so 
ist  sie  doch  die  Zeit  der  höchsten  Kraftentfaltung  der  altkathoUschen  Kirche, 
und  diese  Entfaltung  erfolgt  unter  der  Oberherrschaft  des  Staates,  dessen 
Häupter,  für  das  Christenthum  gewonnen,  dasselbe  unter  ihren  Schutz  neh- 
men. Die  enge  Verbindung  von  Staat  und  Kirche  macht,  im  Vergleiche  mit 
der  vorhergehenden  Zeit  den  unterscheidenden  Charakter  dieser  Periode  aus. 
In  allen  Theilen  und  Verzweigungen  des  kirchlichen  Lebens  begegnen  wir 
den  Wirkungen  dieses  neuen  Verhältnisses  zwischen  Staat  und  Kirche.  Mit 
Hülfe  des  Staates  wird  die  alte  Religion  bekämpft  und  grösstentheils  ausge- 
rottet und  das  Christenthum  in  die  Gesetzgebung  übergetragen.  Die  Ver- 
bindung von  Kirche  und  Staat,  indem  sie  die  Kirche  von  alten  Feinden  be- 
freite ,  gewährte  den  innerhalb  der  Kirche  obwaltenden  Differenzen  grösseren 
Spielraum  und  machte  die  so  entscheidend  wichtigen  allgemeinen  Concilien 
möglich  und  sicherte  ihre  Autorität.  Der  Pomp,  womit  der  Gottesdienst 
ausgestattet  wui'de,  kam  auch  von  dem  Bestreben  her,  die  Neubekehrten 
anzuziehen,  welche  in  Folge  der  Verbindung  von  Kirche  und  Staat  sich 
reissend  vermehiten.  Da  das  christliche  Leben  aus  derselben  Ursache,  weil 
das  Bekenntniss  des  christhchen  Glaubens  nicht  mehr  mit  Opfern  und  Le- 
bensgefahr verbunden  war,  zu  sinken  begann,  entstand  und  verbreitete  sich 
als  Reaction  dagegen  so  wie  als  Ersatz  für  das  Märtyreithum  das  Mönch- 
thum.  Doch  ist  nicht  zu  läugnen,  dass  der  Grund  zu  den  meisten  der  ge- 
nannten Erscheinungen  schon  in  der  vorhergehenden  Periode  gelegt  wor- 
den war. 

Es  gilt  diess  namentUch  von  der  Lehrentwicklung.  In  der  ersten  Pe- 
riode haben  wir  den  bedeutsamen  Kampf  hervorgehoben,  woraus  die  Idee 
der  katholischen  Kirche  im  Gegensatze  gegen  die  Häresieen  hervorging.  Die- 
ser Process  der  Lehrentwicklung  erreichte  nun  in  dieser  zweiten  Periode 
seine  höchste  Entwicklung.  Der  kathohsche  Lehrbegriff  wurde  inmitten  der 
gewaltigsten  Kämpfe  fixirt.  Von  der  grössten  Bedeutung  war  es  auch,  dass 
die  geimanischen  Völker,  an  welche  bald  die  Bewegung  der  Weltgeschichte 
übergehen  sollte,  für  das  Christenthum  gewonnen  wurden.  Dazu  wurden  sie 
auch  zum  Theil  durch  die  im  römischen  Reiche  herrschende  Verbindung  von 
Kirche  und  Staat  willig  gemacht. 


222  '  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Was  die  Quellen  und  Bearbeitungen  betrifft,  so  sind  wir  zunächst  an  die  letzten 
Abschnitte  der  Kirchengeschichte  E  u  s  e  b'  s,  sowie  an  dessen  Leben  Constantin's  ge- 
wiesen, ausserdem  an  dessen  Fortsetzer:  Sokrates,  Scholasticus  in  Constaii- 
tinopel,  der  in  sieben  Büchern  die  Kirchengeschichte  vom  Jahre  306  bis  439  fort- 
führte, Hermias  Sozomenus,  Sachwalter  in  Constantinopel,  dessen  neun  Bä- 
cher der  Kirchengeschichte  die  Zeit  von  323  bis  423  umfassen,  Theodore t,  Bischof 
in  Cyrus,  der  in  fünf  Büchern  die  Kirchengeschichte  der  Zeit  vom  Jahre  322  bis 
429  darstellt.  Der  Arianer  Philostorgius  hatte  in  zwölf  Büchern  die  Kirchen- 
geschichte vom  Jahre  318  bis  425  behandelt;  sein  Werk  ist  aber  nur  in  den  Auf- 
zügen beiPhotius,  Codex  50  vorhanden.  Von  weiteren  Fortsetzern  kommen  in  Be- 
tracht: Theodorus  Lector  in  Constantinopel,  der  einen  Auszug  aus  Sokrate«, 
Sozomenus  und  Theodoret  in  zwei  Büchern  machte  und  dieselben  in  zwei  Büchern 
bis  518  fortführte,  wovon  Fragmente  bei  Nicephorus  Callistus.  —  Evagrius 
Scholasticus  m  Antiochien  schrieb  die  Kirchengeschichte  in  sechs  Büchern  vo'i 
431  bis  594.  —  Nicephorus  Callistus  c.  1330  schrieb  auf  Grund  älterer 
Historiker  eine  Kirchengeschichte,  von  der  die  achtzehn  ersten  Bücher  bis  610 
reichend  erhalten  sind.  Dazu  kommt  das  Chronicon  Paschale  von  Erschaffung 
der  Welt  bis  628  p.  Chr.  Soweit  die  griechischen  Kirchenhistoriker.  Von  lateinischen 
sind  zu  nennen: 

Severus  Sulpicius,  Presbyter,  historia  sacra.  Zwei  Bücher  von  Erschaffung  de]- 
Welt  bis  400  p.  Chr.  Eufinus,  Presbyter  in  Aquileja,  üebersetzung  der  K.  G.  des 
Euseb  in  neun  Büchern,  fortgesetzt  in  zwei  Büchern  bis  395.  Cassiodor  und 
Epiphanius,  Scholasticus,  c.  550,  historia  tripartita  aus  Sokrates,  Sozomenus 
und  Theodoret  zusammengesetzt. 

Dazu  kommen  Hieronymus  de  viris  illustribus,  schon  für  die  frühere  Periode  Quelle, 
von  Gennadius  bis  495  fortgesetzt,  die  Chronik  des  Euseb  von  Cäsarea  von  Hie- 
ronymus übersetzt  und  von  demselben  bis  379  fortgesetzt.  —  Von  Bedeutung  sind 
die  heidnischen  Geschichtschreiber  Ammianus  Marcellinus  in  einunddreissig 
Büchern,  wovon  14  bis  31  vorhanden,  'die  von  353  bis  378  reichen.  S.  über  ihn 
den  Artikel  von  Rettberg  in  der  Eealencyklopädie.  Zosimus,  tffroQict  vin  in  sechs 
Büchern  bis  410. 

Von  neuen  Bearbeitungen  S.  ausser  den  allgemeinen  Geschichtswerken  von  Gieseler 
und  Neander,  Baur,  die  christliche  Kirche  vom  Anfang  des  vierten  bis  zum  Ende 
des  sechsten  Jahrhunderts  1859. 


Erster  Absclinitt. 


Aeussere  Schicksale   des  Christeiithums   im   römischen  Reiche, 
Kampf  mit  dem  Heidenthum  und  Sieg  über  dasselbe. 

Vor  allem  ist  uns  die  Aufgabe  gestellt,  denjenigen  Kreis  von  Begeben- 
heiten kennen  zu  lernen ,  die  auf  alle  Gebiete  des  kirchlichen  Lebens  solch 
einen  weitschichtigen  Einfluss  ausgeübt  haben.  Bei  dem  Beginn  der  Periode 
war  das  Heidenthum  noch  mächtig  und  die  Zahl  seiner  Anhänger  überstieg 
weit  die  der  Christen.  Am  Ende  der  Periode  fristete  es  nur  noch  in  einigen 
abendländischen  Provinzen  ein  siechendes  Dasein.     Wie   ist   das  geschehen? 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthnms.    ConstantiH.  223 

Ist  das  Heidenthum  durch  die  innere  Kraft  des  Christenthums  besiegt  oder 
durch  äussere  Gewalt  überwunden  worden?  Oder  hat  beides  zusammenge- 
wirkt, um  die  alte  Religion  zu  stürzen?  Auf  diese  Fragen  soll  die  folgende 
Ausführung  die  Antwort  geben. 

1)  Regierung  Constantin's  und  seiner  Söhne  ^). 

Eine  Zeit  lang  regierte  Constantin  noch  gemeinschaftlich  mit  Licinius. 
In  dieser  Zeit  konnte  er  noch  nicht  so  frei  handeln  und  sich  des  Christen- 
thums nicht  so  sehr  annehmen,  als  ei  wohl  gewünscht  hätte.  Doch  liess  er 
schon  in  dieser  Zeit  der  Kirche  seinen  Schutz  angedeihen.  Er  beÜiss  sich 
nämlich,  durch  mehrere  Gesetze  dem  Christenthum  dieselben  Rechte  zu 
geben,  welche  die  heidnische  und  die  jüdische  Religion  besassen.  So  ent- 
band er  die  christlichen  Geistlichen  von  der  Verpflichtung,  in  den  Municipal- 
städten  obrigkeitliche  Aemter  zu  bekleiden.  Er  erlaubte,  den  Kirchen  Ver- 
mächtnisse zu  machen.  Die  von  Christen  freigelassenen  Sklaven  sollten  es 
auch  in  Wirklichkeit  sein.  Grosse  Summen  wurden  den  afrikanischen  Chri- 
sten gespendet  zur  Herstellung  ihrer  zerstörten  Kirchen.  Das  Gebot  der  Sonn- 
tagsfeier, als  des  Sonnentages,  durch  Unterlassung  der  Arbeit  begangen,  —  wo- 
bei jedoch  für  Feldarbeiten  Ausnahmen  gestattet  wurden ,  —  hatte  zwar  noch 
einen  syncretistischen  Charakter.  Es  sollte  der  Sonnengott  als  neutrale 
Gottheit  für  Heidenthum  und  Christenthum  gelten  und  dadurch  die  beiden  Re- 
ligionsparteien einander  genähert  werden.  Denn  Constantin  hatte  in  der  ersten 
Zeit  alles  Ernstes  den  Gedanken  einer  Verschmelzung  der  Religionen  aller  Völker 
des  Reiches  erfasst,  da  er  sich  sagte,  dass  Uebereinstimmung  in  der  Religion 
auch  eine  politisch  heilsame  Wirkung  haben  könnte  ^).  Demnach  ist  es  nicht 
auflallend,  dass  er  fortfuhr,  die  mit  seiner  Würde  als  Pontifex  maximus 
verbundenen  Obliegenheiten  zu  erfüllen.  Als  heidnischer  Oberpriester  nahm 
er  Theil  an  heidnischen  Opfern.  Heidnische  Bilder  blieben  auf  den  Münzen 
und  anderswo,  auf  manchen  Münzen  war  neben  dem  Sonnengotte,  als  Vertreter 
des  bisherigen  Cultus,  das  Kreuz  als  Anerkennung  Christi  beigefügt.  Es 
scheint,  dass  Constantin  sich  noch  nicht  ganz  ofl"en  für  das  Christenthum 
erklären  moclite,  theils  aus  Pohtik,  d.  h.  aus  Rücksicht  auf  den  Mitkaiser, 
theils  weil  er  innerlich  noch  nicht  befestigt  war  und  das  Christenthum  noch 
besser  kennen  lernen  wollte  ^). 


1)  Hier  kommen  in  Betracht  die  früher  (S.  57.  59)  genannten  Schriften  von  Euseb, 
Manso,  Burkhardt,  Keim. 

2)  Euseb  de  vita  Const.  2,  65. 

3)  Hier  sei  uns  ein  Nachtrag  zu  dem  Seite  60  und  61  Bemerkten  gestattet,  auf 
Grund  des  Werkes  von  Zo  eckler:  das  Kreuz  Christi  1875,  das  uns  seitdem  in  die  Hände 
gekommen.  Das  seit  dem  Siege  Constantin's  über  Maxentius  als  Emblem  des  christlich- 
römischen Reichsheeres  eingeführte  Labarumzeichen  trägt  keineswegs  den  Charakter  einer 
absolut  neuen  Erfindung  oder  des  Products  einer  göttlichen  Offenbarung,  sondern  zeigt 
eine  auffallende  Aelinlichkeit  mit  monogrammatischen  Schriftzügen  auf  egyptischen,  bak- 
trischen  nnd  kleinasiatischen  Münzen,  und  mag  sich  also  wegen  seiner  Doppelsinnigkeit 
dem  zu  mystischen  Syncretismus  geneigten  Sinne  des  Kaisers  sowie  dessen  politischen 
Absichten  besonders  empfohlen  haben. 


224  Zweite  Periode  des  alten  Kattolicismus. 

Erst  seitdem  er  Alleinherrscher  des  ganzen  Reiches  geworden,  entfal- 
tete er  vollkommen  seinen  Plan.  Die  beiden  Augusti  waren  von  zu  verschie- 
dener Gesinnung,  al^  cldss  sie  lange  Zeit  hindurch  friedhch  neben  einander 
hätten  herrschen  können.  Der  Krieg,  der  im  Jahre  323  zwischen  ihnen 
ausbrach,  wurde  thatsächhch  zu  einem  Religionskriege,  indem  Licinius,  um 
sich  die  heidnische  Partei  geneigt  zu  erhalten,  die  Christen  in  den  seiner 
Herrschaft  unterworfenen  Provinzen  verfolgte,  zwar  nicht  so,  dass  er  durcli 
Edicte  die  Bekenner  des  christhchen  Namens  mit  Tod  bedrohte,  aber  durch 
die  Volkswuth  und  den  Eifer  der  Unterpräfecten  hatten  die  Christen  Manches 
zu  leiden.  Dahin  gehört  die  freilich  etwas  ausgeschmückte  Geschichte  der 
vierzig  Soldaten  zu  Sebaste  in  Armenien.  Das  steht  fest,  dass  der  Sieg 
Constantin's  über  Licinius,  den  jener  tödten  Hess  (Sokr.  1,  4),  im  Jahre  32i) 
zugleich  ein  Sieg  über  das  Heidenthum  war  ^).  Man  kann  aber  nicht  sagen, 
dass  seitdem  die  Embleme  des  heidnischen  Cultus  auf  Constantin's  Münzen 
völlig  verschwanden.  Jedoch  in  anderer  Beziehung  trat  allerdings  seine 
Neigung  zum  Christenthum  offen  hervor. 

Die  Begünstigung  desselben  hing  zusammen  mit  den  umfassenden  Re- 
formationsplänen des  Kaisers.  Sie  wurden  eniffnet  durch  die  Gründung  von 
Neu  Rom  2).  Aus  dem  alten  Byzanz ,  an  den  Ufern  des  Bosporus ,  wurde 
das  prächtige  Constantinopel ,  geschmückt  mit  den  Reichthümern  und  Kunst- 
schätzcii  des  vereinigten  Morgen-  und  Abendlandes.  Rom  passte  in  keiner 
Weise  zu  den  Plänen  des  Kaisers.  Es  hielt  mit  zäher  Anhänghchkeit  den 
alten  Gottesdienst  fest,  dem  es  seine  Grösse  zu  verdanken  glaubte.  Es  war 
der  Sitz  repubhcanischer  Bestrebungen  und  gewohnt,  sich  über  die  Be- 
herrscher des  Reiches  frei  zu  äussern.  Auch  Constantin's  Empfindlichkeit 
war  während  seiner  letzten  Anwesenheit  in  Rom,  so  glänzend  die  Aufnahme 
gewesen,  die  ihm  widerfahren,  sehr  gereizt  worden.  Erbittert  über  seine 
Vernachlässigung  der  väterhchen  Götter,  verwünschten  ihn  die  Römer.  Die 
Gründung  Neu-Roms  hat  nun  auf  die  Geschicke  des  Christenthums  grossen 
Einfluss  gehabt.  Wäre  Rom  Residenz  der  Kaiser  gebheben,  so  würde  sich 
das  Pabstthum  nicht  so  leicht,  wenigstens  in  anderer  Weise  entwickelt  ha- 
ben. Rom  fiel  im  fünften  Jahrhundert  in  die  Hände  der  germanischen 
Völker.  Constantinopel  blieb  bis  in  das  fünfzehnte  Jahrhundert  ein  Bollwerk 
des  Christenthums,  zuerst  gegen  die  andringenden  germanischen  Völker,  so- 
dann später  gegen  den  Islam  und  dessen  Bekenner.  In  Constantinopel  erhielt 
sich  griechische  Wissenschaft  und  Kunst ,  die  im  Abendlande  wenig  bekannt 
war.  Der  Fall  Constantinopels  im  Jahre  1453  kam  im  geeigneten  Zeitpunkte, 
um  die  Refonnation  des  sechzehnten  Jahrhunderts  vorzubereiten.  Constantin 
begnügte  sich  aber  nicht  mit  diesem  riesenhaften  Unternehmen.  Eine  Menge 
anderer  Veränderungen  wurden  vorgenommen ,  welche  darauf  hinzielten,  dem 
Reiche  eine  bessere  Administration  zu  geben,  die  Centrahsation  zu  befördern, 


1)  S.  Dr.  Frz.  Goerres,  kritische  UntersuGhungen  über  die  Ucinianische  Christen- 
verfolgung Jena  1875.     S.  theol.  Literaturzeitnng  Nr.  5. 

2)  Nfn  Pinut].  Später,  nach  dem  Concil  v.  Nicäa,  nannte  der  Kaiser  die  neue 
Stadt  Constantinopel,  und  bestimmte  durch  ein  Gesetz,  dass  sie  dfvrfQa  P(Of,tj  genannt 
würde.    Sokrates  1,  16. 


Aeussere  Schicksale  des  Christentlmins.    Constantin.  225 

die  Macht  der  Regierung  zu  erhöhen.  Leider  erhöhte  Constantin  sehr  die 
Abgaben  und  trug  so  zum  Verfall  des  Reiches  bei;  doch  wurde  unter  seiner 
Regierung  das  Loos  der  Bauern  etwas  verbessert. 

Das  Werk   der  Erneuerung   und  Reformation   des  Reiches   sollte  nun 
vorzüglich  durch  Begünstigung  des  Christenthums  befestigt  und  gekrönt  werden. 
Der  Kaiser  suchte  demnach  auf  alle  mögliche  Weise  diese  Religion  zu  heben, 
doch  ohne  die  heidnische  Religion  zu  verfolgen.     Es  hatte  sich  das  Gerücht 
verbreitet  und   war  auch  zu  den  Ohren  Constantin's  gekommen,  dass  er  die 
Heiden  mit  Gewalt  von  ihrer  Religion  abwendig   zu   machen  gedenke.     Con- 
stantin befliss  sich ,  dieses  Gerücht  Lügen  zu  strafen.    In  zwei  Gesetzen  vom 
Jahr^  319   wurde   auf  das  Bestimmteste  Religionsfreiheit   gewährt.     Auch 
später  sprach  der  Kaiser  die  Grundsätze   der  Toleranz   aus.     In   seinen   an 
gewisse   morgenländische  Provinzen    gerichteten  Proclamationen   erklärte   er, 
Niemand  solle  den  Andern  wegen  der  Religion  beunruhigen,   Jeder  solle  das 
thun,  was  seine  Seele  will.    „Wir  besitzen,   o  Gott,^^  heisst  es  in  derselben 
Proclamation ,    „das  strahlende  Haus  deiner  Wahrheit,   das   du  uns  unserer 
Natur  gemäss  gegeben   hast  ^).     Wir  wünschen,    dass  diese  Wahrheit   auch 
den  Heiden  zu  Theil  werde ,  auf  dass  sie  mit  uns  die  Früchte  der  Eintracht 
geniessen.    Aber  Niemand  unterstehe  sich,   den  Frieden  des  Andern  zu  stö- 
ren durch  seine  abweichende  Ueberzeugung.    Jeder  suche  dem  Andern  nütz- 
lich zu  werden  nach   dem  Masse  der  ihm  gewordenen  Erkenntniss;  wenn  es 
nicht  möglich  ist,  so  lasse  er  ihn  seinen  Weg  gehen."     Dieselben  Proclama- 
tionen waren  übrigens  bestimmt  darauf  berechnet,  die  Heiden  zum  Christen- 
thum  hinzuziehen.    Eine  derselben  fing  mit  den  Worten  an:    „Allmächtiger, 
wir  bitten  dich,  du  mögest  ihnen  das  Heil  bringen  durch  mich,  deinen  Diener. 
Ich  liebe  aufrichtig  deinen  Namen  und  fürchte  deine  Macht,   welche  du  mir 
durch  vielfältige  Zeugnisse  kund  gegeben  hast."    Dagegen  machte  er  geltend, 
dass  die  Verfolger  der  Christen   ein  schmähliches  Ende   genommen.    Er  be- 
gnügte sich  nicht  mit  dem   geschriebenen  Worte.     Er  hielt  auch  Predigten 
in  Gegenwart   des  Hofes   und   vieler   tausend  Zuhörer.     Sein  Thema  war  in 
der  Regel  die  Widerlegung  des  Götzendienstes,  der  Monotheismus,  die  Vor- 
sehung, die  Erlösung  und  das  Gericht;  doch  machte  er  auch  Ausfälle  gegen 
die  Gewaltthätigen  und  Geldsüchtigen.     Von   der  Wirkung   dieser  Predigten 
weiss  Euseb    freilich   nichts   zu   sagen.     Diesen   Kundgebungen   suchte   der 
Kaiser  dadurch  Nachdruck. zu  geben,   dass  er   diejenigen,   die  das  Christen- 
thum  annahmen,  reichlich  unterstützte.    Er  war  sich  zwar  wohl  bewusst,  dass 
allein  durch  solche  Mittel  keine  wahre  Bekehrung  zu  Stande  kommen  könne. 
Doch    legte   er   schon   grossen  Werth  darauf,   dass   die  Menschen  sich  zum 
Christenthum  äusserlich  bekannten.    Zu  seiner  Rechtfertigung  berief  er  sich, 
freilich  ohne  allen  Grund  auf  Phihpp.  1,  18.    Er   hielt   dafür,    die   meisten 
Menschen  würden  ohne  inneren  Zug  gewonnen;    sie   müssten   durch  äussere 
Dinge  angezogen   werden;   man  müsse  wie   ein  weiser  Arzt  allerlei  Mittel 
anwenden. 


1)  Euseb  de  vita  Const.  2,  56.    Die  Stelle  wird  sehr  verschieden  übersetzt:   ovnfQ 

(otxou)  xnrn  (fvctv  ^edcoxng,  Neander  riclitig,   aber  paraphrasirend :    wie  es  unsere  Na- 
tur verlangt. 

Herzog,  Eircbengescbichte  I.  15 


226  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus, 

So  strömten  denn  die  Heiden  massenhaft  in  die  lürche.  Die  neue 
Wendung  der  Dinge  machte  einen  wunderbaren  Eindruck  auf  die  Gemüther. 
Bei  dem  Schlüsse  der  nicänischen  Synode  versammelte  Constantin  in  Niko- 
medien  die  anwesenden  Bischöfe  und  gab  ihnen  ein  Gastmahl,  wobei  sie 
glänzend  empfangen  und  bewirthet  wurden.  Krieger  mit  gezogenen  Schwerdtcirn 
hüteten  die  kaiserüchen  Gemächer  und  inmitten  derselben  gingen  furchtlos 
die  Männer  Gottes.  Einige  Bischöfe  durften  am  Tische  des  Kaisers  speisen; 
die  anderen  hatten  sich  an  anderen  Tischen  niedergelassen.  Es  schien  das  Bild 
des  Reiches  Christi  hingezaubert  zu  sein.  Das  Ganze  sah  mehr  einem  Traume, 
als  einer  wirkhchen  Begebenheit  ähnlich;  so  berichtet  Euseb  de  vita  Const. 
3,  15.  Wohl  war  es  ein  schöner  Traum!  Es  lässt  sich  von  vornherein 
erwarten,  dass  Constantin  selbst  dergleichen  Lobeserhebungen  zu  hören  be- 
kam; doch  er  wies  solche  zurück.  Zugleich  aber  forderte  er  die  Bischöfe 
auf,  neue  Kirchen  zu  bauen,  und  baute  selbst  deren  einige,  auf  dem  heihgcm 
Grabe  in  Jerusalem,  sodann  auf  dem  Oelberge,  in  Bethlehem.  Er  suchte 
die  Praefecturen  wo  möglich  an  Christen  zu  vertheilen;  doch  musste  er  in 
hohen  Staatsämteni  Heiden  dulden.  Denn  gerade  die  angesehensten  r)- 
mischen  Familien  bheben  der  alten  Religion  getreu.  Im  Jahre  331  wurden 
den  Göttern  in  Rom  neue  Altäre  emchtet. 

Schon  um  deswillen  musste  der  Kaiser  sich  vor  Verfolgung  des  Heidenthun  s 
hüten.   Was  er  Gewaltsames  gegen  dasselbe  unternahm,  beschränkt  sich  darauf, 
dass  er  im  Morgenlande  mehrere   weniger  gebrauchte   heidnische  Tempel  iu 
christhche  Kirchen  umwandelte  und  einige  sitthch  austössige  Culte,   den  der 
Aphrodite  zu  Aphaka  in  Phönicien,  des  Nil  in  Aegypten  aufhob.     Das  war 
PoUzeimassregel.    Eher  liesse  sich  die  Zerstörung  des  Tempels  Aesculaps  zi 
Aegae  in  Cihcien  als  der  sonstigen  Toleranz  Constantin's  widersprechend  dar- 
stellen,  der  Tempel  war  voll  behangen  mit  den  Weihgeschenken  derer,   dio 
dem  Gotte  ihre  Heilung  zu  verdanken  wähnten.     Nicht  blos  das  Volk,  auch 
die  Gebildeten  priesen  diese  Wunderheilungen.     Um   den  Täuschungen,   di(5 
dabei  unterhefen,   ein  Ende   zu  machen,   hess  Constantin   den  Tempel  zer- 
stören und  fällte  damit   eine  wesentliche  Stütze   des  Heidenthums  in  jener 
Gegenden.    Doch  das  sind  vereinzelte  Beispiele.     In  Constantinopel   hess  er 
heidnische  Tempel  bauen.     Bei  der  Einweihung  der  Stadt  wurden  heidnische 
Geheimgebräuche  gefeiert.    Auch  Anderen  gestattete  der  Kaiser  die  Erbau- 
ung von  heidnischen  Tempeln.     Am  Ende   seines  Lebens   soll  er  aber  den 
alten  Gottesdienst  förmlich  verboten  haben.     Sein  Sohn  Constantius   spricht 
davon  in  einem  Gesetze  vom  Jahr  341.     Das  wtole  zu  dem   stimmen,   was 
Euseb  (de  vita  Const.  2,  45.  4,  23)  und  auch  Theodoret  (H.  E.  1,  2)  berichten. 
Indessen  ist   es  auffallend,   dass   sich  jenes  Gesetz   nirgends   aufgezeichnet 
findet.    Daher  meinen  Einige,   es  sei  zui'ückgenommen  worden,   Andere,   es 
habe  sich  blos  auf  unsitthche  Culte  bezogen.    Soviel  ist  gewiss,  dass  es  nicht 
zur  Ausführung  kam.    Daher  der  heidnische  Rhetor  Libanius   sich   später 
darauf  berufen  konnte,  dass  Constantin  den  alten  Gottesdienst  unangetastet 
gelassen  habe,  so  wie  denn  die  Schrift  des  christlichen  Firmicus  Mater-* 
nus,   die   aus   den   nächsten   Jahren   nach  Constantin's  Tode   stammt,   den 
massenhaften  Fortbestand  der  Opfer  und  Mysterien  bezeugt.    Pohtik  mag  mit 
im  Spiele  gewesen  sein.    Den  christhchen  GeistUchen  zu  Gefallen  mag  Con- 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthums.     Constantin.  227 

stantin  den  alten  Gottesdienst  zuletzt  verboten,   und   aus  Rücksicht  auf  die 
heidnische  Partei  das  Verbot  nicht  aufrecht  gehalten  haben. 

Bis  an  das  Ende  seines  Lebens  blieb  er  Katechumene  und  nahm  daher 
nicht  Theil  an  allen  Handlungen  des  christlichen  Gottesdienstes.  Nahe  am 
Tode  empfing  er  die  Taufe  aus  den  Händen  Euseb's,  des  Bischofs  von  Niko- 
medien,  im  Jahre  337.  Sein  Andenken  haben  Heiden  und  Christen,  jene 
durch  Versetzung  unter  die  Götter ,  diese,  nämlich  die  griechischen  Christen, 
durch  Aufnahme  unter  die  Heiligen  zu  ehren  gesucht.  Sein  Name  ist 
durch  manche  Gewaltthätigkeit  befleckt,  besonders  aber  durch  die  Hinricht- 
ung seines  treft'hchen  Sohnes  Crispus  auf  Anstiften  seiner  Gemahlin  Fausta 
(326).  Als  er  des  Crispus  Unschuld  erkannte,  Uess  er  auch  Fausta  hinrich- 
ten. Daran  knüpft  sich  eine  gehässige  Sage  über  die  Beweggründe  seines 
üebertrittes  zum  Christenthum.  Kaiser  Juhan,  Zosimus  (2,  29)  und  Sozo- 
menus  (1,  5)  sind  die  Gewährsmänner  dafür.  Gefoltert  durch  Gewissensbisse 
über  jene  Mordthaten  habe  sich  Constantin  an  die  heidnischen  Priester,  nach 
Sozomenus  an  den  neuplatonischen  Philosophen  Sopater  um  Entsündigung 
gewendet.  Diese  hätten  erwiedert,  für  solche  Missethaten  gebe  es  keine 
Entsündigung.  Darauf  habe  sich  ein  Aegyptier  in  seine  Nähe  zu  drängen 
gewusst  und  ihm  die  Ueberzeugung  beigebracht,  dass  das  Christenthum  jede 
Missethat  abzuwaschen  fähig  sei.  Nach  Sozomenus  waren  es  christHche 
Priester,  welche  ihm  versprachen,  ihn  durch  Busse  und  Taufe  von  allen 
Sünden  zu  befreien.  Darauf  sei  er  Christ  geworden  und  von  dieser  Zeit  an 
habe  er  gesucht,  die  Unterthanen  zur  Annahme  des  Christenthums  zu  ver- 
mögen. Diese  Erzählung  wird  schon  durch  die  Chronologie  widerlegt.  Schon 
vor  326  hatte  sich  Constantin  zum  Christenthum  bekannt,  und  er  wartete 
noch  volle  eilf  Jahre,  bis  er,  am  Rande  des  Grabes  stehend,  die  Taufe  be- 
gehrte, da  es  doch  nach  jener  Erzählung  wahrscheinlich  wäre,  dass  er  sich 
sobald  als  möghch  die  Taufe  hätte  geben  lassen.  Uebrigens  ist  es  schwer 
zu  glauben,  dass  heidnische  Priester  die  einzig  -  artige  Gelegenheit  nicht  be- 
nützt hätten,  um  den  mächtigen  Herrscher  zu  gewinnen.  Da  aber  Con- 
stantin's  Zweideutigkeit  niemals  völlig  aufhörte,  so  begreift  man  um  so  eher, 
dass  die  heidnischen  Gegner  ihm  solche  Zurückwendung  zu  der  alten  Religion 
andichteten.  Die  Erzählung  ist  das  Gegenstück  zu  dem  Kreuze  in  der  Luft, 
wodurch  seine  Bekehrung  zum  Christenthum  bewirkt  sein  sollte.  —  Noch 
muss  angeführt  werden,  dass  Constantin  in  seinem  Eifer  für  die  neue  Reli- 
gion auch  durch  seine  Mutter,  die  Kaiserin  Helena  ermuntert  wurde.  Sie 
hatte  eine  Frömmigkeit,  die  sehr  an  Aeusserlichkeiten  hing  und  dadurch 
schädlichen  Einfluss  übte.  Sie  wallfahitete  nach  Palästina  und  kniete  an- 
dächtig an  der  Stätte,  welche  man  ihi'  als  die  Kreuzigungsstätte  des  Hei- 
landes bezeichnete. 

Wie  sehr  auch  in  der  ganzen  Handlungsweise  Constantin's  der  pohtische 
Gesichtspunkt  sich  geltend  macht ,  so  lässt  sich  doch  nicht  erweisen ,  dass 
seine  Begünstigung  des  Christenthums  blos  aus  politischer  Berechnung  floss 
und  keinen  Anhaltspunkt  in  seiner  persönlichen  Ueberzeugung  hatte.  Es  ist 
zu  bedauern,  dass  der  erste  christUche  Kaiser  kein  reinerer  Charakter  ge- 
wesen. Aber  dass  er  seine  Zeit  verstanden,  wird  ihm  Niemand  mit  Recht 
bestreiten.    Dass  er  die  richtige  Einsicht  hatte  und   darnach   seine   Maass- 

15* 


228  Zweite  Periode  des  Katholicismus. 

regeln  traf,  das  ist  seine  Grösse.  Die  durch  ihn  vollzogene  Verbindung  von 
Kirche  und  Staat  muss  übrigens  nicht  blos  nach  ihren  Auswüchsen ,  die  sich 
schon  unter  seiner  Regierung,  noch  mehr  aber  später  zeigten,  beurtheilt  werden. 

Nach  dem  Tode  Constantin's  nahm  die  Reaction  gegen  das  Heidenthum 
und   die  Begünstigung   des  Christenthums    von  Seiten   der  Beherrscher  des 
Staates  wachsend  zu,  jedoch  nicht  ohne  eine  neue  Reaction  des  Heidenthums 
gegen  das  Christenthum  vorzubereiten.     Constantin  hatte  drei  Söhne  hinter- 
lassen, wovon  der  erste,  Constantin  IL  in  einem  Kriege  mit  seinen  Brüdeni 
das  Leben  verlor.    Die  beiden  überlebenden  Söhne,  an  Regententugend  dem 
Vater  sehr  unähnhch,  theilten  sich  in  die  Herrschaft.     Constans  war  Kaiser 
des  Abendlandes,  Constantius  des  Morgenlandes.    Beide  beobachteten  in  ihrem 
Verhältniss  zur  alten  Religion  nicht  dieselbe  Mässigung  wie  ihr  Vater.     Sie 
erhessen    gemeinsame    Gesetze,    welche    das   Heidenthum    verboten.     Docli 
musste  Constans,  weil  es  im  Abendlande   noch  stärkere  Wurzeln  hatte,   ah 
im  Morgenlande,  milder  verfahren   als  sein  Bruder.    So  verbot  er  die  Zer- 
störung der    heidnischen  Tempel  ausserhalb  der  Mauern   der   Städte.    Eni 
Reisender,    der  347  Rom  besuchte,   fand   daselbst  noch  sieben  Vestaünen, 
den  Cultus  des  Jupiter,   der  Sonne   und   der  Mutter  der  Götter  vor.    Con- 
stantius konnte  unumschränkter  verfahren.    Im  Jahre  341  erliess  er  ein  be- 
sonderes Edict  für  das  Morgenland,   wodurch   aller   und  jeder  Götzendienst 
bei  Strafe  verboten  wurde.    Als  er  im  Jahre  350  nach  dem  Tod  des  Bniders 
die  Herrschaft  über  das  ganze  Reich  in  sich  vereinigt  hatte,  schärfte  er  seine 
Massregeln.    Da  ungeachtet  der  erlassenen  Gesetze  das  Heidenthum  immer 
noch  fortdauerte,   verbot   er  im  Jahre  353   die  Ausübung   des  alten  Gottes- 
dienstes unter  Androhung   der  Todesstrafe   und   der  Confiscation   der  Güter. 
Dieselben  Strafen  sollten  diejenigen  Statthalter  treffen,  die  jenes  Gesetz  nicht 
handhabten.    Nur  in  Rom  und  in  Alexandrien  kam  es  nicht  zur  Ausführung. 
Der  Kaiser  selbst   sah  357  bei  einem  Besuche  in  Rom  dem  alten  Religions- 
wesen ruhig  zu  und  liess  alles  Bestehende  unangetastet.     Doch  sah  er   das 
Heidenthum  bereits  als  politisch  gefährlich  an,  —  sowie  früher  das  Christen- 
thum als  politisch  gefährhch  gegolten  hatte.     Es   lässt   sich   nicht   läugnen, 
dass   die   Christen    selbst    die  Repressivmassregeln  gegen  das  Heidenthum 
bilHgten  und  den  Kaiser  dazu  antrieben.     In  diesem  Sinne   hatte  sich  schon 
Firmicus  Maternus  ausgesprochen  in  seiner  Schrift   de  error e  profa- 
narum  religionum  ^   zwischen  343  —  350  beiden  Kaisern   gewidmet.    In 
Folge  solcher  Massregeln   drangen   viele  Unwürdige  in   die  Kirche  ein,   die 
freilich  wohl  auch  von  der  Ohnmacht  der  alten  Götter,  mithin  von  der  Nich- 
tigkeit derselben  überzeugt  worden  waren. 

Indessen  zog  das  Heidenthum  aus  der  Bedrückung,  die  es  erleiden 
musste,  doch  einigen  Vortheil.  Sie  bildete  nämlich  einen  schneidenden  Con- 
trast  gegen  die  früher  von  den  Christen  ausgesprochenen  Grundsätze  über 
Religionsfreiheit.  Die  Heiden  fingen  an,  ihre  alten  Angriffe  auf  das  Christen- 
thum zu  erneuern:  was  Gutes  und  Wahres  daran  sei,  das  sei  den  alten 
Philosophen  entlehnt,  alles  Uebrige  nichts  als  Aberglaube.  Die  theologischen 
Streitigkeiten  warfen  in  den  Augen  der  Heiden  auch  ein  ungünstiges  Licht 
auf  die  Christen  und  die  Sache,  die  sie  vertraten.  Auf  den  heidnischen 
Theatern  wurde   wie  früher  die  tiirha  der  heidnischen  Götter,  so  jetzt  das 


Aeussere  Schicksale  des  Christentliums.    Julian.  220 

Evangelium  verspottet.  Uebrigens  hatten  die  Heiden  wie  vor  Alters  die  be- 
deutendsten Bildungsanstalten  des  Kelches  inne.  Die  berühmte  Schule  der 
Rhetorik  in  Athen  wurde  dui'ch  heidnische  Lehrer  geleitet.  In  Alexandrien 
waren  auch  Heiden  an  den  wissenschaftüchen  Anstalten  thätig.  Die  berühm- 
testen Redner  jener  Zeit  waren  Heiden;  es  genügt,  den  einen  Libanius  her- 
vorzuheben. Der  Neuplatonismus  suchte  das  Heidenthum  zu  verjüngen,  wis- 
senschafthch  zu  rechtfertigen,  das  Unsittliche  in  den  Mythen  durch  allego- 
rische Erklärung  zu  beseitigen.  Dadurch  konnte  er  unbefestigte  Gemüther 
anziehen  und  gewinnen.  Die  Heiden  setzten  grosse  Hoffnung  auf  einen  kai- 
serhchen  Prinzen,  den  sie  insgeheim  für  ihre  Religion  gewonnen  hatten  und 
dem  die  Thronfolge  nach  dem  Recht  der  Verwandtschaft  zugesichert  war. 
Dieser  Prinz  war 

2)  Julian,  zubenannt  der  Abtrünnige,  Apostata*). 

Wie  ist  es  gekommen,  dass  ein  Mann ,  der  seinem  eigenen  Geständnisse 
zu  Folge  sich  bis  in  das  zwanzigste  Lebensjahr  zum  Cliristenthum  bekannt 
hatte,  sich  demselben  bis  zur  höchsten  Abneigung  entfremdete,  sich  in  die 
veralteten  Religionsformen  und  Anschauungen  völlig  einlebte  und  alle  Kraft 
seines  Geistes  und  Charakters  sowie  auch  seine  hohe  Stellung  als  Kaiser 
auf  die  sisypliische  Arbeit  verwendete,  die  Geschichte  rückgängig  zu  machen  ? 

Julian  war  der  Sohn  des  Julius  Constantius,  eines  Stiefbruders  von 
Kaiser  Constantin,  mithin  eines  Vetters  des  regierenden  Kaisers  Constantin. 
Seine  Mutter  war  einige  Tage  nach  seiner  Geburt  gestorben.  Sein  Vater, 
ein  älterer  Bruder  und  mehrere  Verwandte  wurden,  als  Julian  sechs  Jahre 
alt  war,  in  einem  Aufruhr  der  Soldaten  getödtet.  Von  der  ganzen  Familie 
blieben  nur  Julian  und  der  ältere  Bruder  Gallus  am  Leben.  Man  gab  diese 
Mordthaten  dem  Kaiser  Constantius  schuld;  doch  erfuhren  die  beiden  jungen 
Prinzen  nicht  die  volle  Wahrheit,  die  überhaupt  schwer  herauszufinden  wäre. 
Julian  selbst  erhebt  in  dieser  Beziehung  gegen  seinen  kaiserlichen  Vetter 
keine  Vorwürfe.  Er  beklagt  sich  aber  über  die  sechsjährige  Einsamkeit  auf 
einem  kaiserhchen  Schlosse  in  Kappadocien,  wo  er  und  sein  Bruder  Gallus 
nur  mit  Sklaven  Umgang  hatten.  Nach  Constantinopel  zurückgerufen  wurde 
er  argwöhnisch  beobachtet  und  fühlte  sich  von  allen  Seiten  gehemmt.  Um 
die  spätere  Abwendung  vom  Chiistenthum  zu  erklären,  hat  man  sich  auf  die 
frommen  Uebungen  berufen,  wozu  Juhan  nebst  Gallus  in  der  ersten  Jugend 
angehalten  worden.  Doch  Julian  spricht  nicht  davon  in  seiner  Epistel  an 
die  Athener,  worin  er  Alles  aufzählt,  was  er  von  Constantin  erdulden  musste. 
Man  hat  auch  das  geltend  gemacht,  dass  die  christliche  Religion  damals 
schon  ziemUch  ausgeartet  war.    Doch,  wenn  gleich  emiges  Prunk-  und  Ce- 


1)  S.  Julian!  Imperatoris  Opera  et  Cyrilli  contra  impium  Jnliannm  lib.  X  ed.  Eze- 
chiel  Spanhemius.  Lipsiae  1696.  Die  Opera  sind  Reden,  Abhandlungen  und  Briefe.  Das 
Werk  von  Cyrill  von  Alexandrien  ist  wichtig  wegen  der  Fragmente  von  Julian's  drei 
Büchern  gegen  das  Christenthum ,  die  es  enthält;  sie  sind  französisch  herausgegeben  wor- 
den vom  Marquis  d'Argens.  3.  Ausgabe.  Berlin  1769.  Dazu  kommen  als  Quellen  der 
loyos  €7itTa(ptog  des  Libanius,  Ammianus  Marcellinus,  Zosimus  und  die  christlichen 
Kirchenhistoriker  Sokrates,  Sozomenus,  Theodoret. 


230  Zweite  Periode  des  alten  Katholicisrans. 

rimonienwesen  eingedrungen,  so  war  diess  Julian  gewiss  nicht  zuwider,  son- 
dern vielmehr  willkommen.  Grösseres  Gewicht  hat  der  Umstand,  dass  die 
theologischen  Streitigkeiten  schon  einen  hohen  Grad  von  Animosität  erreicht 
hatten  und  daher  wohl  geeignet  waren,  ein  unbefestigtes  oder  schwankendes 
Gemüth  vom  Christenthum  abzustossen.  Ebenso  bedeutsam  ist  der  Umstand, 
dass  Julian  keine  Vertreter  des  Christenthums  fand,  die  ihm  eine  wahrhafte 
Achtung  für  dasselbe  hätten  einflössen  können;  nicht  als  ob  es  keine  gegebtm 
hätte,  aber  am  Hofe  gewiss  nicht. 

Doch  die  Entscheidung  konnte  durch  das  Alles  nicht  gegeben  werden. 
Gallus  hatte  dieselben  Erfahrungen  zu  machen  wie  sein  Bruder,  er  wuchs 
unter  denselben  Einflüssen  und  Eindrücken  auf  —  und  wurde  nicht  Heide. 
Die  Bekehrung  Juhan's  zu  der  alten  Religion  geschah  in  Folge  der  eigenen 
Naturanlage  desselben  einerseits  und  der  Verbindung  mit  der  heidnischen 
Partei  im  Reiche  andererseits. 

Es  war  in  Julian's  Seele  ein  angeborener  Zug  nach  dem  antiken  Hei- 
denthum;  er  war,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist,  heidnisch  angelegt.  Seino 
Freude  an  der  Natur,  wie  er  sie  seit  den  frühesten  Lebensjahren  empfand, 
war  eine  Hingabe  an  die  Natur,  er  spricht  daher  von  einer  angeborenen 
Sehnsucht  nach  dem  grossen  Gotte  Helios,  der  ihm  in  der  Sonne  verkörper: 
entgegentrat.  Vor  dem  Glänze  dieses  Gottes  musste  die  Knechtsgestalt  des 
Menschensohnes  völUg  erbleichen.  Die  Neigung  zu  den  alten  Gottheiten 
wurde  genährt  durch  den  Lehrer,  der  mit  ihm  Homer  las  und  der  mittelst 
der  allegorischen  Erklärung  die  anstössigsten  Dinge  der  heidnischen  Mytho- 
logie in  ein  täuschendes  Gewand  zu  kleiden  wusste.  So  war  er  vorbereitet, 
an  heidnischen  Geisteserzeugnissen  ein  besonderes  Wohlgefallen  zu  finden. 
Als  man  ihm  gestattete,  sich  nach  Nikomedien  zu  begeben,  hätte  er  gar  zu 
gerne  den  daselbst  lehrenden  Libanius  gehört.  Das  Verbot,  ihn  zu  hören, 
steigerte  nur  seine  Begierde,  und  es  lässt  sich  denken,  mit  welcher  Lust  er 
die  Collegienhefte  des  Libanius,  die  er  sich  zu  verschaffen  gewusst  hatte, 
las.  Damals  that  er  bereits  einen  entscheidenden  Schritt  zur  Annäherung 
an  das  Heidenthum  durch  seine  Verbindung  mit  der  heidnischen  Partei,  die 
ihn  auch  mit  dem  Neuplatonismus  befreundete.  Die  heidnischen  Philosophen 
schmeichelten  seinem  hohen  Selbstgefühle,  indem  sie  ihm  Weissagungen  mit- 
theilten von  einem  bevorstehenden  Siege  der  Götter,  den  er  berufen  sei 
herbeizuführen.  Durch  Göttererscheinungen  begeistert  und  bearbeitet  trat 
er  in  Nikomedien  bereits  zum  Heidenthum  über,  doch  ohne  das  Christen- 
thum aufzugeben.  Gerade  damals  soll  er,  um  allem  Argwohn  vorzubeugen, 
mit  geschorenem  Kopfe  und  in  mönchischem  Aufzuge  aufgetreten  sein.  Um 
Constantius  noch  besser  zu  täuschen,  Hess  er  sich  als  Lector  aufnehmen. 
Doch  immerfort  von  Constantius  argwöliuisch  bewacht,  entfloh  er  mit  dem 
Neuplatoniker  und  Theurgen  Maximus,  der  sich  seit  einiger  Zeit  an  ihn 
gemacht,  nach  Jonien,  wo  das  Werk  der  Bekehrung  zum  Heidenthum  voll- 
endet wurde.  Da  erhielt  er  die  Weisung,  sich  nach  Athen  zu  begeben. 
Wenn  Constantius  ihn  eigens  zum  Heidenthum  hätte  locken  wollen,  hätte  er 
keinen  passenderen  Ort  wählen  können.  Athen  war  der  reizendste  Sitz  der 
alten  Religion.  Berühmte  Lehrer  empfahlen  sie  daselbst  mit  einschmeicheln- 
der Beredtsamkeit.    Ringsherum,  auf  den  Höhen  und  in  den  Thälern  standen 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthums.    Julian.  231 

die  herrlichen  Wohnungen  der  heimischen  Götter;  wo  man  hinblickte,  traten 
diese  in  freundhch  winkenden  und  Ehrfurcht  gebietenden  Gestalten  den 
Beschauern  entgegen.  In  Athen  wurden  manche  christliche  JüngUnge  wieder 
für  die  alte  Rehgion  gewonnen,  —  Juhan  in  seiner  Anhänghchkeit  an  die- 
selbe befestigt.  Er  vertiefte  sich  in  die  neuplatonische  Philosophie  und  wurde 
in  die  Wahrsager-  und  Zauberkünste  eingeweiht.  Opfer  wurden  von  den 
Heiden  den  Göttern  dargebracht,  damit  sie  ihn  einst  auf  den  Thron  erheben 
möchten.  Er  selber  vertraute  sich  besonders  dem  Oberpriester  von  Eleusis, 
von  dem  die  Heiden  rühmten,  dass  er  allein  unter  allen  Menschen  ohne 
Sünde  sei. 

Da  wurde  er  plötzlich  gegen  alle  Erwartung  in  die  politische  Laufbahn 
hineingeworfen.  Constantius  ernannte  ihn  zum  Cäsar  und  schickte  ihn  nach 
Gallien,  wo  die  römische  Herrschaft  durch  die  einbrechenden  Germanen  er- 
schüttert war.  Wahrscheinlich  durch  seine  Gattin,  die  Kaiserin  Eusebia 
bewogen,  gab  er  ihm  damals  die  eigene  Schwester  Helena  zur  Frau.  Da  aber 
Julian  ohne  alle  Kenntuiss  der  Kriegskunst  war ,  erhielten  die  Befehlshaber 
der  Truppen  den  eigentlichen  Oberbefehl,  er  selbst  zunächst  nur  die  nomi- 
nelle Oberleitung.  Er  suchte  das  ihm  Mangelnde  zu  ersetzen  und  wurde 
bald  ein  geschickter  und  tapferer  Feldherr.  Er  führte,  sagt  Libanius,  die 
Waffen,  als  ob  er  von  Anfang  an  statt  mit  Büchern  sich  mit  den  Waffen 
abgegeben  hätte.  Er  wurde  der  Abgott  der  Legionen,  der  Schrecken  der 
Feinde,  —  daneben  lag  er  eifrig  seinen  Studien  ob,  verehrte  im  Geheimen 
die  Götter  und  trat  öffentlich  als  Christ  auf.  Um  allen  Verdacht  von  Seiten 
des  Kaisers  zu  beseitigen,  veröff'entüchte  er  damals  eine  Lobrede  auf  den- 
selben. Der  Conffict,  der  sich  bald  darauf  zwischen  beiden  Herrschern  er- 
hoben und  der  in  einen  Bürgerkrieg  auszulaufen  drohte,  wurde  durch  den 
Tod  des  Constantius  beseitigt,  worauf  Julian  361  den  Thron  bestieg,  unter 
dem  Jubel  der  heidnischen  Partei,  während  die  Christen  in  banger  Erwartung 
der  kommenden  Dinge  waren. 

Sein  Versuch  einer  Restauration  des  Heidenthums  hing  aufs  engste 
zusammen  mit  seinem  Streben  nach  einer  durchgehenden  Reformation  des 
Staates,  nach  Herstellung  der  altrömischeu  Grösse,  wobei  ihm  als  Ideal 
eines  Herrschers  das  Bild  Mark  Aureis  vorschwebte.  Wie  dieser  sah  er  in 
der  Aufrechthaltung  der  alten  Religion  die  unentbehrlichste  Stütze  des  Thrones, 
die  nothwendige  Bedingung  der  Wohlfahrt  des  Reiches.  Es  war  diesem 
seinem  Streben  Wahres  und  Gutes  beigemischt.  Julian  hat  sich  als  Kaiser 
in  mehrfacher  Beziehung  um  das  Reich  Verdienste  erworben.  Er  wollte  nicht 
durch  Andere  regieren,  er  bestrebte  sich,  gegen  seine  Unterthanen  mild, 
wohlthätig  und  gerecht  zu  sein.  Er  verringerte  die  seit  Constantin  ungeheuer 
drückend  gewordenen  Abgaben;  gleich  nach  seiner  Thronbesteigung  that  er 
den  grossen,  gangbar  gewordenen  Verschwendungen  Einhalt.  Er  schaffte 
eine  Menge  überflüssiger  Hofbedienten  ab,  er  lebte  in  der  äussersten  Ein- 
fachheit und  Strenge  gegen  sich  selbst,  welche  Tugend  er  bis  zum  Cynismus 
trieb,  wodurch  er  sich  in  seinem  Ansehen  selbst  bei  seinen  heidnischen  An- 
hängern schadete. 

Der  Plan  einer  Restauration  des  Heidenthums  brachte  mit  sich  eine 
Bekämi)fiing  des  Christenthums.     Da  nun  aber  dieses  durch  die  Zahl  seiner 


§32  Zweite  t*eriode  des  alten  Katholicismus. 

Bekenner,  durch  Aneignung  höherer  Bildung,  durch  wohlthätige  Einwirkung 
auf  manche  Lebensverhältnisse  schon  eine  bedeutende  Macht  im  Reiche  ge- 
worden, so  unternahm  Julian  mit  jener  Bekämpfung  eine  politisch  -  religiöse 
Revolution  von  höchst  zweifelhaftem  Erfolge.  Doch  solche  Bedenken  lagen 
ihm  fern.  Er  meinte  wohl,  dass,  sowie  Viele  um  irdischer  Vortheile  willen  den 
christhchen  Glauben  angenommen ,  eben  so  Viele  ihn  um  derselben  Vortheile 
willen  wieder  aufgeben  würden.  Um  so  mehr  mochte  sich  ihm  dieser  Ge- 
danke empfehlen,  da  er  das  Christenthum  so  tief  stellte,  so  gründlich  ver- 
achtete. Aus  den  Bruchstücken  der  drei  Bücher  gegen  die  Christen,  die  er 
am  Ende  seines  Lebens  in  Antiochien  schrieb,  ersehen  wii*  so  wie  seine 
Kenntniss  der  heihgen  Schrift,  so  auch  seine  Unwissenheit  in  Sachen  des 
Christenthums.  Es  ist  ihm  eine  unglückliche  Verunstaltung  des  Judenthums 
und  das  Judenthum  selbst  wenig  verschieden  vom  Heidenthum,  mit  dem  es 
die  Opfer  gemein  hat:  ein  Beweis  seiner  oberflächlichen  Betrachtungsweise 
Seine  Ansichten  erinnern  auÖ'allend  an  die  der  französischen  Deisten  dee 
achtzehnten  Jahrhunderts  und  sind  auch  von  diesen  mit  gebührender  Aner- 
kennung aufgenommen  worden.  Unbegreiflich  ist  ihm  die  Verehrung,  welche 
die  Christen  dem  Herrn  darbrachten,  der  in  dreissig  Jahren  nichts  der  Rede 
Werthes  zu  Stande  gebracht,  ausser  dass  er  einige  Lahme  und  Bünde  ge- 
heilt und  einige  gemeine  Leute  zum  Glauben  an  ihn  überredet  habe.  Er 
verspottete  die  Christen,  —  die  Gahläer,  wie  er  sie  verächtlich  nannte,  als 
Thoren,  die  einen  todten  Juden  verehrten.  Er  setzte  das  Christenthum  und 
dessen  Bekenner  auf  die  unterste  Stufe  der  Geistesbildung.  Er  meinte,  der 
Grund,  warum  die  Christen  sich  dem  Studium  der  cl assischen  Literatur  zu- 
wendeten, sei  das  Bewusstsein  der  Mangelhaftigkeit  ihrer  Religion  und  ihrer 
Religionsurkunden.  „Durch  diese  Studien,  sagte  er,  sind  die  Besseren  unter 
euch  zum  Abfall  vom  christlichen  Glauben  bewogen  worden.  Eure  Schriften 
machen  keinen  Menschen  weise.  Durch  die  unsrigen  dagegen  wird  er  tapfer, 
erobernd,  thätig,  weise,  und  wenn  er  gute  Aulagen  hat,  ein  Held.  —  „Wir 
sind  von  den  Göttern  verschiedene  Künste  der  Theurgie  gelehrt  worden.^ 
„Oft  bin  ich  von  Aeskulap  geheilt  worden"^,  setzt  er  ruhmredig  hinzu.  Durch 
der  Götter  Gunst  glaubte  er  allen  Gefahren,  womit  der  Argwohn  des  Con- 
stantius  ihn  bedroht  hatte,  entronnen  und  aus  der  Verbannung  auf  den  Thron 
erhoben  zu  sein.  Auf  den  Thron  erhoben  wollte  er  nun  den  Göttern  seinen 
Dank  bezeugen,  den  alten  Weisen  und  Helden  nachstreben.  Darin  gefiel 
sich  seine  stolze  Seele  und  wendete  sich  verächtlich  hinweg  von  dem  gött- 
lichen Dulder  am  Kreuze. 

So  wurde  ihm  die  Wiederbelebung  der  alten  Religion  zur  reügiösen 
Pflicht  und  er  hätte  sie  versuchen  müssen,  gesetzt  auch,  dass  er  starken 
Zweifel  am  Gelingen  seines  Vorhabens  geluibt  hätte.  Die  Art,  wie  er  ver- 
fuhr, zeigt  übrigens,  dass  er  sich  die  Schwierigkeiten  der  Aufgabe  nicht 
ganz  verhehlte.  Die  Geschichte,  —  wie  seine  eigenen  Aussagen  es  bezeugen 
(Sokrates  5,  4),  hatte  ihn  gelehrt,  dass  der  offene  Krieg  die  verfolgte  Partei 
nur  bestärke,  dass  das  Blut  der  Märtyrer  eine  Aussaat  neuer  Bekenner  sei. 
Er  hasste  daher  das  Märtyrerthum  und  mochte  den  Christen  die  Ehre  und 
den  Vortheil  desselben  nicht  gönnen.  Deswegen  suchte  er  die  christliche 
Küxhe  allmähüch  zu  untergraben.  Ei'  übte  eine  sanfte  Gewaltthätigkeit  aus,  nach 


i 


Aeilssere  Schicksale  des  Christentliums.    Julian.  233 

dem  treffenden  Ausdrucke  Gregor's  von  Nazianz.  Er  scheute  sich  vor  offen- 
kundiger Gewaltthätigkeit ,  damit  er  nicht  tyrannisch  erschiene.  Daher  ver- 
kündigte er  allgemeine  Duldung  für  die  Christen  und  erklärte  sich  aufs 
Bestimmteste  gegen  deren  Bestrafung,  sich  mit  der  Hoffnung  schmeichelnd, 
dass  sie  sich  bald  vom  christUchen  Glauben  abwenden  würden.  Er  rechnete 
es  sich  zum  Verdienst  an,  dass  er  die  verschiedenen  theologischen  Parteien 
frei  gewähren  Hess ,  dass  er  alsobald  nach  Besteigung  des  Thrones  die  durch 
Constantius  verbannten  Bischöfe  zurückrief.  Er  verbot  den  Christen  als 
öffentUche  Lehrer  der  classischen  Literatur  aufzutreten ;  denn  es  komme  ihm 
ungereimt  vor,  dass  diejenigen  die  Schriften  der  classischen  Schriftsteller 
auslegen,  welche  die  von  ihnen  verehrten  Götter  verachten.  Ein  harter 
Schlag  für  die  Christen,  da  Juhan  durch  jenes  Verbot  einer  unter  den 
Christen  ziemUch  verbreiteten  Richtung  entgegenkam.  Aus  der  Art,  wie 
Sozomenus  das  Studium  der  alten  Literatur  rechtfertigt,  ist  zu  ersehen,  wie 
sehr  er  den  Einfiuss  jener  Massregel  befürchtete  i).  Julian  liess  es  nicht 
bei  dieser  Art  von  Hemmung  bewenden.  Er  entzog  den  Geisthchen  die  ihnen 
von  Constantin  ertheilten  Rechte  und  Privilegien;  er  suchte  wo  möglich  die 
Ehrenstellen  in  die  Hände  von  Heiden  zu  bringen.  Manche  Kirchen  und 
dazu  gehörige  Grundstücke  mussten  an  Heiden  abgetreten  werden.  So  bUeb 
auch  manche  Frevelthat  des  heidnischen  Pöbels  ungestraft,  wenn  gleich  er 
sie  im  Allgemeinen  nicht  gerne  sah.  Unruhige  Christen  dagegen  wurden  sehr 
hart  bestraft.  —  Die  christUchen  Geschichtschreiber  führen  eine  statthche 
Reihe  von  Märtyrern  unter  diesem  Kaiser  auf  (S.  Sozom.  5,  9). 

Zur  positiven  Restauration  der  alten  Religion  benützte  er  neben  seiner 
kaiserlichen  Machtvollkommenheit  seine  Stellung  und  Würde  als  Poutifex 
maximus,  die  mit  der  Imperatorenwürde  verbunden  war.  Sein  Streben  ging 
dahin,  in  seiner  eigenen  Person  das  Ideal  eines  wahren  Priesters,  als  Muster 
der  Götter-  und  Menschenliebe,  der  Rechtschaffenheit  und  Strenge  gegen 
sich  selbst  darzustellen  2).  Daher  entstanden  seine  Reden  und  Briefe ;  daher 
er  auch  unermüdlich  war  in  Darbriugung  von  Opfern,  wodurch  er  selbst 
seinen  Anhängern  Anstoss  gab  und  sich  lächerlich  machte,  so  dass,  wie 
Ammianus  berichtet,  viele  fürchteten,  wenn  er  als  Sieger  aus  dem  Kriege 
gegen  die  Parther  heimkehrte,  würde  bald  ein  Mangel  an  Ochsen  eintreten. 
Die  gebildeten  Heiden  ärgerten  sich  auch  daran,  dass  er,  beseelt  vom  ge- 
wöhnlichen Eifer  der  Convertiten,  den  alten  Kram  von  Wahrsagereien,  Au- 
gurien,  Haruspicien  und  anderen  Gaukeleien  wieder  aufbrachte  3).  Geleitet 
von  demselben  Streben,  der  alten  Religion  wieder  aufzuhelfen,  traf  er  aller- 
dings noch  bessere  Maassregelu.  Dem  von  ihm  so  sehr  verachteten  Chri- 
stenthum  entlehnte  er  einige  Eimichtungen,  wodurch  sich  die  Kirche  grossen 


1)  Sie  ist  nicht  so  zu  verstehen,  wie  man  aus  Sokrates  3,  16.  Sozom.  5,  18 
schliessen  könnte,  dass  die  Christen  überhaupt  nicht  durften  die  alte  Literatur  studiren; 
unter  der  Leitung  heidnischer  Lehrer  bUeb  ihnen  dieses  unverwehrt.  S.  auch  Ammianus 
Marcellinus  25,  4. 

2)  S.  darüber  Ulimann,  Gregor  v.  Nazianz  527  u.  ff. 

3)  So  dass  selbst  Ammianus  Marcellinus  üb.  25,  4  bekennt,  er  sei  mehr  super- 
stitiosus  quam  sacrorum  legitimus  observator  gewesen. 


234  Zweite  Periode  des  alten  Kiatholicismus. 

Einfluss  auf  die  Völker  verschafft  hatte.  So  befahl  er  die  Einrichtung  von 
Armenhäusern,  von  Herbergen  zur  Aufnahme  der  Fremden;  er  selbst  theilte 
mit  fürsthcher  Freigebigkeit  Almosen  aus,  er  wollte,  dass  man  die  Christen 
nachahme,  die  durch  Almosen  ihren  Anhang  verstärkten.  Sehr  bezeichnend 
ist  in  dieser  Beziehung  sein  Brief  an  Arsacius ,  Oberpriester  in  Galatien  (bei 
Sozom.  5,  16).  Er  ging  noch  weiter  auf  diesem  Wege.  Er  bemühte  sich, 
das  christliche  Institut  der  Volksbelehrung  und  Predigt  nachzuahmen.  Prio 
ster  in  purpurne  Prachtgewänder  gekleidet,  —  so  hatte  es  der  Kaiser  aus- 
drücklich befohlen,  —  erschienen  auf  der  Bühne  der  Redner  und  trugen  in 
schwülstigen  Worten  allegorische  Erklärungen  der  Mythen  vor.  Julian  wollte 
selbst  eine  der  christlichen  nachgeahmte  hierarchische  Abstufung  der  Reli- 
gionsdiener einführen.  —  Was  noch  bezeichnender  ist,  er  führte  sogar 
Kirchenzucht  ein;  in  seiner  Eigenschaft  als  Pontifex  maximus  handhabte  er 
den  Bann  gegen  Unwürdige. 

So  endete  denn  diese  stolze  Erhebung  über  das  Christenthum  mit  einer 
indirecten  Anerkennung  desselben  und  mit  einem  der  alten  Religion  aus- 
gestellten Armuthszeugnisse.  Julian  wurde  sich  mehr  und  mehr  der  Schwie- 
rigkeiten seiner  Aufgabe  bewusst.  Er  erging  sich  in  Klagen,  dass  die  Ga- 
liläer  für  ihre  Religion  viel  mehr  Eifer  hätten  als  die  Heiden.  Daher,  was 
die  christlichen  Geschichtschreiber  berichten,  gar  nicht  unwahrscheinlich  ist, 
dass  er  kurz  vor  seinem  Tode  bekannt  habe,  er  werde  nach  beendigtem 
Kriege  (mit  den  Parthern)  gegen  die  Christen  schärfer  auftreten  als  bis 
dahin.  In  diesem  Kriege  starb  er,  getroffen,  nach  der  Aussage  der  Heiden 
von  einem  christlichen  Soldaten,  im  Jahre  363,  im  zweiunddreissigsten  Le- 
bensjahre, im  dritten  Jahre  seiner  Regierung.  Die  christliche  Sage,  von 
Theodorus  (H.  E.  3,  25)  aufbewahrt,  legte  dem  Sterbenden  die  Worte  in  den 
Mund:  ^^Gahläer,  du  hast  gesiegt ^^  ^).  Das  trifft  zusammen  mit  der  durch 
Ammianus  Marcellinus  beglaubigten  Aussage  des  Sterbenden,  dass  die  nütz- 
lichsten Massregeln  nicht  immer  mit  Erfolg  gekrönt  werden  2). 

3)  Weitere  Entwicklung  bis  zum  Ende  der  Periode. 

Am  Anfange  der  Regierung  Julian's  hatte  Gregor  von  Nazianz  das 
grosse  Wort  ausgesprochen,  dass  die  Kirche  mehr  die  inneren  als  die  äusse- 
ren Feinde  zu  fürchten  habe.  Nach  dem  Tode  jenes  Kaisers  ermahnte  er 
die  Christen,  durch  ihre  Mässigung  im  Glücke  zu  zeigen,  dass  sie  die  ihnen 
widerfahrene  Züchtigung  w^ohl  benützt  hätten,  und  den  Heiden  nicht  Gleiches 
mit  Gleichem  zu  vergelten  gedächten.  In  der  That  herrschte  von  nun  an  Reli- 
gionsfreiheit bis  zum  Jahre  381,  als  wohlthätige  Rückwirkung  von  Julian's  Regier- 
ung, zum  Theil  auch  in  Folge  der  mannigfaltigen  Gefahren,  w^omit  das  Reich 
durch  die  germanischen  Völker  beckoht  wurde.  Zunächst  nach  Julian's  Tode 
ergriff  zwar  grosse  Angst  die  Gemüther  der  Heiden.     Sie   verschlossen  ihre 


1)  Nertxj^xagi   raXikate. 

2)  So  war  es  ihm  auch  ergangen,  als  er  aus  Achtung  gegen  die  jüdische  Religion 
als  ächte  Volksreligion  den  Wiederaufbau  des  Tempels  von  Jerusalem  erlaubte.  Aus  dem 
bituminösen  Boden  erhoben  sich  Feuerflammen,  welche  einige  Arbeiter  tödteten,  so  dass 
der  Bau  aufgegeben  wurde.    Ammian.  Marc.  23,  1. 


i 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthums.    Jovian  —  Gratian.  235 

Tempel,  ihre  Priester  verbargen  sich  aus  Furcht  vor  Repressalien  von  Seiten 
der  Christen.  Allerdings  mussten  die  Heiden  manchen  Schadenersatz  geben 
und  einzelne  Misshandlungen  kamen  vor.  Doch  bemühte  sich  Jovian,  der 
neue  Kaiser,  selbst  ein  eifriger  Christ,  seine  heidnischen  Unterthanen  zu 
beruhigen,  indem  er  durch  das  erste  der  von  ihm  erlassenen  Gesetze  Reli- 
gionsfreiheit gewährte  und  nur  den  Gebrauch  der  heidnischen  sacra  zur 
Magie  verbot.  Diess  rühmte  der  heidnische  Rhetor  Themistius  in  einer 
damals  vor  dem  Kaiser  gehaltenen  Rede  bei  Anlass  des  von  diesem  angetre- 
tenen Consulates:  „Ihr  allein  scheint  zu  wissen,  dass  der  Regent  von  seinen 
Unterthanen  nicht  Alles  erzwingen  kann,  dass  es  Dinge  gibt,  die  über  jeden 
Zwang,  jede  Drohung,  jedes  Gebot  erhaben  sind,  wie  überhaupt  alle  Tugend 
und  insbesondere  die  Verehrung  der  Gottheit.  Ihr  habt  sehr  weise  erkannt, 
dass  bei  allem  diesem,  wenn  es  nicht  erheuchelt  sein  soll,  der  ungezwungene, 
freie  Wille  der  Seele  vorangehen  muss.^'  Jovian  starb  noch  schneller  als 
Juhan  im  Jahre  364,  aber  einige  seiner  Nachfolger  traten  noch  in  seine 
Fussstapfen.  Valentinian  I. ,  Kaiser  des  Abendlandes,  f  375,  obschon  er 
früher  durch  sein  standhaftes  Bekenntniss  des  Christenthums  sich  die  Un- 
gnade Julian's  zugezogen,  obschon  er  zu  despotischem  Verfahren  geneigt 
war,  gewährte  doch  Religionsfreiheit  durch  mehrere  Gesetze.  Ammianus 
Marcellinus  gibt  ihm  in  dieser  Beziehung  das  ehrenvollste  Zeugniss.  Da- 
durch wurde  das  Ileidenthum  nicht  sowohl  befestigt  als  vielmehr  das  Chri- 
stenthum  gefördert,  wie  man  denn  um  diese  Zeit  anfing,  dasselbe  die  Bauern- 
religion zu  nennen  ^).  Dieselben  Grundsätze  von  Valentinian  stellte  Va- 
lens f  378  im  Morgenlande  auf  und  handelte  darnach,  nur  politischer  Arg- 
wohn riss  ihn  zu  Verfolgungen  hin  gegen  diejenigen,  welche  Wahrsagerei 
und  Zauberkünste  trieben.  Valentinian  dem  ersten  folgten  in  der  Herrschaft 
über  die  Abendländer  seine  beiden  Söhne  Gratian  und  Valentinian  IL, 
jener  siebzehn  Jahre  alt,  dieser  vier.  Gratian  betrat  zuerst  die  Fussstapfen 
seines  Vaters.  Nach  denselben  Grundsätzen  verfuhr  bis  381  der  kraftvolle 
Feldherr  Theodosius,  ein  Spanier  von  Geburt,  nach  dem  Tode  des  in  der 
Schlacht  von  Adrianopel  von  den  Gothen  getödteten  Valens,  378,  von  Gra- 
tian zum  Beherrscher  des  Orients  eingesetzt.  Da  die  Gothen,  welche  damals 
bis  unter  die  Mauern  von  Constantinopel  vorgedrungen  waren,  die  Aufmerk- 
samkeit von  den  inneren  Verhältnissen  hinweglenkten,  wurde  die  Religions- 
freiheit bis  zum  Jahre  381  aufrecht  gehalten. 

Als  der  Gothensturm  vorüber  war,  begann  man  im  Morgen-  und  Abend- 
lande nach  und  nach  ein  anderes  Verfahren  inne  zu  halten.  Die  römischen 
Kaiser  waren  Pontifices  maximi  und  wurden  bei  ihrer  Thronbesteigung  mit 
den  Insignien  dieser  Würde  geschmückt.  Die  Sache  war  zuletzt  reine  Förm- 
lichkeit geworden,  in  die  auch  die  christlichen  Kaiser  sich  fügten.  Gratian 
war  der  erste,  der  sich  weigerte,   das   heidnische  oberpriesterüche  Gewand 


1)  Der  Name  religio  i)aganorum  kommt  zuerst  in  einem  Gesetze  des  Kaisers 
Valentinian  I.  vom  Jahre  368  vor.  Dass  die  Uebersetzung  Bauemreligion  die  richtige 
ist,  ergibt  sich  aus  der  Vorrede  des  Orosius  zu  seiner  Weltgeschichte:  qui  ex  locorum 
agrestium  compitis  et  pagis  pagani  vocantur.  Auf  diesen  Sinn  spielt  auch 
Prudentius  an,  wenn  er  die  Heiden  pago  implicitos  nennt. 


236  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

anzulegen;  aber  auch  den  Titel  Hess  er  sich  nach  einiger  Zeit  nicht  mehr 
gefallen.  —  Im  Versammlungssaale  des  römischen  Senates  stand  ein  Altar 
der  Victoria,  hochverehrt  in  der  Stadt  der  Weltüberwinder,  vor  dem  die 
Senatoren  ihre  Eidschwüre  abzulegen  pflegten.  Der  Altar  war  schon  einmal 
entfernt,  darauf  durch  Juhan  wiederhergestellt  worden.  Gratian  liess  ihn 
aufs  neue  fortschaffen.  Er  ging  noch  weiter:  den  Tempeln  wurden  die 
Grundstücke,  den  Vestalinen  der  Unterhalt  aus  der  Staatscasse,  ihnen  und 
den  Priestern  die  letzten  Privilegien  entzogen.  Die  PriestercoUegien  durften 
keine  Vermächtnisse  mehr  von  liegenden  Gütern  annehmen. 

In  Folge  dieser  Beschränkungen  entstand  eine  Bewegung,  in  welcher  die 
treibenden  Beweggründe  der  heidnischen  sowohl  als  der  christUchen  Partei 
deutUch  zum  Vorschein  kamen.  Im  Senate  befanden  sich  noch  viele  Heiden  \ 
die  angesehensten  römischen  Familien  hingen  noch  an  der  alten  Religio]i 
eifrig  fest ,  so  wie  denn  auch  die  bereits  gesetzlich  verbotenen  Opfer  in  Rom 
sowie  in  Alexandrien  noch  geduldet  wurden.  Da  wendete  sich  im  Namen 
der  heidnischen  Senatoren  der  durch  persönliche  Eigenschaften  ausgezeich- 
nete Senator  G.  Aurelius  Symmachus  an  den  Kaiser,  um  von  ihm  die 
Aufhebung  jener  Verordnungen  zu  erlangen.  Die  christhchen  Senatoren,  sich 
darauf  stützend,  dass  sie  die  Majorität  des  Senates  bildeten,  beklagten  siel 
über  diesen  Schritt  ihrer  heidnischen  CoUegen  bei  dem  Kaiser  durch  die 
Vermittlung  der  Bischöfe  Damasus  von  Rom  und  Ambrosius  von  Mai- 
land. Gratian  wurde  darüber  so  unwilhg,  dass  er  Symmachus  und  der  ihn 
begleitenden  ansehnlichen  Gesandtschaft  nicht  einmal  Audienz  ertheilte  (382). 
Eine  Hungersnoth ,  die  im  /olgenden  Jahre  ausbrach,  wurde  von  den  Heiden 
als  Strafe  der  Götter  wegen  der  Vernachlässigung  ihres  Cultus  gedeutet. 
^,0  ihr  vaterländischen  Götter,  sagte  damals  Symmachus,  verzeiht  die  Ver- 
nachlässigung der  euch  schuldigen  Verehrung.  ^^ 

Als  im  Jahre  383  Valentinian  II.  seinem  verstorbenen  Bruder  Gratian 
in  der  Herrschaft  über  den  Orient  nachfolgte,  erneuerte  die  heidnische  Partei 
des  Senates  ihre  Versuche.  Symmachus,  der  inzwischen  Präfect  der  Stadt 
Rom  geworden,  war  wiederum  das  Organ  des  Senates.  Er  richtete  an  den 
Kaiser  eine  Bittschrift,  worin  er  ihm  den  Rath  gab,  die  religio  urbis 
von  seiner  Privatreligion  zu  unterscheiden,  und,  da  die  Vernunft  des  Men- 
schen für  göttUche  Dinge  verschlossen  sei,  dem  nachzufolgen,  wobei  sich  die 
Väter  in  so  vielen  Jahrhunderten  glücklich  befunden  hätten.  Er  versäumte 
nichts,  was  auf  das  Gemüth  des  jungen  Kaisers  Eindruck  machen  konnte; 
er  führte  Roma  redend  ein:  „ich  will,  da  ich  frei  bin,  auf  meine  Weise 
leben;  dieser  Cultus  hat  die  ganze  Welt  meinen  Gesetzen  unterworfen. "^ 
Zuletzt  lenkte  er  wieder  ein,  indem  er  bemerkte,  wenn  der  Kaiser  nur  das 
bestehen  lasse,  was  Rom  nach  altem  Rechte  fordern  könne,  so  bewillige  er 
dadurch  nichts  für  eine  ihm  fremde  Religion.  Vielleicht  hätte  der  Kaiser 
umgestimmt  werden  können.  Manche  Christen  mochten  zu  solchen  Zuge- 
ständnissen geneigt  sein;  im  geheimen  Rathe  des  Kaisers  waren  einige  Hei- 
den, welche  ihn  in  diesem  Sinne  bearbeiteten.  Da  erfuhr  Bischof  Ambrosius 
von  der  Sache.  Sofort  wendete  er  sich  an  den  jungen  Kaiser :  „Es  geschieht 
keinem  Unrecht,  wenn  ihm  der  allmächtige  Gott  vorgezogen  wird.  Ihm 
gehört  Eure  Ueberzeugung   an.    Ihr  zwingt  Niemand  zu    einer  Gottesver- 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthums.    Theodosius.  237 

ehrung  gegen  seinen  Willen.  Dasselbe,  was  Ihr  Anderen  gewährt,  sei  auch 
Euch  gestattet.  Wenn  aber  einige  Namenchristen  zu  solchem  Beschlüsse 
rathen,  so  lasst  Euch  durch  den  blosen  Namen  nicht  täuschen.  Wer  solches 
anräth  und  beschliesst,  der  opfert.  Wir  Bischöfe  werden  das  nicht  ruhig 
dulden  können.  Ihr  könnt  zur  Kirche  kommen,  aber  Ihr  werdet  dort  keinen 
Priester  finden,  oder  einen  solchen,  der  Euch  den  Zugang  verwehrt.  Der 
Herr  will  Eure  Dienste  nicht,  weil  ihr  den  Götzen  gedient  habt;  denn  er 
hat  zu  Euch  gesprochen,  ihr  könnt  nicht  zweien  Herren  dienen.  ^^  —  Valen- 
tinian,  überwunden  durch  solche  Ansprache,  ertheilte  eine  abschlägige 
Antwort. 

Im  Morgenlande  herrschte,  wie  bevorwortet,  Theodosius,  welcher  im 
Jahre  392  durch  den  Tod  Valentinians  IL  Beherrscher  des  Abendlandes, 
mithin  des  ganzen  Reiches  wurde.  Ehe  diess  geschah,  wurden  zunächst  im 
Morgenlande  härtere  Massregeln  ergriffen.  Theodosius  fing  damit  an,  dass 
er  im  Jahre  381  denjenigen,  welche  von  der  christhchen  Religion  zur  heid- 
nischen übertraten,  die  Befähigung,  Testamente  zu  machen,  entzog.  Ge- 
meinschaftlich mit  Gratian  verbot  er  damals  das  Opfern,  soweit  es  mit  der 
Magie  und  mit  Wahrsagerkünsten  in  Verbindung  stand,  die  als  poUtisch- 
gefährlich  galten.  In  der  Anwendung  wurde  aber  diess  Verbot  auf  den  gan- 
zen Opfercultus  bezogen.  Bischöfe  gaben  das  Zeichen  zu  den  dabei  verübten 
Gewaltthätigkeiten,  mehrere  führten  fanatische  Haufen  gegen  die  heidnischen 
Tempel  und  munterten  sie  auf  zu  deren  Zerstörung;  so  handelten  die  Bi- 
schöfe von  Edessa,  von  Apamea,  von  Alexandrien.  Schwärme  von  wüthenden 
Mönchen  fielen  in  die  Tempel  ein  und  zerstörten  die  Bilder  der  Götter;  die 
Priester  mussten  schweigen,  um  nicht  in  Lebensgefahr  zu  gerathen.  So  sehr 
entfremdeten  sich  die  Christen  dem  Geiste  ihrer  Religion.  Die  Heiden  ver- 
galten es  ihnen  durch  Repressalien  in  denjenigen  Gegenden ,  wo  sie  noch  in 
Menge  sich  befanden.  So  wurden  die  Kirchen  von  Gaza,  von  Askalon  und 
Berytus  in  Phönizien  zerstört.  Der  Unfug  wurde  so  gross,  dass  der  Kaiser 
seit  382  demselben  durch  Gesetze  Einhalt  thun  musste.  Die  Tempel  von 
Edessa  nahm  er  in  Schutz,  weil  deren  Bildsäulen  mehr  nach  ihrem  künst- 
lerischen als  nach  ihrem  rehgiösen  Werthe  geschätzt  werden  sollten.  Später 
wurde  er  in  gewissen  Fällen  nur  durch  die  Vorstellungen  christlicher  Bischöfe 
bewogen,  gegen  diese  Gewaltthätigkeiten  nicht  einzuschreiten.  Noch  im 
Jahre  393  erliess  er  ein  Gesetz  gegen  diejenigen,  welche  unter  dem  Verwände 
des  Christenthums  die  Synagogen ,  —  auch  diese  waren  nicht  vor  der  Volks- 
wuth  geschützt,  —  zu  zerstören  sich  unterfingen.  Nach  jenen  ersten  Vor- 
gängen (388—390),  als  gerade  ein  prächtiger  Tempel  an  der  Grenze  gegen 
Persien  hin  zerstört  worden  war,  richtete  Libanius  seine  berühmt  gewordene 
Schutzrede  für  die  Tempel  (vnsQ  ttov  legcop)  an  Kaiser  Theodosius,  worin 
er  sich  über  die  verübten  Gewaltthätigkeiten  mit  Recht  beklagt  und  dem 
Kaiser  manche  heilsamen  Wahrheiten  zu  Gemüthe  führt.  ^^Mit  Zerstörung 
der  Tempel  nimmt  man  dem  Heidenthum  bei  dem  Volke  keineswegs  seine 
Stütze,  es  nimmt  nicht  eine  andere  Art  der  Gottesverehrung  an,  es  er- 
heuchelt eine  andere.  Warum  wüthet  Ihr  denn  also  gegen  die  Gläu- 
bigen, da  diess  doch  nicht  überzeugen,  sondern  Gewalt  gebrauchen  heisst?^' 
Die  Rede  blieb  ohne  Wirkung,  was  Christen  und  Heiden  betrifft,  zum  deut- 


238  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

liehen  Beweise,  dass  die  Principien  der  Parteien  nach  ihren  Interessen 
sich  gestalten.  Sogar  der  Besuch  der  Tempel  wurde  im  Jahre  391  von 
Theodosius  verboten,  ebenso  von  Valentinian  im  Abendlande. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  die  Vorfälle  in  Alexandrien.  In  die- 
ser Stadt,  wo  das  Heidenthum  noch  viele  und  zum  Theil  sehr  gebildete 
Anhänger  zählte  und  prächtige  Tempel  hatte,  stand  damals  ein  Mann  von 
durchaus  ungeistlicher  Gesinnung,  der  Bischof  Theophilus  an  der  Spitze 
der  Kirche.  Er  liess  sich  vom  Kaiser  einen  Tempel  des  Bacchus  schenken 
um  ihn  in  eine  christliche  Kirche  umzuwandeln.  Die  darin  gefundenen 
heidnischen  Symbole  der  zeugenden  Naturkraft  liess  er,  um  die  helle- 
nischen Mysterien,  worin  nach  heidnischem  Wahne  so  viele  verborgene 
Weisheit  stecken  sollte,  dem  Gelächter  und  Gespötte  preiszugeben,  in 
öffentlicher  Procession  durch  die  Stadt  tragen.  Darüber  wüthend  gewor- 
den, schaarten  sich  die  Heiden  zusammen  und  griffen  die  Christen  an,  von 
welchen  sie  manche  verwundeten  und  tödteten.  Auf  einer  Anhöhe  lag  der 
prächtige,  kolossale  Tempel  des  Serapis,  eines  der  grössten  Heiligthümer 
des  Heidenthums.  Dahin  begaben  sich  die  heidnischen  Schaaren  und  er- 
richteten daselbst  ein  Lager,  aus  welchem  sie  auf  die  Christen  Ausfälhi 
machten,  manche  derselben  mit  sich  fortschleppten  und  durch  Martern 
zum  Abfalle  zwangen.  Ein  mit  ihnen  eingeschlossener  Philosoi)h,  Olympus, 
ermahnte  sie,  für  ihre  väterliche  Religion,  wenn  es  nöthig  wäre,  zu  sterben 
Alle  Versuche  der  Behörden  und  der  Truppen,  sie  zum  Gehorsam  zu  brin- 
gen, scheiterten  an  dem  Widerstände  der  erbitterten  Heiden.  Der  Kaiser 
ergriff  nun  das  letzte  Mittel,  um  diesem  gefährlich  werdenden  Aufruhr  ein 
Ende  zu  machen.  Er  verkündigte  die  Begnadigung  der  Theilnehmer  des 
Aufruhres,  damit  sie,  wie  Sozomenus  7,  15  berichtet,  um  so  leichter  zum 
Christenthum  sich  bekehren  möchten,  aus  Rücksicht  auf  die  erwiesene 
Wohlthat.  Zugleich  aber  befahl  er,  dass  alle  Tempel  der  Stadt,  weil  sie 
den  Aufruhr  veranlasst  hätten,  zerstört  werden  sollten.  Der  Biscliof  über- 
nahm die  Ausführung  dieses  Befehles,  wobei  ihm  Soldaten  Hülfe  leisteten. 
Der  erste  Sturm  brach  los  gegen  das  abergläubisch  verehrte  Heiligthum 
des  Serapis.  Grosse  Schaaren  sammelten  sich  um  dasselbe.  Aengstlich 
gespannt  waren  alle  Gemüther;  denn  eine  alte  Sage  verkündete,  dass, 
wenn  die  Bildsäule  des  Serapis  stürze,  Himmel  und  Erde  zusammenbrechen 
würden.  Selbst  auf  die  Christen  übte  diese  Sage  einen  lähmenden  Ein- 
fluss  aus.  Lange  wollte  keiner  an  das  Werk  gehen.  Da  zerhieb  ein  Soldat 
den  ungeheuren  Kinnbacken  der  Bildsäule,  —  unter  allgemeinem  Geschrei 
der  Christen  und  der  Heiden.  Nun  war  die  Furcht  gewichen,  das  Götter- 
bild wurde  niedergerissen,  wobei,  nach  einem  Bericht,  eine  Menge  Mäuse 
aus  dem  hohlen  Kopfe  desselben  sprangen.  Die  Bildsäule  wurde  verbrannt, 
der  Tempel  geschleift,  —  alle  anderen  in  und  um  Alexandrien  ebenfalls 
niedergerissen,  oder  in  Kirchen  und  Klöster  umgewandelt.  Nun  entstand 
aber  eine  neue  Besorgniss:  Serapis,  um  die  ihm  angethane  Schmach  zu 
rächen ,  werde  die  Ueberschwemmung  des  Nil,  wovon  die  Fruchtbarkeit  des 
Landes  und  somit  die  Existenz  seiner  Bewohner  abhing,  verhindern ;  später 
aber,  in  demselben  Jahre  391  trat  eine  überaus  reichliche  Ueberschwemm- 
ung des  Nil  ein.    Damit  war  die  Niederlage  des  Heidenthums  im  Morgen- 


Aeussere  Schicksale  des  Christenthums.    Theodosius  —  Honorius,  239 

lande  entschieden.    Im  Jahre  392  wurde  das  Opfern  als  crimen  majestatis 
bei  Strafe  verboten. 

Im  Abendlande  ging  die  Unterdrückung  des  Heidenthums  nicht  so 
rasch  vorwärts.  Von  Kaiser  Eugenius,  der  nach  der  Ermordung  Valen- 
tinian's  IL  durch  den  heidnischen  Feldherrn  Arbogast  im  Jahre  392  auf 
den  Thron  erhoben  worden,  erlangte  die  heidnische  Partei,  was  ihr  Gra- 
tian  und  Yalentinian  verweigert  hatten,  die  Wiederaufrichtung  des  Altars 
der  Victoria  im  Saale  des  römischen  Senats.  Doch  diess  Zugeständniss 
war  das  letzte  Lächeln  des  Glückes  für  das  dem  Untergange  geweihte 
Heidenthum.  Als  Theodosius  auch  Beherrscher  des  Abendlandes  geworden 
und  im  Jahre  394  Eugenius  besiegt  hatte,  forderte  er  den  Senat  auf,  sich 
für  das  Christenthum  zu  erklären.  Derselbe  scheint  unter  knechtischen 
Unterwürfigkeitsbezeugungen  nachgegeben  zu  haben.  Theodosius  suchte 
dadurch  dem  Opfern  ein  Ende  zu  machen,  dass  er  die  Bestreitung  der 
Kosten  aus  dem  öffentlichen  Schatze  aufhob;  das  hinderte  den  heidnischen 
Dichter  Claudianus  nicht,  den  Tod  des  Kaisers  als  ein  Aufsteigen  zu  den 
Göttern  zu  schildern. 

Unter  den  folgenden  Kaisern  wurde  die  Unterdrückung  des  Heiden- 
thums mehr  im  Morgenlande  als  im  Abendlande  vollendet,  aber  auch  in 
jenem  Theile  nicht  gänzlich  durchgesetzt.  Im  Morgenlande  herrschten 
nach  Theodosius  L  Arcadius  395  —  408  und  Theodosius  IL  408  —  450. 
Weniger  von  aussen  beunruhigt  konnten  sie  die  gegen  das  Heidenthum 
erlassenen  Gesetze  kräftiger  handhaben.  Mönchshaufen,  mit  kaiserlichen 
Vollmachten  versehen ,  Hessen  sich  bereitwillig  zur  Zerstörung  der  Tempel 
gebrauchen.  So  gewaltsam  wurde  verfahren,  dass  man  selbst  den  durch 
den  christlichen  Pöbel  verübten  Mord  der  Philosophin  Hypatia,  einer  we- 
sentlichen Stütze  des  Heidenthums  in  Alexandrien,  ungeahndet  hingehen 
Hess  (416)  ij.  In  Athen  suchten  die  daselbst  lehrenden  neuplatonischen 
Philosophen  ihre  Rettung  in  der  sorgfältigsten  Verhehlung  ihrer  heidnischen 
Gesinnung.  Im  Jahre  423  wollte  Theodosius  IL  es  dahin  gestellt  sein 
lassen,  ob  es  noch  Heiden  gebe.  Allerdings  gab  es  deren  und  der  Kaiser 
fand  es  sogar  nöthig,  sie  gegen  die  Gewaltthätigkeiten  derer,  die  Christen 
waren  oder  dafür  galten ,  wie  er  sich  ausdrückt ,  in  Schutz  zu  nehmen, 
wie  denn  auch  Augustin  um  dieselbe  Zeit  gegen  tiiejenigen,  die  unter  dem 
Vorwande  der  Religion  Heiden  beraubten,  predigte;  „wenn  du  als  Christ 
den  Heiden  beraubst,  hinderst  du  ihn,  Christ  zu  werden.^'  Anders  gestaltet 
waren  die  Verhältnisse  im  Abendlande.  Unter  Honorius  bHeben  zwar 
die  Gesetze  gegen  die  Heiden  aufrecht  stehen  und  wurden  sogar  durch 
neue  vermehi't.  Bis  426  wurden  Gesetze  erlassen  gegen  den  Uebertritt 
vom  Christenthum  zum  Heidenthum  2).  Diese  in  Betracht  der  damaHgen 
Sachlage  höchst  auffallenden  Verordnungen  erklären  sich  so,  dass  manche, 
die  sich  zum  Schein  hatten  taufen  lassen,  im  Verborgenen  den  heidnischen 


1)  Sokrates  7,  15,  gibt  an,  ein  gewisser  Lector  Petrus  sei  an  der  Spitze  gestan- 
den und  die  Sache  habe  dem  Ansehen  des  Patriarchen  Cyrill  sehr  geschadet,  woraus  er- 
hellt, dass  man  ihm  die  Schuld  von  diesem  Morde  mehr  oder  weniger  beimass. 

2)  Qui  nomen  christianitatis  induti  sacrificia  fecerint. 


240  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Cultus  ausübten  und  wenn  man  sie  entdeckte ,  Apostaten  genannt  und  als 
solche  bestraft  wurden.  Martinus,  Bischof  von  Tours  (375  —  400)  zer- 
störte eigenmächtig  heidnische  Tempel.  Doch  mussten  die  Kaiser  in  Rom 
das  Heidenthum  dulden,  das  noch  immer  daselbst  Anhänger  hatte.  In 
mehreren  Theilen  des  Abendlandes  erlaubten  sich  die  Heiden  Gewaltthä- 
tigkeiten.  Christliche  Missionare  wurden  397  in  Rhaetien  getödtet  und  die 
von  ihnen  gebaute  Kirche  zerstört.  In  Africa  wurden  sechzig  von  den 
Christen  getödtet ,  welche  in  Suffecte  eine  Statue  des  Hercules  zerstört 
hatten. 

Mit  neuer  Kraft  erhoben  die  Heiden  ihre  Stimme,  als  die  Einfälle  der  ger- 
manischen Völker  immer  häufiger  und  gefähi'licher  wurden,  als  Italien  mehr- 
malsverheert wurde.  Sie  sahen  darin  die  gerechte  Strafe  für  die  Unterdrückung 
der  alten  Religion  und  im  Anschluss  an  eine  christliche  Sage,  dass  365  Jahre 
nach  dem  ersten  Auftreten  Christi  das  Ende  der  Welt  kommen  werde,  vei- 
kündigten  sie  den  nahen  Untergang  des  Christenthums.  Doch  diese  Angriff'3 
der  Heiden  verloren  alle  Wirkung,  als  die  Germanen  das  Christenthum 
annahmen  und  die  Heiden  zu  verfolgen  anfingen,  indess  sie  die  christlichen 
Tempel  und  diejenigen,  die  darin  Zuflucht  suchten,  in  ihren  Schutz  nah- 
men. Dennoch,  obgleich  auch  Valentinian  III.  (423 — 455)  wieder  die 
Verordnung  gegen  das  Heidenthum  erneuerte,  erhielt  es  sich  sporadiscl. 
in  einigen  Gegenden  des  Abendlandes,  in  Rom,  in  Oberitalien,  Gallien 
in  Africa,  Sicilien,  Corsica,  auf  welcher  Insel  das  Heidenthum  viele  fana- 
tische Anhänger  behielt,  und  eine  Christin,  Julia,  weil  sie  an  einem  Opfer  nicht 
Theil  nehmen  wollte^  gekreuzigt  wurde  (zwischen  440  und  445).  Auch  wenn 
die  Heiden  sich  bekehrten,  behielten  sie  heidnische  Gebräuche  bei. 

An  eine  Wiederbelebung  des  Heidenthums  im  Ganzen  war  freilich  in 
keiner  Weise  zu  denken.  Während  es  bei  dem  ungebildeten  Haufen  nur 
durch  Gewohnheit  und  Aberglauben  sich  erhielt,  suchten  die  Gebildeten 
durch  Eingehen  in  die  durch  das  Christenthum  verbreiteten  Ideen  es  sich 
zurecht  zu  legen,  indem  sie  den  Glauben  an  den  einen  Gott  voranstellten 
und  die  verschiedenen  Götter  der  alten  Religion  als  die  Diener  und  Knechte 
desselben  geltend  machten.  So  berichtet  Orosius  (bist.  6,  1),  so  spricht 
sich  der  Grammatiker  Maximus  gegen  Augustin  aus.  Doch,  wenn  das  Hei- 
denthum hoffnungslos  darnieder  lag,  so  war  es  doch  in  den  Herzen  der 
äusserlich  christlich  gewordenen  Völker  keineswegs  erstorben  uud  bei  den 
massenhaften  Bekehrungen  war  die  Besorgniss  nur  zu  sehr  gegründet,  dass 
es  unter  christilchem  Gewände  wieder  Eingang  in  das  heilige  Gebiet  des 
Christenthums  erhalten  würde. 

Die  christlichen  Bischöfe  erscheinen  in  diesem  der  alten  Religion 
gemachten  Processe  nicht  in  günstigem  Lichte.  Eine  gewisse  Ausnahme 
macht  Chrysostomus.  Er  weiss  den  wunden  Fleck  in  dieser  Sache  zu 
treffen:  ,,keiner  wäre  ein  Heide,  sagt  er  (in  der  zehnten  Homilie  über 
1  Tim.),  wenn  wir  rechte  Christen  wären.  Denn  diejenigen,  die  wir  be- 
lehren, sehen  auf  die  Tugend  der  Lehrer,  und  wenn  sie  sehen,  dass  wir 
dieselben  Dinge  wie  sie  erstreben,  dass  wir  wollen  herrschen  und  geehrt 
sein,  wie  werden  sie  das  Christenthum  bewundern  können ?''  Auf  diesen 
Zwiespalt  zwischen  dem  Bekenntniss  und  dem  lieben  macht  auch  Augustin 


Geschichte  der  Theologie.  241 

aufmerksam  (enarratio  in  Psalm  25):  „was  willst  du  mich  überreden,  dass 
ich  ein  Christ  werde ?^^  lässt  er  einen  Heiden  sagen:  „Ich  bin  von  einem 
Christen  betrogen  worden  und  ich  selber  habe  niemals  Jemand  betrogen. 
Ein  Christ  hat  mir  einen  falschen  Eid  geschworen;  ich  aber  nie.^  In  der 
Schrift  über  den  Märtyrer  ßabylas  sagt  Chrysost. :  „es  ist  den  Christen 
nicht  erlaubt,  durch  Gewalt  und  Zwang  den  Irrthum  zu  zerstören,  sondern 
sie  dürfen  nur  durch  Ueberzeugung ,  durch  vernünftige  Belehrung,  durch 
Liebeserweisung  das  Heil  der  Menschen  bewirken.^  Doch  begünstigte  der- 
selbe Chrysostomus  die  Zerstörung  der  heidnischen  Tempel,  und  in  der 
Lobrede  des  Proclus  auf  ihn  wurde  diess  namentlich  hervorgehoben  i). 
Daher  darf  man  sich  über  das  Benehmen  der  Kaiser  nicht  wundern.  Wun- 
dern muss  man  sich  vielmehr,  dass  sie  nicht  noch  gewaltthätiger  verfuhren. 


Zweiter  Abschnitt. 


Geschichte  der  Theologie  2). 

Was  die  inneren  Verhältnisse  der  vom  römischen  Reiche  umschlosse- 
nen katholischen  Kirche  betrifft,  so  steht  in  der  vordersten  Reihe  die 
Theologie;  das  gehört  wesentlich  zur  Signatur  dieser  Zeit.  In  der  ersten 
Periode  war  ein  theologisches  Leben  erwacht,  das  sich  nothwendig  weiter 
entwickeln  musste,  das  durch  inneren  Drang  sich  steigerte.  Der  theolo- 
gische Forschungsgeist  war  mächtig  angeregt,  die  Lösung  von  Fragen  war 
versucht  worden,  deren  Beantwortung  noch  weit  vollständiger  und  richtiger 
gegeben  werden  konnte.  Dazu  kam,  dass  in  Folge  der  politisch -kirch- 
lichen Veränderungen,  wovon  im  ersten  Abschnitt  die  Rede  gewesen,  die 
apologetische  Literatur  gegenüber  den  Heiden  nicht  vorwiegend  die  Thä- 
tigkeit  der  Kirchenlehrer  in  Anspruch  zu  nehmen  vermochte.  Es  entstan- 
den zwar  ziemlich  viele  apologetische  Schriften,  worunter  die  Schrift  Au- 
gustinus de  civitate  Dei  die  erste  Stelle  einnimmt;  aber  die  Hauptthätigkeit 
war  anders  wohin  gerichtet.  Sie  wurde  um  so  lebhafter  angeregt,  als  die 
Häresieen  der  ersten  Periode,  welche  in  Gestalt  des  Ebionitismus  und  Gno- 
sticismus  aufgetreten,  überwunden  waren.  Es  erfolgte  diess  nach  einem 
bekannten  Gesetze  der  Geschichte,  dass  diejenigen,  die  einen  gemeinsamen 
Feind  bekämpfen,  nachdem  sie  den  Sieg  über  denselben  davon  getragen, 
unter  sich  uneins  werden.  Die  durch  den  gemeinsamen  Kampf  verdeckten 
oder  neutralisirten  inneren  Differenzen  machen  sich  nach  Bewältigung  des 


1)  Ebenso  von  Theodoret  H.  E.  5,  29. 

2)  Was  die  Entwicklung  der  Lehre  betrifft,  siehe  die  S.  75  angeführten  dogmen- 
geschichtlichen Werke.  An  geeigneten  Orten  werden  wir  die  monographischen  Arbeiten 
angeben. 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  Iß 


242  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

gemeinsamen  Feindes  geltend.  Daraus  entstand  eine  Reihe  von  Streitig- 
keiten, die  Kirche  und  Staat  erschütterten.  So  ist  diese  Zeit  recht  eigent- 
lich die  Zeit  der  theologischen  Streitigkeiten. 

Während  derselben  bildete  sich  das  katholische  Dogma  aus,  gewöhn- 
lich die  Mitte  haltend  zwischen  zwei  extremen  Richtungen.  Es  wurde 
dabei  mit  grosser  Präcision  behandelt  und  die  Resultate  wurden  massgebend 
für  die  folgende  Zeit.  Besondere  Umstände  bewirkten,  dass  das  Dogma 
mit  einer  Autorität  bekleidet  wurde,  die  es  vorher  nicht  gehabt  hatte.  Da 
nämlich  die  Kaiser  Christen  geworden  und  sich  für  das  Dogma  lebhaft 
interessirten ,  beriefen  sie  allgemeine,  ökumenische  Synoden  zur  Schliclit- 
ung  der  Controversfragen ,  eine  Einrichtung,  die  in  der  Zeit  der  Ver- 
folgungen kaum  möglich  gewesen  wäre  und  die  völlig  geeignet  war,  dem 
Dogma  eine  höhere  Sanction  zu  ertheilen,  als  sie  möglich  war  durch  die 
Entscheidung  eines  Provincialconcils  oder  eines  noch  so  angesehenen  Kir- 
chenlehrers, wie  denn  Constantin  in  seinem  Schreiben  an  die  Kirche  in 
Alexandrien  (bei  Sokrates  1,  9)  sagte:  ;,was  den  dreihundert  Bischöfen  in 
Nicäa  gefallen  hat,  ist  nichts  Anderes  als  Gottes  Meinung.^  Sodann  be- 
schirmten die  Kaiser  die  eine  Partei  und  verfolgten  die  entgegenstehende, 
die  freilich  in  gewissen  Fällen  die  katholisch  orthodoxe  war.  Es  fand  da- 
bei eine  Vermengung  des  Kirchlichen  un^  des  Politischen  statt,  verbunden 
mit  Heuchelei  und  Wechsel  der  Meinungen  nach  der  Gunst  des  Hofes. 
Ein  anderer  Uebelstrjid  war  die  Vermengung  der  Religion  und  der  Theo- 
logie, der  christlichen  Glaubenssätze  und  der  theologischen  Schulformell. 
An  dieser  Krankheit  leidet  die  Zeit.  Wohl  traten  gewaltige  Denker  in  die 
Schranken,  Denker,  die  mit  bewunderungswürdiger  Schärfe  das  Dogma 
formulirten,  aber  solche  Geister  sind  am  meisten  geneigt,  in  den  genannten 
Fehler  zu  verfallen. 

Sehen  wir  auf  den  verarbeiteten  dogmatischen  Stoff,  so  zeigt  sich, 
dass  die  drei  Grundpfeiler  des  kirchlichen  Lehrgebäudes,  Theologie 
Christologie,  Anthropologie  Gegenstand  der  Controverse  und  dei 
Synodalverhandlungen  werden.  In  der  Theologie  bewegt  sich  der  Streit 
um  verschiedene  Fassungen  der  Dreieinigkeitslehre,  wobei  aber  die 
Frage  um  die  zweite  Person  der  Dreieinigkeit  der  Natur  der  Sache  gemäss 
das  Hauptinteresse  in  Anspruch  nimmt;  hier  kommt  in  Betracht  die  aria- 
nische  Streitigkeit  mit  ihren  Verzweigungen.  Was  die  Christologie 
betrifft,  so  werden  die  verschiedenen  Bestimmungen  über  das  Verhältniss 
des  Göttlichen  und  Menschlichen  in  Christo  behandelt  in  den  apollina- 
ristischen,  nestorianischen,  eutychiani  sehen  Streitigkeiten. 
In  der  Anthropologie  und  Heilsordnung  kommt  in  Betracht  der 
pelagianische  und  der  semipelagianische  Streit,  in  der  Lehre  von 
der  Kirche  und  den  Sacramenten  die  Controverse  mit  den  Dona- 
ti st  en.  Daran  reihen  sich  noch  andere  Streitigkeiten  von  minderer 
Bedeutung,  worunter  die  wichtigste  die  über  Origenes  ist.  Mitten  in  die- 
sen Bewegungen  und  als  Resultat  derselben  macht  sich  das  Dogma  von 
der  Autorität  der  katholischen  Kirche  und  der  Tradition  mehr  und'  mehr 
geltend.  In  allem  diesem  tritt  ein  relativer  Gege^satz  der  griechisch- 
morgenländischen   und   der   lateinisch  -  abendländischen  Kirche    mehr    und 


Schriftsteller  der  griechisch -morgenländischen  Kirche.  243 

mehr  hervor.  Indess  jene  mit  Vorliebe  die  objectiven  theologischen  Dog- 
men bearbeitet,  wirft  sich  der  mehr  subjectiv  und  praktisch  gestimmte 
abendländische  Geist  mehr  auf  die  Anthropologie,  Heilsökonomie,  auf  die 
Lehre  von  der  Kirche  und  von  den  Sacramenten.  Die  beiden  Theile  der 
Kirche  sind  aber  durchaus  noch  nicht  getrennt;  es  findet  ein  wechselseitiger 
Lebensverkehr  zwischen  beiden  statt;  die  etwelchen  Unterbrechungen 
desselben  sind  nicht  grösser,  als  der  Zwiespalt  der  im  Inneren  der  morgen- 
ländischen Kirche  sich  kund  gibt. 

üebersicht  der  Kirchenlehrer  dieser  Periode  und  ihrer 
Leistungen  im  Allgemeinen. 

I.    Lehrer  und  Schriftsteller  der  griechisch-morgen- 
ländischen Kirche. 

Da  begegnen  wir  zwei  Hauptclassen  derselben.  Erstens  solche,  die 
wir  zur  alexandrinischen  Schule  rechnen,  d.  h.  die  mehr  oder  weniger  an 
Origenes  sich  anschliessen,  seine  Auslegungsart  der  heiligen  Schrift  an- 
nehmen, auch  zum  Theil  seine  heterodoxen  Meinungen,  überhaupt  seine 
speculativ- mystische  und  dogmatische  Richtung.  Die  Reihe  dieser  Theo- 
logen eröffnet  der  uns  schon  als  Kirchengeschichtschreiber  bekannte  Eu- 
seb,  Bischof  von  Cäsarea  in  Palästina,  geboren  261  f  340.  Ausser  den 
historischen  Schriften,  der  Kircheugeschichte,  dem  Leben  Constantin's,  dem 
Chronikon  sind  für  uns  wichtig  die  evayyeXixri  anoöei^ig  in  zwanzig  Bü- 
chern (demonstratio  evangelica)  und  die  TiQOTiaQaffxevt}  evayyeXtxrj  (prae- 
paratio  evangelica)^  in  fünfzehn  Büghern,  beides  apologetische  Schriften; 
dazu  kommen  polemische  Schriften,  gegen  Marcellus  von  Ancyra  zwei 
Bücher,  über  die  kirchliche  Theologie  drei  Bücher,  eine  Schrift  gegen  Hie- 
rocles,  endlich  Commentare  über  das  Hohelied,  die  Psalmen,  Jesaias.  S. 
den  Artikel  von  Semisch  über  ihn  in  der  Realencyklopädie. 

Als  Theologe  über  Euseb  und  die  folgenden  Lehrer  hoch  hervorra- 
gend ist  Athanasius  *),  pater  orthodoxiae,  geboren  c.  296  in  Alexandrien, 
seit  319  Diakon,  seit  328  Bischof  daselbst,  oftmals  vertrieben  und  abge- 
setzt t  373.  Zwei  Schriften  von  ihm  sind  noch  vor  Ausbruch  des  arianischen 
Streites  verfasst:  Xoyog  xata  tcov  ""EXlrjucov  und  ttsqi  trjg  epavdgcaTifjcreoog 
tov  Xoyov;  —  die  Hauptschrift  gegen  die  Arianer  sind  die  vier  Reden 
gegen  sie,  die  aber  oftenbar  nicht  gehalten  worden  sind;  dazu  kommen  noch 
einige  andere  Schritten  gegen  die  Arianer;  in  darauf  folgenden  Schriften 
bekämpfte  er  die  Macedonianer  und  Apollinaristen.  Ausserdem  hat  er  auch 
exegetische,  homiletische,  moralisch- asketische,  biographische  und  litur- 
gische Abhandlungen  und  Briefe  hinterlassen.  Er  war  keineswegs  starrer 
Anhänger  der  dogmatischen  Tradition.  Er  beseitigte  zwar  die  anstössigen 
Sätze,  die  Origenes  der  platonischen  Philosophie  entlehnt  hatte,  aber  er 
gab  die  geistvolle  Speculation  des  Origenes  nicht  auf,  ja,  seine  folgereich- 
sten Gedanken ,  bemerkt  mit  Recht  Nitzsch,  sind  nichts  Anderes,  als  weiter 
ausgebildete  und  anders  gewendete  Momente  der  Logoslehre  des  Origenes. 

1)  Moehler,  Athanasius  der  Grosse  und  seine  Zeit.    1827. 

16* 


244  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

An  Athanasius  schliessen  sich  die  drei  grossen  Kirchenlehrer  aus 
Kappadocien  an. 

Ba  Sil  ins,  zubenannt  der  Grosse,  Bischof  von  Cäsarea  in  Kappa- 
docien, geboren  c.  330,  f  379.  Er  schrieb  gegen  Eunomius  fünf  Bücher, 
sodann  über  den  heiligen  Geist ,  und  Homilieen  über  das  k^arnisqov ,  aske- 
tische Schriften;  als  dogmatischer  Theologe  war  er  nicht  bedeutend,  er 
ragte  hervor  als  salbungsvoller  Prediger,  seine  Richtung  war  mehr  prak- 
tisch und  asketisch  als  wissenschaftlich.    S.  Klose,  Basilius  der  Grosse  1835. 

Sein  Bruder,  Gregor,  Bischof  von  Nyssa,  geboren  c.  333,  f  ^^ch 
394,  nach  Athanasius  der  durchgebildetste  Theologe  der  griechischen  Kirche, 
am  meisten  an  Origenes  sich  anschliessend ;  sein  Tiefsinn  bewahrte  ihn  aber 
nicht  vor  gewagten  Behauptungen.  Er  schrieb  gegen  Apollinarius ,  gegen 
Eunomius,  über  das  s^arj^egov.  Im  Xoyog  xartixtiTixot;  fisyag  behandelt  er 
die  Lehre  von  der  Trinität,  von  der  Weltschöpfung,  von  der  Person  und 
dem  Werke  Christi,  von  den  Sacramenten  und  vom  Glauben.  Im  Vorworte 
zu  dieser  Schrift  vertheidigte  er  des  Origenes  allegorische  Methode  der  Aus- 
legung. Dazu  kommen  noch  einige  Abhandlungen  über  specielle  dogma- 
tische Punkte  ^). 

Gregor  von  Nazianz,  geboren  c.  3.30,  361  Presbyter  in  Nazianz, 
darauf  Bischof  in  Sosima ,  seit  372  Coadjutor  seines  Vaters ,  des  Bischofs 
von  Nazianz,  in  Constantinopel  Vorsteher  der  nicänischen  Gemeinde;  381 
Bischof  von  Constantinopel,  kehrte  er  bald  darauf  nach  Nazianz  zurück  und 
starb  daselbst  389  oder  390;  er  war  mit  Basilius  durch  das  Band  der 
engsten  Freundschaft  verbunden.  Obschon  mit  dem  Ehrennamen  ;,der 
Theologe"  geschmückt,  ragt  er  doch  als  Theologe  weniger  hervor;  von 
seinen  fünfundvierzig  Reden  sind  die  fünf  theologischen  Reden,  gewidmet 
der  Vertheidigung  des  nicänischen  Bekenntnisses  die  bedeutendsten.  Von 
ihm  sind  auch  Briefe  und  Gedichte,  wichtig  als  Quelle  für  die  Kenntniss 
des  kirchlichen  Zustandes ,  vorhanden  2). 

Didymus,  Vorsteher  der  alexandrinischen  Katechetenschule,  f  395, 
hat  einige  verloren  gegangene  Schriften  verfasst.  Erhalten  sind  die 
Schriften  über  den  heiligen  Geist  in  lateinischer  Uebersetzung ,  die  Schrift 
gegen  die  Manichäer,  über  die  Dreieinigkeit,  eine  kurze  Erklärung  der 
kanonischen  Briefe.  Er  lehrte  die  Präexistenz  der  Seelen  und  die  Möglich- 
keit der  Bekehrung  des  Teufels. 

Cyrill,  Bischof  von  Alexandrien,  f  344,  war  in  der  Schriftauslegung 
Origenist,  weniger  in  dogmatischer  Beziehung.  Von  ihm  sind  vorhanden 
Commentare  zur  heiligen  Schrift  ohne  Werth,  mehrere  Schriften  gegen 
Nestorius,  die  Schrift  gegen  Julian  in  zehn  Büchern,  Homilieen  und  Briefe. 
Ebenfalls  durch  Origenistische  Anregung  war,  wie  bevorwortet,  die 
sogenannte  antiochenische  oder  syrische,  historisch-exegetische 
Schule  entstanden  (S.  123),  die  beides  war.  Schule  als  Richtung  und  Schule 
im  strengen  Sinne  des  Wortes,  da  mehrere  Vertreter  derselben  eigentliche 
Schulen  hielten.     Sie  pflegte    den    von  Origenes    gemachten  Anbau    der 

1)  S.  Kupp,  Gregor's,  des  Bischofs  von  Nyssa,  Leben  und  Meinungen  1834.  — 
Mo  eil  er,  Gr.  N.  doctrinam  de  hominis  natura  etc.  illustravit  1854. 

2)  S.  über  ihn  die  Schrift  von  Ulimann. 


Schriftsteller  der  griechisch  -  morgenländischen  Kirche.  245 

biblischen  Exegese  und  Kritik,  indem  sie  zugleich,  um  Juden  und  Heiden 
keine  Waffen  in  die  Hand  zu  geben,  die  allegorische  Er  kl  ärung  in  bestimmte 
Gränzen  einschloss  und  überall  auf  den  historischen  Wortsinn  drang. 
Sowie  sie  in  der  Schiift  das  Menschliche  festhielt,  so  auch  in  der  Christo- 
logie;  daher  bildet  diese  Schule  die  eigentliche  Vorstufe  zu  den  christolo- 
gischen  Streitigkeiten. 

Nachdem,  wie  wir  gesehen,  die  Presbyter  Lucian  und  Dorotheus 
den  Grund  zur  Ausbildung  der  Schule  gelegt,  sehen  wir  sie  fortan  durch 
eine  Reihe  von  Männern,  worunter  einige  sehr  ausgezeichnete,  vertreten. 

Theodorus,  Bischof  von  Heraklea  im  Pontus,  f  358,  hinter- 
liess  Commentare  zu  Matthäus,  Johannes,  Apostelgeschichte,  Psalmen,  wo- 
von nur  Fragmente  vorhanden. 

Euseb,  Bischof  von  Nikodemien,  Haupt  der  Eusebianer,  f  341, 
Schüler  des  Lucian,  als  Schriftsteller  unbedeutend. 

Cyrill,  Bischof  von  Jerusalem,  f  386,  zuerst  Eusebianer,  dar- 
auf Semiarianer,  endlich  Nicäner,  ist  besonders  bekannt  und  berühmt 
durch  seine  Katechesen,  worunter  die  fünf  letzten  die  mystagogischen  ge- 
nannt werden. 

Euseb,  Bischof  von  Emesa  in  Phönizien,  f  368,  hat  Schriften 
hinterlassen,  die  verloren  gegangen.  Die  ihm  in  der  Neuzeit  zugeschriebe- 
nen Reden  sind  nicht  von  ihm,  sondern  von  einem  anderen  Euseb  aus 
Alexandrien. 

Apollinarius  oder  ApoUinaris,  Bischof  von  Laodicea^ 
370 — 390,  ein  scharfer  und  klarer  Denker,  von  umfassender  Bildung,  ver- 
theidigte  in  Schriften  das  Christenthum  gegen  Porphyr,  das  nicänische 
Bekenntniss  gegen  Marcellus  von  Ancyra  und  Eunomins  und  schrieb  Er- 
klärungen zu  einigen  Büchern  der  heiligen  Schrift.  Er  ist  Urheber  der 
christologischen  Streitigkeit,  die  seinen  Namen  trägt;  die  zu  Grunde  lie- 
gende Anschauung  von  Christi  Person  passt  nicht  zur  antiochenischen 
Richtung. 

Ephraem  der  Syrer,  Diakon  in  Edessa,  f  378,  ist  der  vorzüg- 
lichste Lehrer  der  Syrer  im  vierten  Jahrhundert,  propheta  Syrorum  ge- 
nannt. Unter  seinen  sehr  zahlreichen  Schriften  sind  die  wichtigsten  die 
Commentare  zum  Alten  Testament.  S.  den  Artikel  von  Roediger  in  der 
Realencyklopädie. 

Diodorus,  Presbyter  in  Antiochien,  seit  378  Bischof  von  Tarsus, 
f  c.  394,  hat  viele  Schriften  verfasst,  die  leider  alle  bis  auf  Fragmente 
nicht  erhalten  sind.  Es  waren  polemische  Schriften  gegen  die  Manichäer, 
Photin,  Apollinarius;  dogmatische  über  die  Dreieinigkeit,  neqi  oixovonia^^ 
über  die  Auferstehung  der  Todten.  Am  meisten  zu  bedauern  ist  der  Ver- 
lust der  biblischen  Commentare.  Er  war  ein  eiülger  Gegner  der  allego- 
rischen Erklärung.  Er  schrieb  eine  eigene  Schrift  ti(;  diatfioqa  ^€a>Qiag 
xai  aXXfiroQtag-,  —  beide  sind  der  historisch- grammatischen  Auslegung  ent- 
gegengesetzt, beide  bezeichnen  die  Beziehung  des  Textes  auf  etwas  Höhe- 
res, als  der  Buchstabe  anzeigt;  beide  sind  verschieden  von  einander,  sofern 
^€coQta  einen  begründeten  geistigen  Sinn,  akkriyogta  einen  unbegründeten, 
willküxlich  in  den  Text  hineingetragenen,  bedeutet  (S.  Kihn  a.  a.  0,  S.  129), 


246  Zweite  i*eriode  des  alten  Katholicismu«» 

Im  apollinaristischen  Streite  stellte  er  eine  Meinung  auf,  welche  die  Grund- 
lage des  Nestorianismus  wurde.  Seit  diesem  Streite  galt  er  als  häretisch. 
Als  eifriger  Nicäner  hat  er  von  den  Arianern  zu  leiden  gehabt.  Er  leitete 
in  Antiochien  eine  Schule,  in  welcher  Chrysostomus  und  Theodor  von 
Mopsuestia  ihre  theologische  Bildung  empfingen.  Er  führte  ein  streng 
asketisches  Leben,  welches  seinen  Einfluss  auf  die  Schüler  verstärkte. 

Johannes,  seit  630  zubenannt  Chrysostomus  i)  wegen  seiner  glän- 
zenden Beredtsamkeit  2),  geboren  347  in  Antiochien,  verdankte  seiner 
Mutter  Anthusa  die  ersten  lebendigen  Eindrücke  der  Frömmigkeit;  den 
wissenschaftlichen  Unterricht  erhielt  er  in  der  Schule  des  heidnischen 
Khetors  Libanius.  Bereits  hatte  er  sich  der  Laufbahn  des  Forum  gewid- 
met, als  er  in  Folge  des  Einflusses ,  den  der  alte  Bischof  Meletius  auf  ihn 
ausübte,  dieser  Laufbahn  entsagte  und  seine  reichen  Gaben  in  den  Dienst 
der  Kirche  stellte.  Nachdem  er  drei  Jahre  lang  den  Unterricht  dieses 
Bischofs  in  den  christlichen  Heilswahrheiten  genossen,  wurde  er  von  ihm 
getauft,  und  bald  darauf  Lector,  welches  Amt  als  Vorstufe  zu  höheren 
Würden  galt.  Schon  sehr  frühe  wollte  man  ihn  zum  Bischof  machen;  er 
wusste  aber  die  Wahl  von  sich  abzulenken  und  seinem  Freunde  Basilius 
zuzuwenden,  welcher  Vorgang  später  die  Veranlassung  ward  zu  seiner 
Schrift  718QI  leQoavvrjg.  Wahrscheinlich  seit  dem  Tode  der  Mutter  ver- 
brachte er  mit  gleichgesinnten  Freunden  sechs  Jahre  in  mönchischer  Ein- 
samkeit auf  dem  antiochenischen  Gebirge  zu,  unter  der  Leitung  des  vorhin 
genannten  Diodorus,  der  damals  Abt  einer  Mönchsgesellschaft  war.  Wegen 
geschwächter  Gesundheit  nach  Antiochien  zurückgekehrt,  wurde  er  von 
Bischof  Meletius  zum  Diakon  geweiht  (381),  386  zum  Presbyter  durch  den 
neuen  Bischof  Flavian;  er  unterstützte  ihn  in  der  Predigt  sowohl  als  in 
der  Seelsorge,  und  erwarb  sich  die  Achtung  der  antiochenischen  Gemeinde, 
der  er  doch  in  seinen  gewaltigen  Predigten  die  herrschenden  Sünden  mit 
unerbittlichem  Ernste  vorhielt.  Im  Jahre  397  wurde  er  durch  die  Ver- 
wendung des  am  Hofe  viel  vermögenden  Eunuchen  Eutropius  nach  Con- 
stantinopel  versetzt  als  Bischof^  durchaus  ohne  sein  Zuthun;  im  Jahre  398 
erhielt  er  die  Weihe  als  Bischof.  Mit  dem  erweiterten  Wirkungskreise 
mehrte  sich  die  Zahl  seiner  Missgönner  und  Feinde.  Er  gerieth  auch  mit 
seinem  Gönner  Eutropius  in  Zerwürfniss,  da  dieser  der  Kirche  das  Asyl- 
recht, zu  entziehen  suchte.  Als  der  mächtige  Günstling  des  Hofes  bald  in 
Ungnade  fiel  und  nun  selbst  zu  dem  von  ihm  bestrittenen  Asybecht  der 
Kirche  seine  Zuflucht  nehmen  musste,  erhielt  er  eine  treff'liche  Gelegen- 
heit, nicht  nur  seinen  Gegner  zu  demüthigen,  sondern  auch  glühende  Koh- 
len auf  dessen  Haupt  zu  sammeln,  indem  er  sich  als  Fürbitter  für  ihn  bei 
dem  Kaiser  einstellte  '^).  Die  folgende  Entwicklung  seines  Lebens  ver- 
schlingt sich  in  die  Geschichte  der  origenistischen  Streitigkeiten. 

1)  Durch  Joh,  Moschus;  seit  dem  Concil  von  680  wird  die  Benennung  allgemein 
gebräuchlich. 

2)  Er  war  der  grösste  Redner  seiner  Zeit.  Libanius  antwortete  sterbend  den  Freunden 
auf  ihre  Anfrage,  wer  an  seine  Stelle  treten  werde:  Johannes,  wenn  die  Christen  ihn  nicht 
geraubt  hätten.    Sozom.  8,  2. 

3)  Bei  dieser  Gelegenheit  hielt  er  eine  seiner  glänzendsten  Reden. 


Schriftsteller  der  griechisch -morgenländischen  Kirche.  247 

♦  Die  Bedeutung  des  Chrysostomus  für  die  Kirche  ist  eine  mannigfache. 
Vor  allem  ist  es  sein  geistlicher  Charakter,  der  von  der  sittlichen  Macht 
des  Christenthums  in  seinen  Bekennern  ein  rühmliches  Zeugniss  ablegt.  In 
dieser  Beziehung  reiht  er  sich  ebenbürtig  an  die  Heroen  des  christlichen 
Glaubens,  Origenes,  Cyprian,  Athanasius,  Ambrosius,  Augustin  an.  In 
dogmatischer  Beziehung  ist  er  rechtgläubig  und  insbesondere  entschie- 
dener Bekenner  des  nicänischen  Glaubens;  in  der  Christologie  steht  er 
aber  eben  so  entschieden  auf  dem  Standpunkte  der  antiochenischen  Dog- 
matik,  eben  so  in  seiner  Schrifterklärung;  er  durchschaut  alle  Mängel  und 
Willkürlichkeiten  der  allegorischen  Auslegung  und  stellt  die  richtigen 
Grundsätze  der  historisch-grammatischen  Auslegung  auf,  und  befolgt  sie  in 
seinen  Homilieen;  diese  zeichnen  sich  aus  durch  musterhafte  Schriftaus- 
legung, wenn  gleich  sie  im  Verständniss  des  paulinischen  Lehrbegriffes  zu 
wünschen  übrig  lassen.  Die  Homilieen  sind  aber  zugleich  geistliche  Reden 
und  Ansprachen,  und  bilden  zusammen  mit  den  übrigen  geistlichen  Reden 
über  specielle  Themata  einen  reichen  Schatz  von  Anweisungen,  Lehren, 
Ermahnungen,  bezüglich  auf  alle  Schäden  und  Verirrungen,  wie  sie  sich 
in  Antiochien  und  Constantinopel  kund  gaben.  Selten  sind  die  Wahrheiten 
des  Christenthums  in  ihrer  praktischen  Anwendung  und  Verwerthung  mit 
solcher  Kraft  und  die  Sünden  des  geselligen  und  des  einzelnen  Lebens  mit 
solcher  Schärfe  und  Rücksichtslosigkeit  gerügt  und  dargestellt  worden.  — 
Die  Reden  des  Chrysostomus  sind  1)  am  Schriftfaden  fortlaufende  Homilieen, 
die  sich  auf  alle  Bücher  des  Neuen  Testamentes  und  viele  des  Alten  Te- 
stamentes erstrecken;  2)  Reden  über  einzelne  Abschnitte  der  heiligen 
Geschichte ;  3)  Reden  über  einzelne  Punkte  des  christlichen  Lebens ;  4)  Ge- 
legenheitspredigten; 5)  Festpredigten  und  Reden  zum  Gedächtniss  der 
Apostel  und  Märtyrer.    Dazu  kommt  die  Schrift  über  das  Priesterthum. 

S.  über  ihn  Neander,  der  heilige  Joh.  Chrysostomus,  1.  Ausgabe  1821,  2,  Ausgabe 
1848.  —  Foerster,  Chrysostomus  in  seinem  Verhältnisse  zur  antiochenischen 
Schule  1869.  lieber  seine  exegetischen  Grundsätze  und  Methode  siehe  auch  Kihn 
a.  a.  0. 

Theodorus,  Presbyter  in  Antiochien,  seit  393  Bischof  von  Mopsuestia 
in  Cilicien,  f  429,  ist  bekannt  als  vorzüglicher  Exeget  und  als  Vertreter  der 
antiochenischen  Christologie.  Seine  zahlreichen  Commentare  zur  heiligen 
Schrift  sind  verloren  gegangen  bis  auf  den  über  die  kleinen  Propheten 
und  den  über  den  Brief  an  die  Römer,  die  erst  neuerdings  herausgegeben 
wurden.  Er  griff  die  Origenisten  wegen  ihrer  Schrifterklärung  an  in  der 
Schrift  de  allegor ia  et  historia,  wodurch  er  sich  die  Abneigung  der- 
selben zuzog.  Er  muss  noch  eine  andere  weitläufigere  Schrift  gegen  sie 
verfasst  haben.  Wenn  die  meisten  Antiochener  in  Bekämpfung  der  alle- 
gorischen Methode  das  rechte  Mass  hielten,  so  ging  Theodor  darüber 
hinaus,  indem  er  die  neutestamentlichen  Citate  des  Alten  Testamentes 
nur  als  Accommodation  betrachtete.  In  Hinsicht  einiger  Stellen  hat  er 
Recht;  aber  offenbar  geht  er  zu  weit,  wenn  er  die  Stelle  Sacharia  9,  9 
auf  Zerubabel  deutet.  Anstoss  erregte  auch  seine  Verwerfung  der  Bücher 
der  Chronik  und  Esra,  seine  Ansicht  über  das  Hohelied,  das  er  nur  als 
salomonisches  Liebeslied,   nicht  als  heilige  Schrift  gelten  lassen   wollte. 


248  Zweite  Periode  des  alten  KathoÜcismus. 

Theodor  lehrte  in  Antiochien,  wo  er  Theodoret  und  wahrscheinlich  auch 
Nestorius  zu  Schülern  hatte.  Vor  dem  Ausbruch  der  nestorianischen  Strei- 
tigkeit stand  er  in  sehr  gutem  Vernehmen  mitCyrill  von  Alexandrien,  dem 
er  seinen  Commentar  zu  Hiob  überschickte.  Im  pelagianischen  Streite 
nahm  er  Partei  gegen  die  augustinische  Lehre  von  der  Erbsünde,  üeber 
die  Ueberreste  seiner  Werke,  worunter  de  incarnatione,  S.  den  Artikel 
in  der  Realencyklopädie. 

Theodoret,   f  457,    zuerst  Diakon  und  darauf  Presbyter  in  Antio- 
chien, nachdem  er  zuvor  im  Kloster  des  heiligen  Euprepius  bei  Antiochien 
theologischen  Unterricht  erhalten   und  sich  mit  den  Sclunl'ten   des  Diodor 
von  Tarsus  und  des  Theodor  von  Mopsuestia  genährt  hatte,  wodurch  seine 
theologische   Eichtung  für  immer   bestimmt   wurde,   erhielt    das   ßisthum 
von  Cyrus,  der  Hauptstadt  der  syrischen  Provinz  Cyrrhestica,  und  erwarb 
sich  grosse  Verdienste  um   dasselbe    in   geistlicher   wie    in  weltlicher  Be- 
ziehung.   Der  christologische  Streit,  in  den  er  hineingezogen  wurde,  ver- 
bitterte ihm  aber  seiÄ  Leben.  Seine  Werke  sind  zahlreich  und  von  mannigfal- 
tigem Inhalte.     Die   exegetischen   sind   die  zahlreichsten  und  wichtigsten; 
er  hat  sich  dadurch   das   grösste  Verdienst  erworben  und  nachhaltige  An- 
regung gegeben.    Er  ist  frei  von  der  Sucht  nach  AUegorieen,  er  hat  Sinn 
für  ungekünstelte,    au  den   einfachen  Wortsinn    sich    haltende  Auslegung. 
Seine  exegetischen  Arbeiten  erstrecken  sich  auf  die  meisten  Schriften  des 
Alten  und  Neuen  Testamentes.     Unter    den  historischen  Schriften  ist  die 
Kirchengeschichte,  von  325  bis  429  reichend,  die  bedeutendste   und  dient 
wesentlich  zur  Ergänzung  von  Sokrates  und  Sozomenus.     In  seinen  dogma- 
tisch-polemischen Schriften  bekundet   er  seine    Orthodoxie  im    Sinne    der 
Concile  von  Nicäa  325  und  von  Constantinopel  381,    aber   auch    seine   an- 
tiochenische  Hichtung  in  der  Christologie.      Seine  Briefsammlung   ist    eiue 
für  die  Geschichte  seines  Lebens  sowie  für  die  Geschichte  seiner  Zeit  über- 
haupt reichlich  Üiessende  Quelle. 

So  viel  über  die  beiden  theologischen  Schulen  und  die  aus  denselben 
hervorgegangenen  oder  an  sie  sich  anschliessenden  Männer.  Es  gab  aber 
noch  andere  Schulen  zu  Edessa,  zu  Nisibis,  und  andere.  Ausserdem  ent- 
standen Schulen  in  den  Klöstern  und  wirkten  so  wesentlich  mit  zur  Aus- 
breitung des  Mönchthums. 

Von  Kirchenlehrern,  die  sich  in  keine  der  genannten  Schulen  oder 
Richtungen  einfügen  lassen,  sind  noch  folgende  zu  erwähnen: 

Epiphanius,  in  früher  Jugend  durch  Mönche  in  Palästina,  seinem 
Vaterlande,  später  in  Aegypten  einseitig  gebildet  und  unterrichtet,  eine 
geraume  Zeit  Vorsteher  eines  Klosters  in  Palästina ,  seit  367  Bischof  von 
Constantia  auf  der  Insel  Cypern,  f  404,  starrer  Orthodoxe,  ist  der  Nach- 
welt hauptsächlich  bekannt  durch  seine  Schrift  über  die  Häresieen,  Tirava- 
Qioy  (seu  adv.  haereses),  worin  mit  unermüdlichem  Eifer  alle  häretischen 
Erscheinungen  von  Anläng  der  Welt  bis  auf  die  Messalianer  zusammen- 
gestellt sind,  eine  reiche  Quelle  von  grosser  Wichtigkeit,  aber  bei  der  gei- 
stigen Beschränktheit,  der  orthodoxen  Verketzerungssucht  des  Mannes  mit 
vieler  Vorsicht  zu  gebrauchen;  er  machte  selbst  einen  gedrängten  Auszug 
daraus.   Siehe  die  Schiift  von  Lipsius,  zur  Quellenki'itik  des  Epiphanius  1865. 


Öciiriftsteller  der  griechisch- morgenländischen  Kirclie.  240 

Nemesius,  Bischof  von  Emesa  in  Phönicien,  in  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  fünften  Jahrhunderts,  ist  ganz  anderer  Art,  ein  christlicher 
Philosoph,  als  solcher  sich  kundgebend  in  der  einen  Schrift,  die  wir  von 
ihm  haben,  ncQt  (pvcrscog  av&qcaiiov ,  worin  er  die  Präexistenz  der  Seelen 
lehrt.  Eine  Uebersicht  des  Inhaltes  der  Schrift  gibt  Ritter  in  der  Ge- 
schichte der  christlichen  Philosophie  im  2.  Bande. 

Wenn  Nemesius  bei  seiner  philosophischen  Richtung  den  christlichen 
Glaubenssätzen  noch  entscheidende  Autorität  beilegt,  so  ist  das  weniger 
der  Fall  bei  dem  neuplatonischen  Philosophen  Synesius,  geboren  c.  375  in 
Cyrene.  Noch  als  Heide  studirte  er  in  Alexandrien  und  wurde  begeisterter 
Anhänger  der  Philosophin  Hypatia.  In  seine  Vaterstadt  zurückgekehrt, 
erhielt  er  durch  das  Vertrauen  seiner  Mitbürger  Anlass,  in  die  öffentlichen 
Angelegenheiten  einzugreifen,  als  Mitglied  einer  Gesandtschaft  der  Penta- 
polis  an  Kaiser  Arcadius,  um  der  verarmten  Landschaft  Nachlass  der 
drückenden  Steuern  und  sonstige  Hülfe  (gegen  die  verheerenden  Einfälle 
feindlicher  Stämme)  zu  verschaffen.  Er  verbrachte  damals  im  letzten  Jahr- 
zehent  des  vierten  Jahrhunderts  drei  Jahre  in  Constantinopel  unter  allerlei 
Mühseligkeiten.  Die  kühne  Rede,  die  er  nach  Verfiuss  der  drei  Jahre  an 
den  Kaiser  hielt  und  worin  er  ihm  das  platonische  Ideal  eines  Herrschers 
vor  die  Augen  stellte  {neqi  ßcccrdeiag,  von  Grabinger,  griechisch  und  deutsch 
1825),  hatte  weiter  keine  Wirkung.  Ohne  etwas  ausgerichtet  zu  haben, 
kehrte  er  nach  Cyrene  zurück.  Er  lebte  fortan  als  Privatmann  in  gelehr- 
ter Müsse ,  theils  in  Cyrene ,  theils  auf  seinem  Landgute,  verheirathet  seit 
404  und  mit  Kindern  gesegnet,  der  philosophisclien  Contemplation  neu- 
platonischer Art  hingegeben,  aber  dabei  sich  vereinsamt  fühlend.  In  diese 
Zeit  fallen  die  meisten  seiner  zehn  Hymnen,  welche  in  der  Form  an  den 
Hymnus  des  Clemens  von  Alexandrien  auf  Christum  erinnern.  Sie  bewegen 
sich  in  einem  an  den  Neuplatonismus  erinnernden  Ideenkreise,  zeigen  aber, 
wenigstens  einige ,  mehr  als  blosse  Annäherung  an  das  Christenthum ;  denn 
in  ihnen  wird  Christus  als  Erlöser  gei)riesen,  der  die  Pforten  des  Tartarus 
aufschloss  und  die  Seelen  befreiend  durch  die  Sternenkreise  in  den  höch- 
sten Himmel  zurückkehrte.  Sehr  sichtbar  ist  der  Einfluss  der  immanenten 
Trinitätslehre ;  Christus  wird  genannt  die  Welt  schaffende  Weisheit  ao^ta 
xocruotex^^riug ^  wobei  fi'eilich  unentschieden  bleibt,  ob  er  Christum  blos 
als  solchen  auttasst,  der  aus  einer  vorhandenen  Materie  die  Welt  bildet 
(Hymnus  2,  30).  Christus  wird  sogar  Gott  aus  Gott  genannt  (Hymnus  3,  111), 
wobei  wieder  unentschieden  bleibt,  welche  von  diesen  Hymnen  vor  der 
Annahme  des  Episkopats  gedichtet  worden.  Diesen  Mann  nämlich  begehrte 
das  Volk  in  Ptolemais,  der  kirchlichen  und  politischen  Metropole  der  Pen- 
tapolis ,  zum  Bischof  410.  Diese  Wahl  erregte  in  ihm  grosse ,  schwer  zu 
tiberwindende,  seine  Bescheidenheit  und  Wahrhaftigkeit  ehrende  Bedenken, 
worüber  er  sich  aussprach  in  einem  an  seinen  Bruder  gerichteten,  aber 
eigentlich  für  den  Patriarchen  Theophilus  von  Alexandrien,  zu  dessen  Sprengel 
die  Pentapolis  gehörte,  bestimmten  Briefe  (ep.  105).  Er  erklärt  unter  an- 
deren seine  Frau  nicht  entlassen,  eben  so  wenig  seine  philosophischen 
Anschauungen  aufgeben  zu  wollen ;  es  scheint  aber,  dass  er,  was  das  letzte 
betrifft,   damals  blos  Austoss  nahm  an  der  Lehre  von  der  Auferstehung j 


250  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

wahrscheinlich  ist  er  darüber  von  Theophilus,  der  ihn  als  kirchlich-brauch- 
baren Mann  erkannt  haben  mag,  beruhigt  worden.  Nun  kommen  einige  An- 
gaben über  die  Zeit  seines  Uebertrittes  zum  Christenthum ,  die  nicht  wohl 
mit  einander  zu  vereinbaren  sind.  Er  ist  bereits  Christ  zur  Zeit,  da  er  als 
Gesandter  der  Pentapolis  in  Constantinopel  verweilte  (Hymnus  3,  430).  Er 
hat  aus  der  Hand  des  Theophilus  seine  Frau  erhalten  (ep.  105),  ist  also 
zur  Zeit  seiner  Verheirathung  jedenfalls  Christ  gewesen.  Auf  der  anderen 
Seite  nennt  er  sich  zur  Zeit  seiner  Wahl  zum  Bischof  anotqocpog  exxlrj- 
(Tiag,  fern  von  der  Kirche  erzogen.  Evagrius  h.  e.  1,  15  meldet,  er  habe 
von  Theophilus  die  Taufe  und  zugleich  die  Bischofsweihe  empfangen  i). 
Die  Schwierigkeit  löst  sich  vielleicht  durch  die  Annahme,  dass  er  längst 
Christ  war  und  sich  zur  Kirche  hielt,  ehe  er  die  Taufe  erhielt,  was  ja 
damals  immer  noch  vorkam.  Dem  sei,  wie  ihm  wolle,  er  erfüllte  mit 
Sorgfalt  und  Eifer  seine  bischöflichen  Pflichten,  bekämpfte  die  Eunomia- 
ner  und  widersetzte  sich  den  Gewaltthätigkeiten  des  Präfecten  Andronicus, 
fühlte  sich  aber  in  seinem  Amte  unglücklich,  den  Pflichten  desselben  nicht 
gewachsen,  überdiess  betrübten  ihn  neben  dem  Verluste  seiner  Kinder  die 
Leiden  seiner  Diöcesanen  in  Folge  der  Einfälle  feindlicher  Stämme.  Er 
starb  etwa  414,  ein  Jahr  vor  dem  schrecklichen  Ende  seiner  Lehrerin 
Hypatia  2). 

Isidor  von  Pelusium,  aus  Alexandrien  gebürtig,  Presbyter  und 
Vorsteher  eines  Mönchvereines  bei  Pelusium,  f  c.  440,  bildet  eine  Art 
Vermittlung  zwischen  der  alexaudrinischen  und  der  antiochenischen  Schule. 
Er  bekämpft  des  Origenes  Lehre  vom  Falle  der  Seelen,  er  will,  dass  man 
in  der  Schrift  die  historischen  Beziehungen  stehen  lasse,  wo  man  die  mystische 
Deutung  nicht  vollziehen  kann,  ohne  der  betreffenden  Stelle  Gewalt  anzu- 
thun.  Doch  finden  sich  bei  ihm  manche  willkürliche  Allegorieen.  Er  hat 
grosse  Verehrung  für  Chrysostomus ,  verwirft  die  antiochenische  Christo- 
logie  und  stimmt  Cyrill  von  Alexandrien  bei  in  dessen  Bekämpfung  des 
Nestorius.  In  theologischer  Beziehung  ist  er  am  bedeutendsten  als  Exeget. 
Von  seinen  Briefen,  deren  2000  gezählt  werden,  beziehen  sich  sehr  viele 
auf  exegetische  Fragen.  Er  ist  einer  der  edelsten  Vertreter  des  Mönch- 
thums,  zugleich  ein  freimüthiger ,  geistlicher  Rathgeber  und  Seelsorger. 
Seine  Werke  bestehen  in  seinen  zahlreichen  Briefen  und  sind  1685  zu 
Paris  vollständig  erschienen. 


1)  Uftf^ovat  (die  Christen)  rtüro?/ T^c  ßiOTrjgtüx^ovg  TictXiyyfvhennq  n^tco^tjyai  x«! 
toi^  Xoyov   TTjq  hQoüvvrjq   vnfkfhfij/. 

2)  Die  neueste  vollständige  Ausgabe  seiner  "Werke  bestehend  aus  Reden,  Homilieen, 
Abhandlungen,  Hymnen,  Briefen  ist  in  Migne's  Patrologie.  Series  graeca,  tomus  66,  — 
Kra binger  hat  von  Synesius  herausgegeben:  die  Rede  an  Arcadius,  griechisch  und 
deutsch  1825,  die  Schrift  über  die  Vorsehung,  griechisch  und  deutsch  1835,  die  Abhand- 
lung: das  Lob  der  Glatze,  deutsch  1834.  Migne  hat  den  von  Krabinger  revidirten  grie- 
chischen Text  benützt.  Unter  den  Bearbeitungen  vergl.  C lausen,  de  Synesio  philosopho 
1831.  —  Kolbc,  der  Bischof  Synesius  als  Physiker  und  Astronom.  Thilo  commentarius 
in  Syn.  hymn.  2,  l~24;  idem  comm.  in  hymn.  2,  22—24. 


§51 


II.  Lehrer  und  Schriftsteller  der  lateinisch-abendländischen 

Kirche  i). 

Es  muss  davon  ausgegangen  werden,  dass,  obschon  der  abendländische 
Geist  in  Verarbeitung  der  Dogmen  mehr  ein  subjectiv  praktisches  Inter- 
esse verfolgt  als  ein  objectiv  theologisches  und  speculatives,  doch  dieses 
keineswegs  fehlt,  wie  sich  bei  Hilarius  und  Augustus  zeigt.  Des  Origenes 
Autorität  und  Einfluss  erstreckte  sich  auch  in  das  Abendland.  Mehrere 
sehr  bedeutende  Kirchenlehrer,  Hilarius,  Ambrosius,  Hieronymus  benütz- 
ten seine  Schriften.  Der  Presbyter  Rufin  von  Aquileja,  f  410,  übersetzte 
mehrere  derselben  in  das  Lateinische. 

Hilarius  von  Pictavium,  (Foitiers)  in  Gallien  (zu  unterscheiden  vom 
Diakon  der  römischen  Kirche,  gleichen  Namens,  eben  so  vom  Bischof  Hi- 
larius von  Arles),  im  Heidenthum  geboren  und  erzogen,  trat  erst  in  seinen 
männlichen  Jahren  mit  Frau  und  Tochter  zum  Christenthum  über,  und 
wurde  350  Bischof  seiner  Vaterstadt,  356  als  eifriger  Vertheidiger  des 
nicänischen  Glaubens  nach  Phrygien  verwiesen,  seit  360  wieder  in  Gallien 
thätig  für  das  nicänische  Bekenntniss,  f  c.  368.  Die  Hauptschrift  ist  die 
über  die  Dreieinigkeit,  de  trinitate  libri  XII  contra  Arianos,  auch  de  fide 
betitelt,  in  der  Verbannung  geschrieben,  dazu  bestimmt,  die  nicänische 
Lehre  ausführlich  zu  erörtern  und  speculativ  zu  begründen,  auch  in  chri- 
stologischer  Hinsicht  von  Bedeutung.  Daran  reiht  sich  eine  Anzahl  von 
Gelegenheitsschriften,  bezüglich  auf  die  arianische  Streitigkeit,  unter  an- 
deren drei  Schreiben  an  Kaiser  Constantius,  wovon  das  dritte,  c.  360  ab- 
gefasste,  die  heftigsten  Invectiven  gegen  den  Kaiser  enthält  und  ihn  selbst 
als  Antichrist  bezeichnet.  Dazu  kommen  die  Commentare  über  die  Psalmen 
und  Matthäus,  beide  in  den  allegorischen  und  mystischen  Deutungen  an 
Origenes  sich  anschliessend.  Hilarius  hat  das  Verdienst,  im  Abendlande 
die  exegetischen  Studien,  wenn  gleich  in  sehr  unvollkommener  Weise  an- 
geregt zu  haben.  Wie  sehr  man  seine  dogmatischen  Arbeiten  schätzte, 
bezeugt  der  Ehrentitel:  der  lateinische  Athanasius.  Mehrere  Schriften  von 
ihm  sind  verloren  gegangen,  andere  ihm  untergeschoben  worden.  Hilarius 
ist  auch  als  Dichter  namhaft.  Hieronymus  (c.  100)  kennt  von  ihm  „Über 
hymnorum."  Man  rühmt  ihm  nach,  dass  er  in  seinen  Liedern  die  Oden- 
und  Hymnenform  verschmolzen  habe.  Einige  der  ihm  zugeschriebenen 
dichterischen  Producte  rühren  aber  offenbar  aus  späterer  Zeit  her. 

Optatus,  Bischof  von  Mileve  in  Numidien,  schrieb  nach  380  de 
schismate  Donatistarum  adv.  Parmeniamim  7  Bücher,  eine  Hauptquelle  für 
die  Kenntniss  der  donatistischen  Grundsätze  und  der  dadurch  veranlassten 
Streitigkeiten. 

Ambrosius,  in  Gallien,  wahrscheinlich  in  Trier  geboren,  c.  340, 
nach  dem  Tode  des  Vaters,  des  prae/ectus  praetorio  Galliarmn^  d.  h.  Ober- 


1)  S.  im  Allgemeinen:  Bahr,  die  christlich  römische  Theologie,  1.  und  2.  Abthei- 
Ittng,  als  Snpplement  zu  desselben  Geschichte  der  römischen  Literatur  1837.  —  Ebert, 
Allgemeine  Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters.     1.  Band.  1874, 


^52  Zweite  Periode  des  alten  ICatholicismtiS. 

Statthalter  einer  der  drei  grossen  Diöcesen  des  weströmischen  Reiches,  in 
Rom  erzogen  und  unterrichtet,  für  den  Staatsdienst  bestimmt,  darauf  Prätor 
der  Provinzen  Ligurien  und  Aemilien,  ermahnte  bei  einer  Bischofswahl  in 
Mailand,  nach  dem  Tode  des  Auxentius  374,  da  beide  Parteien,  Katholiken 
und  Arianer,  nicht  einig  werden  konnten,  die  Versammlung  zur  Ruhe  und 
Eintracht,  worauf  die  Stimme  eines  Kindes  erscholl :  Amhrosius  episcopus.  — .. 
Diess   entschied  bei   der   allgemeinen  Achtung,    worin   Ambrosius    stand. 
Ungeachtet  seines  aufrichtigen  Widerstrebens,  so  dass  er  sogar  die  Flucht 
ergriff,  musste  er,  der  damals  erst  Katechumene  war,  die  Würde  und  die 
Bürde  annehmen.     Er   empfing   nun   sogleich  die  Taufe  und  suchte  sofort 
durch  eisernen  Fleiss   sich  die  ihm  mangelnden  Kenntnisse   zu   erwerben. 
Ambrosius  wurde  das  Muster  eines  Bischofs,    freimüthig    gegen  Hohe   wie 
gegen  Niedere,   selbst  gegen   den   Kaiser  Theodosius,   unerbittlich   gegen 
ihn  in  Handhabung  der  Kirchenzucht  (wovon    später    die  Rede    sein  wird). 
An  seinen  Namen  knüpft  sich  die  Wiederherstellung  der  katholischen  Kirche 
und  die  Vernichtung  des  Arianismus  in  Italien,  die  verbesserte  Einrichtung 
des  Cultus,  die  Beförderung  des  Mönch thums  im  Abendlande,   —   die  Be- 
kehrung Augustins.  —    Hieronymus  nennt  ihn    ecclesiarum    columna   quae^ 
dam  et  turris  inexpugnahilis.    Ambrosius  hat  ungeachtet  seiner  vielen  Amts- 
geschäfte Vieles  geschrieben.     Wir  haben  von  ihm   1)  exegetische  Ar- 
beiten,  worin   er  gar  sehr  des  Origenes  Methode   befolgt;    hervorzuheben 
sind   die    über   das  Hexaemeron,    die  Psalmen,   das   Evangelium    Lucae; 
2)  dogmatische,    de   fide   fünf  Bücher,  Erörterung  der  Lehre  von  der 
Gottheit  Christi  gegen  Arius,  SabeUius  und  Andere,    de   spiritu  sancto 
gegen  Arius  und  die  Macedonianer,  beide  dogmatische  Schriften  auf  Bitten 
des  Kaisers  und  zu  dessen  eigener  Belehrung  verfasst;  die  zweite  ist  aus 
Didymus  und  Basilius  gezogen;  3)  eine  gute  praktische  Anweisung  für  die 
Geistlichen  gibt  er    in   der  bald  zu  hohem  Ansehen  gelangten  Schrift  de 
officiis  ministroru7n;  4)  Ambrosius  ist  mit  Hilarius  einer  der  Begrün- 
der des  abendländischen  Kirchenliedes,  der  Vater  der  lateinischen  Hymnologie. 
Acht  bis  zehn  der   uns   unter   seinem  Namen   erhaltenen  Hymnen  können 
ihm  mit  Sicherheit   zugeschrieben  werden;  ob  Te  Deum  laudamus  von  ihm 
herrühre,  ist  nicht  über  jeden  Zweifel  erhaben. 

Hieronymus,  Sophronius,  Eusebius^),  der  gelehrteste  Kirchen- 
lehrer der  lateinischen  Kirche,  besonders  ausgezeichnet  durch  seine  auf 
üebersetzung  und  Erklärung  der  heiligen  Schrift  bezüglichen  mannigfachen 
Arbeiten,  geboren,  nach  den  zuverlässigsten  Angaben  und  Combinationen, 
nicht,  wie  oft  angenommen  worden,  331,  sondern  vielmehr  340 — 342  zu 
Stridon  in  Dalmatien,  wurde  als  ein  Jüngling  von  zwanzig  Jahren  nach 
Rom  geschickt,  um  daselbst  die  im  elterlichen  Hause  begonnenen  clas- 
sischen  Studien  fortzusetzen;  er  genoss  in  der  Grammatik  den  Unterricht 
des  Donatus,  dessen  Schriften  die  Grundlage  des  sprachlichen  Unterrichts 
im  Mittelalter  wurden.    In  seiner  Schule  hörte   er    die   classischen  Dicht- 


1)  y.  Zoeckler,  Hieronymus.    Sein  Leben  und  Wirken  aus  seinen  Schriften   dar« 
gestellt.  1865, 


Schriftsteller  der  lateinisch  -  abendländischeö  Kirche.  253 

ungen  Rom's,    besonders  Terenz  und  Virgil;    hier  legte  er  den  Grund  zu 
seiner  Begeisterung  für   diese  Koryphäen  der   classischen  Literatur;   hier 
muss  er  auch  die  griechische  Sprache  erlernt  haben;   denn   er  las  schon 
damals  Plato   und  andere    griechische   Schriftsteller.      Auf  sein    sittliches 
Leben  übte  der  Aufenthalt    in  Rom    einen    ungünstigen  Einfluss  aus.     Er 
empfing  zwar  die  Taufe   aus  den  Händen   des  Bischofs  Liberius,    besuchte 
die  Gesellschaft  orthodoxer  Christen,    blieb   frei    von   jedem  Flecken   der 
Häresie,   aber  nicht  von  sittlichen  Vergehungen;    er  suchte  nun  eine  Art 
Sühne  dafür  in  dem  Besuclie  der  Katakomben,    wo,    wie    er   sagt,    horror 
uhique  animos ,    simiil  ipsa  silentia  terrent  (Aeneis  2,  755).     Doch  daneben 
regte  sich  in  ihm  der  Humanist.     Er  verschaffte  sich  eine  ebenso  umfang- 
reiche als  ausgewählte  Bibliothek,    die    ihm   seitdem    auf  jeder   grösseren 
Reise  begleitet  zu  haben  scheint.     Sie   enthielt  besonders  lateinische  Clas- 
siker,  sowie  einzelne  griechische.    Er  machte  nun  mehrere  Reisen,  zunächst 
nach  Gallien,    besuchte  mehrere  Städte  am  Rhein,   namentlich  Trier,    wo 
Athanasius  eine  Zeit  lang  als  verbannt  gelebt  hatte.     In  Folge  einer  reli- 
giösen Erweckung  regte  sich  daselbst  in  ihm  eine  gewisse  Neigung,  Christo 
seine  Dienste  zuzuwenden,  und  machte  er  seine  erste  theologische  Arbeit, 
über  Obadia,   die  er  selbst  später  als  unreife  Jugendarbeit  verwarf.    Dar- 
auf verweilte   er    (372)   länger   als  ein  Jahr   in  Aquileja,   der  blühenden 
Hauptstadt  des  nordöstlichen  Italiens,   im  Umgang    mit   dem   ehrwürdigen 
Bischof  Valerianus  und  einigen  jüngeren  Geistlichen,    worunter  namentlich 
Rufin,  die  in  klösterlich  strenger  Zurückgezogenheit  von  der  Welt  ein  der 
Wissenschaft   und    frommen  Uebungen    geweihtes  Leben   führten.      Darauf 
unternahm   er  mit  einigen  Freunden    eine  Reise    nach    dem  Morgenlande. 
In  Antiochien   hatte   er    während    eines   heftigen  Fieberanfalles   jenes  be- 
rühmte Traumgesicht,  das  auf  den  weiteren  Gang  sowohl  seiner  asketischen, 
als    seiner   literarischen   Thätigkeit    einen   nicht    unbeträchtlichen  Einfluss 
ausgeübt  hat   (374).     Er  sah   sich   vor   den  Richterstuhl  Gottes   gestellt, 
selbst  aber  zu  Boden  geworfen  und  nicht   aufzublicken   wagend.      Auf  die 
an  ihn  gerichtete  Frage,  wer  er  sei,  antwortete  er:    ein  Christ.    Du  lügst, 
erwiderte  der  Richter;    ein  Ciceronianer  bist  du,   nicht  ein  Christ;   denn, 
„wo  dein  Schatz  ist,  da  ist  auch  dein  Herz/^  worauf  ihm  der  Richter  harte 
Schläge  aufzählen  Hess;  er  gelobte,  fortan  keine  Schriften  der  Heiden  mehr 
zu  lesen ;  auf  dieses  eidliche  Versprechen  hin  wurde  er  freigelassen  (ep.  22 
ad  Eustochium).     Obschon  er  nun  keineswegs  das  Lesen  der  alten  Classiker 
ganz  und  gar  aufgab,    sich  damit  entschuldigend,    dass  er  nur  ein  Traum- 
gesicht gesehen,  was  nicht  verbindlich  machen  könne,  so  ist  doch  nicht  zu 
läugnen,  dass  er  seit  dem  eine  ganz  veränderte  Stellung  zu  den  Classikern 
einnahm,  sie  eine  Zeit  lang  vollständig  mied;  dass  er,  wenn  er  sie  später 
wieder  öfter  verglich  und  anführte,    diess   stets  unter  dem  nöthigen  Voi'- 
behalt  und  mit  Wahrung  des  durchgreifenden  Unterschiedes  zwischen  ihrem 
Werthe  und  dem  der  heiligen  Schriftsteller  that.     Es   wurde  dadurch  die 
Umwandlung  des  Hieronymus  aus  einem  mehr  oder  weniger  weltlichen  Ge- 
lehrten in  einen  völligen  Asketen  vollendet,  wie  er  denn  gegen  Ende  dessel- 
ben Jahres  374  Antiochien   verliess    und   sicli  in  die  Wüste  von  Chalcis  an 
der  Ostgrenze  von  Syrien  begab,  um  in  dieser  syrischen  Thebais,  mehrere 


254  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Jahre  ein  streng  asketisches  Leben  zu  führen,  doch  dabei  auch  thätig  als 
Schriftsteller.  Erschöpft  von  Entbehrungen  und  Büssungen,  und  doch  von 
sinnlichen  Regungen  angefochten,  kehrte  er  379  nach  Antiochien  zurück  und 
empfing  aus  den  Händen  des  Bischofs  Paulinus  mit  Widerstreben  die  Weihe  zum 
Presbyter,  mit  dem  ausdrücklichen  Vorbehalte,  dass  er  von  allen  amtlichen 
Functionen  dispensirt  bliebe.  Darauf  machte  er  einen  fast  dreijährigen 
Aufenthalt  in  Constantinopel ,  angezogen  zunächst  durch  Gregor  von  Na- 
zianz ;  er  benützte  dessen  Unterricht  in  der  Schriftauslegung,  arbeitete  sich 
unter  der  Leitung  desselben  in  die  griechischen  Kirchenlehrer  ein  und  war 
auch  schriftstellerisch  thätig.  Im  Jahre  382  finden  wir  ihn  wieder  in  Rom, 
zunächst  in  Angelegenheiten  der  antiochenischen  Gemeinde,  die  noch  immer 
durch  das  meletianische  Schisma  in  sich  selbst  entzweit  war.  Dieser  Auf- 
enthalt in  Rom  wurde  für  sein  ferneres  Leben  sehr  wichtig.  Er  war  näm- 
lich daselbst  mannigfach  schriftstellerisch  thätig.  Von  besonderer  Bedeutung 
ist  die  Revision  der  alt  lateinischen  Uebersetzung  der  heiligen  Schrift,  die  er 
im  Auftrage  von  Bischof  Damasus  unternahm.  Wenn  schon  diese  Arbeit  ihm 
allerlei  Verdruss  zuzog  von  Seite  solcher,  die  seine  Verbesserungen  als 
willkürliche  Neuerungen  ansahen,  so  erfuhr  er  noch  besondere  Anfeindungen 
durch  seine  Beförderung  des  asketischen  Lebens,  durch  seine  Verbindungen 
mit  asketischen  Frauen,  (worüber  das  Nähere  in  der  Geschichte  des 
Mönchthums).  Dazu  kam,  dass  er  sich  durch  seinen  freimüthigen  Tadel 
der  weltlichen  Gesinnung  mancher  römischen  Geistlichen  die  Abneigung 
des  Klerus  in  Rom  zuzog.  Als  nun  sein  Gönner  Bischof  Damasus  mit  Tod 
abgegangen,  verliess  er  385  Rom  für  immer  und  begab  sich  wieder  nach 
dem  Morgenlande,  das  er  bis  an  seinen  Tod  im  Jahre  420  nicht  wieder 
verliess.  Er  lebte  daselbst  als  Askete  mit  einigen  gleichgesinnten  Freun- 
den in  der  Nähe  von  Bethlehem.  Nicht  weit  davon  hatten  sich  einige 
römische  Frauen  niedergelassen.  Er  war  dabei  immerfort  thätig,  theils 
kirchlich,  —  er  nahm  lebendigen  Antheil  an  der  origenistischen  Streitig- 
keit, ebenso  an  der  pelagianischen,  —  theils  schriftstellerisch,  wie  denn 
in  dieser  Zeit  seine  fruchtbarste  Thätigkeit  in  dieser  Beziehung  fällt. 

In  Hieronymus  geht  das  asketische  Leben  den  innigsten  Bund  mit 
der  gelehrten  Thätigkeit  ein.  Das  ist  das  Eigenthümliche  an  ihm,  wodurch 
er  sich  von  den  das  gelehrte  Wissen  verachtenden  Vätern  und  Begründern 
des  Mönchthums  unterscheidet,  so  dass  seine  gelehrten  Studien  sich  gera- 
dezu in  den  Dienst  der  Askese  begeben,  wie  er  denn  bekennt,  dass  er 
zur  Dämpfung  des  inneren  Brandes  seiner  bösen  Gedanken  und  Begierden 
die  hebräische  Sprache  erlernt  habe  (Zoeckler  a.  a.  0.  S.  56). 

Vor  allem  kommen  in  Betracht  seine  zahlreichen  Briefe,  worin  exe- 
getische, dogmatische  und  moralische  Punkte  erörtert  werden,  während 
andere  Aufschluss  geben  über  die  kirchlichen  Verhältnisse  seiner  Zeit,  und 
besonders  über  Leben  und  Charakter  des  Hieronymus  selbst.  In  den  dog- 
matischen Schriften  zeigt  er  sich  am  wenigsten  bedeutend.  Er  zeigte  sich 
ängstlich  besorgt  um  den  Ruf  seiner  Orthodoxie  —  in  der  meletianischen 
und  origenistischen  Streitigkeit ;  auf  diese  letzteren  beziehen  sich  die  bei- 
den Schriften  gegen  Johannes,  Bischof  von  Jerusalem,  und  seinen  ehe- 
maligen intimen  Freund  Rufinus.      In    dem    pelagianischen  Streite  trat  er 


Schriftsteller  der  lateinisch- abendländischen  Kirche,  255 

auf  die  Seite  Augustin's,  den  er  seit  390  kennen  gelernt  und  hoch 
ehrte  i) ;  bei  diesem  Anlasse  schrieb  er  seine  Dialogen  gegen  die  Pelagia- 
ner,  die  er  aber  wegen  seiner  Werkheiligkeit  nicht  gründlich  zu  wider- 
legen vermochte.  Die  Schrift  vom  heiligen  Geist  ist  lediglich  Uebersetzung 
einer  Schrift  von  Didymus.  Die  immerwährende  Jungfräulichkeit  der 
Mutter  des  Herrn  vertheidigte  er  in  einer  Schrift  gegen  He  1  vi  diu  s,  die 
Verdienstlichkeit  des  Fastens  und  ehelosen  Lebens  gegen  Jovinian,  die 
Verehrung  der  Heiligen  und  ihrer  Reliquien  gegen  Vigilantius,  durch 
welche  Schriften  er  keinen  guten  Einfluss  auf  seine  Zeit  ausübte. 

Hingegen  von  der  höchsten  und  besten  Bedeutung  sind  seine  auf  die 
Uebersetzung  der  heiligen  Schrift, bezüglichen  Arbeiten 2).  Es  gab  im  Abend- 
lande seit  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  eine  lateinische  Uebersetzung 
der  heiligen  Schrift,  walirscheinlich  in  Afrika  entstanden,  ebenso  wahrschein- 
lich das  Werk  mehrerer  Uebersetzer  in  dem  Sinne,  dass  die  einen  Bücher 
von  einem,  die  anderen  von  einem  anderen  Uebersetzer  herrühren;  diese 
Uebersetzung  wird  angeführt  unter  dem  Namen  vetus  interpreSj  vetus 
Latitius,  vielleicht  auch  unter  dem  Namen  Itala  (i.  q.  italica)^  von 
Augustin  de  doctrina  christiana  2,  15  ^). 

Diese  Uebersetzung  nun  war  im  Laufe  der  Zeit  in  einen  Zustand 
grosser  Depravation  gerathen,  theils  durch  die  Nachlässigkeit  der  Ab- 
schreiber ,  theils  durch  die  Willkür  der  Correctoren ;  daher  es  fast  eben  so 
viele  verschiedene  Texte  oder  Recensionen  gab,  als  man  Handschriften 
hatte  ^).  Es  ist  das  Verdienst  des  römischen  Bischofs  Damasus ,  diesen 
grossen  Uebelstand  erkannt  und  Abhülfe  dagegen  getroffen  zu  haben,  in- 
dem er  dem  am  besten  dazu  geeigneten  Manne  das  Geschäft  der  Emen- 
dation  übertrug  (382).  Die  vier  Evangelien  als  für  den  gottesdienst- 
lichen Gebrauch  von  besonderer  Wichtigkeit  wurden  zuerst  vollendet; 
in  der  an  Bischof  Damasus  gerichteten  Vorrede  sprach  sich  Hieronymus 
über  die  leitenden  Grundsätze  seiner  Arbeit  aus  und  hob  namentlich  her- 
vor, dass  er  die  vorhandenen  lateinischen  Uebersetzungen  unter  sich  und 
mit  dem  griechischen  Texte  verglichen  und  nur,  wenn  letzterer  einen  ganz 
abweichenden  Sinn  ergab,  nach  ihm  emendirt  habe.  Auf  die  vier  Evan- 
gelien Hess  Hieronymus  bis  384  die  übrigen  Schriften  des  Neuen  Testa- 
mentes folgen;   wahrscheinlich   ist   diese  Recension  dieselbe,   die  uns  jetzt 


1)  Er  hatte  mit  ihm  eine  Controverse  üher  Gal.  2,  11,  worin  Augustin  offenbar 
Eecht  hatte. 

2)  S.  das  Nähere  darüber  bei  Zo eckler  a.  a.  0.  und  im  Artikel  Vulgata  von 
Fritz  sehe  in  der  Realencyklopädie.  S.  ausserdem  Nowack,  die  Bedeutung  des  Hiero- 
nymus für  die  alttestamentliche  Textkritik.  1875. 

3)  Nach  Reuss,  Geschichte  der  heiligen  Schriften  des  Neuen  Testamentes.  S.Auf- 
lage S.  436  versteht  Augustin  unter  der  Itala  die  sogleich  anzuführende  hexaplarische 
Bearbeitung  des  vetus  Latinus  durch  Hieronymus,  welche  Vermuthung  Vieles  für  sich 
hat,  da  Augustin  1.  c.  von  mehreren  lateinischen  Uebersetzungen  spricht,  denen  die  Itala 
vorzuziehen  sei. 

4)  Tot  sunt  exemplaria  pene  quot  Codices,  sagt  Hieronymus,  worunter  er  nicht 
selbständige  Uebersetzungen,  sondern  verschiedene  Recensionen  derselben  Uebersetzung 
versteht. 


256  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

in  der  Vulgata  Neuen  Testaments  vorliegt.  Vom  Alten  Testament  bear- 
beitete er  damals  flüchtiger,  doch  mit  Benützung  des  allgemeinen  reci- 
pirten  Textes  der  LXX,  die  Psalmen  ^).  Es  gab  zwar  Einige ,  welche  ihm 
seine  Neuerungen  im  lateinischen  Texte  vorwarfen;  im  Ganzen  aber  fanden 
diese  Arbeiten  die  beste  Aufnahme,  wie  denn  namentlich  Augustin  dem 
neutestamentlichen  Theile  der  ganzen  Arbeit  das  wärmste  Lob  spendete. 
Die  Entdeckung  eines  vollständigen  Exemplares  der  Hexapla  des  Origenes, 
wahrscheinlich  des  Originalexemplares  oder  wenigstens  einer  sorgfältigen 
von  Pamphilus  gemachten  Abschrift  dieses  Riesenwerkes  in  der  Bibliothek 
der  Kirche  zu  Cäsarea  in  Palästina  (385)  gab  ihm  die  hauptsächlichste 
Anregung  zu  einer  vollständigen  kritischen  Revision  der  vorhandenen  la- 
teinischen Uebersetzung  nach  dem  geläuterten  hexaplarischen  Texte  der 
LXX.  Den  Anfang  machte  er  wjjeder  mit  dem  Psalter  2).  Nach  und  nach 
bearbeitete  er  in  derselben  Weise  die  übrigen  Bücher  des  Alten  Testamen- 
tes^ Die  emendirten  Texte  derselben  sind  verloren  gegangen;  verloren  sie 
doch  ihren  Werth,  seitdem  Hieronymus  sich  an  eine  neue  Uebersetzung 
des  A.  T.  aus  dem  hebräischen  Texte  machte,  dazu  von  verschiedenen 
Seiten,  besonders  von  Bischof  Chromathius  von  Aquileja  aufgefordert  und  der 
mehr  und  mehr  in  ihm  sich  befestigenden  Ueberzeugung  folgend,  dass 
seine  bisherige  Arbeit  eine  halbe  sei ,  dass  man  um  jeden  Preis  auf  die 
veritas  hehraea  zurückgehen  müsse.  Er  war  dazu  vorbereitet  durch  seine 
vorausgehenden  exegetischen  Arbeiten  über  manche  Bücher  der  heiligen 
Schrift,  sowie  durch  seine  für  jene  Zeit  ausgezeichnete  Kenntniss  der 
hebräischen  Sprache.  Während  seines  Aufenthaltes  in  der  Wüste  Chalcis 
(374 — 379)  nahm  er  nämlich  bei  einem  zum  Christenthum  übergetretenen 
Hebräer  Unterricht,  später  zu  Anfang  seines  Aufenthaltes  in  Bethlehem  bei 
dem  Juden  Bar  Anina,  der  aus  Furcht  vor  seinen  Glaubensgenossen  nur 
nächtlich  zu  seinem  Schüler  kam  und  sich  seinen  Unterricht  tüchtig  be- 
zahlen Hess.  Etwas  später  zog  er  noch  andere  jüdische  Gelehrte  zu  Rath. 
Er  liess  sich  die  Kosten  weder  verdriessen,  noch  die  Mühe,  die  ihm  das 
Erlernen  einer  ihm  so  fremdartigen  Sprache  verursachte,  noch  die  üblen 
Nachreden,  dass  er  die  jüdische  Weisheit  der  christlichen  vorziehe,  ja  dass 
er  Christum  zu  verrathen  und  gegen  diesen  neuen  Barrabas  (so  verdrehte 
man  den  Namen  Bar  Anina)  auszuliefern  im  Sinne  habe.  Denn  es  han- 
delte sich  auch  darum,  die  Vorwürfe  der  Juden  zu  widerlegen,  dass  die 
Christen  einen  gefälschten  Bibeltext  hätten.  Die  Arbeit  dauerte  von  390 
bis  404.  Die  Apokryphen  des  Alten  Testamentes,  die  er  als  solche  erkannte 
und  nicht  als  kanonisch  ansah,  sind  von  Hieronymus  nur  theilweise  übersetzt. 
Diese  Bibel- Uebersetzung  ist  im  Verhältniss  zu  ihrer  Zeit  betrachtet  ein 
staunenerregendes  Werk  und  brach  sich  durch  ihre  relative  Vortrefflichkeit 
ohne  Beihülfe  des  Beschlusses  irgend  einer  kirchlichen  Behörde  Bahn; 
doch    vergingen   Jahrhunderte,    bis    sie   die    kirchliche   UebersetzuuL^   des 


1)  Diese  alsbald  in  der  römischen  Kirche  eingeführten  Psalterrecension  existirt  noch 
jetzt  nnter  dem  Namen  psalterium  romanum. 

2)  Diese  Ausgabe  fand  später  in  den  Kirchen  Galliens  Aufnahme  nnd  heisst  demge- 
mäss  psalterium  gallicanum. 


Schriftsteller  der  lateinisch  -  abendländischen  Kirche.    Rufinus.  257 

Abendlandes  wurde,  seit  dem  dreizehnten  Jahrhundert  die  Vulgata  ge- 
nannt, die  freilich  mit  der  Zeit  viele  Corruptionen  erlitt.  —  Des  Hie- 
ronymus  exegetische  Leistungen  über  viele  Bücher  des  Alten  und  des  Neuen 
Testamentes  leiden,  sagt  Zoeckler,  im  Wesentlichen  an  denselben  Mängeln 
wie  seine  Uebersetzungsarbeiten ,  theilen  aber  auch  die  meisten  Vorzüge 
derselben,  und  nehmen,  was  wenigstens  sprachliche  und  antiquarische  Ge- 
lehrsamkeit sowie  Belesenheit  in  früheren'exegetischen  Schriftstellern  be- 
trifft, eben  so  entschieden  wie  jene  die  erste  Stelle  unter  allen  gleicharti- 
gen Versuchen  der  abendländischen  Kirchenlehrer  ein.  —  Von  der  Noth- 
wendigkeit,  vor  allem  den  historischen  Sinn  der  biblischen  Schriftsteller 
zu  ermitteln,  hatte  er  eine  richtigere  Erkenntniss  als  die  meisten  Exegeten 
der  lateinischen  Kirche.  Er  tadelt  sehr  an  Origenes,  dass  er  in  den  wei- 
ten Räumen  der  Allegorie  herumschweife,  und  doch  verfällt  er  häufig  in 
die  Allegorie  und  folgt  dem  Origenes  bis  zum  Extrem  der  allegorischen 
Willkür  1),  so  wie  er  denn  zu  einer  gewissen  Zeit  seine  Verehrung  für  Origenes 
bezeugte  durch  die  Uebersetzung  der  Homilieen  desselben  über  Jeremias, 
Ezechiel  und  das  Evangelium  Lucä.  Hieronymus  hat  auch  geographi- 
sche und  antiquarische  Schriften  verfasst,  de  nominibtis  Hebraeo- 
rum,  und  de  ritu  et  nominibus  lororum  hebraicormn ,  Bearbeitung 
einer  Schrift  des  Euseb  von  Cäsarea,  besonders  diese  wegen  der  Local- 
kenntnisse  des  Verfassers  von  Bedeutung.  Sehr  lehrreich  ist  die  Schrift 
de  vlris  illustribus,  wodurch  er  den  Grund  zur  Patristik  legte.  Ebenso 
übersetzte  er  das  Chronicon  desselben  Euseb  und  schrieb  das  Leben  der 
Heroen  des  Mönchthums  zur  Beförderung  dieser  Lebensweise,  freilich 
mit  vielen  Fabeln  angefüllt. 

Rufinus,  Tyrannius,  c.  340  in  der  Nähe  von  Aquileja  geboren, 
lebte  eine  Zeitlang  in  klösterlicher  Zurückgezogenheit  in  Aquileja  und  wurde 
daselbst  Presbyter  2).  Die  Begeisterung  für  das  asketische  Leben  führte  ihn 
nach  Palästina ;  hier  erweiterte  er  die  bereits  in  Aquileja  erworbenen  theo- 
logischen Kenntnisse ,  besonders  durch  die  Bekanntschaft  mit  Didymus  und 
gewann  lebhaftes  Interesse  für  die  griechischen  Väter,  insonderheit  für 
Origenes.  Von  377  bis  397  verweilte  er  in  Jerusalem,  mehrere  Jahre  auf 
dem  Oelberge.  In  dieser  Zeit  gerieth  er  mit  Hieronymus  in  den  Streit,  wovon 
später  die  Rede  sein  wird.  Er  kehrte  nun  nach  Italien  zurück  und  starb 
410.  Rufin's  schriftstellerische  Thätigkeit  beschränkte  sich  fast  ganz  auf 
Uebersetzungen  aus  dem  Griechischen  und  zwar  von  rein  theologischen 
Werken,  namentlich  des  Origenes,  worunter  das  wichtigste  ne^i  ccQxeov-  — 
Seine  lateinische  Bearbeitung  der  Kirchengeschichte  des  Euseb  ist  auch 
zum  grössten  Theile  eine  Uebersetzung,  —  er  setzte  sie  aber  fort  vom 
Jahre  324  bis  305,  indem  er  zwei  Bücher  hinzufügte  3).  Sie  wurde  im  Mit- 
telalter verbreitet  und  viel  gelesen,  ebenso  desselben  vitae  patrum,  eine 


1)  So  verwandelt  er  die  Sunamitin ,   das  Kebsweib  Davids,  in  die  ewig  jugendliche, 
anbefleckte  göttliche  Weisheit. 

2)  Gennadius  c.  17  nennt  ihn  so. 

3)  S.  Kimrael  de  Rofino  Eusebii  interprete  1838. 

Herzog,  Klrchengeschlchte  I.  17 


258  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Sammlung  von  Biographieen  egyptisclier  Mönche,  später  auch  historia  ere- 
mitica  genannt. 

Augustinus,  Aurelius^),  durchUef,  ehe  er  sich  durch  die  Taufe 
in  die  kathohsche  Kii'che  aufnehmen  liess,  eine  lange,  schmerzliche  Ent- 
wicklungsperiode, die  auf  seine  theologische  Ilichtung  und  sein  ganzes 
ferneres  Leben  und  Wirken  den  entschiedensten  p]influss  ausgeübt  hat.  In 
seinen  Confessiones  hat  er  selbst  eine  ergreifende  Beschreibung  davon  gege- 
ben, welche  im  Einzelnen  durch  bezeichnende  Züge,  die  in  anderen  Schriften 
zerstreut  vorkommen,  ergänzt  wird.  So  lernen  wir  aus  seinem  eigenea 
Munde  seine  Verirrungen,  seine  inneren  Kämpfe,  Alles,  was,  sei  es  hem- 
mend und  schädigend,  sei  es  fördernd  und  heilend  auf  ihn  eingewirkt  hat, 
kennen.  Durch  das  Ganze  zieht  sich  das  Andenken  an  die  fromme  Mutter 
Monnica.  So  wie  sie  die  ersten  Saamenkörner  der  Frömmigkeit  in  seine  für 
Böses  wie  für  Gutes  empftlnghche  Seele  wirft,  Saamenk()rner ,  über  die  wohl 
manche  Stürme  ergehen,  doch  ohne  sie  auszutilgen,  so  begleitet  sie  ihi' 
überall  hin  mit  ihren  Thränen  und  Gebeten,  bis  sie  zuletzt  die  Freude  er- 
lebt, in  Mailand,  wohin  sie  ihm  nachgefolgt  war,  ihren  Solin  in  die  katho- 
hsche Kirche  zurückkehren  zu  sehen,  das  Einzige,  warum  sie  noch  zu  leben 
gewünscht  hatte. 

Geboren  im  Jahre  353  zu  Thagaste  in  Numidieu,  nachdem  er  einige 
Zeit  in  Madaura  Unterricht  empfangen,  begab  er  sich  im  sechzehnten  Le- 
bensjahre nach  der  Anordnung  des  Vaters,  der  decurlo  war,  behufs  der 
Fortsetzung  seiner  Studien  nach  Carthago.  Dieser  Aufenthalt  wurde  für  ihn 
verhängnissvoll,  indem  er  daselbst  zu  sittlichem  Fall  gebracht  wurde  und  in 
die  Hände  der  Manichäer  gerieth.  Er  wurde  zwar  kein  Wüstling,  so  wenig 
wie  Hieronymus.  Dem  Sohne  Adeodatus,  der  ihm  im  neunzehnten  Lebens- 
jahre geschenkt  wurde,  widmete  er  viele  Sorgfalt.  Er  lebte  in  einer  wilden 
Ehe,  aber  Treue  bewahrend.  Doch  das  Bewusstsein  des  Zwiespaltes  in  sei- 
ner Natur  drückte  ihn  nieder.  Ein  tiefer  Riss  ging  durch  seine  Seele.  Das 
Lesen  des  Hortensius  von  Cicero  bewirkte  in  ihm  einen  Anfang  von  Bekehr- 
ung; er  nahm  sich  vor,  fortan  nur  die  Wahrheit  zum  Ziel  seines  Denkens 
zu  machen  und  sich  von  den  irdischen  Begierden  frei  zu  erhalten.  Damals 
begann  er  die  heilige  Schrift  zu  lesen;  aber  ihm  fehlte  darin  die  Schönheit 
der  ciceronianischen  Sprache.  Auch  glaubte  er,  in  der  Kirchenlehre  werde 
Gott  als  die  Ursache  der  Sünde  angesehen.  In  diesem  Zustande  der  Unklar- 
heit, des  Kampfes,  des  Suchens  wurde  er  bekannt  mit  den  Manichäern.  Er 
fühlte  sich  zu  ihnen  hingezogen,  theils  weil  sie  sich  rühmten,  mit  Besei- 
tigung der  Schrecken  erregenden  Autorität  der  Kirche  ihn  blos  und  allein 
durch  vernünftige  Gründe  zu  Gott  zu   führen ,    theils   weil   er   insbesondere 


1)  Unter  den  Ausgaben  der  Werke  ist  die  beste  die  der  Mauriner.  Paris  1679  ff.  in 
XI  Tomi  —  bei  Migne.  —  S.  Bin  de  mann,  der  heilige  Augustinus,  3  Bde.  1844 
—  1869.  —  Wiggers,  Versuch  einer  pragmatischen  Darstellung  des  Augustinismus  und 
Pelagianismus.  1833.  2  Theile.  —  Dorner,  Augustinus,  sein  theologisches  System  und 
seine  religionsphilosophische  Anschauung.  1873.  —  Von  vielen  Schriften  Augustins  sind 
besondere  Ausgaben  erschienen.  Wir  heben  hervor  die  jetzt  erscheinende  zweite  Aus- 
gabe der  Schrift  de  civitate  Dei  von  Prof.  Dombart  in  Erlangen. 


Schriftsteller  der  lateinisch -abendländischen  Kirche.    Augnstinus.  259 

von  ihnen  die  richtige  Lösung  der  ihn  seit  einiger  Zeit  beschäftigenden  Frage : 
woher  das  BöseV   erwartete.     Zudem  machte  die  Heihgkeit  des  Lebens  der 
Lehrer ,  der  Auserwählten,  auf  den  unter  der  Last  seines  Sündenbewusstseins 
seufzenden  jungen  Mann  tiefen  Eindruck.      So    liess    er   sich   denn   in   dem 
neunzehnten  Lebensjahre  unter  die  Auditores  aufiiehmeu  und  suchte  in  Tha- 
gaste,  wohin  er  zurückkehrte  und  wo  er  die  Rhetorik  lehrte,    für  die  Sekte 
zu  wirken.    Bald  nach  Carthago  zurückgekehrt,   machte   er   nach   und  nach 
allerlei  Erfahrungen,  die  ihn  vom  Manichäismus  abzogen.     Durch  consequente 
Verfolgung  der  Lehren   desselben  gerieth  er  nämlich  auf  ein  Extrem:    Gott 
erschien  ihm  als  Köri)er  von  feinerer  Art,   durch  die  ganze  Natur  vertheilt, 
so  dass  er  am  Ende  sich  selbst  wie  ein  Stück  Gottheit  vorkam,  wähi'end  er 
in  sich  nichts  als  Unruhe  und  Zwiespalt  wahrnahm.     Seine   mehr  und  mehr 
aufsteigenden  Zweifel  an   der  manichäischen  Lehre    konnte  auch   ihr   gröss- 
ter  Lehrer,   Faustus,   auf  den   man  ihn  vertröstet  hatte,   nicht   lösen.      So 
sagte  er  sich  von  der  manichäischen  Lehre  los,   ohne  jedoch  seinen  Austritt 
aus  der  Sekte  zu  erklären.     Neun  Jahre  blieb   er  in  den  Banden  derselben. 
Was  er  erfuhr   von   den   geheimen  Sünden    der    sogenannten  Auserwählten 
lockerte  auch  die  Bande,    die   ihn  an  die  Sekte  fesselten.     Als  er  sich  aber 
von   den   mani('häischen    Irrthümern    losgewunden,   war   er   nahe  d^'an,   in 
völligen  Skepticismus  zu  verlallen  und  die  Akademiker  für  die  scharfsinnig- 
sten Philosophen  zu  halten.     p]r  war   damals   in  Rom   als  Lehrer   der  Rhe- 
torik thätig.     Von  da  wurde  er  385  in  dieser  Eigenschaft  nach  Mailand  be- 
rufen.     Hier  schlug   für  ihn  die  Stunde   der  Entscheidung.     Die  Predigten 
des  Ambrosius  lehrten  ihn  das  von  den  Manichäern   so  tief  heruntergesetzte 
Alte  Testament  wieder  schätzen.     Der  Spruch,  den  der  verehrte  Bischof  oft 
anführte:   der  Buchstabe  tödtet,    der  Geist   ist   es,    der   da  lebendig  macht, 
fiel  wie  ein  Lichtstrahl  in  seine  Seele.     Doch  wollte  er  noch  durchaus  nicht 
in  die  katholische  Kirche  eintreten.    Je  rascher  er  einst  den  Lockungen  der 
Häresie  nachgegeben,  desto   mehr  hielt  ihn  jetzt  die  bittere  Erfahrung,   un- 
terstützt  durch   die  Gründe  der  Akademiker,    vom    letzten    entscheidenden 
Schritte  zurück.    Er  liess  sich  also  vorerst  als  Katechumene  aufnehmen  und 
beschlöss,  so  lange  dal)ei  zu  bleiben,  bis  ihm  etwas  Gewisses  aufgienge.    In 
dieser  Zeit  wurden  ihm  neuplatonische  Schriften  in  die  Hände  gegeben;    sie 
entzündeten  in  ihm  ein  unglaubliches  Feuer.     Die  Beschäftigung   mit   diesen 
Schriften  wurde  für  ihn  Uebergangspunkt  vom  Skepticismus  zur  Anerkennung 
einer  objectiven  Wahrheit,    sowie  zur  Vergeistigung  seines  durch  den  Mani- 
chäismus an  sinnliche  Bilder  gew()hnten  Denkens,  Uebergangspunkt  vom  Dua- 
hsmus  zum  consequenten  Monotheismus,    indem    er  glaubte,    dass  die  Neu- 
platoniker  das  absolut   geistige  Wesen   erfasst   hätten.     Von    den  neuplato- 
nischen Schriften  ging  er  zur  heiligen  Schrift  über,  und  berichtigte  mit  Hülfe 
derselben  die  niedere  Ansicht  von  Christo  als  blossem  Lehrer,  die  er  in  den 
neuplatonischen  Schriften  gefunden.     Er   las   insbesondere   den  Brief  an  die 
Römer,   wurde  mächtig  ergritfen  durch  die  Beschreibung   des  Zwiespaltes  in 
der  raenschhcheu  Natur;  in  sich  selbst  fand  er  das  Alles,  was  Paulus  sagte, 
bestätigt.     Fortan  suchte   er   die   religiöse  Ph'kenntniss   sich  i)raktisch  anzu- 
eignen.    Ruhm  zog  ihn  nicht  mehr  an,  aber  die  sinnliche  Lust  hielt  ihn  ge- 
fangen,  und  weil  er  in  diesem  Punkte  schwach  war,   so   war  er  es  auch  in 

17  ♦ 


260  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

allen  übrigen  (in  ceteris  languidus).  Wohl  fühlte  er  die  Verpflichtung,  seinen 
neu  gewonnenen  Glauben  zu  bekennen;  aber  er  scheute  sich,  die  Taufe 
zu  begehren,  weil  sich  für  ihn  das  Verzichtleisten  selbst  auf  die  rechtmässige 
Ehe,  an  die  er  eine  Zeitlang,  hauptsächlich  von  der  Mutter  angetrieben, 
dachte,  nicht  blos  als  zur  Virtuosität  des  christlichen  Lebens  gehörig,  son- 
dern auch  als  mit  dem  Bekenntniss  des  christlichen  Glaubens  und  mit  dem 
Eintritt  in  die  kathohsche  Kirche  noth wendig  verbunden,  darstellte.  An  die- 
sen Punkt  knüpfte  sich  zuletzt  die  Entscheidung.  So  ergreifend  die  Schil- 
derung ist,  die  er  davon  in  seinen  Confessionen  entworfen,  so  erhebend  dei* 
Muth  ist,  mit  dem  er  jede  Lockung  der  Sinnlichkeit  überwindet,  so  liegt, 
doch  eine  furchtbare  Verirrung  darin,  wenn  wir  bedenken,  dass  er  mit  dem 
Spruche  Römer  13,  13:  nicht  in  Kammern  und  Unzucht  u.  s.  w.  den  Ge- 
danken der  rechtmässigen  Ehe  von  sich  weist.  Um  diese  Sache  richtig  zu 
beurtheilen,  müssen  wir  aber  hinzunehmen,  dass  an  den  Gedanken  der 
rechtmässigen  Ehe  in  seinem  Geiste  sich  allerlei  sehr  weltliche  Regungen 
und  Hoffnungen  anschlössen  ^).  Auch  sah  er  bald  ein,  dass  das  Gemein- 
schaftsleben, das  er  mit  einigen  gleichgesinnten  Freunden  zu  führen  ge- 
dachte, nicht  wohl  zu  verwirklichen  war,  wenn  die  Theilnehmenden  ver- 
heirathet  waren  (Conf.  VL  11). 

Im  Jahre  388,  nach  einem  Aufenthalte  in  Rom,  wo  die  Mutter  starb, 
nach  Afrika  zurückgekehrt,  lebte  er  zunächst  in  Thagaste  in  einer  Art  von 
klösterlichen  Verein,  den  er  mit  einigen  Freunden  gestiftet,  wurde  aber  389, 
ohne  es  irgend  zu  erstreben,  Presbyter  in  Hippo  -  Regius,  seit  395  des  Bischofs 
Valerius  coepiscopus,  seit  396  dessen  Nachfolger.  Nun  beginnt  die  Zeit  sei- 
ner weitreichenden,  tiefgehenden  Einwirkung  auf  die  Kirche.  Er  erlebte 
noch  die  Verwüstung  der  afrikanischen  Kirche  durch  die  Vandalen  und  starb 
430  während  der  Belagerung  von  Hippo. 

Augustin  ist  der  reichste,  umfassendste  und  zugleich  tielste  Geist  un- 
ter den  Lehrern  und  Vätem  der  lateinisch  abendländischen  Kirche,  dem 
Ambrosius  zwar  nachstehend  an  Beredtsamkeit ,  noch  mehr  dem  Hieronymus 
an  Gelehrsamkeit,  aber  beide  sowie  auch  Hilarins  durch  die  Tiefe  und  Viel- 
seitigkeit seines  Geistes  übertreffend.  Nicht  nur  auf  die  Kirche  seiner  Zeit 
hat  er  einen  überwiegenden  Einfluss  ausgeübt,  sondern  auch  auf  die  Kirche 
im  Mittelalter,  zur  Zeit  der  Reformation  und  zur  Zeit  nach  der  Reformation. 
Er  hat  Ideen  vertreten,  woraus  die  Reformatoren  vor  der  Reformation, 
Wycliffe ,  Huss ,  Johannes  Wessel  u.  A.  und  die  Reformatoren  Belehrung  ge- 
schöpft haben,  er  hat  aber  auch  Grundsätze  vertreten,  welche  specifisch- 
katholisch  sind  und  von  der  römisch-katholischen  Kirche  in  aller  Strenge 
festgehalten  werden.  Seine  Schilften  wurden  eine  Quelle  und  Fundgrube  für 
die  Scholastik  und  Mystik  des  Mittelalters.  Die  bedeutendste  Erscheinung 
des  neueren  Katholicismus,  der  Jansenismus,  ist  ganz  eigentlich  eine  Er- 
neuerung  des  Lehrbegriffes  Augustins.     Er    hat    auch   den  philosophischen 


1)  De  utilitate  credendi  c.  3.  Vitae  hujus  mundi  eram  implicatus,  tenebrosam 
spem  gerens  de  pulcritudine  uxoris,  de  pompa  divitiarum,  de  inanitione  bonorum  ceterisque 
noxiis  et  perniciosis  voluptatibus.  Er  hoffte  ein  Landvogtamt  nebst  einer  reichen  Frau  zu 
erhalten  (Praesidatus  dari  potest.     Conf.  VI,  11). 


Schriftsteller  der  lateinisch  -  abendländischen  Kirche.    Augustinus.  261 

Bestrebungen  einen  mächtigen  Impuls  gegeben.  Der  Satz  des  Cartesius,  des 
Begründers  der  neueren  Philosophie:  Cogito,  ergo  sum^  findet  sich  wörtlich 
bei  Augustin.  Es  ist,  als  ob  verschiedene  Welten  in  diesem  umfassenden 
Geiste  zusammenträfen.  Aber  der  Mangel  an  gründhcher  gelehrter  Bildung 
ist  überall  in  seinen  Schriften  sichtbar.  Bei  aller  Grösse  des  Geistes  ist  er 
in  grosse  Irrthümer  verfallen.  In  einigen  Punkten  hat  er  sich  von  dem 
bereits  trüb  gewordenen  Strome  der  katholischen  Tradition  hinreissen  lassen. 
Seine  Schriften  sind  äusserst  zahlreich  und  sehr  mannigfaltigen  In- 
haltes, hervorgerufen  durch  persönliche  Verhältnisse,  durch  allgemeine  Ver- 
hältnisse, durch  die  Streitigkeiten,  in  welche  er  verwickelt  wurde. 

Das  apologetische  Werk  Augustin's  ist  die  Schrift  de  civitate 
Dei^  in  zweiundzwanzig  Büchern,  begonnen  413,  vollendet  426  oder  427. 
Die  Einnahme  von  Rom  durch  Alarich  410,  die  Plünderung  von  Italien  gab 
nämlich  den  Heiden  Anlass  zu  behaupten,  dass  der  Zorn  der  Götter  über 
die  Verwerfung  der  alten  Religion  diese  schrecklichen  Unfälle  herbeigerufen 
habe.  Schon  Orosius,  Priester  aus  Tarragona  in  Spanien,  hatte,  aufge- 
fordert von  Augustin,  jenen  Vorwurf  zu  widerlegen  gesucht  in  den  sieben 
Büchern  seiner  Weltgeschichte.  Nachher  muss  solcher  Vorwurf  noch  stärker 
erhoben  worden  sein;  daher  die  Schrift  Augustin's,  die  in  den  zehn  ersten 
Büchern  eine  Widerlegung  der  Vorwürfe  der  Heiden  und  eine  Widerlegung 
des  Hei(tenthums  selbst  gibt,  die  folgenden  Bücher  (11 — 22)  sind  dogma- 
tischen Inhalts,  aber  viel  Historisches  ist  beigemischt.  Diese  Schrift  vom 
Gottesstaate,  dem  der  irdische  Staat  entgegengestellt  wird,  ist  eine  gross- 
artige Conception,  die  in  reicher  Fülle  ausgeführt  wird. 

Die  polemischen  Schriften  umfassen  den  weitesten  Umkreis  und  sind 
ü})erhaupt  die  zahlreichsten:  Augustin  fühlte  sich  in  seinem  Gewissen  ver- 
I)fiichtet,  die  Irrthümer  und  Verkehrtheiten  der  Manichäer,  zu  denen  er 
einst  Manche  verführt  hatte,  zu  widerlegen;  das  that  er  seit  dem  Jahre  388 
in  einer  Reihe  von  Schriften.  Wir  heben  hervor  de  titilitate  credendi  an 
Honoratus  gerichtet,  der  sich  von  den  Manichäern  hatte  fangen  lassen  und 
den  Kirchenglauben  verspottete,  so  wie  die  Schrift  gegen  jenen  bei  den 
Manichäern  so  hoch  angesehenen  Bischof  Faustus.  Die  Pelagianer  und 
Semipelagianer  bekämpfte  er  in  vielen  Schriften,  zugleich  die  eigenen 
Ansichten  über  die  streitigen  Punkte  darlegend,  ebenso  die  Donatisten. 
Er  schrieb  noch  gegen  die  Priscillianisten  und  Origenisten  und  Aria- 
ner  und  gab  in  der  Schrift  de  haeresihus  eine  gedrängte  Uebersicht  über 
alle  bis  zu  seiner  Zeit  aufgetauchten  Häresieen. 

Die  exegetischen  Schriften  sind  bei  weitem  weniger  zahlreich  als 
die  polemischen  und  auch  von  ungleich  geringerer  Bedeutung.  Denn  Augu- 
stin verstand  wenig  Griechisch  und  gar  kein  Hebräisch;  daher  begeht  er 
grosse  exegetische  Verstösse,  doch  ist  es  zum  Verwundern,  wie  er  in  den 
dogmatischen  Gedankengehalt  einzugehen  versteht.  Diese  exegetischen  Ar- 
beiten erstrecken  sich  über  die  Genesis,  die  Psalmen,  Hieb,  sodann  haupt- 
sächlich über  einige  Bücher  des  Neuen  Testamentes. 

Als  dogmatische  Schriften  sind  zu  nennen,  de  fide  et  symholo, 
de  doctrina  christiana,  de  trinitate,  de  sjjiritu  et  litera,  de 
fide  et  operihus,   das  Enchiridion  ad  Laurentium,   de  fide,  spe  et 


262  Zweite  Periode  des  alten  Katholiciamus. 

caritate.  Auch  eine  Anzahl  philosophischer  Schriften  verdanken  wir  dem 
unermüdlichen  Geiste  Augustinus  contra  acadentiros,  de  oita  beata, 
Soliloquia,  de  immortalitate  animae,  de  quantitate  animae, 
de  magistro.  Zu  den  erbaulichen  und  asketischen  Schriften  rechnen  wir 
die  bereits  angeführten  Confessiones,  wovon  die  vier  letzten  Bücher  (10—14) 
dogmatisch -speculativen  Gehaltes  sind.  Die  sermones  sind  durch  inhalt- 
reiche Kürze  ausgezeichnet.  In  den  427  geschriebenen  retractationes  durch- 
geht Augustin  alle  seine  bis  dahin  geschriebenen  Schriften  und  kritisirt  sie, 
die  darin  enthaltenen  Irrthümer  aufdeckend,  soweit  er  sich  deren  be^Niisst 
geworden;  denn  vieler  ist  er  sich  allerdings  nicht  bewusst  geworden. 

Die  Schriften  des  P  e  1  a  g  i  u  s,  C  o  e  1  e  s  t  i  u  s,  Julian  v  o  n  E  c  1  a  n  u  m,  dei* 
Semipelagianer  Johannes  Cassianus  und  Vincentius  Lirinensis  werden  in  der 
Geschichte  der  pelagianischen  und  semipelagianischen  Streitigkeit  in  Betracht 
kommen.  x\usserdem  führen  wir  an  die  sermones  Leo's  des  Grossen, 
dem  wir  in  der  Geschichte  der  theologischen  Streitigkeiten  in  der  Kirchen- 
verfassung noch  näher  treten  werden.  S.  über  ihn:  Perthel,  Pabst  Leo's 
Leben  und  Schriften  1843.  Ausserdem  ist  zu  nennen:  Salvian,  Semipela- 
gianer, Presbyter  in  Marseille  c.  440,  dessen  beide  Werke  de  g  übe  ma- 
tt one  Bei  und  de  avaritia  für  ihre  Zeit  Bedeutung  hatten.  S.  über  ihn: 
Z Schimmer,  Salvianus  und  seine  Schriften  1875. 

Streitigkeiten,  die  von  der  griechisch  -  morgenländischen 

Kirche  ausgehen. 

L    Die  arianische  Streitigkeit  und  ihre  Verzweigungen 

(318  —  381)  1). 

Aeussere  Geschichte  der  Streitigkeit. 

Arius  (Jlqeioq),  Presbyter  in  Alexandrien,  Schüler  des  gelehrten  an- 
tiochenischen  Presbyters  Lucian,  ein  weder  durch  Gelehrsamkeit  noch  durch 
besondere  Geistesgaben  hervorragender  Mann,  erneuerte  den  in  der  ersten 
Periode  schon  begonnenen  Streit  über  das  Verbal tniss  des  Logos  zum  Vater, 
von  demselben  Streben  wie  die  alten  Mimarchianer  ausgehend,  die  Einheit, 
IxovaQxict,'  Gottes  festzuhalten,  aber  im  Gegensatz  gegen  die  Lehrweise  des 
Sabellius.  Er  gerieth  darüber  seit  318  in  Streit  mit  seinem  Bischöfe  Ale- 
xander. Dieser  forderte  ihn  auf,  sich  von  seiner  Lehre  loszusagen.  Als  er 
sich  dessen  geweigert,  wurde  er  durch  eine  Provincialsynode  in  Alexandrien, 
woran  ungefähr  hundert  egyptische  und  libysche  Bischöfe  Theil  nahmen,  aus 
der  Kirchengemeinschaft  ausgeschlossen  321.  (Jircularschreiben  an  die  an- 
gesehensten Bischöfe  enthielten  die  llechtfertigung  dieses  Schrittes  und  die 
Verdammung  der  arianischen  Lehre.  Durch  diesen  Schritt  wurde  Arius  ver- 
anlasst, seine  Meinungen  in  weiteren  Kreisen  zu  verbreiten.  Diess  that  er 
in  der  Thaleia,   aus  Versen  und  Prosa  bestehend.     Auch  Lieder  für  Müller 

1)  S.  das  angeführte  Werk  von  Moehler  über  Athanasiüs  und  Koelling,  Ge- 
schichte der  arianischen  Häresie.    1874. 


Die  arianiscfie  Streitigkeit.  263 

und  Schiffsleute  damals  verfertigt,  sollten  seine  Lehre  unter  das  Volk  brin- 
gen. Vergebens  bemühten  sich  zwei  angesehene  Bischöfe,  Euseb,  Bischof 
von  Nikodemien  und  Euseb,  Bischof  von  Cäsarea  in  Palästina,  einen  Ver- 
gleich zwischen  Arius  und  seinem  Bischöfe  zu  Stande  zu  bringen.  Es  half 
nichts,  wenn  dieser  Euseb  den  Streitenden  zurief:  ;,wer  w^eiss,  wie  sich  die 
Seele  mit  dem  Körper  verbindet  und  ihn  verlässt,  und  wir  wagen  es,  das 
ewige  Wesen  der  Gottheit  zu  erforschen?  Christus  spricht,  wer  an  mich 
glaul)t,  der  hat  das  ewige  Leben,  nicht  wer  da  wisse,  wie  er  vom  Vater 
erzeugt  wT)r(len.  Wäre  das  letztere  der  Fall,  so  könnte  Niemand  zum  Leben 
gelangen.'^  Die  Kirche  weit  und  breit  theilte  sich  zwischen  Alexander  und 
Arius.  Die  Heiden  nahmen  davon  Anlass,  auf  ihren  Theatern  das  Christen- 
thnm  zu  verspotten.  Keiner  empfand  über  diesen  Streit  tieferen  Verdruss 
als  Kaiser  Constantin,  dem  nichts  mehr  am  Herzen  lag,  als  dass  Geistliche 
und  Laien  einträchtig  und  im  Frieden  mit  einander  lebten.  Ohne  alle  Kennt- 
niss  der  Tragweite  der  aufgeworfenen  Streitfragen,  schrieb  er  an  Bischof 
Alexander  und  an  Arius,  sie  möchten  doch  über  dergleichen  geringfügige 
P'ragen  nicht  mit  einander  zanken,  besonders  sie  nicht  unter  das  Volk  brin- 
gen, sie  sollten  sich  vereinigen  im  Glauben  an  Eine  Vorsehung  {nqovoia) 
und  sich  als  Brüder  anerkennen,  sie  möchten  ihm  heitere  Tage  und  sorglose 
Nächte  zurückgeben  (Sokr.  i,  7).  Dieser  Brief  war  freilich  nicht  geeignet, 
den  Frieden  wieder  herzustellen;  auch  unter  den  Laien  mehrte  sich  der 
Streit.  P^ine  andere  Streitfrage  beschäftigte  die  Gemüther,  betreffend  die 
Zeit  der  Osterfeier.  Die  Streitenden  schlössen  zwar  einander  nicht  von  der 
Kirchengemeinschaft  aus ;  aber  durch  den  Mangel  an  Uebereinstimmung  wurde 
die  Heiterkeit  des  Festes  getrübt. 

Um  diese  beiden  Streitpunkte  zu  erledigen,  berief  der  Kaiser  aus  allen 
Theilen  des  Reiches  die  Bischöfe  zu  einer  Kirchenversammlung  nach  Nicäa  in 
Bithynien  325;  es  war  die  erste  der  sogenamiten  ökumenischen  Synoden. 
318  Bischöfe  waren  anwesend,  wovon  einige  Kirchen  ausserhalb  des  römischen 
Reiches  vertraten.  Unter  ihnen  waren  solche,  welche  an  ihrem  Leibe  die 
Zeichen  der  erlittenen  Verfolgungen  und  Leiden  trugen  (Theodoret  H.  E.  1,  7). 
Es  fehlte  der  Bischof  von  Rom,  der  wiegen  Altersbeschwerden  ausgeblieben; 
einige  rCnnische  Presbyter  vertraten  seine  Stelle,  doch  ohne  den  Vorsitz  zu 
führen,  wie  Hefele  vormuthet.  Der  amvesenden  Presbyter,  Diakonen  imd 
niederen  Geistlichen  war  eine  unzählbare  Menge.  Als  die  Bischöfe  sich  zur 
Eröfthung  der  Synode  versammelt  hatten,  trat  Constantin  unter  sie,  die  noch 
standen ,  und  wollte  nicht  eher  sich  niederlassen,  als  bis  sie  ihm  einen  Wink 
gegeben.  Nun  ergriff  der  Kaiser  zuerst  das  Wort  und  ermahnte  zur  Einig- 
keit. Es  gab  allerdings  grosse  Verschiedenheiten  in  der  Versammlung.  Arius 
hatte  zwar  wenige  Anhänger,  die  ihm  in  allen  Sätzen  beipflichteten.  Ale- 
xander hatte  deren  mehrere,  und  ausserdem  war  er  unterstützt  durch  den 
bedeutendsten  Mann  in  der  Versammlung,  den  Diakonus  Athanasius.  Die 
meisten  mochten  aber  zwischen  den  streitenden  Parteien  am  liebsten  die 
Mitte  halten.  Doch  diese  Mittelpartei,  an  deren  Spitze  die  beiden  Eusebe 
standen,  war  an  Talent  und  Folgerichtigkeit  der  Ansicht  dem  Athanasius 
durchaus  nicht  gewachsen.  Es  gelang  diesem,  der  Versammlung  klar  zu 
machen ,  dass  die  Lehre  von  der  Wesenseinheit  Christi  mit  dem  Vater  nichts 


2ß4  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismua. 

Anderes  als  der  alte  christliche  Glaube  sei.  Dadurch  wurde  der  Kaiser  be- 
wogen, der  Partei  des  Alexander  und  des  Athanasius  beizutreten,  in  der 
Hoflnung,  die  Eintracht  unter  den  Bischöfen  herzustellen.  Sogar  Euseb  von 
Cäsarea,  nachdem  das  von  ihm  vorgeschlagene  Symbol,  weil  darin  der  Aus- 
druck ofioovaiog  fehlte,  verworfen  worden,  unterzeichnete  das  von  der  Sy- 
node genehmigte  Symbol  (iia^rnia),  sich  stützend  auf  eine  vage  Erklärung 
des  ofjLoovffiog.  Dasselbe  thaten  viele  andere  Bischöfe  um  des  Friedens 
willen  oder  aus  Furcht  vor  dem  Kaiser.  Selbst  eifrige  Anhänger  des  Arius, 
Euseb,  Bischof  von  Nikomedien,  und  Theognis,  Bischof  von  Nicäa,  unterschrie- 
ben das  Symbol,  aber  nicht  die  Verdammung  des  Arius  und  seiner  Anhänger. 
So  erklärten  sich  zuletzt  nur  zwei  Bischöfe  unbedingt  gegen  das  Symbol, 
Theonas  von  Marmaryca  in  Libyen  und  Secundus,  Bischof  von  Ptolemais; 
sie  wurden,  wie  Arius,  exconnnunicirt ,  abgesetzt  und  verbannt.  Auch  die 
Bischöfe  Theognis  und  Euseb  von  Nikomedien  wurden  drei  Monate  nach 
Schluss  des  Concils  nach  GaUien  verwiesen. 

Doch  damit  war  der  Streit  keineswegs  beendigt,  wie  Constantin  sich 
einbildete,  sondern  nur  das  Zeichen  gegeben  zu  einer  mehr  als  fünfzigjähri- 
gen Fortsetzung  desselben. 

Das  Concil  von  Nicäa  hatte  nändich  fortwährend  viele  heimliche  Geg- 
ner. Der  Kaiser  selbst  wurde  durcli  einen  eusebianisch  gesinnten  Presbyter, 
welchen  ihm  seine  Schwester  sterbend  empfohlen  hatte,  zu  milderen  Mass- 
regeln gegen  Arius  bewogen.  Auf  Grund  eines  in  allgemeinen  Ausdrücken 
sich  haltenden  Glaubensbekenntnisses  wurde  er  328  oder  329  zurückberufen; 
er  bat  den  Kaiser,  dahin  zu  wirken,  dass  die  überflüssigen  Streitigkeiten 
aufhörten  und  dass  bald  alle  Gläubigen  in  Eintracht  für  den  Frieden  der 
Kirche  und  die  Wohlfahrt  des  Kaisers  und  seiner  Familie  beten  kiinnten. 
Auch  die  Bischöfe  Theognis  und  Secundus  wurden  zurückberufen.  Mittler- 
weile war  Bischof  Alexander  von  Alexandrien  gestorben ,  der  sterbend  Atha- 
nasius als  seinen  Nachfolger  bezeichnet  liatte.  Von  nun  an  entfaltete  dieser 
seine  glänzende  aber  immerfort  angefochtene  Thätigkeit  zur  Widerlegung  des 
Arianisnuis  und  zur  Vertheidigung  des  nicänischen  Bekenntnisses.  Mit  stren- 
ger Folgerichtigkeit  und  unter  beständig  sich  erneuernden  Stürmen  haiTte 
er  heldenmüthig  aus  und  erwarb  sich  selbst  die  Achtung  derjenigen  Kaiser, 
die  ihm  entgegenstanden.  —  Bald  erhielt  er  Befehl,  Arius  wieder  in  die 
Kirchengemeinschaft  aufzunehmen,  welchem  Befehl  er  sich  jedoch  nicht  fügte. 
Constantin,  dem  man  beigebracht,  dass  kein  Friede  möghch  sei,  so  lange 
Athanasius  nicht  beseitigt  worden,  opferte  ihn  auf;  eine  vom  Kaiser  nach 
Tyrus  berufene  Synode  entsetzte  ihn  seines  Amtes,  worauf  ihn  Constantin 
nach  Galhen  verwies  335  —  diess  Alles  auf  Grund  anderer  Beschuldigungen,  u.  a. 
wegen  seines  harten  Verfahrens  gegen  die  schismatischen  Meletianer.  Da- 
mals wurden  noch  andere  nicänisch  gesinnte  Bischöfe  verbannt.  Arius  selbst 
war  nahe  daran,  nachdem  er  bereits  in  Jerusalem  in  die  Kirchengemeinschaft 
wieder  aufgenommen  worden,  in  Constantinopel  einen  glänzenden  Triumph 
zu  erleben.  Am  Tage  jedoch,  bevor  er  auch  in  Constantinopel  in  die  Kirche 
wieder  aufgenommen  werden  sollte ,  gab  er  unter  heftigen  Leibesschmerzen, 


t)ie  arianische  Streitigkeit.  265 

verbunden  mit  Ausschütten  der  Eingeweide  den  Geist  auf  i)  336.    Im  folgen- 
den Jahre  starb  Constantin. 

Die  drei  Söhne  des  verstorbenen  Kaisers,  Constantin  IL,  Consta n- 
tius  und  Constans,  wovon  die  zwei  zuerst  genannten  den  Orient  be- 
herrschten, Constans  den  Occident,  hatten  eine  Zusammenkunft  in  Panno- 
nien,  wo  sie  sich  über  die  Mittel,  den  Frieden  in  der  Kirche  herzustellen, 
beriethen  und  zu  dem  Entschlüsse  kamen,  die  vertriebenen  Bischöfe  zurück- 
zurufen. So  konnte  Athanasius  nach  Alexandrien  zurückkehren,  wo  er  von 
Geistlichkeit  und  Volk  mit  grosser  Freude  aufgenommen  wurde.  Indessen 
war  er  fortwährend  dem  Hasse  der  eusebianischen  Partei  ausgesetzt,  welche 
den  gewandten  und  unerschütterlichen  Gegner  fürchteten.  Gerade  diese 
Partei  gewann  die  Gunst  des  Kaisers  Constantius,  und  dieser  wurde  nach 
dem  Tode  seines  Bruders  Constantin  IL  Beherrscher  des  ganzen  Morgen- 
landes. Mit  Constantin  IL  fiel  der  eifrigste  Beschützer  des  Athanasius,  der 
sich  nun  neuen  Angriffen  ausgesetzt  sah.  Er  wurde  wieder  abgesetzt  und 
au  seine  Stelle  Gregor  aus  Kappadocien  gewählt.  Vergebens  versuchten  die 
Eusebianer,  den  römischen  Bischof  für  sich  zu  gewinnen  und  gegen  Athana- 
sius zu  stinmien;  denn  mit  einigem  Rechte  hegte  er  den  Argwohn,  dass  die 
von  der  eusebianischen  Partei  vertretene  Lehre  nicht  viel  besser  sei,  als  die 
des  Arius.  Um  sich  in  des  römischen  Bischofs  Augen  zu  rechtfertigen,  be- 
riefen sie  eine  Kirchenversamndung  nach  Antiochien  341.  Unter  dem  vor- 
herrschenden Einflüsse  des  Euseb  von  Nikomedien  wiuxlen  vier  verschiedene 
Unionsformeln  genehmigt,  welche  die  Basis  einer  Vereinigung  mit  den  Ni- 
cänern  bilden  sollten  2j.  p',s  waren  darin  das  nicänische  o^oovcriog  sowie  die 
specifisch  arianischen  Bestinnnungen  ausgelassen.  Unterdessen  war  Gregor, 
Nachfolger  des  Athanasius,  in  Alexandrien  eingedrungen  und  dieser  hatte  die 
Flucht  ergreifen  müssen.  Er  schiffte  sich  ein  nach  Rom,  mit  ihm  einige 
gleichgesinnte  Bischöfe ,  unter  anderen  der  ebenfalls  abgesetzte  Bischof  Pau- 
lus von  Constantinopel.  Bischof  Julius  nahm  die  Flüchtlinge  äusserst  freundlich 
auf  und  machte  ihre  Sache  zu  der  seinigen.  Er  beschied  die  Eusebianer 
nach  Rom  vor  eine  daselbst  zu  haltende  Kirchenversammlung,  wovon  jene 
freihch  nichts  wissen  wollten.  Die  Versammlung  fand  doch  statt,  sie  hob 
das  Urtheil  der  Veitreibung  und  Absetzung  des  Athanasius  auf,  und  nahm 
von  den  antiochenischen  Formeln  keine  Notiz.  So  trennte  sich  das  Abend- 
land vom  Morgenlande,  und  der  römische  Bischof  gewann  an  Bedeutung 
und  Macht. 

Aufs  neue  unternahmen  die  beiden  Kaiser  das  schwierige  Geschäft,  die 


1)  Die  Umstände  des  Todes  werden  bei  Sokrates  1,  38  und  bei  Sozom.  2,  30  ver- 
schieden erzählt.  Nacli  Sokrates  1,  37  sah  Bischof  Alexander  von  Constantinopel  darin 
die  Erhorung  seines  Gebetes:  wenn  Arius  die  rechte  Lehre  hätte,  so  möchte  ihm  Gott 
vor  der  angesetzten  Disputation  mit  Arius  hinwegnehmen;  wenn  aber  er  (Alexander)  die 
rechte  Lehre  hätte,  so  möchte  Gott  Arius  bestrafen  (?).  Athanasius  sah  zwar  in  dem 
plötzlichen  Tode  seines  Gegners  ein  Gottesgericht;  doch  enthielt  er  sich  der  Insulten  gegen 
ihn,  indem  er  sagte,  man  dürfe  über  Niemandes  Tod,  auch  wenn  er  ein  Feind  sei, 
triumphiren,  da  alle  Menschen  sterben  müssten,  und  es  ungewiss  sei,  ob  nicht  jeden  bis 
zum  Abend  der  Tod  ergreifen  könne, 

2)  Bei  Hahn  a.  a.  0.  S.  148  ff. 


266  %vfeito  Periode  des  alten  Katholicismus. 

beiden  Theile  des  Reiches  zu  einigen.  Zu  diesem  ;^wecke  beriefen  sie  auf 
das  Jahr  343  ^  eine  neue  allgemeine  Synode  nach  Sardica  in  lUyrien.  Es 
erschienen  hundert  abendländische  Bischöfe,  an  deren  Spitze  Bischof  Ilosius 
von  Corduba  in  Spanien,  und  siebenzig  morgenlilndische ,  begleitet  von  kai- 
serlichen Commissarien.  Von  Anfang  an  stiessen  die  Verhandlungen  auf 
unüberwindliche  Schwierigkeiten.  Die  abendländischen  bestanden  darauf,  dass 
das  6[iodv(Ttog  nicht  weiter  in  Verhandlung  komme,  da  alles  dahin  gehörig«} 
bereits  in  Nicäa  festgesetzt  worden.  Sie  forderten  eine  neue  Untersuchung 
der  Sache  des  Athanasius,  davon  wollten  aber  die  morgenländischen  Bischöft; 
nichts  wissen,  und  da  diese  sich  überhaupt  einer  abendländischen  Ueber- 
macht  von  Anhängern  des  Athanasius  gegenüber  sahen,  gaben  sie  vor,  dass 
die  Festlichkeiten  zu  Ehren  des  Sieges  der  kaiserlichen  Waffen  über  die 
Perser  sie  nach  Hause  riefen;  sie  verliessen  Sardica,  fanden  sich  aber  für 
etliche  Tage  in  PhihppopoUs  in  Thracien  zusammen  und  erliessen  von  da,  als 
ob  sie  die  ganze  Synode  vorstellten,  ein  Synodalschreibcn,  worin  die  alten  Be- 
schuldigungen gegen  Athanasius  wiederholt  wurden.  Auf  einer  neuen  antio- 
chenischen  Synode  bekannten  sie  sich  344  in  der  sogenannten  exd^effig  fia- 
xQO(Ttixog  (langzeihg)  von  neuem  zu  der  Bestimmung  der  vierten  antioche- 
nischen  Formel,  eben  so  auf  der  ersten  Synode  von  Sirmium  in  Niederpan- 
nonien  351.  An  die  Stelle  der  nicänischen  Wesensgleichheit  setzten  sie  aber 
die  Wesensähnhchkeit ,  —  darin  lag  eine  gewisse  Annäherung  an  das  nicä- 
nische  Symbol  (Hahn,  S.  155).  Was  die  abendländischen  Bischöfe  betrifft,  so 
trennten  sie  sich  in  Sardica  nicht,  ehe  sie  Athanasius  aufs  neue  für  unschul- 
dig erflärt  und  einige  arianisch  gesinnte  Bischöfe  des  Abendlandes  excommu- 
nicirt  hatten,  welche  Beschlüsse  durch  Synodalschreiben  der  ganzen  Kirche 
mitgetheilt  wurden.-  In  einem  eigenen  Schreiben  wurde  die  Gemeinde  in 
Alexandrien  ermahnt,  im  katholischen  Glauben  auszuharren  —  und  in  der 
Anhänglichkeit  an  ihren  Bischof  Athanasius.  So  war  das  Ende  dieses  neuen 
Unionsversuches  eine  grössere  Trennung  beider  Theile  der  Kirche.  Viele 
nicänisch  gesinnte  Bischöfe  aus  dem  Morgenlande  lebten  in  der  Verbannung, 
ihre  Gemeinden  waren  in  Trauer  versenkt. 

Constantius  fühlte  aber  die  Nothwendigkeit,  den  Riss  nicht  zu  gross  zu 
machen.  Sein  Bruder  Constans  lag  ihm  an,  Athanasius  und  andere  Bischöfe 
zurückzurufen;  im  Falle  der  Weigerung  drohte  er,  ihn  selbst  wieder  einzu- 
setzen. Ueberdiess  flösste  die  Zahl  der  Bischöfe,  die  in  Sardica  sich  für 
Athanasius  ausgesprochen,  dem  Constantius  unwillkürlich  Achtung  ein.  Mehr 
und  mehr  kam  es  an  den  Tag,  dass  die  Eusel)ianer  gegen  Athanasius  und 
die  nicänische  Partei  im  Morgenlande  lügenhafte  Beschuldigungen  vorge- 
bracht. Das  Alles  bewog  den  Kaiser  nach  dem  Tode  des  Gregorius  Atha- 
nasius zurückzurufen  und  einige  andere  Bischöfe  (349).  Indessen  war  dadurch 
Ruhe  und  Frieden  nicht  hergestellt.  Der  dogmatische  Streit  währte  fort  und 
hielt  die  Gemüther  in  Bewegung.  Die  Beschuldigung  der  Eusebianer,  die- 
selbe, worauf  auch  Arius  sich  gegründet,  dass  die  Annahme  der  Wesens- 
einheit zum  SabelUanismus  führe,  schien  damals  eine  Art  von  Bestätigung 
zu   erhalten.    Einer   der   eifrigsten  Vertheidiger   des    nicänischen   Glaubens, 


1)  Nach  Hefele  1,  15  ist  dies  die  richtige  Zeitbestimmung,  nicht  aber  die  bisherige. 


Die  arianische  Streitigkeit.  Ö6Y 

der  in  Nicäa  nebst  Athanasius  das  meiste  für  Feststellung  der  Wesensein- 
heit gethan,  machte  sich  der  Läugnung  des  Unterschiedes  zwischen  den 
Personen  der  Trinität  verdächtig.  Es  war  Marc e Uns,  Bischof  von  Ancyra 
in  Galatien.  Schon  im  Jahre  336  hatten  sich  die  Eusebianer  gegen  ihn  erklärt, 
ihn  excommunicirt  und  abgesetzt.  Im  Abendlande  dagegen  fand  er  liebreiche  Auf- 
nahme und  wurde  vom  rinnischen  Bischof  so  wie  von  der  Synode  zu  Sardica  für 
rechtgläubig  erklärt.  Er  hatte  für  seine  Ansichten  Photinus,  Bischof  von 
Sirmium,  gewonnen,  der  weiter  gegangen  als  sein  Meister;  nachdem  mehrere 
abendländische  Synoden  seine  Lehre  verworfen,  entsetzte  ihn  die  erste  Sy- 
node von  Sirmium  351  seines  Amtes.  Dess  ungeachtet  sahen  die  Eusebianer 
die  Lehre  des  Photinus  nur  als  folgerichtige  Entwicklung  der  nicänischen 
Lehre  an  und  bearbeiteten  in  diesem  Sinne  den  Kaiser;  sie  fanden  um 
so  günstigeres  Gehör,  als  sie  sich  ziendich  kriechend  benahmen,  indess 
die  Nicäner  nothgedrungen  eine  Kampfstellung  annahmen.  Diesen  traten 
auch  politische  Verhältnisse  hindernd  entgegen.  Constans  starb  350.  Nach- 
dem der  Usurpator  Magnentius,  der  Constantius  das  Abendland  streitig 
gemacht  hatte ,  353  besiegt,  worden ,  war  dieser  fortan  Beherrscher  des  gan- 
zen römischen  Reiches. 

Da  nahm  er  den  Plan  wieder  auf,  den  Eusebianismus  im  ganzen  Reiche 
zur  Herrschaft  zu  bringen,  —  dazu  angetrieben  durch  eusebianische  Geist- 
liche, besonders  durch  Ursacius,  Bischof  von  Singidunum  in  Moesien  und 
Valens,  Bischof  von  Mursa  im  Pontus,  niederträchtige  Menschen,  welche 
den  Kaiser  vorwärts  trieben  und  zugleich  seinen  Befehlen  blindlings  gehorch- 
ten ^).  Ehe  er  es  unternahm,  Athanasius  von  seinem  bischötiichen  Sitze  zu 
vertreiben,  suchte  er  die  abendländische  Kirche  dahin  zu  bringen,  dass  sie 
ihn  als  der  bischötiichen  Würde  verlustig  erklärte,  mithin  die  Beschlüsse 
von  Sardica  aufhcibe.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  hauptsächhch  von  Ursacius 
und  Valens  neue,  grundlose  Beschuldigungen  gegen  ihn  vorgebracht:  er  habe 
den  seligen  Kaiser  Constans  aufgestiftet,  so  dass  er  seinen  Bruder  mit  Krieg 
bedrohte;  er  habe  mit  dem  Usurpator  Magnentius  Verbindung  gehabt.  Auf 
die  Bitten  des  römischen  liischofs  Liberius,  der  hoffte,  dass  eine  Versamm- 
lung von  Bischöfen  mehr  Muth  zeigen  würde,  als  die  Bischöfe  einzeln  ge- 
nommen, berief  der  Kaiser  nach  Arelate  (Arles)  in  GaUien  eine  neue  Kir- 
chenversamndung  im  Jahre  353.  Des  Liberius  wohlmeinende  Berechnung 
bewies  sich  aber  als  uniichtig.  Der  in  Person  anwesende  Kaiser  brachte 
durch  seine  Drohungen  die  Biscli(">fe  dahin,  dass  sie,  selbst  die  päbstlichen 
Gesandten,  die  Verurtheilung  des  Athanasius  unterschrieben,  mit  alleinigei 
Ausnahme  des  Bischofs  Paulinus  von  Trier,  der  nach  Phrygien  verwiesen 
wurde  und  daselbst  starb.  Liberius,  der  sehr  ungehalten  war  über  den 
Abfall  seiner  Gesandten,  forderte  durch  eine  eigene  Gesandtschaft  vom  Kai- 
ser Constantius  eine  neue  Kirchenversammlung.  Dieser  berief  sie  im  Jahre  355 
nach  Mailand.  Ungefähr  dreihundert  abendländische  Bischöfe  trafen  daselbst 
ein,   sehr   wenige   aus   dem  Morgenlande.     Bald  entspann  sich  ein  lebhafter 


1)  Sie    waren    früher    dem    nicänischen    Bekenntnisse   beigetreten    und   hatten   die 
gegen  Athanasius  vorgebracliten  Beschuldigungen  zurückgenommen,  Sokrates  2,  12. 


268  :2weite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Streit  zwischen  den  zwei  Parteien.  Die  einen  forderten  die  Beistimmung  zur 
Verurtheilung  des  Athanasius,  die  anderen  die  Unterschrift  des  nicänischen 
Bekenntnisses.  Die  meist  nicäniscli  gesinnten  Einwohner  von  Mailand 
geriethen  darüber  in  Unruhe;  man  fürchtete  einen  Tumult  in  der  Kirche, 
wo  die  Bischöfe  sich  versammelten.  Der  Sicherheit  wegen  wurde  die  Ver- 
sammlung in  den  kaiserlichen  Palast  verlegt.  Der  Kaiser  verlangte  von  deu 
Bischöfen  die  Zustimmung  zu  der  Absetzung  des  Athanasius;  wollten  sie 
nicht  einwilligen,  so  würden  sie  in  die  Verbannung  geschickt  werden.  Sie 
hoben  die  Hände  gegen  den  Himmel  empor  und  baten  den  Kaiser,  die 
kirchlichen  Verhältnisse  nicht  zu  zerrütten,  die  welthche  römische  Gewalt 
und  die  geistliche  Verwaltung  nicht  unter  einander  zu  vermengen.  Ihre  Bitten 
waren  vergeblich,  die  meisten  Bischöfe  gaben  zuletzt  nach  und  unterschrie- 
ben die  Verurtheilung  des  Athanasius;  sie  thaten  es  in  dem  Sinne,  dass 
dadurch  die  einzige  Bedingung,  unter  welcher  die  Herstellung  des  Friedens 
möglich  war,  erfüllt  wurde,  und  trösteten  sich  damit,  dass  die  Verurtheilung 
nicht  die  Lehre,  sondern  nur  die  Person  des  Mannes  betraf.  Die  weni- 
gen, welche  ihre  Unterschrift  verweigerten,  mussten  ins  Exil  wandeni;  es 
befanden  sich  darunter  die  ausgezeichnetsten  Geistlichen  des  Abendlandes. 
Lucifer,  Bischof  von  Cagliari  auf  der  Insel  Sardinien,  der  sich  in  den  vor- 
ausgehenden Verhandlungen  zwar  durch  unerschrockene  Freimüthigkeit,  aber 
auch  durch  Unehrerbietigkeit  ausgezeichnet  hatte,  kam  nach  Germanicia  in 
Syrien,  Eusebius  von  Vercelli  nach  Scythopolis,  Dionysius  von  Mailand  nach 
Kappadocien.  Seine  Stelle  erhielt  Auxentius,  der  kein  Wort  lateinisch  ver- 
stand. Liberius  von  Eom,  welcher  der  Synode  niclit  beigewohnt  hatte,  er- 
hielt die  Aufforderung,  sich  den  Beschlüssen  derselben  zu  unterwerfen.  Auf 
seine  Weigerung  wurde  er  gefangen  genommen,  und  zuerst  nach  Macedonien, 
darauf  nach  Syrien  verbannt.  Der  an  das  kaiserliche  Hoflager  berufene, 
beinahe  hundertjährige  Bischof  Hosius  von  Corduba  verweigerte  seine  Unter- 
schrift und  durfte  dennoch  in  sein  Bisthum  zurückkehren.  Briefe  und  Ge- 
sandte sollten  ihn  umstimmen.  Bei  diesem  Anlasse  schrieb  er  an  den  Kaiser 
einen  Brief  solchen  Inhalts,  dass  nur  zu  beklagen  ist,  dass  er  demselben  gegen 
Ende  seines  Lebens  nicht  getreu  geblieben.  Er  wurde  damals  nach  Sirmium 
verbannt.  Hilarius  von  Poitiers,  durch  Tiefsinn,  Gelehrsamkeit  so  wie 
durch  festen  Charakter  gleicherweise  ausgezeichnet,  sprach  sich  gegen  Con- 
stantius  ebenfalls  mit  aller  Freimüthigkeit  aus  und  erklärte  sich  insbesondere  I 
gegen  erzwungenen  Gehorsam,  gegen  abgenöthigte  Glaubensbekenntnisse.  ! 
Angeklagt,  dass  er  sich  seines  Ansehens  bediene,  um  Aufruhr  anzustiften,  | 
wurde  er  nach  Phrygien  verwiesen,  wo  er  sein  Werk  über  die  Dreieinigkeit  \ 
schrieb.  Noch  andere  Bischöfe  wurden  veitrieben ,  Bischof  Paulus  von  Con- 
stantinopel  sogar  erwürgt,  der  nicänisch  gesinnte  Theil  seiner  Gemeinde 
durch  Martern  zum  Abfalle  vom  Glauben  gezwungen;  dasselbe  gescliah  an 
anderen  Orten. 

Doch  das  Alles  war  ungenügend,  so  lange  Athanasius  in  Alexandrien 
verweilte.  Während  dem  von  allen  Seiten  die  Gewitterwolken  sicli  um  ihn 
sammelten,  betrieb  er  mit  rastlosem  Eifer  die  geistliche  Sorge  für  sein  Bis- 
thum. Er  war  beschäftigt  mit  der  Besetzung  der  Bisthums  von  Hermopolis; 
dem  neuerwählten  Bischof  Drakontius,  der  sich  in  Betracht  der  gefahrvollen 


Die  arianisclie  Streitigkeit.  269 

Zeitumstände  weigerte,  die  Wahl  anzunehmen,  sprach  er  Muth  ein:  ;,es 
geziemt  dir  nicht  zu  fliehen,  jetzt  ist  die  Zeit,  deinen  Eifer  für  Christum 
zu  zeigen.^  Bald  hatte  er  Anlass,  mit  seinem  Beispiele  dem  Manne  voran- 
zugehen. Kaiserhche  Bevollmächtigte  stellten  sich  in  Alexandrien  ein,  sie 
befahlen  dem  commandirenden  General,  seine  Pflicht  zu  thun,  worauf  dieser 
dem  Athanasius  befahl,  die  Stadt  zu  verlassen.  Er  versprach,  dem  Befehle 
Folge  zu  leisten,  sobald  man  ihm  den  kaiserlichen  Befehl  eingehändigt  ha- 
ben würde;  denn  er  wollte  sich  darauf  berufen  können.  Es  wiu^de  sein 
Begehren  nicht  erfüllt,  aber  Gemeinde  und  Klerus  legten  Fürbitte  für  ihren 
Bischof  ein ;  und  so  wurde  damals  der  Sturm  beschwichtigt.  Aber  schon 
nach  zwanzig  Tagen  brach  er  los.  Während  eines  Nachtgottesdienstes,  da 
die  Kirche  gedrängt  voll  war,  wurde  sie  von  fünftausend  Mann  umstellt,  die 
eingednmgenen  Krieger  näherten  sich  dem  Hintergrunde  der  Kirche,  wo 
Athanasius  auf  seinem  bischöflichen  Thron  sass  und  den  Gottesdienst  leitete. 
Endlich  musste  er  die  Kirche  verlassen,  um  nicht  in  die  Hände  der  Solda- 
teska zu  fallen.  Er  floh  zuletzt  bis  nach  Aethiopien.  In  seiner  Verbannung 
schrieb  er  eine  Apologie,  worin  er  die  gegen  ihn  erhobenen  Beschuldigungen 
widerlegte.  An  seine  Stelle  kam  Georgius  —  und  so  wurden  auch  an  vielen 
anderen  Orten  die  nicänisch  gesinnten  Bischöfe  durch  eusebianische  ersetzt. 
Ueberall  Unordnung,  Aergerniss,  auch  grausame  Behandlung  der  nicänisch 
Gesinnten. 

So  hatten  die  Gegner  des  nicänischen  Bekenntnisses  die  Oberhand  ge- 
wonnen. Aber  ihr  Sieg  gab  auch  das  Zeichen  zum  Anfange  ihrer  Nieder- 
lage. So  wie  sie  die  gemeinsame  Opposition  gegen  das  nicänische  Bekennt- 
niss  nicht  mehr  zusammenhielt,  traten  ihre  inneren  Diflerenzen  mehr  hervor. 
Es  zeigte  sich  eine  kleine  Partei  der  strengen  Arianer,  deren  Häupter 
Aetius,  eine  Zeitlang  Arzt  in  Antiochien,  darauf  Diakonus  daselbst  und  in 
Alexandrien,  Acacius,  Bischof  von  Cäsarea  in  Palästina,  ein  Mann  von 
schwankender  Ueberzeugung ,  und  Eunomins,  eine  Zeitlang  Bischof  von 
Cyzicum,  zum  Theil  noch  über  Arius  hinaus  gingen,  Anomoeer  genannt,  weil 
sie  lehrten,  der  Sohn  sei  dem  Vater  dem  Wesen  nach  unähnhch,  auch  Exuk- 
ontier,  weil  sie  mit  Arius  lehrten,  der  Sohn  sei  e^  dvx  ovtcov  geschaffen 
worden.  Ihnen  stand  entgegen  die  andere  antinicänische  Partei,  die  grosse 
Mehrzahl  der  Antinicäner,  Homoeusiasten  genannt,  öfjioiovcnaa^ai,  weil 
sie  lehrten,  der  Sohn  sei  dem  Vater  ähnlich  dem  Wesen  nach  (xat'  ovciav), 
Semiarianer,  auch  Macedonianer  genannt.  An  ihrer  Spitze  standen  Ba- 
silius,  Bischof  von  Ancyra  in  Galatien,  und  Georgius,  Bischof  von  Lao- 
dicea  in  Phrygien;  zu  ihnen  hielt  Kaiser  Constantius. 

Eine  Partei  am  Hofe  wirkte  ihnen  entgegen,  an  deren  Spitze  die 
Bischöfe  Ursacius  und  Valens  standen.  Sie  stellten  einen  Kunstgriff  an,  um 
die  Differenz  zwischen  den  Anomoeern  und  den  Semiarianern  zu  verdecken. 
Sie  stellten  nämlich  dem  Kaiser  vor,  alle  die  leidigen  Streitigkeiten  seien 
durch  das  Wort  ovffia  veranlasst  worden.  Werde  dieses  Wort  beseitigt,  so 
werde  der  Friede  in  die  Kirche  zurückkehren.  Das  Wort  ovcm  komme 
übrigens  in  der  Schrift  gar  nicht  vor;  ohnedem  überstiegen  die  Bestimmungen 
über  das,  was  zum  Wesen  Gottes  gehöre,  die  menschhche  Erkenntniss.  Auf 
der  zweiten  Synode  von  Sirmium,  357,  wurde  ein  in  diesem  Sinne  abgefasstes 


270  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismua. 

Glaubenbekenntniss  augenomiiien.  Der  ehrwürdige  Ilosius  Hess  sich  zur  Un- 
terschrift desselben  bewegen ,  ebenso  Bischof  Liberias  von  Rom ,  der  sogar 
in  einem  Schreiben  an  Bischof  Valens  seine  Zustimmung  zur  Verurtheilung 
des  Athanasius  bezeugte. 

Dagegen  regte  sich  nun  die  semiarianische  Partei.  Basilius  versam- 
melte 358  eine  Synode  in  Ancyra,  welche  den  semiarianischen  Lehrbegriti 
in  einem  weitläufigen  Synodalschreiben  festsetzte  (Ei)ii)hanius  haereses  73, 
§.  2  — 11),  die  Formel  der  zweiten  sirmischen  Synode  verwarf  und  dagegen 
die  Formel  der  ersten  sirmischen  Synode  aufstellte.  Seitdem  kam  der  Name 
Semiarianer  für  sie  auf,  die  Benennung  Homoeusiasten ,  ö^oiovtriaatai, 
bildet  den  Gegensatz  gegen  die  Benennung  der  Nicäner,  fhmiousiasten, 
6fjioov(Tia(Ttat.  Als  Constantius  V(m  diesen  neuen  Bewegungen  hörte,  be- 
schäftigte er  sich  aufs  neue  angelegentlichst  damit,  es  wurde  ihm  klar,  dass 
die  zweite  Synode  von  Sirmium  die  Anomoeer  begünstige;  daher  liess  er  so- 
gleich in  Sirmium  selbst ,  seinem  derzeitigen  Aufenthaltsorte,  eine  Synode,  di(^ 
dritte  Synode  von  Sii'mium  358  halten,  welche  über  die  Formel  der  zweiten 
Synode  von  Sirmium  hinausgieng  und  die  Aehnlichkeit  des  Sohnes  mit  dem 
Vater  xata  navta  aufstellte,  somit  sich  der  WesensähnUchkeit  näherte,  da 
man  mit  dem  navxoL  auch  die  ovaia  sich  denken  konnte.  Doch  schloss 
dieselbe  Synode  den  Ausdruck  ovtJia  als  nicht  in  der  Schrift  enthalten 
förndich  aus.  Um  Alles  in  Ordnung  zu  })ringen,  beschloss  der  Kaiser  die 
Berufung  einer  neuen  ökumenischen  Versamndung.  Da  aber  die  arianisiren- 
den  Bischöfe  eine  solche  zu  fürchten  hatten,  so  wirkten  Ursacius  und  Valens 
dagegen.  Sie  brachten  es  dahin,  dass  die  Orientalen  in  Seleucia  in  Isau- 
rien,  die  Occidentalen  in  Ariminum,  dem  heutigen  Rimini,  sich  versannneln 
sollten.  Sodann  unterhandelten  sie  mit  den  Häuptern  der  semiarianischen 
Partei,  die  am  Hofe  von  Sirmium  anwesend  waren  über  eine  den  beiden 
Concihen  vorzulegende  Formel;  man  vereinigte  sich  durch  gegenseitige  Con- 
cessionen  zu  dem  Bekenntniss,  der  Sohn  sei  in  allen  Dingen  dem 
Vater  ähnlich,  wie  die  heilige  Schrift  lehre.  Man  beredete  den 
Kaiser,  eine  solche  Formel  werde  beide  Parteien  zufrieden  stellen.  Mit  vie- 
len Anstrengungen  gelaug  es,  die  meisten  der  auf  beiden  Concilien  anwe- 
senden Bischöfe  zur  Annahme  der  genannten  Fonnel  zu  bewegen  359,  sie 
wurde  durch  ein  Concil  von  Constantinopel  360  bestätigt.  Nun  aber  gab  es 
neuen  Unfrieden,  indem  viele,  welche  unterschrieben  hatten,  von  ihrer  eige- 
nen Partei  als  Verräther  der  reinen  Lehre  verschrieen  wurden.  In  der  That 
war  nicht  nur  der  Homousianisnuis ,  sondern  auch  der  Homoeusianismus  be- 
seitigt und  die  vielen  ])isherigen  Streitigkeiten  schienen  in  das  kläglichste 
Resultat  hinauszulaufen. 

Da  starb  Constantius  361.  Er  liess  Alles  in  grossei'  Verwirrung,  wozu 
Ammianus  Marcelhnus  den  Vorwurf  hinzufügt,  dass  er  das  Postwesen  (res 
vehicularia)  des  Reiches  durch  die  vielen  Reisen  der  Bischöfe,  die  auf 
Staatskosten  geschahen,  fast  zu  Grunde  gerichtet  habe.  Julian  liess  alle 
Parteien  frei  gewähren  und  die  vertriebenen  Bischöfe  zurückkehren  (nur 
Athanasius  nicht).  Auch  Jovian  übte  Duldung ,  ebenso  -seine  Nachfolger  im 
Abendlande,  Valentinian  L,  Gratian  und  Valentinian  H.,  Valens  dagegen, 
Kaiser  des  Orients,  war  eifriger  Arianer  und  verfolgte  Nicäner  und  Semiaria- 


Die  arianische  Streitigkeit  und  ihre  Verzweigungen.  271 

ner.  Unter  diesen  Umständen  erwarb  der  nicänische  Glaube  im  Orient  mehr 
und  mehr  Anhänger.  Der  strenge  Arianismus  unter  Valens  führte  sie ,  na- 
menthch  aus  den  Reihen  der  semiarianischen,  jenem  zu.  Die  Mönche,  von 
Athanasius  begünstigt,  wirkten  auch  in  diesem  Sinne.  Mehrere  kleinasia- 
tische Synoden  erklärten  sich  für  das  nicänische  Bekenntniss.  Eine  Gesandt- 
schaft derselben  reiste  im  Jahre  368  nach  Rom,  um  ihren  Beitritt  zu  erklären. 
Die  Nicäner,  namentlich  Athanasius  sahen  sie  schon  längst  als  Geistesge- 
nossen an,  von  denen  sie  nur  durch  einen  Wortstreit  getrennt  seien.  Es 
gab  im  Grunde  jetzt  nur  noch  zwei  Parteien,  die  Homousiasten ,  nicänisch 
und  athanasianisch ,  und  die  strengen  Arianer,  zu  denen  die  arianisirenden 
Eusebianer,  d.  h.  dieHomoeer  übergingen.  Jene  Partei  war  zwar  heftig  ver- 
folgt von  Kaiser  Valens;  aber  ihre  theologische  Ueberlegenheit  that  sich  mehr 
und  mehr  kund,  seitdem  die  grossen  kappadocischen  Kirchenlehrer  Basilius 
der  Grosse,  Gregor  von  Nazianz  und  Gregor  von  Nyssa  für  das  ni- 
cänische Bekenntniss  eintraten,  während  im  Abeudlande  die  Kaiser  \lasselbe 
schützten.  Unter  diesen  Umständen  durfte  sogar  Athanasius  nach  Alexan- 
drien  zurückkehren.  So  gross  war  die  Achtung  der  dortigen  Gemeinde  gegen 
ihn,  dass  Valens  bei  längerer  Verbanimng  desselben  einen  Aufruhr  befürch- 
tete.   Der  viel  geprüfte  Mann  durfte  von  jetzt  an  Ruhe  geniessen  (f  373). 

Zu  den  bisherigen  Streitfragen  kam  eine  neue  hinzu,  betreffend  das 
Verhältiiiss  des  heiligen  Geistes  zum  Sohne  und  zum  Vater.  Viele  Nicäner, 
Arianer  und  Semiarianer  stinnnten  anfangs  darin  überein,  dass  der  heilige 
(ieist  ein  Geschöpf  und  Diener  Gottes  sei.  Man  berief  sich  auf  Job.  1,  3. 
1  Kor.  8,  6.  Athanasius  war  es,  der  diese  Lehre  zu  bekämpfen  anfing  in 
der  vierten  Epistel  an  Serapion  (358  —  360),  darauf  Gregor  von  Nazianz  und 
Basilius  Magnus.  Die  jener  Ansicht  anhingen ,  wurden  nveviiatoiiaxoi  ge- 
nannt, auch  Macedonianer,  v(m  Macedonius,  dem  sendarianisch  gesinnten 
Bischof  von  Constantin()i)el  f  c.  360.  Später  wurden  die  Ausdrücke  Macedo- 
nianer und  Semiarianer  synonym.  Zuletzt  nändich  war  es  nur  noch  die 
Lehre  vom  Geiste,  welche  die  Semiarianer  von  den  Nicänern  trennte.  Die 
Benennung  Semiarianer  hatte  in  anderer  Beziehung  ihre  Bedeutung  verloren. 
Seit  362  fing  Apollinarius,  Bischof  von  Laodicea,  der  jüngere,  Sohn 
des  Presbyters  Apollinarius  aus  Laodicea,  ein  eifriger  Vertheidiger  des  nicä- 
nischen  Bekenntnisses  und  fruchtbarer  Schriftsteller,  die  trinitarischen  Resul- 
tate christologisch  zu  verarbeiten  an,  indem  er  die  Ansicht  aufstellte  und  zu 
begründen  suchte,  dass  in  Christo  der  vovq,  das  nvtv^a  die  Stelle  der  ver- 
nünftigen Seele  vertreten  habe.  Er  trat  375  aus  der  Gemeinschaft  mit  der 
katholischen  Kirche  und  fing  an,  eine  eigene  Sekte  zu  bilden.  Mit  ihm, 
der  31)0  starb,  begann  der  christologische  Streit,  wovon  später  die  Rede 
sein  wird. 

So  standen  die  Dinge,  als  Theodosius  zur  Regierung  gelangte  379. 
Selbst  nicänisch  gesinnt  erfuhr  er  von  dem  nicänisch  gesinnten  Bischöfe  Acho- 
tius  von  Thessalonich,  der  ihm  damals  die  Taufe  ertheilte,  dass  im  Abend- 
lande das  nicänische  Bekenntniss,  im  Morgeidande  das  arianische  oder  aria- 
nisirende  bei  der  Mehrzahl  der  Gläubigen  die  Oberhand  habe.  Noch  in 
Thessalonich  erliess  er  380   ein  Edict,   wodurch   der  nicänische  Glaube  zum 


272  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Gesetz  erhoben  und  die  davon  Abweichenden  niit  Strafen  bedroht  wurden. 
Indessen  wurden  diese  Strafen  nicht  sogleich  vollzogen,  worüber  ihm  Gregor 
von  Nazianz  Lob  ertheilte;  und  das  sei  das  Rechte,  nicht  zu  zwingen,  son- 
dern zu  überzeugen.  Am  Tage  vor  Weihnachten  380  kam  Theodosius  ui 
Constantinopel  an  und  Hess  sogleich  dem  Bischof  Demophilus,  dem  Haupte 
der  Arianer,  die  Frage  vorlegen,  entweder  das  nicänische  Bekenntniss  anzu- 
nehmen oder  die  Kirchen  der  Hauptstadt  zu  räumen.  Demoi)hilus  benahm 
sich  in  dieser  Angelegenheit  besser  als  manche  Orthodoxe  in  ähnlichen  Fällen. 
Er  versammelte  die  Gemeinde  und  kündigte  ihr  an,  mit  Beziehung  auf  das 
Wort  des  Herrn:  wenn  sie  euch  in  einer  Stadt  verfolgen,  so  fliehet  in  eine 
andere,  dass  die  Gemeinde  sich  fortan  ausserhalb  der  Stadt  versammeln 
werde.  Ihre  Sache  gaben  jedoch  die  Arianer  noch  nicht  auf.  Sie  suchten 
durch  Männer  aus  der  Umgebung  des  Kaisers  auf  ihn  einzuwirken.  Schon 
war  dieser  geneigt,  sich  mit  Eunomins,  der  sich  in  Chalcedon  aufliielt,  in  eine 
Unterhaltung  einzulassen,  allein  die  orthodoxen  Bischöfe  in  des  Kaisers 
Umgebung  verhinderten  es.  —  An  der  Spitze  der  kleinen  nicänisch- ge- 
sinnten Gemeinde  stand  Gregor  von  Nazianz  (seit  379).  Er  sollte  nun  auf 
kaiserlichen  Befehl  aus  der  kleinen  Kirche  Anastasia  r)ffentlich  und  feierlich  in 
die  Kirche  der  Apostel,  damals  die  Ilaui)tkirche  der  Stadt,  eingeführt  wer- 
den. Es  geschah  unter  grossem  Zulauf  der  arianisch  gesinnten  Bevölkerung ; 
der  Sicherheit  wegen  war  die  Apostelkirche  militärisch  besetzt.  Der  Kaiser 
selbst  führte  den  Zug,  ihm  zur  Seite  Greg(u-,  von  Krankheit  heimgesucht, 
mühsam  sich  fortschleppend,  beide  von  Bewaffneten  umgeben.  Fortan  war 
das  nicänische  Bekenntniss  das  herrschende.  In  der  Freude  über  den  erhal- 
tenen Sieg  hatten  die  Versammelten  nur  noch  einen  Wunsch,  den  sie  bald 
mit  lautem  Getümmel  zu  erkennen  gaben,  dass  der  Kaiser  ihnen  Gregor 
zum  wirklichen  Bischof  gebe.  Dieser  aber  konnte  sich  nicht  entschliessen, 
das  Bisthum  anzunehmen. 

Theodosius,  um  die  allgemeinen  Angelegenheiten  der  Kirche  vollends 
in  das  rechte  Geleise  zu  bringen  und  auch  über  das  Bisthum  seiner  Haupt- 
stadt feste  Anordnungen  zu  treffen,  berief  auf  das  Frühjahr  381  eine  Kirchen- 
versammlung nach  Constantinopel,  die  als  die  zweite  ökumenische  Synode 
angesehen  wurde,  obschon  die  Zahl  der  berufenen  Bischöfe  eine  verhältuiss* 
massig  geringe  war.  Der  Kaiser  Hess  nänüich  die  Einladung  nur  an 
solche  ergehen,  von  denen  er  im  Voraus  wusste,  dass  sie  sich  zum  nicä- 
nischen  Glauben  (ofioovciog  ntcrtig)  bekennen  würden.  Es  stellten  sich  hun- 
dertundfünfzig ein,  daher  diese  Synode  auch  die  Synode  der  hundertund- 
fünfzig genannt  wurde;  es  befanden  sich  darunter  die  ausgezeichnetsten 
Männer  der  morgenländischen  Kirche,  ^Meletius  von  Antiochien,  Gregor  von 
Nyssa,  Amphilochius  von  Ikonium,  Diodor  von  Tarsus,  Cyrill  von  Jerusalem. 
Es  wurden  auch  die  Macedonianer  eingeladen,  sechsunddreissig  derselben 
erschienen.  Man  bot  vergeblich  Alles  auf,  um  sie  zur  Annahme  des  nicä- 
nischen  Bekenntnisses  zu  bewegen,  worauf  sie  sich  wieder  entfernten.  Von 
abendländischen  Bischöfen  erschien  keiner,  wie  denn  die  Synode  ohne 
alle  Intervention  des  römischen  Bischofs  berufen  worden;  es  waren  auch 
keine   Abgesandte    desselben   anwesend,    die    an    den   Verhandlungen  Theil 


Pie  arianische  Lehre.  273 

G^enommen  hätten  i).  Meletius  war  eine  Zeit  lang  Vorsteher  der  Synode, 
Meletius,  der  im  Abendlande  kaum  als  Bischof  anerkannt  war.  Nach  dem  Tode 
desselben  führte  Gregor  von  Nazianz  auf  kurze  Zeit  das  Präsidium  der  Synode. 
Eine  der  ersten  Handhmgen  der  Versammlung  war  die  Wahl  Gregors  zum 
i^ischof  von  Constantinopel.  Er  hatte  aber  kaum  einigen  seiner  bischöflichen 
Pflichten  obgelegen,  als  er  um  seine  Entlassung  bat.  Er  starb  389  oder  390. 
Darauf  begannen  die  dogmatischen  Verhandlungen.  Im  Symbol,  das 
die  Synode  aufstellte  (stjmbolum  Nicaeno-Constantinopolitanum) ,  wurden  die 
älteren  Bestinnnungen  von  Nicäa  beibehalten,  nur  nicht  in  derselben  Aus- 
führlichkeit. Dagegen  wurde  ein  neuer  Passus,  betreff'end  den  heihgen  Geist, 
aufgenommen.  Er  wird  genannt  lo  xvqiov  nach  2  Kor.  3,  17,  der  lebendig- 
machende nach  Joh.  6,  63,  der  vom  Vater  ausgehende  nach  Job.  15,  26. 
Der  Ausdruck  ofioovtriog  wurde  vom  heihgen  Geiste  nicht  gebraucht,  weil 
diese  Lehre  noch  viele  Gegner  hatte.  Es  kam  hinzu  eine  Verdammung  der 
entgegenstehenden  Häresieen  der  Eunomianer,  Arianer,  Semiarianer  oder 
Pneumatomachen.  Sabellianer,  Marcellianer,  Photinianer  und  ApoUinaristen. 
Der  Kaiser  bestätigte  diese  Beschlüsse  und  gab  nun  mehrere  Gesetze  gegen 
die  kirchlich  verdanunten  Häretiker.  So  war  denn  die  Triuitätslehre  in  ihren 
Grundzügen  kirchlich  abgeschlossen,  durch  kirchliche  und  weltliche  Autorität 
zum  Siege  gebracht,  zunächst  was  das  Morgenland  betrifft.  Im  Abendlande  liess 
Valentinian  IIL  auf  Zureden  seiner  arianisch  gesinnten  Mutter  Justina  die 
Arianer  noch  eine  Zeitlang  gewähren.  Doch  durch  Theodosius  umgestimmt, 
verfolgte  auch  er  die  Arianer.  Die  letzten  Spuren  dieser  Lehre  unter  den 
Völkern,  die  zum  römischen  Reiche  gehörten,  zeigte  sich  in  Constantinopel 
unter  dem  Kaiser  Anasta^ius  (491 — 51 8 j.  Unter  den  germanischen  Völkern 
setzte  der  Arianisnms  noch  eine  geraume  Zeit  sein  Leben  fort. 


Nähere  Betrachtung  der  dogmatischen  Momente  der 
arianischen  Streitigkeit. 

1)  Die  arianische  Lehre 2). 

Arius  ging  aus  vom  Gegensatz  gegen  Sabellius  und  behauptete  bis  an 
sein  Ende,  dass  die  gegnerische  Lehre  uothweudig  in  Sabellianismus  auslaufe.. 
Er  lehnte  sich  in  einigen  Stücken  an  Origenes  au,  doch  so,  dass  er,  nur  eine 
Seite  der  Lehre  desselben  hervorhebend,  sie  entstellte.  Er  trug  seine  Lehre 
nicht  sogleich  ganz  entwickelt  vor,  indem  er  sich  anfangs  scheute,  sie  in  alle 
ihre  Consequenzen  zu  verfolgen.    So  nannte  er  im  Anfange  den  Logos  sogar 


1)  Katholische  Schriftsteller  haben  behauptet,  dass  der  römische  Bischof  Damasus 
die  Synode  berufen  habe  und  dass  er  durch  seine  Stellvertreter  anwesend  gewesen  sei. 
Hefele  2,  3.  4  zeigt  die  Unrichtigkeit  dieser  Annahme. 

2)  Quellen:  1)  die  Epistel  des  Arius  an  Euseb  von  Nikomedien  bei  Epiphanius; 
haeresis  69,  Theodoret.  bist,  eccles.  1,  4.  —  2)  die  Epistel  des  Arius  an  Bischof  Alexan- 
der von  Alexandrien,  bei  Epiphanius  69,  bei  Athanasius  über  die  Synoden  von  Ariminum 
und  Seleucia.  —  3)  die  SaXfia,  wovon  Fragmente  be^  Athanasius  in  den  Reden  gegen 
die  Arianer. 

Herzog,  Klrchengescbichte  I.  18 


274  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

unveränderlich  und  unwandelbar  i).  —  An  die  Spitze  seiner  Lehre  setzt  er, 
gleich  wie  Sabellius,  den  er  sonst  bekämpft,  Gott  als  die  absolute  Causalität, 
so  dass  das  ayappfjtop  allein  verdient,  im  vollen  Sinne  Gott  genannt  zu 
werden.  Von  da  gelangt  er  zum  Begriff  der  Weltschöpfung,  die  er  durchaus 
als  Akt  der  göttlichen  Freiheit  auffasst,  als  in  keinerlei  Weise  aus  Gott  ausge- 
flossen. Die  Schöpfung  aber  kann  die  unmittelbare  Thätigkeit  Gottes  nicht 
ertragen,  denn  Gott  an  sich  kann  in  keine  unmittelbare  Berührung  mit  dem 
Endlichen  kommen;  es  geziemt  sich  auch  für  seine  Würde  nicht.  Da  er  die 
Welt  schaffen  wollte,  schuf  er  einen  gewissen  (iva  ttva.  Oratio  1,  5),  um 
uns  durch  ihn  zu  erschaffen.  Der  Sohn  ist  der  Künstler,  der  vom  Vater  das 
Schaffen  gelernt  hat.  Insofern  ist  des  Arius  Lehre  über  den  modernen  Ra- 
tionalismus weit  erhaben.  Da  die  Welt  durch  den  Sohn  erschaffen  wurde 
und  seine  Thätigkeit  musste  ertragen  können,  um  von  ihm  erschaffen  zu 
werden,  so  ist  er  nicht  aus  dem  Wesen  des  Vaters,  nicht  wahrer  Gott ;  sonst 
hätte  er  sich  nicht  in  unmittelbare  Verbindung  mit  der  Welt  setzen  könnet. 
Er  ist  daher  mit  allen  Geschöpfen  seiner  Natur  nach  identisch,  selbst  ein 
Geschöpf,  (xtiffig,  noiri^a}.  Sein  Vorzug  vor  den  übrigen  Geschöpfen  be- 
stand darin,  dass  diese  durch  ihn  geschaffen  wurden.  Da  er  nun  nicht  aus 
dem  Wesen  Gottes  noch  aus  einer  vorhandenen  Materie  ist,  weil  diese  ersl, 
durch  ihn  geschaffen  worden,  so  ist  er  aus  nichts  (c?  ovx  ovxtov  vnectri. 
Gr.  1,  9);  er  ist  nicht  von  Ewigkeit;  es  gab  eine  Zeit,  wo  er  nicht  war  {riv 
Tiote  ote  ovx  riv.  Gr.  1,  5);  denn  nur  dem  wahren  Gotte  kommt  Ewigkeit 
zu.  Nicht  wahrer  Gott,  ist  er  seiner  Natur  nach  beschränkt  (Gr.  1,  6);  er 
kennt  Gott  nicht  genau  (axQißcog);  er  kennt  sein  eigenes  Wesen  nicht.  Er 
wird  blos  dem  Namen  nach  (ovo^au)  Logos  und  Weisheit  genannt,  aus 
Gnaden  ixaqiti)  Gott;  er  ist  Gottes  Adoptivsohn.  Weil  er  nicht  aus  dem 
Wesen  des  Vaters  ist,  ist  er  seiner  Natur  nach  veränderlich  {tqenxog  xai 
aXXoicoTog  tfjv  (pvaiv),  als  solcher  seinem  Wesen  nach  Gott  fremde,  {akXo- 
tQiog,  ^evog).  Durch  seinen  freien  Willen  (avte^ovffiov)  bleibt  er  gut,  so 
lauge  er  will.  Da  aber  Gott  vorher  wusste,  dass  er  gut  sein  und  bleiben 
würde,  gab  er  ihm  auticipireud  die  Herrlichkeit,  die  er  als  Mensch  wegen 
seiner  Tugend  nachher  hatte.  Seine  Herrlichkeit  ist  also  der  Lohn  seiner  Ver- 
dienste, sein  Wandel  unter  den  Menschen  seine  Prüfungszeit.  Er  ist  durch  Theil- 
nahme  an  der  Gottheit  selbst  Gott  geworden  ({letoxfi  ^ccci^  avtog  ed^eo- 
noiri&ri). 

Arius  und  die  Seinen  suchten  diese  Lehre  aus  der  Schrift  zu  begi'ünden, 
und  darin  zeigt  sich  das  christologische  Moment  und  Interesse  derselben. 
Aus  Spruch  Wörter  8,  22  nach  der  LXX:  Er  schuf  mich  (die  Weisheit)  am 
Anfang  seiner  Wege  zu  seinen  Werken,  folgerten  sie,  dass  der  Sohn  einen 
Anfang  gehabt,  dass  er  geschaffen  worden;  aus  Kol.  1,  15  {nQtorotoxog 
7icjc(Tfjg  xTi(T€(og) ,  dass  er,  sofern  er  der  erste  der  Schöpfung  ist,  zur  Schöpfung 
gehört;  aus  Hbr.  1,  4,  xgenrcop  Ytro^ievog  tcov  ayysXcop,  dass,  weil  er  mit 
den  Engeln  verglichen  werde,  zwischen  ihm  und  den  Engeln  nur  ein  grad- 
weiser Unterschied  der  Vollkommenheit  statt  finde,  dass  der  Ausdruck  y^po- 
fispog  auf  ein  Geschöpf  hindeute;  aus  Psalm  44,  7,  dass  Christus  seine  Würde 


1)  so  in  der  Epistel  au  Bischof  Alexander. 


Das  nicänische  Symbol.  275 

in  Folge  seiner  Tugend  erhalten  habe;  dieses  folgerten  sie  hauptsächlich  aus 
Phil.  2,  6—11.  Sie  beriefen  sich  darauf,  dass  Christus  das  Prädicat  ,,gut^^ 
von  sich  ablehne,  da  er  sage:  Gott  allein  ist  gut,  dass  er  auf  die  AUwissen- 
lieit  verzichte  Marc.  13,  32,  auf  die  anerschaffene  Heiligkeit  Joh.  10,  36, 
auf  die  Allmacht,  denn  er  vertreibe  die  Teufel  nicht  durch  eigene  Kraft, 
sondern  durch  Gottes  Geist,  Matth.  12,  28;  seine  Auferstehung  sei  nicht 
sein,  sondern  des  Vaters  Werk,  1  Kor.  15,  28.  Er  nenne  ausdrücklich  den 
Vater  den  allein  wahren  Gott,  Joh.  17,  3.  Er  habe  zugenommen  an  Alter 
und  Weisheit,  Luc.  2,  52 ;  dieses  Zunehmen  bezog  sich  nicht  auf  seine  mensch- 
liche Natur,  sondern  auf  den  Logos,  der  in  ihm  die  Stelle  des  menschlichen 
Geistes  vertrat.  Ferner  fragten  sie:  wie  kann  derjenige,  der  sich  von  Gott 
verlassen  fühlt  (Matth.  27,  46)  mit  Gott  eins  sein?  Paulus  nennt  ihn  1  Kor. 
1,  24  aotpia  und  dwaniq  ^eov  ohne  Artikel,  mithin  nicht  absolute  Weisheit 
und  Kraft  Gottes.  Er  ist  eine  von  den  Weisheiten  und  Kräften,  die  Gott 
geschaften  hat,  —  wie  auch  die  Heuschrecken  (Joel  2,  25)  eine  grosse  Kraft 
Gottes  genannt  werden.  Die  Stellen,  worin  von  der  Einheit  des  Vaters  und  des 
Sohnes  die  Rede  ist,  bezogen  die  Arianer  auf  die  Willenseinheit,  Joh.  14,  10: 
ich  und  der  Vater  sind  eins.  Der  Sohn  ist  im  Vater,  gemäss  dem  Worte: 
in  ihm  leben,  weben  und  sind  wir,  Apostelgesch.  17,  28.  Jesus  sagt:  er  sei 
im  Vater  und  der  Vater  in  ihm,  weil  er  seine  Lehre  nicht  als  die  seinige 
betrachtete  —  nach  dem  Arianer  Asterius.  —  Durch  gewisse  Fragen  suchten 
die  Arianer  die  Leute  in  Verlegenheit  zu  bringen:  Er,  der  da  war,  hat  er 
den,  der  da  war,  oder  der  nicht  war,  geschaften  ?  Gibt  es  ein  oder  zwei 
ungeborne,  ungeschaffeue  Wesen?  Und  die  Weiber  fragten  sie:  hattest  du 
einen  Sohn,  bevor  du  ihn  geboren  hattest?  Es  ist  offenbar,  dass  Arius  und 
seine  Anhänger,  indem  sie  den  Sabellius  bekämpfen,  auf  ein  entgegengesetztes 
Extrem  gerathen  und  der  Schrift  zum  Theil  Gewalt  anthun.  Der  Logos 
Weltschöpfer  nach  arianischer  Lehre  erinnert  zum  Theil  an  den  gnostischen 
Demiurg.  Es  fehlt  der  wirklich  sich  offenbarende  und  sich  mittheilende  Gott, 
und  im  Christeuthum  ist  die  absolute  Religion  nicht  gegeben,  die  Versöhnung 
der  Menschheit  mit  Gott  nicht  vollzogen.  Auf  der  anderen  Seite  ergaben 
sich  aus  den  von  Arius  'angeführten  Bibelstellen,  betreffend  die  menschliche 
Natur  und  Knechtsgestalt  des  Erlösers,  Schwierigkeiten,  die  irgendwie  gelöst 
werden  raussten,  wenn  nicht  die  arianische  Lehre  oder  wenigstens  eine  sich 
ihr  sehr  annähernde  am  Ende  doch  die  Oberhand  erhalten  sollte. 

2)  Die  Synode  von  Nicäa  325  und  das  nicänische  Symbol. 

Es  kam  zunächst  darauf  an,  die  Gottheit  des  Sohnes  festzustellen.  Das 
geschah  in  Nicäa,  und  zwar  nur  in  der  allgemeinsten  Fassung,  denn  so  viele  da- 
mit in  Verbindung  stehende  Punkte  konnten  nicht  erläutert  werden.  Nach  eini- 
gen Verhandlungen  wurde  ein  Symbol  (rj  niatig,  to  fia^r}[ia  xmv  ev  Nixatcc) 
angenommen,  dem  das  morgenländische  Taufbekenntniss  zu  Grunde  lag,  wel- 
chem nun  die  Ausdrücke  betreffend  die  Gottheit  des  Sohnes  und  am  Schlüsse 
einige  Antithesen  beigefügt  wurden  ^).     Der  Arianer  Georgius   hatte   zuge- 


1)  Bei  Athanasius  de  decretis'^synodi  Nicaenae   (Thilo  I.  p.  84),   bei  Theodoret.  H- 
E.  1,  12,  bei  Hahn,  Bibliothek  der  Symbole,  S.  105.    Münscher-Coeln  I.  207. 

18* 


276  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismiis. 

geben,  der  Sohn  könne  ex  tov  &eov  seiend  genannt  werden,  wie  alles  aus 
Gott  ist ;  daher  die  Bestimmung  ex  trjg  ovffiag  tov  ^eov ;  diese  Bestimmung 
sollte  auch  den  Irrthum  ausschliessen,  dass  der  Sohn  ein  Theil  des  Vatei*s 
sei.  Der  Ausdruck  ofioovfTiog  war  schon  längst  von  den  Gnostikern  gebraucht, 
vielleicht  erfunden  worden,  in  dem  Sinne,  dass  mehrere  Einzelwesen  an  einer 
ovffta  gemeinsam  Theil  nehmen;  so  bei  den  Valentinianern  nach  Irenäus  1, 
5.  1.  —  Angewendet  auf  trinitarische  Verhältnisse  wurde  der  Ausdruck  zum 
ersten  Male  im  Schriften  Wechsel  zwischen  den  beiden  Dionyse,  dem  Bischof 
von  Alexandrien  und  dem  Bischof  von  Rom  <).  In  Nicäa  wurde  der  Ausdruck 
von  Bischof  Alexander  empfohlen,  von  Athanasius  vertheidigt,  um  das  festzu- 
stellen, dass  der  Sohn  seinem  göttlichen  Wesen  nach  keine  Aehnlichkeit  mit 
den  Geschöpfen  habe,  dass  er  allein  dem  Vater  in  allen  Dingen  öfiotog  sei, 
dass  er  aus  keiner  andern  ovcria  oder  vnoaxaaig  sei,  insofern  auch  ungleich- 
artige Dinge  einander  ähnlich  sein  können,  wie  Silber  und  Zinn.  Es  sollte 
gezeigt  werden,  dass  der  Sohn  eine  andre  Aehnlichkeit  habe  als  wir,  die  wir 
sie  dui'ch  Tugend  erlangen.  Die  Arianer  gaben  auch  die  Ewigkeit,  das  aei 
des  Sohnes  zu  nach  2  Kor.  4,  11  —  ,,denn  wir  werden  immerdar  (aei)  in  den 
Tod  gegeben.^  Sie  gaben  dem  Sohne  das  Prädicat  unveränderlich,  da  Paulus 
sagt  Rom.  8,  35:  nichts  trennt  uns  von  der  Liebe  Gottes,  wir  also  auch  un- 
veränderlich werden.  So  sollte  denn  die  wahre  Aehnlichkeit  des  Sohnes  mit 
dem  Vater,  seine  Ewigkeit  und  Unveränderlichkeit,  sein  Sein  in  Gott  durch 
den  Ausdruck  ofAoovcriog  festgestellt  werden.  Der  betreffende  Passus  im 
nicänischen  Symbol  lautet  so:  wir  glauben  ...  an  Einen  Herrn  Jesum  Chri- 
stum, den  Sohn  Gottes,  gezeugt  aus  dem  Vater  als  Eingebornen,  Gott  aus 
Gott,  Licht  aus  Licht,  wahren  Gott  vom  wahren  Gott,  gezeugt,  nicht  ge- 
schaffen, gleichen  Wesens  mit  dem  Vater,  ofioovaiop  tto  natgi,  durch  den 
Alles  geworden  u.  s.  w.  Diejenigen  aber,  die  da  sagen:  es  gab  einen  Mo- 
ment, wo  er  nicht  war,  und  ehe  er  gezeugt  w^orden,  war  er  nicht,  oder  die 
behaupten,  dass  er  aus  dem  Nichtseienden  (e?  ovx  ovttov)  geworden,  oder 
er  sei  geschaffen,  veränderlich  {xQeTctov)  oder  wandelbar  [aUomtov), 
belegt  die  Katholische  Kirche  mit  dem  Banne. 

3)  Der  Lehrbegriff  des  Athanasius. 

Der  Ausbruch  des  arianischen  Streites  fand  den  Diakon  Athanasius 
schon  gehörig  vorbereitet,  wie  die  zwei  von  ihm  fi'üher  herausgegebenen 
Schriften  es  beweisen,  der  Xoyog  xata  "EXkfjpojv  und  negi  €vav»QMnr](T€(og  tov 
loyov.  Er  scheint  aber  sich  mehr  dem  Sabellius  als  der  Theorie  von  der 
Subordination  zu  nähern.  Es  ist  ihm  mehr  um  die  volle  Gottheit  des  Sohnes, 
als  um  dessen  Unterscheidung  vom  Vater  zu  thun.  Währeiwl  des  Streites 
erhielten  seine  Ideen  eine  wesentliche  Fortbildung.  Die  Hauptcpielle  sind  die 
vier  Reden  gegen  die  Arianer,  die  nicht  gehalten  worden  sind;  daran  reihen 
sich  einige  andere  Schriften,  eine  kurze  Darlegung  des  Glaubens,  ex^Eüig 
m(Tt€(og,  eine  bald  nach  Schluss  der  nicänischen  Synode  geschriebene  Epistel 

1)  Marcellus  von  Ancyra,  von  Zahn  S,  12. 


Der  Lehrbegriif  des  Athanasius.  277 

Über  die  nicänischen  Decrete,  eine  andere  über  die  Lehre  des  Dionysius  von 
Alexandrien,  sodann  noch  vier  Episteln  gegen  Serapion. 

Athanasius  gibt  eine  Kritik  der  Grundanschauungen  des  aria- 
nischen  Lehrbegriffes.  Er  bezeichnet  ihn  im  Ganzen  als  eine  Neue- 
rung, worin  er  insofern  Recht  hat,  als  keiner  der  vornicänischeu  Väter  ge- 
lehrt hatte,  dass  der  Sohn  aus  nichts  hervorgegangen,  dass  er  anderen  We- 
sens sei  als  der  Vater.  Sodann  tadelt  Athanasius  den  Ausgangspunkt  des 
arianischen  Lehrbegriffes,  wonach  nicht  gefragt  wird,  wie  ist  Christus,  ob- 
gleich Gott,  Mensch  geworden?  sondern  wie  ist  er  Gott,  obgleich  Mensch? 
Er  meint,  weil  die  Arianer  von  der  Menschheit  ausgehen,  gelangen 
sie  nicht  bis  zur  Gottheit,  diese  könne  wohl  begriffen  werden  als 
Princip  ihrer  selbst  und  der  Menschheit,  diese  letzte  aber  weder  als  Prin- 
cip  ihrer  selbst  noch  als  Princip  der  Gottheit,  und  doch  ist  diess  gerade 
die  Ursache,  w^arum  es  den  Nicänern  so  schwer  wurde,  zum  vollen  Be- 
griff der  Menschheit  Christi  zu  gelangen.  Ferner  bekämpft  Athanasius  den 
Satz,  dass  die  Welt  Gottes  unmittelbares  Wirken  nicht  vertragen  kann.  Mit 
Recht  erwidert  Athanasius,  wenn  es  sich  so  verhält,  was  nützt  es,  einen  Sohn 
zu  setzen,  der  die  Welt  schaffen  und  doch  selbst  ein  Geschöpf  sein  soll? 
Kann  der  Sohn,  der  ein  Geschöpf  ist,  Gottes  Wirken  ertragen,  so  kann  es 
gewiss  auch  die  Welt.  Wenn  es  Gottes  nicht  unwürdig  ist,  selbst  um  die 
Haare  auf  unserm  Haupte,  um  die  Sperlinge  auf  dem  Dache  zu  wissen,  so 
war  es  seiner  auch  nicht  unwürdig,  uns  zu  erschaffen.  Kann  aber  die  Welt 
Gottes  unmittelbares  Wirken  nicht  vertragen,  so  kann  es  auch  der  Sohn 
nicht,  sondern  es  ist  für  ihn  ein  Mittler  nöthig,  für  diesen  wieder  einer  und 
so  fort ;  so  wird  kein  Geschöpf  existiren  können,  weil  es  immer  eines  Mittlers 
bedarf  und  jeder  Mittler  wieder  einen  Mittler  für  sich  selbst  erheischt.  — 
Soll  der  Sohn  uns  mit  Gott  in  Verbindung  bringen,  so  muss  er  selbst  Gegen- 
stand des  Glaubens  sein.  Nun  aber  kann  ein  Geschöpf  nicht  Gegenstand  des 
Glaubens  sein,  dessen  wesenthcher  Inhalt  das  Göttliche  ist.  Hat  aber  unser 
Glaube  neben  Gott  noch  ein  Geschöpf  zum  Inhalte,  so  erhalten  wir  zwei 
Götter,  einen  unerschaffenen  und  einen  geschaffenen,  zwei  Glauben,  den  einen 
an  den  wahren  Gott,  den  audeni  an  den  geschaffenen  Gott.  Sofern  nun  die 
Arianer  zugaben,  dass  Christus  Gott  genannt  werde,  so  erscheint  der  Aria- 
nismus  allerdings  als  eine  Art  Erneuerung  des  alten  Polytheismus.  So  sieht 
auch  Ritter  die  Sache  an.  Wiederum,  wenn  der  Sohn  ein  Geschöpf  ist, 
so  bleibt  der  Mensch  im  Tode,  weil  mit  Gott  nicht  vereinigt.  Denn  ein  Ge- 
schöpf kann  die  Geschöpfe  nicht  mit  Gott  verbinden,  da  es  selbst  des  Ver- 
einigenden bedarf  ^). 

So  zeigt  Athanasius,  dass  die  ganze  Erlösung  am  Glauben  an  die  Gott- 
heit des  Sohnes  hängt.  Wir  sollen  Gottes  Kinder  werden.  Dazu  kann  uns 
nur  der  machen,  der  wii'klich  Sohn  Gottes  ist;  unsere  adoptive  Sohnschaft 
setzt  in  Christo  die  wirkliche  als  ihre  Ursache  voraus.  —  Vom  Fluche,  der 
auf  uns  lastet,  und  der  unsere  Verbindung  mit  Gott  hindert,  können  wir  nur 
durch  Gott  selbst  befreit  werden ;  Gott  muss  uns  durch  sich  mit  sich  versöhnen. 


1)  Or.  2,  69,    ov    yttQ    xTiff/un    Cvyjjnre    rn  xriü^ara  t(o  &i(o  ^rjiovv    xat  avTO 

10V    GVVttTTTOVJa. 


278  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Wenn  der  Mensch  soll  vergöttlicht  werden  (^€07ioiei(T&at),  so  kann  es  nur  durch 
Gott  geschehen.  Der  Mensch  soll  in  die  göttliche  Ebenbildlichkeit  eingeführt 
werden;  das  ist  nur  durch  das  Urbild  möglich,  nach  dessen  Aehnlichkeit  wir 
von  Anfang  geschaffen  sind.  Derjenige,  der  Gott  nur  Unvollkommen  erkennt, 
kann  uns  Gott  nicht  vollkommen  offenbaren.  Bei  dem  Arianismus  kommt  es 
zuletzt  darauf  hinaus,  dass  Christus  blos  Lehrer  und  noch  dazu  ein  unge- 
nügender Lehrer  ist;  er  soll  uns  die  Sündenvergebung  blos  ankündigen,  dm 
durch  ein  Machtgebot  Gottes  geschehen;  wir  bedürfen  aber  der  wirklichen 
Erlösung  durch  unsere  Verbindung  mit  Gott. 

Die  arianische  Formel:  '^v  no%e  oze  ovx  riv  unterzieht  Athanasius 
einer  scharfen  Kritik  (Or.  1,  11);  sie  sei  absichtlich  unbestimmt,  um  die 
Einfältigen  zu  hintergehen.  Es  können  grammatisch  der  Vater  oder  der 
Sohn  oder  die  Zeit  als  Subjekt  des  Hauptsatzes  riv  noxe  ergänzt  werden.  Der 
Vater  könne  es  nicht  sein,  da  man  von  ihm  nicht  sagen  könne  riv  no%e\  der 
Sohn  könne  ebensowenig  Subjekt  sein.  Es  wäre  ein  Widerspruch  zu  sagen, 
der  Sohn  sei  einst  gewesen,  als  er  nicht  w^ar.  Somit  bleibe  nur  die  dritte 
Ergänzung:  es  war  eine  Zeit,  wo  der  Sohn  nicht  war;  das  sei  falsch.  Wenn 
der  Sohn  die  Zeiten  selbst  erschaffen  (Hebr.  1,  3),  so  fällt  er  nicht  selbst  in 
die  Zeit;  jene  Formel  besage  also:  es  war  eine  Zeit,  wo  der  Ewige  nicht 
war.  Dass  aber  der  Sohn  ewig  ist,  wie  der  Vater,  ergibt  sich  daraus,  dass 
er  Bild,  Abglanz  des  Vaters  ist.  Denn,  wann  hat  Gott  angefangen,  sich  selbst 
in  dem  Sohne  als  in  seinem  Bilde  anzuschauen  ?  und  wie  sollte  der  Vater 
sich  in  einem  endlichen  Wesen  anschauen  können  V  Ist  der  Sohn  ein  Geschöpf, 
so  ist  er  gewiss  nicht  das  Bild  des  Vaters.  Die  arianische  Milderung  dieser 
Formel:  der  Sohn  sei  ein  Geschöpf,  aber  nicht  wie  die  übrigen,  findet  Atha- 
nasius  betrügerisch,  als  wenn  überhaupt  ein  Geschöpf  wie  das  andere  wäre. 
Ist  nun  auch  der  Sohn  herrlicher  als  andere  Geschöpfe,  so  ist  und  bleibt  er 
doch  Geschöpf.  Auch  ein  Stern  ist  herrlicher  als  ein  anderer;  aber  des- 
wegen kann  mau  nicht  sagen,  dass  der  eine  Stern  Herr  sei,  der  andere  Diener. 

Es  war  aber  auch  eine  Widerlegung  der  biblischen  Einwürfe 
der  A rianer  nöthig.  Doch  darin  gibt  sich  Athanasius  manche  Blossen; 
wir  sehen  ab  von  der  Stelle  Sprüchw.  8,  23—25,  welche,  wie  bevorwortet, 
die  Arianer  auf  den  Sohn  bezogen,  um  dessen  Ewigkeit  zu  bekämpfen,  wäh- 
rend Athanasius  sie  so  wendet,  dass  er  darin  die  Ewigkeit  des  Sohnes  ange- 
zeigt findet,  ~  beides  ist  ohne  Grund.  Treffend  aber  weist  er  die  arianische 
Erklärung  derselben  Stellen  ab,  worin  von  der  Einigung  des  Vaters  und  des 
Sohnes  die  Rede  ist.  Vater  und  Sohn  sind  eins  durch  Gemeinschaft  der 
Natur  und  diess  begründet  Gemeinschaft  der  Gesinnung,  des  Willens.  Zu 
der  Stelle  Matth.  11,  27  bemerkt  er  ganz  richtig,  dass,  wenn  Christus  nur 
ein  Theil  des  All  wäre,  das  ihm  hier  übergeben  wird,  er  nicht  der  Erbe 
des  All  sein  könnte.  Ebenso  richtig  bemerkt  er  zu  der  Stelle  Hebr.  1,  4, 
dass  aus  dem  yeronepog  (niedriger  als  die  Engel)  kein  Gewordensein  abzu- 
leiten sei.  Es  wäre  derselbe  Irrthum,  als  ob  man  aus  den  Worten  Psalm  9, 10: 
du  bist  meine  Zuflucht  geworden,  schliessen  wollte,  dass  Gott  geworden  sei. 
Hingegen  in  die  Stelle  Philipper  2,  6  kann  er  sich  gar  nicht  finden,  weil  sie 
zu  stark  die  Subordination  des  Sohnes  unter  den  Vater  aussagt,  zu  deutlich 
der   wesentlichen  Gleichstellung  vom  Vater  und  Sohn  widerspricht:    Die  er-' 


Der  Lelirbegriff  des  Ättanasius.  070 

höhte  Menschheit  Christi,  wovon  die  Rede  ist,  ist  ihm  auch  die  gesammte  Mensch- 
heit. Der  Name  über  alle  Namen,  den  er  erhalten,  ist  der  Name  Sohn 
Gottes,  den  alle  erhalten,  die  an  ihn  glauben.  Christus  in  seiner  vergöttlich- 
ten  Menschheit  ist  als  derjenige  dargestellt,  in  welchem  alle  Erlösten  ent- 
halten sind,  nach  Analogie  von  Apostelgesch.  9, 4,  wo  der  Herr  den  Verfolger 
der  Christen  mit  den  Worten  anredet:  Saul,  warum  verfolgst  du  mich? 
Or.  1,  40  ff.  Aehnlich  steht  es  mit  der  Erklärung  der  Worte:  warum  hast 
du  mich  verlassen?  diese  Worte  spricht  Jesus  aus  unserer  Rolle  heraus 
(ex  nQoaooTvov  ^fietSQov).  Denn  er  selber  ist  eins  mit  dem  Vater.  Er  rief 
aber  jene  Worte  aus ,  weil  er  die  Strafen,  die  uns  gebührten,  auf  sich  ge- 
nommen. So  machen  dem  Athanasius  auch  die  Worte:  Zeit  und  Stunde  des 
Gerichts  weiss  nur  der  Vater,  keine  Schwierigkeit.  Der  die  Zeiten  geschaffen 
hat,  wie  sollte  der  das  Ende  der  Zeiten  nicht  wissen?  Er  wusste  es  als  Sohn 
Gottes,  aber  nicht  als  Mensch.  Er  sagte  es  nicht,  um  uns  in  der  Wachsam- 
keit zu  erhalten.  Besser  steht  es  mit  der  Auslegung  der  Worte:  ;, warum 
nennest  du  mich  gut?  Niemand  ist  gut,  als  der  einige  Gott^.  Jesus  spricht 
so  nach  der  Vorstellung  jenes  Jünglings.  Er  will  sagen,  dass  das  Gutsein 
nur  Gott,  nicht  dem  Menschen  zukomme.  Aus  dem  Zusammenhange  ergibt 
sich  aber,  dass  Jesus  das  Gutsein  faktisch  von  sich  ausgesagt,  indem  er  un- 
bedingte Nachfolge  seiner  verlangt,  was  nur  unter  der  Voraussetzung  zulässig 
ist,  dass  er  gut  sei.  Am  besten  spricht  sich  Athanasius  aus  über  die  Worte : 
^er  nahm  zu  an  Weisheit  und  Gnade  bei  Gott  und  den  Menschen^^  Wie 
sich  das  Menschliche  in  Christo  immer  mehr  durch  das  einwohnende  Gött- 
liche entwickelt  und  das  Göttliche  habe  durchscheinen  lassen,  so  habe  sich 
hiemit  die  Gottheit  immer  mehr  geoffenbait.  Nach  und  nach  sei  der  Mensch 
in  Christo  ganz  vergöttlicht  und  das  Organ  geworden,  durch  welches  die  Gott- 
heit sich  ganz  habe  offenbaren  können. 

Athanasius  suchte  auch  die  arianischen  Einwürfe  gegen  die 
nicänische  Lehre  zu  widerlegen.  Von  diesen  Einwürfen  war  der  gewich- 
tigste dieser,  dass  Gott  als  die  absolute  Causahtät  wesenthch  ein  ayevprjtov 
sei,  dass  also  alles,  was  an  der  ayevpijffia  nicht  Theil  habe,  nicht  Gott  sei. 
Im  Gegensatz  dagegen  erläutert  Athanasius  den  Begriff  der  Zeugung,  wovon 
er  alle  sinnlichen  Vorstellungen  streng  ausscheidet  und  ihn  definirt  als  Je- 
manden seiner  Natur  und  seines  Wesens  theilhaftig  machen.  Daran  schliesst 
sich  der  Satz,  dass  das  Gezeugtsein  des  Sohnes  seine  Ewigkeit  nicht  aus- 
schliesst.  Sowie  es  zum  Wesen  des  Lichtes  gehört,  zu  leuchten,  so  wie  nie- 
mals ein  Licht  ist  ohne  Abstrahhiug  (anav/afffjka),  so  ist  auch  der  Vater  nie 
ohne  den  Sohn.  Es  gehört  zum  Wesen  Gottes,  Vater  zu  sein.  Damit  ist  der 
Sohn  selbst  in  das  Wesen  des  Vaters  versetzt.  Die  Wirkung  hat  aufgehört, 
der  Ursache  selbständig  gegenüber  zu  stehen.  Damit  fällt  nun  auch  dieses 
weg,  dass  es  zur  Erzeugung  des  Sohnes  eines  besonderen  göttlichen  Willens- 
aktes bedui'fte ;  daher  in  dieser  Beziehung  der  Satz  aufgestellt  wird,  dass  der 
Sohn  nicht  durch  den  Willen  des  Vaters  sei  ^),  was  bei  Athanasius  den  Sinn 
hat,  dass  die  Zeugung  des  Sohnes  ewig  ist,  dass  das  Wesen  Gottes  ohne  den 


1)    Or.    2,    29,     To     ytrvjjfAtt    ov    ßovXi]Get    vnoxftrat     aXka    Tt]S    ovümg    (ffny 


280  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Sohn  nicht  vollständig  gedacht  werden  kann,  so  dass  dieser  nicht  mehr  etwas 
zu  Gottes  Wesen  äusserhch  Hinzukommendes  ist,  —  wie  im  Arianisnms.  Die 
Arianer  machten  dagegen  geltend,  dass,  wenn  die  Zeugung  des  Sohnes  nicht 
ein  Akt  des  götthchen  Willens  sei,  Gott  unter  dem  Zwange  gestanden,  — 
was  einer  deductio  ad  absurdum  gleich  kam.  —  Sei  aber  die  Erzeugung  des 
Sohnes  von  Seiten  Gottes  freiwillig  erfolgt,  so  sei  der  Sohn  ein  Geschöpf  und 
nicht  zu  des  Vaters  Wesen  gehörig.  Athanasius  erwidert:  ^^Reden  die 
Arianer  von  Zwang,  weil  der  Sohn  nicht  auch  nach  einem  Willensentschluss 
gezeugt  sein  kann,  so  mögen  sie  dasselbe  auch  von  Anderem,  was  zu  Gottes 
Wesen  gehört,  sagen,  z.  B.  von  seinen  Eigenschaften.  Besinnt  sich  Gott  etwa 
auch,  ob  er  gut  sein  will  ?"  fragt  Athanasius.  Hierin  gibt  er  sich  übrigens  eim^ 
Blosse.  Denn  der  Sohn  als  eine  besondere  Hypostase  der  Gottheit  gedacht  is': 
eben  nicht  einer  Eigenschaft  Gottes  gleich  zu  stellen.  Will  man  diess  thun, 
so  verfällt  man  in  einen  dem  sabeUianischen  verwandten  Irrthum.  Was  aber 
die  Freiheit  betrifft,  so  fragt  Athanasius  mit  Recht:  ;, besteht  sie  nur  in  dei 
Möghchkeit  der  Wahl,  im  Anderskönnen?  Nein,  höher  als  die  Wahl  steht 
die  gute  Natur^^.  Die  Arianer,  fügt  er  hinzu,  sehen  nur  das,  was  der  Frei- 
heit entgegen  steht;  das  Grössere  aber  und  darüber  hinausliegende,  das 
durch  die  Natur  Gegebene  (to  aaxa  (pvcriv)  sehen  sie  nicht.  Der  Sohn  ist 
also  Sohn  vermöge  einer  Naturnothweudigkeit,  die  aber  nicht  über  Gott,  son- 
dern in  Gott  hegt  und  sich  mit  Gottes  Freiheit  deckt.  So  ist  also  der  Vater 
nie  ohne  den  Sohn  gewesen,  weil  der  Sohn  sein  Eigenes  ist.  Sagt  man  nun, 
er  sei  einst  nicht  gewesen,  so  wird  der  Vollkommenheit  des  Vaters  etwas 
entzogen.  War  der  Sohn  einmal  nicht,  so  war  in  Gott  nicht  ewig  die  Wahr- 
heit; denn  der  Sohn  sagt:  ich  bin  die  Wahrheit.  Das  Ebenbild  Gottes  ist 
nicht  ein  Gemaltes  von  aussen,  sondern  Gott  selbst  ist  dessen  Erzeuger,  und 
sich  selbst  darin  beschauend  freut  er  sich  daran ^'.  Immerhin  gibt  es  nur 
H^a  aQXTj,  und  diese  ist  der  Vater;  in  ihm,  nicht  in  sich  selbst  hat  der  dem 
Vater  wesensgleiche  Sohn  den  Grund  seines  Wesens;  daher  der  Vater  xat* 
i^oxrjp  6  d^sog  heisst,  avtog  6  ^€0g,  der  sich  selbst  genug  ist  (avtaQxrig). 
Aber  vom  Sohn  gilt  Alles,  w^as  vom  Vater  gilt,  mit  alleiniger  Ausnahme  des 
Vaternamens  (Or.  3,  4).  Sonst  könnte  es  nicht  heissen:  wer  den  Sohn 
sieht,  der  sieht  den  Vater.  Eben  deswegen,  weil  der  Sohn  gleichen  Wesens  i 
ist  mit  dem  Vater,  hat  der  Sohn  die  von  Origenes  behauptete  hypostatische  | 
Selbständigkeit,  daher  ovfficodrjg  loyog^  ovamdrjg  aotpia  genannt  (Or.  c.  A.  4, 1).  \ 
So  sucht  Athanasius  die  Gottheit  des  Logos,  die  hypostatische  Selbständig- 
keit desselben  und  auch  den  Monotheismus  mit  einander  zu  vereinigen.  Er 
weist  die  Alternative  ab,  welche  die  Arianer  aufstellten,  dass  der  Logos  ent- 
weder Gott  von  Art,  aber  ohne  eigene  Hypostase,  oder  eine  besondere  Hypo- 
stase, aber  ohne  wirkUche  Gottheit  sein  müsse. 

4)  Vermittelnde  Richtungen.    Eusebianer  und  Semiarianer. 

Es  war  vorauszusehen,  dass  sich  eine  Ansicht  bilden  würde,  welche 
zwischen  den  beiden  sich  schroff  entgegenstehenden  Lehrformen  die  Mitte 
halten  würde.  Der  nicänische  Glaube  schien  an  sich  und  in  der  All,  wie 
Athanasius  ihn  handhabte,   zum  Sabellianismus  zu   führen   und   einigen  Aus- 


Dusefeianer  und  Semiarianei".  2Ö1 

sagen  der  Schrift  nicht  gerecht  zu  werden,  ja  sogar  zu  widersprechen.  Auf 
der  anderen  Seite  verletzte  der  Arianismus  das  christliche  Bewusstsein  zu 
sehr,  als  dass  er  allgemeine  Geltung  hätte  finden  können.  So  entstand  eine 
vermittelnde  Partei,  die  sich  aber  im  Verlaufe  der  Streitigkeit  in  zwei  ab- 
zweigte, je  nach  der  grösseren  Annäherung  an  Arius  oder  an  Athanasius. 

Zunächst  begegnet  uns  hier  Euseb  von  Cäsarea,  mit  Unrecht  von  eini- 
gen, so  z.  B.  von  Hieronymus,  zu  den  Arianern  gerechnet,  auch  nicht,  wie 
Einige  wollten,  zur  nicänischen  Orthodoxie  gehörig;  sondern  sein  Lehrbegriff" 
hat  eine  schillernde  Gestalt,  ein  Spiegel  der  unaufgelösten  Aufgaben  der 
Kirche  jener  Zeit,  wie  Dorner  sagt. 

Euseb  schliesst  sich  vor  allem  an  die  Logoslehre  des  Origenes  an;  aus 
Furcht  vor  dem  Sabellianismus  nähert  er  sich  dem  Arianismus.  Er  liebte 
nicht  dogmatische  Bestimmtheit,  er  drang  auf  den  Gebrauch  bibüscher  Aus- 
drücke, er  hatte  eine  Scheu  vor  der  Metaphysik  der  sich  bildenden  trinita- 
rischen  Schulsprache.  Er  unterschrieb  in  Nicäa  zuletzt  doch  das  nicänische 
Symbol,  indem  er  den  Ausdruck  o^oovciog  in  dem  Sinne  auflasste,  dass  er 
den  Sohn  als  d[ioiov  xata  navxa  natqt  darstelle. 

Davon  ausgehend,  dass  es  nur  Ein  absolutes  Princip,  ^iia  aqxri^  ev 
aidiov.  Einen  ayeppriTog  gebe,  setzt  er  den  Sohn  als  Bild  [etxüov)  der  unge- 
wordenen  ovaia  des  Vaters,  wodurch  dem  SabelHus  gegenüber  die  hyposta- 
tische Unterschiedenheit,  dem  Athanasius  gegenüber  die  blosse  Abbildhchkeit 
anstatt  der  Wesensgleichheit,  dem  Arius  gegenüber  die  beiderseitige  Gott- 
heit ausgedrückt  werden  sollte.  Was  nun  die  Zeugung  des  Sohnes  betrifft, 
so  lag  die  Nothwendigkeit  derselben  nicht  im  Begriffe  der  Gottheit,  da  der 
Vater  diesen  Begriff"  schon  an  und  für  sich  verwirkhcht,  sondern  der  Ur- 
sprung des  Sohnes  steht  im  Causalnexus  mit  dem  Dasein  der  Welt;  diese 
bedurfte  eines  Hauptes;  der  Vater  konnte  es  nicht  sein,  weil  seine  Gottheit 
für  die  Natur  des  Erschaffenen  zerstörend  wäre.  Daher  Gott,  als  er  die 
Welt  schaffen  wollte,  aus  sich,  vermöge  seines  Willens  den  Sohn  erzeugte, 
der  eine  Art  Mittelwesen  zwischen  Gott  und  den  Geschöpfen  war,  zugleich 
das  persönUche,  schöpferische  Princip  der  Welt.  Da  aber  erst  mit  der  Welt 
die  Zeit  gesetzt  ist,  so  folgt,  dass  er  nicht  erst  in  der  Zeit  gezeugt  ist,  son- 
dern er  ist  vor  allen  Aeonen  gezeugt,  insofern  ohne  zeitlichen  Anlang 
{avagxog).  Euseb  spricht  zwar  nicht  von  einer  ewigen  Zeugung  des  Sohnes 
wie  Origenes,  aber  er  kommt  nahe  an  diesen  Gedanken.  Er  ist  aus  des 
Vaters  ovaia  hervorgegangen.  Euseb  ertheilt  nun  dem  Sohne  die  erhaben- 
sten Prädicate ;  aber  inmier  hält  er  fest,  dass  der  Sohn  im  Vater  den  Grund 
seines  Daseins  habe,  daher  ist  der  Sohn  nicht  gleicher  Würde  mit  dem  Vater. 
Er  ist  ihm  untergeordnet  und  unterworfen.  Deutlich  ist  das  Bestreben,  die 
Subordination  mit  der  Annahme  der  Gottheit  des  Sohnes  zu  vereinbaren. 

Euseb ianer  {ol  neqt  Evceßiov  häufig  bei  Athanasius),  von  Euseb, 
Bischof  von  Nikomedien  so  genannt,  hiessen  zunächst  alle  diejenigen,  welche 
das  nicänische  oiioovaiov  und  die  specifisch  arianischen  Bestimmungen  ver- 
warfen. Doch  schlössen  sich  sogleich  manche  arianisch  Gesinnte  dieser  Rich- 
tung an;  denn  sie  koimten  zugeben,  dass  der  Logos  €x  &eov  sei,  wie  es 
1  Kor.  11,  12  heisse.  Alles  sei  aus  Gott.  Zunächst  kommen  hier  in  Betracht 
vier  auf  der  Synode  von  Autiochia  341  aulgestellte  Formeln.     Es  wird  darin 


282  Zweite  Periode  des  alten  ;fcatiiolicisraüä. 

gesagt,  dass  man  weder  dem  Arius  folge,  noch  sonst  irgend  eine  Neuerung 
im  Glauben  vornehme.  Vom  Sohne  Gottes  wird  ausgesagt,  dass  er  tiqo 
navtMv  tcdv  amvoav  mit  dem  Vater  war,  der  ihn  gezeugt;  er  wird  genannt 
liovoyEvriq  &€og^  durch  welchen  Alles  geworden,  gezeugt  aus  dem  Vater 
(nicht  €x  trjg  ovcnag  tov  rcaxQog) ,  &eog  €x  ^eov  ^  Xoyog  Iwp ,  aocpia  Ewffcc, . 
atqemog  ytai  avaXlomxog ,  vollkommenes  Ebenbild  der  Gottheit,  des  We- 
sens und  des  Käthes,  der  Kraft  und  Herrlichkeit  des  Vaters.  Folgt  Ana- 
thema über  diejenigen,  die  da  sagen,  es  habe  eine  Zeit  gegeben,  wo  der 
Sohn  gezeugt  wurde,  die  ihn  xtt(T[jia  aSg  kv  tatv  xTi(7{jbaroov,  yevvrina  big  kv 
X.  t.  L  noiriiia  «g  x.  t.  L  nennen,  Anathema  über  diejenigen,  welche  sagen, 
er  sei  e^  kteqag  vnoatacemg  und  nicht  ex  ^eov.  Dieselben  Bestimmungen 
wurden  wiederholt  von  der  zweiten  Synode  von  Antiochien  345  in  der  for- 
mula  fiaxQO(TTixog ,  wobei  aber  zugleich  der  Gegensatz  gegen  Athanasius 
deutlicher  hervorgehoben  wird;  so  wird  der  Satz  verworfen,  dass  der  Vater 
den  Sohn  nicht  mit  Willen,  sondern  gezwungen  zeugte,  sodann  wird  gesagt, 
er  sei  geschaffen  nach  Sprüchw.  8,  22,  und  er  sei  dem  Vater  unterworfen. 
Wiederholt  ist  diese  Formel  in  derjenigen  der  Synode  von  Philippopolis ,  und 
in  derjenigen  der  ersten  Synode  von  Sirmium. 

Die  Semiarianer,  die  ihren  zu  Ancyra  358  ausgesprochenen  Grund- 
sätzen treu  blieben,  die  Wesensähnlichkeit  festhielten,  das  ö^oov(7iop  nur 
im  Sinne  von  tavxovaog,  sowie  die  Wesensunähnlichkeit  verwarfen;  diese 
Semiarianer,  welche  also  sich  mehr  dem  nicänischen  Glauben  zuneigten,  als 
die  anderen  Eusebianer,  sie  wurden,  wie  das  so  zu  geschehen  pflegt,  von 
beiden  Richtungen,  die  sie  vermitteln  wollten,  bekämpft.  Athanasius  hielt 
ihnen  entgegen,  dass  von  Aehnlichkeit  nur  in  Beziehung  auf  Eigenschaften  die 
Rede  sein  könne,  nicht  aber  so  weit  sie  das  Wesen  betrifll;  dieses  sei  ent- 
weder dasselbe  oder  nicht.  Die  Arianer  machten  gegen  sie  geltend,  dass, 
wenn  das  Wesen  des  Vaters  das  Ungezeugtsein  sei,  das  Wesen  des  Sohnes, 
als  des  gezeugten,  dem  Wesen  des  Vaters  noth wendig  unähnlich  sein  müsse. 
Die  genannten  Semiarianer  näherten  sich  seit  359  mehr  und  mehr  den  Nicänern, 
und  nahmen  das  ofioövcriog  auf  im  Sinne  von  ofioiog  xat'  e^ovffiap.  Athanasius, 
so  wie  er  die  Lehre  Eusebs  von  Cäsarea  nicht  als  eigentlich  häretisch  be- 
zeichnet hatte,  erkannte  nun  auch  die  Semiarianer  als  Brüder  an  und  warf 
ihnen  nur  Uüklarheit  vor;  es  finde  zwischen  ihnen  und  den  Nicänern  ein 
Streit  statt  über  den  Sinn  des  Wortes  6fioov(Tiog.  Zu  diesen  Semiarianern 
gehörte  anfänglich  Basihus  Magnus,  eben  so  Cyrill  von  Jerusalem,  der,  an- 
fangs Eusebianer,  darauf  Semiarianer,  endlich  sich  zum  nicänischen  Glau- 
ben bekannte. 

5)  Den  zwischen  Arius  und  Athanasius  mehr  oder  weniger 
vermittelnden  Richtungen  stehen  die  extremen  Richtungen 
beider  Parteien  gegenüber. 

Das  Extrem  des  Arianismus,  wie  es  geschichtlich  sich  kund  gegeben 
und  Gestalt  gewonnen  in  den  Anomoeern  und  Exukontiem,  wurde  durch  den 
Gegensatz  nicht  blos  gegen  die  Nicäner,  sondern  auch  gegen  die  vennittelnde 
Richtung  der  Semiarianer  hervorgerufen,  wirkte  nun  aber  auch  dazu  mit,  dass 
die  Semiarianer  sich  mehr  und  mehr  den  Nicänern  näherten.  Unter  den  drei 
Häuptern  dieser  extremen  Partei  ragt  Eunomins  als  der  bedeutendste  her- 


LehrbegriJBT  des  Eunomins  und  des  Marcellus.  283 

vor.  Sein  Lehrbegriff  ist  zusammengefasst  in  der  sx^ectg  nictecog,  die  er 
dem  Kaiser  Theodosius  einhändigte,  und  wird  ausserdem  noch  erläutert  im 
Apologeticus  i).  Eine  Abhandlung  von  Aetius  findet  sich  bei  Epiphanius 
haeresis  76  §.  10.  Diese  Arianer  nahmen  im  Gegensatz  zu  Arius  an,  1)  dass 
die  Gottessohnschaft  und  die  Würde  als  Gott  (to  sivai  vioq  ri  ^sog)  Jesu 
zu  Theil  wurde,  nicht  in  Folge  seines  Gehorsams,  sondern  in  Folge  des 
schöpferischen  Willens  Gottes,  2)  dass  der  Sohn  den  Vater  vollkommen  kenne, 
wie  denn  Aetius  und  Eunomins  behauptet  haben  sollen,  dass  sie  Gott  so  gut 
kennen  als  sich  selbst.  Dabei  behaupten  sie  immerhin  noch  die  Gottheit 
Christi,  nennen  ihn  Gott,  den  eingeborenen  Gott,  d.  h.  er  ist  es  geworden 
durch  den  Vater  2). 

Wenn  diese  Arianer  über  den  Arianismus  nicht  hinausgingen,  sondern 
ihn  nur  consequent  fortbildeten,  so  lässt  sich  dasselbe  nicht  behaupten  von 
Marcellus  und  Photinus  in  ihrem  Verhältniss  zum  nicänischen  Bekennt- 
niss,  und  der  Vorwurf,  den  die  Arianer  und  Eusebianer  diesem  Bekenntniss 
machten,  dass  es  consequenter  Weise  zum  SabeUianismus  führe,  schien  durch 
die  Abwege,  worauf  jene  beiden  Männer  geriethen,  eine  Bestätigung  zu 
erhalten. 

Marcellus ,  Bischof  von  Ancyra  3)  begann  mit  Bekämpfung  der  vermit- 
telnden Richtung  der  Eusebianer  und  Semiarianer  in  einer  verloren  gegan- 
genen Schrift  *).  Um  die  Trennung  von  Vater  und  Sohn  von  Grund  aus  ab- 
zuwehren, scheidet  er  Alles  aus,  woran  sich  diejenigen  hielten,  die  einen 
Unterschied  von  Vater  und  Sohn  und  eine  Unterordnung  des  Sohnes  unter 
den  Vater  lehrten,  d.  h.  die  Begriffe  der  Zeugung,  der  Sohnschaft  und  der 
EbenbildUclikeit.  Alle  diese  Begriffe,  welche  die  Nicäner  auf  das  Höhere  in 
Christo  bezogen,  wollte  Marcellus  nur  auf  die  menschliche  Seele,  auf  den 
Gottmenschen  angewendet  wissen,  um  desto  gewisser  von  der  höheren  Natur 
Christi  nichts  auszusagen  was  den  Arianern  dienen  könnte.  So  gelangt  er 
zum  Begriff  eines  ungezeugten,  ewig  mit  dem  Vater  geeinigten,  ihm  nicht 
untergeordneten,  aber  auch  vom  Vater  nicht  als  eigene  Hypostase  unter- 
schiedenen Logos.  Damit  war  aber  das  ganze  nicänische  Bekenntniss  umge- 
ändert. Sowie  Marcellus  sagt,  vor  der  Menschwerdung  war  kein  Sohn,  son- 
dern nur  der  Logos,  so  geht  er  weiter  auf  diesem  Wege:  vor  der  Welt- 
schöpfung war  nur  Gott  allein.  Der  Logos  selbst  war  nur  der  Potenz  nach 
(dvvafiei)  im  Vater,  und  mit  ihm  schlechthin  Eins,  wie  der  Gedanke  im 
Menschen  eins  ist  mit  dem  Menschen.  Das  bildet  den  Begriff  des  ruhenden 
und  schweigenden  Gottes.  Damit  nun  die  Welt  entstünde,  sprach  Gott  das 
Schöpferwort  aus,  und  das  ist  das  Hervorgehen  des  Logos  als  eveqyeicc  dqa- 
aiixri  Ttga^ecog  Gottes.  Jene  göttliche  eveqyeia,  das  Sein  des  Logos  als 
wirkende  Kraft,  dehnt  sich  aus  bis  in  den  Menschen  Jesus;  diess  ist  die  Mensch- 


1)  Beide  Schriften  in  Thilo,  bibliotheca  dogmatica  11. 

2)  S.  Klose,  Geschichte  und  Lehre  des  Eunomins  1833. 

3)  S.  über  ihn  die  Schrift  von  Zahn  1867. 

4)  Der  Titel  ist  nicht:  tkqi  lyg  tov  vtov  vnoinyrjs  1  Kor.  15,  28,  aber  diess 
ist  der  Hauptgegenstand  der  Schrift,  deren  Fragmente  bei  Euseb  in  den  zwei  Büchern 
gegen  Marcellus  zu  finden. 


284  ^  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismdö. 

werdung.  Insofern  nun  diese  göttliche  epegyeia  das  Handelnde  in  Christo 
ist,  ist  das  Göttliche  in  ihm  nicht  eine  vom  Vater  unterschiedene  Hypostase, 
es  ist  nichts  Persönhches.  Persönlich  ist  nur  der  Vater.  Die  Menschheit 
ist  für  den  Logos  zu  enge ;  das  Menschsein  gehört  an  sich  zu  seiner  Knechts- 
gestalt, die  auch  nicht  bleiben  kann.  Der  Logos  kann  nicht  mit  dieser  ihm 
nicht  adäquaten  Menschheit  ewig  behaftet  sein;  denn  da  würde  er  nie  in 
sich  vollendet.  Er  muss  alo,  nachdem  er  das  Erlösungswerk  vollendet  hat, 
wieder  werden,  was  er  zuvor  war;  er  kehrt  in  Gott  zurück,  nachdem  er  das 
Fleisch  abgelegt,  von  dem  Christus  selbst  gesagt,  es  sei  nichts  nütze.  Mit 
dem  Ende  der  Herrschaft  Christi  (1  Kor.  15,  28)  hat  auch  die  menschliche 
Seinsweise  Christi  ein  Ende,  —  Jesus  geht  uns  dabei  voran  in  dem  Processi, 
den  auch  wir  durchzumachen  haben.  Unsere  Bestimmung  zur  vollkommenen 
Einigung  mit  Gott  kann  nicht  anders  erfüllt  werden,  als  wenn  auch  bei  uns 
die  Menschheit  aufhört,  damit  Gott  sei  Alles  in  Allem.  —  Offenbar  näherr. 
sich  Marcellus  dem  Sabellius,  wie  Euseb  meint. 

Die  Lehre  des  Marcellus  führt  noch  auf  einen  anderen  Abweg.  Indem 
er  in  Christo  nur  eine  eveqysia  Gottes  sein  lässt,  entgeht  er  zwar  der  An- 
nahme einer  Veränderung  im  göttlichen  Wesen  bei  der  Menschwerdung,  allein 
damit  ist  das  Sein  Gottes  in  Christo  auf  ein  blos  dynamisches  reducirt.  Da- 
gegen bemerkt  Euseb  mit  Recht,  eine  göttliche  Kraft  habe  auch  schon  vor 
Christo  in  vielen  Menschen  gelebt.  Das  Neue,  was  das  Christenthum  ge- 
bracht, sei  die  Einwohnung  Gottes  in  Christo.  Somit  gelangt  Marcellus  bis  nahe 
an  den  Ebionitisnms.  Dieser  ebiouitische  Ansatz  ist  in  der  Lehre  des  P ho- 
tin entwickelt.  Es  wird  ihm  sogar,  aber  freilich  nicht  in  glaubwürdiger 
Quelle,  die  Läugnung  der  übernatürlichen  Geburt  Christi  aus  der  Jungfrau 
zugeschrieben.  Völlig  arianisch  ist,  was  er  lehrte,  dass  Christus  nicht  vor 
aller  Zeit  als  Gott  existirt  habe ,  sondern  dass  er  durch  das  Verdienst  seiner 
Tugend  Gott  geworden  sei  (non  deum  ayite  seciila  fuisse,  sed  in  deum  bonae 
actionis  merito  profecisse)  ^). 

Die  ausgezeichneten  Kirchenlehrer,  die  im  Morgenlande  sowie  im  Abend- 
lande als  Vertheidiger  des  nicänischen  Bekenntnisses  auftraten,  haben  den 
Sieg  desselben  und  die  Beseitigung  des  Arianismus  wesentlich  gefördert;  der 
Arianismus  war  geistig  überwunden,  ehe  denn  die  römische  Staatsgewalt 
denselben  verpönte.  Doch  lässt  sich  nicht  sagen,  dass  jene  Kirchenlehrer 
wesentlich  neue  Argumente  gegen  den  Arianismus  vorgebracht  hätten.  Es 
kommen  hier  in  Betracht  BasiUus  des  Grossen  avaxqemixoq  gegen  den 
Apologeticus  des  Eunomins,  Gregors  von  Nazianz  loyoi  ^eoXorixoi,  Gre- 
gors von  Nyssa  aptiQgyuxog  loyog  gegen  Eunomins,  Hilarius  von  Poitiers 
de  trinitate,  12  B. 

6)  Die  Lehre  vom  heiligen  Geiste  erhielt  in  Folge  der  arianischen 
Streitigkeit  eine  wesentliche  Fortbildung.  Das  Concil  von  Nicäa  gab  dar- 
über, wohl  mit  Absicht,  keine  nähere  Bestimmung,  und  begnügte  sich  mit 
der  Angabe  im  nicänischen  Symbol  (nKTtsvo^ev)  xai  eig  %o  äyiov  nvevfia. 
Es  herrschten  unter  den  Anhängern  dieses  Symbols  sehr  verschiedenartige 
Ansichten,   indem   die  einen  den  Geist  als  sveqyeia^    die    andei-en   ihn   als 


1)  Vgl  über  Photin  Klose,  Geschichte  und  Lehre  des  Marcellus  und  Photinus  1837. 


Die  Pneumatomachen.  285 

Geschöpf,  noch  andere  ihn  als  Gott  auffassten  (nach  Greg.  Naz.  or.  theol.  5). 
Da  nun  die  Arianer  den  Geist  als  Geschöpf  auffassten,  so  trug  dieser  Um- 
stand dazu  bei,  dass  diese  Ansicht  bei  den  Nicänern  auf  Widerstand 
stiess,  die  Anhänger  derselben  wurden  als  nvev^atofiaxoi  bekämpft,  Se- 
miarianer  auch  genannt,  so  dass  die  Semiarianer  zuletzt  nur  noch  in  der 
Lehre  vom  heiligen  Geiste  von  den  Nicänern  sich  wesentlich  unterschieden, 
auch  M  a  c  e  d  0  n  i  a  n  e  r  genannt,  nach  M  a  c  e  d  o  n  i  u  s,  Bischof  von  Constantinopel, 
der  jedoch  nicht  Urheber  der  Lehre  war.  Gegen  sie  schrieben  Athanasius 
(vier  Episteln  an  Serapion),  Gregor  von  Nazianz  a.  a.  0.  und  Basilius 
Magnus  in  der  Schrift  gegen  Eunomins  und  de  spiräu  sancto  an  Bischof  Am- 
philochius. 

Zum  Erweis  ihrer  Lehre  beriefen  sich  die  Pneumatomachen  auf  Job.  1,  3: 
^jAlles  ist  durch  ihn  (den  Logos)  gemacht^^  —  folglich,  sagten  sie;  auch 
der  Geist.  Sie  suchten  auch  die  Annahme  der  Gottheit  des  Geistes  als 
einen  unvollziehbaren  Begriff  darzustellen.  Sei  der  heilige  Geist  nicht  er- 
zeugt, so  haben  wir  zwei  anftingslose  Wesen  (avaQxcc),  sei  er  gezeugt,  und 
zwar  vom  Vater,  so  kommen  zw^i  Söhne  Gottes  heraus;  sei  er  vom  Sohne 
gezeugt,  so  erscheine  er  als  Enkel  Gottes. 

Athanasius  machte  dagegen  geltend,  dass  man  dem  Arianismus  nur 
dann  vollständig  entsage,  wenn  man  in  der  Trias  nichts  derselben  Fremd- 
artiges annehme.  Wie  könnte  das,  so  lehrt  er,  was  für  die  Geschöpfe  Quelle 
der  Heihgung  ist,  mit  dem  Wesen  gleichartig  sein,  wodurch  sie  geheihgt 
werden?  In  dem  heiligen  Geist  empfangen  wir  die  Gemeinschaft  mit  Gott, 
die  Theilnahme  am  göttlichen  Leben.  Diess  könnte  nicht  der  Fall  sein, 
wenn  der  heilige  Geist  ein  Geschöpf  wäre  ^).  Ein  gleichartiges  Argument 
hatte  Athanasius  angewendet,  um  zu  beweisen,  dass  der  Logos  nicht  ein 
Geschöpf  sei,  sondern  Gott.  Wenn  aber  der  Logos  göttlichen  Wesens  war 
und  sein  musste,  lyn  uns  mit  Gott  zu  verbinden,  so  sieht  man  nicht  ein, 
warum  ein  neues  göttliches  Wesen  nöthig  war,  um  uns  durch  Heiligung  mit 
Gott  zu  verbinden.  Basilius  will  haui)tsächlich  das  festhalten,  dass  man  den 
Geist  den  Geschöpfen  nicht  beizähle.  Gegen  den  Einwand,  dass  der  Geist 
nach  der  Schrift  eine  Gabe  Gottes  sei,  beruft  er  sich  darauf,  dass  nach  der 
Schrift  auch  der  Sohn  eine  Gabe  sei,  uns  von  Gott  gegeben.  Gregor  von 
Nazianz,  um  die  Lehre  von  der  Gottheit  des  Geistes  zu  rechtfertigen,  nahm 
die  Idee  einer  stufenweisen  Offenbarung  zu  Hülfe.  Das  Alte  Testament  ver- 
kündigte deutlich  den  Vater,  den  Sohn  etwas  dunkler;  das  Neue  Testament 
offenbarte  den  Sohn,  deutete  aber  die  Gottheit  des  Geistes  blos  an.  Jetzt 
aber  ist  der  Geist  unter  uns  wohnend  und  gibt  sich  uns  deutlicher  zu  erken- 
nen (Or.  5).  Er  rechnet  die  Gottheit  des  Sohnes  unter  die  Job.  16,  2  ange- 
deuteten Lehren,  von  denen  der  Herr  sagte,  dass  sie  die  Jünger  in  ih- 
rem dennaligen  Zustande  nicht  tragen  könnten.  Hilarius  lehrt,  was  die 
Tiefen  der  Gottheit  erforsche,  —  wie  vom  heibgen  Geiste  ausgesagt  wird 
(1  Kor.  2,  10),  müsse  an  Gottes  Wesen  Antheil  haben.  —  Auf  dieser  Grund- 
lage, die  allerdings  nicht  in  allen  Stücken  solid  ist,  bildeten  sich  die  Be- 
stimmungen der  ersten  Synode  von  Constantinopel  über  den  heiligen  Geist. 
S.  S.  273. 

1)    Et    de    &(07iOt€t3    OVX    CCfKplßoXoVy    OTt    ri    TOVTOV    (pV<ftS    d^€OV    «ffT«. 


286  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Nun  aber  war  auch  bereits  die  Frage  entstanden,  ob  der  heilige  Geist 
nur  vom  Vater  oder  vom  Vater  und  vom  Sohne  ausgehe.  Die  orientalischen 
Lehrer  Athanasius,  Basihus  Magnus,  Gregor  von  Nyssa,  Theodor  von  Mop- 
suestia,  getreu  ihrer  speculativen  Richtung,  lösten  die  Frage  in  ersterem 
Sinne,  wonach  der  Geist  sich  zum  gemeinsamen  Urgründe  gerade  so  verhält 
wie  der  Sohn.  Doch  nahmen  einige  Lehrer  des  Morgenlandes,  Epiphanius, 
Marcellus  von  Ancyra,  Cyrill  von  Jerusalem  den  Ausgang  vom  Vater  und 
Sohn  an.  Die  abendtodischen  Kirchenlehrer  giengen  in  Behandlung  dieser 
Frage  vom  heilsökonomischen  Standpunkt  aus,  wonach  der  Geist  vom  Sohne? 
gesendet  wird  Job.  15,  26,  16,  7.  Lucas  24,  49.  So  Augustin  und  Leo  der 
Grosse.  Die  griechischen  Kirchenlehrer  verwarfen  nur  den  Satz,  dass  der 
Geist  durch  den  Sohn  das  Dasein  (vnaQ^ip)  habe.  Dieses  wollten  aber  die 
lateinischen  Lehrer  mit  ihrer  Lehre  vom  Ausgange  des  Geistes  vom  Vater 
und  vom  Sohne  nicht  eigentlich  sagen.  Später  kam  es  darüber  zu  weitläu- 
figen Verhandlungen,  welche  einen  wesentlichen  Grund  abgaben  zur  Trennung 
beider  Hälften  der  katholischen  Kirche. 

Unter  den  folgenden  Entwicklungen  der  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  ist  die 
Lehrform  Augustinus  hervorzuheben.  Er  verschärft  den  Begritl'  der  göttlichen  Ein- 
heit in  Beziehung  auf  die  göttliche  Thätigkeit,  daher  er  den  Logos  am  Acte  seiner 
eigenen  Sendung  als  SohnTheil  nehmen  lässt.  Er  macht  die  Abhängigkeit  des  Soh- 
nes vom  Vater  zu  einer  gegenseitigen,  so  dass  der  Vater  auch  vom  Sohne  abhängig 
ist,  wenn  er  etwas  befiehlt;  denn  das  Princip  des  Befehlens  ist  der  Logos. 
Endlich  sucht  er  für  die  Dreieinigkeit  Analogieen  in  den  Geschöpfen  überhaupt, 
in  dem  Menschen  insbesondere,  Analogieen,  wodurch  die  Unterscheidung 
der  drei  Personen  bedeutend  geschmälert  wird;  daher  Augustin  die  Unzu- 
länglichkeit dieser  Analogieen  ausdrücklich  anerkennt.  Denn  genau  genom- 
men und  mit  Folgerichtigkeit  entwickelt  führen  diese  Analogieen  zum  Moda- 
lismus. So  z.  B.  lehrt  er,  in  jedem  Geschöpfe  sind  drei  Dinge  zu  unter- 
scheiden: 1)  sein  Sein  überhaupt,  2)  sein  Sein  im  Unterschiede  von  jedem 
anderen,  3)  beides  zusammen  in  Uebereinstimmung  zu  einem  Ganzen,  omne, 
quod  est,  aliud  est  quo  constat.  aliud  quo  discernitur ,  aliud  quo  congruit. 
Das  erste  ist  der  Stoff ;  das  zweite  gibt  ihm  die  Form;  die  Uebereinstimmung 
des  Allgemeinen  und  des  Besonderen,  des  Ganzen  und  der  Theile,  ist  die 
Liebe,  in  welcher  der  heilige  Geist  Vater  und  Sohn  verbindet.  Mit  allen 
diesen  Bestimmungen  bezweckt  Augustin  die  Durchführung  der  völligen  Gleich- 
heit der  drei  Personen;  darin  besteht  der  Fortschritt,  den  er  die  trinita- 
rische  Construction  machen  lässt. 

Noch  ist  anzuführen,,  dass  für  die  Bezeichnung  der  in  Rede  stehenden 
Gegenstände  bestimmte  dogmatische  Kunstausdrücke  mit  fest  begrenztem 
Sinne  aufgestellt  wurden.  Ovaia  bezeichnet  die  Einheit  des  göttlichen  Wa- 
sens;  es  bedeutete  anfangs  dasselbe,  was  vnofftaffig,  so  im  nicänischen 
Symbol  und  bei  Athanasius.  Doch  dieser  fing  bald  an,  beide  zu  unterschei-* 
den  und  die  kappadocischen  Kirchenlehrer  folgten  seinem  Beispiele.  Dem- 
nach bezeichnet  vTiodtaaig  das  Unterscheidende  der  drei  Personen  der  Gott- 
heit. ^So  bemerkt  Athanasius  zu  Jesaia  6,3,  das  dreimal  heilig  deute  die 
drei  vnoatadsiq  an:  das  Wort  xvqioq  bezeichne  fnav  ovaiav.  Basihus  Mag-  ' 
nus  sagt:  ovata  ist  to  xo^yov,  vTrotxtacig  to  xa^'  kxctaxov.    Der  Ausdruck 


Origenistische  Streitigkeiten.  287 

nqocrconov  wurde  weggelassen,  um  nicht  den  Schein  des  Sabellianismus 
auf  das  nicänische  Bekenntniss  zu  werfen,  vnoaxaaiq  galt  als  gleichbedeu- 
tend mit  iStotrjg,  ovGia  mit  (fvaig.  Später  wurde  auch  der  Ausdruck  tiqocm- 
Tiov  beliebt,  weil  er,  je  mehr  er  mit  vnoataGiq  dem  Sinne  nach  identisch 
gesetzt  wurde,  den  sabellianischen  Beigeschmack  verlor.  Theodoret  ge- 
braucht als  gleichbedeutend  die  Ausdrücke  v-noatcKTig ,  tdiotrig,  TTQocTcönov. 
Dem  Vater  kommt  ay€vvf](na  zu,  dem  Sohne  das  Gezeugtsein,  dem  Geiste 
die  €X7ioQ€V(Tig ,  exns^ipig;  jedesmal  das  idiop  der  betreffenden  Hypo- 
stase. —  Augustin  nennt  die  Hypostasen  bald  substantiae,  bald  personae; 
die  ovffia  bald  essenfia,  bald  suhstantia^  bald  natura.  Doch  will  er  zuletzt 
lieber  die  Bezeichnung  tres  substantiae  aufgeben  und  dafür  den  Ausdruck 
personae  gebrauchen.  Das  Wesen,  die  ovata^  will  er  lieber  essentia  als 
substantia  genannt  wissen. 

H.    Origenistische  Streitigkeiten. 

Die  arianischen  Streitigkeiten  lenkten  aufs  neue  im  Morgenlande  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  grossen  alexandrinischen  Lehrer,  über  den  schon 
in  der  ersten  Periode  war  gestritten  worden.  Jetzt  beriefen  sich  die  Ni- 
cäner  und  Arianer,  besonders  die  Eusebianer  auf  ihn.  Jene  fanden  bei 
ihm  den  Begriff  der  ewigen  Zeugung  des  Logos,  diese  die  Bezeichnung  Christi 
als  eines  Geschöpfes  und  dessen  Subordination  unter  den  Vater.  Marcellus 
von  Ancyra  leitete  von  Origenes  die  arianische  Lehre  ab.  Dieser  behielt 
aber  viele  und  höchst  bedeutende  Anhänger,  wie  die  vorstehende  Dar- 
stellung es  beweist.  Sowie  die  Kirchenlehrer,  so  waren  auch  die  Mönche, 
besonders  in  Aegypten  in  ihren  Urtheilen  über  Origenes  in  zwei  Parteien 
getheilt.  Die  einen,  einem  groben  Anthropomorphismus  ergeben,  verab- 
scheuten den  spiritualistischen  Theologen.  Pachomius,  der  verehrte  Gründer 
und  Vorsteher  des  Klosters  auf  der  Nilinsel  Tabenna,  warnte  seine  Schüler 
am  meisten  vor  den  Schriften  des  Origenes,  weil  er  gefährlicher  sei,  als 
andere  Häretiker,  indem  er,  unter  dem  Vorwande,  die  heilige  Schrift  zu 
erklären ,  seine  Irrlehren  in  dieselbe  hineintrage.  Die  andere  Partei  der 
Mönche  hieng  dem  Origenes  mit  Verehrung  an. 

Die  nun  alsobald  nach  der  Besiegung  des  Arianismus  ausbrechende 
Streitigkeit  verläuft  in  zwei  Phasen,  wovon  die  eine  hauptsächlich  in  Pa- 
lästina spielt,  die  andere  zwischen  Alexandrien  und  Constantinopel;  in 
diese  letztere  zumal  mischen  sich  sehr  untheologische  Elemente. 

In  den  letzten  Jahren  des  vierten  Jahrhunderts  lebten  in  Palästina 
drei  eifrige  Beförderer  theologischer  Wissenschaft  und  warme  Verehrer  des 
Origenes,  Bischof  Johannes  von  Jerusalem,  sein  Hausgenosse  Rufinus, 
der  Presbyter  aus  Aquileja,  und  Hieronymus,  der  durch  Gregor  von 
Nazianz  auf  Origenes  aufmerksam  gemacht,  schon  Einiges  von  ihm  über- 
setzt und  sich  in  den  Vorreden  zu  diesen  Uebersetzungen  sehr  anerkennend 
über  den  alexandrinischen  Theologen  ausgesprochen  hatte,  wenn  gleich  er 
keineswegs  das  dogmatische  System  desselben  sich  angeeignet  hatte,  das 
er  wohl  nur  sehr  unvollständig  kannte.  Es  verbreitete  sich  nun  in  Folge 
davon,    dass   diese  drei  angesehenen  Männer  Origenes  so  hoch  schätzten, 


288  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

das  Gerücht,  dass  in  den  Kirchen  Palästina's  die  orij^enistischen  Ketzereien 
im  Schwange  giengen,  worauf  der  um  den  Ruf  seiner  Orthodoxie  ängstlich 
besorgte  Hieronymus  alsobald  in  seinen  Urtheilen  über  Origenes  vorsichtig 
wurde,  sich  berufend  auf  den  paulinischen  Grundsatz:  prüfet  Alles  und 
haltet  fest  am  Guten.  Die  Sache  nahm  eine  schlimme  Wendung,  seitdem 
der  alte  Epiphanius  sich  in  dieselbe  mischte.  Um,  den  heftigen  Gegner  des 
Origenes,  der  denselben  in  sein  navaqiov  (haeresis  64)  aufgenommen,  als 
Vater  des  Arianismus  und  als  einen  fast  in  allen  Glaubensartikeln  gröblich 
irrenden  Neuerer  ausgeschrieen  hatte,  trieb  die  Nachricht,  dass  Origenes 
bei  den  angesehensten  Kirchenlehrern  in  PaLästina  in  grosser  Verehrung 
stehe,  zu  Ostern  394  dahin.  Seinem  Rufe  als  gewaltiger  Eiferer  um  die 
Reinheit  der  Lehre  und  als  Beförderer  des  Mönchthums  entsprechend  vom 
Volke  in  Jerusalem  mit  grosser  Verehrung  aufgenommen,  forderte  er 
alsobald  vom  Bischof  Joliannes  die  Verdammung  des  Origenes;  darauf  wollte 
sich  der  Bischof  nicht  einlassen ;  er  gestand  nur  so  viel,  dass  er  bei  Origenes 
Wahres  und  Falsches  zu  unterscheiden  gewohnt  sei.  Epiphanius  trat  nun 
auch  auf  der  Kanzel  in  Jerusalem  als  Ankläger  des  Origenes  auf,  und 
Bischof  Johannes  predigte  gegen  den  Anthropomorphisnuis.  Epiplianius 
stimmte  in  die  Verdammung  des  Anthropomorphismus  ein,  bestand  aber 
um  so  mehr  auf  Verdammung  des  Origenes.  Da  Bischof  Johannes  nicht 
nachgab,  gieng  Epiphanius  nach  Bethlehem  zu  den  Mönchen,  bei  denen  er 
überhaupt  vieles  galt.  Er  bearbeitete  sie  dermassen,  dass  sie  die  Kirchen- 
gemeinschaft mit  Jerusalem  aufgaben  und  sich  die  Sacramente  nicht  mehr 
durch  Geistliche  aus  Jerusalem  ertheilen  Hessen.  Da  Hieronymus  grund- 
sätzlich als  Presbyter  nicht  fungiren  mochte,  weihte  Epiphanius  dessen  Bru- 
der, Paulinianus,  zum  Priester  für  die  Mönclie,  wodurch  er  in  die  Rechte 
des  Bischofs  von  Jerusalem  eingriff.  Hieronymus  stellte  sich  entschieden 
auf  die  Seite  des  Epiphanius  gegen  Bischof  Johannes  und  Rufinus.  Dieser 
söhnte  sich  zwar  mit  Hieronymus  wieder  aus,  es  wurde  auch  397  die 
Kirchengemeinschaft  zwischen  Bethlehem  und  Jerusalem  wieder  hergestellt. 
Bald  brach  aber  der  Streit  von  neuem  aus.  Rufin,  der  397  nach  Rom  ge- 
reist war,  übersetzte,  um  dem  Abendlande  einen  besseren  Begriff  von  den  Be- 
strebungen des  Origenes  zu  geben,  dessen  Schrift  ubqi  agxtop,  ein  höchst  un- 
überlegtes Unternehmen,  das  neues  Oel  in  die  Flamme  des  Streites  giessen 
musste.  Er  erlaubte  sich,  gewisse  Stellen  im  Sinne  des  nicänischen  Bekennt- 
nisses umzuändern,  wobei  jedoch  noch  genug  Heterodoxieen  zurückblieben; 
und  was  das  stärkste  war,  in  der  Vorrede  zur  Uebersetzung  gestand  er  die 
von  ihm  vorgenommenen  Aenderungen,  doch  ohne  einzugestehen,  dass  sie 
die  wahre  Meinung  des  Origenes  alterirten:  ausserdem  berief  er  sich, 
um  seine  Verehrung  gegen  den  Mann  zu  rechtfertigen,  auf  die  Lobpreis- 
ungen desselben  durch  Hieronymus.  Die  Folge  davon  war  ein  ärgerlicher 
Schriftwechsel  zwischen  den  beiden  einst  so  befreundeten  Männern,  wor- 
über Augustin  gegen  Hieronymus  sein  Herz  ausschüttete.  Rufin  kam  in 
Rom  selbst  in  üble  Lage,  so  dass  er  sich  wegen  der  Anhänglichkeit  an 
Origenes  rechtfertigen  musste.  Er  zog  sich  nach  Aquileja  zurück  und  fuhr 
fort,  sich  durch  Uebersetzung   von  Schriften  des  Origenes   um  die  Kirche 


Origenistische  Streitigkeiten.  289 

verdient  zu  machen.    Bischof  Anastasius  von  Rom  sprach  das  Verdammungs- 
urtheil  über  des  Origenes  Schriften  aus. 

Ein  neu^r  Sturm  erhob  sich  gegen  denselben  in  Aegypten.  Der  Bischof 
Theophil  US  von  Alexandrien,  ein  Mann  von  höchst  ungeistlichem  Charakter, 
dem  alle  Mittel  gleich  galten,  die  zum  Ziele  führten  und  der  selbst  seine 
Ueberzeugung  wechselte,  je  nachdem  seine  Herrschsucht  oder  rein  persön- 
liche Motive  dazu  hintrieben,  war  ursprünglich  Gegner  der  Anthropomorphi- 
ten  und  Verehrer  des  Origenes  gewesen,  dessen  geläuterte  Anschauungen 
von  der  Gottheit  er  ganz  und  gar  zu  theilen  schien.  Er  gerieth  dadurch  in 
Misshelligkeiten  mit  einem  Theile  der  egyptischen  Mönche,  die  in  crasser 
Weise  sich  Gott  in  Menschengestalt  dachten.  Viele  von  ihnen  kamen 
nach  Alexandrien,  willens  ihn  zu  tödten.  Theophilus  gebrauchte  eine  List, 
um  der  Lebensgefahr  zu  entgehen.  Um  sie  zu  besänftigen,  sagte  er  ihnen : 
ich  sehe  in  euch  das  Antlitz  Gottes.  Die  Mönche,  mit  dieser  Schmeichelei 
noch  nicht  zufrieden,  forderten  von  Theophilus  die  Verdammung  der  Schriften 
des  Origenes,  und  auch  darin  fügte  er  sich  unter  den  Willen  jener  Fanatiker. 
Bald  '  wurde  der  charakterlose  Mann  sogar  Verfolger  der  origenistisch 
gesinnten  Mönche;  sie  wohnten  hauptsächlich  in  den  Zellen  des  nitrischen 
Berges  nahe  bei  der  sketischen  Wüste.  Unter  ihnen  ragten  hervor  vier 
Brüder,  wegen  ihrer  körperlichen  Länge  die  langen  (ol  iiaxqoi)  genannt, 
Dioskur,  Ammonius,  Euseb,  Euthymius,  ehrwürdige  Männer, 
welche  Theophilus  gerne  für  den  Kirchendienst  gewonnen  hätte.  Gezwun- 
gen gaben  sie  sich  dazu  her;  doch  bald  konnten  sie  es  nicht  mehr  aus- 
halten und  kehrten  in  ihre  Wüste  zurück.  Da  warf  Theophilus  auf  sie 
und  auf  die  ganze  Partei  einen  tödtlichen  Hass.  Auf  einer  Synode  in  Ale- 
xandrien im  Jahre  399  wurde  über  die  Lehren  und  Schriften  des  Origenes 
das  Verdammungsurtheil  ausgesprochen  und  das  Lesen  der  letzteren  ver- 
boten. Da  die  origenistischen  Mönche  sich  unter  diesen  Beschluss  nicht 
beugten,  rief  Theophilus  die  Hilfe  des  Präfecten  von  Egypten  an.  Die 
widerspenstigen  Mönche  wurden  durch  die  Soldaten  gemisshandelt  und  zur 
Flucht  genöthigt,  fiinden  aber  nirgends  Aufnahme,  da  Theophilus  sie  in 
seinen  nach  allen  Seiten  ausgesendeten  Briefen  als  wilde  Schwärmer  dar- 
gestellt hatte.  Zuletzt  entschlossen  sie  sich,  am  kaiserlichen  Hofe  in  Con- 
stantinopel  Hilfe  zu  suchen,  wobei  sie  sich  Hoffnung  machten  auf  die 
Unterstützung  durch  Bischof  Johannes  Chrysostomus.    (S.  S.  246). 

Dieser  stand  damals  auf  der  Höhe  seines  Lebens,  seiner  Wirksam- 
keit, seines  Einflusses,  hatte  aber  viele  Gegner  und  Feinde,  worunter  auch 
Geistliche,  die  er  als  unwürdig  erfunden  und  abgesetzt  hatte.  iVuch  die 
Kaiserin  Eudoxia,  Gemahlin  des  schwachen  Kaisers  Arcadius,  allwaltend 
unter  ihm,  fromm  und  eitel  zugleich,  anfangs  Gönnerin  des  Chrysostomus, 
fühlte  sich  durch  denselben  in  seinen  Predigten  öfter  verletzt  und  wurde 
gegen  ihn  aufgebracht,  versöhnte  sich  aber  auch  wenn  das  bessere  Selbst 
in  ihr  sich  regte,  wieder  mit  dem  Bischof,  der  ihr  die  Wahrheit  gesagt 
hatte.  Allerdings  trug  er  durch  eine  gewisse  Heftigkeit  und  Barschheit, 
auch  wohl  zuweilen  durch  unkluge,  falsche  Massregeln  dazu  bei,  die  ohnehin 
durch  seine  Freimüthigkeit  verletzten  und  sich  schuldig  fühlenden  Personen 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  19 


290  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

noch  mehr  zu  reizen  ^).  So  standen  die  Sachen,  als  jene  nitrischen  Mönche 
in  Constantinopel  ankamen ;  Chrysostomus  nahm  sie  liebreich  auf  und  sorgte 
für  ihren  Unterhalt.  Da  sie  aber  von  Theophilus  excommunicirt  worden, 
wollte  er,  den  Kirchengesetzen  gemäss,  sie  nicht  als  in  der  Gemeinschaft 
der  Kirche  stehend  behandeln.  Zugleich  bat  er  den  Theophilus  in  einem 
herzlichen  Briefe,  jenen  Mönchen  Verzeihung  angedeihen  zu  lassen.  Sie 
brachten  aber  allerlei  Beschuldigungen  gegen  den  Bischof  von  Alexandrien 
vor  und  waren  willens,  sie  dem  Kaiser  vorzutragen.  Chrysostomus  meldete 
diess  dem  Theophilus  mit  dem  Bemerken,  er  werde  die  Mönche  von  diesem 
Schritte  nicht  abhalten  können.  Zu  gleicher  Zeit  wurde  dem  Theophilus  dici 
falsche  Nachricht  gebracht,  dass  Chrysostomus  die  Mönche  in  die  Kirchen- 
gemeinschaft aufgenommen  habe.  Da  suchte  Chrysostomus  sich  aus  dei- 
Sache  zu  ziehen.  Doch  jene  Mönche  brachten  es  durch  ihren  Einfluss  auf 
Eudoxia,  die  gerade  damals  mit  Chrysostomus  wieder  auf  gutem  Fusse 
stand,  dahin,  dass  durch  den  Kaiser  eine  Synode  nach  Constantinopel  be- 
rufen wurde,  unter  Vorsitz  des  Bischofs  der  Residenz,  welche  über  das 
Verfahren  des  Theophilus  urtheilen  sollte;  zugleich  erging  an  diesen  die 
Aufforderung,  sich  vor  die  Synode  zu  stellen.  Da  warf  er  einen  wüthen- 
den  Hass  auf  Chrysostomus,  suchte  ihn  zu  verderben,  und  verband  sich  zu 
diesem  Zwecke  mit  den  Feinden  desselben. 

Er  bearbeitete  den  alten  Epiphanius,  als  ob  die  origenistische  Ketzerei 
einen  neuen  Aufschwung  nähme.  Dieser,  nachdem  er  eine  Synode  gehal- 
ten (401),  welche  über  die  Schriften  des  alexandrinischen  Theologen  das 
Anathema  aussprach,  reiste  nach  Constantinopel  (402)  und  forderte  von 
Chrysostomus,  dass  er  dasselbe  thue  und  jenen  Mönchen  seinen  Schutz 
entziehe.  Doch,  so  wenig  dieser  ein  blinder  Verehrer  des  Origenes,  so 
sehr  er  namentlich  ein  Gegner  von  dessen  Allegorieen  war,  weigerte  er  sich, 
ein  Verdammungsurtheil  über  dessen  Schriften  auszusprechen.  Am  Ende 
verliess  Epiphanius  die  Stadt,  als  er  sich  überzeugt  hatte,  dass  von  Seite  der 
Gegner  des  Chrysostomus  Unreines  sich  einmische.  Da  kam  Theophilus, 
nachdem  er  Alles  gehörig  vorbereitet  hatte,  selbst  nach  Constantinopel 
(403)  nicht  um  als  Beklagter ,  sondern  als  Richter  aufzutreten.  Daher 
versammelte  er  eine  Synode  ihm  anhängender  Bischöfe ,  wovon  ein  Theil 
mit  ihm  gekommen  war,  auf  einem  nahe  bei  der  Stadt  gelegenen  Land- 
gute des  ehemaligen  praefectus  Orientis,  Rufinus,  genannt  die  Eiche  (daher 
die  Synode  den  Namen  awodog  TiQog  t^v  öqvp,  Synodus  ad  Quercum,  er- 
hielt). Denn  bei  seiner  Liebe  zu  Chrysostomus  hätte  das  Volk  nicht  ruhig 
zugesehen,  wie  man  in  der  Stadt  eine  Synode  gegen  ihn  hielt.  In  den 
Verhandlungen  war  von  der  origenistischen  Ketzerei  nicht  die  Rede,  wohl 
aber  von  anderen  zum  Theil  sehr  geringfügigen  Dingen,  dass  er  zu  ein- 
fach lebe,  keine  Gastfreundschaft  übe,  dass  er  das  Kirchengut  vergeude ;  — 
er  brauchte  allerdings  vieles  für  wohlthätige  Zwecke.  Unter  den  Anklagen 
gegen  ihn  war  auch  ein  Majestäts verbrechen   genannt,   was   sich   wohl  auf 


1)  Darin  sind  Sokrates   6,  3    und  Sozomenus  8,  3    einig;    ihr  Zeugniss  ist  um  so 
gewichtiger,  da  sie  sonst  dem  Chrysostomus  durchaus  Recht  geben. 


Origenistische  Streitigkeiten.  291 

Mangel   an  Schonung   der   Kaiserin   Eudoxia   bezog.      Chrysostomus ,   um- 
geben  von  vierzig  gleichgesinnten  Bischöfen,    die   auf  die  Nachricht   von 
seinen  Anfechtungen   nach  der  Residenz  geeilt   waren,   erkLärte,    als  die 
Synode  ihn  vor  sich  beschied ,   vor  derselben   erscheinen  zu  wollen ,    wenn 
vier  erklärte  Feinde,  worunter  Theophilus,  ausgeschieden  würden.    Darauf 
wurde  er  durch  jene  Synode  abgesetzt  und  insbesondere  des  Majestätsver- 
brechens angeklagt,  wozu   die  Bemerkung  hinzukam,  da  es  den  Bischöfen 
nicht  zukomme,   solche  Dinge  zu  untersuchen,    so   möge  der  Kaiser  selbst 
ihn  wegen  jenes  Verbrechens   bestrafen.      Chrysostomus,    nachdem   er   an 
seine  Gemeinde   eine   ergreifende  Abschiedsrede   gehalten,    wurde    in  das 
Exil  abgeführt.    Doch,  kaum  war  er  fort,  so  erschreckte  ein  Erdbeben  die 
Gemüther;   es  wurde  als  Gottesgericht   gedeutet,  und  es  erschienen  also- 
bald  Boten  der  Kaiserin  bei  dem  Verbannten,  die  ihn  nach  Constantinopel 
zurückbrachten.      Doch    nach   zwei  Monaten    erhob  sich  ein  neuer  Sturm. 
Vor  dem  Palast,  in  welchem  der  Senat  sich  versammelte,  in  der  Nähe  der 
Kirche,   wo   Chrysostomus  Gottesdienst   hielt,    war   der   K|Liserin  Eudoxia 
eine  silberne  Bildsäule  errichtet  und  mit  allerlei  lärmenden,-  an  das  Heid- 
nische anstreifenden  Lustbarkeiten  eingeweiht  worden.     Der  Gottesdienst 
hatte  dadurch  einige  Störung  erlitten,  und  der  Bischof  hatte  sich  in  seiner 
Predigt    gegen    solche  Lustbarkeiten    erklärt;    darüber   erzürnte   Eudoxia 
und  traf  Anstalten  zu  einer  neuen  Verurtheilung  des  Mannes;    da  hielt  er 
am  Feste  Johannes  des  Täufers  eine  Predigt,  die,  nach  den  Berichten  von 
Sokrates  und  Sozomenus,  mit  den  Worten  anfing :  „wiederum  rast  Herodias, 
wiederum   tanzt   sie,    wiederum   begehrt    sie  das  Haupt  des  Johannes  auf 
einer  Schüssel  zu  erhalten.'^     Aufs  neue  wurde  ihm  der  Process  gemacht; 
die  zu  diesem  Behufe  versammelte  Synode  leitete  Theophilus  von  Alexandrien 
aus.    So  wurde  Chrysostomus  404  aufs  neue  in  die  Verbannung  geführt,  zu- 
erst nach  Cucusus  an  der  Grenze  von  Armenien  und  Cilicien.    Von  hier  aus 
unterhielt  er  die  Verbindung  mit  seinen  Freunden  und  Anhängern  in  Con- 
stantinopel und  wirkte  wohlthätig  durch  Lehre  und  Ptath  auf  die  Bischöfe 
in  seiner  Umgebung;   das  sahen  die  Gegner  ungern;    er  wurde  in  ein  ent- 
fernteres Exil  abgeführt,  nach  Pityus  im  Pontus  407.    Auf  der  Reise  dahin, 
nahe  bei  der  Stadt  Comana,  erlag  er  den  Beschwerden.    Seine  letzten  Worte 
waren:    „Gott  sei  gedankt  für  Alles. ^^    Niemals  in  seinem  Leben  hatte  er 
mehr  Seelengrösse  in  Verbindung  mit  sanfter  Duldung  bewiesen  als  in  die- 
ser  letzten  Prüfungszeit.      Er   hatte  in  Constantinopel    treue   und   höchst 
achtungswerthe  Anhänger  hinterlassen,  die  Johanniter  genannt;  sie  be- 
standen als  eigene  Partei,    bis  Theodosius  H.    im  Jahre  438   die  Gebeine 
des  verehrten  Seelenhirten  nach  Constantinopel  bringen  und  daselbst  mit 
grossem  Pompe  bestatten  Hess.    Dadurch  wurde,  was  noch  von  Johannitern 
übrig  war,  zur  Rückkehr  in  die  Kirche,    die  das  Andenken  ihres  Hauptes 
ehrte,  bewogen. 


19 


292  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus, 


III.    Die  nestorianische  Streitigkeit. 

1)  Christologische  Verhandlungen  und  Stand  der  christologischen  Frage  bis 
zum  Ausbruche  der  nestorianischen  Streitigkeit. 

Die  so  bedeutend  angeregte  dogmatische  Thätigkeit  musste,  durch 
ihre  eigene  dialektische  Consequenz  vorwärts  getrieben,  auch  das  Gebiet 
der  Christologie  ergreifen.  Denn  die  verschiedenen  Bestimmungen  über 
das  Verhältniss  des  Sohnes  zum  Vater  mussten  auf  die  Ansichten  über  die 
menschliche  Natur  Christi  einwirken  oder  von  da  aus  Einwirkungen  em- 
pfangen. Die  Arianer  hatten  ein  dogmatisches  Interesse,  die  Mensch- 
werdung des  Logos  nur  in  dessen  Verbindung  mit  einem  menschlichen 
Körper  nebst  der  tpvxrj  ccXoyoq  zu  setzen.  So  konnten  sie  alle  Stellen 
des  Neuen  Testamentes,  in  w^elchen  sie  etwas  eine  Beschränktheit  Anzei- 
gendes, auf  ein  Subordinationsverhältniss  Hinweisendes  von  Christo  aus- 
gesagt fanden,  als  Beweis  gegen  die  Lehre  von  der  Wesenseinheit  geltend 
machen.  Wenn  die  Nicäner  auf  die  Unterschiede  der  zwei  Naturen  zu- 
rückgingen, so  wurden  sie  von  den  Arianern  beschuldigt,  die  wahre  per- 
sönliche Einheit  des  Gottmenschen  zu  läugnen,  aus  dem  Einen  Gottessohne 
und  dem  Einen  Christus  zwei  Gottessöhne  und  zwei  Christi  zu  machen. 
Doch  finden  wir  die  Nicäner  in  genannter  Beziehung  noch  eine  Zeit  lang 
im  Schwanken  begriffen.  Athanasius  erklärt  sich  zwar  in  seiner  Schrift 
über  die  Menschwerdung  bestimmt  gegen  eine  blosse  Theophanie,  aber  es 
geht  aus  seinen  Aussagen  nicht  mit  zwingender  Nothwendigkeit  hervor, 
dass  der  Logos  eine  vollständige  menschliche  Natur  angenommen  habe. 
Hilarius,  indem  er  sich  Jesu  Leiblichkeit  von  Leiden,  ja  sogar  von  Hunger 
und  Durst  frei  denkt,  nähert  sich  unbewusst  dem  Doketismus.  Im  Gegen- 
satze gegen  die  Arianer  und  im  Anschlüsse  an  Origenes  wurde  zwar  der 
Satz  aufgestellt,  dass  in  Christo  der  Logos  nicht  die  Stelle  des  mensch- 
lichen vovq  oder  nvevua  angenommen  habe;  aber  diese  Lehre  war  noch 
nicht  in  die  Christologie  verarbeitet. 

Da  trat,  wohl  schon  seit  362,  Bischof  Ap ollin arius  von  Laodicea 
mit  seiner  eigenthümlichen  Auffassung  der  Person  Christi  hervor,  welche 
nach  seiner  Absicht  zunächst  zur  Vertheidigung  des  nicänischen  Bekennt- 
nisses gereichen  sollte.  Er  ging  nämlich  auf  den  arianischen  Satz  ein, 
dass  in  Christo  der  Logos  die  Stelle  des  menschlichen  vovq  vertreten  habe, 
den  Satz,  den  die  Arianer  anwendeten,  um  den  Logos  herunterzusetzen. 
Er  erachtete,  man  müsse  den  Arianern  jene  Concession  machen;  denn 
nur  unter  dieser  Bedingung  lasse  sich  das  nicänische  Symbol  halten.  So 
glaubte  er,  die  Arianer  mit  den  eigenen  Waffen  schlagen  zu  können. 

Er  ging  nämlich  von  der  Ansicht  aus,  es  sei  eine  unhaltbare  Lehre, 
dass  der  Erlöser  sowie  mit  dem  Vater  gleichen  Wesens,  so  auch  mit  dem 
Menschen  gleichen  Wesens  sei,  d.  h.  dass  in  Jesus  ein  vollkommener  Gott 
und  ein  vollkommener  Mensch  zu  Einer  Person  vereinigt  gewesen  seien.  Er 
meinte,  es  sei  nicht  möglich,  diese  Vorstellung  zu  vollziehen:  1)  ohne  auf 
Ungereimtheiten  zu  gerathen,  2)  ohne  die  wesentlichen  Momente  der  Erlösung 


t)ie  nestorianische  Streitigkeit.     Apollinarius.  293 

ZU  gefährden,  3)  ohne  auf  häretische  Abwege  zu  verfallen.  Was  den  er- 
sten Punkt  betrifft^  so  könnten  zwei  erkennende  und  wollende  Wesen  (ovo 
voega  xat  ^eXrjTixa)^  mit  einem  Worte  zwei  Selbstbewusstsein  keine  Ein- 
heit der  Person  bilden,  so  wenig  als  zwei  Körper  denselben  Raum  ein- 
nehmen könnten.  Es  entstehe  durch  diese  Annahme  eine  monströse  Zu- 
sammenfügung ,  die  er  avdqoanod^eoq  nannte  und  mit  den  mythologischen 
Gebilden  des  Minotaurus  und  anderer  Monstra  zusammenstellte.  Was  den 
zweiten  Punkt  betrifft,  so  lehrte  er,  wo  ein  vollkommener  Mensch,  da  sei 
auch  Sünde  {onov  releiog  avd^Qoonog,  €X€i  a^iagtia).  Da  nämlich  die 
Sünde  im  vovg  ihren  Sitz  habe,  so  sei  in  Christo,  sofern  in  ihm  der  povg 
das  Bestimmende  sei,  die  Sünde  gesetzt.  Zugleich  werde  durch  jene  An- 
nahme die  Erlösung  noch  auf  andere  Weise  beeinträchtigt.  Weil  nämlich 
der  vollkommene  Mensch  mit  dem  vollkommenen  Gott  sich  nicht  zur  Ein- 
heit der  Person  verbinde ,  so  geschehe  es ,  dass  Christus  nur  als  Mensch 
leide  und  sterbe;  da  heisse  es  aber:  „eines  Menschen  Tod  hebt  den  Tod 
nicht  auf.^  Was  den  dritten  Punkt  betrifft,  so  behauptet  Apollinarius,  dass 
diejenigen,  welche  jene  Annahme  durchführen  wollen,  unwillkürlich  dahin 
kommen,  blos  eine  Wirkung  des  Logos  auf  den  Menschen  Christus  anzu- 
nehmen und  ihn  lediglich  als  göttlichen  Menschen  (av^qoanog  ei^S-eog)  aufzu- 
fassen. So  läuft  die  Polemik  des  Apollinarius  zuletzt  auf  folgendes  Dilemma 
hinaus:  entweder  ist  das  Sein  Gottes  in  Christo  dem  Wesen  nach  dasselbe, 
wie  in  allen  anderen  Menschen,  oder  das  Menschliche  ist  in  ihm  nicht  voll- 
ständig vorhanden  gewesen,  und  durch  diese  Unvollständigkeit  ist  das  We- 
sen des  Glaubens  an  Christum  und  die  Vernünftigkeit  dieses  Glaubens 
bedingt. 

Diese  Ansicht  suchte  er  psychologisch  zu  erläutern,  indem  er  mit 
einer  Art  von  geometrischer  Präcision  die  Grenzen  genau  absteckte,  wo 
das  Menschliche  in  Christo  aufhört  und  das  Gebiet  des  Göttlichen  beginnt. 
Er  legte  nämlich  die  Dreitheiligkeit  der  menschlichen  Natur  zu  Grunde: 
1)  7iv€Vfia,  vovg,  rpvxn  Xoyixrj^  das  Höchste  im  Menschen,  die  Sphäre  der 
eigentlichen  Persönlichkeit,  des  Selbstbewusstseins ,  der  freien  Willensbe- 
stimmung,  2)  xpvxn  aXoyog,  die  thierische  Seele,  3)  trcofia.  Jenes  erste 
sprach  er  Christo  ab,  an  dessen  Stelle  setzte  er  den  Logos.  —  Apollinarius 
war  sich  der  Tragweite  dieser  Ansicht  vollkommen  bewusst.  Es  fehlte 
Cliristo,  was  das  Wesen  des  Menschen  (to  xvQianatop)  ausmacht.  Er  war 
daher  nur  als  ein  Mensch  wg  av&Qomog  Phil.  2,7.  Es  ergibt  sich  nun 
Eine  Person,  'die  eine  göttliche  und  eine  menschliche  Seite  hat.  Die  In- 
einsbildung  beider  ist  so  organisch,  dass  die  Prädicate  beider  verwechselt 
werden  können ,  so  dass  man  sagen  kann :  der  Menschensohn  ist  vom  Him- 
mel, Gott  ist  gestorben  und  so  weiter.  Nun  erhält  auch  das  Leiden  Jesu 
volle,  versöhnende  Bedeutung  und  es  kann  auch  ohne  Abgötterei  das  Fleisch 
Christi  angebetet  werden.  Da  lag  der  Abweg  nahe,  dass  auch  das  Fleisch 
Christi  vom  Himmel  gekommen  sei.  Gregor  von  Nyssa  gibt  diess  dem 
Apollinarius  schuld.  Auf  der  anderen  Seite  kam  er  dahin,  in  Christo  keinen 
vollkommenen  Gott  anzuerkennen;  die  Spitzen  (axQotrjteg)  des  Göttlichen 
wie  des  Menschlichen  in  ihm  sind  abgebrochen ;  das  gehört  zu  seiner  Eigen- 
thümlichkeit    als   Mittelwesen    zwischen   Gott    und  Mensch.      Ohne    Scheu 


294  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

berief  sich  Apollinarius  hier  auf  den  Maulesel  als  Mittelwesen  zwischen  Pferd 
und  Esel,  auf  die  graue  Farbe  als  Mischung  von  Weiss  und  Schwarz,  auf 
den  Frühling  als  Mittleres  zwischen  Sommer  und  Winter.  So  erst  ergibt 
sich  in  Christo  Eine  Natur. 

Diese  Lehre  machte  grosses  Aufsehen;  denn  sie  deckte  ungeahnte 
Schwierigkeiten  in  der  Lehre  von  der  Person  Christi  auf,  und  es  liess 
sich  nicht  läugnen,  dass  Viele  wie  Apollinarius  von  Christo  dachten,  ohne 
sich  dessen  völlig  bewusst  zu  sein.  Ueberdiess  befiiss  er  sich,  seine  Lehre  in. 
Schriften  zu  vertheidigen.  Er  suchte  Anhänger  und  fand  solche.  Er  selbst 
trat  375  aus  der  Gemeinschaft  der  katholischen  Kirche  aus  und  ting  an, 
eine  eigene  Sekte  zu  bilden.  Seine  Lehre  wurde  vom  ökumenischen  Concil 
in  Constantinopel  381  mit  dem  Anathema  belegt.  Er  starb  390,  abei* 
seine  Anhänger  erhielten  sich,  obgleich  vom  Staate  verfolgt,  noch  lange, 
bis  sie  sich  entweder  mit  der  katholischen  Kirche  aussöhnten  oder  zu  deii 
Monophysiten  übergingen.  War  doch  ihre  Lehre  die  eigentliche  Präformation 
der  monophysitischen  Lehre.  Die  Anhänger  hiessen  Dimoeriten  (zuerst 
bei  Epiphanius  haeresis  77),  weil  sie  in  Christo  nur  zwei  Bestandtheile  der 
menschlichen  Natur  annahmen,  avvov(Tia(TTai,  weil  sie  eine  Ver- 
schmelzung des  Fleisches  Christi  mit  seiner  Gottheit  lehrten,  namentlich, 
dass  das  Fleisch  Christi  himmlischer  und  ewiger  Natur  sei;  doch  dieser 
Name  passt  nur  zu  der  Partei  der  Polemianer,  von  ihrem  Haupte  Po- 
lemon  so  genannt;  eine  andere  Verzweigung  der  Anhänger  hiess  Valen- 
tinianer,  von  Valentin  so  genannt,  die  sich  am  wenigsten  von  Apollina- 
rius entfernt  zu  haben  scheinen. 

Die  Bedeutung,  die  der  Lehre  des  Apollinarius  beigelegt  wurde,  zeigt 
sich  darin,  dass  sie  von  den  angesehensten  Kirchenlehrern  jener  Zeit  in 
Schriften  bekämpft  wurde,  die  leider  als  alleinige  Quelle  für  die  Kenntniss 
seiner  Lehre  dienen;  denn  alle  seine  Schriften  sind  verloren  gegangen. 
Gegen  Apollinarius  trat  Äthan asius  auf,  doch  ohne  den  Mann  zu  nennen, 
Gregor  von  Nazianz  in  den  Episteln  an  Nektarius  und  Kelidonius, 
Gregor  von  Nyssa  im  Antirrheticus,  Theodoret  im  Dialog  von  den 
häretischen  Fabeln,  Theodor  von  Mop suestia  in  einer  Schrift,  nur  bekannt 
aus  Fragmenten,  womit  die  Synode  von  Constantinopel  im  J.  550  die  Verdam- 
mung des  Theodor  rechtfertigte  ^).  Diese  Theologen  deckten  die  Irrthümer  des 
Apollinarius,  seine  fehlerhafte  Auslegung  gewisser  Bibelstellen,  die  für  den 
christlichen  Glauben  gefährlichen  Folgen  seiner  Lehre  auf.  Allein  eine  direkte 
Widerlegung  seines  ontologischen  Argumentes,  dass  zwei  vollständige  Wesen 
nicht  in  demselben  Subjecte  zusammen  bestehen  können,  geben  sie  nicht; 
sie  berufen  sich  dagegen  darauf,  dass  der  wahrhaftige  Christus  von  keinem 
menschlichen  Verstände  erfasst  werden  könne,  indem  das  Wesen  Christi 
etwas  Incommensurables  sei.  So  lehrte  besonders  Athanasius,  und  wenn 
Gregor  von  Nazianz  sagt:  ^^  Bedenke,  dass  auch  ich,  eine  und  dieselbe  Per- 
son, den  menschlichen  sowohl  als  den  heiligen  Geist  in  mich  fassen  kann^, 
so  bedenkt  er  nicht,  dass  der  heilige  Geist  in  uns  nicht  personbildend  ist 
in  demselben  Sinne,   wie  das  Göttliche  in  Christo;  indem  er  so  unwillkür- 


1)  Bei  Mansi  IX  p.  203. 


Die  nestorianische  Streitigkeit.     Theodor  von  Mopstiestia.  295 

lieh  Christum  als  av&Qtortog  ev&eog  auffasst,  bestätigt  er  die  Meinung 
des  Apolliuarius,  dass  man  die  gewöhnliche  Vorstellung  von  Christo  nicht 
vollziehen  könne,  ohne  auf  einen  häretischen  Abweg  zu  gerathen. 

Ungeachtet  der  Uebereinstimmung  in  Verwerfung  des  Apollinarismus 
gab  es  doch  in  Beziehung  auf  die  Christologie  sehr  verschiedene  Auffass- 
ungen, die  sich  an  den  Unterschied  der  beiden  früher  genannten  Schulen 
und  Richtungen,  der  neuen  alexandrinischen  und  der  antiochenischen  an- 
scMiessen;  aus  dem  Conflicte  beider  ging  die  nestorianische  Streitigkeit 
hervor.  Die  eine,  in  Aegypten  einheimisch,  gründete  sich  auf  eine  dem 
Athanasius  zugeschriebene  Schrift,  worin  Eine  Natur  des  Fleisch  gewor- 
denen Gottes  Logos  gelehrt  wurde.  Die  Schrift  ist  unächt  i),  wurde  aber 
für  acht  gehalten,  und  der  grosse  Name  des  Athanasius  diente  nun  dazu, 
diese  Auffassung  zu  bestärken  und  zu  verbreiten.  Auch  Julius,  Bischof 
von  Rom,  der  getreue  Beschützer  des  Athanasius,  lehrte  dasselbe.  Die 
dieser  Lehrform  zugethanen  Lehrer  trugen  gerne  die  Prädicate  der  gött- 
lichen Natur  auf  die  menschliche  über,  sowie  umgekehrt  die  Prädicate  der" 
menschlichen  Natur  auf  die  göttliche.  Sie  liebten  paradox  klingende  For- 
meln: Gott  hat  für  uns  gelitten,  Maria  hat  Gott  geboren.  Der  Schwer- 
punkt dieser  Richtung  liegt  durchaus  auf  der  Seite  der  göttlichen  Natur 
Christi. 

Einen  starken  Gegensatz  dagegen  bildet  die  antiochenische  Schule. 
Der  Schwerpunkt  ihres  dogmatischen  Bewusstseins  liegt  durchaus  auf  der 
Seite  des  Unterschiedes  zwischen  der  göttlichen  und  menschlichen  Natur 
Christi.     Ihr  Ilauptvertreter  ist  Theodor  von  M  o  p  s  u  e  s  t  i  a.    (S.S.  247). 

Sein  Ausgangspunkt  war,  dass  Christus  eine  selbständige  menschliche 
Seele  gehabt,  welchen  Satz  er  auch  gegen  Apollinarius  geltend  gemacht. 
Alle  Vorgänge  in  Gethsemane  sind  ihm  ohne  diese  Annahme  unerklärlich. 
Allerdings  war  die  Gottheit  von  Anfang  an  mit  seiner  menschlichen  Natur 
verbunden,  aber  in  so  freier  Weise,  dass  die  Einheit  der  göttlichen  und 
menschlichen  Natur  erst  durch  den  heiligen  Geist  vermittelt  wurde.  So 
nahm  Jesus  zu  an  Weisheit  und  Gnade.  Da  keine  Entwicklung  und  Uebung 
ohne  Kampf  ist,  so  war  er  auch  nicht  frei  davon,  was  die  Vorgänge  in 
Gethsemane  beweisen;  der  Kampf,  den  er  dort  bestand,  wäre  ohne  Gewinn 
für  uns,  wenn  die  Gottheit  selbst  das  Subject  desselben  gewesen  wäre. 
Dabei  wurde  er  durch  den  heiligen  Geist  in  der  Liebe  zu  Gott  so  befestigt, 
dass  er  im  Guten  verharrte  und  durch  die  immer  mehr  sich  verwirklichende 
Einheit  mit  dem  Logos  das  reine  Organ  der  in  ihm  wirkenden  Gottheit 
wurde;  seine  gottmenschliche  Einheit  war  eine  werdende,  zwar  schon  mit 
der  Geburt  gegeben,  aber  erst  seit  der  Auferstehung  zum  Abschlüsse  ge- 
bracht. Die  Einheit  des  Göttlichen  und  Menschlichen  in  Christo  vollzieht 
sich  als  Einwohnung,  svoixfjcng,  Gottes;  es  ist  aber  eine  Einwohnung  nicht 
dem  Wesen  nach,  noch  blos  nach  der  Kraftwirkung  (svegyeta),  sondern 
sie  geschieht  vermöge  des  Wohlgefallens,  evdoxia,  Gottes;  die  Art  und 
Weise    der   Einwohnung   bestimmt   sich    nach   dem  Grade   des   göttlichen 


1)  Wie  Hefele  2,  129  nach  Montfaucon  und  Moehler  erachtet. 


^§g  Zweite  l*eriode  des  alten  Katholicismüd. 

Wohlgefallens;  in  Christo  ist  die  Einwohnung  absolut  vorhanden,  während 
sie  in  den  Heiligen  blos  relativ  vorhanden  ist. 

Das  göttliche  Wohlgefallen  richtete  sich  von  Anfang  auf  Christum; 
aber  erst  sein  Leben  im  Stande  der  Erhöhung  zeigt  seine  Einigung  mit 
dem  Logos  vollständig.  So  kann  Maria  nur  figürlich  ^eotoxoq  heissen, 
insofern  Gott  in  Christo  war  xa%  evdoxiav.  Nicht  die  göttliche  Natur  ist 
aus  der  Jungfrau  geboren,  sondern  der  von  dem  Saamen  Davids  ist.  Ma- 
ria hat  eigentlich  einen  Menschen  geboren,  in  welchem  die  Einigung  mit 
dem  Logos  zwar  begonnen,  aber  noch  so  wenig  vollendet  war,  dass  er 
noch  nicht  Sohn  Gottes  heissen  konnte  (Luc.  1,  25).  Der  Ausspruch:  o 
XoYO(;  (7ccQ^  €y€v6zo  ist  daher  nicht  eigentlich  zu  verstehen,  weil  sonst  der 
Logos  sich  müsste  in  einen  Menschen  verwandelt  haben,  sondern  der  Aus- 
spruch will  so  viel  sagen,  dass  der  Logos  vermöge  des  göttlichen  Wohl- 
gefallens einen  Menschen  angenommen.  Demgemäss  musste  die  Verbindung 
der  beiden  Naturen  eigentlich  eine  ethische  sein.  Treffend  in  seinem  Sinne 
vergleicht  sie  Theodor  mit  der  Verbindung  von  Mann  und  Frau;  die  Ver- 
bindung der  beiden  Naturen  bezeichnet  er  mit  den  Worten  (Tvvamsiv^ 
(Tvva(psia,  wobei  jede  der  beiden  Naturen  ihre  Integrität  behält,  wie  Mann 
und  Frau  in  ihrer  Verbindung  mit  einander.  Nur  in  der  Actualität  sind 
beide  Naturen  in  Christo  Eine  Person,  insofern  die  menschliche  ganz  und 
gar  von  der  göttlichen  sich  bestimmen  lässt;  in  ihrem  Wesen  sind  es  so- 
viel als  zwei  Personen.  Somit  bleibt  Theodor  bei  einem  ungelösten  Dua- 
lismus stehen. 

Im  lateinischen  Abendlande  findet  sich  ein  ähnlicher  Gegensatz  wie 
im  Morgenlande.  Bischof  Julius  von  Rom  und  Hilarius  von  Poitiers  stehen 
mehr  auf  Seite  der  egyptischen  Lehrform  als  auf  Seite  der  antiochenischen. 
Augustin  hält  gegen  Apollinarius  fest,  dass  der  Erlöser  eine  wahrhaft 
menschliche  Seele,  resp.  einen  menschlichen  Geist  gehabt  habe,  und  er- 
läutert seinen  Satz:  Zwei  Naturen  in  Einer  Person  mit  der  Analogie  von 
Seele  und  Leib,  wobei  er  unbewusst  an  das  Apollinaristische  anstreift ;  auch 
lehrt  er  ganz  deutlich ,  der  Logos  habe  nicht  die  Person,  sondern  die  Natur 
angenommen,  daher  er  die  Person  Christi  als  Mischung  Onixtura)  Gottes 
und  des  Menschen  auffasst  ij.  Alle  weitere  Speculation  darüber  schneidet 
Augustin  mit  dem  Satze  ab,  dass  die  Aufnahme  der  menschlichen  Natur 
in  die  persönliche  Einheit  mit  Gott  lediglich  als  Werk  der  Gnade  anzu- 
sehen sei.  Der  Mensch  in  Christo  ist  von  Gott  aufgenommen  worden,  auf 
dass  er  selbst  Gott  würde.  Hierin  zeigt  sich  offenbar  eine  Annäherung  an 
die  Lehrform  des  Theodor. 

Im  Abendlande  zeigte  sich  zur  Zeit  Augustinus  ein  Vorspiel  dessen, 
was  sehr  bald  darauf  unter  dem  Namen  der  nestorianischen  Ketzerei  die 
griechische  Kirche  bewegte.  Der  Mönch  Leporius  stellte  (426)  Behaup- 
tungen auf,  welche  die  Einheit  der  Person  aufzuheben  schienen.  Augustin 
bewies  ihm,  dass  bei  seiner  Theorie  eine  menschliche  Person  neben  der 
göttlichen,  mithin  zwei  Christus  herauskommen.  Leporius  erklärte  sich  für 
widerlegt  und  bekannte,  —  gemäss  dem  Augustinischen  Satze,  Christus 
war  deus  addendo  quod  non  erat,  non  perdendo  quod  erat,  dass  der  Logos, 

1)  So  hatte  ApoUinarius  in  seinem  Sinne  gelehrt:  »eov  xa$  ay^Qtonov  fit^ti- 


Die  nestorianisciie  Streitigkeit.  297 

alles  annehmend,  was  des  Menschen  ist,  Mensch  wurde  und  der  so  ange- 
nommene Mensch,  alles  annehmend,  was  Gottes  ist,  nichts  Anderes  als 
Gott  war. 

In  den  zwei  Lehrformen,  die  wir  betrachtet  haben,  begegnen  wir 
demselben  Gegensatze,  den  wir  von  Anfang  an  in  den  christologischen 
Verhandlungen  wahrgenommen  haben,  der  zuerst  in  seiner  crassesten  Ge- 
stalt als  Ebionitismus  und  Doketismus  auftrat,  darauf  in  Gestalt  der  zwei 
Classen  der  Monarchianer ,  deren  Häupter  einerseits  Paul  von  Samosata, 
andererseits  Sabellius  waren.  Es  Hess  sich  allerdings  einigermassen  vor- 
aussehen, dass  ein  Kampf  zwischen  beiden  Richtungen  entstehen  würde, 
wie  denn  in  der  lateinischen  Kirche  bereits  ein  leiser  Anfang  davon  ge- 
macht wurde.  Im  Morgenlande  entbrannte  der  Conflict,  als  der  Unter- 
schied der  beiden  Richtungen  aus  dem  Kreise  der  Schule,  der  theolo- 
gischen Verhandlung  heraustrat  und  auf  der  Kanzel  zur  Sprache  gebracht 
wurde.  Dass  aber  der  Conflict  so  erbittert  wurde,  solche  praktische  Re- 
sultate hatte ,  das  rührte  zum  Theil  daher ,  dass  es  sich  nicht  blos  um  die 
Ehre  des  Erlösers,  sondern  vorzüglich  auch  um  die  Ehre  seiner  Mutter 
handelte,  welcher  zu  Ehren  seit  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  Kirchen 
waren  erbaut  worden. 

2)  Die  nestorianische  Streitigkeit  und  das  dritte  ökume- 
nische Concil  zu  Ephesus,  im  Jahr  431. 

Es  Ik  das  erste  Stadium  jenes  Kampfes,  das  mit  dem  äusseren 
Siege  der  alexandrinischen  Lehrform  endigte. 

g.  1.    Aeussere  Geschichte  des  Streites. 

Nestorius,  eine  Zeit  lang  Mönch,  sodann  Presbyter  in  Antiochien, 
wenn  nicht  in  der  Schule  des  Theodor  von  Mopsuestia  gebildet,  so  doch 
vom  Geiste  der  antiochenischen  Dogmatik  durchdrungen,  wurde  428  auf 
den  Patriarchenstuhl  von  Constantinopel  erhoben.  Er  zeigte  alsobald  mön- 
chische Starrheit  und  hierarchischen  Verfolgungseifer.  „Gebt  mir,  so  sprach 
er  zum  Kaiser  in  seiner  Antrittspredigt,  gebt  mir  ein  von  den  Häretikern 
gereinigtes  Land,  und  ich  will  euch  den  Himmel  dafür  geben.  Helft  mir 
die  Häretiker  besiegen,  und  ich  will  euch  die  Perser  besiegen  helfen.'' 
Denn  in  diesen  kirchlichen  Würdeträgern,  sie  mögen  nun  Nestorius  oder 
Cyrillus  oder  selbst  Chrysostonuis  heissen ,  ist,  vermöge  ihres  hohen  Selbst- 
bewusstseins  als  der  Träger  der  Hierarchie,  besonders  wenn  noch  derEinfluss 
des  Mönchlebens  hinzukommt,  etwas  Herbes  und  Hartes.  Mit  gleichem  Eifer 
verfolgte  Nestorius  Arianer,  Novatianer  und  Quartodecimaner,  ohne  Unter- 
scheidung des  Wesentlichen  und  Unwesentlichen  i).  Indem  er  nun  auch 
die  bereits  grassirende  Mariolatrie  angriff",  gerieth  er  in  einen  Kampf,  in 
dem  er  schliesslich  unterliegen  musste. 

Es  war   nämlich  die  Benennung   ^sotdxog,    Bei  genitrix,    Gottesge- 


1)  Sokrates  7,  29. 


298  Zweite  Periode  des  alten  Katholicisrauä. 

bärerin,  Mutter  Gottes,  im  Morgeiilande  und  im  Abeiidlande  bereits  sehr 
gebräuchlich  geworden.  Athanasius  hatte  den  Ausdruck  gebraucht,  ebenso 
Epiphanius,  Cyrill  von  Jerusalem,  Didymus,  Gregor  von  Nazianz,  welcher 
letztere  den  sogar  für  gottlos  erklärte,  der  diesen  Namen  der  Maria  zu 
geben  sich  weigerte  i).  Die  Männer  der  antiochenischen  Richtung  miss- 
billigten die  Benennung  oder  wollten  sie  nur  mit  starker  Einschränkung 
des  Sinnes  gestatten  —  mit  vollem  Rechte.  Denn  sie  enthielt  dem  Keime 
nach  die  ganze  Mariolatrie  in  sich.  Sollte  die  Wurzel  der  abgöttischen 
Verehrung  der  Mutter  des  Herrn  getilgt  werden,  so  musste  man  die  Be- 
nennung Mutter  Gottes  beseitigen. 

Nestorius  traf  bei  seiner  Ankunft  in  Constantinopel  eine  sich  kund 
gebende  Divergenz  der  Ansichten  über  jene  Benennung  vor  2)  und  beson- 
ders, wie  es  scheint,  eine  starke  Neigung,  Maria  Mutter  Gottes  zu  nennen, 
und  aus  ihr  eine  Art  Göttin  {^sav)  zu  machen  3).  Es  war  übrigens  nicht 
Nestorius  selbst,  der  den  Streit  auf  der  Kanzel  eröffnete,  sondern,  wohl 
auf  seine  Veranlassung,  einer  der  von  Antiochien  mitgebrachten  Presbyter. 
Anastasius,  der  das  besondere  Vertrauen  des  Patriarchen  genoss.  ^J<;einer, 
sagte  er,  nenne  die  Maria  Mutter  Gottes,  denn  sie  war  ein  Mensch,  Gott 
kann  aber  von  keinem  Menschen  geboren  werden.^  Schon  diess  machte 
Aufsehen  und  erregte  den  Verdacht,  dass  der  Prediger  Jesum  als  blossen 
Menschen  sich  denke.  Allein  ein  weit  grösseres  Aufsehen  machte  es,  als 
ein  Bischof  aus  Mösien,  der  sich  gerade  in  der  Residenz  aufliielt,  in  einer 
Predigt  ausrief:  ^Verdammt  sei,  wer  die  Maria  Mutter  Gottes  ^iny^  und 
als  Nestorius  diesem  Bischof  nicht  widersprach.  Seitdem  wurde  wie* Frage, 
betreffend  die  Zulässigkeit  jener  Benennung  lebhafte  Streitfrage  unter 
Geistlichen  und  Laien.  Es  geschah,  dass  ein  Advokat  einen  Prediger,  der 
gegen  den  Ausdruck  ^eotoxog  protestirte,  vor  der  ganzen  Versammlung 
unterbrach.  Nun  mischte  sich  auch  Nestorius  in  den  Streit.  Er  verwarf 
in  seinen  Predigten  den  Ausdruck  als  falsche  Vorstellungen  erweckend. 
Zugleich  suchte  er  den  Schein  von  sich  zu  entfernen,  als  ob  er  Christo  die 
göttliche  Natur  abspreche;  er  schlug  den  Ausdruck  xQ^^^^otoxog  vor,  als 
mezzo  termino  zwischen  &€oj6xog  und  ap&QconoToxog,  welchen  letzteren  Aus- 
druck manche  Anhänger  des  Nestorius  beliebten.  In  einer  Predigt,  in 
welcher  er  sich  in  diesem  Sinne  aussprach,  wurde  er  selbst  von  einem 
Laien  unterbrochen:  ;,der  ewige  Logos  selbst  hat  sich  einer  zweiten  Geburt 
unterzogen.^^  Darob  entstand  unter  der  versammelten  Menge  eine  heftige 
Bewegung,  da  die  Einen  Partei  für  Nestorius,  die  Anderen  für  jenen 
Laien  nahmen.    Nestorius  fuhr  fort  zu  reden,  lobte  den  Eifer   der  Einen, 


1)  Hesychius,  Presbyter  in  Jerusalem,  ging  soweit,  David  &€0  7ittTcoQ  zu  nennen;  in 
apokryphischen  Schriften  wird  Jakobus  a(ffk(fo9fog  genannt. 

2)  Nach  dem  Brief  des  Nestorius  an  Bischof  Johannes  von  Antiochien  bei  Hefele 
2,  136.  Hingegen  nach  Sokrates  7,  32  hat  Nestorius  durch  den  Presbyter  Anastasius  die 
Sache  zuerst  in  Anregung  gebracht.  Auf  jeden  Fall  muss  er  durch  die  Stimmung,  die  er 
vorgefunden,  dazn  veranlasst  worden  sein,  wenn  gleich  dahin  gestellt  bleibt,  was  Nestorius 
in  jenem  Briefe  versichert,  ob  bei  seiner  Ankunft  die  Divergenz  schon  die  Gestalt  an- 
genommen, dass  die  einen  Maria  »soroxog,  die  anderen  ar&QCJTioToxog  nannten. 

3)  Es  ist  diess  ein  Ausdruck,  den  Nestorius  gebrauchte. 


Die  nestorianische  Streitigkeit.  299 

Jenen,  der  ihn  unterbrochen,  nannte  er  einen  elenden,  frevelhaften  Menschen. 
Da  trat  an  einem  Marienfeste  429,  von  Nestorius  dazu  eingeladen,  Bischof 
Proclus  von  Cyzicus,  in  die  Schranken.  In  Anwesenheit  des  Nestorius 
erging  er  sich  in  schwülstigen  Ausdrücken  über  Maria  als  Mutter  des 
menschgewordenen  Logos  und  gab  zu  verstehen,  dass  die  Andersgesinnten 
die  Gottheit  Christi  läugneten  i);  nachdem  er  geendet,  ergriff  Nestorius 
das  Wort  und  warnte  die  Gemeinde,  sich  nicht  durch  den  Glanz  der  Kede 
blenden  zu  lassen.  Er  hielt  nachher  noch  einige  Predigten  über  denselben 
Gegenstand,  worin  er  erklärte,  in  welchem  Sinne  er  den  Ausdruck  ^eo- 
toxog  zugeben  könne;  er  sagte  sogar,  Maria  sei  verehrungswürdig,  weil 
sie  Gott  in  sich  aufgenommen  habe  2).  Allein  das  Alles  war  nicht  vermö- 
gend, die  wachsende  Gährung  der  Gemüther  zu  stillen.  In  der  Haupt- 
kirche zu  Constantinopel  wurde  ein  Zettel  angeschlagen,  worauf  Nestorius 
mit  Paul  von  Samosata  verglichen  wurde.  Ein  Mönch  erdreistete  sich,  dem 
Nestorius,  als  er  das  Ambon  betreten  wollte,  sich  entgegenzustellen,  weil 
der  Häretiker  nicht  öffentlich  lehren  dürfe;  dieser  Mönch  wurde  bestraft 
und  aus  Constantinopel  verwiesen.  Zu  derselben  Zeit  wurden  einige  Geist- 
hche,  Gegner  des  Patriarchen,  die  gegen  ihn  gepredigt,  von  einer  Synode 
in  Constantinopel,  als  manichäisch  gesinnt,  abgesetzt.  So  bereitete  sich 
Alles  zu  einer  Kirchenspaltung  vor.  Sie  kam  zum  Ausbruch  durch  den 
Patriarchen  Cyrill  von  Alexandrien,  Nachfolger  und  Neffen  des  Theo- 
philus,  berüchtigten  Andenkens.    (S.  S.  244). 

Er  war  der  entschiedenste  Vertreter  der  alexandrinischen  Christolo- 
gie ,  und  hatte  schon  vor  der  Erhebung  des  Nestorius  auf  den  Patriarchen- 
stuhl von  Constantinopel  in  der  Schrift  über  die  Menschwerdung  des  Logos 
als  Zugabe  zu  seinem  Werke  über  die  Trinität  sich  in  jenem  Sinne  aus- 
gesprochen. Wenn  er  also  Nestorius  bekämpfte,  so  that  er  es  mehr  oder 
weniger  aus  Ueberzeugung,  womit  nicht  geläugnet  werden  soll,  dass  er 
aus  theologischer  Consequenzmacherei  Nestorius  Lehren  aufbürdete,  an  die 
dieser  keineswegs  dachte,  und  dass  er  in  der  Hitze  des  Streites  zu  Mitteln 
griff',  die  nicht  ehrlich  waren  ^). 

Als  er  von  dem  in  der  Residenz  ausgebrochenen  Streite  Kunde  er- 
hielt, trat  er  anfangs  gegen  Nestorius,  der  am  Hofe  gut  angeschrieben 
war,  mit  Mässigung  auf.  Ohne  dessen  Namen  zu  nennen,  bekämpfte  er 
die  Verwerfung  des  ^eotoxog  in  einem  der  gewöhnlichen  Osterschreiben, 
so  wie  in  einem  Warnungsschreiben  an  die  egyptischen  Mönche,  unter 
denen  sich  Anhänger  des  Nestorius  fanden.      Er   stellte   die  Sache  so  dar, 


1)  Bei  Mansi  IV.  578. 

2)  Nach  Cyrill  adversus  Nestorium  1,  2,  lehrte  dieser:  „so  wie  das  Weib  den  Leib 
des  Kindes  gebiert,  Gott  aber  die  Seele  einhaucht,  und  deswegen  das  Weib  nicht  Mutter 
der  Seele  genannt  wird,  sondern  Mutter  des  Menschen,  so  gebar  auch  Maria  den  Menschen 
mit  dem  durch  denselben  hindurchgehenden  Logos  Gottes,  und  ist  deswegen  nicht  Gottes 
Gebärerin."  —  Es  ist  ein  vollkommen  richtiger  Gedanke,  dass  der  Satz:  Maria  hat  Gott 
geboren,  dem  entspricht:  das  gebärende  Weib  hat  die  Seele  des  Kindes  geboren. 

3)  Er  war  von  vornherein  sein  Gegner,  da  er  der  Wiederherstellung  der  Ehre  des 
Chrysostoraus ,  die  Nestorius  betrieb,  sich  widersetzte. 


300  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

als  ob  die  Verwerfung  des  ^eotOxog  die  Verwerfung  der  Gottheit  Christi 
in  sich  schlösse.  Dieser  zweite  Brief,  in  vielen  Abschriften  herumgeboten, 
goss  neues  Oel  in  die  Flamme  und  Nestorius  fühlte  sich  dadurch  auf  das 
tiefste  verletzt.  Cyrill  schrieb  darüber  sich  rechtfertigend  an  Nestorius, 
dieser  an  Cyrill.  Cyrill  that  fortan  das  mögliche,  um  seine  Partei  in  Con- 
stantinopel  zu  verstärken,  des  Nestorius  Ansehen  bei  Hofe  zu  schwächen. 
Einen  sehr  empfindlichen  Schlag  versetzte  er  ihm,  indem  es  ihm  gelang, 
die  abendländische  Kirche  gegen  Nestorius  zu  stimmen,  —  in  einem  Schrei- 
ben an  den  römischen  Bischof  Coelestinus ,  worin  dem  Nestorius  schuld 
gegeben  wurde,  die  Gottheit  Christi  zu  läugnen  und  zu  lehren,  dass  nicht 
der  Sohn  Gottes,  sondern  blos  ein  Mensch  für  uns  gestorben  sei.  Ver- 
gebens erklärte  Nestorius  in  einem  Schreiben  an  Cölestin,  er  gebe  die 
Benennung  ^eotoxog  zu,  wenn  man  dieselbe  von  der  mit  der  Gottheit  ver- 
bundenen Menschheit  verstehe.  Es  kam  dahin,  dass  Nestorius  auf  einer 
Synode  zu  Rom  (430)  für  einen  Häretiker  erklärt  wurde.  Cölestin  beauf- 
tragte Cyrill,  das  Urtheil  der  römischen  Synode  in  Vollzug  zu  setzen,  und 
wofern  Nestorius  niclit  widerrufen  wolle,  sogleich  für  eine  neue  Besetzung 
des  Patriarchenstuhles  zu  sorgen. 

Der  Bischof  von  Rom  masste  sich  hierin  ein  Recht  an,  das  ihm  nach 
den  damals  geltenden  Grundsätzen  keineswegs  zukam.  Die  Sache  machte 
sich  auch  nicht  sogleich  nach  dem  Wunsche  Roms.  Es  würde  zu  weit 
führen,  wenn  wir  uns  in  alle  einzelnen  Verhandlungen  und  Operationen 
des  Streites  einlassen  wollten.  Wir  beschränken  uns  auf  Angabe  der  ent- 
scheidenden Momente.  Cyrill  erliess  430  im  Namen  einer  Synode  in  Ale- 
xandrien  an  Nestorius  einen  Briefe  worin  er  diesen  zum  Widerrufe  auffor- 
derte; er  entwickelte  zugleich  den  Lehrbegriff,  zu  dem  er  sich  bekennen 
sollte,  und  stellte  zwölf  Anathematismen  auf,  worin  das  enthalten  war,  was 
er  widerrufen  sollte.  Es  war  darin  eine  h(x)(nq  (pvdixti  ^^^  beiden  Naturen 
in  Christo  gelehrt,  und  ausdrücklich  der  Begriff  der  (Twaipeia  abgelehnt. 
Nestorius,  ohne  sich  um  die  Aufforderung  zum  Widerrufe  zu  kümmern, 
wozu  er  vollkommen  berechtigt  war,  antwortete  durch  zwölf  Gegenanathe- 
matismen.  Sie  fanden  Anklang  in  den  Kirchen  Kleinasiens  und  Syriens, 
während  Cyrill's  Anathematismen  Bedenken  erregten,  weil  dabei  eine 
völlige  Vermischung  beider  Naturen  herauszukommen  schien.  Theodoret, 
Bischof  von  Cyrus,  widerlegte  dieselben  in  einer  eigenen  Schrift ,  dazu  auf- 
gefordert durch  Bischof  Johannes  von  Ephesus.  Da  berief  Theodosius  H. 
eine  neue  allgemeine  Kirchenversammlung  nach  Ephesus  auf  das  Jahr  431. 
Cyrill  und  Nestorius,  die  auch  die  Einladung  dazu  erhalten  hatten,  kamen 
zu  dem  bestimmten  Zeitpunkte  in  Ephesus  an.  Cyrill  mit  seinem  Anhange 
war  zuerst  gekommen,  indess  die  Ankunft  der  morgenländischen,  antioche- 
nisch  gesinnten  Bischöfe  durch  mehrere,  von  ihrem  Willen  unabhängige 
Ursachen  verzögert  wurde.  Noch  waren  sie  nur  noch  wenige  Tagreisen 
von  der  Stadt  entfernt,  als  Cyrill  eigenmächtig  das  Concil  eröffnete,  den 
Nestorius  als  Angeklagten  behandelnd  vor  das  Concil  beschied  und  deu 
sich  dessen  beharrlich  weigernden  alsobald  verdammen  und  das  Absetzungs- 
urtheil  über  ihn  aussprechen  Hess.  Einige  Tage  darauf  langten  die  mor- 
genländischen Bischöfe  an  und   fanden    zu    ihrem   Erstaunen    alles    schon 


Die  nestorianische  Streitigkeit.  301 

entschieden.  Doch  versammelten  sie  sich  unter  dem  Vorsitze  des  Bischofs 
Johannes  von  Antiochien  und  erklärten  Cyrill  sowie  dessen  vornehmsten 
Gehülfen  Bischof  Memnon  von  Ephesus  für  abgesetzt.  Theodosius,  der 
unterdessen  durch  die  cyrillische  Partei  am  Hofe  gegen  Nestorius  bear- 
beitet worden  und  doch  von  vornherein  an  dem  Benehmen  des  Cyrill  An- 
stoss  genommen,  bestätigte  zuerst  alle  drei  Absetzungen.  Indessen  Cyrill 
wusste  durch  ihm  ergebene  Mönche  und  durch  Bestechungen  sich  Gunst 
am  Hofe  zu  verschaffen.  So  verblieben  Cyrill  und  Memnon  in  ihren  Aem- 
tern.  Nestorius  musste  sich  in  sein  ehemaliges  Kloster,  in  der  nächsten 
Nähe  von  Antiochien  gelegen,  zurückziehen,  wo  er  nun  einige  Jahre  im 
Frieden  lebte.  Es  kam  dahin,  dass  Cyrill  und  Johannes  sich  verstän- 
digten. Jener  unterschrieb  das  morgenländische,  angeblich  von  Theodoret, 
eigentlich  von  Bischof  Johannes  abgefasste  Glaubensbekenntniss  (mit  Aus- 
lassung des  Einganges  und  des  Schlusses,  worin  Cyrill's  Lehre  ausdrück- 
lich verworfen  war).  Es  wird  in  diesem  Bekenntnisse  Jesus  vollkommener 
Gott  und  vollkommener  Mensch  genannt,  als  solcher  aus  ipvxrj  loyixri  und 
CMfia  bestehend,  —  diess  gegen  den  Apollinarismus ,  dessen  man  Cyrill  be- 
schuldigte, —  derselbe  vor  der  Zeit  aus  dem  Vater  gezeugt,  in  der  letzten  Zeit 
zu  unserem  Heile  aus  Maria  der  Jungfrau  nach  der  Menschheit  geboren; 
in  ihm  fand  eine  Einigung  (evoKTig)  beider  Naturen  statt.  In  Betracht  dieser 
Einheit  ohne  Verschmelzung  (aavrx^^og  hmaiq)  wird  die  heilige  Jungfrau 
^eotoxog  genannt,  weil  Gott  Logos  in  ihr  Mensch  geworden  und  von  der 
Empfängniss  an  den  aus  ihr  genommenen  Tempel  mit  sich  vereinigt  hat. 
Ein  Bekenntniss,  welches  ganz  und  gar  die  Denkweise  des  Nestorius  aus- 
drückte ;  denn  der  Begriff  der  acrvyx^'^og  evwcnq  entsprach  so  ziemlich  dem 
der  avvatpeia  beider  Naturen,  wie  sie  die  antiochenische  Schule  lehrte.  Auch 
Bischof  Johannes  ging  nicht  rein  aus  diesem  Streite  hervor;  unter  den 
drei  Männern,  die  dabei  am  meisten  betheiligt  waren,  bewahrte  allein 
Nestorius  die  Reinheit  des  Charakters;  er  blieb  seiner  Ueberzeugung  un- 
erschütterlich getreu,  —  auch  in  dem,  worin  er  nachgab,  aber  desto 
trauriger  war  sein  Schicksal.  Bischof  Johannes  opferte  ihn,  zu  dem  er 
bis  dahin  gehalten  hatte,  mit  dem  er  befreundet  war,  auf.  Weil  er  den 
von  ihm  verrathenen  Freund  nicht  gerne  in  seiner  Nähe  sah,  bewirkte 
er,  dass  er  nach  der  grossen  Oase  in  Aegypten  verwiesen  wurde.  Von 
da  aus  allerlei  Gründen  oder  unter  allerlei  Vorwänden  von  einem  Orte 
zum  anderen  geschleppt,  starb  er  c.  440.  Inmitten  dieser  Streitigkeiten 
wurde  auch  die  Lehre  des  Theodor  von  Mopsuestia,  als  Quelle  des  Nesto- 
rianismus,  besonders  von  Rabulas,  Bischof  von  p]dessa  in  Mesopotamien, 
der  eine  Zeit  lang  zu  Nestorius  gehalten  hatte,  angegriffen  und  der  Ketzerei 
beschuldigt.  Die  Schule  in  Edessa  wurde  eine  Zeit  lang  der  Zufluchtsort 
der  antiochenischen  Lehre  unter  vielen  Verfolgungen.  Ibas,  Bischof  von 
Edessa,  Nachfolger  des  Rabulas,  war  sogar  entschiedener  Anhänger  der- 
selben und  übersetzte  die  Schriften  Theodor's  in  das  Syrische.  489  wurde 
die  Schule  aufgelöst;  die  Trümmer  flüchteten  nach  Persien;  so  entstanden 
die  Nestorianer,  chaldäische  Christen,  Thomaschristen,  von  denen 
an  einem  anderen  Orte  die  Rede  sein  wird, 


302  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 


§.  2.  Nähere  Betrachtung  der   christologischen  Momente   der 
nestoriauischen  Streitigkeit. 

Des  Nestorius  Name  kam  mit  dem  Vorwurfe  einer  argen  Ketzerei  ge- 
brandmarkt auf  die  Nachwelt,  als  ob  Jesus,  nach  seiner  Ansicht,  blosser 
Mensch  gewesen  und  erst  lange  nach  der  Geburt  auf  irgend  eine  Weise 
mit  Gott  verbunden  worden  sei.  Es  half  nichts,  dass  noch  zu  Lebzeiten 
des  Nestorius  sich  Sokrates  7,  32  seiner  annahm  und  auf  Grund  der  Er- 
forschung seiner  Schriften  die  Unwahrheit  jenes  Urtheils  behauptete  h. 
Luther,  in  die  Fussstapfen  des  Sokrates  tretend,  war  nach  langer  Zeit  der 
erste,  der  ihn  auffallend  milde  beurtheilte ;  er  habe  nicht  die  Gottheit 
Christi  geleugnet,  noch  zwei  Personen  in  Christo  gelehrt,  sondern  aus 
Eitelkeit  und  Unverstand  den  Ausdruck  Mutter  Gottes  verworfen  2),  Zu 
gleicher  Zeit  gewöhnten  sich  die  lutherischen  Theologen,  die  reformirte 
Christologie  des  Nestorianismus  zu  beschuldigen,  wogegen  von  Calvin  an 
die  reformirten  Theologen  protestirten  und  in  die  Verwerfung  des  Nestoria- 
nismus einstimmten,  während  andere  reformirte  und  auch  lutherische  Theo- 
logen urtheilten,  es  liabe  ein  blosser  Wortstreit  obgewaltet;  diesem  Ur- 
theile  widersprachen  in  unseren  Tagen  Neander,  Baur,  Dorner. 

Nestorius  ging  zunächst  davon  aus,  dass  die  Benennung  d^eotoxoq  et- 
was Heidnisches  an  sich  habe.  „Hat  denn  Gott  eine  Mutter  V^  so  fragt  er 
in  seiner  ersten  Predigt  über  diese  Streitfrage.  ^^Dann  wäre  das  Heiden- 
thum  zu  entschuldigen,  das  den  Göttern  Mütter  zuschrieb.^  Diese  Art  von 
Polemik  ist  derb,  rücksichtslos,  auch  wohl  unklug  zu  nennen,  aber  sie  war, 
was  den  zu  Grunde  liegenden  Gedanken  betrifft,  vollkommen  gerechtfer- 
tigt; es  war  nöthig,  die  Kirche  daran  zu  erinnern,  dass  sie  mit  ihrer  Ver- 
ehrung der  Maria  auf  dem  Wege  sei,  in  Götzendienst  zu  verfallen.  Aber 
freilich  wehe  dem,  der  es  wagte,  die  Kirche  davor  zu  warnen!  Was  Chri- 
stum betrifft,  so  sah  Nestorius  in  jener  Benennung  eine  Herabwürdigung 
der  Gottheit.  Wenn  er  lehrte,  dass  Maria  den  Menschen,  welcher  der 
Tempel  Gottes  w^erden  sollte,  geboren,  so  konnte  er  sich  auf  einen  Aus- 
spruch des  Herrn  berufen  (Joh.  2,  19).  Ebenso  richtig  war  es,  wenn  er 
die  menschliche  Natur  das  Organ,  instrumentum,  der  Gottheit  nannte,  auch 
indumentiim,  das  man  verehrt  wegen  dessen,  der  es  trägt.  Man  ehrt,  was 
sichtbar  ist,  wegen  des  darunter  Verborgenen.  Gott  ist  unzertrennbar  von 
dem,  was  den  menschlichen  Augen  offenbar  ist.  Wie  sollte  ich  also  die 
Ehi'e  und  Würde  dessen  zertrennen,  der  selbst  nicht  zertheilt  wird'?    Di- 


1)  Sokrates  ist  im  Irrthum,  wenn  er  meint,  Nestorins  habe  blos  deswegen  den  Aus- 
druck (^foToxog  verworfen,  weil  er  nicht  wusste,  dass  viele  Kirchenlehrer,  namentlich  schon 
Origenes  ihn  gebraucht  und  gebilligt  hatten. 

2)  Siehe  die  Schrift  von  den  Concilien  und  Kirchen.  Erlanger  Ausgabe  Bd.  25 
S.  303.  Luther  stellt  übrigens  die  Ansicht  des  Nestorius  doch  falsch  dar :  wenn  man  sage, 
die  hat  den  oder  den  geboren,  so  meine  man  nicht,  sie  sei  Mutter  seiner  Seele,  und  doch 
besage  es  der  Ausdruck;  das  ist  nicht  richtig,  sondern  der  Ausdruck  Mutter  Gottes  kommt 
dem  gleich,  dass  die  und  die  die  Seele  des  und  des  geboren  habe ;  darum  verwarf  Nestorius 
den  Ausdruck  oder  gab  ihn  nur  mit  berichtigender  Ergänzung  zu. 


Die  nestorianische  Streitigkeit.    Christologische  Momente.  303 

vido  naturas,  sed  conjungo  reverentiam  i).  So  ist  also  Maxia  d^eodoxog^  aber 
nicht  ^sozoxog]  dieses  ist  allein  Gott,  der  den  Sohn  aus  sich  gezeugt  hat. 
Der  Sohn  vereinigte  sich  mit  dem  von  Maria  geborenen,  ward  aber  nicht 
selbst  von  der  Maria ;  denn  sonst  würde  es  darauf  hinaus  kommen,  dass 
das  Wort  (der  Logos)  Geschöpf  des  Geistes  ist,  von  dem  er  empfangen  ist. 
Maria  ist  also  nur  uneigentlich  d^eotoxog  wegen  der  geborenen  Menschheit, 
die  mit  dem  Worte  Gottes  verbunden  war  2).  Wer  anders  lehrt ,  der  ver- 
fällt nothwendig  in  den  Irrthum  des  Arius  und  ApoUinarius,  die  Christo  einen 
wahrhaft  menschlichen  vovg  absprachen:  die  oft  wiederholte  aber  gewiss 
nicht  unverdiente  Beschuldigung,  welche  Nestorius  gegen  Cyrill  vorbrachte. 
Mit  Recht  berief  er  sich  darauf,  dass  er  die  Schrift  für  sich  habe.  So  oft 
sie  von  der  Geburt  Christi  rede,  so  gebrauche  sie  nie  den  Ausdruck  Gott, 
sondern  Christus,  oder  Sohn,  oder  Herr,  da  diese  drei  Namen  beide  Natu- 
ren bezeichnen.  Mit  Recht  hob  er  hervor,  dass  der  Ausdruck  ^eotoxog  in 
der  Schrift  nicht  vorkomme,  dass  auch  die  Väter  in  Nicäa  ihn  nicht  ge- 
braucht hätten.  Bei  der  avva(p€ia^  noch  dazu  der  aGvyxvtog  (rwatpeta^ 
womit  er  nach  Theodor  die  Verbindung  der  beiden  Naturen  bezeichnete,  war 
das  Geheimniss  der  Menschwerdung  des  Wortes  allerdings  nicht  erklärt,  auch 
nicht  vollständig  ausgedrückt.  Aber  wer  hatte  es  bis  dahin  besser  ausge- 
drückt? Ist  es  dem  Patriarchen  von  Alexandrien  gelungen,  eine  innigere 
Verbindung  beider  Naturen  aufzustellen,  ohne  die  Integrität  einer  jeden 
von  beiden  zu  gefährden? 

Sowie  es  den  Anschein  hat,  als  werde  nach  Nestorius  die  Vereinigung 
beider  Naturen  zu  einer  blos  nominellen,  so  fällt  derselbe  Schein  im  Lehr- 
begriff des  Cyrill  auf  die  Unterschiede  zwischen  beiden  Naturen.  Er  will 
in  Christo  den  gegenwärtigen,  in  der  Welt  wii'klich  gewordenen  Gott  ha- 
ben, der  ebenso  an  all  dem  Unserigen  Theil  nimmt,  wie  er  unserer  Natur 
an  dem  Seinigen  Autheil  gibt.  Daher  sein  Lieblingsausdruck:  Christus  ist 
der  mit  uns  seiende  Gott,  Emanuel.  Seine  Erlöserkraft  liegt  nicht  im 
Logos  an  sich,  sondern  darin,  dass  die  Menschheit  in  ihm  realen  An- 
theil  an  den  Kräften  des  Logos  hat.  Um  uns  zu  erlösen,  musste  der 
Logos  vollkommene  Lebensgemeinschaft  mit  der  Menschheit  eingehen^  weil 
er  sowohl  dem  Leibe  Unsterblichkeit,  als  der  Seele  Gerechtigkeit  bringen 
sollte.  Beides  hat  er  dadurch  gebracht,  dass  er  nach  dem  Fleische  unser 
Bruder  ward  und  unserer  Natur,  zunächst  in  sich,  belebende  Kräfte  mit- 
theilte, eben  dadurch  aber  an  seiner  Menschheit  ein  Organ  bekam,  um  auf 
die  ganze  Menschheit  als  auf  die  ihm  wesensgleiche  einzuwirken.  Die 
Menschheit  des  Logos  ist  also  wesentlich  das  Ineinander  der  Aneignung 
des  Unsrigen  {oixeiMaig^  idioTiotfjffig)  und  des  Antheilgebens  an  dem  Sei- 
nigeu  (xQivonoteiv).  In  der  einen  Person  Christi  ist  das  beides  vollzogen, 
dass  der  Sohn  Gottes  das  Menschliche  zu  dem  Seinigen  gemacht  und  dass 
er  demselben  Antheil  gegeben  an  dem  Seinigen.  Daher  alle  Stellen  der 
Schrift,  die  von  Christo  handeln,  von  der  Einheit  beider  Naturen  gelten. 


1)  /(i)QtCo}   Tag  ifiv(fft<;  nXV   *Vw   ttjv   7i()og   xvt^rjffty. 

2)  propter  uatam  humanitatem  conjanctam  Dei  verbo. 


304  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Offenbar  vertritt  hier  Cyrill  eine  Seite  der  Christologie,  die  durchaus 
zur  Sprache  kommen  musste  und  die  ein  tief-relijj^öses  Interesse  darbietet. 
Doch,  wenn  diese  Seite  in  der  antiochenischen  Lehre  nicht  hervorgehoben 
wurde,  so  lässt  sich  deswegen  nicht  sagen,  dass  sie  einen  Widerspruch  da- 
gegen bildete.  Die  zwei  Seiten  schliessen  einander  nicht  aus,  sondern  er- 
gänzen sich  gegenseitig.  Nun  aber  gibt  Cyrill  der  Sache  eine  Wendung, 
wodurch  ein  Widerspruch  angebahnt  wird.  Das  Geboren  werden,  Leiden, 
Auferstehen  u.  s.  w.  sind  um  so  mehr  auch  auf  die  göttliche  Natur  zu  be- 
ziehen, als  der  Sohn  Gottes,  der  Logos  allein  das  Subject  ist,  das  in  Christo* 
Träger  von  Prädicaten  sein  kann.  Einem  und  demselben  kommt  das  ewige 
Sein  und  das  Sterben  zu,  ja  auch  die  Salbung  mit  dem  heiligen  Geiste. 
Ohne  das  gibt  es  keine  eigentliche  Menschwerdung  des  Logos.  Auch  die 
Menschheit  wird  durch  den  Logos  der  göttlichen  Herrlichkeit  theilhaftig; 
die  Gottheit  ist  der  menschlichen  Natur  zu  eigen  geworden.  Seine  Mensch- 
heit ist  das  Organ  seiner  Geistesmittheilung.  Er  belebt  uns  dadurch,  dass 
er  uns  seine  erhöhte  Menschheit  zur  Speise  darreicht  *).  Das  ist  die 
€P(o(Tig  (fvatitri ,  aXrj^fjg^  die  er  der  antiochenischen  awaipeia  entgegen- 
stellt. 

Wenn  Cyrill  sich  mit  diesen  Sätzen  begnügt  hätte,  so  müssten  wir 
allerdings  die  grösste  principielle  Differenz  zwischen  ihm  und  Nestorius 
annehmen;  denn,  wird  mit  jenen  Sätzen  voller  Ernst  gemacht,  eignet  sich 
der  Logos  die  menschliche  Unvollkommenheit  und  Leidentlichkeit  an,  so 
scheint  es,  dass  Gott  nach  heidnischer  Weise  leidentlich  gedacht  werde, 
eine  Einwendung,  die  auch  schon  Nestorius  erhoben  hatte.  Allein  Cyrill 
weist  aufs  entschiedenste  alle  solche  Vorstellungen  ab.  Gott  und  Menschheit 
sind  ihm  unendlich  verschieden.  Die  menschliche  Natur  ist  der  göttlidien 
völlig  inadäquat  («i/tcoc,  avoiJLoiog).  Gott  ist  die  wesentliche  Unwandel- 
barkeit. Die  göttliche  Natur  kann  ebensowenig  ihre  Unversehrtheit  auf- 
geben, als  die  menschliche  in  die  göttliche  verwandelt  werden.  Es  ist  also 
keine  Rede  davon,  dass  der  Herr  der  Aeonen  eigentlich  geboren  worden, 
blos  dem  Fleische  nach,  (ragxixo^g  d.  h.  xata  (ragxa,  ist  er  geboren;  er  hat 
auf  unleidentliche  Weise  gelitten:  analog  ena&ev.  —  Diess  entspricht 
im  wesentlichen  dem  antiochenischen  Satze:  nicht  der  Logos  hat  gelitten, 
sondern  der  Mensch.  So  musste  Cyrill,  um  nicht  auf  wahrhaft  heidnischen  ^ 
Irrthum  zu  gerathen,  die  Spitzen  seiner  Lehre  abbrechen,  nur  mit  andern  ' 
Worten  dasselbe  sagen,  was  Nestorius,  mitliin  unwillkürlich  das  Gestand-  ' 
niss  ablegen,  dass  kein  principieller  Gegensatz  zwischen  den  beiderseitigen 
Lehrformen  bestehe. 

Um  aber  dem  Nestorianismus  zu  entgehen,  betont  er  wieder  die  Ein- 
heit beider  Naturen.  Vor  der  kvo^(ng  gab  es  zwei  Naturen,  seit  derselben 
nur  eine  2).  Es  gibt  nun  keinen  Unterschied  der  Naturen  mehr,  sondern 
nur  verschiedene  göttliche  und  menschliche  Prädicate,  aber  für  beiderlei 
Prädicate  nur  Einen  gemeinsamen  Einheitspunkt  (tpvaig).    Als  Bezeichnung 


2)  ^fr«    Tr]y  IvtaCiv  wq  ayrjQrj/ifyrjg   rtjg  (iq  ^vo  Sini o^rjg  [iKtv  tivni  nKTrfvofify 
Tijy  Tov  oiov  (pvßty. 


Der  entychianische  Streit.  305 

dafür  verwirft  er  zwar  die  Ausdrücke  xgacfig,  Vermischung,  tgoTtti,  Wand- 
lung, (pVQiiog,  Vermischung;  das  hindert  ihn  aber  nicht,  das  Bild  des  un- 
tereinander gemischten  Weines  und  Wassers  zu  gebrauchen.  Um  dem  Ein- 
wurf zu  begegnen,  dass  diese  (pvfftxrj  kvoofTig  eine  Veränderung  des  Logos 
in  sich  schliesse,  machte  er  geltend,  dass  es  ja  von  Ewigkeit  her  Be- 
stimmung des  Logos  gewesen  sei,  ins  Fleisch  einzugehen.  Bei  diesem  Ein- 
gehen ins  Fleisch  musste  er  doch  eine  Selbstbeschränkung  des  Logos  an- 
nehmen; daher  die  Formel:  ^die  göttliche  Natur  machte  sich  für  die 
menschliche  erträglich"  {oktttj)  und  „indem  der  Logos  die  menschliche 
Natur  annahm,  überliess  er  den  Gesetzen  derselben  eine  Macht  über  sich^^ 
So  Hess  also  der  Logos  der  Bethätigung  seines  göttlichen  Willens  nicht 
freien  Lauf,  um  die  menschliche  Natur  nicht  aufzuheben.  Auf  der  andern 
Seite  endigt  die  Lehre  des  Cyrill  mit  einer  Verkürzung  der  menschlichen 
Natur.  Er  gebraucht  nämlich  vielfach  das  Bild  von  Seele  und  Leib,  um  die 
Verbindung  des  Logos  mit  der  menschlichen  Natur  auszudrücken.  Da  aber 
der  Leib  keine  Persönlichkeit  hat,  so  ist  hiemit  die  Schwierigkeit  umgan- 
gen, oder  ist  vielmehr  wieder  aufs  neue  eine  andere  Schwierigkeit  offenbar 
geworden ;  d.  h.  Cyrill  ist  wieder  ganz  nahe  bei  dem  Satze  angelangt,  dass 
in  Christo  der  Logos  die  Stelle  des  menschlichen  vovg  eingenommen  hat. 

Als  Resultat  des  Ganzen  stellt  sich  Folgendes  heraus:  es  findet  eine 
principielle  Differenz  zwischen  beiden  Lehrbegriffen  nur  insofern  statt,  als 
sie  beide  aus  dem  Gesichtspunkte  ihrer  äussersten  Extreme  betrachtet  und 
beurtheilt  werden.  Das  Extrem  des  nestorianischen  Lehrbegriffes  ist  die 
Setzung  von  zwei  Persönlichkeiten  in  Christo,  die  nothwendig  keine  Einheit 
bilden  können.  Das  Extrem  der  Cyrillischen  Lehre  ist  der  Begriff  eines 
als  Mensch  unter  Menschen  wandelnden  Gottes,  wobei  der  Mensch  in  Christo 
nicht  eigentlich  erreicht,  mithin  auch  die  Menschwerdung  nicht  eigentlich 
vollzogen  ist,  höchstens  physisch,  aber  durchaus  nicht  ethisch.  Nestorius 
nun  war  w^eit  davon  entfernt,  zwei  Söhne  Gottes,  zwei  Christi  setzen  zu 
wollen;  was  Cyrill  betrifft,  so  hat  er  wenigstens,  wo  er  schien  auf  das  Ex- 
trem seiner  Lehre  hinaus  zu  gerathen,  immer  wieder  eingelenkt.  Hätte 
er  mit  voller  Consequenz  seine  Anschauung  verfolgt,  so  hätte  er  zuletzt 
im  Doketismus  endigen  können.  Hierin  zeigt  sich  deutlich  die  Opportu- 
nität der  Opposition,  die  Nestorius  gegen  die  alexandrinische  Christologie 
machte. 


IV.      Der    Entychianische    Streit.       Die    Räubersynode     von 

Ephesus   im   Jahre   449,    und   die   vierte    allgemeine    Synode 

zu  Chalcedon  im  Jahre  451. 

Cyrill  behielt  ungeachtet  der  Unterschreibung  des  von  der  Synode 
zu  Ephesus  angenommenen  Symbols  seine  Ansicht  bei.  Die  Orientalen 
hatten  keinen  Grund,  das  genannte  Symbol  zu  verwerfen,  obschon  darin 
die  Maria  ^eotoxog  genannt  wurde.  So  bestand  der  Zwiespalt  fort, 
künstlich  verdeckt  durch  jenes  Symbol  und  durch  die  Verdammung  der 
Lehre  des  Nestorius.    Cyrill  erklärte  gegen  antiochenisch-gesimite  Bischöfe 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  20 


306  Zweite  Periode  des  alten  Katbolicismns. 

die  das  ^eotoxog  völlig  annahmen,  das  genüge  nicht  zur  Tilgung  des  ne- 
storianischen  Makels.  Wer  sich  auf  Diodor  von  Tarsus  und  auf  Theodor 
von  Mopsuestia  berufe,  der  hege  noch  immer  den  nestorianischen  Irrthum. 
Er  drang  daher  auf  die  Verdammung  der  Lehre  jener  im  Morgenlande  so 
hoch  angesehenen  Männer.  Auf  seinem  Standpunkte  war  die  Behauptung 
vollkommen  richtig,  dass  Theodor  dieselbe,  ja  noch  grössere  Gottlosigkeit 
lehre  als  Nestorius.  Er  tliat  behufs  der  Verdammung  der  Lehre  Theo- 
dor's  Schritte  bei  dem  Kaiser  und  bei  Proclus,  dem  Nachfolger  des  Nesto- 
rius, doch  vergebens;  demselben  Zwecke  diente  seine  schriftstellerische 
Thätigkeit  bis  zu  seinem  Tode  im  Jahr  444. 

Dioskur,  sein  Nachfolger,  trat  ganz  in  seine  Fussstapfen;  er  war 
noch  herrschsüchtiger  und  gewaltthätiger  und  scheute  auch  vor  keinera 
Mittel  zurück,  das  den  Sieg  seiner  dogmatischen  Formel  sichern  konnte. 
Vom  Hofe  begünstigt,  suchte  er  die  eifrigsten  Bischöfe  von  der  Gegen- 
partei zu  beseitigen,  so  namentlich  Theodoret,  der  doch  Cyrill  für  recht- 
gläubig, aber  freilich  die  ägyptische  Christologie  als  Rückfall  in  die- 
Lehre  des  Apollinarius  erklärt  hatte. 

Um  so  mehr  hielten  die  antiochenisch  Gesinnten  an  ihrem  Lehrbe- 
griffe fest.  Es  gelang  ihnen  sogar,  demselben  bei  einem  wichtigen  Anlass 
Geltung  zu  verschaiFen  und  der  ägyptischen  Lehre  eine  Niederlage  beizu- 
bringen. Der  Presbyter  Eutyches,  seit  mehr  als  dreissig  Jahren  Archi- 
mandrit  eines  Klosters  bei  Constantinopel ,  ein  im  Geruch  der  Heiligkeit 
stehender  Greis,  der  sein  Kloster  nie  verliess,  aber  viele  Besuche  empfing, 
ein  ehrlicher,  aber  geistig  beschränkter  Mann,  äusserte  sich  gegen  die 
Besucher  über  das  Geheimniss  der  Menschwerdung  so,  dass  er  selbst  Gleich- 
gesinnten Anstoss  gab.  Er  war  früher  Gehülfe  des  Cyrill  gegen  Nesto- 
rius gewesen;  er  war  Haupt  der  cyrillischen  Mönchspartei,  stand  auch  mit 
Dioskur  in  Verbindung  und  galt  viel  bei  dem  mächtigen  Oberkammerherrn 
des  Kaisers,  Chrysaphius.  Im  Vollgefühl  seiner  Autorität  erliess  er  448 
ein  Schreiben  an  den  römischen  Bischof  Leo,  dass  die  nestorianische 
Ketzerei  wieder  um  sich  greife.  Da  trat  gegen  ihn  ein  Mann  auf,  der 
einer  der  eifrigsten  Anhänger  der  Lehre  CyrilFs  und  einer  der  eifrigsten 
Gegner  des  Nestorius  war,  Euseb,  Bischof  von  Dorylaeum,  doch 
wollte  er  die  Spitzen  oder  Extreme  der  ägyptischen  Christologie  vermieden 
wissen.  Da  er  Eutyches  wohl  kannte  und  ihn  bisweilen  besuchte,  lernte 
er  die  Ueberspanntheit  des  Mannes  kennen,  und  ermahnte  sich  zu  massi- 
gen. Da  Eutyches  darauf  nicht  einging,  wendete  sich  Euseb  an  eine 
damals  in  Constantinopel  versammelte  Synode  der  gerade  in  der  Residenz 
anwesenden  Bischöfe  (ffvi^odog  svÖTj^ovaa)  und  übergab  ihr  eine  Anklage- 
schrift gegen  Eutyches,  als  der  über  die  Menschheit  Christi  eine  blasphe- 
mische  Lehre  vertrete,  und  die  krlehre  des  Valentin  (eines  Anhängers 
von  Apollinarius)  und  des  Apollinarius  erneuere  (448).  Flavian,  Patriarch 
von  Constantinopel,  ein  mild  und  friedfertig  gesinnter  Antiochener,  dessen 
persönlicher  Feind  Chrysaphius  war,  und  der  neue  Verwicklungen  und 
Erschütterungen  befürchtete,  rietli  zu  privater  Verständigung,  doch  ver- 
gebens;   Eutyches  wurde  vor  die  Synode  geladen;    er   erschien  erst  nach 


Der  eutychianische  Streit.  307 

dreimaliger  Aufforderung,  umgeben  von  Soldaten  und  Mönchen,  die  für 
seine  Sicherheit  sorgen  sollten. 

Aus  dem  angestellten  Verhöre  ergab  sich  Folgendes  als  Lehre  des 
Mannes:  vor  der  Einigung  bestanden  in  Christo  zwei  Naturen,  nach  der- 
selben nur  eine  und  zwar  als  des  Fleisch  gewordenen  Gottes.  Er  war  auch 
angeklagt  worden  zu  lehren,  dass  Christus  nach  seiner  Leiblichkeit  mit 
uns  nicht  gleichen  Wesens  sei;  dagegen  erklärte  er:  ;,soll  ich  sagen,  dass 
Christus  (in  genannter  Beziehung)  mit  uns  gleichen  Wesens  sei,  so  sage 
ich  auch  diess  ^).  Da  er  aber  darauf  bestand,  dass  nach  der  Einigung  nur 
noch  von  Einer  (des  Fleisch  gewordenen  Gottes)  Natur  die  Rede  sein  könne, 
sprach  die  Synode,  ungeachtet  aller  Versuche,  sie  einzuschüchtern,  das 
Urtheil  über  ihn.  Eutyches  wurde  aus  dem  Priesterstande,  aus  seinem 
Range  als  Archimandrit,  aus  der  Gemeinschaft  der  Gläubigen  ausgestossen. 
Es  war  ein  entschiedener  Sieg  der  antiochenischen  Lehre  über  die  cy- 
rillische. 

Daher  gab  diese  Verurtheilung  des  Eutyches  das  Zeichen  zu  einer 
gewaltthätigen  Reaction  von  Seiten  derjenigen  Partei,  deren  Vertreter  er 
war,  so  wie  zu  einem  augenblicklichen  Siege  derselben.  Dioskur,  auf  den 
sich  p]utyches  berufen,  war  die  Seele  dieser  Reaction.  Die  Gunst,  deren 
er  am  Hofe  genoss,  sowie  die  Zustimmung  des  römischen  Bischofs,  auf  die 
er  hoffte,  schien  ihm  den  Weg  zu  bahnen.  Eutyches  nämlich  hatte  also- 
bald  nach  seiner  Verurtheilung  an  die  Bischöfe  von  Alexandrien  und  von 
Rom  appellirt  und  Leo  sich  verletzt  gegen  Flavian  ausgesprochen,  dass  er 
nicht  schon  vorher  von  der  Streitsache  in  Kenntniss  gesetzt  worden  sei. 
Er  wisse  nicht,  mit  welchem  Rechte  Eutyches  verurtheilt  worden,  er  be- 
gehre zu  wissen,  welch  ein  neues,  dem  alten  Glauben  zuwiderlaufendes 
Dogma  Eutyches  aufgestellt  habe.  Aber  auch  Euseb  von  Doryläum  hatte 
an  Leo  berichtet;  darüber  schrieb  dieser  an  den  Kaiser,  dass  aus  den 
Aeusserungen  Euseb's  die  Häresie,  deren  man  Eutyches  beschuldigt  habe, 
nicht  deutlich  erhelle;  zu  tadeln  sei  das  Stillschweigen  Flavian's;  er  hoffe 
aber,  dieser  werde  es  brechen,  damit  er  (Leo)  das  Urtheil  fällen  könne. 

Theodosius  H. ,  dem  Eutyches  geneigt,  durch  Chrysaphius  gegen 
Flavian  eingenommen,  für  Dioskur  günstig  gestimmt,  befahl,  auf  Grund 
der  Appellation  des  Eutyches  an  ein  neues  allgemeines  Concil,  obwohl  Leo 
und  Flavian  alles  mögliche  thaten,  um  die  Sache  zu  hintertreiben,  —  die 
Versammlung  einer  neuen  Synode  nach  Ephesus  auf  das  Jahr  449,  von 
welcher  die  nestorianische  Lehre  bis  auf  ihre  letzte  teuflische  Wurzel  aus- 
gerottet werden  müsse,  —  so  lauteten  die  Worte  des  kaiserlichen  Aus- 
schreibens. Von  der  Synode  blieben  alle  Männer  ausgeschlossen,  von 
welchen  ein  kräftiger  Widerspruch  gegen  die  ägyptische  Lehre  zu  befürch- 
ten war,  namentlich  Theodoret,  so  wie  alle  Mitglieder  der  Synode,  welche 
Eutyches  verurtheilt  hatte.  Diese  nebst  Flavian  sollten  vor  der  Synode 
als  Angeklagte  erscheinen,  um  die  Entscheidung  des  Concils  zu  verneh- 
men.   Dioskur   sollte   den  Vorsitz   führen   und    von    der  Entscheidung  des 


1)  Et  (ff  cf*i  UTiett^  ofioovßioy  vf^tv,  xai  tovto  X(y<o.    BeiMansi,  Sacrorum  Con- 
ciliorura  nova  et  amplissima  collectio  VII.  741. 


3Q3  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Concils  sollte  es  abhängen,  ob  Theodoret  an  der  Synode  Theil  nehmen 
dürfe.  Zugleich  verordnete  der  Kaiser,  dass  der  Abt  Barsumas  als 
Repräsentant  der  cyrillischen  Mönchspartei  im  Concil  Sitz  und  Stimme 
haben  sollte.  Zwei  kaiserliche  Bevollmächtigte  wurden  der  Synode  beige- 
ordnet, mit  dem  gemessenen  Befehl,  denjenigen,  der  zum  Nachtheil  des 
wahren  Glaubens  Unruhen  errege,  in  sicheren  Gewahrsam  zu  bringen. 
So  war  das  Resultat  der  Verhandlungen  im  Voraus  bestimmt. 

Dazu  kamen  die  zum  Theil  in  Gewaltthätigkeiten  übergehenden 
Drohungen  Dioskur's  und  seines  Anhanges,  unterstüzt  von  Mönchen,  Sol- 
daten und  Krankenwärtern,  die  dieser  Synode  den  Namen  Raub  er  Sy- 
node, avvodoq  XTjffTQixrj,  latrociniiim  Ephesiniim  eingebrannt  ha,- 
ben,  aber  freilich  hätten  alle  Gewaltthätigkeiten  nichts  gefruchtet  ohne 
die  Feigheit  der  Bischöfe.  Der  Plan  Dioskur's  ging  dahin,  seiner  Sache 
den  Anschein  zu  geben,  als  ob  es  sich  blos  um  Bestätigung  der  Beschlüss'3 
von  Nicäa  und  Ephesus  handle.  Daher  erklärte  er  für  verdammt  denjeni- 
gen, der  diese  Beschlüsse  wieder  in  Frage  stelle.  Diese  Erklärung  wurde 
mit  rauschendem  Applaus  aufgenommen.  ^^Heil  dem  Dioskur,  dem  grossen 
Wächter  des  Glaubens/^  Als  ein  Bischof  von  zwei  Naturen  Christi  sprach, 
riefen  die  Mönche:  ,,schneidet  den  selbst  entzwei,  der  von  zwei  Naturer 
redet."  Als  Euseb  von  Doryläum  die  Lehre  von  zwei  Naturen  vortragen 
wollte,  riefen  viele  Stimmen:  ;;Wie  Euseb  den  Herrn  entzwei  geschnitten, 
so  werde  er  selbst  entzwei  geschnitten."  Darauf  wurden  die  Bischöfe 
Flavian,  Euseb  von  Doryläum,  Domnus  von  Antiochien  excommunicirt  und 
abgesetzt.  Dabei  erlitt  Flavian  thätliche  Misshandlungen  und  wurde  in 
die  Verbannung  geführt.  Theodoret  wurde  aus  seiner  DiÖcese  entfernt, 
und  in  ein  Kloster  verwiesen.  Es  war  die  brutale  Reaction  gegen  den 
Sieg  der  Antiochenisch- Gesinnten  über  Eutyches. 

Inzwischen  konnte  es  dabei  sein  Bewenden  nicht  haben.  Es  erfolgte 
ein  Rückschlag  gegen  diese  Räubersynode,  wodurch  die  beiden  einander 
gegenüber  stehenden  Lehrbegriffe  mit  einander  einigermassen  ausgesöhnt 
wurden.  Diess  geschah  auf  dem  vierten  allgemeinen  Concil  von  Chalce- 
don.  Die  Geschichte  dieses  Concils  führt  uns  auf  den  wachsenden  Einfluss 
Roms  auch  in  dogmatischen  Dingen.  Rom  w\ar  der  Felsen,  an  welchem 
die  Schroffheit  und  Willkür  Dioskur's  zerschellte  und  sich  die  Niederlage 
bereitete.  Es  sass  damals  auf  dem  römischen  Bischofstuhle  ein  Mann  von 
festem  Charakter,  von  grosser  Klugheit  und  Gewandtheit,  von  theologischer 
Bildung,  wenn  gleich  ohne  eigentlich  speculatives  Talent,  aber  überall  das 
Wesentliche  herauszufinden  bemüht,  zugleich  von  eifrigem  Streben  erfüllt, 
den  Primat  Petri  geltend  zu  machen.    Es  war  der  schon  genannte  Leo  L 

Sobald  er  von  der  Lehre  des  Eutyches  genauere  Kunde  erhalten, 
hatte  er  in  dessen  Verurtheilung ,  sofern  er  nicht  widerrufe,  gewilligt  und 
insbesondere  an  Flavian  einen  die  streitige  Lehre  betreffenden  Brief  ge- 
schrieben ,  der  eine  grosse  normative  Bedeutung  erhalten  hat.  Er  ist  noch 
vor  der  Räubersynode  geschrieben  und  trägt  das  Datum  13.  Juni  449  »). 


1)  Er  findet  sich  lateinisch  in  verschiedenen  alten  Sammlungen  nnd  zuletzt  bei  He- 
fele  2,  335,   deutsch  bei  Fuchs,    Bibliothek   der  Kirchenversammlungen  Bd.  5.     Die  grie- 


Der  eutychianisGhe^Streit.    Der  Brief  Leo's. 

Ueber  diesen  Brief  sind  die  verschiedenartigsten  Urtheile  gefällt 
worden.  Während  lutherische  Theologen  ihn  nestorianisirend  finden,  läug- 
nen  diess  reformirte  Theologen;  während  Neander  darin  Beweise  von 
dialektischer  Gewandtheit  rindet,  urtheilt  Dorner,  dass  Leo  geschickter 
war ,  volltönende  liturgische  Formeln  zu  bilden,  als  die  Sache  wissenschaft- 
lich zu  fördern,  und  Baur  behauptet,  dass  Leo  mit  seinem  Bestreben,  das 
Gleichgewicht  zwischen  Nestorius  und  Eutyches  zu  halten,  doch  mehr  auf 
die  Seite  des  ersteren,  d.  h.  der  Unterscheidung  und  Entgegensetzung  der 
beiden  Naturen  hinneige. 

Es  ist  daher  nöthig,  uns  mit  dem  Inhalte  des  Briefes  näher  bekannt 
zu  machen.  Vor  Allem  ist  das  zu  beachten,  dass  der  Gegensatz  gegen 
Eutyches  die  ganze  Darstellung  beherrscht,  so  wie  denn  auch  Eutyches 
allein  genannt  wird,  niemals  aber  Nestorius.  Doch  nicht  Alles,  was  Leo 
gegen  Eutyches  vorbringt,  ist  stichhaltig.  Die  positiv  dogmatische  Erör- 
terung ist  eine  Durchführung  des  Satzes:  Eine  Person  in  zwei  Naturen, 
also  nicht  zwei  Personen,  was  man  dem  Nestorius  vorwarf,  nicht  Eine 
Natur,  die  Irrlehre  des  Eutyches,  nicht  Verwandlung  der  menschlichen 
Natur  in  die  göttliche  noch  umgekehrt,  nicht  Verminderung,  Depotenzirung 
der  göttlichen,  nicht  Verstümmelung  der  menschlichen  Natur  in  der  Weise 
des  Apollinariii;^.  Allein  über  die  Art  und  Weise  der  Peinigung,  über  das 
innere  Verhältniss  beider  Naturen  zu  einander  gibt  Leo  keine  positive 
Auskunft.  Die  beiden  Naturen  werden  so  selbständig  einander  gegenüber 
gestellt,  dass  man  Leo  mit  eben  so  vielem  Hechte  wie  Nestorius  den  Vor- 
wurf machen  könnte ,  er  habe  die  beiden  Naturen  so  scharf  von  einander 
unterschieden,  dass  eine  Einigung  derselben  logisch  undenkbar  sei,  dass 
vielmehr  zwei  Personen  herauskommen,  daher  denn  auch  die  Monophysiten 
Leo  den  neuen  Nestorius  gescholten  haben.  In  der  That  unterscheidet  er 
sich  von  diesem  hauptsächlich  dadurch ,  dass  er  den  Ausdruck  Bei  genitrix, 
Mutter  Gottes  unbedenklich  zugab,  und  dass  er  die  Unversehrtheit  und 
Vollständigkeit  einer  jeden  der  beiden  Naturen  noch  mehr  hervorhob,  als 
es  selbst  Nestorius  getlian  hatte. 

So  lehrt  er :  ;,in  der  unversehrten  und  vollständigen  Natur  eines  wahr- 
haften Menschen  ist  Gott  geboren  worden,  vollkommen  in  dem  Sei- 
nen, vollkommen  in  dem  Unsrigen  (totus  in  suis,  totus  in  nostris). 
Er  nahm  die  Knechtsgestalt  an  ohne  den  Schmutz  der  Sünde,  das  Mensch- 
liche erhöhend,  das  Göttliche  nicht  verringernd.  Denn  seine  Entäusserung, 
vermöge  welcher  der  Unsichtbare  sich  sichtbar  darstellte  und  der  Schöpfer 
und  Herr  aller  Dinge  einer  von  den  Sterblichen  sein  wollte,  war  eine 
Herablassung  des  Erbarmens,  nicht  ein  Verlust  der  Macht  O'^c/ewa^eo 
fuit  miserationis,  non  defectio  potestatisj.  Beide  Naturen  behal- 
ten ohne  alle  Verringerung  ihre  Eigenheit.  So  wie  die  Gestalt  Gottes, 
forma  Dei  (Phil.  2,  7),  die  Knechtsgestalt, /orma  servi,  nicht  aufhebt, 
so  verringert  auch  die  Knechtsgestalt  die  Gestalt  Gottes  nicht.  Der  Sohn 
Gottes,  vom  himmlischen  Throne  heruntersteigend,  aber  von  der  Herrlich- 


clüache  Uebersetzung  bei  Mansi  V  und  bei  anderen  wurde  in  Constantinopel  gemacht  mi 
in  Clialcedon  vorgelesen. 


310  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

keit,  die  er  bei  dem  Vater  hatte,  nicht  zurücktretend,  begibt  sich  also 
in  diese  unsere  Welt  u.  s.  w.  —  Derselbe,  der  wahrer  Gott  ist,  ist  auch 
wahrer  Mensch,  und  in  dieser  Einheit  ist  keine  J^üge,  denn  die  Niedrigkeit 
des  Menschen  und  die  Hoheit  der  Gottheit  haben  sich  in  ihm  durchdrungen. 
Denn,  sowie  Gott  durch  das  Erbarmen  nicht  verändert  wird,  so  wird  die 
Menschheit  durch  die  Würde  (mit  der  Gottheit  geeinigt  zu  sein),  nicht 
aufgezehrt/^ 

^Denn  beide  Formen  (beide  Naturen)  verrichten,  jede  in  Gemeinschaft 
mit  der  anderen,  was  jeder  eigen  zukommt.  Das  Wort  (der  Logos)  wirkt 
was  des  Wortes  ist,  das  Fleisch,  was  des  Fleisches  ist.  Das  eine  erglänzt 
von  Wundern,  das  andere  unterliegt  der  Schmach.  Die  fleischliche  Geburt 
ist  eine  Kundgebung  der  menschlichen  Natur;  die  Geburt  aus  der  Jungfrau 
ein  Zeichen  göttlicher  Kraft.  Derselbe,  den  als  Menschen  die  teuflische 
List  versucht,  empfängt  von  den  Engeln  Dienste  als  Gott.  Hungern,  dür- 
sten, müde  werden  und  schlafen,  ist  offenbar  menschlich.  Aber  mit  fünf 
Broden  fünf  tausend  Menschen  sättigen,  der  Samariterin  lebendiges  Was- 
ser darreichen,  welches  den  Durst  der  Trinkenden  auf  ewig  stillen  soll, 
festen  Fusses  auf  dem  Rücken  des  Meeres  wandeln,  die  erregten  Wellen 
beschwichtigen  und  den  Sturm  stillen,  das  ist  ohne  Zweifel  göttlich.  Sowie 
es  nicht  derselben  Natur  zukommt,  den  verstorbenen  Freund  mitleidig  zu 
beweinen  und  ihn,  nachdem  er  drei  Tage  im  Grabe  gelegen,  wieder  auf- 
zuerwecken,  so  kommt  es  auch  nicht  derselben  Natur  zu,  zu  sagen:  ^ich 
und  der  Vater  sind  eins, ^  und  ^^ der  Vater  ist  grösser,  denn  ich."  Wegen  der 
Einheit  der  Person,  die  aus  zwei  Naturen  besteht,  wird  gesagt,  dass  des 
Menschen  Sohn  vom  Himmel  herabgestiegen  ist,  und  dass  der  Sohn  Gottes 
das  Fleisch  von  der  Jungfi'au  angenommen  i)." 

Leo  hat  das  Verdienst,  die  angefochtene  Lehre  von  zwei  Naturen  in 
Christo  aufs  neue  gegen  alle  Anfeindungen  deutlich  und  scharf  formulirt 
zu  haben.  Allerdings  bleibt  dabei  das  Problem  der  Menschwerdung  des 
ewigen  Wortes,  der  Einheit  von  Gottheit  und  Menschheit  in  Christo  unge- 
löst. —  Vor  allem  begreift  man  nicht,  wie  Leo  den  Satz:  totus  in  suis 
festhalten  kann.  Denkt  er  sich  die  Entäusserung  Christi  nach  Art  und 
Weise  der  Kryptiker  des  siebzehnten  Jahrhunderts?  wie  ist  es  möglich, 
vom  himmlischen  Sitze  herunterzusteigen,  ohne  auf  die  do^a  wenigstens 
für  die  Zeit  des  Erdenlebens  soviel  als  zu  verzichten?  Leo  geht  über  die 
Schrift  hinaus,  wenn  er  nicht  eine  Selbstbeschränkung  Gottes  setzen  will, 
nach  Phil.  2,  6.  7.  Er  deutet  sie  zwar  an  in  einigen  der  angeführten 
Stellen,  er  hebt  sie  aber  wieder  auf  an  anderen  Stellen.  Der  Ausdruck: 
totus  in  suis   macht  aber    noch   in   anderer  Beziehung  Schwierigkeit.    Das 


1)  Eine  in  denselben  Antithesen  sich  bewegende,  eben  so  erhebende  Darstellung 
der  Doppelnatur  Christi  und  ihrer  Prädicate  und  Verrichtungen  gibt  Gregor  von  Nazianz 
in  seiner  dritten  theologischen  Eede  bei  Thilo,  bibliotheca  dogmatica  2.  Bd.  S.  460.  Doch 
von  grösserer  Bedeutung  ist  es,  dass  Leo  in  derselben  Epistel  sich  an  Augustin  oft  bis 
zn  wörtlicher  Uebereinstimmung  anschliesst,  wie  Dorner  a.  a.  0.  S.  105  mit  Recht  be- 
merkt. Namentlich  führt  auch  Augustin  die  beiden  Naturen  mit  dieser  Benennung  forma,  — 
forma  Dei,  forma  servi  an.   Augustin  hat  Leo  den  Grundgedanken  zu  dessen  Epistel  geliefert. 


Der  eutychianische  Streit.     Synode  zu  Chalcedon.  311 

Göttliche  ist  also  dasjenige,  was  Jesu  eignet,  das  Menschliche  aber  nicht. 
Da  scheint  die  menschliche  Natur  nur  als  Existenzform  aufgefasst  zu  sein  und 
es  ist  zweifelhaft,  ob  und  wie  weit  Jesus  ein  wahrhaft  menschliches  Bewusst- 
sein  hatte.  Doch  auch  die  göttliche  Natur  wird  ja  nur  als  Existenzform  ge- 
fasst,  als  fwma,  —  als  forma  Dei,  Gestalt  Gottes,  sowie  die  menschliche  als 
forma  servi,  als  Knechtsgestalt.  Wenn  es  nun  heisst,  dass  die  beiden  Exi- 
stenzformen in  der  Einheit  der  Person  sich  vereinigten,  so  ergibt  sich,  dass  das 
Selbstbewusstsein  Jesu  weder  ein  rein  göttliches,  noch  ein  rein  menschliches, 
sondern  ein  Selbstbewusstsein  sui  ge^ieris  war,  aus  der  Vereinigung  von 
Gottheit  und  Menschheit  hervorgegangen.  Die  Einheit  der  Person  steht 
über  den  beiden  Existenzformen,  und  das  ist  eben  der  dunkle,  unaufge- 
hellte  Punkt. 

Diesen  Brief  sandte  Leo  durch  drei  Abgeordnete  an  Flavian;  sie  soll- 
ten an  der  Synode  zu  Ephesus  Theil  nehmen,  den  genannten  Brief  in 
griechischer  Uebersetzung  vorlesen.  Diese  Männer  mussten  aber  in  Ephesus 
eine  höchst  unbedeutende  Rolle  spielen;  sie  waren  Zeugen  der  ärgerlichen 
Auftritte,  welche  diese  Synode  kennzeichnen,  ohne  sie  hindern  zu  können. 
Vergebens  suchten  sie  nur  das  durchzusetzen,  dass  sie  Leo's  Brief  lesen 
dürften.  Dioskur,  ohne  es  geradezu  abzuschlagen,  wusste  es  doch  immer 
auf  geschickte  Weise  zu  hintertreiben  oder  hinauszuschieben.  Flavian 
aber  übergab  einem  der  römischen  Abgeordneten,  dem  Diakon  Hilarius, 
eine  au  den  Pabst  gerichtete  Appellation  an  ein  grösseres  in  Italien  zu 
versammelndes  Concil  mit.  Hilarius  entging  den  Gewaltthätigkeiten  Dios- 
kur's,  gelangte  auf  Umwegen  nach  Italien  und  berichtete  sofort  Leo  Alles, 
was  sich  in  p]phesus  zugetragen. 

Dieser  that  nun  alles  Mögliclie,  um  der  von  ihm  vertretenen  Lehre 
Eingang  zu  verschaffen  und  die  Lehre  des  Eutyches  zu  verdrängen.  Sein 
Brief  an  Flavian  wurde  weithin  verbreitet.  Er  schien  die  Lösung  der 
grossen  Streitfrage  zu  geben.  Leo  schrieb  noch  mehrere  andere  Briefe 
an  den  Kaiser^  an  den  Klerus  und  das  Volk  in  Constantinopel ,  worin  er 
namentlich  auch  gegen  Nestorius  auftrat.  So  schien  er  also  das  von  Vie- 
len ersehnte  Ziel  zu  treffen,  weder  mit  Eutyches  noch  mit  Nestorius  es 
zu  halten,  sondern  die  über  beide  Extreme  hinausliegende  Wahrheit  zu 
vertheidigen.  Zu  rechter  Zeit  trat  eine  für  ihn  günstige  politische  Wend- 
ung in  Constantinopel  ein,  eine  jener  Wendungen,  wie  wir  sie  in  der  Ge- 
schichte des  Pabstthums  öfter  finden  und  die,  von  den  Päbsten  geschickt 
benützt,  ihre  Sache  wesentlich  gefördert  haben.  Theodosius  nämlich  ent- 
zweite sich  mit  seiner  Gemahlin  Eudokia,  der  Gönnerin  Dioskur's,  und 
Chrysaphius,  der  mächtige  Günstling,  ebenfalls  Gönner  Dioskur's,  fiel 
in  Ungnade  und  wurde  ins  Exil  geschickt.  Pulcheria,  Schwester  des  Kai- 
sers, Gönnerin  Flavian's,  wurde  wieder  an  den  Hof  gezogen,  von  dem  sie 
eine  Zeitlang  entfernt  gehalten  worden.  Was  aber  vor  allem  wichtig  war, 
der  Kaiser  starb  im  Jahre  451,  worauf  Pulcheria  den  Senator  Marcian  hei- 
rathete  und  ihm  die  Kaiserwürde  verschaffte.  Nun  fiel  die  Partei  und 
Richtung  des  Dioskur  und  Eutyches  in  Ungnade ,  und  die  verbannten  Bi- 
schöfe, Gegner  jener  beiden,  wurden  zurückgerufen.  Die  neuen  Herrscher 
beschlossen,   eine    neue   allgemeine  Kirchenversammlung   zu  veranstalten. 


312  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Leo  wünschte,  dass  sie  in  Italien  statt  fände.  Marcian  aber  meinte,  das 
Concil  werde  ein  besseres  Resultat  liefern,  wenn  es  im  Morgenlande  und 
zwar  nicht  weit  von  Constantinopel  sich  versammle.  Leo  musste  sich  fügen 
und  schickte  seine  Abgeordneten  dahin  ab. 

Das  Concil,  anfangs  in  Nicäa,  darauf  in  Chalcedon  versammelt  in  der 
Ivirche  der  heihgen  Euphemia,  hielt  seine  erste  Sitzung  am  8.  October  451; 
die  Zähl  der  Anwesenden  wird  verschieden  angegeben;  aber  so  viel  ist  ge- 
wiss, dass  keine  der  früheren  Synoden  auch  nur  annähernd  so  zahlreich 
gewesen  i).  Nach  mannigfachen  Verhandlungen,  die  zum  Theil  stürmisch  wa- 
ren, stellte  das  Concil  einDecret  (ögog)  auf  folgenden  wesenthchen  Inhaltes  2) 
Das  nicäuische  Concil  von  325,  das  von  Constantinopel  vom  Jahre  381  werden 
zuerst  unverändert  bestätigt,  darauf  die  Lehre  Cyriirs,  wie  sie  in  verschie- 
denen Schreiben  von  ihm  vorlag,  zu  dem  bestimmten  Zwecke,  den  Unsinn 
{(pqevoßXaßeia)  des  Nestorius  abzuweisen,  sodann  der  dogmatische  Brief 
Leo's  an  Flavian  zur  Beseitigung  des  eutychianischeu  Irithums,  welcher  Brief 
mit  dem  Glauben  Petri  übereinstimmend  und  eine  Säule  zur  Abwehr  der 
Angriffe  der  Häretiker  genannt  wird.  Darauf  folgt  das  eigentliche  Glaubens- 
bekenntniss,  zunächst  völhg  übereinstimmend  mit  dem  ephesiuischen,  welches 
Cyrill  unterschrieben  hatte.  Die  Synode  bekennt  den  einen  Herrn  Jesum 
Christum  als  vollkommenen  Gott  und  vollkommenen  Menschen,  nach  der 
Gottheit  gleichen  Wesens  mit  dem  Vater,  nach  der  Menschheit  gleichen 
Wesens  mit  uns,  aus  zwei  Natui'en  {ax  ovo  ^vtrecop,  andere  Lesart  er  dvo 
(pv(Te(Jiv)  ^) ,  unvermischt  {aavYX^'^^f^ih  unwandelbar  [atqsTixüiq) ,  un- 
zer theil  t  {aöiccLQ6T(üg),  un zertrennt  {axonQKTToaq) ,  kundgegeben  (yrw- 
qvQoiievov) ,  so  dass  in  keiner  Weise  die  Verschiedenheit  der  Naturen  durch 
die  Einigung  aufgehoben  ist,  die  Eigenthümlichkeit  jeder  Natur  gerettet  ist 
und  sie  beide  zu  einer  Person  [rtqogMTiov)  und  Hypostase  zusammenkommen T 
Die  vier  Beiwöiter  sollen  die  Lehre  des  Eutyches  sowohl  als  die  des  Ne- 
storius ausschhessen. 

Die  Synode  begnügte  sich  nicht  mit  diesen  Bestimmungen.  Flavian, 
der  schon  gestorben  war,  wurde  mit  Lob  überhäuft  und  für  einen  Märtyrer 
des  wahren  Glaubens  erklärt,  Dioskur,  nachdem  er  vergebens  mehrere  Male 


1)  Die  S}Tiode  sagt  in  einem  Schreiben  an  Leo,  es  seien  520  Bischöfe  anwesend 
gewesen;  Leo  gibt  die  ungefähre  Zahl  600  an,  —  gewöhnlich  werden  630  gezählt,  alle 
Griechen  oder  Morgenländische,  ausser  den  päbstlichen  Legaten  und  zwei  Afrikanern.  Die 
Synode  wurde  präsidirt  von  den  kaiserlichen  Commissarien  (sechs  an  der  Zahl).  Die 
päbstlichen  Legaten  figurirten  nur  als  die  ersten  Votanten,  wie  selbst  Hefele  zugibt 
2,  402  —404.  Wenn  die  Synode  an  Leo  schreibt:  „in  deinen  Stellvertretern  hast  du  über 
die  Mitglieder  der  Synode  die  Hegemonie  geführt,  wie  das  Haupt  über  die  Glieder,  so 
ist  das  eben  eine  Schmeichelei.  Das  Wahre  an  der  Sache  ist,  dass  Leo  durch  seine  Lehre 
die  Synode  beherrschte. 

2)  Bei  Mansi  YH  107,  bei  Münscher  Dogmengeschichte  I  304,  deutsch  bei  Hefele 
a.  a.  0.  2,  450. 

3)  Die  mehrsten  und  bedeutendsten  Manuscripte  lesen  fy  tfro  q:vG(Civy  die  latei- 
nischen in  duabus  naturis;  man  muss  dann  ergänzen  ovr«  oder  vjiagxoyra;  diese  Lesart 
passt  weniger  als  die  andere  zu  yv(0(jt^o/u(yop,  denn  yycjgtCiC&at  ex  riyog  gibt  einen 
sehr  deutüchen  Sinn;  dass  ist  weniger  der  Fall  bei  der  Lesart  sv  dvo  (pvceci  yycogtCo' 
ixeyov,   doch  durch  diese  Lesart  ist  die  eutychianische  Häresie  bestimmter  auggeschlossen. 


Die  pelagianische  und  semipelagianische  Streitigkeit.  31 3 

vor  die  Synode  gefordert  worden,  abgesetzt  und  excommunicirt,  Theodoret 
in  sein  Amt  wieder  eingesetzt  und  der  Bann  über  ihn  aufgehoben.  Aber  er 
musste  Maria  Mutter  Gottes  nennen  und  über  Nestorius  das  Anathema  aus- 
sprechen, was  er  ungerne  und  erst  nach  mehrmaligen  Austiüchten  that;  er 
verstand  sich  dazu  in  dem  Sinne,  dass  Nestorius  den  Ausdruck  ^eotoxog  unbedingt 
verworfen  und  zwei  Personen  in  Christo  aufgestellt  habe,  da  er  wohl  wusste, 
dass  beides  nicht  der  Fall  war.  Es  zeigte  sich  auf  dieser  Synode  recht  deut- 
lich der  Eintluss  des  Hofes.  Dieselben  Bischöfe,  die  in  Ephesus  Flavian  ver- 
urtheilt,  erklärten  ihn  jetzt  für  einen  Märtyrer  des  Glaubens,  bekannten,  sie 
hätten  geirrt,  und  schilderten  etwas  übertrieben  die  erlittenen  Gewaltthätig- 
keiten.  Einige  FeigUnge  sagten,  man  habe  ihnen  ein  ungeschriebenes  Papier 
zur  Unterschrift  vorgelegt.  Sie  priesen  selig  den  Kaiser,  die  Kaiserin,  sie 
streuten  Weihrauch  dem  römischen  Bischof,  einige  meinten,  sein  Brief  an 
tlavian  sei  durch  Inspiration  zu  Stande  gekommen,  und  er  wurde  von  den  aller- 
meisten deranwesenden  Bischöfe  unterschrieben  und  erlangte  dadurch  eigent- 
hch  symbolische  Autorität. 

Es  gilt  von  den  chalcedonischen  Beschlüssen  dasselbe,  was  von  Leo's 
dogmatischer  Epistel  an  Flavian.  Man  konnte  der  Kirche  Glück  wünschen, 
dass  die  volle  Menschheit  des  Sohnes  bei  aller  Anerkennung  seiner  Gottheit 
definitiv  aufgestellt  und  auch  die  Vermischung  beider  Naturen  endgültig 
abgewiesen  wurde.  Aufteilend  ist  es,  dass  dem  Nestorius  zuletzt,  im  ogog 
des  Concils,  nicht  sowohl  Ketzerei  als  (pQsvoßXaßeicc  zugeschrieben  wird. 
So  theilt  er  das  Loos  Anderer,  die  man  als  Narren  einsperrt,  deren  Ent- 
deckungen man  aber  geläutert,  fortgebildet  sich  aneignet. 


Streitigkeiten,  die  von  der  lateinisch- abendländischen 
Kirche  ausgingen. 

Die  pelagianische  und  die  semipelagianische  Streitigkeit. 

Stand  der  anthropologischen  und  soteriologischen  Fragen  bis 
zum  Ausbruche  der  pelagianischen  Streitigkeit. 

Es  herrschten  im  Wesentlichen  dieselben  Begriöe  wie  in  der  früheren 
Periode.  In  der  morgenländischen  Theologie  finden  sich  nur  geringe  Ansätze 
zu  der  Lehre  von  der  Erbsünde,  wie  sie  von  Augustin  ausgebildet  worden. 
Gregor  von  Nazianz  lehrt,  dass  der  Mensch  durch  die  Sünde  Adam's  die 
Unsterblichkeit  und  den  näheren  Umgang  mit  Gott  eingebüsst  habe.  Von 
Adam  aus  hat  sich  auf  dessen  Nachkommen  fortgepflanzt  eine  Neigung  zur 
Sinnlichkeit,  eine  Knechtschaft  des  Fleisches  unter  den  Geist.  Im  vierten 
Carmen  wird  die  Verführung  des  Urvaters  und  das  verlockende  Zureden  der 
Mutter  als  Quelle  jener  Neigung  genannt  i).  Doch  hat  um  deswillen  der 
Mensch  die  Freiheit,  das  Gute  zu  wählen,  nicht  eigenthch  verloren;  aber, 
um  diese  Freilieit  recht  zu  gebrauchen,  dazu  bedarf  er  der  göttlichen  Hilfe. 


1)  UUmann,  Gregor  von  Nazianz  S.  424.  426. 


314  Zweite  Periode  dos  alten  Katholicismus. 

Auf  demselben  Standpunkte  stehen  die  anderen  Lehrer  der  griechischen 
Kirche.  Bei  den  lateinischen  Lehrern  erhalten  und  bilden  sich  fort  die  Ideen 
TertuUian's.  Hilarius  von  Poitiers  hält  das  vitium  originis  fest  und  lehrt 
eine  Ansteckung  der  Sünde  durch  die  Geburt.  Ambrosius  beruft  sich  auf 
Psalm  52,  7  in  Sünden  empfangen  und  geboren.  Doch  wird  die  innere  Frei- 
heit vom  Werke  der  Bekehrung  nicht  ausgeschlossen.  Hilarius  sieht  das 
Beharren  im  Glauben  als  Geschenk  Gottes  an,  hingegen  den  Anfang  des 
Glaubens  als  unsere  That.  Gott  gibt  das  Wachsthum,  weil  wir  in  Folge 
unserer  Schwachheit  die  Vollendung  nicht  erreichen.  Damit  stimmen  die 
meisten  Kirchenlehrer  überein.  Chrysostomus  lehrt  ausdrücklich,  Gott  komme 
unserem  freien  Willen  nicht  zuvor,  damit  unsere  Freiheit  nicht  darunter 
leide.  Wenn  wir  aber  gewählt  haben,  dann  gewährt  er  Hilfe.  Wenn  wij', 
sagt  er  sehr  bezeichnend  (hom.  12  in  Hbr.),  alles  Gute  Gott  zuschreiben, 
so  geschieht  diess  nach  einer  gewöhnlichen  lledefigur,  wie  wir  z.  B.  den  Bau 
eines  Hauses  einem  Baumeister  zuschreiben,  obgleich  auch  andere,  die  Ar- 
beitsleute und  der  Hausherr  dazu  beigetragen  haben.  Dieselbe  Lehrweis(i 
ist  auch  die  der  lateinischen  Lehrer.  Ambrosius  allein  macht  eine  Aus- 
nahme (Comment.  in  Lucani  2,  14):  Gottes  Kraft  muss  auch  zum  Anfange 
des  Guten  mitwirken;  nur  lässt  er  die  Busse,  die  mit  bitterer  Heue  über 
die  Sünde  und  Abwendung  von  derselben  verbunden  ist,  der  Wirkung  dei 
Gnade  vorausgehen.  Aber  schon  zum  Anfang  des  Glaubens  ist  die  Gnade 
nöthig  als  mitwirkend.  Was  die  Gnadenwahl  und  Vorherbestimmung  betrifft, 
so  ist  sie  durchaus  bedingt  durch  Gottes  Vorherwissen.  Gott  hat  voraus 
erkannt,  welchen  Gebrauch  die  Menschen  von  ihrer  Freiheit  machen  werden 
und  hat  sie  demgemäss  bestimmt,  entweder  selig  oder  verdammt  zu  werden. 
Christus  ist  für  Alle  gestorben;  es  wird  der  Universalismus  des  Heilsrath- 
schlusses  festgehalten.  Gott  will,  dass  Alle  sehg  werden,  zwingt  aber  Nie- 
manden dazu.  Dass  einige  nicht  sehg  werden,  ist  ihre  Schuld.  So  gibt  es 
einen  ersten  Willen  Gottes,  vermöge  dessen  Gott  aller  Menschen  Heil  will, 
einen  zweiten  Willen,  nach  welchem  er  ihnen  je  nach  ihrer  Würdigkeit  oder 
Unwürdigkeit  die  SeUgkeit  oder  Verdammniss  zutheilt. 

Aeussere  Geschichte  der  pelagianischen  und  der  semipelagia- 

nischen  Streitigkeit. 

Während  die  bis  jetzt  erörterten  Streitigkeiten,  obwohl  von  der  grie- 
chischen Kirche  ausgegangen,  sich  in  das  Abendland  verpflanzten,  vom  Abend- 
land sehr  bedeutende,  zum  Theil  entscheidende  Einwirkungen  empfingen, 
ist  das  nicht  der  Fall  bei  denjenigen  Streitigkeiten,  zu  denen  wii'  jetzt  über- 
gehen. Der  Pelagianismus  wurde  zwar  von  der  dritten  ökumenischen  Synode 
mit  dem  Anathema  belegt,  aber  ohne  dass  irgend  ein  Kampf  zwischen  den 
zwei  im  Abendlaude  controvers  gewordenen  Lehrbegritfen  voran  gegangen 
wäre.  Ja,  man  kann  sagen,  dass  der  Pelagianismus  in  gewisser  Hinsicht  die 
ins  Extrem  getriebene  Lehre  der  griechisch  -  morgenländischen  Kkche  ist, 
sowie  denn  die  augustinische  Lehre  niemals  im  mindesten  in  dieser  Kirche 
einheimisch  geworden. 

Die  Hauptperson  in  den  genannten  Streitigkeiten  ist  Augustin,  obschon 


Die  pelagianische  und  semipelagianische  Streitigkeit.  315 

sie  nicht  von  ihm  den  Namen  empfangen  haben.  Schon  längt  ist  die  Be- 
hauptung widerlegt  worden,  dass  er  blos  aus  Parteileidenschaft  in  Pelagius 
und  den  Seinen  Grundsätze  bekämpft  habe,  zu  denen  er  sich  selbst  bis  zum 
Ausbruche  des  Streites  bekaunt  hätte.  Allerdings  hat  er  in  einer  Schrift 
aus  dem  Jahre  394  ^)  sich  sehr-  scharf  gegen  diejenigen  ausgesprochen,  welche 
Rom.  9  von  der  absoluten  Prädestination  verstehen.  Gott  hat,  sagt  er  er- 
läuternd, den  Glauben  erwählt  (deus  eleglt  fidem) ,  vermöge  seiner  yrae- 
scientia,  so  dass  er  diejenigen  erwählte,  von  denen  er  voraus  wusste,  dass  sie 
glauben  würden.  Damit  hängt  es  zusammen,  dass  der  Glaube  als  Werk  des 
Menschen  aufgefasst  wird,  dass  wir  aber  das  Gute  vollbringen  als  das  Werk 
dessen,  der  den  heiligen  Geist  solchen  gibt,  die  an  ihn  glauben.  Diese  An- 
sichten gab  er  lauge  vor  dem  Ausbruch  des  Streites  mit  Pelagius  auf;  in 
der  Schrift  de  diversis  quaestionibus  ad  Simplicianum  ^  aus  dem  Jahre  397 
stellte  er  soteriologische  Sätze  auf,  worin  sein  späterer  Lehrbegriff  mit  grosser 
Deutlichkeit  präformii't  ist  2).  Man  kann  nur  so  viel  sagen,  dass  er  im  Ver- 
laufe des  Streites  diesen  Lehrbegriff  nach  allen  Seiten  hin  genauer  entwickelt 
und  begründet  hat.  Von  einer  radicalen  Umänderung  desselben  konnte  keine 
Rede  sein,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  sie  schon  vollzogen  war. 

Der  Manu ,  von  dem  die  ganze  Bewegung  den  Namen  erhalten  hat, 
war  aus  Britannien  gebürtig,  daher  Brito  genannt,  um  ihn  von  einem  an- 
deren Pelagius  zu  unterscheiden.  Er  wurde  Mönch,  aber  kein  Mitglied 
einer  Klostergenossenschaft,  noch  auch  Eremit.  Er  war  allgemein  ge- 
achtet und  wirklich  achtungswerth.  Zu  Anfang  des  fünften  Jahrhun- 
derts nach  Rom  gekommen,  kam  er  mit  Leuten  in  Berührung,  welche 
sich  mit  dem  historischen  Glauben  begnügten  und  die  erasteren  Anforder- 
ungen des  Evangeliums  mit  dem  Vorgeben  abwiesen,  dass  die  menschliche 
Natur  eben  verderbt  sei.  Es  kam  ihm  auch  ein  Ausspruch  Augustinus  zu 
Ohren:  da  quod  jubes  et  j übe  qiwd  vis  (Conf.  10,  29),  er  nahm  daran  An- 
stoss,  als  ob  dadurch  dem  Menschen  der  freie  Wille  abgesprochen  wäre.  In 
Rom  schrieb  Pelagius  seine  Conmientare  zu  den  paulinischen  Briefen,  worin 
er  seine  Ansichten  niederlegte.  Aber  es  entstand  dadurch  noch  kein  Auf- 
sehen.   Der  Ausbruch  des  Streites  ging  von  einem  anderen  Manne  aus. 

Dieser  Mann  war  Cälestius,  den  Pelagius  in  Rom  als  Advocaten 
kennen  lernte.  Von  diesem  für  das  asketische  Leben  gewonnen,  gab  er  sei- 
nen Advocatenstand  auf  und  nahm  die  theologische  Richtung  desselben  an. 
Er,  der  jüngere  war  keck,  vordringend,  während  Pelagius  sich  zurückhaltend 
zeigte.  Beide  Männer  begaben  sich  411  nach  Carthago,  wo  Cälestius  länger 
verweilte,  indess  Pelagius  bald  nach  Palästina  segelte.  Jener  gewann  Freunde 
und  bewarb  sich  um  eine  Presbyterstelle,  allein  der  Diakon  Pauhnus  von 
Mailand  trat  auf  einer  Synode  in  Carthago  412  als  Ankläger  gegen  ihn  auf 
und  gab  ihm  sieben  häretische  Sätze  schuld :  1)  Adam  wäre  gestorben,  auch 
wenn  er  nicht  gesündigt  hätte,  2)  die  Sünde  Adam's  hat  nur  ihm  selbst 
Schaden  gebracht,  3)  alle  neugeborenen  Kinder  befinden  sich  in  demselben 
Zustande,  in  welchem  Adam  vor  dem  Falle  war,  4)  um  der  Sünde  und  um 


1)  Expositio  quarnndam  quaestionnm  in  ep.  ad  Romanos. 

2)  De  perseverantia  SS.   c.  20:    plenius  sapere    coepi   in    mei    episcopatus    exordio, 
quando  et  initium  fidei  donum  Dei  esse  cognovi  et  asserui. 


316  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismas. 

des  Todes  Adam's  willen  sterben  die  Menschen  nicht,  noch  stehen  sie  wieder 
auf  blos  vermöge  der  Auferstehung  Christi,  5)  die  neugeborenen  Kinder,  die 
ungetauft  sterben,  ererben  das  Reich  Gottes,  6)  das  Gesetz  vermittelt  den 
Eingang  zum  ewigen  Leben  so  gut  wie  das  Evangehum,  7)  auch  vor  Cliristi 
Ankunft  hat  es  sündlose  Menschen  gegeben.*  Cälestius  konnte  sich  nicht 
genügend  rechtfertigen  und  wurde  daher  aus  der  Kirchengemeinschaft  aus- 
geschlossen. Da  er  aber  einige  Anhänger  gewonnen,  so  schrieb  damals  Augu- 
stin gegen  ihn  und  gegen  Pelagius,  dessen  Schriften  er  kennen  gelenit;, 
beide  mit  Schonung  behandelnd. 

Des  Pelagius  Aufenthalt  in  Palästina  gab  Anlass,  dass  der  Streit  dorthhi 
verpflanzt  wurde.  Pelagius  reizte  Hierou}  nuis  dadurch,  dass  er  dessen  Commen- 
tar  zum  Briefe  an  die  Epheser  und  die  Schrift  gegen  Jovinian  zu  tadeln  sich 
herausnahm ;  fortan  galt  er  ihm  als  Yerläumder  und  als  Anhänger  des  ketzeri- 
schen Origenes ;  so  sprach  er  sich  aus  in  der  Vorrede  zum  Commentar  über  Jere- 
mias;  ausserdem  schrieb  er  gegen  ihn,  docli  ohne  ihn  zu  nennen,  die  Epistel 
an  Ktesiphon  und  drei  Bücher  von  Dialogen  415.  In  der  Abneigung  gegen 
Pelagius  wurde  er  bestärkt  durch  einen  jungen,  spanischen  Geistlichen, 
Orosius,  Schüler  des  Augustinus,  der  auf  dessen  Anrathen  nach  dem  Mor- 
genlande sich  begeben,  um  daselbst  unter  der  Leitung  des  Hieronymus  sich 
weiter  auszubilden.  Die  Sache  kam  zur  Sprache  auf  zwei  Synoden  desselben 
Jahres  415,  in  Jerusalem  und  in  Lydda  (Diospolis).  In  Jerusalem  trat  Oro- 
sius  als  Kläger  gegen  Pelagius  auf;  es  gelang  diesem,  sich  zu  rechtfertigen, 
und  es  wurde  ausgemacht ,  dass  die  Sache  an  den  r(>mischen  Bischof  Inno- 
centius  I.  berichtet  werden  sollte.  In  Lydda  traten  zwei  abgesetzte  abend- 
ländische Bischöfe  als  Kläger  gegen  Pelagius  auf;  auch  diessmal  gelang  es 
ihm,  sich  zu  rechtfertigen;  und  das  Resultat  war,  dass  Pelagius  als  Mitghed 
der  katholischen  Kii'che  anerkannt  wurde,  wozu  die  Klugheit  seines  Beneh- 
mens, die  Heftigkeit  des  Hieronymus,  die  Unbestinnntheit  der  griechischen 
Theologie  das  ihrige  beigetragen  hatten.  Augustin,  davon  unteiTichtet ,  liess 
nun  alle  Schonung  fahren  und  bekämpfte  die  i)elagiauische  Lehre  in  vielen 
Schriften,  ausserdem  wurde  sie  auf  zwei  africanischen  Synoden  (zu  Mileve 
und  Carthago)  416  feierhch  verdammt.  Diese  Synoden  machten  Anzeige 
davon  an  den  römischen  Bischof  lunocentius  L;  dazu  kam,  dass  fünf  africa- 
nische  Bischöfe,  unter  welchen  Augustin,  sich  noch  besonders  an  den  Pabst 
wandten,  Pelagius  und  Cälestius  beschuldigend,  dass  sie  die  Gnade  im 
eigentlich  biblischen  Sinne  läugneten  und  darunter  theils  die  natürlichen 
Kräfte  und  Anlagen  des  Menschen,  theils  die  historische  Offenbarung  verstünden. 
Innocentius  I.  entschied  zu  Gunsten  der  Africaner  und  lobte  sie,  dass  sie  an 
die  Kirche  des  heiligen  Petrus  appellirt  hätten;  mit  Augustin's  LehrbegrifF 
stimmte  er  zwar  nicht  völlig  überein,  was  aber  übersehen  wurde.  Auch 
Pelagius  wandte  sich  an  Innocenz;  aber  sein  Schreiben  wurde  erst  nach 
dessen  Tode  abgegeben.  An  die  Stelle  des  verstorbenen  war  Bischof  Zo- 
simus  gekommen,  der,  ein  Grieche  von  Geburt,  >vie  sein  Name  es  andeutet, 
nicht  dieselbe  dogmatische  Ueberzeugung  wie  sein  Vorgänger  hatte.  Er 
schöpfte  seine  Kenntniss  von  dem  ausgebrochenen  Streite  theils  aus  dem 
ßrief  des  Pelagius  an  Innocenz,  theils  aus  der  mündlichen  Mittheilung  des 
nach  Rom  gekommeneu  Cälestius.    Dieser  stellte  die  Sache   so   dar,   alß  ob 


Die  pelagianiBche  nnd  semipelagianische  Streitigkeit,  317 

es  sich  blos  um  speculative  Fragen  handle;  übrigens  werde  er  sich  dem 
Urtheile  des  römischen  Bischofs  williglich  unterwerfen;  die  lateinischen  Bi- 
schöfe, die  in  Diospolis  gegen  Pelagius  aufgetreten,  seien  leichtfertige  Men- 
schen. Zosimus,  durch  diese  Erklärungen  vollkommen  zufrieden  gestellt, 
antwortete  nach  Caithago,  die  africanischen  Bischöfe  hätten  die  Sache  nicht 
gehörig  untersucht  und  sich  durch  leichtfertige  Menschen  täuschen  lassen. 
Dazu  kam  die  peremtorische  Forderung,  entweder  solle  in  Zeit  von  zwei 
Monaten  eiu  Ankläger  gegen  Cälestius  in  Rom  erscheinen,  oder  es  sollten 
alle  Zweifel  an  der  Orthodoxie  desselben  beseitigt  sein.  Als  jedoch  die  Afri- 
caner,  statt  sich  zu  unterwerfen,  dem  römischen  Bischof  zu  verstehen  gaben, 
dass  er  sich  habe  täuschen  lassen,  wiederholte  dieser  in  einem  zweiten 
Briefe  nicht  mehr  das  Lob  des  Cälestius  und  Pelagius  und  suspendirte  die 
Entscheidung  bis  zu  weiterer  Untersuchung.  Die  Africaner  hielten  noch  zwei 
Synoden  in  Caithago  417  und  418,  bei  ihrer  Meinung  beharrend,  dass  wir 
nämlich  der  Gnade  Gottes  bedürfen,  nicht  blos  um  Kenntniss  zu  haben  von 
der  Gerechtigkeit,  sondern  auch  um  sie  zu  üben.  Unterdessen  gelang  es 
dem  Augustin,  durch  den  comes  Valerius  auf  Kaiser  Honorius  einzuwirken, 
so  dass  dieser  vom  Jahre  418  an  mehrere  Edicte  gegen  den  Pelagius  er- 
liess.  Zosimus,  in  dessen  Umgebung  sich  eine  mächtige  antipelagianische 
Partei  gebildet,  ohnehin  eingeschüchtert  durch  die  wiederholten  Erklärungen 
der  Africaner  sowie  durch  jene  kaiserlichen  Edicte,  erhess  eiu  Circularschrei- 
ben  (epistola  tradoria) ,  worin  er  den  Beschlüssen  der  Africaner  beitrat. 
Mit  Recht  konnten  daher  die  Pelagianer  den  Zosimus  und  die  römischen  Geist- 
lichen, die  sich  früher  so  günstig  für  die  Angeklagten  ausgesprochen,  der 
Verläugnung  ihrer  eigenen  Ueberzeugung  zeihen.  Das  Circularschreiben  des 
Zosimus  wurde  nun  in  der  ganzen  abendländischen  Kirche  herumgeschickt, 
und  alle  Bischöfe  mussten  bei  Strafe  der  Absetzung  dasselbe  unterschreiben. 
Achtzehn,  die  sich  weigerten,  wurden  abgesetzt;  unter  ihnen  war  der  be- 
deutendste Julian,  Bischof  von  Eclanum  in  Apulien,  dem  selbst  Au- 
gustin seine  Achtung  nicht  versagen  konnte,  Verfasser  der  bedeutendsten 
Schriften  der  Partei,  f gegen  Augustins> Schrift  de  miptiis  et  concwpiscentia), 
die  Augustin  weitläufiger  Widerlegungsschriften  werth  hielt;  Julian  ist 
der  eigentliche  Theologe  der  Partei.  Die  abgesetzten  abendländischen 
Bischöfe  wendeten  sich  nach  Constantinopel  in  der  Hoffnung,  daselbst  gute 
Aufnahme  zu  finden,  da  sie  sich  der  Uebereinstimmung  mit  Chrysostomus 
rühmten.  Damals  war  Nestorius  Patriarch;  er  verwarf  zwar  die  pelagia- 
nischen  Lehren  in  einigen  Predigten,  aber  die  Bischöfe  nahm  er  freundhch 
auf  und  fand  sie  nicht  iiTgläubig ,  so  dass  er  sogar  den  römischen  Bischof 
Cölestinus  fragte,  warum  man  sie  verdammt  habe  (429).  Der  Schutz,  den 
Nestorius  ihnen  angedeihen  liess,  wurde  den  Pelagiauern  überhaupt  ver- 
derblich. Man  suchte  einen  Zusammenhang  zwischen  ihren  Lehren  und  de- 
nen des  Nestorius.  Die  Synode  von  Ephesus  im  Jahre  431  sprach  das 
Anathema  aus  über  die  Leliren  des  Pelagius  und  Cälestinus,  doch  ohne 
nähere  Bezeichnung  derselben.  Die  Augustinische  Lehre  von  der  Gnade  und 
Vorherbestimmung  wurde  in  der  griechischen  Kirche  niemals  angenommen. 
Von  Pelagius  haben  sich  drei  Schriften  dadurch  vollständig  erhalten,  dass 
sie  unter  die  Werke  des  Hieronymus  aufgenommen  wurden,  1)  expositiones  in 


318  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

epistolas  Pauli,  vor  410  geschrieben,  2)  epistola  ad  Demetriadem  vom  Jahre 
413,  3)  libellus  fidei  ad  Innocent.  vom  Jahre  417;  dazu  kommen  Fragmente 
von  verlorenen  Schriften  bei  Augustin  und  Hieronymus.  Ebenfalls  Fragmente 
verlorener  Schriften  von  Julian  bei  Augustin.    S.  Bahr  a.  a.  0.  S.  317. 

Es  konnte  nun  nicht  fehlen,  dass  Einige  einen  Mittelweg  zwischen  den 
streitenden  Parteien  einschlugen.  Es  entstand  die  Richtung,  die  in  den 
Zeiten  der  Scholastik  die  semipelagianische  genannt  wurde.  In  einem 
Kloster  von  Adrumetum  in  Africa  regte  sich  der  erste  Widerspruch  gegen 
Augustin  426,  wogegen  Augustin  de  correctione  et  gratia  schrieb.  Weit  be- 
deutender war  aber  der  Widerspruch  des  Mönches  Johannes  Cassian, 
Schüler  des  Chrysostomus ,  von  ihm  zum  Diakon  und  Priester  geweiht.  Von 
Constantinopel  wendete  er  sich  nach  dem  Abendlande  und  stiftete  bei  Mas- 
silia  zwei  Klöster,  eines  für  Männer,  das  andere  für  Frauen,  und  wurde  so 
der  Hauptbeförderer  des  klösterlichen  Lebens  im  südlichen  Frankreich.  Sein 
Buch  de  coenohiorum  institutis  gibt  Anleitung  zur  Ordnung  und  Gestaltung 
des  klösterlichen  Lebens.  In  den  collationes  patrum  trägt  er  die  Haupt- 
sätze des  semipelagianischen  Lehrbegriffes  vor.  Ein  drittes  Werk  von  ihm, 
de  incarnatione,  ist  gegen  die  nestorianische  Lehre  gerichtet.  —  Die 
semipelagianischen  Ansichten  fanden  auch  Eingang  im  Kloster  auf  der  Insel 
L  er  in  um,  und  fanden  an  Vincentius  von  Lerinum  (f  450)  einen  eifrigen 
Beschützer.  Sein  commonitorium ,  von  dem  später  ausführlicher  die  Rede 
sein  wird ,  ist  offenbar  gegen  Augustin  gerichtet  und  soll  der  semipelagia- 
nischen Denkweise  zur  Rechtfertigung  gereichen.  Augustin  bekämpfte  die 
Männer  dieser  Richtung,  die  er  Massilienser  nennt,  in  seinen  letzten  Schrif- 
ten de  praedestinatione  Sanctorum,  de  dono  perseverantiae.  Ihm  stand  bei 
Prosper,  ein  Laie  aus  Aquitanien.  Er  war  es,  der  dem  Bischof  von  Hippo 
das  Vorhandensein  dieser  ihm  entgegengesetzten  Richtung  anzeigte  427  und 
darüber  auch  Klage  einbrachte  vor  dem  römischen  Bischof  Cölestin.  Was 
er  schrieb,  ist  Alles,  soweit  es  acht  ist,  der  Vertheidigung  des  augustinischen 
Lehrbegriff'es  und  der  Bekämpfung  der  Semipelagianer  gewidmet.  Das  hin- 
derte aber  nicht,  dass  sie  hn  südlichen  Gallien  sich  verbreiteten  und  eine 
Zeitlang  eigentlich  herrschten.  Faust us,  Bischof  von  Rhiez,  der  Priester 
Gennadius  und  der  Verfasser  der  Schrift  Praedestinatus  bekannten 
sich  dazu. 

Uebersicht  des  augustinischen  und  des  pelagianischen 

Lehrbegriffes. 

Bei  Augustin  beherrscht  die  Idee  Gottes  das  gesammte  Denken,  daher 
er  als  Inhalt  der  Philosophie  wesentlich  nur  zwei  Dinge,  die  Erkenntniss 
Gottes  und  der  Seele  bezeichnet,  und  auch  diese  wird  zuletzt  nur  deswegen 
in  Betracht  gezogen,  weil  wir  nur  in  unserer  Seele  Gott  erkennen  können  i). 
Gott  ist  ihm  Ein  und  Alles.  Um  das  Interesse  Gottes  zu  wahren,  wurde 
er  Manichäer,  und  wiederum  verliess  er  die  manichäische  Secte,  weil  sie 
ihm  schien  das  Interesse  Gottes  zu  gefährden.  Aehnhch  verhält  es  sich  mit 
seiner  Hinwendung  zum  Neuplatonismus  und  mit   der    darauf  folgenden  Ab- 


1)  Ritter,  Geschichte  der  christlichen  Philosophie  2,  203. 


Der  augustinische  und  pelagianische  Lehrbegriff.  319 

Wendung  von  demselben,  daher  auch  seine  Anthropologie  sowie  seine  Sote- 
riologie  in  eine  Theodicee  Gottes  ausmündet.  Gott  aber  wird  aufgefasst  nach 
der  Weise  des  strengsten  Theismus,  so  dass  alle  Thätigkeit  der  Geschöpfe 
im  Ganzen  und  Einzelnen  auf  der  allmächtigen  und  allgegenwärtigen  Thätig- 
keit Gottes  ruht,  während  dagegen  bei  den  Pelagianem  das  Verhältniss  des 
Menschen  zu  Gott,  dem  Urgeiste,  ein  möglichst  loses  wird,  so  dass  die  pe- 
lagianische Anschauung  als  auf  Deismus  gegründet  erscheint.  Diess  ist  wohl 
die  tiefste  Differenz  zwischen  beiden  Lehrsystemen,  obschon  sie  während  des 
Streites  zwischen  den  beiderseitigen  Vertretern  nicht  zur  Sprache  kam  i). 

I.    Anthropologie. 

Beide  gehen  auf  den  Anfang  des  menschlichen  Geschlechtes,  auf  den 
Zustand  des  Menschen  vor  dem  Falle  zurück;  die  verschiedenen 
Bestimmungen  darüber  bedingen  diejenigen,  betreffend  die  Sünde  und  die 
Erlösung. 

Adam  sine  ullo  vitio  /actus  rectus  hatte  als  solcher  eine  ursprüng- 
lich gute  Willensrichtung;  seine  Gesinnung  war  die  des  Gehorsams  gegen 
Gott;  der  Gehorsam  ist  demnach  die  Grundtugend,  die  Mutter  aller  übrigen 
Tugenden.  In  dieser  Richtung  des  Willens  auf  Gott  besteht  des  Menschen 
wahres  Wesen  und  darum  auch  die  wahre  Freiheit.  Deo  servire  liber- 
tas.  Allerdings  hatte  der  Mensch  die  formale  Freiheit,  zwischen  Gutem  und 
Bösem  zu  wählen,  aber  sie  war  nicht  das  höchste  im  Menschen.  Der  Mensch 
im  Urzustände  war  nicht  indifterent  zwischen  gut  und  böse;  eine  solche 
Indifferenz  würde  selbst  eine  Schädigung  der  ursprünghch  gut  geschaffenen, 
zu  Gott  geschaffenen  Natur  voraussetzen.  Der  Mensch  hatte  die  Möglichkeit 
zu  sündigen;  sein  auf  das  Gute  gerichteter  Wille  schloss  diese  Möglichkeit 
nicht  aus ;  man  kann  nicht  sagen ,  dass  er  gar  nicht  sündigen  wollen  konnte ; 
denn  in  diesem  Falle  wäre  er  unveränderlich  wie  Gott  gewesen;  es  kam  ihm 
zu  das  posse  non  peccare,  nicht  aber  das  non  posse  peccare,  was 
allein  der  göttHchen  Natur  zukcmmit.  Das  donum  perseverantiae  hatte 
er  also  ursprünglich  nicht;  um  im  Guten  zu  beharren,  bedurfte  er  des  ad- 
jutorium  gratiae,  und  er  hatte  die  Möglichkeit,  dieses  adjutorium  abzu- 
weisen und  darin  bestand  eigentlich  seine  formale  Freiheit.  —  Der  Körper 
Adam's  war  vor  dem  Sündenfalle  dem  Tode  ebenso  wenig  als  irgend  einer 
Krankheit  unterworfen.  Adam  würde  nicht  gestorben  sein,  wenn  er  nicht 
gesündigt  hätte.  Er  konnte  sterben  und  konnte  auch  nicht  sterben.  Seine 
Sterblichkeit,  die  der  Möglichkeit  nach  vorhanden  war,  wäre  bei  verharren- 
der Sündlosigkeit  durch  Verwandlung  absorbirt  worden.  Es  kam  ihm  das 
posse  non  mori  zu,  aber  nicht  das  non  posse  mori,  d.  h.  die  immor- 
talitas  minor,  nicht  aber  die  immortalitas  major.  Es  war  im 
Menschen  vollkommene  Harmonie,  in  seinem  leibHchen  Organismus,  im  Ver- 


1)  Innocenz  I.  Hieronymus,  Orosius  berührten  diese  Seite  des  Streites.  S.  Neander, 
Kirchengeschichte  II.  1266.  Julian  sah  die  Sache  so  an,  dass  der  Gott  der  Traducianer, 
—  als  Traducianer  betrachtete  er  Augustin,  —  nicht  der  Gott  der  biblischen  Offenbarung 
sein  könne. 


320  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

hältniss  desselben  zum  seelischen  Leben,  und  auch  in  diesem  waren  die 
niederen  Kräfte  der  Seele  den  höheren  unterworfen  und  diese  wiedenim 
Gott.  Augustin  beachtet  dabei  nur  dieses  nicht,  dass  Alles  noch  unvermit- 
telt, nicht  sittlich  vom  Menschen  angeeignet  war. 

Die  pelagianische  Lehre  bildet  in  allen  wesentlichen  Punkten  einen 
schroffen  Gegensatz  gegen  die  augustinische.  Nach  jener  war  der  Zustand 
des  ersten  Menschen  vor  dem  Falle  derjenige ,  der  er  jetzt  ist.  Der  Mensch 
befand  sich  in  vollkommen  indifferentem  Zustande  zwischen  gut  und  bös(i, 
und  darin  allein  bestand  seine  Freiheit;  er  bedurfte  auch  nicht  der  Hilfe 
Gottes,  um  im  Guten  zu  beharren.  Sein  Leib  war  von  Anfang  an  dem  Tode 
unterworfen.  Juhan  nahm  an,  dass  Adam  in  dem  Sinne  unsterblich  geschaf- 
fen sei,  dass  er,  wenn  er  nicht  gesündigt  hätte,  durch  den  Genuss  der 
Frucht  des  Baumes  des  Lebens  die  T^nsterbhchkeit  erlangt  haben  würde. 

Der  Sündenfall  des  ersten  Menschen  ist  nach  Augustin  im  strengsten 
Sinne  des  Wortes  zu  verstehen;  er  ist  begründet  im  wandelbaren  Wesen  des 
Menschen.  Gott  hätte  ihn  verhindern  können,  aber  er  wollte  dem  Menschen, 
die  Fähigkeit  zu  sündigen,  nicht  rauben;  die  Freiheit,  vennöge  welcher  der 
erste  Mensch  sich  zur  Sünde  verleiten  liess,  gehört  zum  Wesen  der  Ver- 
nunft. Es  war  übrigens  nicht  der  Sinnenreiz,  der  ihn  verführte,  denn  eine 
solche  Verführung  setzt  schon  eine  innere  Verderbniss  voraus.  Der  Sünden- 
fall begann  damit,  dass  der  Mensch  sich  über  das  göttHche  Gebot  stellte, 
aus  Selbsterhebung.  Erst  als  dieser  innere  Fall  geschehen  war,  konnte  der 
Sinnenreiz  ihn  zur  Uebertretung  des  g()ttlichen  Gebotes  verleiten  ^).  Der 
Sündenfall  war  eine  freiwillige  Abwendung  von  Gott,  dem  höchsten  Gute, 
die  nicht  erklärt  werden  kann.  Der  böse  Wille  kommt  nicht  von  Gott,  der 
Alles  gut  geschaffen  hat;  er  kommt  aus  nichts;  nun  kann  man  aber  nicht 
wissen ,  was  aus  Nichts  ist  2).  Demnach  ist  die  Sünde  das  Nichtige ;  damit 
hängt  zusammen,  dass  sie  Beraubung  des  Guten,  Schwächung  der  Seinskraft 
ist;  sie  existirt  zwar  nie  an  sich,  sondern  immer  nun  an  einer  essentia,  rich- 
tet aber  dessen  ungeachtet  eine  grosse  Verheerung  an ;  sowie  sich  der  Nahr- 
ung enthalten  auch  keine  Substanz  ist,  und  doch  schwächt  ej>  die  Natur. 
Das  Böse  kann  nun,  weil  es  Mangel  ist,  das  Gute  nie  aufheben;  nur  mit 
der  Natur  selbst  könnte  es  aufgehoben  werden;  auch  im  verdorbensten 
Menschen  bleibt  die  Vernunft,  ein  Wahrzeichen  seines  edlen  Ursprungs 
(index  generositatis  snae).  Wenn  nichts  Gutes  im  Menschen  zuinick- 
geblieben  wäre,  so  würde  er  auch  keinen  Schmerz  über  das  verlorene  Gut 
fühlen;  an  diesen  Schmerz  knüpft  sich  die  Möglichkeit  der  Erlösung  an. 

An  die  vorstehende  Enirterung  über  das  Wesen  der  Sünde  schliesst  sich 
nun  eine  Art  Theodicee  an.  Von  der  Frage  ausgehend :  wenn  das  Böse  gegen 
den  Willen  Gottes  ist,  wie  kann  mau  sagen,  dass  nichts  gegen  den  Willen 
Gottes  geschieht,  verbreitet  sich  Augustin  dai'über,  dass  das  Böse  im  Welt- 
plan Gottes  seine  Stelle  hat.  Es  soll  sich  nämlich  die  Gerechtigkeit  Gottes 
am  Bösen  offenbaren;    so   muss   der   sündigende  Mensch   denn  doch   zuletzt 


1)  In  paradiso  ab  anirao  coepit    elatio    et    ad  praeceptuni    transgrediendum    deinde 
conMBsio. 

2)  Sein  non  potest,  quod  ex  nihilo  est. 


Der  augiistinische  und  der  pelagiamsche  Lehrbegriff.  321 

Gott  dienen.  Denn  die  Welt  ist  ein  wohlgeordnetes,  harmonisches  Offen- 
barungsorgan Gottes;  sie  stellt  in  harmonischer  Weise  die  Offenbarung  der 
Liebe  und  der  Gerechtigkeit  Gottes  dar,  der  Liebe  an  den  Erwählten,  der 
Gerechtigkeit  an  den  Verworfenen.  Doch  geht  Augustin  nicht  so  weit,  das 
Böse  als  nothwendig  hinzustellen,  wobei  dann  freihch  unbestimmt  bleibt,  was 
er  als  Substrat  der  Offenbarung  der  Gerechtigkeit  zu  Grunde  legt. 

Die  Sünde  Adam's  mm  ist  auf  alle  Menschen  fortgepflanzt  worden ,  als 
Erh?>iXnde^  peccatum  originale,  haereditarium  vitium.  Die  exe- 
getische Begründung  davon  durch  die  falsch  übersetzte  Stelle  Rom.  5,  12, 
in  quo  {€(p'  (o)  omnes  peccaveruntj  als  ob  in  quo  auf  Adam  ginge,  ist 
aber  verfehlt.  Eben  so  unhaltbar  ist  die  Behauptung,  dass  die  Sünde  durch 
die  sinnliche  Lust,  concupiscentia,  bei  der  Zeugung  fortgepflanzt 
wird.  Auch  die  Ansicht,  dass  die  gesammte  Menschheit  als  Gattung  in  Adam 
existirt  habe  und  so  die  ganze  Gattung  mit  der  Sünde  und  Schuld  Adam's 
belastet  sei,  diese  auf  die  philosophische  Theorie,  wonach  das  Allgemeine  in 
den  einzelnen  Individuen  auspeprägt  und  enthalten  sein  sollte,  gegründete  An- 
sicht möchte  auf  dem  Standpunkte  unserer  philosophischen  Erkenntniss  sich 
nicht  rechtfertigen  lassen.  Durch  diese  Auffassung  der  Sache  wurde  Augu- 
stin ganz  nahe  an  die  traducianische  Lehre  vom  Ursprung  der  Seele  geführt, 
doch  ohne  sie  eigentlich  anzunehmen,  da  er  zugab,  dass  sie  sich  aus  der 
Schrift  nicht  eigenthch  beweisen  lasse.  —  Mit  seiner  Auffassung  der  Erb- 
sünde leugnet  Augustin  nicht  den  Satz,  es  könne  keine  Sünde  statt  finden 
ohne  freien  Willen,  esse  non  posse  sine  voluntate  peccatum.  Sind 
nämlich  alle  Menschen  in  Adam  nicht  blos  potentiell,  sondern  real  als  Gat- 
tung, so  leitet  die  Erbsünde  ihren  Ursprung  her  vom  Willen  des  Sündigen- 
den. Zugleich  aber  sieht  er  die  Sünde  als  etwas  Zuständliches  an,  so  dass 
er  auch  den  Gegensatz  aufstellt  nnd  behauptet,  es  könne  Sünde  geben  ohne 
fi-eien  Willen  (esse  posse  sine  voluntate  peccatum),  womit  eigentllich 
jener  Satz,  der  das  Gegentheil  davon  aufstellt,  wieder  aufgehoben  wird. 
Das  WesentHche  der  Sache  ist  also  jener  sündliche  Zustand  oder  habitus, 
woraus  actuelle  Sünden  hervorgehen,  und  zwar  nicht  blos  durch  Nachahmung, 
gemäss  dem  richtigen  Gedanken ,  dass  die  Nachahmung  des  bösen  Beispiels 
innere  Verwandtschaft  und  Anziehung  des  Nachahmenden  zum  Nachgeahm- 
ten voraussetzt.  Jener  süncUiche  hahitus  mit  der  damit  verbundenen 
Schuld  ist  Folge  der  Sünde  und  Strafe  der  Sünde.  Mit  der  Sünde  ist  der 
Tod  und  alles  Uebel  in  die  Welt  gekommen. 

Die  pelagianische  Lehre  bildet  in  allen  wesentlichen  Punkten  einen 
schroffen  Gegensatz  gegen  die  Augustin's.  Der  Mensch,  gleich  zu  achten 
einem  unentwickelten  Kinde,  wurde  durch  Sinneslust  gereizt;  er  war  über- 
diess  unvorsichtig  und  unerfahren ;  darum  traute  er  den  Worten  der  Schlange. 
Von  einer  Fortpflanzung  der  Sünde  Adam's  auf  seine  Nachkommen  kann 
nicht  von  ferne  die  Rede  sein;  die  Stelle  Rom.  5,  12  kann  nicht  als  Beweis 
dafür  gelten.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  dass  die  Menschheit  als  Gattung 
in  Adam  existirt  habe.  Dazu  kommt,  dass,  wenn  die  siunhche  Begierde, 
concupiscentia,  Sünde  ist,  nothwendig  auch  die  Ehe  sündlich  ist,  wogegen 
Augustin  sich  durch  die  Behauptung  zu  retten  suchte,  die  concupiscentia 
gehöre  nicht  zum  Wesen  der  Ehe,  da  im  Paradiese  Ehe  ohne  Sünde  bestau- 
ne r  z  o  g ,  KirchcngeBchlchte  I.  21 


322  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

den  habe.  Die  Ehe,  sofern  sie  die  Fortpflanzung  des  Geschlechts  bezwecke, 
sei  ehrenhaft  (honesta);  doch  sei  die  concu2nscentia  jetzt  davon  nicht  aus- 
geschlossen, und  so  bekommen  die  Kinder  Antheil  an  der  Erbsünde.  Die 
pelagianische  Lehre  hielt  dagegen  fest,  dass  es  keine  Sünde  gebe  ohne  freie 
Willen  sein  willigung  (null  um  est  sine  lihertate  peccatum) ,  dass  Nie- 
mand von  Natur  (naturaliter)  böse  sei,  dass  das  Gute  und  das  Böse  nicht 
mit  uns  geboren,  sondern  von  uns  ins  Werk  gesetzt  werde  (agitur).  Aus- 
serdem behaupteten  die  Pelagianer,  dass  die  Annahme  von  der  Fortpflanzung 
der  Sünde  durch  die  physische  Zeugung  mit  der  häretischen  Ansicht  des 
Traducianismus  zusammenhänge.  Dass  nun  gar  Gott  die  Sünde  durch  Sünde 
strafe,  dass  die  Sünde  hiemit  sich  selbst  strafe,  diesen  Gedanken  findet 
Julian  gotteslästerlich  und  verwirft  den  dafür  von  Augustin  mit  Recht  ange- 
führten Spruch  Rom.  1,  28.  Augustin  weist  aber  dem  Julian  nach,  dass  er 
selbst  etwas  Aehuliches  gesagt  habe  i).  —  Jeder  Mensch  wird  in  dem  Zu- 
stande geboren,  in  welchem  Adam  vor  dem  Falle  war;  ;,die  Kleinen  sini 
unschuldig,  um  deren  willfen  ihr  einen  Arzt  sucht."  Die  Sünde  Adam's,  weil 
sie  nur  seine  Sünde  ist,  wird  nur  ihm  zugerechnet.  Sie  hat  allerdings  an- 
deren insofern  geschadet,  als  sie  ein  böses  Beispiel  aufstellte.  Leiden  und 
Tod  ist  nicht  Folge  der  Sünde. 

Soteriologie. 

Nach  manchen  Aeusserungen  zu  urtheilen,  scheint  Pelagius  die  Bedeutung 
und  Wirksamkeit  der  Gnade  im  Werke  der  Aneignung  des  Heiles  anerkannt 
zu  haben,  sei  es,  dass  die  Ausdrücke  so  allgemein  gehalten  sind,  dass  selbst 
Augustin  nichts  Ketzerisches  darin  finden  kann,  wie  im  Briefe  an  Demetrias, 
oder  dass  Pelagius,  um  den  Vorwurf  abzuwehren,  dass  die  Consequenz  seiner 
Anthropologie  die  Negation  der  Gnade  in  sich  schliesse,  diese  geflissentlich 
hervorhebt.  Im  Briefe  an  Innocenz  L  sagt  er:  „wir  bekennen  den  freien 
Willen  so,  dass  wir  das  beständige  Bedürfniss  der  Gnade  behaupten."  Näher 
betrachtet,  versteht  Pelagius  unter  Gnade  zuerst  die  possibüitas  bonij  die 
Möghchkeit,  das  Gute  zu  thun,  also  eigentlich  den  freien  Willen  selbst  als 
Gabe  Gottes.  Allerdings  ist  die  sittliche  Freiheit  des  Menschen  eine  hohe 
Gabe  Gottes,  aber  es  verwirrt  die  Begrilfe,  wenn  man  sie  als  Gnade  auflksst. 
Pelagius  lehrt  demnach,  dass  das  Können  des  Guten  von  Gott  kommt,  der 
zum  Wollen  und  zum  Thun  die  Möglichkeit  gegeben.  In  diesem  Sinne  deu- 
tete er  den  Ausspruch  des  Apostels,  dass  Gott  beides  in  uns  wirke,  das 
Wollen  und  das  Vollbringen.  So  ist  es  auch  Gnade,  dass  unsere  Natur  bei 
ihrer  Erschaffung  die  Möglichkeit  erhalten  hat,  nicht  zu  sündigen.  Zweitens 
versteht  Pelagius  unter  Gnade  das  Gesetz,  die  Offenbarung,  die  Lehre  Christi, 
wodurch  dem  Menschen  die  Ausübung  des  Guten  erleichtert  wird.  Gnade 
ist  es,  wenn  Gott  durch  seine  Verheissungen  und  Belohnungen  uns  antreibt, 
durch  seine  Offenbarung  ein  Verlangen  nach  Gott  in  uns  erweckt,  indem  er 
uns  Alles  anräth,   was   gut   ist.    Insofern  gehört  auch  das  mosaische  Gesetz 


1)  Justissime  enim  sibi  bonus  homo  et  malus  committitur,  ut  et  bonos  se  patiatur 
et  malus  se  ipse  patiatur  c.  Jul.  5,'35. 


Der  augustinische  und  der  pelagianiscbe  Lehrbegriff.  323 

zur  Gnade.  Besonders  aber  ist  Lehre  und  Beispiel  Christi  Sache  der  Gnade. 
Diese  zwei  Bestimmungen  erschöpfen  zwar  den  pelagianischen  Begriff  von 
der  Gnade  nicht,  sondern  als  Gnadengabe  werden  auch  aufgeführt  die  Wun- 
dergaben, der  unmittelbare  Beistand  Gottes,  der  den  Aposteln  zu  Theil 
wurde,  besonders  die  Vergebung  der  vor  der  Bekehrung  begangenen  Sünden. 
Es  geht  aber  aus  Allem  hervor,  dass  die  Gnade  nicht  unmittelbar  auf  den 
Willen  wirkt,  sondern  blos  auf  die  Erkenntniss  und  dass  sie  das  menschliche 
Thun  blos  erleichtert  und  nicht  erst  möglich '  macht.  Darein  setzte  Pelagius 
das  adjutorium  gratiae.  Er  gab  in  Diospolis  zu,  gratiam  Dei  et  adju- 
torium  ad  singulos  actus  dari  und  verwarf  die  Läugnung  dieses  Satzes ; 
er  verstand  aber  unter  gratia  den  freien  Willen  und  unter  adjutorium  die 
Belehrungen  Christi.  Dabei  verwarfen  die  Pelagianer  die  Unwiderstehlichkeit 
der  Gnade,  eine  solche  Gnade  nannten  sie  fatum  suh  nomine  gratiae. 
Dass  die  absolute  Prädestination  in  diesem  Gedankenkreis  keinen  Piaum  fin- 
den konnte,  liegt  auf  der  Hand.  Prädestination  ist  bedingt  durch  Gottes 
Vorherwissen;  Gott  erbarmt  sich  dessen,  von  dem  er  vorherweiss,  dass  er  die 
Erbarmung  verdienen  w^erde;  so  legten  die  Pelagianer  die  Stelle  Eöm.  9,  15 
aus.  Doch  wurde  diese  Lehre  erst  später  genauer  erörtert.  Hier  muss  nur 
noch  soviel  bemerkt  werden,  dass  dem  abgeschwächten  Begrifi  von  der 
Gnade  die  Vorstellungen  von  der  abgeschwächten  Wirkung  entsprechend  sich 
bildeten,  so  dass  die  Erlösung  weniger  als  Heilung  und  Befreiung  der  ver- 
derbten menschlichen  Natur,  denn  als  Erhöhung,  Veredlung,  Verherrlichung 
der  unvollkommenen,  beschränkten,  menschhchen  Natur  über  den  Standpunkt 
hinaus  betrachtet  wurde,  auf  welchem  sie  durch  ihre  Schöpfung  gestellt 
worden.  Die  Pelagianer  nahmen  an,  dass  die  von  Gott  gut  geschaffene 
menschliche  Natur  durch  Christus  besser  gemacht,  mit  neuen  Kräften  aus- 
gerüstet werde  i).  Das  hing  damit  zusammen ,  dass  die  Pelagianer  die  Tu- 
genden der  Heiden  priesen,  als  Beweis  von  der  sitthchen  Kraft  der  sich 
selbst  überlassenen  menschhchen  Natur,  und  dass  sie  in  keiner  Weise  dem 
Augustin  zugeben  konnten,  dass  alle  Tugenden  der  Heiden  nur  Scheintugen- 
den gewesen.  Sie  nahmen  verschiedene  Stufen  in  der  göttlichen  Erziehung 
der  Menschheit  an,  entsprechend  dem  steigenden  Verderben  in  derselben. 
So  lange  die  Natur  noch  besser  war,  wurde  sie  pich  selbst  überlassen  (ju- 
stitia  per  naturam).  Als  die  Sünde  zugenommen,  gab  er  das  Gesetz 
Cjustitia  per  legem),  als  die  Sünde  noch  mehr  zugenommen,  erschien 
Christus  Cjustitia  gratiae),  und  zwar  hat  er  nicht  das  erste  Vorbild 
der  Gerechtigkeit  gegeben,  sondern  das  grösste. 

Augustin's  anthropologische  Sätze  waren  die  Prämissen  zu  einem  vom 
Pelagianismus  weit  abweichenden  Lehrbegriffe.  Hatte  sich  der  Mensch  durch 
den  Sündenfall  der  Freiheit  zum  Guten  beraubt,  so  dass  für  ihn  die  Noth- 
wendigkeit  eintrat,  weiter  zu  sündigen,  so  musste  der  Gnade  eine  ganz 
andere  Tragweite,  eine  viel  intensivere  Wirkung  zugetheilt  werden.  Augu- 
stin gab  zwar  zu,  man  könne  es  im  weiteren  Sinne  Gnade  nennen,  dass  der 


1)  Julian  lehrte:  Christus,  qui  est  sui  operis  redemtor,  äuget  circa  iraaginem  suam 
continua  largitate  beneficia  et  quos  fecerat  condendo  bonos,  facit  innovando    adaptandoque 

meliores.    Aug.  c.  Jul.  3,  8. 

21  * 


324  Zweite  Periode  des  alten  KathoUcisniuö, 

Mensch  ein  mit  Vernunft  begabtes  Wesen  sei;  auch  das  Gesetz  könne  man 
adjutorium  der  Gnade  nennen,  eben  so  die  Taufe  und  die  Offenbarung  über- 
haupt. Aber  er  machte  zugleich  geltend,  dass  man  nach  bibhschem,  vorzüg- 
Hch  nach  paulinischem  Sprachgebrauche  das  Wort  gratia  hauptsächlich  von 
den  übernatürlichen  Wirkungen  des  Geistes  Gottes  auf  die  Menschen  ver- 
stehen müsse.  Dabei  ist  alles  Magische  ausgeschlossen.  Der  Mensch  kann 
nicht  aus  eigener  Kraft  die  Gnade  wollen,  und  doch  kann  der  Mensch 
ohne  seinen  Willen  und  Bewusstsein  zur  Gnade  nicht  gelangen.  Beide  Sätze 
einigen  sich  dahin,  dass  die  Gnade  unter  der  Form  und  nach  den  Gesetzen 
unseres  Bewusstseins  wirkt,  indem  sie  unseren  Willen  unwiderstehlich  an- 
lockt, jedoch  ohne  das  liberum  arhitrium  aufzuheben. 

Demnach  ist  der  Glaube,  die  Quelle  aller  guten  Handlungen  und  ins- 
besondere  der  Liebe,   in   seinem   Anfange,   Fortgange   und   in   seiner  Voll- 
endung Werk  der  Gnade,  Geschenk  Gottes.  —    Er  ist  zunächst  historischer 
Glaube   an   die   durch   Jesum  vollbrachte  Erlösung   und  Versöhnung.    Doct 
hat  der  Glaube  auch  Christum   selber   zum  Gegenstand,   nicht  blos   dessen 
historisches  Werk.    Christus   selbst   wirkt  als  der  fortlebende  in  dem  Gläu- 
bigen,  unmittelbar  in  den  Herzen,   nicht  diu'ch  andere  Mittler.     Gott  wirkt 
auf  wunderbare  Weise,  dass  wir  glauben,  und  zwar  wirkt  er  zunächst  auf  das 
Erkenntnissvermögen  des  Menschen,  er  bewirkt   unsere  innere  Erleuchtung, 
so  dass  wir  beständig  und  weise   werden.     Damit  geht  Hand  in  Hand   eine 
übernatürliche  Wirkung  auf  den  Willen  des  Menschen,    wodurch   er  befähigt 
wird,   das  Gute  zu  wollen.    Die  Liebe,    woraus  alles  Gute    hervorgeht,  ist 
Wirkung  der  Gnade.     Die  Bedeutung   der  Liebe   ergibt   sich  daraus,    dass, 
wenn  man  auch  wohl  weiss,  was  mau  thun  soll,  man  es  doch  nicht  ausführt, 
wenn  es  nicht  auch  geUebt  wird.     Damit   es  aber  geliebt  werde,   wird  die 
Liebe  Gottes  in  unsere  Herzen   ausgegossen   durch  den  heihgen  Geist,   der 
uns  gegeben  ist  (Rom.  5,  5).     Gott  giesst   die  Liebe   tief  und   inwendig  ein 
mit  unaussprechlicher. Lieblichkeit  (suavitas),  nicht  allein  durch  diejenigen, 
die  von  aussen  pflanzen  und  begiessen,    sondern   auch   durch  sich  selbst,   so 
dass  er  nicht  allein   die  Wahrheit  zeigt,   sondern   auch   die  Liebe  verleiht. 
Gnade  ist  also  benedictio  dulcedints,  vermöge  welcher  Gnade  wir  lieben, 
was  er  uns   befiehlt;    diese  Gnade   kommt    dem  Willen   zuvor  und    bereitet 
ihn  1) ;   sie  ist  gratia  praevenie n s  oder  afitecedens.    In  ihrem  weite- 
ren Fortgange  ist  sie  die  notli wendige  Bedingung  jeder  guten  Handlung,  so 
dass  auch  der  perfectissime  justl/icatus  ihrer  bedarf.    Die  Seele  lebt 
aus  Gott,   wenn  sie  gut  lebt;   sie  kann  nicht  gut  leben,   wenn  nicht  Gott  in 
ihr  wirkt,  was  gut  ist.    Selbst  den  Heiligen  fehlt  bisweilen  das  überwiegende 
Wohlgefallen  an  einem  guten  Werke,   damit   sie   inne   werden,   dass  es  von 
Gott  komme.    Daher  die  Erklärung  der  Africaner  an  Zosimus :   „Wenn  Pela- 
gius  uns  zugeben  will,  dass  nicht  allein  die  Möglichkeit  (des  Guten),  sondern 
auch  der  Wille  und  die  Handlung  von  Gott  unterstützt  werde,  und  zwar  so, 
dass  wir  ohne  diese  Unterstützung   nichts  Gutes   wollen  oder  thun  und  dass 
es  die  Gnade  Gottes  in  Christo  sei,  vemiöge  welcher  er  uns  durch  seine,  nicht 


1)  Praeparatur  bona  voluntas  a  Deo. 


Der  angnstinische  und  der  pelagianisclie  Lehrbegriff.  325 

durch  unsere  Gerechtigkeit  gerecht  macht,   so  glauben  wir,   dass  unter  uns 
über  den  Beistand  der  göttlichen  Gnade  kein  Streit  mehr  übrig  bleiben  mnV 
Mit   diesen  Sätzen  hängt  unmittelbar  dieser  zusammen,  dass   Gott  bei 
Ertheilung    der   Gnade    keine   Rücksicht  nimmt   auf  Würdigkeit  des   Men- 
schen, sondern  er  verfährt  nach  seinem  freien  Willen.    Durch  welche  Gründe 
diese  bestimmt  wird,   darüber  steht  uns  kein  Urtheil  zu.     Zur  näheren  Er- 
örtemng  dient  folgende  Erörterung:  der  heihge  Geist  bläst,  wo  er  will,  und 
folgt  nicht  auf  die  Verdienste,  sondern  bringt  die  Verdienste  hervor,  so  dass 
Gott,  wenn  er  unsere  Verdienste  belohnt,   nichts  Anderes  belohnt  als  seine 
Geschenke.    Gott  selbst  bewirkt,   dass   die  Würdigen  haben,  was   er  ihnen 
vergelten  wird.     So  folgen  denn  die  guten  Werke  der  Gnade  und  gehen  ihr 
nicht  voran;  nicht  allein  keine  bona  merita^  sondern  mala  merita  gehen 
der  Gnade  voran.      Gott  könnte   auch   den  Willen   der  Bösen  auf  das  Gute 
lenken,  weil  er  allmächtig  ist.    Warum  hat  er  es  nicht  gethan?   weil  er  es 
nicht  gewollt  hat.  —    Die  Ertheilung  der  Gnade   folgt  auf  unwiderstehliche 
Weise.    Da  nämlich  der  Mensch   seit  dem  Sündenfalle   gegen   das  Gute  an- 
kämpft, so  kann  es  nur  durch  Wirkung  der  Gnade  geschehen,  dass  er  davon 
ablässt;  diese  Wirkung  geschieht  indeclinabiliter  und  insuperabiliter 
auf  den  Willen  des  Menschen  i) ;  der  Mensch  büsst  dabei  seine  Freiheit  nicht 
ein,   sondern   er  wird  durch  die  Gnade  erst  frei  gemacht.     Die  Frucht  der 
Ertheilung  der  Gnade  ist  die  Rechtfertigung ;  sie  ist  zunächst  Vergebung  der 
Sünden,    erfasst  durch   den  historischen  Glauben  an  die  durch  Christum  be- 
wirkte Versöhnung  des  Menschen  mit  Gott,   die  Befreiung  aus  der  Schuld- 
haft des  Teufels;   diese  Befreiung  ist  die  Voraussetzung  dafür,  dass  Gott  in 
uns  weiter   wirke,   d.  h.    dass  die  Einheit  mit  Gott  gegeben  werde;   diese 
Einheit  oder  Gemeinschaft  mit  Gott  erheischt  Aufhebung  der  Sünde,   welche 
sowohl  im  Erkenntnissvermögen  als  im  Willen  nur  durch  unmittelbare  Wirk- 
samkeit,  vor   allem  durch  Inspiration  der  Liebe  aufgehoben   wird.     So  fällt 
das  Hauptgewicht  auf  die  Liebe;   sie  ist  das  für  die  Seligkeit  Entscheidende, 
welche  Liebe  ausserhalb  der  Kii'che  nicht  möglich  ist.     Durch  die  Liebe  er- 
folgt  die  justificatio  im  Sinne  von  Gerechtmachuug.     Gott  rechtfertigt  den 
Gottlosen  nicht  blos  dadurch,   dass   er  vergibt,   was   der  Gottlose  Böses  ge- 
than, sondern  auch  dadurch,  dass  er  ihm  die  Liebe  schenkt,  so  dass  er  vom 
Bösen  ablässt  und  das  Gute  thut  2).     Es  hängt  sich  aber  etwas  Gesetzliches 
daran,  sofern  jeder  sich  sündig  weiss  und  sich  der  Unvollkommenheit  seiner 
Liebe  bewusst  ist,   und  doch  von  seiner  Liebe  die  Seligkeit   abhängen   soll, 
Daher  das  Bestreben   entstehen    muss,    durch  gute  Werke  die  Seligkeit  zu 
verdienen;  denn  wir  können  nur  unter  der  Bedingung  der  Verdammniss  ent- 
gehen und   das   göttliche  Wohlgefallen  erlangen,   dass  wir  Werke  der  Liebe 
thun.     So   ist   das  pelagianisclie  Axiom,  dass   die  Gnade  je  nach  Massgabe 
unserer  Verdienste  uns  ertheilt  werde,  nicht  völlig  überwunden.    Ausserdem 
verwickelt  sich  Augustin  hiebei  in  einen  Widerspruch  mit  sich  selbst.    Denn, 


1)  So  lehrte  er  nicht  bis  413,  nach  der  Schrift  de  spiritu  et  litera  c.  61,  die  in 
diese  Zeit  fällt.  —  In  der  Schrift  c.  duas  ep.  Pelagianorum  4,  13  vom  Jahre  420  trägt 
er  die  Lehre  zum  ersten  Male  vor,  dann  427  in  der  S.  de  correptione  et  gratia. 

2)  Gratia  Dei  justificamür,  i.  e.  justi  efficimur. 


326  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

wenn  er  lehrt ,  dass  blos  die  Gnade  die  guten  Werke  wirke ,  so  begreift  man 
nicht,  wie  er  sie  in  gewissem  Sinne  zur  Bedingung  der  Seligkeit  machen 
kann.  Wirkt  sie  die  Gnade,  so  ist  man  im  Besitz  der  Gnade,  ehe  man  die 
Werke  thiit,  und  dann  können  sie  nicht  als  Bedingung  für  das  göttliche 
Wohlgefallen  angesehen  werden ;  werden  sie  aber  als  solche  angesehen,  dann 
kann  mau  auch  nicht  sagen,  dass  sie  von  der  Gnade  gewirkt  seien. 

Die  stärkste  Stütze  suchte  Augustin  seiner  Lehre  von  der  Gnade  zu 
geben  durch  die  Lehre  von  der  Erwählung  und  Vorherbestimmung, 
die  er  im  Gegensatz  gegen  den  aufkommenden  Semipelagianismus  entwickehe 
und  genauer  erörterte.  Hier  kommen  hauptsächlich  in  Betracht  die  colla- 
tiones  patrum  von  Johannes  Cassianus.  Dieser  erkennt  durchaus 
den  Sündenfall  Adam's  an,  wodurch  sein  Geist  unter  die  Herrschaft  des 
Fleisches  gerieth  und  wodurch  sein  Leib  sterbüch  wurde,  da  er,  wenn  er 
nicht  gesündigt  hätte,  vor  dem  Tode  verwahrt  geblieben  wäre.  Ein  pecca- 
tum  originale  im  Sinne  Augustinus  nahm  Cassian  nicht  an,  sondern  seit  dem 
Sündenfall  neigt  sich  der  Mensch  mehr  zum  Laster  als  zur  Tugend.  Die 
Willensfreiheit  zum  Guten  ist  aber  im  Menschen  nicht  aufgehoben,  nament- 
lich ist  auch  die  Empfänglichkeit  für  das  Heil  im  Menschen  keineswegs  er- 
loschen. Daher  ist  Cassian  geneigt  anzunehmen,  dass  die  Entscheidung  de^ 
Menschen  für  Ergreifung  des  Heiles  in  Christo  mehr  vom  menschhcher 
Willen,  als  von  der  Gnade  ausgeht.  Zuweilen  zwar,  meint  er,  werden  wii 
wider  unseren  Willen  von  der  Gnade  gezogen  ^).  So  scheint  Paulus  gleich- 
sam wider  seinen  Willen  auf  den  Weg  des  Heiles  gezogen  zu  sein.  Denn 
warum  sollte  die  Gnade  nicht  auch  den  Willen  des  Menschen  überwinden 
können?  Da  aber  die  Freiheit  des  Willens  im  gefallenen  Menschen  nicht 
aufgehoben  ist,  so  kann  aus  uns  der  Anfang  des  guten  Willens  hervorgehen; 
der  Mensch  kann  das  Gute  wollen ;  zum  Vollbringen  bedarf  er  der  göttlichen 
Gnade.  So  ist  die  Gnade  nöthig  zu  jeder  guten  Handlung;  sie  stärkt  den 
guten  Willen.  LTthümlich  ist  beides,  dass  aus  der  Gnade  immer  der  gute 
Wille  entstehe,  weil  sie  nicht  unwiderstelüich  wirkt,  und  dass  die  Gnade 
immer  vom  guten  Willen  abhängig  sei.  Um  diess  klar  zu  machen,  führt 
Cassian  eine  Anzahl  Bibelstellen  an,  wovon  die  einen  die  Wirkung  des 
menschlichen  Willens,  die  anderen  die  der  Gnade  betonen  Jesaia  1,  19  und 
Köm.  9,  15  —  Rom.  2,  6  und  PhiHpper  2, 13  —  Jacobi  4,  8  und  Joh.  6,  44  - 
Ezecliiel  18,  31  und  Ezechiel  11,  19.  20.  Es  ist  dem  Cassian  darum  zu 
thuu,  das  Gleichgewicht  zwischen  beiden  Factoren  aufrecht  zu  halten.  Daran 
reiht  sich  als  nothwendige  Cousequeuz  die  Verwerfung  der  Erwählung  und 
absoluten  Prädestination,  die  Festhaltung  der  allgemeinen  Gnade,  die  nicht 
unwiderstehlich  wirkt,  die  Verwerfung  des  Satzes,  dass  die  Prädestination 
von  der  Präscieuz  unabhängig  sei.  Dass  nicht  alle  selig  werden,  ist  ledig- 
lich ihre  Schuld;  für  den  üniversalismus  der  Gnade  führt  Cassian  Ezechiel 
33,  11  und  Matth.  23,  37  an. 

Gegen  diese  Lehrweise  verfasste  Augustin  seine  letzten  Schriften  de 
praedestinatione  Sanctorum  und  de  dono  persevera/itiae  (429. 
430),  wovon  der  wesenthche  Inhalt  folgender  ist. 


1)  Nonnun^uam  etiam  inviti  trahimur  ad  salutem. 


Der  august^nische  und  der  semipelagianische  Lehrbegriff.  327 

1)  Durch  die  Sünde  Adam's  ist  die  ganze  Menschheit   eine  verderbte 
Masse,    massa    perdüionis  geworden,    der  ewigen  Verdammniss   mit   Recht 
unterworfen,  so  dass,  wenn  Gott  Niemand  rettete,  ihm  keine  Ungerechtigkeit 
vorgeworfen   werden  könnte.     2)  Gleichwohl    wird  ein  Theil  der  Menschen, 
wenn  auch  nur  ein  geringer  Theil,   gerettet,   da  die  Offenbarung  Gottes  in 
Christo  und   die   im  Zusammenhang   damit   wirkende  Gnade   nicht   erfolglos 
bleiben  kann.      3)  Die  Errettung  geschieht   in  Folge  der  Erwählung   und 
Vorherbestimmung  zur  SeUgkeit,   die  Gott  vor  Erschaffung  der  Welt  ohne 
alle  Rücksicht  auf  die  sittHche  Beschaffenheit  der  Menschen  aus  freier  Gnade 
getroffen  hat.     Die  beiden  Begriffe   electio   und  praedestinatio   unter- 
scheiden sich  von  einander  so,   dass  diese  vorausgeht,  jene  als  Folge  davon 
aufgefasst  wii'd.    Gott  bestimmt  eine  Anzahl  von  Menschen  zur  Seligkeit  und 
erwählt  sie  aus  der  Masse  der  sündigen  Menschheit.    Die  Vorherbestimmung 
setzt    das   Vorherwissen    voraus,    aber   nicht    v.   v.    Gott    weiss    das    Böse 
voraus,  ohne  es  zu  thun.    Die  Vorherbestimmung  ist  diese  Art  des  göttlichen 
Vorherwissens,  welche  sich  auf  dasjenige  bezieht,  was  Gott  selbst  thut.    Die 
Vorherbestimmung  der  Heiligen  ist  zugleich  die  Vorherbereitung  (praeparatio) 
der  Wohlthaten  Gottes,  durch  welche  alle  diejenigen,  die  überhaupt  gerettet 
worden,  aufs  gewisseste  gerettet  werden.    Gott  will,  indem  er  so  den  einen 
Theil   der   Menschen   dem   verdienten  Verderben   entzieht,    im  Himmel   die 
Lücke  ausfüllen,   die   durch   den  Austritt   der  gefallenen  Engel   entstanden 
ist,  de  civitate  Dei  (22,  1).      Gott   findet   in   den  Erwählten  nichts  vor,  als 
Sünde  und  Elend.    Selbst  das  Verlangen  nach  Erlösung   von   diesem  Elende 
ist  schon  ein  Werk  der  vorbereitenden  Gnade.     4)  Gott   verschafft  den  Er- 
wählten die  Mittel,  wodurch  sie  können  selig  werden,  und  lässt  diese  Mittel 
bei  ihnen  anschlagen.     Sie  erhalten  die  Taute  und  mit  der  Taufe  die  Gele- 
genheit,  Kunde  vom  Evangelium   zu  erhalten.      Hauptsächhch   wirkt   er  in 
ihnen  den  Glauben,   wodurch  sie  aus  der  Gewalt  der  Finsterniss  befreit  und 
in    das  Reich  Christi    einverleibt   werden,    d.  h.   sie  erhalten   die   vocatio 
secundum  propositum   Rom.  8,  28,    die   wirksame  Berufung  im  Unter- 
schiede von  der  allgemeinen  Berufung,    die    an  Alle    ergeht,    von  denen  es 
heisst:  es  sind  viele  berufen,  aber  wenige  sind  auserwählt. 

Hiebei  ist  es  von  wesentücher  Bedeutung,  dass  der  Glaube  nicht  Werk 
des  Menschen,  sondern  Gabe  Gottes  ist.  So  wie  Augustin  sich  über  die- 
sen Punkt  seine  Ueberzeugung  gebildet  hatte,  lehrte  er  die  absolute  Prä- 
destination. Nicht  nur  das  Wachsthum,  sondern  auch  der  Anfang  des  Glau- 
bens kommt  von  Gott.  Darauf  bezieht  Augustin  die  Stellen  1  Kor.  4,  7. 
Joh.  6,  44.  Joh.  6,  28.  Ephes.  2,  8.  Demnach  ist  es  von  Gott  verordnet, 
wenn  der  Mensch  an  Christum  glaubt;  es  geschieht  in  Folge  göttücher  Vor- 
herbestimmung. Gott  hat  die  Gläubigen  erwählt  und  vorherbestimmt,  nicht 
darum,  weil  er  wusste,  dass  sie  glauben  würden,  sondern  damit  sie  glaubten 
Ephes.  1,  4.  Damit  wir  die  Liebe  empfingen,  vermöge  welcher  wir  lieben 
könnten,  sind  wir  geliebt  worden,  da  wir  die  Liebe  noch  nicht  hatten. 
1  Joh.  4,  10.  5)  Diese  Vorherbestimmung,  weil  sie  ohne  alle  Bedingung 
geschieht,  ist  gewiss  und  unabänderlich.  So  wie  sie  ohnfehlbar  diejenigen 
ergreift,  welche  sie  betrifft,  so  dass  die  Gnade  unwiderstehlich  wirkt,  so  hält 
sie  auch   die  Erwählten   unabänderlich   fest',    so   dass   sie   bis   ans  Ende  im 


328  Zweite  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

Glauben  beharren.  Dieses  Beharren,  nothwendige  Bedingung  der  Seligkeit, 
ist  nur  möglich  in  Folge  göttlicher  Vorherbestimmung  und  kommt  allen  Erwähl- 
ten zu,  aber  nur  den  Erwählten;  keiner  kann  aus  eigener  Kraft  bis  zum 
letzten  Athemzuge  beharren.  Keiner  kann  mit  Bestimmtheit  wissen,  dass 
er  nicht  abfallen  werde,  es  sei  denn,  dass  ihm  Gott  dieses  durch  eine  be- 
sondere Offenbarung  kund  gethan  habe.  6)  Einige  werden  übergangen  im 
Eathschluss  der  Vorherbestimmung  und  Erwählung.  Solchen  wird  die  Gele- 
genheit nicht  gegeben,  das  Evangelium  zu  hören,  oder,  wenn  sie  es  hören, 
so  glauben  sie  nicht,  oder,  wenn  sie  eine  Zeitlang  geglaubt  haben,  so  be- 
harren sie  nicht  bis  ans  Ende.  Aber  Gott  wäre  nicht  ungerecht,  wenn  er 
Niemanden  rettete.  Was  diejenigen  betrifft,  die  dasEvangelium  nicht  zu  hören 
bekommen,  so  findet  dabei  keine  Ungerechtigkeit  Gottes  statt;  wenn  solche? 
der  Verdammniss  anheimfallen,  so  geschieht  diess,  weil  Gott  voraus  sah,  dass 
sie  nicht  glauben,  oder  im  Glauben  nicht  beharren  würden.  Wenn  es  abei 
heisst,  dass  Gott  die  einen  verhärte,  so  will  das  nicht  sagen,  dass  er  Bos- 
heit verleiht,  sondern  dass  er  Barmherzigkeit  nicht  verleiht  i).  Denn  es 
gibt  keinen  Rathschluss  Gottes,  vermöge  dessen  er  einen  Theil  der  Mensch- 
heit bestimmt  hätte,  böse  zu  sein  und  der  ewigen  Seligkeit  verlustig  zu 
werden.  Der  Mensch  sündigt  nicht  deswegen,  weil  Gott  vorausgesehen,  dass 
er  sündigen  werde;  denn  Gott  sieht  die  freien  Handlungen  als  freie  voraus. 
Augustiu  ist  also  nicht  Supralapsarier.  Doch  kann  er  nicht  zugeben,  dass 
Christus  für  alle  Menschen  efficaciter  gestorben  sei.  In  diesem  Punkte  ge- 
lingt es  ihm  nicht,  die  Einwürfe  der  Pelagianer  zu  beseitigen,  die  sich  auf 
1  Tim.  2,  4  beriefen:  Gott  will,  dass  alle  Menschen  selig  werden  und  zur 
Erkennt niss  der  Wahrheit  kommen.  Augustin  versteht  unter  „alle"  viele, 
oder  Menschen  omnis  generis^  oder  er  betont  das  „will"  in  dem  Sinne:  alle 
Menschen,  die  selig  werden,  die  werden  es  dadurch,  dass  Gott  es  will. 

In  dieser  absoluten  Beseitigung  des  allgemeinen  Gnadenwillens  steckt 
der  Hauptirrthum  Augustinus.  Er  meinte,  nur  so  die  particuläre  Gnadenwahl, 
welche  —  wie  auch  der  allgemeine  Gnadenwille  durch  die  Schrift  bezeugt 
ist  — ,  festhalten  zu  können;  aber  darin  irrte  er.  Der  allgemeine  Heils- 
zweck verhält  sich,  nach  biblischer  Anschauung,  zu  der  Gnadenwahl  wie  die 
Bedingung  zur  Erfüllung,  zur  Verwirklichung  des  Rathschlusses  der  Erlösung 
der  Welt.  Damit  der  Mensch  das  Heil  erlange  und  sich  aneigne ,  muss  er 
zuvor  glauben,  dass  Gott  die  Welt  geliebt  habe  Joh.  3,  16.''  Aber  dass  einige 
zum  Glauben  gelangen,  das  ist  Sache  der  Gnade.  Die  Erlösung  könnte  sich 
in  dem  Einzelnen  nicht  vollziehen,  wenn  sie  nicht  als  Sache  des  gesammten 
Menschengeschlechts  angekündigt  wäre.  Die  Erstreckung  des  allgemeinen 
Gni?denwillens ,  in  seiner  Verwirklichung  gedacht,  auf  die  Einzelnen,  ist  die 
particuläre  Gnadenwahl  '-^j.    Das  also  hat  Augustin  nicht  in  Betracht  gezogen. 


1)  Non  obdurat  Deus  impertiendo  malitiam  sed  non  impertiendo  misericordiam. 

2)  Dorner  behauptet  a.  a.  0.  S.  232,  Augustin  gerathe  in  der  Lehre  von  der  Prä- 
destination in  einen  Widerspruch  mit  sich  seihst,  indem  einerseits  in  die  Prädestination 
die  Art  und  Weise  der  liistorischen  Kealisirung  des  Vorherbestimmten  mit  aufgenommen 
sein,  andererseits  aber  in  der  Weise  durch  die  Prädestination  Alles  entschieden  sein  soll, 
dass  die  historische  Entwicklung  etwas  relativ  Gleichgültiges  wird.     Doch,    diess  gesetzt, 


Priscillianus  und  seine  Anhänger.  529 

Von  anderen  häretischen  Bewegungen  im  Abendlande  sind  zu  nennen 
Priscillianus  und  seine  Anhänger  in  Spanien  als  Nachwuchs  von 
Gnostikeru,  die  aus  Aegypten  gekommen  waren  und  sich  mit  Manichäern, 
die  während  der  arianischen  Streitigkeit  dahin  verschlagen  worden,  verban- 
den und  von  ihnen  einiges  von  der  manichäischen  Lehre  annahmen.  Priscil- 
lianus, ein  Laie,  von  adeliger  Abkunft,  reich,  überdiess  beredt  und  gewandt 
im  Disputiren,  sehr  belesen  und  bewandert  in  den  welthchen  Wissenschaften, 
dazu  ein  Mann  von  sehr  strenger  Lebensart,  nahm  die  Grundsätze  jener 
Gnostiker  und  Manichäer  an  und  fand  vielen  Anhang  unter  den  Adeligen, 
sowie  unter  dem  Volke;  besonders  gelang  es  ihm,  Weiber,  die  gerne  nach 
neuen  Dingen  haschen  2),  haufenweise  anzuziehen.  Unter  seinen  Anhängern 
befanden  sich  sogar  Bischöfe  wie  Instantius  und  Salvianus;  gegen  sie 
trat  zuerst  der  Bischof  H  y  g  i  n  u  s  vonCorduba  auf,  hernach,  durch  ihn  ange- 
regt, Bischof  Idacius  von  Emerita;  allein  dieser  beförderte  durch  seine 
Heftigkeit  die  Ausbreitung  der  Secte.  Eine  Synode  zu  Cäsaraugusta  (380) 
sprach  das  Anathema  über  sie  aus  und  traf  Vorkehrungen  gegen  das  Umsich- 
greifen derselben;  die  Synode  übertrug  die  Ausführung  dieser  Beschlüsse 
einem  höchst  ungeistlichen,  unwürdigen  Manne,  Bischof  Ithacius  von  Sossuba. 
Dieser  und  Idacius,  die  beiden  Hauptgegner,  brachten  es  endlich  dahin, 
dass  Priscillian  in  Trier  385  auf  Befehl  des  Kaisers  Maximus  nebst  Anderen 
mit  dem  Schwerte  hingerichtet  wurde,  das  erste  Beispiel  der  Hinrichtung 
eines  Häretikers.  Vergebens  hatte  der  Bischof  Martin  von  Tours  von 
Maximus  die  Verschonung  des  Unglücklichen  erbeten.  Zur  Ehre  der  Kirche 
sei  bemerkt,  dass  Ambrosius  und  der  römische  Bischof  Siricius  sich 
gegen  die  Himichtung  von  Häretikern  entschieden  aussprachen.  Ambrosius 
verweigerte  sogar  die  Kircheugemeinschaft  jenen  Bischöfen,  welche  die  Hin- 
richtung Priscillians  betrieben  hatten.  Seine  Anhänger,  obwohl  verfolgt,  be- 
standen bis  in  das  sechste  Jahrh. ;  denn  noch  das  Concil  zu  Braga  563  fasste  Be- 
schlüsse gegen  sie.  In  der  Lehre  tritt  deutlich  die  manichäische  Einwirkung 
zu  Tage.  Ihre  Sittenlehre  war  streng  asketisch.  Die  Beschuldigungen,  dass 
Priscillian  und  die  Seinen  Unzucht  getrieben  (bei  Sulp.  Sev.  2, 50),  sich  grün- 
dend auf  höchst  parteiische  Zeugnisse,  scheinen  keinen  Grund  zu  haben  oder 
sind  wenigstens  sehr  übertrieben. 

Die  ungeachtet  aller  Verfolgungen   noch  immer   fortwuchemden  Mani- 
chäer hatten  im  Abendlande,  zunächst  in  Africa  proconsularis  einen  günsti- 


aber  nicht  zugegeben,  so  Hesse  sich  derselbe  Einwand  gegen  die  durch  die  Voraussicht 
des  Glaubens  bedingte  Prädestination  erheben.  Wenn  die  historische  Entwickelung  durch 
die  Erwählung  zum  Glauben  etwas  Gleichgültiges  wird,  so  wird  sie  es  auch  durch  die 
auf  Grund  des  vorlier  gewussten  Glaubens  erfolgte  Erwählung.  Denn  beide  Arten  von 
Prädestination  und  Erwählung  zum  Heile,  die  absolute  und  die  bedingte,  fallen  in  den 
Bereich  des  vor  Erschaffung  der  Welt  gefassten  göttlichen  Rathschlusses. 

1)  Für  das  Geschichtliche  ist  Quelle  Sulpicius  Severus  2,  46-51,  für  die 
Lehre  das  commonitorium  des  Orosius,  Augustin  haeresis  70,  Leo's  Brief  an  Bischof 
Turribius  von  Asturica.     S.  d.  Bearbeitung  bei  Neander  2,  3.  1477  ff. 

2)  novarum  rerum  cupidae  —  ad  omnia  curioso  ingenio.    Sulp,  Sev. 


330  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

gen  Boden  gefunden ;  daselbst  that  ihnen  schon  Augustin  durch  seine  Schriften 
vielen  Abbruch;  seine  Autorität  hierin  war  um  so  grösser,  je  eifriger  er  vor- 
her ihre  Lehre  festgehalten  hatte.  In  Folge  der  Eroberung  Africa's  durch 
die  Vandalen  (429)  flüchteten  viele  Manichäer  nach  Korn,  woselbst  Bischof 
Leo  sich  alle  Mühe  gab,  sie  auszufoi^schen  und  zu  bekehren;  diejenigen,  die 
nicht  widerrufen  wollten,  wurden  verbannt.  Doch  erhielt  sich  die  Secte  bis 
ins  Mittelalter. 


Uebersicht  der  nicht  controvers  gewordenen  Dogmen. 

Die  Lehre  von  den  Erkenntnissquellen  des  Christenthums.  —  Von  der  Tra- 
dition und  der  Autorität  der  Concihen. 

Der  Ausdruck  Kanon,  ursprünglich  auf  die  Glaubensregel  angewendet, 
wurde  in  dieser  Periode  'per  metonymiam  auf  die  biblischen  Schriften  ange- 
wendet, woraus  die  Sätze  gezogen  wurden,  die  als  Regel  der  Wahrheit  gal- 
ten. In  Beziehung  auf  den  alttest  am  entlichen  Kanon  beginnt  eine 
Verschiedenheit  des  Uitheils  zwischen  der  griechischen  und  der  lateinischen 
Kirche.  In  jener  wurde  mehr  und  mehr  der  Unterschied  anerkannt,  welchen 
Origenes  gemacht  zwischen  den  kanonischen  und  den  apokiyphischen  Schrif-^ 
teu.  Athanasius  unterschied  dreiClassen  von  Schriften:  1)  xavovLX^oneva, 
als  göttlich  anerkannte  Richtschnur  und  lü'iterium  des  Glaubens ;  es  sind  die 
im  jüdischen  Kanon  enthaltenen  Schriften;  2)  avaYivtoaxoneva,  zwar  nicht 
zum  Kanon  gehörig,  doch  nützlich  zu  lesen,  das  sind  unsere  alttestament- 
lichen  Apokiyphen,  3)  anoxqvtpa,  welche  wir  jetzt  Pseudepigrapheu  nennen, 
von  Häretikern  unter  dem  Namen  biblischer  Personen  verfasst;  diese  Unter- 
scheidung blieb  in  der  griechischen  Kirche.  In  der  lateinischen  Kirche  fand 
sie  Aufnahme  bei  Rufin,  der  in  der  expositio  in  Symbolum  Apos-to- 
licum  dieselben  drei  Classen  annimmt  (canonici,  ecclesiastici^  apo- 
cryphi)j  sodann  bei  Hieronymus,  der  die  beiden  letzten  Classen  in  eine 
verschmilzt;  so  dass  der  Name  apokryphisch  auch  auf  die  2.  Classe  des 
Athanasius  angewendet  wird.  Von  ihm,  der  allein  sie  so  nennt,  haben  un- 
sere Reformatoren  die  Benennung  angenommen.  Das  Beispiel  des  Rufinus 
und  des  Hieronymus  übten  keinen  Einfluss  auf  die  lateinische  Kirche.  Zwei 
africanische  Synoden,  zu  Hippo  393  (c.  36),  zu  Carthago  397  stellten  Ver- 
zeichnisse der  biblischen  Bücher  auf,  in  welchen  die  von  Hieronymus  als 
apokryphisch  bezeichneten  Schriften  zu  den  kanonischen  gezählt  werden;  so 
blieb  es  im  Ganzen  in  der  lateinischen  Kirche. 

Der  Kanon  des  Neuen  Testamentes  wurde  im  Laufe  dieser  Pe- 
riode in  dem  Umfange  festgestellt,  wie  wir  ihn  haben.  Bei  Euseb  3,  25  fin- 
den sich  noch  gewisse  Schwankungen.  Als  allgemein  anerkannte  {o^oXo- 
yoviispa)  kanonische  Schriften  führt  er  an  die  vier  Evangelien,  die  Apostel- 
geschichte, die  Briefe  Pauli  (mit  Einschluss  des  Briefes  an  die  Hebräer),  den 
ersten  Brief  Johannis,  den  ersten  Brief  Petri,  und  wenn  man  will  {eiye  (paveiti) 
die  Apokalypse.  —  Eine  zweite  Classe  bezeichnet  er  als  apulerofieya,  doch 
bei  Vielen  als  authentisch   geltend   {yvcoQifia  TioUoig);   es  sind  der  zweite 


Die  Lehre  von  der  heiligen  Schrift.  331 

und  dritte  Brief  Johannis,  der  Brief  Jacobi,  der  Brief  Judä,  der  zweite  Brief 
Petri.  —  Eine  dritte  Classe  bezeichnet  er  als  falsch  (yod^a),  —  die  Acta 
Pauli,  Hermas  Pastor,  die  Apokalypse  des  Petrus,  die  Epistel  des  Barnabas, 
die  apostolischen  Constitutionen.  —  Eine  vierte  Classe  umfasst  eigentlich  hä- 
retische Schriften,  die  als  ungereimt  {aiona)  und  gottlos  (övgceßrj)  zu  ver- 
werfen sind.  Im  Laufe  des  vierten  Jahrhunderts  wurden  alle  Schriften  der 
zweiten  Classe  zu  den  kanonischen  gerechnet,  indem  man  die  ursprünghche 
Annahme  derselben  durch  einige  Gemeinden  als  zuverlässige  Tradition  betrach- 
tete; denn  die  Beschaffenheit  dieser  Briete  machte  es  wahrscheinlich,  dass 
sie  lange  auf  einen  kleinen  Kreis  von  Gemeinden  beschränkt  blieben.  Auch 
die  Zweifel  über  die  Apokalypse  des  Johannes  verschwanden;  denn  sie  hatte 
für  sich  die  mehrsten  und  stärksten  Zeugen.  In  der  griechischen  Kirche 
bestanden  aber  jene  Zweifel  bis  ins  sechste  Jahrhundert,  —  eine  Nachwirkung 
der  durch  Origenes  und  seine  Schule  aufgeworfenen  Bedenken  ^). 

So  sehr  die  Kirchenlehrer  an  der  Inspiration  der  heiligen  Schrift 
festhielten,  so  dachten  sie  sich  dieselbe  doch  nicht  als  mechanische.  Chry- 
sostomus  schliesst  die  Ekstase  von  der  Begeisterung  der  heiligen  Schrift- 
steller aus,  w^obei  also  die  alte  Mantik  und  Alles,  w^as  an  Montanismus  erinnerte, 
gründlich  beseitigt  war.  So  gross  seine  Ehrfurcht  vor  der  heiligen  Schrift 
ist,  so  sagt  er  doch  bei  Anlass  von  Apostelgesch.  26,  6,  Paulus  mische  hier 
von  dem  Eigenen  ein,  indem  er  nicht  überall  des  Beistandes  der  Gnade  ge- 
niesse.  Er  gibt  Differenzen  in  den  evangelischen  Erzählungen  zu.  Hiero- 
uymus  macht  öfter  aufmerksam  auf  Verschiedenheiten  der  Schreibart  der 
heiligen  Schriftsteller;  so  findet  er  den  Styl  des  Jesaias  weit  feiner  und  ge- 
bildeter, als  den  des  Jeremias.  Zu  Grunde  liegt  die  Unterscheidung  des 
Göttüchen  und  Menschlichen  in  der  Schrift,  wobei  die  Verbalinspiration  nicht 
bestehen  konnte  ^). 

Dabei  wiu'de  den  Laien  das  Lesen  der  heiligen  Schrift  von  den  Kir- 
chenlehrern dringend  und  oft  empfohlen.  Pamphilus,  der  uns  bekannte 
Verehrer  des  Origenes,  hatte  immer  eine  Menge  Exemplare  der  Bücher  der 
heiligen  Schrift,  die  er  an  solche  verschenkte,  die  ein  Verlangen  darnach  be- 
zeugten. Hieronymus  will,  dass  Gaudentius  seine  Tochter  die  Psalmen  aus- 
wendig lernen,  darauf  die  Evangelien,  Episteln  und  Propheten  lesen  lasse. 
Er  empfiehlt  der  Demetrias,  gewisse  Tagesstunden  dem  Lesen  der  heiligen 
Schrift  zu  widmen.  Die  Kirchenlehrer  gingen  von  der  Voraussetzung  aus, 
dass  die  Schrift  unerachtet  der  unergründhchen  Tiefe  ihres  Inhaltes  sich 
gar  wohl  zum  Volksbuch  eigne.  August  in  hebt  hervor,  dass  die  Schrift 
den  grössten  Geistern  hinlänglichen  Stoff  zum  Denken  gebe  und  zugleich  den 
Kindern  die  ihnen  angemessene  Nahrung  darreiche.  Chrysostomus  ist 
unerschöpflich  in  Empfehlung  des  Bibellesens.  Aus  seineu  Ermahnungen 
ersehen  wir,  dass  der  erste  Antrieb  dazu,  dieses  Lesen  dem  Geistlichen  zu 
überlassen,  von  den  Laien  ausging.  Viele  in  Antiochien  sagten,  das  sei  gut 
für  die  von  der  Welt  zurückgezogenen  Mönche.    Chrysostomus  (3.  Homilie 


1)  S.  Kirchhofer,  Quellensammlung  zur  Geschichte  des  neutestamentlichen  Ka- 
nons bis  aiif  Hieronymus  1840. 

2)  S.  über  diesen  Gegenstand  Tholuk  in  J.  MüUer's  deutscher  Zeitschrift  1850. 


332  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Über  die  Geschichte  des  Lazarus)  führt  ihnen  zu  Gemüthe,  dass  solche,  die 
mitten  in  den  Sorgen  dieser  Welt  leben,  der  Stärkung  durch  die  Schrift  ge- 
rade am  meisten  bedürfen.  Er  lässt  auch  die  Entschuldigung  nicht  gelten, 
dass  die  Schrift  so  schwer  zu  verstehen  sei;  diesen  Einwurf  nennt  er  einen 
Vorwand  zur  Trägheit.  Er  denkt  nicht  daran,  wie  es  im  Mittelalter  Ge- 
brauch wurde,  aus  dem  Bibellesen  die  Entstehung  der  Ketzereien  abzuleiten : 
vielmehr,  sagt  er,  sind  die  Ketzereien  dadurch  entstanden, 
dass  man  das  Bibellesen  vernachlässigte  i). 

Was  das  Verhältniss  der  Schrift  und  der  Tradition  zu  ein- 
ander betrifft,  so  ererbte  sich  aus  der  ersten  Periode  die  Ansicht,  dass  der 
dogmatische  Inhalt  der  heiligen  Schrift  und  der  Tradition  derselbe  sei,  dass 
also  diese  jene  nicht  materiell  ergänze,  sondern  dass  beide  einander  zu  ge- 
genseitiger Verstärkung  dienen.  Cyrill  von  Jerusalem  (4.  Kat.)  ver- 
bietet, das  mindeste  vorzutragen  ohne  Beweisstellen  aus  der  Schrift.  Atha- 
nasius  liielt  die  heiligen  Schriften  für  genügend  (avtaQxsig),  um  daraus  die 
Verkündigung  der  Wahrheit  zu  schöpfen  (Or.  adv.  gentes).  Ebenso  Augu- 
st in  de  doctrina  Christ.  2,  9.  Eine  Abweichung  davon  ist  es,  wenn  Basi- 
lius  (de  spiritu  s.  c.  27)  aus  der  Tradition  die  Lehre  ableitet,  dass  der 
heilige  Geist  gleich  dem  Vater  und  dem  Sohne  anzubeten  sei.  Sehr  bedenk- 
lich war  auch  die  Art,  wie  Gregor  von  Nazianz  aus  einer  Fortent- 
wickelung der  Offenbarung  das  Dogma  von  der  Gottheit  des  heiligen  Geistes 
ableitete  2).  Es  wurde  die  Ansicht  heiTschend,  dass  die  in  der  heiligen  Schrift 
nur  undeutlich  enthalteneu  Lehren  durch  die  Tradition  ihr  Licht  empfin- 
gen, dass  die  Schrift  mit  Hülfe  der  dogmatischen  Tradition  erklärt  werden 
müsse  3). 

So  weit  ist  Augustin  nicht  gegangen.  Er  lehrt  nirgends,  dass  die 
Kirche  deswegen  der  Schrift  zu  Hülfe  kommen  müsse,  weil  sie  unklar  sei. 
Aber  die  göttliche  Autorität  der  Schrift  gründet  er  auf  das  Ansehen  der 
kirchlichen  Tradition.  Gegenüber  den  Manichäern,  welche  behaupteten,  die 
heilige  Schrift,  wie  sie  die  katholische  Kirche  darbiete,  enthalte  nicht  die  un- 
verfälschte Lehre  Christi,  sie  allein  seien  im  Besitz  der  wahrhaften  heiligen 
Schrift,  entstand  für  ihn  die  Frage:    wo  finde   ich  die  ächte   heilige  Schrift? 


1)  D.  Arnauld,  der  Jansenist,  hat  im  8.  Bande  seiner  Werke  eine  grosse  Menge 
solcher  Zeugnisse  zusammengestellt.  Aus  ihnen  hat  geschöpft  Leander  van  Ess,  Aus- 
züge aus  den  heiligen  Vätern  und  anderen  Lehrern  der  katholischen  Kirche  über  das  noth- 
wendige  und  nützliche  Bibellesen  1808.  1816.  Derselbe  von  der  Vortreflflichkeit  der  Bibel 
u.  s.  w.  1814.  Als  Delbrück  in  der  Schrift  über  Melanthon  1825  die  Semler-Lessing- 
sche  Hypothese  wieder  aufgefrischt  hatte,  dass  die  alte  Kirche  keinen  allgemeinen  Ge- 
brauch der  Schrift  zugelassen,  da  traten  gegen  ihn  Sack,  Lücke  und  Nitzsch  in  drei 
theologischen  Sendschreiben  1826  auf.  —  Schon  im  18.  Jahrhundert  hatte  C.  W.  Fr. 
Walch  gegen  Semler  seine  kritischen  Untersuchungen  vom  Gebrauch  der  heiligen  Schrif- 
ten unter  den  alten  Christen  in  den  ersten  drei  Jahrhunderten  geschrieben  1779. 

2)  Ullmann  a.  a.  0.  S.  305. 

3)  Die  erste  Synode  von  Sirmium  sprach  sogar  ein  Anathema  aus  über  diejenigen, 
welche  die  Worte:  „lasset  uns  Menschen  machen"  (Genesis  1,  26)  nicht  als  Anrede  ded 
Vaters  an  den  Sohn  verstanden. 


Die  Lehre  von  der  Tradition,  333 

Diese  Frage  beantwortete  er  aus  der  Autorität,  die  der  katholischen  Kürche 
zukommt,  als  in  welcher  Alles,  ihr  Sieg  über  das  Heidenthum,  ihre  wunder- 
bare Erhaltung  mitten  in  allen  Verfolgungen,  ihre  Ausbreitung  ihren  Ur- 
sprung von  Christo  beweise.  So  will  er  also  von  der  Autorität  der  Kirche 
die  heihge  Schrift  empfangen.  Dabei  nimmt  er  zu  Hülfe,  was  er  vom  sünd- 
lichen Elende  des  Menschen  gelehrt  hat.  So  gelangt  er  zu  dem  Satze,  dass 
die  menschliche  Seele,  in  Sünde  undirrthum  verstrickt,  nicht  ohne  die  Herr- 
schaft einer  gewichtigen  Autorität  die  christliche  Religion  erfassen  kön^e  i). 
Daher  der  so  oft  angeführte  und  benützte  Satz :  ego  vero  Evangelio  non 
crederem,  nisi  me  catholicae  ecclesiae  moveret  auctoritas"^). 
Der  Glaube  an  die  christliche  Wahrheit  ist  mithin  zunächst  Autoritätsglaube, 
d.  h.  der  Glaube  ist  nichts  Anderes,  als  einen  äusserlich  uns  gegebenen  In- 
halt mit  Vertrauen  auf  die  gebende  Autorität  durch  den  Assensus  des  Wil- 
lens in  den  Intellect  aufnehmen.  Obwohl  nun  Augustin,  mit  Rücksicht  auf 
seine  eigenen  Lebenserfahrungen,  da  ihn  die  Manichäer  durch  das  Verspre- 
chen rein  rationaler  Erkenntniss  angelockt  hatten,  lehrt,  dass  die  rein  ratio- 
nale Erkenntniss  Speise  der  Gesunden  sei,  und  dass  die  Seele,  wenn  sie  ver- 
gisst,  dass  sie  krank  ist,  und  die  Speise  der  Gesunden  gemessen  will,  ver- 
fühlt und  vergiftet  wird,  so  will  er  doch,  dass  wir  vom  Glauben  zum  Wissen 
fortschreiten,  obgleich  wir  diese  höhere  Stufe  hienieden  nicht  erreichen.  Aber 
diese  Stufe  des  Erkennens  setzt  Erfahrung  der  göttlichen  Dinge  voraus.  In- 
dem der  Gläubige  sich  in  die  götthche  Wahrheit  hineinlebt,  wird  er  fähig, 
sie  —  bis  auf  einen  gewissen  Grad  zu  erkennen.  Darauf  bezog  Augustin 
die  Stelle  Jesaia  7,  9  yiisi  credideritis ^  non  intelligetis  (nicht  rich- 
tig übersetzt),  dieselbe  Stelle,  welche  Clemens  Alexandrinus  für  dasselbe  Ver- 
hältniss  von  Glauben  und  Wissen  angeführt  hatte.  In  dieser  Richtung  sich 
fortbewegend  lehrt  er,  dass  zu  Rathe  gezogen  werden  soll  Christus,  der  im 
inneren  Menschen  wohnt,  Gottes  unveränderliche  Kraft  und  ewige  Weisheit  3). 
Durch  solche  und  ähnliche  Sätze  ist  Augustin  Ausgangspunkt  für  die  Mystik 
des  Mittelalters  geworden,  sowie  durch  die  früher  erörterten  Grundsätze  'die 
Stütze  der  katholischen  Hierarchie  und  ihrer  Herrschaft  über  die  Geister. 

Die  Grundsätze  über  die  Autorität  der  Tradition  sind  am  schärfsten 
ausgeprägt  worden  von  Vincent  ins  Lirinensis,  Mönch  und  Priester  im 
Kloster  Lerinum,  f  c.  450,  Semipelagianer,  in  der  Schrift,  die  nach  Genna- 
dius  mit  Verschweigung  des  Namens  des  Verfassers  zuerst  den  Titel  führte: 
Peregrini  adversum  haereticos,  später  genannt  tractatus  Pere- 
grini  pro  catholicae  fidei  antiquitate  et  universitate  adversus 
profanas  omniuni  haereticorum  novitates^  noch  später  Commoni- 
torium  adv.  et  cet.  V  im  Jahre  434  verlasst.  Die  Schrift  ist  zu  begreifen  aus 
der  theologischen  Bewegung  im  südlichen  Gallien.  Vincentius  geht  ctirauf 
aus,  den  Semipelagiaiiismus  gegen  den  Vorwurf  der  Neuerung  zu  verthei- 
ditren  und  hinf^e^en  den  augustinischen  Lehrbegritf,  aber  mit  gänzlichem  Still- 


1)  de  utilitate  credendi  c.  9.  non  sine  gravi  quodam  auctoritatis  imperio. 

2)  contra  epistolam  Manichaci,  quam  vocant  Fundamenti  vom  Jahre  397. 

3)  de  magistro  c    33.     Ritter,  Geschichte  der  Philosophie  6.  Bd.  S.  241. 

4)  Commonitorium  nennt  es  der  Verfasser  selbst  im  Texte  zu  Anfange. 


334  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

schweigen  über  den  hochverehi'ten  Lehrer,  als  eine  Neuerung  hinzustellen, 
wobei  er  c.  37  eine  Secte  von  Prädestinatianern  vorauszusetzen  scheint.  Aber 
die  Schrift  hat  eine  allgemeinere  Tendenz.  Sie  gilt  als  Normalschrift  des  äch- 
ten Katholicismus,  obwohl  sie  in  einem  wesentlichen  Punkte  es  durchaus 
nicht  ist.  Zweck  des  Vincentius  ist,  feste  und  allgemeine  Kegeln  aufzu- 
stellen, wodurch  man  den  wahren,  katholischen  Glauben  von  häretischen  Leh- 
ren unterscheiden  könne.  ;,Es  gibt,  sagt  der  Verfasser,  zwei  Mittel,  wodurch 
man  den  katholischen  Glauben  kennen  lerne:  zuerst  die  heilige  Schrift,  dann 
die  Ueberlieferung  (traditio)  der  katholischen  Kii'che."  Vincentius  erkennt 
zwar  an,  dass  der  Kanon  der  Schrift  vollkommen  sei  und  sich  selbst  in  jeder 
Hinsicht  genüge.  ;,  Warum  muss  denn,  fragt  er,  das  Ansehen  des  kirchlichen 
Verständnisses  (ecclesiastica  intelligentia)  hinzukommen?  —  Weil 
nicht  alle  die  Schrift  in  demselben  Sinne  verstehen,  sondern  der  eine  sie  so, 
der  andere  sie  anders  auslegt,  woraus  grosse  Irrthümer  entstehen.  Darum 
müssen  wir  festhalten:  was  überall,  was  zu  jeder  Zeit,  was  von  Allen 
ist  geglaubt  worden  (quod  ubique,  quod  semper,  quod  ab  omnibus 
credit  um  est),  das  ist  eben  das  wahrhaft  Katholische.  Zu  diesem  Behufe 
müssen  wir  uns  richten  nach  der  Allgemeinheit  (universitas),  nach 
dem  Alterthum  (antiquitas),  nach  der  Uebereinstimmung  (con- 
sensio).  Nach  der  Allgemeinheit  richten  wir  uns,  wenn  wir  nur  denjenigen 
Glauben  für  wahr  halten,  den  die  über  die  ganze  Welt  verbreitete  Kiixhe 
bekennt;  nach  dem  Alterthum,  wenn  wir  von  den  Glaubenssätzen  der  Vor- 
fahren nicht  abweichen;  nach  der  Uebereinstimmung,  wenn  wir  im  Alter- 
thume  selbst  uns  an  die  Sätze  aller  oder  beinahe  aller  Lehrer  uns  halten. 
Was  soll  also  der  katholische  Christ  thun,  wenn  in  der  Gegenwart  ein  Theil 
der  Kirche  vom  gemeinsamen  Glauben  abfällt  ?  Was  anders,  als  dass  er  dem 
verpesteten  und  verderbten  Gliede  die  Gesundheit  des  ganzen  Körpers  vor- 
zieht? Was  soll  er  aber  thun,  wenn  die  Ansteckung  eines  neuen  IiTthums 
nicht  blos  einen  Theil  der  Kirche,  sondern  die  ganze  Kii'che  zu  beflecken 
droht?  Dann  soll  er  sich  an  das  Alterthum  halten,  das  durch  keine  List 
der  Neuerung  verführt  werden  kann.  Was  aber  dann,  wenn  im  Alterthum 
selbst  Einige  im  Irrthum  sich  befinden?  Dann  soll  er  wieder  auf  die  älteren 
Decrete  der  Kirche  zurückgehen.  Was  aber  dann,  wenn  so  etwas  auftaucht, 
was  von  den  älteren  Synoden  gar  nicht  behandelt  worden  ist?  Dann  soll  er 
(der  kathoUsche  Christ)  die  Meinungen  der  älteren  Lehrer  vergleichen,  zu 
Rathe  ziehen  und  befragen,  besonders  derjenigen,  die  als  vertrauenswürdige 
Lehrer  (mag is tri  probabiles)  ^)  gehört  zu  werden  verdienen.  Und  was 
nicht  blos  einer  oder  zwei,  sondern  was  alle  einstimmig  und  beständig  gelehrt 
haben,  das  soll  er  zweifellos  festhalten.'' 

Auf  diesen  zuletzt  angeführten  P'all  spitzt  sich  die  ganze  Theorie  zu. 
Sie  mündet  aus  in  das  Bestreben,  einen  Schutz  zu  suchen  gegen  die  diver- 
girenden  Meinungen  der  kirchlichen  Mächte  der  Gegenwart,  seien  es  nun 
Concilien  oder  einzelne  hoch  angesehene,  einflussreiche  Lehrer,  so  dass  durch 


1)  Diess  die  älteste  Form  des  Probabilismus ,  die  ganz  dem  dogmatischen  Gebiete 
angehört.  Völlig  anders  war  der  spätere,  der  sittliche  Probabilismus,  wie  ihn  besonders  die 
Jesuiten  pflegten. 


Tradition  und  Autorität  der  Concilien.  335 

die  Autorität  der  Tradition  die  Autorität  der  Kirche,  wie  sie  in  den  Concilien 
oder  in  hervorragenden  Lehren  der  Gegenwart  sich  darstellt,  in  bestimmte  Gren- 
zen, eingeschlossen  wird.  Aber  was  jenen  Fall  selbst  betrifft,  wobei  der  Recurs 
an  die  magistri  prohahiles  aufgestellt  wird,  welche  Schwierigkeiten  sind 
damit  verbunden!  Dass  einem  Laien  nicht  zugemuthet  werden  kann,  die 
Meinungen  der  Kirchenlehrer  zu  erforschen  und  zu  vergleichen,  liegt  auf  der 
Hand ;  aber  auch  von  den  meisten  Geistlichen  wird  solches  nicht  zu  erwarten 
sein.  So  musste  die  Theorie  des  Vincentius  zuletzt  in  das  doppelte  Resultat 
auslaufen,  dass  der  Einzelne  sein  Urtheil  mehr  und  mehr  den  jeweiligen  Be- 
stimmungen der  Kirche,  wie  sie  ihm  durch  seinen  Geistlichen  oder  Bischof 
vermittelt  wurden,  unterwarf  und  dass  er  sich  nicht  in  der  heihgen  Schrift 
Rath  holte. 

So  sehr  nun  Vincentius  auf  das  Alterthum  zurückgeht,  so  ist  er  doch 
weit  entfernt  davon,  das  Princip  der  absoluten  Stabilität  aufstellen  zu  wollen. 
Er  fordert  durchaus  in  Aubprägung  der  Dogmen  einen  Fortschritt  (profec- 
tus),  der  freilich  keine  Alterirung  des  Glaubens  (permutatio  fidei)  in 
sich  schliessen  darf.  Er  unterscheidet  den  Fortschritt  einer  Sache,  der  darin 
besteht,  dass  sie  in  sich  selbst  erweitert  wird,  von  der  Alterirung,  wodurch 
sie  in  etwas  Anderes  verwandelt  wird.  Treffend  vergleicht  er  den  Fort- 
schritt, um  den  es  sich  hier  handelt,  mit  dem  Wachsthum  des  menschlichen 
Körpers,  wobei  der  äussere  Habitus  verändert  wird,  aber  die  Natur,  die  Per- 
son dieselbe  bleibt.  Er  setzt  hinzu,  wenn  ein  neues  Glied  hinzugefügt  oder 
ein  vorhandenes  abgeschnitten  wird,  so  leidet  darunter  der  ganze  Körper. 
Nach  derselben  Analogie  soll  die  Entwickelung  des  Dogmas  vor  sich  gehen. 
Allerdings  sehr  richtige  Grundsätze;  es  kommt  nur  darauf  an,  wie  sie  in 
der  Anwendung  gehandhabt  werden  ij. 

Fortan  verschmolzen  sieh  die  Aussprüche  der  Synoden,  besonders  der 
allgemeinen,  mit  der  Tradition  und  galten  als  Theile  derselben.  Alle  katho- 
lischen Synoden  wurden  nach  Apostelgesch.  15,  28  als  unter  der  besonderen 
Leitung  des  heiligen  Geistes  stehend  angesehen,  deren  Entscheidungen  mit 
der  entsprechenden  Gesinnung  müssten  aufgenommen  werden.  Das  erste 
Beispiel  einer  Synode,  die  sich  der  Leitung  des  heiligen  Geistes  rühmte,  ist 
das  der  Synode  von  Carthago  252  2).  Die  Synode  von  Ephesus  431,  je  mehr 
sie  sich  bewusst  war,  sehr  bedeutende  Gegner  zu  haben,  behauptete  geradezu. 


1)  Es  liesae  sich  z.  B.  leicht  zeigen,  dass  mit  der  Eucharistie  nicht  sowohl  ein  pro- 
fectus  als  eine  permutatio  erfolgte,  dass  mit  dem  sichtbaren  Opfer  ein  neues  Glied 
dem  Dogma  eingefügt  wurde,  wodurch  die  Eucharistie  eigentlich  verunstaltet,  zu  einem 
prodigiosum  wurde,  wie  Vincentius  sich  ausdrückt.  Dazu  kam,  dass  das  sichtbare 
Opfer  von  Brod  und  Wein  sich  nach  und  nach  in  die  Opferung  des  Leibes  und  Blutes 
Christi  verwandelte.  Was  Dankopfer  war,  wurde  versöhnendes  Opfer.  Was  eine  rheto- 
rische Figur  war  (siehe !  .hier  ist  das  für  euch  geschlachtete  Lamm,  -  täglich  wird  Chri- 
stus für  die  Menschen  geschlachtet  -),  das  wird  zur  dogmatischen  Formel  gestempelt. 
Was  ein  Opfer  war,  dessen  Gott  durchaus  nicht  bedurfte,  um  für  die  Menschen  gnädig 
gestimmt  zu  werden,  das  wird  zur  Bedingung  sine  qua  non  des  Heiles.  Was  ein  blosses 
Gedächtniss  des  Opfers  auf  Golgatha  war,  identifizirt  sich  mit  diesem  Opfer  und  setzt 
sich  an  dessen  Stelle 

2)  Placuit  nobis  s.  spiritu  suggerente  etc. 


336  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

dass  der  Herr  Jesus  Christus  durch  diese  Synode  Nestorius  verdammt  habe. 
Weil  die  ökumenischen  Synoden  als  Repräsentanten  der  ganzen  katholischen 
Kirche  angesehen  wurden,  so  wurde  dadurch  die  Autorität  ihrer  Entschei- 
dungen erhöht,  wie  diess  nicht  blos  Coustantin,  sondern  auch  Basilius  Magnus 
(ep.  114)  von  der  Synode  von  Nicäa  bezeugen.  Isidor  von  Pelusium  nennt 
dieselbe  Synode  von  Gott  inspirirt.  Doch  konnte  diese  Anschauung  in  der 
Zeit,  wo  die  Kirche  in  verschiedene  Parteien  zerrissen  war,  gefährhch  wer- 
,  den ;  daher  man  öfter  die  ökumenischen  Synoden  auf  dieselbe  Linie  mit  dem 
Provinzialsynoden  stellte.  Athanasius,  der  so  oft  in  der  Minorität  war,  warnt 
davor,  auf  die  Zahl  ein  besonderes  Gewicht  zu  legen.  Augustin  suchte  im 
Allgemeinen  seinen  Gegnern  nicht  sowohl  den  ökumenischen  Charakter,  als  die 
Wahrheit  der  Entscheidungen  der  allgemeinen  Concilien  nach  Schrift  und  Tra- 
dition zu  beweisen.  Er  erklärt,  dass  allein  über  die  Entscheidungen  der  hei- 
ligen Schrift  nicht  dürfe  gezweifelt  und  disputirt  werden;  er  gibt  zu,  dass 
die  Provinzialsynoden  vor  der  Autorität  der  allgemeinen  Synoden  zuinick- 
treten  sollen,  dass  selbst  frühere  allgemeine  Synoden  durch  spätere  können 
verbessert  werden  (de  Baptismo  c.  Donatistos  2,  3),  indem,  was  früher  noch 
verschlossen  war,  später  eröffnet  werde.  Er  gibt  ohne  Anstand  zu,  dass  Cy- 
prian  in  der  Frage  von  der  Ketzertaufe  geirrt  habe;  er  entschuldigt  ihn  da- 
mit, dass  zu  dessen  Zeit  die  Kirche  sich  über  jenen  Punkt  noch  nicht  aus- 
gesprochen hatte. 

Lehre  von  Gott. 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  dieses  Gebiet  im  Ganzen  auf  sehr  er- 
freuHche  Weise  angebaut  wurde. 

Was  das  Dasein  Gottes  betrifft,  so  galt  es  zunächst  als  unbestritte- 
nes Axiom;  statt  des  Beweises  für  das  Dasein  Gottes  lehrt  Athanasius, 
dass  nur  eine  reine  Seele  im  Stande  sei,  Gott  zu  schauen  (nach  Matth.  5, 8). 
Ebenso  Gregor  von  Nazianz,  wobei  er  den  Grundsatz  aufstellt:  ^^dieThat 
ist  die  Grundlage  der  Erkenntniss".  (Orat.  20.)  Indessen  ist  die  Erkenntniss 
Gottes  auch  durch  die  Geschöpfe  vermittelt,  und  es  werden  Ansätze  gemacht 
zu  verschiedenen  Beweisen  für  das  Dasein  Gottes.  Gregor  von  Nazianz 
und  Augustin  tragen  den  physiko-theologischen  Beweis  vor,  indem  sie  vom 
Werke  auf  den  Schöpfer  schhessen.  Bei  Diodor  von  Tarsus  finden  wil- 
den kosmologischen  Beweis,  indem  er  von  der  Mannigfaltigkeit  und  Verän- 
derlichkeit der  Geschöpfe  auf  eine  schaffende  Einheit  schhesst.  Augustin  er- 
hebt sich  über  alle  Beweise,  indem  er  zeigt,  dass  die  Idee  Gottes  allem 
menschlichen  Denken  zu  Grunde  liegt  als  die  Idee  der  absoluten  Wahrheit; 
insofern  hat  er  den  ontologischen  Beweis  präformirt.  Die  Einheit  Gottes 
wurde  mittelst  des  Begriffes  des  vollkommensten  Wesens  nachgewiesen. 
Was  die  Natur  und  das  Wesen  Gottes  betrilft,  so  wurde  die  Unbegreif- 
hchkeit  desselben  hervorgehoben  auch  im  Gegensatz  gegen  das  Extrem  der 
Arianer.  Die  Kii'chenlehrer  erhoben  sich  zu  solcher  Höhe  der  Anschauung, 
dass  sie  sogar  Bedenken  trugen,  Gott  eine  ovaia  zu  nennen,  da  er  vncQ- 
ovCLoq,  über  alle  Wesen  erhaben  sei.  Augustin  geht  davon  aus,  dass  Wesen 
und  Natur  Gottes  alle  unsere  Sprachmittel  und  Denkveniiögeu  übersteigen; 
daher    der  Satz,    dass  Gott   besser   gewusst    werde   im  Nichtwissen    als  im 


Lehre  von  der  Schöpfung.    Christologie.  337 

Wissen;  doch  sieht  er  ein,  dass  dieses  Nichtwissen  ein  Wissen  voraussetzt, 
ohne  welches  es  nicht  als  Nichtwissen  gewusst  würde.  Daran  reihen  sich 
seine  sehr  treffenden  Bestimmungen  über  Gottes  Wesen,  über  die  göttlichen 
Eigenschaften,  wobei  er  bemüht  ist,  die  Einfachheit  Gottes  nicht  zu  gefähr- 
den. —  Anthropomorphische  Vorstellungen  haben  wir  bei  Mönchen  gefunden, 
denen  aber  andere  entgegenstanden.  Ebenso  thaten  sich  als  Anthropo- 
morphisten  und  Quartodecimaner  hervor  Audius  und  seine  Anhänger,  die 
Audianer  in  Mesopotamien  im  Anfang  c.  340  i). 

Die  Lehre  von  der  Schöpfung  wurde  von  einigen  Auswüchsen 
gereinigt.  Die  Idee  des  Origenes  aber  von  zahllosen  und  anfangslosen  Wel- 
tenreihen fand  auch  in  dieser  Periode  Vertreter,  zumal  an  Athanasius. 
Dass  die  Welt  nicht  durch  Emanation  entstanden,  lehrte  Basilius  im 
Hexaemeron.  Die  mosaische  Schöpfungsgeschichte  verstanden  Viele  buchstäb- 
lich. Augustin  dagegen  wollte  nicht  bestimmen,  von  welcher  Art  jene  Tage, 
wovon  Moses  redet,  gewesen  seien.  Man  führte  auch  mehrfach  aus,  dass 
die  Welt  nicht  um  Gottes  willen,  noch  um  ihrer  selbst  willen,  sondern  um 
der  Menschen  willen  von  Gott  erschaffen  worden.  Die  Güte  Gottes  galt  als 
Grund  der  Schöpfung.  Bei  diesem  Satze  langt  auch  zuletzt  Augustin  an: 
der  gute  Gott  wollte  Gutes  schaffen.  Derselbe  lehrt  ganz  richtig,  dass  die 
Schöpfung  nicht  in  der  Zeit  vollbracht  wurde,  sondern  mit  der  Welt  wurde 
die  Zeit  geschaffen;  denn  ausser  der  Welt  gibt  es  keine  Zeit,  sowie  auch 
keinen  Raum.  Doch  ist  Alles,  was  Gott  vollbringt,  in  seinem  ewigen  Wesen 
ohne  alle  Zeit;  die  Welt  war  ewig,  der  Möglichkeit  nach,  d.  h.  im  Princip. 

Augustin  machte  aufmerksam  auf  die  Zusammengehörigkeit  von  Schöpf- 
ung und  Erhaltung.  Die  Macht  des  Schöpfers  und  die  Kraft  des  Allmäch- 
tigen und  Allerhalters  ist  die  Kraft,  wodurch  jedes  Geschaffene  subsistirt. 
Wenn  diese  Kraft  von  den  geschaffenen  Dingen  wiche,  so  würde  ihre  Gestalt 
zerfallen,  ihre  Natur  verschwinden.  Die  Welt  kann  keinen  Augenblick  ohne 
Gott  bestehen.  Doch  meidet  Augustin  sorgfältig  alle  Bestimmungen,  die  an 
Pantheismus  anstreifen;  Alles  ist  in  Gott,  aber  nicht  so,  dass  Gott  der  Ort 
ist,  sondern  auf  rein  dynamische  Weise.  Obwohl  Alles  ohne  Gott  nicht 
wäre,  so  ist  es  doch  nicht  Gott  selbst.  Die  Lehre  von  der  Vorsehung  wurde 
von  mehreren  Kirchenlehrern  sorgfältig  ausgebildet.  Chrysostomus, 
Theodor  et  und  Salvian  verfassten  eigene  Schriften  darüber.  In  acht 
christlichem  Sinne  wurde  gezeigt,  dass  die  Vorsehung  sich  auf  das  Einzelnste 
erstrecke.    / 

Die  Christologie. 

Nachdem  die  Lehre  von  Christi  Person  in  Verbindung  mit  den  Strei- 
tigkeiten darüber  weitläufig  erörtert  worden,  erübrigt  noch  die  Lehre  von 
Christi  Werk,  von  der  Erlösung  und  Versöhnung  2). 

Diese  Lehi'e  wurde  nicht  mit  der  Sorgfalt  bearbeitet,  die  sie 
verdiente.     Im  Ganzen   hielt  man   an   der   durch   Origenes    eingeführten 


11  S.  Neander,  Kirchengeschichte  2,  4,  1465  u.  if. 
2)  S.  Baur,  die  christliche  Lehre  von  der  Versöhnung  n.  s.  w.  1838. 
Herzog,  Kirchengesohichte  I.  22 


338  Zweite  Periode  des  alten  KathoMctsmtis. 

Theorie  von  einer  Ueberlistung  des  Teufels,  wobei  versucht  wurde,  die  Er- 
lösung und  Versöhnung  noch  auf  andere  Weise  zu  begründen.  Zuerst  kommt 
in  Betracht  der  auf  den  Teufel  bezogene  Begriff  der  Gerechtigkeit ,  so  dass 
er  die  göttliche  Gerechtigkeit  repräsentirt.  Der  Teufel  hatte  nämlich  ein 
Recht  auf  die  Menschen,  da  sie  freiwillig  sich  in  den  Gehorsam  unter  ihn 
begeben  hatten,  was  am  stärksten  von  Augustin  betont  wurde.  Alle  Kirchen- 
lehrer waren  darüber  einig,  dass  die  Menschen  dem  Teufel  nicht  auf  dem 
Wege  der  Gewalt  entrissen  werden  durften.  Der  Teufel  konnte  aber  seine 
Herrschaft  nur  so  lange  behaupten,  bis  er  einen  Gerechten  tödtete,  an  dem 
er  nichts  des  Todes  Würdiges  fand;  dieses  dadurch  begangene  Unrecht 
machte  ihn  seines  Rechtes  verlustig  i).  Damit  hängt  zusammen  der  dem 
Teufel  gespielte  Betrug  (anatt],  fram),  wie  er  zwar  nicht  von  Augustin, 
aber  von  Gregor  von  Nyssa  in  seinem  Xoyoq  xatrjxritixog  fisyag  dargestellt 
wird:  Jesus  bot  sich  dem  Teufel  als  Lösegeld  an  für  die  Befreiung  der 
Menschen  aus  des  Teufels  Gewalt.  Dieser  glaubte  an  Jesu  einen  höchst, 
vortheilhaften  Tausch  zu  machen.  Denn  durch  die  Menschwerdung  warer 
die  göttlichen  Eigenschaften  Jesu  verhüllt,  ,, damit  nicht  der  Anblick  dei 
nackten  Gottheit  den  Teufel  zurückschrecke."  Das  Fleisch  Jesu  diente  als 
Lockspeise,  damit,  nach  der  Weise  lüsterner  Fische,  mit  der  Lockspeise  des 
Fleisches  auch  die  Angel  der  Gottheit  verschlungen  würde.  So  wurde  der 
Teufel  auf  dieselbe  Weise  betrogen,  wie  er  einst  die  Menschen  durch  die 
Lockspeise  der  Lust  betrogen  hatte.  Diese  Theorie,  bei  welcher  die  Mensch- 
heit zu  einem  Mittel  des  Betruges  herabgewürdigt  wird,  hebt  sich  selbst 
auf  durch  inneren  Widerspruch.  —  Das  Bedenkliche  und  Anstössige  dieser 
Theorie  hat  Gregor  von  Nazianz  in  hohem  Grade  erkannt  und  ausgesprochen ; 
und  doch  kann  er  sich  von  der  herrschenden  Vorstellung  nicht  losmachen, 
gegen  die  er  so  ernstlich  protestiit  2).  Den  Uebergang  zu  einer  Lehrform, 
welche  dem  biblischen  Begriff  von  Erlösung  und  Versöhnung  gerecht  wird, 
macht  Athanasius  in  seiner  Schrift  über  die  Menschwerdung  des  Logos. 
Athanasius  selbst  wird  ergänzt  durch  Cyrill  von  Jerusalem  (Katechese 
13),  insofern  er  die  Idee  des  stellvertretenden  Leidens  und  des  unendlichen 
Werthes  desselben  hinzuninmit.  Was  Augustin  betrifft,  so  finden  sich  bei 
ihm  allerdings  Anklänge  an  die  Vorstellung  von  einer  Versöhnung  Gottes 
durch  das  Opfer  am  Kreuz,  welches  mit  den  alttestamentlichen  Opfern  ver- 
glichen wird  und  uns  von  Schuld  und  Strafe  befreit  hat.  Da  aber  Gott 
durch  die  Sünde  nicht  verletzt  wird,  noch  verletzt  werden  kann,  so  kann 
Christus  Gott  nicht  eigentlich  versöhnt  haben;  sondern  er  hat,  indem  er 
sein  Blut  als  Lösegeld  dem  Teufel  überlieferte,  also  innerhalb  der  Offen- 
barungssphäre ein  Werk  gethan,  wodurch  die  Offenbarung  der  Gerechtigkeit 
in  der  Strafe  ohne  Ungerechtigkeit  aufgehoben  werden  konnte,  indess  in 
Gott  selbst  keine  Veränderung  und  Umstimmung  vorgeht.  Das  Opfer  wird 
Gott  dargebracht ,  er  nimmt  es  an ,  insofern  er  will,  dass  die  Menschen  nicht 
ohne  Sühne  der  Gewalt  des  Teufels  entrissen  werden.    Gott  nimmt  das  Opfer 


1)  So  Augustin:   justissime  dimittere  cogitur  credentes  in  eum,    quem  injustissime 
occidit. 

2)  Ulhnann  S.  455. 


Eschatologie.  339 

an,  insofern  als  er  in  der  Welt  sich  als  Gerechter  offenbaren  will.  Der 
Ausdi'uck,  dass  Gott  das  Opfer  annimmt,  besagt  nur  soviel,  dass  durch 
Darbringung  desselben  dem  göttlichen  Offenbar ungs willen  Genüge  ofeschehe. 
Daher  Augustin  viel  lieber  sagt:  wii-  werden  mit  Gott  versöhnt,  als:  Gott 
wird  mit  uns  versöhnt  ^). 

Die  Eschatologie. 

Der  Chiliasmus,  der  sich  in  sehr  fleischlichen  Vorstellungen  aus- 
geprägt hatte,  verschwand  in  dieser  Periode  besonders  durch  das  Ansehen 
Augustin's  (de  civitate  Dei  20,  7.  9).  Es  wurde  Grundsatz,  dass  die  Kirche 
das  Reich  Gottes  auf  Erden  sei.  Der  Chihasmus  gehörte  seinem  Wesen 
nach  der  im  Innersten  aufgeregten  Zeit  der  Verfolgungen  an.  Als  diese 
aufhörten,  als  mit  der  christlich  gewordenen  Staatsgewalt  der  natürliche 
Lauf  der  Dinge  das ,  was  man  vom  Chiliasmus  erwartete ,  eiuigermassen  zur 
Wahrheit  machte,  da  war  dem  Chiliasmus  der  Lebensnerv  abgeschnitten. 

Was  die  Auferstehung  betrifft,  so  wurde  mit  dem  Chiliasmus  auch 
die  Vorstellung  einer  doppelten  Auferstehung  aufgegeben.  In  der  Lehre 
selbst  treten  die  früheren  beiden  Gegensätze  einer  geistigen  und  materiellen 
Auffassung  hervor,  jene  bei  den  Schülern  des  Origenes,  auch  bei  Chrysosto- 
mus  und,  wie  oben  angeführt,  bei  Synesius,  diese,  die  materielle  Auffassung 
bei  Epiphanius,  Theophilus  von  Alexandrien  und  besonders  bei  Hieronymus, 
der  seine  Ansicht  auf  die  falsch  übersetzte  Stelle  Hiob  19 ,  26  gründete  ^). 

Demnach  nimmt  er  eine  Wiederbelebung  der  menschlichen  Körper  bis 
auf  die  Haare  und  Zähne  an,  er  meint  sogar,  die  Auferstandenen  w^erden 
ventrem  und  genitalia  haben,  und  doch  werden  sie  der  Speisen  und  der 
Frauen  entbehren  können.  Dass  wir  Zähne  haben  werden,  schhesst  er  aus 
dem  Zähneknirschen  der  Verdammten,  das  Wiedererhalten  der  Haare  aus 
dem  Spruche:  auch  die  Haare  eures  Hauptes  sind  alle  gezählt.  Alles  aber 
gründet  er  zuletzt  auf  die  Identität  des  Leibes  der  Auferstandenen  mit  dem 
Leibe  Christi.  Augustin  hatte  etwas  mehr  geläuterte  Vorstellungen  (de 
fide  et  symbolo  c.  20.  Enchiridion  c.  84  —  92,  de  civitate  Dei  22,  11  —  21). 
Er  scheidet  sorgfältig  Fleisch  und  Blut  aus,  als  welche  das  Reich  Gottes 
nicht  ererben  können  nach  1  Kor.  15,  50,  und  hält  mit  Paulus  den  Begriff 
des  geistlichen  Leibes  fest.  Diese  Ansicht  retractirte  er  später  in  den  Re- 
tractationen  c.  17,  insofern  er  in  gewissem  Sinne  in  den  Verklärten  Fleisch 
zugibt,  wie  bei  Christus  nach  der  Auferstehung  (Lukas  24,  39).  Und  so 
bekommen   seine  Vorstellungen   doch   einen   stark   sinnlichen  Beigeschmack. 


1)  Dorner  a.  a.  0.  S.  171  ff.  , 

2)  Vulgata:  scio  enim,  qnod  redemtor  mens  vivit  (unter  dem  redemtor,  P^5!^ 
ist  nicht  Jesus,  sondern  Gott  zu  verstehen),  et  in  novissimo  die  de  terra  resurrecturus 
sum  (ganz  falsch;  der  iJS!^  wird  auftreten  auf  dem  Kampfplatz)  et  sursum  circumdabor 
pelle  mea  (wieder  falsch);  es  ist  hier  die  Hoffnung  eines  Schauens  Gottes  nach  diesem 
Lehen  ausgesprochen,  so  dass  anstatt  circumdabor  came  mea  zu  übersetzen  ist:  ledig 
meines  Fleisches,  ohne  mein  Fleisch.  S.  adv.  errores  Joa.  Hieros.  op.  II.  p.  118  sq.  Diese 
falsche  Uebersetzung  ist  in  die  lutherische  Bibel  und  in  Osterlieder  übergegangen. 

22* 


340  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Dahin  gehört  auch  die  Vergleichiing  mit  einer  zerbröckelten  Statue,  die 
wieder  zusammengesetzt  wird,  wobei  es  gleichgültig  ist,  ob  der  Theil,  der 
ursprünghch  das  eine  Glied  gebildet,  auf  ein  anderes  Glied  verwendet  wird.. 
So  sei  es  gleichgültig,  ob  die  Haare  der  Auferstandenen  wieder  zu  den  Haa- 
ren kommen  u.  s.  w. 

Was  das  Fegefeuer  betrifft,  so  ist  keine  Kede  davon,  dass  die  Vor- 
stellungen darüber  sich  schon  zum  Dogma  ausgebildet  hätten  und  eine  die 
Gewissen  beherrschende  Macht  in  der  Weise,  wie  es  zur  Zeit  Gregor  I. 
geschah,  geworden  wären.  Die  Vorstellung  vom  reinigenden  Feuer,  nvq 
xa&aqcnov,  bei  dem  Weltbrande,  von  Origenes  auf  Grund  der  Stelle  1  Kor. 
3, 12  ausgesprochen,  eignete  sich  auch  Gregor  von  Nazianz  (oratio  39.  UUmann 
S.  504)  an,  doch  trägt  er  sie  in  problematischem  Sinne  vor:  ^vielleicht  wei'- 
den  erst  jenseits  manche  mit  Feuer  getauft ,  welches  die  Materie  verzehi't 
wie  Heu  und  allen  Leichtsinn  des  Lasters  hin  wegnimmt.  Augustin  hat  auch 
die  Ansicht  vom  reinigenden  Weltbrande  nach  2  Petri  3,  7,  welchen  aber 
die  Gerechten  nicht  zu  fürchten  haben,  de  civitate  Dei  20,  18.  Näher  spricht 
er  sich  über  das  reinigende  Feuer  (ignis  purgatoriiis)  aus,  indem  er 
die  Stelle  1  Kor.  3,  12  darauf  bezieht  im  Enchiridion  c.  88.  89  und  de  civitate 
Dei  21,  18,  welche  Stelle,  von  ihrem  richtigen  Sinne  entfremdet,  fortan  ein 
locus  classiciis  für  die  Lehre  vom  Fegefeuer  wurde.  Augustin  hält  sich  näm- 
lich nicht  an  den  ursprünghchen  Sinn  dieser  Stelle,  sofern  sie  sich  auf  diu 
Lehrweise  des  Evangehums  bezieht;  er  verallgemeinert  die  Sache  und  be- 
zieht sie  auf  das  christUche  Verhalten  überhaupt.  Er  gibt  zu,  dass  nich; 
vom  ewigen,  den  Verworfenen  bereiteten  Feuer  die  Rede  sein  könne  (Matth. 
25,  41).  Er  versteht  unter  dem  Feuer,  wovon  der  Apostel  spricht,  zunächst, 
die  Versuchung  der  Trübsal  (tentatio  trihulationis)  hienieden  i).  Vor 
da  einen  Schritt  weiter  gehend,  doch  ohne  etwas  Gewisses  aufstellen  zu 
wollen,  bemerkt  er,  es  sei  glaublich,  dass  so  etwas  auch  nach  diesem  Leben 
geschehe  2).  Doch  sind  von  dieser  Reinigung  die  groben  Sünder  ausgeschlossen, 
von  denen  es  heisst,  dass  sie  das  Reich  Gottes  nicht  ererben  werden.  Beide 
Beziehungen,  die  auf  ^ie  trihulatio  in  diesem  Leben  und  diejenige  im  ande- 
ren Leben  zusammenfassend,  lehrt  er:  „die  aber  mit  kleineren  Sünden  be- 
haftet und  in  Loskaufung  derselben  nachlässig  sind,  die  werden  zuvor  hie- 
nieden  durch  die  bittersten  Trübsale  ausgekocht  oder  befreit  mittelst  Almo- 
sen u.  s.  w.  oder  sie  werden  durch  jenes  reinigende  Feuer  lange  Zeit  hin- 
durch gepeinigt.^  —  Unter  den  kleineren  Sünden  scheinen  Heu,  Holz, 
Stoppeln  zu  verstehen  sein;  anderswo  versteht  er  darunter  diejenigen,  die 
zwar  Vater  und  Mutter  auf  fleischliche  Weise  lieben,  aber  doch  nicht  so  weit, 
dass  sie  dieselben  Christo  vorziehen.  Welche  Mannigfaltigkeit  der  Aus- 
legungen der  Stelle !  welche  Unbestimmtheit  zugleich !  darunter  konnte  aber 
der  L-rthum  wachsen ;  besonders  bedenklich  wurde  die  Sache,  sofern  die  kirch- 
liche Werkheiligkeit,  der  sich  auch  Augustin  nicht  entzog,  aus  jenen  Vor- 
stellungen Nahrung  zog. 


1)  De  civ.  D.  21,  26  meint  er,  man  könne  auch  den  Tod,  die  Verfolgungen  u.  s. 
zu  dieser  trihulatio  rechnen. 

2)  Tale  aliquid  etiam  post  hanc  vitam  fieri  incredihile  non  est. 


Eschatolagie.    Dogma.  341 

Was  den  Zustand  der  Seligen  und  Verdammten  betrifft,  so 
nahmen  einige  Kirchenlehrer   an,   dass   die  Seele   vor  der  Auferstehung  zu 
Gott    komme.     Andere    nahmen   Mittelzustände,   der   Ruhe   oder  der  Pein 
(aerutnna)  an,  je  nachdem  die  Seele  hienieden  sich  verhalten  (Augustin  enchi- 
ridion   c.  109).     Erst   nach    der  Auferstehung    erfolgt   die   eigentüche  Ver- 
geltung. —     Die  Seligkeit  besteht  in   erweiterter  Erkenntniss,  im  Umgang 
mit  den  SeUgen,   in   der  Befreiung  von  den  Banden  des  Körpers.    Gregor 
von   Nazianz    setzt  die  Seligkeit  hauptsächlich  in  die  Erkenntniss  Gottes, 
in   die  innige  Verbindung    mit  Gott.     Für  Augustin    sind   unaussprechücher 
Gottesfriede  und  Anschauen  Gottes  die  Hauptbestandtheile  der  Sehgkeit.  Die 
Seügen  gelangen  zur    wahren,   vollen  Freiheit,    so  dass  sie  moraUsch  nicht 
mehr  sündigen  können ,  wobei  die  höchste  sittliche  Freiheit  mit  der  sittlichen 
Nothwendigkeit  zusammenfällt.     Sie   haben   darum  die  Gewissheit,    dass  sie 
niemals  aus  dem  Stande  der  unsterblichen  Seligkeit  herausfallen  werden  (de 
civ.  Dei  11,  13).      Sie   wissen   auch   um  die   Qual   der  Verdammten,   doch 
ohne  dadurch  in  ihrer  Sehgkeit  gestört  zu  werden,  weil  ihr  Wille  dem  gött- 
lichen Willen  unterworfen  ist.    Die  Verdammten  sind  im  ewigen  Feuer,   das 
die  besseren  Theologen   sich  als    ein  geistiges  Feuer   dachten.     Augustin 
sieht   in   der  Entfenmng  von  Gott   die  Verdammniss.     Gregor  von  Nazianz, 
Basilius   und   Augustiu   nahmen   Stufen   der  Sehgkeit   an,    nach  Joh.  14,  2. 
Was  die  Ewigkeit  der  Höllenstrafen  betriti't,  so  finden  sich  noch  einige  Theo- 
logen, welche  die  Strenge  des  Dogmas  zu  mildern  geneigt  sind,  so  Didymus 
von  Alexandrien,  Gregor  von  Nyssa  oratio  cat.  c.  8,  der  die  Wieder- 
herstellung aller  Dinge  im  Sinne  des  Origenes  lehrt.  —     Die  Mehrzahl  der 
Theologen  nahmen  die  Ewigkeit  der  Höllenstrafen  an.     August  in   stützte 
sich  darauf,    dass   das   den  Gottlosen   bereitete  Feuer   ewig  sein  müsse  wie 
das   ewige   Leben,   in   welches   die  Gerechten   eingehen  Matth.  25,  41.  46 
(enchiridion    c.  112).    Derselbe  nahm  Grade   der  Unseligkeit  an,   weil  nach 
Matth.  11,  21  Chorazin  und  Bethsaida  härter  gestraft  werden,  als  Tyrus  und 
Sidon.    Zugleich  aber  berichtet  er,  dass  einige,   ja  sehr  viele  (nonnuUi,  imo 
quam  plurimi,  enchir.  c.  112)  ein  Ende  der  Höllenstrafen  annehmen,  sich  grün- 
dend auf  P^alm  77,  10 1). 

Anhang  zur  Geschichte  der  Theologie. 

lieber  die  Bedeutung  des  Wortes  Dogma  seien  uns  hier  einige 
nachträgliche  Bemerkungen  gestattet,  die  sich  anschliessen  an  das,  was  wir 
am  Anlange  der  Geschichte  der  Theologie  in  dieser  Periode  bemerkt  hatten 

(S.  242). 

Dogma  heisst  bei  den  Profanscribenten  statutum,  decretum,  doyiia 
cvy^etvai  ist  so  viel  po^ioy  ^etr^at.  Daniel  2,  13.  —  ^oyf*a  heisst  das 
Gebot  des  Kaisers  Augustus,   dass   alle  Welt  geschätzt  würde,   Lucas  2,  1. 


1)  Noch  führen  wir  eine  morgenländische  Secte  nachträglich  an,  die  Hypsista- 
rier,  zu  denen  anfänglich  der  Vater  des  Gregor  von  Nazianz  gehört  hatte.  (Oratio  18 
§.  5).  Sie  haben  mit  dem  Christenthum  nichts  gemein,  sondern  ihre  Lehre  ist  ein  Gemisch 
aus  jüdischen  und  heidnischen  Religionselementen.  Siehe  Ullmann,  Gregor  von  Nazianz 
S.  558.     Gieaeler,  Kirchengeschichte  IL  16.  17. 


342  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Weiterhin  ist  ^0^^1*05  religiöses  Gebot  Ephes.  2,  15.  Kolosser  2,  14;  an  bei- 
den Stellen  sind  die  alttestamentlichen  Satzungen  gemeint.  Der  christliche 
Glaubensgehalt  wird  im  Neuen  Testament  niemals  doyiia,  sondern  evayye- 
hov,  Xoyog  ^«ov,  xijQvyfia  genannt.  —  Bei  den  Stoikern  ist  doy/*«  Grund- 
satz, Axiom,  im  Gegensatze  gegen  Launen,  Gefühle,  Affecte;  daher  das 
Wort  von  Marc-Aurel  (eig  iavtov  2,  3),  tavta  aoi  aQxetco,  aet  öoyfiata 
€(TTco.  So  auch  bei  Cicero  (acad.  quaestiones  4,  9).  Sapientia  neque  de  se 
ipsa  dubitare  debet  neque  de  suis  decretis,  guae  philosophi  vocant  dogmata. 

Die  christlichen  Kiixhenschriftsteller  haben  das  Wort  bald  in  ihren 
Sprachgebrauch  aufgenommen,  aber  ihm  eine  andere  Bedeutung  gegeben,  als 
welche  es  im  Neuen  Testament  hat,  eine  solche  vielmehr,  welche  an  diti 
Bedeutung  in  der  philosophischen  Sprache  erinnert;  doy^ia  ist  ihnen  der 
feststehende  Glaubensinhalt  des  Christenthums ,  so  bei  Ignatius  in  der  Epi- 
stel an  die  Gemeinde  zu  Magnesia  c.  13,  wo  er  sie  ermahnt,  sich  mehr 
und  mehr  zu  befestigen,  ev  toig  doy^iaat  %ov  xvqiov  xai  zcov  anoatoXoiv. 
Darin  sind  noch  ungeschieden  die,  nach  unserem  Sprachgebrauche,  dogma- 
tischen Lehren  und  die  moralischen.  Dasselbe  ist  der  Fall  bei  Cyrill  in  der 
vierten  Katechese  4,  2:  o  trig  evcxeßeiaq  xqonoq  ex  ovo  tovzoiv  cvveaxrixe, 
doy^aro)v  evaeßoöv  xai  ngct^eioy  aya^cop,  Ottenbar  sind  hier  die  doy^iaia 
svasffrj  auch  moraUsche  Lehren;  im  commonitorium  des  Vincentius  von  Le- 
rinum  umfassen  die  coelestis  philosophiae  dogmata  ebenfalls  die  ethischen 
Vorschriften;  ebenso  bei  Chrysostomus  homilia  27  in  Joannem:  o  xe^o-rta- 
PKTfiog  ^exa  Ttjg  xcap  öoyfiauoy  OQ^otrjtog  xai  noXiteiav  vyiaivovaav 
aTiattei.  Die  Scheidung  von  Dogmatischem  und  Ethischem  ist  angedeutet 
von  Sozomenus  H.  E.  2,  44,  wo  6oy(jia  und  rj^ixt}  didacxaXia  von  einander 
unterschieden  werden;  auch  noch  bei  Basilius  de  spiritu  c.  27,  alXo  yaq 
öoy^a  xai  aXXo  x7jQvy[AC(.  to  fjL€P  yaq  (XicoTiatai ,  ta  de  xrjQvyiiata  dtj- 
liocievetcci;  das  öoy^a  umfasst  hier  gewiss  die  Glaubenswahrheiten;  die 
sittlichen  Gebote  werden  gewiss  nicht  als  esoterisch  behandelt.  Auf  der 
anderen  Seite  umfassen  die  x7}Qvy[iata  gewiss  beides,  Dogmatisches  und 
Ethisches.  In  der  Neuzeit  wird  Dogma  durchaus  von  den  eigentlichen  Glau- 
benswahrheiten im  Unterschied  von  den  ethischen  Vorschriften  verstanden. 
Sodann  werden  die  von  den  allgemeinen  Synoden  sanctionirten  Lehrsätze 
öfter  allein  Dogmata  genannt  ^) ,  doch  ohne  allen  Grund  im  Sprachgebrauche ; 
nur  soviel  steht  fest,  dass  die  Dogmen  durch  die  kirchhche  Sanction  um  so 
grössere  Autorität  erhalten.  Hauptsächlich  ist  dieses  festzuhalten,  dass 
Dogma  der  begriffliche  Ausdruck  einer  Glaubenswahrheit  ist.  Damit  ist  zu- 
gleich dieses  gesagt,  dass  es  nicht  blos  Privatmeinung  dieses  oder  jenes 
Lehrers  ist.  Ein  einzelner  Lehrer  für  sich  betrachtet,  kann  kein  Dogma 
schaffen.  Es  wird  immer  vorausgesetzt,  dass  das  Dogma  das  Glaubensbe- 
wusstsein  einer  rehgiösen  Gemeinschaft  ausdrückt;  es  ist  aber  keineswegs 
nöthig,  dass  es  durch  Synodälbeschlüsse  als  solches  bestätigt  worden  sei. 
So  sind  laut  vorstehender  Darstellung  Dogmen  aufgestellt  worden,  die  durch- 
aus nicht  Gegenstand  der  Controverse,  noch  auch  Gegenstand  von  Synodal- 
beschlüssen geworden. 


1)  Hasse,  Kirchengeschichte  1,  153. 


343 


Dritter  Absclinitt '). 


Geschichte  der  Kirchenverfassung,  Kirchenzucht,  Kirchen- 
spaltungen.   Das  Dogma  von  der  Kirche. 

§.  1.   Verhältniss  des  Klerus  zum  Staate  und  zur  bürgerlichen 

Gesellschaft. 

Es  war  in  der  Natur  des  Christenthums  sowie  in  der  des  Menschen 
gegründet,  dass  jenes  zunächst  mit  dem  Staat  einen  blutigen  Kampf  zu 
bestehen  hatte.  Es  war  diess  aber  auch  heilsam  für  die  Kirche.  Denn  es 
sollte  auf  diese  Weise  das  Bewusstsein  ihres  vom  Staate  verschiedenen  Wesens, 
ihrer  eigenthümlichen  Bestimmung  mit  unauslöschlichen  Zügen  ihr  eingeprägt 
werden.  Hätten  die  römischen  Kaiser  von  Anfang  an  das  Christenthum 
angenommen,  —  um  einen  unmöglichen  Fall  zu  setzen,  —  so  wäre  die  Kirche 
ungeachtet  ihres  himmlischen  Ursprungs  mit  dem  Staate  völlig  verschmol- 
zen worden.  Es  kam  aber,  wie  wir  gesehen,  die  Zeit,  wo  der  Staat  im 
Interesse  der  Selbsterhaltung  die  Kirche  als  zu  Hecht  bestehend  aner- 
kannte, den  Bund  mit  ihr  einging  und  ihr  seinen  Schutz  angedeihen  Hess. 
Dadurch  wurde  sie  in  ihrem  äusseren  Zustande  befestigt  und  befördert,  in 
die  civilisatorischen  Aufgaben  des  Staates  verflochten  und  berufen,  den 
Uebergriffen  der  rohen  Staatsgewalt  Einhalt  zu  thun.  Sie  gerieth  aber 
öfter  in  sklavische  Abhängigkeit  vom  Staate  und  wurde  dadurch  in  ihrem 
inneren  Bestände  geschädigt  und  in  ihrer  Wirksamkeit  gehemmt. 

Zuerst  begegnen  wir  einer  Reihe  von  Vergünstigungen,  welche  die 
christlichen  Kaiser  der  Kirche  und  insbesondere  den  Geistlichen  ertheilten, 
wodurch  das  Ansehen  derselben  einen  bedeutenden  Aufschwung  nahm,  der 
hierarchische  Charakter  sich  befestigte,  die  Kirche  in  den  Stand  gesetzt 
wurde,  grossen  Einfluss  und  grosse  Wohlthätigkeit  auszuüben.  Die  Geist- 
lichen wurden  durch  Constantin  von  den  Municipalämtern  befreit  und  die 
Kirchen  von  gewissen  ausserordentlichen  Lasten  und  Frohndiensten  befreit. 
Die  Entscheidungen,  welche  die  Bischöfe  in  kirchlichen  Angelegenheiten 
und  als  gewählte  Schiedsrichter  ex  compromisso  in  bürgerlichen  Angele- 
genheiten gaben,  erhielten,  nachdem  sie  schon  lange  im  Gebrauche  ge- 
ivesen,  durch  ein  Gesetz  vom  Jahre  408  gesetzliche  Bestätigung.  Die 
Geistlichen  wurden  sogar  an  dieses  Gesetz  gebunden  und  in  Disciplinar- 
sachen  an  geistliche  Gerichte,  sei  es  des  Bischofs,  sei  es  der  Synoden. 
Das  bischöfliche  Kecht  der  Oberaufsicht  über  die  Sitten  nahm  nun  eine 
grosse  Bedeutung  an  und  wirkte  auch  insofern  wohlthätig,  als  selbst  die 
obrigkeitlichen  Personen  sich  demselben  unterwerfen  mussten.  Mit  dieser 
Aufsicht  hing  zusammen  das  Recht  der  Fürsprache  bei  der  weltlichen 
Obrigkeit;  wie  es  früher  die  Vestalinen  ausgeübt  hatten.    Diese  Fürsprache 


1)  8.  im  Allgemeinen  das  S.  152  bereits  angeführte  Werk  von  Plankh,    Geschichte 
der  christlich  -  kirchlichen  Gesellschaftsverfassung. 


344 


Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 


wurde  besonders  auch  für  solche  verwendet,  welche  zum  Tode  verurtheilt 
waren  selbst  für  ganze  Städte  und  Provinzen.  Rechtschaffene  Geistliche 
führten  den  obrigkeitlichen  Personen  ihre  Verpflichtung  zu  Gemüthe,  auf 
sie  die  Bischöfe  zu  hören  i).  Auch  das  Recht  des  Asyls  wurde  von  den 
heidnischen  Tempeln  auf  die  christlichen  Kirchen  übergetragen,  zunächst 
als  Gebrauch.  Wie  Eutropius  dieses  Recht  aufzuheben  suchte  und  zuletzt 
doch  zu  demselben  seine  Zuflucht  zu  nehmen  gedrängt  wurde,  haben  wir 
in  der  Geschichte  des  Chrysostomus  gesehen.  Kaiser  Theodosius  bestätigte 
förmlich  431  dieses  Asylrecht. 

Während  die  Kirche  diese  Vergünstigungen  erhielt,  wurden  auch  ihre 
Einkünfte  bedeutend  vermehrt  dui'ch  die  Kaiser,  welche  ihr  aus  dem  Ge- 
meindevermögen der  Städte,  der  heidnischen  Tempel,  der  ketzerischen 
Kirchen  reichliche  Beiträge  zufliessen  Hessen,  und  welche  die  Erlaubniss 
oaben  Erbschaften  und  Schenkungen  anzunehmen.  Wenn  daduixh  gewis- 
senlose Bischöfe  sich  zu  Erbschleichereien  verleiten  Hessen,  so  gab  es 
Andere  welche  jeden  Schein  davon  mieden  und  aus  christlichem  Antriebe 
auf  Vermächtnisse  Verzicht  leisteten,  welche  sie  nach  dem  bürgerlichen 
Rechte  hätten  annehmen  können.  Doch  war  das  Uebel  der  Erbschleicherei 
schon  soweit  eingerissen,  dass  Valentinian  I.  370  ein  Gesetz  dagegen  er- 
liess  wobei  Hieronymus,  in  Beziehung  auf  das  Aergerniss,  welches  römische 
Geistliche  gaben,  mit  Recht  bemerkt:  „über  das  Gesetz  beklage  ich  mich 
nicht  sondern  es  thut  mir  leid,  dass  wir  ein  solches  Gesetz  verdient  ha- 
ben."      Die  Lichtseite  der  Bereicherung   der  Kii'che  ist  die  Wohlthätig- 

keit,  welche  sie  dadurch  zu  üben  befähigt  wurde.  Es  entstanden  Anstalten 
zur  Aufnahme  von  Fremden,  Armen,  Greisen^  Wittwen,  Waisen,  Ivranken. 
In  Cäsarea  gründete  Basilius  so  grossartige  Anstalten  dieser  Art,  dass 
Gregor  von  Nazianz  sie  eine  Stadt  im  Kleinen  nannte  (in  der  Leichenrede 
auf  Basilius).  Theodoret,  Bischof  von  Kyros,  obschon  er  einen  armen 
Kircheusprengel  hatte ,  erübrigte  doch  so  viel,  dass  er  zum  Besten  der 
Stadt  Säulengänge,  zwei  grosse  Brücken  erbauen,  einen  Canal  aus  dem 
Euphrat  in  die  Stadt  leiten  Hess  und  die  öffentliche  Badeanstalt  verbessern 
konnte.  Diese  philanthropischen  Bestrebungen  gereichten  der  Kirche  so 
augenscheinlich  zum  Vortheil,  dass  Kaiser  Julian  sie  auf  den  Boden  des 
restaurirten  Heidenthums  zu  verpflanzen  sich  abmühte. 

Im  persönlichen  Verbal tniss  der  Kleriker,  besonders  der  Bischöfe  zu 
den  Kaisern  und  obrigkeitlichen  Personen  zeigt  sich  ein  merkwürdiger 
Contrast  von  Ueberordnung  und  Unterordnung.  Die  Bischöfe  hatten  von 
Alters  her  den  höchsten  Begriff'  von  den  Vorzügen  des  Priesterthums 
(IsQcoavrri).  Schon  die  apostolischen  Constitutionen  2 ,  26  u.  ff',  stellen  den 
Grundsatz  auf,  dass  sie  als  geistliche  Väter  höher  zu  halten  seien,  als 
die  leibüchen  Eltern,  höher  als  die  Könige.  _^Soviel  besser  die  Seele  ist, 
als  der  Leib,  soviel  besser  ist  das  Priesterthum  als  das  Königthum.  Ihr 
sollt  den  Bischof  lieben  als  den  Vater,  fürchten  als  den  König,  elu'en 
als  den  Herrn.''  Chrysostomus  (de  sacerdotio  3,  1)  eignet  sich  dieselbe 
Anschauung  an:    ;,das  Priesterthum  ist  über  die  Königswürde  so  erhaben 


1)  Augnstin  an  den  Tribun  Marcellin:  audire  te  episcopum  convenit  jubentem. 


Kirchenverfassung.    Klerus  und  Staat.  345 

wie  der  Geist  über  das  Fleisch."  Entsprechend  waren  die  Ehrenbezeugungen, 
die  den  Bischöfen  von  Kaisern  und  Kaiserinnen  ertheilt  wurden;  sie  beug- 
ten das  Haupt  vor  ihnen  und  küssten  ihre  Hände.  Der  Bischof  von  Tri- 
polis schrieb  sogar  der  Kaiserin  Eusebia,  Gemahlin  des  Constantius,  die 
Bedingungen  vor,  unter  welchen  er  vor  ihr  erscheinen  werde;  sie  solle, 
sobald  er  eingetreten,  ihm  entgegen  kommen,  den  Kopf  beugen,  um  sei- 
nen Segen  zu  empfangen,  darauf  werde  er  sich  niedersetzen,  sie  aber  voll 
Ehrfurcht  solle  stehen  bleiben,  und  erst,  wenn  er  sie  geheissen,  sich  nie- 
dersetzen. So  wartete  die  Gemahlin  des  Kaisers  Maximus  dem  Bischof 
Martinus  sogar  einmal  bei  Tische  auf.  Daher  die  Klage  und  Rüge  des 
Hieronymus  über  den  Hochmuth  der  Bischöfe  und  die  Mahnung:  Bischöfe 
und  Presbyter  sollen  nicht  vergessen,  dass  die  Gemeindeglieder  Mitknechte, 
aber  nicht  Knechte  seien.  Aber  schon  die  Ehrentitel,  die  ihnen  gegeben 
wurden,  oder  die  sie  sich  auch  untereinander  gaben,  waren  eine  fortwäh- 
rende Reizung  zum  hierarchischen  Hochmuthe  ^). 

Ungeachtet  dieser  hohen  Stellung  standen  die  Bischöfe  in  mehrfacher 
Hinsicht  in  einem  Verhältniss  der  Abhängigkeit  vom  Staate.  Sie  erkann- 
ten die  Kaiser  als  ihre  obersten  Richter  an,  geschützt  gegen  alle  Strafge- 
setze durch  die  Majestät  der  Herrschaft  {imperii  majestas).  Dadurch,  dass 
manche  Bischöfe  theils  durch  die  Kaiser  selbst,  theils  unter  ihrem  Einfluss 
gewählt  wurden,  so  besonders  die  Bischöfe  von  Constantinopel ,  befestigte 
sich  die  Abhängigkeit  der  Kirche  vom  Staate.  Dazu  trugen  auch  die  theo- 
logischen Streitigkeiten  bei.  Der  Umstand,  dass  die  Kaiser  die  allgemei- 
nen Synoden  beriefen  und  sie  durch  ihre  Commissäre  präsidirten,  beweist 
zwar  an  sich  noch  nicht,  dass  die  Kaiser  auf  die  synodalen  Bestimmungen 
Einfluss  hatten.  Die  Kaiser  selbst  erklärten  sich  für  incompetent,  und 
wenn  sie  es  vergassen,  so  wurde  es  ihnen  von  den  Bischöfen  in  Erinnerung 
gebracht.  Indem  aber  die  Kaiser  die  Synodalbeschlüsse  bestätigten  und  auch 
die  nöthigen  Verordnungen  zu  ihrer  Durchführung  gaben,  waren  sie  es, 
die  der  That  nach  die  Entscheidung  gaben.  Nur  diejenigen,  gegen  welche 
die  Entscheidung  ausfiel,  protestirten  gegen  die  Einmischung  der  Staats- 
gewalt. Uebrigens  kam  die  erste  Aulforderung,  sich  in  die  Angelegen- 
heiten der  Kirche  zu  mischen ,  von  einer  kirchlichen  Partei ,  von  den  Do- 
natisten,  die  nun  fi-eilich  gar  sehr  sich  beklagten,  als  die  Entscheidung 
gegen  sie  ausüel.  Am  Ende  der  Periode,  auf  der  Synode  von  Constanti- 
nopel im  Jahre  448  wurde  zum  ersten  Male  dem  christlichen  Kaiser,  nach 
dem  Vorgange  der  heidnischen  Kaiser,  priesterliche  Würde  beigelegt,  in- 
dem die  Bischöfe  ausriefen:  ^^langes  Leben  dem  Hohenpriester,  dem  Kai- 
ser." Wie  devot  lautet  auch  die  Anrede  der  Väter  von  Chalcedon  an  Theodo- 
sius  H.!  ;,durch  dich  ist  der  orthodoxe  Glaube  befestigt,  die  Häresie  ver- 
nichtet worden.  Gott  allein  hat  das  ausgerichtet.  Himmlischer  König, 
beschütze  den  irdischen;  das  ist  das  Gebet  der  Gemeinden,  das  ist  das 
Gebet  der  Hirten."    Doch  erst  unter  Justinian  bricht  sich  der  eigentliche 


1)  Die  Bischöfe  wurden  genannt  dtcnor^s  oCtmuTos,  tttd€Gifx(OTaTos,  ^  ff^ 
XoriffTOTTig,  ^ctxccQionr^g,  (?yior^?,  aov  ^)  nyim(rvyv,  dominus  beatissimus,  sanetissimus, 
reverendissimus,  beatitudo,  sanctitas  tua.    Papa  hiess  jeder  Bischof  im  Abendlande. 


346  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Byzantinismus  Bahn.  Man  hat  geglaubt,  dass  Constantin  selbst  die  ent- 
gegengesetzte Theorie  vom  jus  circa  sacra,  was  der  Obrigkeit  zukomme, 
im  Unterschiede  vom  jus  in  sacra,  welches  das  Vorrecht  der  Geistlichkeit 
sei,  aufgestellt  habe.  Allein  auf  eine  bei  einem  Gastmahle  halb  scherzend 
hingeworfene  Bemerkung,  wobei  die  Wortstellung  selbst  die  Rede  doppel- 
sinnig erscheinen  lässt,  kann  nicht  ein  solches  Gewicht  gelegt  werden  i). 

§.  2.    Innere  Verhältnisse  des  Klerus. 

Zuvörderst  zu  erwähnen  ist  die  Vermehrung  der  kirchlichen  Aemter 
und  Würden,  herbeigeführt  durch  die  grössere  Ausdehnung  der  Kirche, 
das  vermehrte  kirchliche  Cerimoniell,  aber  auch  durch  den  sich  befesti- 
genden hierarchischen  Geist.  Es  gab  jetzt  also  Archipresbyter,  Archi- 
diakonen,  Oekonomen  als  Verwalter  des  Kirchenvermögens,  Syn- 
celli,  als  Hausprälaten  der  Bischöfe,  Notarien,  welche  bei  den  kirch- 
lichen Verhandlungen  das  Protocoll  führten,  Parabolanen,  Kranken- 
wärter, so  benannt,  weil  sie  bei  ihrem  Berufe  ihr  Leben  aussetzten,  wovon 
es  im  Jahr  418  in  Alexandrien  600  gab,  Copiaten,  Todtengräber,  fossores, 
die,  wo  nicht  selbst  Kleriker,  doch  zum  Klerus  in  naher  Beziehung  standen, 
wovon  es  in  Constantinopel  unter  Theodosius  II.,  1100  gab,  die  dieser 
Kaiser  jedoch  auf  950  reducirte.  Leicht  wurde  es,  alle  diese  Aemter  zu 
besetzen,  da  bei  den  grossen  Vortheilen,  die  der  geistliche  Stand  darbot, 
der  Zudrang  zu  demselben  sehr  gross  wurde,  so  dass  die  Kaiser  sogar 
durch  Gesetze  demselben  Einhalt  thun  mussten. 

Die  genannte  Vermehrung  der  Kirchenämter  hing  zusammen  mit  der 
Erhöhung  der  bischöflichen  Macht.  Der  Klerus  wurde  dem  Bischof  völlig 
unterworfen;  alle  Geistlichen  wai'en  vom  Bischof  gewählt,  von  ihm  besol- 
det, dem  auch  die  Verwaltung  des  Kirchenvermögens  oblag  (daher  die 
Notarien).  Die  Landbischöfe  oder  Chorepiskopen  wurden  den  Stadtbischö- 
fen völlig  untergeordnet,  seit  dem  vierten  Jahrhundert  keine  neuen  bestellt, 
daher  sie  bald  gänzlich  verschwanden.  Mit  der  Erhöhung  der  bischöflichen 
Macht  vermehrten  sich  auch  die  Geschäfte,  worüber  rechtschaffene  Bischöfe, 
Chrysostomus  (de   sacerdotio  3,  18),    Augustin  und  Andere  bitterlich  kla- 


1)  Euseb  de  vita  Constantini  4,  24;  da  sagt  der  Kaiser  seinen  Gästen,  den  Bi- 
schöfen, sie  seien  Bischöfe  rojy  (ico)  rrjg  fxxXijctas,  er,  der  Kaiser,  sei  Bischof  oder 
Aufseher  rioy  ixrog  rtjs  ixxXrjCtag.  Es  fragt  sich,  ob  der  Artikel  T(oy  masculinum  oder 
neutrum  ist;  zu  jenem  Sinn  passt  einestheils  was  folgt:  Constantin  rovg  agxo/ueyove 
anttvrag  enfGxonft;  anderntheils  passt  es  nicht,  indem  ja  Constantin  so  eben  gesagt 
hat,  er  sei  Bischof  derer,  die  draussen  sind,  während  die  in  der  Kirche  sind,  unter  den 
Bischöfen  stünden.  Nimmt  man  das  masculinum  des  Artikels  an,  so  will  der  Kaiser  sa- 
gen, er  sei  der  Bischof  oder  Aufseher  der  Heiden  und  auch  der  Christen,  dieser  aber  nur 
in  Beziehung  auf  ihre  bürgerlichen  Verhältnisse;  so  Gieseler  1,  2  S,  183.  Nimmt  man 
das  neutrum  des  Artikels  an,  so  sind  ra  exrog  r.  fxxX.  die  politischen  Verhältnisse, 
worüber  Gott  den  Kaiser  zum  Aufseher  gemacht  habe,  um  Alles  so  einzurichten,  damit 
seine  Unterthanen  zu  einem  frommen  Leben  hingeleitet  würden.  Neander  2,1.  283. 
Aehnhch  Heinicheu  im  Excurs  zu  dieser  Stelle  in  seiner  Ausgabe  des  Lebens  Constantin's; 
die  Auslegung  Neander's  möchte  doch  am  Ende  den  Vorzug  verdienen. 


Kircbenverfassung.     Innere  Verhältnisse  des  Klerus.  347 

gen.  Augustiu  verdachte  es  dem  Apostel  Paulus,  dass  er  1  Kor.  6  die 
Christen  angewiesen  habe,  die  unter  ihnen  obwaltenden  Rechtsstreitigkeiten 
unter  sich  zu  schlichten ;  denn  seit  Ausbildung  der  bischöflichen  Verfassung 
galt  es  als  ein  Theil  der  bischöflichen  Amtsverwaltung,  diese  Streitigkeiten 
zu  schlichten.  Der  Bischof  wurde  übrigens  wie  früher  gewählt  durch  die 
Suffragien  des  Klerus,  mit  Beistimmung  benachbarter  Bischöfe,  mit  Zu- 
stimmung des  Volkes.  Gefiel  der  Gewählte  dem  Volke ,  so  rief  es :  ct^iog, 
bene  meritus,  bene  dignus.  Gefiel  er  nicht,  so  rief  es:  aval^iog^  indignus. 
Im  lateinischen  Abendlande  w^urde  auf  diese  Theilnahme  der  Gemeinde 
eifrig  gehalten.  Leo  L,  der  strenge  Hierarch,  stellte  als  Regel  auf:  wer 
Allen  vorstehen  soll ,  der  soll  auch  von  Allen  gewählt  werden  i). 

Gegen  die  Verweltlichung  des  geistlichen  Standes,  den  Zudrang  Un- 
würdiger in  denselben,  gegen  geistliche  Herrschsucht  und  Heuchelei,  gegen 
das  Vergessen  der  priesterlichen  Pflichten  ist  des  Chrysostomus  Schrift  vom 
Priesterthum  gerichtet,  worin  er  besonders  dieses  hervorhebt,  dass  der  Prie- 
ster die  Gabe  der  Rede  haben  und  ausbilden  solle,  nach  dem  Vorbilde  des 
Apostels  Paulus,  der  durch  seine  Reden  mehr  als  durch  seine  Wunder 
so  grossen  Erfolg  erzielte.  Dabei  stellt  er  doch  die  eigentliche  Priesterwürde 
in  den  Vordergrund.  Die  Priester  sind  es,  denen  der  Sohn,  nachdem  ihm 
der  Vater  das  Gericht  übergeben,  dasselbe  gänzlich  anvertraut  hat  (Joh. 
20,  23).  Aber  nicht  blos  das;  ohne  die  Priester  werden  wir  weder  der 
Erlösung,  noch  der  verheissenen  Güter  theilhaftig.  ^^Wenn  Niemand  in  das 
Himmelreich  eingehen  kann,  der  nicht  durch  das  Wasser  und  den  heiligen 
Geist  wiedergeboren  ist,  wenn  derjenige  des  ewigen  Lebens  verlustig  ist, 
der  nicht  isst  das  Fleisch  des  Herrn  und  nicht  trinkt  sein  Blut,  dieses  alles 
aber  durch  Niemand  anders  als  durch  jene  heiligen  Hände,  des  Priesters 
nämlich,  —  vollbracht  wird,  wie  wird  wohl  Jemand  ohne  sie  dem  Feuer 
der  Hölle  entfliehen  können?  Durch  sie  ziehen  wir  Christum  an,  —  sie 
sind  die  Urheber  {attiot)  unserer  Geburt  aus  Gott,  der  seligen  Wieder- 
geburt (3,  5)."  So  befestigt  sich  mehr  und  mehr  die  Priesteridee  als  eine 
Vermittlung  zwischen  Gott  und  der  zu  erlösenden  Menschheit. 

Wenn  aber  von  den  Kirchenlehrern  die  Ehelosigkeit  als  wesentlicher 
Bestandtheil  der  christlichen  Vollkommenheit  behandelt  wurde,  wenn  so 
viele  Laien  aus  diesem  Grunde  die  Ehe  mieden,  wenn  dieser  Zug  unter 
den  Laien  mächtig  um  sich  grifl",  —  im  Mönchthum,  —  so  war  die  Rück- 
wirkung davon  auf  den  geistlichen  Stand  unausbleiblich.  Dass  die  Monta- 
nisten die  ersten  gewesen,  welche  für  die  Verwalter  der  Sacramente  das 
ehelose  Leben  forderten,  schadete  der  Sache  nicht;  sie  war  zu  tief  in  der 
Anschauung  der  damaligen  Zeit  gegründet.  Uebrigens  leistete  der  ur- 
sprünglich christliche  Geist  noch  manchen  Widerstand.  Das  Concil  von 
Elvira  in  Spanien  305.  c.  33,  mit  seinem  Verbote  der  Ehe  für  die  drei  obe- 
ren Grade  der  Geistlichkeit  ist  in  jener  Zeit  eine  vereinzelte  Erscheinung. 
Als  auf  dem  Concil  von  Nicäa  325  die  Mehrheit  der  Bischöfe  darauf  dran- 
gen, jenes   Verbot   auf  die   ganze  Kirche   auszudehnen,   widersetzte   sich 


1)  Qui  praefecturus  est  oranibus,  ab  omnibus  eligatur.    Vgl.  die  Wahl  des  Ambrosiua 
zum  Bischof  S.  225. 


348  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Paphnutius,  Bischof  einer  Stadt  der  oberen  Thebais.  Sein  Wort  machte 
um  so  mehr  Eindruck,  als  er  Confessor  war  und  in  der  letzten  Verfolgung 
des  einen  Auges  beraubt  worden,  selbst  ehelos  lebte  und  von  früher  Ju- 
gend an  sich  der  grössten  Enthaltsamkeit  befliss.  Er  machte  auf  die  Ge- 
fahren aufmerksam,  welche  aus  solcher  Massregel  entstehen  könnten,  und 
nannte  die  Ehe  unbefleckt  und  ehrenhaft;  daher  genüge  es,  dass  Niemund 
nach  der  Aufnahme  in  einen  der  drei  oberen  Grade  des  Klerus  eine  Ehe 
eingehe  (Sokrates  1,  11).  Dieser  geläuterten  Ansicht  hätte  es  besser  ent- 
sprochen, die  Ehe  der  Geistlichen  völlig  zu  gestatten.  Durch  halbe  Mass- 
regeln dieser  Art,  wie  sie  in  der  katholischen  Kirche  häufig  sind,  ist  viel 
Unheil  angerichtet  worden.  In  der  griechischen  Kirche  erhielt  sich  eim; 
mildere  Praxis.  Eustathius,  Gründer  des  Mönchthums  in  Armenien,  der 
die  Ehe  überhaupt  verwarf,  wurde  nebst  seinen  Anhängern  durch  die  Sy- 
node von  Gangra  in  Paphlagonien  verdammt;  es  wurde  dabei  namentlich 
festgesetzt,  dass  die  bei  verheiratheten  Priestern  nicht  communiciren  wollten, 
Anathema  sein  sollten.  In  der  griechischen  Kirche  wurde  es  herrschende 
Sitte,  dass  die  Bischöfe  ehelos  lebten  und  dass,  wenn  sie  bei  dem  Amtsan- 
tritt verheirathet  waren,  sie  ihre  Frauen  entliessen.  Doch  gibt  es  viele 
Beispiele  von  verheiratheten  Bischöfen  im  5.  Jahrhundert,  z.  B.  Syuesius,  der 
Vater  des  Gregor  von  Nazianz,  vielleicht  Gregor  von  Nyssa.  Anders  im 
Abendlande.  Bischof  Siricius  von  Rom  verbot  385  in  einem  Briefe  an 
Bischof  Himerius  von  Taraco  in  Spanien  die  Ehe  für  Bischöfe,  Presbyter 
und  Diakonen.  Leo  I.  dehnte  dieses  Verbot  auch  auf  die  Subdiakonen 
aus.  Doch  gab  es  noch  immer  genug  Fälle,  wo  das  Verbot  nicht  gehalten 
wurde. 

§.  3.    Die  Patriarchalverfassung,  besonders  im  Oriente. 

Schon  in  der  ersten  Periode  war  eine  über  die  bischöfliche  Diöcese 
oder  Parochie  weit  hinaus  reichende  Verbindungsform,  die  Metropolitan- 
verfassuug,  entstanden.  In  dieser  Periode  kam  nichts  Neues  von  Bedeu- 
tung hinzu,  sondern,  was  bis  dahin  durch  schweigende  Uebereinkunft  ge- 
bräuchlich gewesen,  wurde  durch  Synodalbeschlüsse  geordnet  und  bestätigt. 
Es  betraf  diess  sowohl  dasjenige,  wodurch  die  Metropoliten  über  die  ande- 
ren Bischöfe  eine  gewisse  Macht  ausübten,  als  auch  die  Dinge,  worin  sie 
den  anderen  Bischöfen  gleichgestellt  wurden  ^). 

Die  Hierarchie  schritt  in  dieser  Periode  zu  einer  neuen  Verbindungs- 
form fort,  insofern  die  Bischöfe  mehrerer  Provinzen  nebst  ihren  Metropo- 
liten einer  gewissen  Zahl  von  angesehenen  Bischöfen  untergeordnet  wur- 
den. Die  Anfänge  davon  haben  wir  schon  in  der  vorhergehenden  Periode 
gefunden.  Die  Bischöfe  von  Rom,  Alexandrien  und  Antiochien  waren  so  wie 
durch  den  Reichthum  und  das  Ansehen  ihrer  Residenzstädte,  so  auch  da- 
durch vor  den  übrigen  Bischöfen  ausgezeichnet,  dass  sie  viel  grössere 
Eparchieen  hatten  und  demnach  wohl  schon  mehrere  Metropoliten  ihnen 
mehr  oder  weniger  untergeben  waren.    Die  Synode  von  Nicäa  325  Kanon  i 

1)  Der  neunte  Kanon  des  Concils  von  Antiochien  vom  Jahre  341  ist  hiefür  mass« 
gebend.    S.  Gieseler  K.  G.  I.  359.  Note  4. 


Kirchenverfassuug.    Patriarchalverfassung.  349 

6,  bestätigte  diese  alte  Einrichtung  mit  den  Worten:  ,,die  alte  Sitte,  die 
in  Egypten,  Libyen  und  Pentapolis  stattfindet,  soll  ferner  ihre  Gültigkeit  be- 
halten, dass  der  Bischof  von  Alexandrien  über  alle  diese  Gewalt  habe, 
da  diess  auch  bei  dem  römischen  Bischof  Gewohnheit  ist,  so  sollten  auch 
in  Antiochien  und  in  deji  übrigen  Provinzen  den  Kirchen  ihre  Vorrechte 
erhalten  bleiben^). ^  Was  römische  Herrschsucht  aus  diesen  Worten  gemacht, 
davon  wird  bald  die  Rede  sein.  Hier  wollen  wir  nur  noch  bemerken,  dass 
dasselbe  Concil  im  vierten  Kanon  die  Provinzialsynode  als  die  höchste 
kirchliche  Instanz  anerkannte. 

Jene  Verbindungsform  wurde  während  der  arianischen  Streitigkeit 
noch  mehr  ausgebildet.  Denn  die  Provinzialsynoden  waren  öfter  zu  schwach, 
um  den  mächtigen  Gegnern  Widerstand  zu  leisten,  daher  man,  der  grös- 
seren Sicherheit  wegen,  zu  grösseren  hierarchischen  Verbindungen  seine  Zu- 
flucht nahm.  Anders  aber  wurde  das  Verhältniss  im  Morgenlande,  anders 
im  Abendlande  ausgebildet.  Im  Morgenlande  wurde  die  Ausbildung  da- 
durch begünstigt,  dass  man  die  kirchliche  Eintheilung  nach  der  neuen  po- 
litischen des  Reiches  einrichtete.  Constantin  hatte  nämlich  das  Reich  in 
Präfecturen,  diese  in  Diöcesen,  die  Diöcesen  in  Provinzen  eingetheilt.  DiePrä- 
fectur  des  Orients  bestand  1)  aus  der  Diöcese  des  Orients,  Hauptstadt  An- 
tiochien; 2)  aus  der  Diöcese  Egypten,  Hauptstadt  Alexandrien;  3)  Diöcese 
Asien,  Hauptstadt  Ephesus;  4)  Dioecese  Pontus,  Hauptstadt  Caesarea  in 
Kappadocien;  5)  Dioecese  Thracien,  Hauptstadt  Heraclea,  später  Constan- 
tinopel.  Die  Bischöfe  derselben  Dioecese  traten  in  nähere  Verbindung  mit 
dem  Bischof  der  Hauptstadt.  Was  Constantinopel  betrifft,  das  bald  an  die 
Stelle  von  Heraclea  getreten,  so  vereinigten  sich  mehrere  Umstände,  um 
den  dortigen  Bischöfen  grössere  Ehre  zu  verschaffen,  vor  allem  das  An- 
sehen der  Kaiserlichen  Residenzstadt,  sodann  der  Umstand,  dass  immer- 
fort Bischöfe  aus  verschiedenen,  Theilen  des  Reiches  am  Hofe  verweilten, 
die  öfter,  unter  dem  Vorsitz  des  Bischofs  der  Residenzstadt  zu  einer  Sy- 
node {(TvvoSog  evdriiiovGa)  zusammentraten.  Daher  der  Einfluss  jenes  Bi- 
schofs weit  über  die  Dioecese  Thracien  hinaus  reichte.  Die  zweite  oeku- 
menische  Synode  vom  Jahre  381  bestätigte  im  zweiten  Kanon  dieses  Ver- 
hältniss, erhob  die  Diöcesansynode  über  die  Provincialsynode  zur  höchsten 
kirchlichen  Behörde  und  erkannte  dem  Bischof  von  Constantinopel  den 
ersten  Rang  nach  dem  Bischof  von  Rom  zu  und  zwar  mit  Rücksicht  auf 
die  politische  Bedeutung  der  neuen  Hauptstadt  des  Reiches  2). 

So  erscheinen  also  die  Bischöfe  von  Constantinopel,  Alexan- 
drien, Antiochien,  Ephesus  undCaesarea  —  nebst  demjenigen  von 
Rom  als  an  Rang  und  Macht  über  die  anderen  hervorragend;  sie  Messen 
Exarchen   (im   vierten  Jahrhundert  noch  Ehrentitel  aller  Metropoliten), 


1)  T«  nQxnttt  e^Tj  XQttTiiTco,  T«  fu  Aiyvnrao  xai  Aißvri  xcei  nevranoXsi,  uxSts 
joy  uiUlavSQfiag  eni(Sxonoy  navioyv  jovjoiv  «;^f*v  rriv  elovdiav'  (7i€i^rj  xai  rm 
(V  rrj  Ptofifi  entffxonat  tovto  (fvyii&eg  iCrtV.  ofioims  cTf  xara  rrjv  ^4vTioyjiav  xat 
ey  raig  aXXatg  fTzaQxtatg  x«   nQeCßfia  Coy^fG^at  ratg  exxXrjCicug. 

2)  Kanon  3.  rov  fjevroi  KovGxttyttvov  noXscog  (ntffxonoy  «/f»v  tot  ngeüßeicc 
rrji  rt/urjg  fifia  roy  rrjg  Pqyfirjg  enigxonoy,  dta  to  ftyat  avrrjy  yeay  Pw^rjy. 


350  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Patriarchen,  im  vierten  Jahrhundert  Ehrennahme  jedes  Bischofs,  Erz- 
bischöfe. Indess  ging  in  der  Zahl  und  Macht  der  Patriarchen  bald  eine 
Aenderung  vor.  Die  herrschsüclitigen  Bischöfe  von  Neu-Roin  machten 
Eingriffe  in  die  benachbarten  Dioecesen  Asien  und  Pontus  und  brachten 
es  dahin,  dass  das  Concil  von  Chalcedon  (Kanon- 28)  ihnen  völlig  gleichen 
Rang  mit  dem  Bischof  von  Rom  einräumte,  ihnen  die  Oberaufsicht  über  die 
Diöcesen  Thracien,  Asien  und  Pontus  übergab,  in  Folge  welcher  Bestimm- 
ung die  Patriarchen  von  Ephesus  und  Caesarea  von  ihrem  Range  zurück- 
traten. Zu  der  genannten  Erhebung  des  Stuhles  von  Constantinopel  hatte 
die  Politik  der  oströmischen  Kaiser  wesentlich  beigetragen.  Sowie  sie 
Neu-Rom  dem  Alt-Rom  (/tQegßvteQa  Pw/iiy)  völlig  gleichstellten,  so  wollten 
sie  auch,  dass  der  Bischof  von  Neu-Rom  dem  von  Alt-Rom  an  Rang  gleich- 
käme. Sie  fanden  in  den  Vätern  von  Chalcedon  willige  Vollstrecker 
ihres  Willens.  Im  betreffenden  Kanon  hoben  diese  sorgfältig  hervor,  dass 
die  älteren  Väter  dem  Bischof  von  Alt-Rom  desswegen  den  Vorrang  zuge- 
standen, weil  Rom  die  Hauptstadt  des  Reiches  war^),  und  dass  um  dersel- 
ben Ursache  willen  die  Bischöfe  dem  Bischof  von  Neu-Rom  dieselben  Vor- 
rechte 2)  ertheilten. 

Dem  Bischöfe  von  Jerusalem  war  es  indessen  gelungen ,  sich  zur 
Patriarchen  -  Würde  aufzuschwingen.  Das  Concil  von  Chalcedon  gab  ihm 
Palästina  als  kirchliches  Gebiet.  Also  bestanden  nun  mehr  vier  Patriar- 
chen im  Morgenlande,  die  von  Constantinopel,  Alexandrien,  Antiochien, 
Jerusalem.  Der  Umfang  ihrer  Macht  war  folgender:  Sie  ordinirten  die 
Metropoliten,  beriefen  die  Bischöfe  ihrer  Dioecesen  zu  einer  Diöcesansynode 
und  bildeten  in  Verbindung  mit  denselben  die  höchste  Appellationsinstanz 
in  kirchlichen  Sachen  der  Dioecese.  Als  die  höchsten  Repräsentanten  der 
katholischen  Kirche  angesehen,  galten  sie  dafür,  dass  sie  durch  ihre  Ge- 
meinschaft untereinander  die  Einheit  der  Kirche  darstellten  und  dass  ihre 
Beistimmung  erforderlich  sei,  um  Beschlüsse  für  die  ganze  Kirche  zu  fassen. 
Daher  für  sie  der  Titel  episcopus  universalis  erfunden  wurde ,  den  auf  der 
zweiten  Synode  von  Ephesus  ein  elender  Schmeichler  unter  den  Bischöfen 
dem  Dioskur,  doch  ohne  weiteren  Folgen,  beilegte.  Endlich  erhielt  der 
Bischof  von  Constantinopel  zu  Chalcedon  das  Vorrecht,  Appellationen  aus 
andern  Diöcesen  anzunehmen,  —  welcher  Gebrauch  seit  alter  Zeit  in  Rom 
stattfand;  deutlich  ist  das  Bestreben,  den  Stuhl  von  Neu-Rom  dem  von 
Alt-Rom  in  Allem  gleichzustellen.  Uebrigens  umfassten  diese  Patriarchen- 
Diöcesen  nicht  das  ganze  römische  Reich,  geschweige  denn  die  ganze  Chri- 
stenheit. 

§4.    D  er  Bischof  von  Rom. 

Indess  im  Morgenlande  verschiedene  kirchliche,  mehr  oder  weniger 
von  einander  unabhängige  Verbindungen  mit  monarchischer  Zuspitzung  ent- 
standen, neigte  sich  im  Abendlande  die  Entwicklung  der  Hierarchie  dahin, 


1)  Sia   To   ßaGtkfveiv  rrjv   noXiu  fxftvrju. 

2)  ra  tßa  ngtC^Bia, 


Kirchenverfassnng.    Der  BiscTiof  von  Rom.  351 

Einem  Bischof  den  Primat  über  alle  andern  zu  ertheilen,  doch  ohne  dass 
diess  eigentlich  durchgeführt  wurde. 

Die  römischen  Bischöfe  waren  von  Alters  her  ausgezeichnet  durch 
ihi'en  grossen  Metropolitensprengel  i),  durch  den  Reichthum  an  liegenden 
und  beweglichen  Gütern,  durch  das  politische  Ansehen  von  Rom,  sodann 
als  Inhaber  der  vorzüglichsten  und  im  Abendlande  einzigen  sedes  apostolica^ 
der  cathedra  Petri,  welche  letztere  Eigenschaft  besonders  im  Abendlande 
Ursache  der  Verehrung  gegen  Rom  war. 

Auf  dieser  Grundlage  wurde  nun  fortgebaut.  Zuerst  kommen  hier 
in  Betracht  Kaiserliche  Rescripte  und  Synodalbestimmungen.  Die  Synode 
von  Sardica  347  ertheilte  dem  römischen  Bischof  Julius  das  wichtige  Vor- 
recht, dass  der  von  einer  Synode  verurtheilte  Bischof  an  den  römischen 
Bischof  appelliren  dürfe,  (c.  3.)  Es  war  diess  eine  Wohlthat  für  diesen 
oder  jenen  Bischof,  wenn  er  im  Gewirre  der  theologischen  Streitigkeiten 
von  einer  Synode  ungerecht  behandelt  worden,  wie  denn  die  Bestimmung 
mit  Beziehung  auf  Athanasius  getroffen  wurde.  Zur  Appellationsinstanz 
eignete  sich  aber  im  Abendlande  Rom  am  besten.  Uebrigens  sollte  der 
römische  Bischof  die  Sache  einer  Commission  übertragen,  wobei  man  voraus- 
setzte ,  dass  er  ihre  Entscheidung  genehmigen  werde.  2)  Es  ist  aber  die 
Frage,  ob  diese  sardicensischen  Kanones  je  eigentlich  in  Wirksamkeit  traten. 
So  viel  ist  gewiss,  dass  die  afrikanische  Kirche  sie  nicht  als  rechtskräftig 
anerkannte.  Von  geringerer  Bedeutung  war  das  Rescript,  wodurch  Kaiser 
Gratian  378  dem  reimischen  Bischof  die  Entscheidung  über  alle  in  dem 
Kampfe  der  zwei  Bewerber  um  den  römischen  Stuhl  verflochtenen  Bischöfe 
(Damasus  und  Ursicinus)  übertrug,  wobei  er  ihm  auch  die  dazu  nö- 
thige  Unterstützung  der  weltlichen  Behörden  gewährte.  Ungleich  mehr 
erlangte  445  Leo  I.  von  dem  schwachen  Valentinian  III.,  dass  der  römische 
Bischof  als  Oberhaupt  der  ganzen  abendländischen  Kirche  aufgestellt  wurde, 
bei  Anlass  der  Streitigkeit  mit  Hilarius,  Bischof  von  Arelate,  tür  den  mehrere 
gallische  Bischöfe  Partei  ergriffen  hatten.  In  dem  desshalb  gemachten 
Gesetze  war  gesagt,  dass  Niemand  gegen  die  Autorität  des  römischen 
Stuhles  etwas  unternehmen  dürfe;  denn  dann  erst  werde  der  Friede  der 
Kirche  überall  erhalten  werden,  wenn  die  Gesammtheit  der  Kirche  ihren 
Beherrscher  anerkenne  ^).  Weiterhin  sagte  der  Kaiser  :  damit  auch  nicht  die 
geringste  Unruhe  unter  den  verschiedenen  Kirchen  entstehe,  soll  es  den 
Bischöfen  Galliens  sowohl  als  der  anderen  Provinzen  nicht  erlaubt  sein,  et- 
was gegen  die  Autorität  des  ehrwürdigen  Bischofes  der  ewigen  Stadt  zu 
versuchen;  wenn  ein  Bischof,  aufgefordert,  sich  vor  den  Richterstuhl  des 
'römischen  Bischofs  zu  stellen,    dieser  Aufforderung  nicht  gehorcht,  soll  er 


1)  Er  umfasste  die  subnrbicarischen  Provinzen,  zehn  an  der  Zahl,  die  dioecesis 
Eomae  umfassend,  d.  h.  einen  grossen  Theil  von  Italien,  dazu  Sicilien,  Sardinien  und  Cor- 
sica.  S.  Gieseler  II.  194. 

2)  Die  Sache  war  nicht  ganz  neu,  aber  zur  Zeit  der  Synode  von  Sardica  bestritten,  da- 
her sie  die  bestimmteDefinition  davon  gab.  Ebenso  wenig  kann  behauptet  werden,  dass  die- 
ses Vorrecht  bloss  dem  Bischof  Julius  für  seine  Person  gegeben  ist.  S.  Hefele  I.  548.  549. 

3)  Tum  enim  demum  ecclesiarum  pax  ubique  servabitur,  si  rectorem  suum  agnoscat 
nniversitas. 


352  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

dazu  gezwungen  werden ,  wobei  alles  das  aufrecht  gehalten  werden  soll, ' 
was  unsere  göttlichen  Vorfahren  der  römischen  Kirche  gewährt  haben. 
Dieses  Gesetz  war  den  Ansprüchen  des  römischen  Bischofs  so  günstig,  dass 
einige  damals  vermutheten,  der  Entwurf  dazu  sei  aus  der  Feder  Leo's 
geflossen.  Auffallend  aber  ist  es,  dass  Hilarius  von  Arelate,  dessen  Wider- 
spenstigkeit gegen  Rom  jenes  Gesetz  veranlasst  hatte,  in  ungeschmälertem 
Besitze  seiner  Rechte  blieb.  Auf  dem  Concile  von  Chalcedon  benahmen 
sich  die  römischen  Legaten  in  Gemässheit  dessen,  was  im  Gesetze  Valen- 
tinian'sIII.  gesagt  war,  als  Gesandte  des  apostolischen  Mannes,  des  Pabstes 
der  Stadt  Rom,  welche  das  Haupt  aller  Kirchen  ist;  sie  verlangten,  — 
übrigens  ein  wohl  berechtigtes  Verlangen,  —  dass  Dioskur  auf  dem  Con- 
cil  keinen  Sitz  erhalte,  mit  der  beigefügten  Drohung :  entweder  soll  Dioskur 
fortgehen,  oder  sie  würden  sich  entfernen*),  wurden  aber  von  den  kaiserlichen 
Commissären,  welche  die  Versammlung  eigentlich  präsidirten,  zurückgewiesen, 
da  sie  nicht  Richter  und  Ankläger  zugleich  sein  könnten.  So  behielt  Dioskui* 
seinen  Sitz,  bis  er  abgesetzt  wurde,  und  die  Legaten  fügten  sich.  Mit. 
einer  anderen  Forderung  ging  es  ihnen  auch  nicht  nach  Wunsch.  Als  näm- 
lich ,  wie  wir  gesehen ,  das  Concil  die  völlige  Gleichstellung  der  beiden 
Patriarchen  von  Rom  und  Constantinopel  aussprach,  widersetzten  sich  die 
römischen  Abgeordneten.  Sie  beriefen  sich  auf  den  Zusatz,  den  man  in 
Rom  zum  sechsten  Kanon  der  Synode  von  Nicäa  gemacht  hatte:  ecclesia 
Romana  semper  habuit  primatum,  eingeschwärzt  in  den  ältesten 
Codex  von  Kanonen  der  römischen  Kirche  als  Ueberschrift  jenes  sechsten 
Kanon.  Die  Synode  Hess  ihnen  diesen  Kanon  in  seiner  ursprünglichen  Ge- 
stalt vorlesen,  wonach  nur  die  alten  Metropolitanrechte  des  Bischofs 
von  Rom  anerkannt  waren.  Die  römischen  Abgeordneten  protestirten  gegen 
jene  Gleichstellung  im  Namen  Leo's  und  verliessen^  als  diese  Protestation 
nicht  beachtet  wurde,  die  Synode.  Leo  fuhr  fort,  zu  protestiren  in  Briefen 
an  den  Kaiser,  die  Kaiserin  und  den  Bischof  Anatolius  von  Constantinopel. 
Dieser  musste  ein  demüthiges  Schreiben  an  Leo  erlassen;  allein  die  Be- 
schlüsse von  Chalcedon  blieben  rechtskräftig,  und  so  begann  der  noch 
dauernde  Kampf  zwischen  den  hierarchischen  Ansprüchen  der  beiden  Pa-, 
triarchen  von  Alt-  und  Neu-Rom.  i 

Neuen  Zuwachs  hatte  schon  seit  geraumer  Zeit  das  Ansehen  des  rö- 
mischen Bischofs  erhalten  [durch  die  mehr  und  mehr  überhand  nehmende 
Sitte,  streitige  Fragen  über  apostolische  Lehre  und  Sitte  demselben  vor- 
zulegen, —  sowie  man  gewohnt  war,  in  zweifelhaften  bürgerlichen  Rechtsfällen 
das  Gewohnheitsrecht  der  Stadt  Rom  als  Norm  zu  betrachten.  So 
entstanden  die  epistolae  decretales,  wovon  die  erste  vom  Jahre  385,, 
der  Ausdruck  selbst  ist  vom  Jahre  500;  diese  Episteln  nahmen  bald  den 
Ton  apostolischer  Verordnungen  an.  Die  theologischen  Streitigkeiten  mehrten 
auch  das  Ansehen  des  römischen  Bischofs.  In  den  arianischen  Streitig- 
keiten trug,  wie  wir  gesehen,  die  abendländische  Stabilität  über  den 
schwankenden  Orient  den  Sieg  davon.  Die  Parteien  des  Morgenlandes 
suchten  die  Stimme  des  römischen  Bischofes  zu  gewinnen  und  Hessen  sich. 


1)  ant  nie  egrediatur,  ant  nos  eximus. 


KirchenverfassuDg.    Der  Bischof  von  Rom.  853 

zu  diesem  Behufe  manches  herrische  Wort  von  Rom  gefallen  und  huldigten 
ihm  auf  eine  Weise,  die  mit  den  sonstigen  im  Orient  verbreiteten  Anschau- 
ungen nicht  ganz  harmonirte,  obschon  der  Orient  auch  wieder  den  römi- 
schen Ansprüchen  Einhalt  zu  thun  verstand,  wie  wir  gesehen  haben. 

Man  hat  gesagt,  dass  das  Geheimniss  des  allmählichen  Fortschreitens 
einer  von  den  Hauptgründen  ist,    denen  das  Pabstthum  seine  Ausbildung 
verdankt.    In  Leo  aber  ist  dieses  Geheimniss   zur  Thatsache  der  Weltge- 
schichte geworden,  so  dass  mit  ihm  das  eigentliche  Pabstthum  anhebt,  zunächst 
so,  dass  es  in  der  Seele  dieses  römischen  Hierarchen  zum  klaren  Bewusstsein 
von  sich  selbst  gelangte.    Den  Primat  des  Bischofs  von  Rom  begründet  er 
durch  das  Verhältniss  Petri  zu  Christo,  den  Petrus  selbst  setzte  er  in  das 
innigste  Verhältniss  zu  Christo;   die  Gemeinschaft  untheilbarer  Einheit,  in 
die  der  Herr  Petrus  aufgenommen,  gründet  sich  auf  das  gute  Bekenntniss, 
das  Petrus  zuerst  ablegte.    Die  persönliche  Gemeinschaft  sollte  sich  aber 
zu  einer  Gemeinschaft  der  Kraftfülle    ausdehnen.    Zu  den  Aposteln   ver- 
hielt sich  Petrus  so,  dass  er  nicht  nur  alles  das  ist,  was  sie,  sondern  auch 
vieles  allein   hat.    Wie  Petrus  das  Haupt  aller  Apostel  ist,    so  sind  alle 
nur  i  n  i  h  m  mit  ihrem  Amte  betraut,  alle  in  ihm  gerettet ;  darum  wird  er 
vom  Herrn  in  besondere  Fürsorge  genommen.  Wegen  dieser  innigen  Gemein- 
schaft Petri  mit  Christo  dauert  sein  Primat  fort  —  in  den  Nachfolgern  des 
Petrus;   denn  diese  verhalten  sich  zu  Petrus,  wie  dieser  zu  Christus;   wie 
Christus  in  Petrus,  so  ist  dieser  in  seinen  Nachfolgern.  Warum  aber  sollen 
gerade  die  römischen  Bischöfe  Nachfolger  Petri  sein?  Hier  gehen  Leo  die 
dogmatischen  Beweise  bald  aus.    Nachdem  er    erwähnt,    dass  Rom    durch 
das  Maertyrerthum  der  beiden  grössten  Apostel  verherrlicht  worden,  dass 
vermöge  einer  besonderen  Leitung  der  göttlichen  Vorsehung  Petrus   nach 
Rom  gekommen   und  mit  und  in  ihm  Rom   zum  Centrum  der  christlichen 
Welt  bestimmt  war,  hebt  er  hervor,  dass  nur  der  Mittelpunkt  des  Reiches 
der  Mittelpunkt  und  die  Mutterstadt    der    neuen  Welt    des  Christenthums 
werden  konnte.  Viele  Reiche  wurden  unter  einer  Herrschaft  vereinigt,  da- 
mit die  Verkündigung  des  Evangeliums  um  so  leichter  zu  den  verschiedenen 
Völkern  gelangen  könnte.    Zugleich  hebt  Leo  hervor,   dass  Rom  die  prie- 
sterliche Stadt,  das  Haupt  der  Welt  geworden,  eine  grössere  Macht  erlangte, 
als  es  jemals  durch  seine  weltliche  Herrschaft  besessen   hatte.    Demnach 
gestaltet  sich  nun  Leo  das  Verhältniss  des  römischen  Bischofes  zu  den  ein- 
zelnen Bischöfen  so:    sie  haben  zwar   alle  die  gleiche  Würde  aber  nicht 
die  gleiche  Macht.    Es  ist  ein  Grundgesetz    der  Kirche,    dass   nicht  Alle 
Alles  auf  gleiche  Weise  beanspruchen  dürfen,   sondern  dass   in  jeder  Pro- 
vinz einer  sei,  der  die  erste  Stimme  unter  seinen  Brüdern  hat  und  wiederum 
in  den  grösseren  Städten  einige  eine  ausgedehntere  Besorgung  übernehmen, 
durch  welche  die  Sorge  für  die  allgemeine  Kirche  in  dem  einen  Stuhl  Petri 
sich  concentriren  und  nichts  von  seinem  Haupte  sich  trennen  sollte.  Darum 
sagt  er  anderswo,  (ep.  10)  wer  dem  Petrus  den  Primat   abspricht,   kann 
zwar  dessen  Würdigkeit  keineswegs  verringern,  sondern  aufgeblasen  durch 
den  Geist  des  Hochmuths  stürzt  er  sich  selbst  in  die  Hölle.    Doch  hütet 
sich  Leo,  die   letzten  Consequenzen  dieser  Theorie    in  Beziehung    auf  die 
Unterordnung  der  weltlichen  Gewalt  unter  die  geistliche  zu  ziehen,  wie  denn 

Herzog,  Kirchengeschichte  I.  23 


354  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

selbst  das  genannte  Gesetz  Valentinian  III.  das  Bewusstsein  verräth,  dassüber 
den  Primat  und  diesen  selbst  haltend  der  Kaiser  gesetzt  sei.  Leo  brauchte 
zu  sehr  die  kaiserliche  Gewalt  zur  Erreichung  seiner  Zwecke,  als  dass  er 
es  mit  ihr  hätte  verderben  mögen. 

Ueberhaupt  ist  keine  Kede  davon,  dass  die  Anschauungen  und  Ansprüche 
Leo's,  die  übrigens  mehr  oder  weniger  schon  in  den  andern  römischen 
Bischöfen  dieser  Periode  sich  geregt  hatten ,  bereits  verwirklicht  wurden. 
Es  war  schon  um  deswillen  unmöglich,  weil  so  viele  andere  Kirchen  un- 
abhängig von  Rom  entstanden  waren  und  ihre  eigene  geschichtliche  Ver- 
gangenheit hatten.  Doch  nicht  nur  die  morgenländischen  Kirchen  bildeten  in 
dieser  Beziehung  einen  Damm  gegen  die  römische  Suprematie,  sondern 
auch  einige  Theile  des  Abendlandes.  So  übte  in  der  Diöcesis  Italien  mit 
der  Hauptstadt  Mailand  der  Bischof  dieser  Stadt  so  viel  wie  Patriarchal- 
rechte,  und  es  erhielt  sich  in  der  mailändischen  Kirche,  genährt  und 
befestigt  durch  Ambrosius,  das  Bewusstsein  einer  gewissen  Freiheit  von 
Rom.  Ebenso  bewahrte  der  Bischof  von  Ravenna,  seitdem  Honorius  vor 
den  Gothen  fliehend  seine  Residenz  403  in  diese  Stadt  verlegt  hatte,  eine 
gewisse  Unabhängigkeit  von  Rom.  In  dieser  Periode  zeigte  besonders  die 
africanische  Kirche  einen  Geist  der  Unabhängigkeit.  Wie  sie  in  der  pela- 
gianischen  Streitigkeit  dem  Bischof  Zosimus  widerstand,  so  dass  dieser  zu- 
letzt sich  das  Urtheil  der  Africaner  über  die  Pelagianer  aneignete,  haben 
wir  früher  gesehen.  Als  derselbe  Bischof  Zosimus  der  africanischen  Kirche 
befahl,  einen  in  Africa  durch  die  Synode  abgesetzten  Presbyter,  Apiarius, 
der  nach  Rom  appellirt  hatte ,  in  sein  Amt  wieder  einzusetzen ,  sich  auf 
die  Beschlüsse  von  Sardica  berufend,  die  er  für  nicänische  ausgegeben, 
da  erwiderten  die  Africaner  (419)  im  Schreiben  an  Bonifacius  I.  (da  Zosimus 
unterdessen  gestorben),  jene  Kanones  seien  keine  nicänischen  i),  und  er- 
mahnten ihn,  mit  Weisheit  und  Gerechtigkeit  gegen  sie  zu  verfahren.  Als 
Bischof  Cölestinus  (423 — 432)  die  Wiedereinsetzung  des  zweimal  abgesetzten 
Apiarius  in  sein  Amt  befahl,  verbaten  sich  die  Africaner  auf  das  nach- 
drücklichste solche  Einmischung  und  verboten  sogar  bei  Strafe  der  Excom- 
munication  alle  Appellationen  an  entfernte  Bischöfe.  Dem  Bischof  Cölestin 
führten  sie  insbesondere  zu  Gemüthe ,  man  könne  doch  nicht  annehmen, 
dass  Gott  einem  einzigen  die  Gnade  des  gerechten  Urtheils  verliehen  habe, 
indess  er  sie  der  Menge  der  auf  einer  Synode  versammelten  Bischöfe  ver- 
weigere. Es  trat  aber  in  Beziehung  auf  die  africanische  Kirche  eine  jener 
providentiellen  Fügungen  ein,  wie  wir  sie  öfter  in  dem  Pabstthum  walir- 
nehmen.  Die  africanische  Kirche,  in  welcher  sich  der  kirchliche  Unab- 
hängigkeitsgeist am  kräftigsten  geregt  hatte,  wurde  damals  von  den  Vandalen 
verheert.  Zu  ihrer  Wiederherstellung  Hess  sie  nun  Leo  als  Patriarchen  unum- 
schränkt walten.  —  Die  römischen  Bischöfe,  besonders  Leo,  bemühten  sich, 
auch  das  oberste  Glied  in  der  hierarchischen  Entwicklung,  die  ökumenischen 
Synoden  in  ihre  Gewalt  zu  bringen ;  denn  allerdings,  wenn  beides  zusammen- 
wuchs, das  Pabstthum  und  das  allgemeine  Concil,   dann  war  der  römische 


1)  Die  Verwechslung  kam  daher,    dass  in  den  damaligen  Kanonensaramlungen   den 
nicänischen  Kanones  die  dieser  späteren  Synode  ohne  Unterscheidung  angehängt  waren. 


Kirchenzucht.  855 

Katholicismus  auf  die  höchste  Spitze  getrieben.     Wie  wenig  diess  gelang, 
haben  wir  oben  dargelegt. 

Die  Autorität  des  Apostels  Petrus  war  im  allgemeinen  Bewusstsein 
der  Zeit  durchaus  nicht  das,  was  die  römischen  Bischöfe  daraus  machten. 
Die  angesehensten  Kirchenlehrer  verstanden  das  Wort  Fels  (Matth.  16,  18) 
vom  Bekenntniss  des  Petrus  oder  von  Christus  selbst,  höchst  selten  von 
der  Person  Petri,  (was  doch  die  allein  richtige  Erklärung  ist),  lieber  das 
Amt  der  Schlüssel  (Matth.  16, 19)  wurde  die  Ansicht  Cypri  an 's  festgehalten, 
dass  Petrus  die  Eine  katholische  Kirche  vorstellt,  welche  die  Schlüssel 
empfängt.  So  Augustin,  sich  berufend  auf  Joh.  20,  23,  wo  allen  Apo- 
steln die  Schlüssel  übertragen  werden.  Daher  galten  alle  Bischöfe  als  Nach- 
folger Petri.  Der  Herr,  sagte  Augustin,  hat  uns  seine  Schafe  anvertraut, 
weil  er  sie  dem  Petrus  anvertraute.  Daher  wurden  mehrere  Apostel 
dem  Petrus  an  Würde  gleichgestellt.  August  in  lehrt,  dass  Paulus  nicht  ge- 
ringer als  Petrus  sei,  obschon  dieser  das  Fundament  der  Kirche  sei.  Hier  o- 
nymus  nennt  Petrus  und  Andreas  Fürsten  (principes)  der  Apostel.  Andere 
stellten  Johannes,  noch  andere  Jacobus  dem  Petrus  gleich.  Wo  irgend  ein  Bi- 
schof ist,  lehrt  Hieronymus,  so  hat  er  dasselbe  Priesterthum  wie  Petrus. 
Indem  aber  bei  diesen  freieren,  ja  allein  richtigen  Ansichten  doch  die  Wurzel 
des  Irrthums  blieb,  dass  der  römische  Bischof  Nachfolger  des  Petrus  sei  in  dnem 
eminenteren  Sinne  als  die  anderen  Bischöfe,  war  den  Ansprüchen  desselben  kein 
genügend  starker  Damm  entgegengesetzt,  besonders  dann  nicht,  wenn  ein 
Hierarch  gleich  wie  Leo  I.  mit  kühner  Consequenz  die  aus  jenem  Irrthum 
sich  ergebenden  Folgerungen  zog.  Das  zeigte  sich  besonders  auch  darin, 
dass  Leo  sich  den  griechischen  Gesichtspunkt  aneignete,  wonach  die  kirch- 
liche Autorität  Roms  von  der  politischen  Wichtigkeit  und  Herrlichkeit  der 
Stadt  abgeleitet  wurde,  wogegen  noch  Innocentius  L  c.  415  im  Schreiben 
an  Bischof  Alexander  von  Antiochien  entschieden  protestirt  hatte;  diesen 
Gesichtspunkt  verschmolz  Leo  mit  dem  im  Abendlande  herrschenden  kirch- 
lichen. Damit  war  die  Verquickung  des  katholischen  Kirchenprincipes  durch 
den  politischen  Gesichtspunkt  angebahnt  und  der  Grund  gelegt  zu  einer 
fortgehenden  Reproduction  der  altrömischen  Herrschaft  innerhalb  der  ka- 
tholischen Kirche.    (S.  über  das  Ganze  Leo's  Episteln  und  Perthel  a.  a.  0.). 

§.  5.    Kirchenzucht. 

Die  ganz  am  Ende  der  letzten  Periode  festgesetzten  Strafen  der  Busse 
für  öffentliche,  grobe  Sünden  wurden  festgehalten  und  mit  der  complicir- 
teren  Einrichtung  der  Kirchengebäude  in  Verbindung  gebracht.  Für  ge- 
ringere Vergehungen  wurde  auch  Kirchenbusse  verordnet,  und  die  ver- 
schiedenen Synoden  gaben  über  dieselben  weitläufige  Bestimmungen.  In 
den  grösseren  Städten  des  Morgenlandes  war  ein  eigener  Priester  dafür 
bestellt,  die  Beichte  der  Abendmahlsgenossen  zu  vernehmen  und  ihnen  eine 
angemessene  Busse  aufzuerlegen.  Da  aber  auf  diese  Weise  die  Sünde 
eines  Geistlichen  war  verrathen  worden,  schaffte  Nektarius,  Bischof  von 
Constantinopel,  390  diesen  Gebrauch  ab.  (Sokrates  5,  19).  Eine  besondere 
Wichtigkeit  erhielt  die  Kirchenzucht  seit   der  vollzogenen  Verbindung  der 

23  * 


356  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Kirche  mit  dem  Staate,  da  die  Geistlichen  mit  dem  Rechte  bekleidet  wur- 
den, die  Kirchenzucht  auch  auf  obrigkeitliche  Personen  bis  zu  den  höchsten 
hinauf  auszudehnen.  Ein  stolzes,  hierarchisches  Bewusstsein  gibt  in  dieser 
Beziehung  Gregor  von  Nazianz  kund  (17.  oratio),  wo  er  die  Machthaber 
also  anredet:  ^Christi  Gesetz  unterwirft  euch  meiner  Gewalt.  Oder  soll 
der  Geist  dem  Fleische  dienen  und  das  Himmlische  dem  Irdischen?'^  Ver- 
möge seiner  göttlichen  Vollmacht  schloss  Athanasius  den  Statthalter  von 
Libyen  von  der  Kirchengemeinschaft  aus,  Synesius  den  Präfecten  Andro- 
nicus.  Besonderes  Aufsehen  erregte  das  Benehmen  des  Ambrosius,  Bischofs 
von  Mailand,  gegen  Kaiser  Theodosius  I.  Im  Zorne  über  einen  in  Thessa- 
lonich ausgebrochenen  Aufruhr  hatte  dieser  im  Jahr  390  viele  Unschuldige  der 
Wuth  der  Soldaten  preisgegeben  i).  Der  Kaiser  war  bald  darauf  nach  Mai- 
land gekommen,  Ambrosius  hatte  sich  unter  dem  Vorwande  einer  Krankheit 
zurückgezogen,  er  mied  die  persönliche  Zusammenkunft  mit  dem  Kaiser. 
Dagegen,  als  er  erfahren,  dass  der  Kaiser  Willens  sei,  in  der  Kirche  zu 
erscheinen  und  seine  Gabe  zum  Opfer  darzubringen  und  selbst  das  Abend- 
mahl zu  gemessen,  schrieb  er  ihm  einen  Brief,  worin  er  ihm  die  Grösse 
der  begangenen  Sünde  vorstellte.  „Du  kannst,  sagte  er,  diese  Sünde  aus- 
löschen, indem  du  deine  Seele  vor  Gott  demüthigst.  Die  Sünde  lässt  sich 
nur  durch  Thränen  und  Busse  auslöschen.  Weder  Engel  noch  Erzengel 
vermögen  es;  allein  der  Herr  kann  es,  aber  auch  Gott  kann  es  nur  unter 
Bedingung  einer  kräftigen  Busse.  Füge  nicht  zu  deiner  Sünde  eine  neue 
Sünde  hinzu,  dir  das  anzumassen,  was  Vielen  zum  Verderben  gereicht.  Ich 
wage  nicht,  das  Opfer  darzubringen  in  deiner  Gegenwart.  Gott  will  lieber 
Gehorsam  als  Opfer."  Theodosius  durch  diesen  Brief  erschüttert,  unter- 
warf sich  der  öffentlichen  Kirchenbusse,  nachdem  er  seinen  kaiserlichen 
Schmuck  abgelegt  und  beweinte  öflfentlich  in  der  Kirche  seine  Sünde,  bat 
um  Vergebung,  wie  Ambrosius  selbst  berichtet  in  der  Leichenrede  auf  den 
Kaiser.  Das  ist  der  wahre  Hergang  der  Sache,  der  in  dem  Berichte  von 
Sozomenus  7,  25.  Theodoret  5,  17  und  Anderen  erweitert  und  ausge- 
schmückt worden  ist,  als  ob  Theodosius  den  Zugang  zur  Kirche  habe 
ertrotzen  wollen  und  von  Ambrosius  zurückgehalten  worden  sei  2j.  Das  ist 
richtig  in  diesen  erweiterten  Berichten,  dass  der  Kaiser  darauf  das  allge- 
meine Gesetz  erliess,  wonach  künftig  jedes  Strafurtheil  erst  30  Tage  nach 
seiner  Veröffentlichung  sollte  vollzogen  werden. 

Wenn  in  diesem  Falle  sowie  in  anderen  Fällen  die  Kirchenzucht  ge- 
genüber dem  Staate  wohlthätig  wirkte  zur  Aufrechthaltung  der  Gesetze 
der  Gerechtigkeit  und  der  Anforderungen  der  Humanität,  so  gerieth  sie 
dagegen  auf  einen  verhängnissvollen  Abweg,  indem  sie  die  materielle  Hülfe 
des  Staates  in  Anspruch  nahm,  um  die  Schismatiker  und  Häretiker  mit 
Gewalt  in  ihren  Schooss  zu  treiben.  Augustin  hegte  im  Anfang  seiner 
christlichen   Laufbahn   die    geläuterten  Ansichten,    welche  Tertullian   und 


1)  Nach  Theodoret  5 ,  19.  7000. 

2)  Dagegen  wissen  jene  Berichterstatter  nichts  vom  Briefe  des  Ambrosius  an  den 
Kaiser  und  lassen  jenen  mündlich  dem  Kaiser  ungefähr  dasselbe  sagen,  was  er  ihm  im 
Briefe  sagt.  —    S.  Neander  2,  1.  385. 


Die  donatistische  Kirchenspaltung.  357 

Lactanz  (S.  74)  ausgesprochen.    Im  Verlaufe  des  Kampfes  mit  den  Donatisten 
zumal  gab   er  sie  auf  und  es  wurde  seinem  Scharfsinne  nicht  zu  schwer, 
allerlei  Argumente  dafür  anzuführen.     Zwar   leugnete  er  nicht,   dass  der 
Glaube  nicht  durch  äusserliche  Mittel  in  die  Seele  gebracht  werden  könne. 
Allein  er  meinte,   der  Mensch  könne  durch  äusserliche  Mittel,  durch  Lei- 
den und  Anfechtung  für  Glaube  und  Bekehrung   vorbereitet  werden.     Er 
berief  sich  dabei  auf  das  Beispiel  des   himmlischen   so   wie   des    irdischen 
Vaters,  der  den  Sohn  züchtigt  zu  dessen  Besten.    Da  nun  der  Staat  befugt 
ist,  durch  Strafen  die  äusserlichen  Ausbrüche  des  Bösen  zu  unterdrücken, 
so  auch    die  in  Betreff  der  Häresie   und  des  Schisma.      Spaltungen   und 
Secten  leite  Paulus  Gal.  5,  19  aus  derselben  Quelle  ab,   wie  die  anderen 
Sünden,  und  wenn  er  die  einen  zu  strafen  berechtigt  sei,  so  dürfe  er  auch 
die  anderen  bestrafen.     Er  führte  Christus  als  Vorbild  an,   der  ja  auch 
Gewalt  anwendete,  als  er  die  Wechslertische  umwarf  und  Käufer  und  Ver- 
käufer aus  dem  Tempel  hinausjagte.    Er  berief  sich  auf  Lucas  14,  23  coge 
intrare;  diejenigen,  sagt  er,   welche  an  den  Wegen  und  Zäunen,    d.  h.  in 
Häresieen  und  Schismen  aufgefunden  werden,    die  werden  gezwungen  ein- 
zutreten, —  diese  seitdem  geltende  katholische  Theorie  wurde  zur  Recht- 
fertigung der  Inquisition,  der  Dragonnaden  und  anderer  Gewaltmassregeln 
verwendet.    Augustin  beruft  sich  insbesondere  darauf,  dass  Manche  Gott 
danken,   dass  sie  durch  Zwang  aus  der  Gewohnheit  aufgerüttelt  worden, 
dass  sie   durch  Schrecken  zu  der  Wahrheit  gekommen  sind.     Ueberhaupt 
meint  er,  dass  die  durch  Gewalt  in  die  Kirche  Zurückgeführten  wenigstens 
die  äussere  Bedingung   der  Seligkeit,   den  Frieden  mit  der  Kirche  haben; 
darin  zeigt  sich  selbst  bei  einem  Augustin  die  Veräusserlichung  des  Kirchen- 
begriffes und   die  verderbliche  Wirkung  des  nicht  überwundenen  gesetz- 
lichen Standpunktes  in  Sachen  des  Heiles. 

§.  6.    Die  Kirchenspaltungen. 

Die  Entwicklung  der  Hierarchie,  die  Verschiedenheiten  im  Begriff 
von  der  Kirche,  die  verschiedenen  Grundsätze  über  Kirchenzucht  gaben 
wie  in  der  früheren  Periode  Anlass  zu  Spaltungen. 

Die  donatistische  Kirchenspaltung, 
deren  Anfänge  bereits  am  Ende  der  letzten  Periode  hervortreten,   ist  die 
wichtigste,   den  Grundsätzen   und  Tendenzen   nach   eine  Fortsetzung   der 
novatianischen  auf  africanischem  Boden ,  und  der  Ausbruch  derselben  wurde 
durch  die  Nachwirkungen  der  diocletianischen  Verfolgung  herbeigeführt. 

Es  gab  damals,  wie  wir  gesehen,  eine  neue  Art  von  Abgefallenen, 
traditores,  welche  die  heiligen  Schriften  den  heidnischen  Behörden  aus- 
lieferten.. Es  gab  schon  von  Alters  her  in  Beziehung  auf  den  Märtyrertod 
eine  besonnene  und  eine  schwärmerische  Partei;  diese  drängte  in  fana- 
tischem Geiste  zum  Märtyrertode,  oft  aus  unlautern  Absichten,  wohl  auch 
der  Schulden  halber  und  dergleichen.  Solche  verwarfen  auch  die  Flucht 
in  der  Verfolgung  so  wie  alle  unschuldigen  Ausflüchte,  um  sich  derselben 
i2u  entziehen.  In  diese  zwei  Parteien  theilte  sich  Carthago  und  die  nord- 
africanische  Kirche.     An   der  Spitze  der  besonnenen  Partei  stand  in  Gar- 


358  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

thago  der  Bischof  Men SU rius  und  sein  Archidiakon  Caecilianus.  Beide 
widersetzten  sich  der  Märtyrerthums  -  Schwärmerei  und  wollten  es  nicht 
haben,  dass  Alle,  welche  sich  selbst  als  Christen  den  heidnischen  Behörden 
auslieferten,  ohne  weiteres  als  Märtyrer  angesehen  würden,  eben  so  wenig, 
dass  die  Christen  sich  schaarenweise  in  die  Kerker  drängten,  um  die 
gefangenen  Christen  zu  besuchen.  Mensurius  trug  dem  Caecilianus  auf, 
Massregeln  dagegen  zu  treffen.  Ueberhaupt  hielt  er  es  für  seine  Pflicht, 
für  die  Erhaltung  des  Lebens  der  Christen  Alles  zu  thun,  was  ohne  Ver- 
läugnung  des  Glaubens  geschehen  konnte.  So  Hess  er  aus  einer  Kirche, 
die  durchsucht  werden  sollte,  alle  Exemplare  der  Bibel  wegnehmen  und 
in  Sicherheit  bringen,  und  an  die  Stelle  derselben  häretische  Schriften 
hinlegen,  welche  die  Heiden  als  heilige  Schriften  ansahen,  mit  deren 
Wegschaffung  sie  sich  begnügten.  Dadurch  entstand  eine  Spannung  zwischen 
jenen  beiden  Männern  und  der  fanatischen  Partei:  Jenes  Vorgeben,  dass 
blos  Schriften  der  Häretiker  ausgeliefert  worden,  sei  eine  Erdichtung,  um 
sich  zu  entschuldigen;  und  wenn  es  auch  Grund  habe,  so  sei  es  jedenfalls 
eine  Lüge  und  desshalb  verwerflich.  Mensurius  habe  CaeciHan  gewaltsame 
Massregeln  ergreifen  lassen,  um  die  Gläubigen  vom  Besuche  der  gefange- 
nen Brüder  abzuhalten."  Ob  Caecilian  bisweilen  zu  rasch  und  zu  scho- 
nungslos verfahren,  lässt  sich  nicht  mehr  ermitteln.  So  viel  ist  gewiss, 
dass  Kepressivmassregeln  nothwendig  geworden.  Die  schwärmerische  Par- 
tei in  Carthago  wurde  begünstigt  durch  den  damaligen  Primas  von  Numi- 
dien,  Bischof  See  und us  von  Tigisis,  der  sich  erlaubte,  dem  Bischof 
Mensurius  Vorwürfe  über  sein  Benehmen  zu  machen. 

So  standen  die  Sachen,  als  im  Jahre  311  Mensurius  starb.  Der  Ge- 
wohnheit gemäss  sollte  sein  Archidiakon  ihm  im  Amte  nachfolgen.  Allein 
die  fanatische  Partei  stand  ihm  entgegen;  in  derselben  hatte  grossen  Ein- 
fluss  eine  reiche,  frömmelnde  Wittwe,  Lucilla.  Sie  legte  auf  irgendwoher 
erhaltene  heilige  Knochen  grossen  Werth,  und  nahm  in  der  Kirche  nicht 
eher  die  Communion,  als  bis  sie  die  mitgebrachte  Reliquie  geküsst  hatte. 
Caecilian  verwies  ihr  diesen  abergläubigen  Gebrauch  und  drohte  mit  Kir- 
chenstrafen. Unterdessen  sollte  die  Wahl  des  neuen  Bischofs  vorgenom- 
men werden;  derselben  sollten,  der  Gewohnheit  gemäss,  einige  Provincial- 
bischöfe  beiwohnen.  Nun  aber  hegte  die  Partei  Caecilian's  die  Besorgniss, 
dass  diese  sich  der  Wahl  desselben  widersetzen  möchten.  Wenn  die 
Wahl  einmal  vollzogen  war,  blieb  sie  gültig;  aber  die  Assistenz  der  Pro- 
vincialbischöfe  war  nicht  gesetzlich  geboten.  Zufolge  dieser  Berechnung 
wurde  die  Wahl  Caecilianus  beschleunigt;  ein  benachbarter  Bischof,  Felix 
von  Aptunga,  ertheilte  ihm  die  Ordination.  Aber  alsobald  erklärten  sich 
die  Gemeindeältesten  in  Carthago  sowie  Lucilla  gegen  ihn.  Darauf  kam 
Secundus  mit  einigen  anderen  Bischöfen  nach  Carthago  und  erklärte  die 
geschehene  Wahl  und  Ordination  als  ungültig,  mit  dem  Vorgeben,  Bischof 
Felix  sei  ein  traditor.  Vergebens  erbot  sich  Caecilian,  sich  aufs  neue 
ordiniren  zu  lassen.  Ein  Günstling  der  Lucilla,  der  Lector  Majorinus 
wurde  durch  die  numidischen  Bischöfe  gewählt  und  Caecilian,  weil  von 
einem  Traditor  ordinirt,    auf  einer  Synode  von  siebenzig  numidischen  Bi- 


'O 


Die  donatistische  Kirchenspaltung.  359 

schöfen  aus  der  Gemeinschaft  der  Kirche  ausgestossen.    So  war  die  Spalt- 
ung vollzogen. 

Beide  Parteien  suchten  auswärts  Anerkennung,  aber  Caecilian  wurde 
sie  mehr  zu  Theil,    als  den  Gegnern,   die    sich  nun  Partei  des  Majorinus 
nannten  und  deren  Seele  eine  Zeitlang  Donatus,   Bischof  von  Casae 
nigrae,  war;  sie  zählten  denn  doch  besonders  in  Africa  viele  Anhänger.   Sie 
wendeten  sich  an  Constantin  und  gaben  damit  ein  verhängnissvolles  Beispiel. 
Der  Kaiser  beauftragte  Bischof  Melchiades  (Miltiades)  von  Rom  nebst  drei 
gallischen  Bischöfen    (313),   sodann   das  Concil   von  Arelate  (314)  mit  der 
Untersuchung   dieser  Sache;    die  Entscheidung  fiel    gegen    die  Donatisten 
aus.    Das  genannte  Concil  ergriff  noch  Massregeln,    um    ähnlichen  Spalt- 
ungen in  der  Zukunft  vorzubeugen :  1)  nur  die  überwiesenen  traditores  soll- 
ten ihr  Amt  verlieren,  2)  selbst  die  Consecration  durch  einen  Traditor  sei 
gültig,   3)  jede  Taufe  sei  gültig,  die  auf  den  Namen  der  Dreieinigkeit  er- 
theilt  worden.    Die  Donatisten  appellirten  wieder  an  Constantin,  der  (316) 
die  Abgeordneten  beider  Theile  in  Mailand  anhörte,  gegen  die  Donatisten 
sich  entschied  und  Gesetze  gegen  sie  gab,  wonach  ihre  Kirchen  ihnen  ent- 
rissen werden  sollten.    Sie  blieben  fest;  nach  dem  Tode  des  Majorinus  315 
war  ein  anderer  Donatus  an  ihre  Spitze  getreten,  von  ihnen  Donatus  der 
Grosse  genannt,   nach  welchem  sie  sich  fortan  pars  Donati  nannten,  von 
den  Gegnern  Donatisten.    Viel  schadete  es   ihnen,   dass   die   agonistici, 
milites  christi^  wie  sie  sich  nannten,  schwärmerisches  Gesindel,  welches 
bettelnd  um  die  Hütten  der  Bauern  sich  herum  trieb,  daher  auch  Circum- 
cellionen  genannt,   sich  für  die  Donatisten  erklärten,   indem  sie  allerlei 
Unfug  gegen  katholische  Bischöfe  und  Kirchen  sich    erlaubten.      Als  Con- 
stantin 321  den  Donatisten  Religionsfreiheit   gewährte  und  sogar  die  Zer- 
störung  einer  katholischen  Kirche  durch   die  Circumcellionen  ungeahndet 
Hess,    gewann  das  Schisma  Festigkeit   und  fand  in  Africa  mehr  und  mehr 
Anhänger.     Im  Jahre  347  suchte  Constantius   sie  durch  Geschenke  zu  ge- 
winnen.   Dass  Donatus  den  Kaiser  mit  den  Worten  abwiess :  Was  geht  den 
Kaiser  die  Kirche  an?    trug  nicht  dazu  bei,    diesen   günstig  zu   stimmen. 
Zu   gleicher  Zeit  erneuerten  die  Circumcellionen  ihre  Gewaltthätigkeiten. 
Die  Bewegung  nahm  eine  social-communistische  Wendung ;  es  handelte  sich 
darum,  die  Schuldner  von  ihren  Schulden  freizusprechen:  wer  sjch  wider- 
setzte, wurde  dazu  gezwungen.    Es  kam  dahin,  dass  die  Donatisten  selbst 
den  Schutz  des  Staates  gegen  diese  Leute  anriefen;    nun  aber  ergiengen 
neue  Rescripte    gegen   die    Partei;    ihre   angesehensten  Bischöfe   wurden 
verbannt.    Unter  Julian  besserte  sich  ihre  Lage.     Allein   nun   trat    eine 
Spaltung  unter  ihnen  ein.      Eine  Partei   der  Donatisten  sonderte   sich  von 
der   anderen  ab  und  stand  zu  dieser  gerade  so  wie  diese  zur  katholischen 
Kirche.  —    Ihr  gewaltigster  Gegner  wurde  Augustin,  der  sie  in  mehreren 
Schriften   und  Unterredungen   siegreich    bekämpfte.     Das  Hauptgespräch 
mit  ihnen  fand  statt  im  Jahre  411 ;    186  katholische  und  179  donatistische 
Bischöfe  waren  anwesend ,  unter  dem  Vorsitze  eines  kaiserlichen  Commis- 
särs.    Es  wurden  zwei  Streitfragen  verhandelt:    1)  ob  Felix  von  Aptunga 
ein  Traditor  gewesen ,    2)  ob   die  ICirche  durch  die  Gemeinschaft  mit  un- 
würdigen Mitgliedern  den  Charakter  der  Kirche  verliere.    Die  Entscheidung 


3^0  Zweite  Periode  des  alten  Eatholicismus. 

fiel  gegen  die  Donatisten  aus;  alle  ihre  Geistlichen  wurden  verbannt,  die 
Laien,  die  fest  blieben,  zu  Geldstrafen  verurtheilt.  —  Doch  erhielten 
sich  Donatisten  bis  in  das  sechste  Jahrhundert.  In  der  bisherigen  Dar- 
stellung sind  die  Differenzen  zwischen  ihnen  und  den  katholischen  Christen 
bereits  im  Allgemeinen  erwähnt  worden.  Sie  betrafen  durchaus  nicht  die 
eigentlichen  Glaubensartikel,  sondern  die  Frage,  wie  weit  die  Kirchen- 
zucht geübt  werden  müsse,  so  wie  die  Frage,  betreffend  die  Prädicate  der 
Kirche  und  die  nähere  Bestimmung  dieser  Prädicate.  Sie  behaupteten, 
die  allein  wahre  Kirche  sine  macula  et  ruga  darzustellen,  weil  sie  wis~ 
sentlich  in  ihrer  Gemeinschaft  keine  unreinen  Mitglieder  duldeten;  wenn 
die  Kirche  wissentlich  solche  dulde,  so  verliere  sie  das  Prädicat  der  Hei- 
ligkeit und  Reinheit,  und  alle  ihre  sacramentlichen  Handlungen  werden 
unkräftig;  daher  sie  die  zu  ihnen  Uebertretenden  wieder  tauften.  Haupt- 
sächlich im  Gegensatze  gegen  sie  ist  in  dieser  Periode  das  Dogma  von  der 
Kirche  im  Bereiche  des  lateinischen  Abendlandes  ausgebildet  worden;  mit 
Recht,  denn  das  donatistische  Schisma  übertrifft  an  Bedeutung  alle  übrigen. 

Das  meletianische  Schisma,  das  in  der  vorigen  Periode  seinen 
Anfang  nahm,  dauerte  über  das  vierte  Jahrhundert  hinaus. 

Das  Schisma  der  Audianer,  in  der  Geschichte  der  Theologie 
bereits  kürzlich  erwähnt,  berührt  sich  mit  den  Häresieen  so  wie  mit  dem 
um  sich  greifenden  Mönchthum.  Audius,  syrisch  Udo,  ein  Laie  von 
frommem,  ernstem  Lebenswandel  in  Mesopotamien,  nahm  zu  Anfang  des 
vierten  Jahrhunderts  Anstoss  am  Leben  und  Wandel  der  katholischen 
Geistlichen.  Desshalb  excommunicirt,  hielt  er  mit  seinen  Anhängern  ab- 
gesonderte Versammlungen;  desshalb  verfolgt  und  misshandelt  mit  den 
Seinen,  worunter  selbst  Bischöfe  und  Geistliche,  stiftete  er  eine  eigene 
Secte  und  wurde  ihr  Bischof.  Im  Alter  wurde  er  nach  Scythien  verwiesen ; 
er  verbreitete  unter  den  dort  angesiedelten  Gothen  das  Mönchthum;  die 
Secte  verschwand  mit  dem  vierten  Jahrhundert.  Es  wurde  ihnen  Anthro- 
pomorphismus  schuld  gegeben,  so  wie  die  Behauptung,  dass  Gott  nicht 
Urheber  des  Feuers  und  der  Finsterniss  sei;  eben  so,  dass  sie  die  vom 
Concil  von  Nicäa  verworfene  Zeitbestimmung  in  Hinsicht  der  Osterfeier 
angenommen  hätten.    (S.  Epiphanius  haeresis  70.    Theodoret  H.  E.  4,  10). 

Das  Schisma  des  Lucifer,  Bischofs  von  Cagliari  auf  der  Insel 

Sardinien. 

Lucifer,  ein  eifriger  Anhänger  des  Athanasius  und  des  nicänischen 
Concils,  ein  stolzer,  eigensinniger  Mann,  war  einer  von  den  wenigen  Bi- 
schöfen, welche  auf  der  Synode  zu  Mailand  355  in  die  Verurtheilung  des 
Athanasius  nicht  eingewilligt  hatten.  Um  deswillen  wurde  er  nach  Germa- 
nicia in  Syrien ,  darauf  nach  Eleutheropolis  in  Palästina  verbannt ,  von  da 
kam  er,  unter  Julian  freigelassen,  nach  Antiochien.  Hier  war  Spaltung 
zwischen  den  strengen  Nicänern  und  einer  milderen  Partei,  an  deren 
Spitze  Bischof  Meletius  stand.  Lucifer  verstärkte  die  Spaltung,  indem  er 
den  strengen  Nicänern  einen  eigenen  Bischof,  den  Presbyter  Paulinus 
weihte.     Er  verliess  darauf  das  Morgenland,   kam   nach  Cagliari   zurück, 


Das  Dogma  von  der  Kirche.  361 

stiftete  eine  eigene  Partei  der  fanatischen  Anhänger  des  nicänischen  Sym- 
bols, die  ausser  in  Sardinien,  in  Africa,  Aegypten,  Spanien,  Antiochien, 
selbst  in  Rom  Eingang  fand,  eine  Zeitlang  heftig  verfolgt,  bis  ins  fünfte 
Jahrhundert  andauerte.  Lucifer  selbst  hatte  bis  an  seinen  Tod  371  das 
bischöfliche  Amt  verwaltet.  Diese  Spaltung  hatte  eine  weniger  gute  Tendenz, 
als  die  früheren,  indem  sie  in  keiner  Weise  aus  der  Opposition  gegen  die 
Missbräuche  und  das  Verderben  in  der  Kirche,  sondern  lediglich  aus  hy- 
perorthodoxer Schroffheit  hervorging. 

Das  schon  (in  der  Geschichte  des  Pabstthums)  berührte 
Schisma  zwischen  Damasus  und  Ursicinus  in  Rom  ist  noch  uner- 
quicklicher. Die  römische  Kirche  war  durch  die  Nachwirkungen  der  aria- 
nischen  Streitigkeit  in  heftiger  Gährung  begriffen,  welche  durch  die  neue 
Bischofswahl  nach  dem  Tode  des  Bischof  Liberius  sich  steigerte  (366). 
Damasus  soll  rechtmässig  gewählt  worden  sein,  darauf  der  Diakon  Ur- 
sinus  oder  Ursicinus  von  einer  Partei  in  der  Gemeinde.  Das  Schisma 
verbreitete  sich  weit  ausserhalb  Roms.  In  Rom  selbst  kam  es  zu  blutigem 
Kampfe;  die  Partei  des  Damasus  erstürmte  die  Kirche  des  Ursicinus,  wo- 
bei 137  Personen  getödtet  wurden.  Damasus  erhielt  die  Oberhand,  Ursi- 
cinus wurde  in  die  Verbannung  geschickt.  Um  dieser  Spaltung  gründlich 
ein  Ende  zu  machen,  erliess  Gratian  (378)  das  in  der  Geschichte  des  römi- 
schen Bischofs  bereits  angeführte  Gesetz.    (S.  S.  351). 

§.  7.    Das  Dogma  von  der  Kirche. 

Die  Kirche  als  Leib  Christi,  in  welchem  er  waltet  durch  seinen  Geist, 
in  welchem  alle  Wirkungen  des  Geistes  zusammengefasst  sind,  die  Kirche, 
als  einzige  Inhaberin  der  christlichen  Wahrheit,  als  höchste  Lehrautorität, 
ist  uns  aus  der  früheren  Darstellung  bekannt.  —  Die  Prädicate  der  Ein- 
heit, Allgemeinheit  sind  auch  schon  in  Betracht  gekommen.  Mit  Bezug 
auf  die  Kirchenverfassung ,  Kirchenzucht  und  insbesondere  im  Gegensatze 
gegen  die  Donatisten  wurden  zumal  in  der  abendländischen  Kirche  diese 
letzteren  Prädicate  der  Einheit,  Allgemeinheit  und  Heiligkeit  Gegenstand 
ausführlicher  Erörterung. 

Schon  Optatus  von  Mileve  (368)  de  schismate  Donatistarum  {\ih.  II) 
hatte  den  Gesichtspunkt  durchgeführt,  dass  das  wahre  Wesen  der  Kirche  in 
objectiven  Merkmalen,  die  er  als  dotes  und  als  membra  auffasste,  zu  suchen 
und  von  der  Persönlichkeit  der  Mitglieder  abzulösen  sei.  August  in,  der 
wie  Optatus  im  Allgemeinen  auf  dem  Standpunkte  Cyprian's  stand,  ist 
weiterbildend  über  den  Bischof  von  Carthago  hinausgegangen.  Er  ist 
erfüllt  vom  Gedanken  der  Einheit  der  Kirche,  im  Sinne  zunächst  der 
Ausschliesslichkeit.  —  Christus  ist  ihm  identisch  mit  der  katho- 
lischen Kirche,  sein  Leben  mit  dem  ihrigen.  Christus  ist  das  Haupt,  die 
Kirche  der  Körper,  Christus  der  Bräutigam,  die  Kirche  die  Braut.  Daher 
auch  diejenigen,  welche  in  Beziehung  auf  Christum  schriftgemäss  denken 
und  lehren,  aber  sich  nicht  an  die  Kirche  halten,  nicht  von  der  Kirche 
sind  (non  sunt  de  ecclesia).  Ohne  die  Gemeinschaft  mit  der  Kirche  ist  jede 
Geraeinschaft  mit  Christo  unmöglich.    Niemand  kann  Christum  zum  Haupte 


362  Zweite  Periode  des  alten  Katbolicismus. 

haben,  als  wer  in  seinem  Leibe,  in  seiner  Kirche  ist.  Wer  nicht  die 
Kirche  zur  Mutter  hat,  sagt  Augustin  mit  Cyprian,  hat  Gott  nicht  zum 
Vater.  Nur  in  der  katholischen  Kirche  kann  der  heilige  Geist  empfangen 
werden,  weil  allein  in  ihr  der  Geist  der  Liebe  lebt  Rom.  5,  5.  Liebe 
aber  haben  diejenigen  nicht,  welche  von  der  Gemeinschaft  der  Kirche 
getrennt  sind,  welche  die  Einheit  der  Kirche  nicht  lieben;  daher  man  mit 
Recht  sagen  kann,  dass  der  Geist  Gottes  nur  in  der  katholischen  Kirche 
empfangen  wird.  Von  dieser  Kirche  sondern  sich  nur  solche  ab,  welche 
von  Stolz  aufgeblasen,  von  Eifersucht  berückt,  durch  fleischliche  Furcht 
in  verkehrte  Richtung  gebracht  sind.  Wer  noch  so  löblich  zu  leben  meint, 
wird  um  des  einen  Verbrechens  willen,  dass  er  von  der  Einheit  Christi 
abgetrennt  ist,  das  Leben  nicht  sehen-.  Und  doch  erkannte  Augustin  die 
von  Häretikern  und  Schismatikern  rite  vollzogene  Taufe  als  giltig  an,  dazu 
veranlasst  durch  die  Donatisten,  welche,  unter  Berufung  auf  Cyprian,  jede 
ausser  ihrer  Gemeinschaft  ertheilte  Taufe  ver\Narfen.  Die  Taufe  ist  nacli 
ihm  giltig,  gleichviel,  von  wem  sie  adrainistrirt  werde;  nur  um  so  grössei* 
wird  dadurch  die  Schuld  des  Empfangenden,  der  das  Zeichen  Christi  an 
sich  trägt  und  es  durch  seine  Lostrennung  von  der  Kirche  verläugnet. 
Die  Vorstellung,  dass  der  Segen  der  Taufe  nicht  von  der  Würdigkeit  des 
Administrirenden  abhängig  sei,  kann  er  nur  so  durchführen ^  dass  aller- 
dings der  heilige  Geist  eo  ipso  an  den  Act  der  Taufe  gebunden  ist, 
dass  aber  etwas  im  Täuflinge  ist,  was  ihn  des  Empfanges  unfähig  macht 
(wenn  er  nämlich  Häretiker  oder  Schismatiker  ist),  und  dadurch  vermehrt 
er  nur  seine  Schuld  vor  Gott.  Das  Merkmal  der  Ausschliesslichkeit  {extra 
ecclesiam  nulla  salus)  hängt  mit  dem  Begriffe  der  Einheit  oder  Einzigkeit 
enge  zusammen  und  ist  eigentlich  nur  ein  Bestandtheil  desselben.  Gibt 
es  ausser  der  katholischen  Kirche  kein  Heil,^  so  gibt  es  eben  nur  diese 
eine,  empirisch  vorhandene  Kirche,  und  alle  Mannigfaltigkeit  ist  ausge- 
schlossen. Die  Einheit  der  Kirche  hat  aber  auch  eine  nach  innen  zuge- 
kehrte Seite.  Sie  .beruht  wesentlich  auf  der  Einheit  des  Episkopats,  und 
diese  ist  dargestellt  in  der  cathedra  Petri,  d.  h.  im  römischen  Bischof, 
als  ihrem  organischen  und  Communicationspunkte.  Doch  das  hielt  Augu- 
stin nicht  ab,  im  pelagianischen  Streite  dem  römischen  Bischof  Widerstand 
zu  leisten.  1 

Was  das  Prädicat  der  Heiligkeit  betrifft,  so  hatte  in  der  fi'üheren 
Zeit  besonders  die  novatianische  Streitigkeit  die  Aufmerksamkeit  auf  die- 
sen Punkt  gelenkt,  der  bei  der  Menge  der  damals  vom  christlichen  Glau- 
ben Abgefallenen  Schwierigkeit  machte.  In  weit  höherem  Grade  war  diess 
der  Fall,  als  seit  Constantin  die  Heiden  in  Masse  in  die  Kirche  einström- 
ten, die  Kirche  furchtbar  verunreinigend.  Darum  fanden  die  Donatisten  einen 
so  fruchtbaren  Boden  für  ihren  Grundsatz,  dass  die  Kirche,  welche  wis- 
sentlich grobe  Sünder  in  ihrem  Schoosse  dulde ,  nicht  mehr  Kirche  sei  und 
von  ihrem  eigenen  Begriffe  abfalle.  Die  Katholiken  gaben  um  deswillen 
das  Prädicat  der  Heiligkeit  der  Kirche  nicht  auf.  Vielmehr  kam  jetzt  erst 
die  Bezeichnung  der  Kirche  als  communio  Sanctorum  in  die  Symbole. 
Es  musste  aber  der  Inhalt  des  Prädicates  der  Heiligkeit  so  bestimmt  wer- 
den, dass  sich  sein  Vorhandensein  an  der  Kirche  nachweisen  liess.    Einen 


Das  Dogma  von  der  Kirche.  368 

Allfang  dazu  hatten   die    alexandrinischen  Theologen  gemacht,   Clemens 
mit  seinem  Begriffe  von  der  himmlischen  Kirche,  von  der  die  irdische  nur 
ein  schwaches  Abbild  sei,   Ori genes   mit   seinem  Begriffe   von   der   we- 
sentlichen Kirche  (^  xvqimg  exxXricna)^  zu  der  nur  diejenigen  gehören,  die 
vollkommen  rein   sind.     Augustin  hat   sich   eingehend  mit  diesem  Punkte 
beschäftigt.    Er  fixirte  diejenige  Form  der  Begriffsfassung,  die  von  nun  an 
herrschend  wurde.      Sich   anschliessend  an  Origenes   unterschied    er    eine 
doppelte  Weise  der  kirchlichen    Mitgliedschaft,    eine  eigentliche  und  we- 
sentliche und  eine  blos  accidentielle ,  vorübergehende.     Er  bezog  nun  das 
Prädicat  der  Heiligkeit  auf  diejenigen,  die  eigentlich  und  wesentlich  den  Leib 
der  Kirche  bilden,    sie   sind   die  Kirche    der  Prädestinirten.     Die   Bösen 
scheinen  zwar  in  der  Kirche  zu  sein,  in  Wahrheit  aber  sind  sie  ausserhalb 
derselben.  Sie  sind  in  der  Kirche  wie  die  Spreu  im  Getreide,  wie  die  bösen 
Säfte  im  menschlichen  Körper.    Die  guten  bilden  innerhalb  der  empirischen 
Kirche   das   corpus   Christi  verum ^    die  bösen  und  heuchlerischen  Na- 
menchristen das   corpus  Christi  permixtum,   simulaium  oder   fic- 
tum.    Im   gegenwärtigen  Weltzustande   sind  beide  Classen    untereinander 
gemischt,    kein  Mensch  darf  sie  eigenmächtig  von  einander  scheiden;    der 
Herr  wird  es  thun  bei   seiner  Zukunft,   in  Qemässheit    der  Parabel   vom 
Unkraut  und  Waizen  Matth.  13  i).     Wenn   auch   die  Unterscheidung,   die 
Augustin  macht,    richtig  ist,    so  war  damit  nicht  bewiesen,    dass  die  Kir- 
chenzucht  zu  unterlassen  sei;  Augustin  selbst  wollte  das  nicht.  So  schliesst 
sich  die  Polemik  gegen  die  Donatisten   nicht  folgerecht  ab;   diess   noch  in 
anderweitiger  Beziehung,  insofern  Augustin  den  Begriff  der  Kirche  als  die 
Gemeinschaft  der   Heiligen    fallen    lässt   und   die    auf  Erden   bestehende 
Kirche,   worin  Böse   und  Gute  untereinander  vermischt   sind,   als   heilige 
gelten  lässt ;  sein  Gegensatz  gegen  die  Donatisten  besteht  daher  darin,  dass 
er  gleich   wie  Optatus   die  Kirche   nicht  als  durch  heilige  Personen,  son- 
dern als  duixh  heilige  Anstalten  geheiligt  ansieht  2). 

Es  wurde  aber  auch  das  Prädicat  der  Katholicität  im  Sinne  der 
allgemeinen  Verbreitung  hervorgehoben.  Darin  befanden  sich  die  Katho- 
liken im  Vortheil  gegenüber  den  Donatisten  und  sie  beuteten  diesen  Vor- 
.theil  aus.  Daneben  wurden  aber  auch  Versuche  gemacht,  den  Begriff  der 
Katholicität  dynamisch  zu  fassen.  Nach  Cyrill  von  Jerusalem  (Kate- 
chese 18)  heisst  die  Kirche  katholisch,  nicht  blos,  weil  sie  auf  der  ganzen 
Erde  verbreitet  ist,  sondern  auch,  weil  sie  Alles  lehrt,  was  zum  Heile 
nothwendig  ist ,  weil  sie  alle  Classen  von  Menschen  sich  unterwirft ,  alle 
Arten  von  Sünden  heilt ,  weil  in  ihrem  Schoosse  alle  Arten  von  Tugenden 
und  Gnadengaben  erworben  werden.  Nach  Optatus  vonMileve  heisst 
die  Kirche  katholisch,  quod  sit  rationabilis  und  uhique  diffusa. 
Das  Wort  katholisch  leitet  er  ab  von  xaxa  koyop.  August  in  geht  tiefer 
ein;  ihm  heisst  die  Kirche  katholisch,  weil  sie  das  Ganze  {to  oXov)  der 
christlichen  Heilswahrheit  festhält,    von    welcher   einige  Partikeln  in  den 


1)  Die  Donatisten  gründeten  sich  auf  das  Wort  des  Herrn:  der  Äcker  ist  die  Welt, 
nicht  die  Kirche,  und  auf  Jeremia  23,  28,  was  soll  das  Stroh  bei  dem  Korne? 

2)  Domer  a.  a.  0.  S.  291, 


364  Zweite  Periode  des'alten  Katholicismu8. 

verschiedenen^  Häresieen  gefunden  werden.  Indessen  hebt  er  doch  am 
meisten  das  Prädicat  der  allgemeinen  Verbreitung  hervor,  weil  am  meisten 
geeignet,  gegen  die  Donatisten  mit  Erfolg  verwendet  zu  werden,  als  ent- 
sprechend den  Verheissungen  des  Alten  und  Neuen  Testamentes.  Die 
Donatisten  beriefen  sich  dagegen  auf  die  siebentausend,  die  ihre  Kniee  vor 
Baal  nicht  gebeugt  hatten,  auf  den  schmalen  Weg,  den  nur  Wenige  be- 
treten, auf  das  Wort  des  Herrn  Lucas  18,  8.  Sodann  setzen  sie  die  Ka- 
tholicität  der  Kirche  darein,  dass  sie  die  wesentlichen  Bedingungen  der 
Ausbreitung  enthalte,  nämlich  die  Gemeinschaft  der  christlichen  Heil- 
mittel; aber  beide  Theile  waren  im  Irrthum,  insofern  keiner  den  anderea 
als  christliche  Kirche  anerkennen  wollte. 

Die  katholischen  Lehrer  erkannten  übrigens  gar  wohl,  dass  das  Prä- 
dicat der  Allgemeinheit  der  wirklichen  Ausbreitung  nicht  adäquat  sei. 
Daher  fassten  sie  diese  als  innerhalb  der  Grenzen  des  römischen  Reiches 
beschlossen.  Das  war  nach  dem  Begriffe  jener  Zeit  der  orbis  terrarum^ 
die  otxovfievfj,  das  imperium  romanum^  die  Gesammtheit  der  gesitteten 
Welt,  bestimmt  alle  Nationen  der  Erde  in  sich  aufzunehmen.  Die  Aus- 
breitung der  Kirche  war  so  gesichert  durch  ihr  Verhältniss  als  Staats- 
kirche zum  römischen  Reiche.  Dieses  Verhältniss  diente  dazu,  den  Begrifl* 
der  Katholicität  zu  verengen,  insofern  sich  damit  das  Prädicat  der  An- 
erkennung durch  den  Staat  verband.  Es  knüpfte  sich  daran  der  verhäng- 
volle Irrthum,  die  Dissentirenden  durch  polizeiliche  Massregeln  nicht  blos 
aus  der  Kirche  auszutreiben,  sondern  auch  sie  in  die  Kirche  zurückzu- 
drängen und  die  Häretiker  sogar  am  Leben  zu  strafen.  Wie  Augustin 
zuletzt  dahin  kam,  die  gewaltthätige  Zurückführung  der  Häretiker  und 
Schismatiker  in  die  Kirche  zu  rechtfertigen  und  zu  empfehlen,  davon  ist 
schon  die  Rede  gewesen. 

Was  die  Todesstrafe  der  Häretiker  betrifft,  so  wurde  bereits  angeführt, 
dass  die  Hinrichtung  des  Priscillian  von  den  abendländischen  Lehrern  ent- 
schieden missbilligt  wurde.  Doch  setzte  Theodosius  I.  im  Jahre  382  durch 
ein  Gesetz  für  die  Manichäer  die  Todesstrafe  fest,  obwohl  er  in  der  Praxis | 
die  Leute  mehr  zum  Gehorsam  zu  bringen,  als  zu  strafen  sich  befliss. 
Die  griechischen  Kirchenlehrer  hielten  den  Grundsatz  fest,  dass  die  Häre- 
tiker nicht  am  Leben  zu  bestrafen  seien.  Chrysostomus  spricht  es  offen 
aus :  ;,ich  bin  gewohnt,  verfolgt  zu  werden,  aber  nicht  selbst  zu  verfolgen  *).* 
Doch  will  er  die  Versammlungen  der  Häretiker,  auch  der  Novatianer  und 
Quartodecimaner  verboten  wissen  2).  Viele  betrachteten  die  Unglücksfälle 
am  Ende  seines  Lebens  als  die  Strafe  für  solches  Benehmen.  Hieronymus 
aber  ist  in  dieser  Periode  nicht  der  einzige  Lehrer  der  lateinischen  Kirche, 
der  sich  für  Todesstrafe  der  Ketzer  ausgesprochen,  ^Frömmigkeit  für  die 
Sache  Gottes  geübt,  ist  nicht  Grausamkeit''  3),  das  war  sein  Wahlspruch, 
wobei  er  sich  auf  die  mosaische  Verordnung  Deuteronom.  13,  6  u.  ff.  berief. 


1)  Efiot  e&oi  €(fTi  dt(oxfG&at  xat  /ut]  di(üx(iy.    In  Phocam  Märtyrern. 

2)  Hom.  26  in  Matth. 

3)  Non  est  crndelitas  pro  Deo  pietas. 


Gottesdienst.    Gebände  für  den  Gottesdienst.  365 

Auch  Leo  I.  in  der  Epistel  an  Turribius  stimmte  überein  mit  Hieronymus, 
indem  er  zu  bedenken  gab,  dass  die  Furcht  vor  der  Todesstrafe  bisweilen 
die  Menschen  antreibe,  zum  geistlichen  Heilmittel  die  Zuflucht  zu  nehmen. 


Vierter  Abschnitt. 


Geschichte   des   Gottesdienstes. 

In  der  vorhergehenden  Periode  fanden  wir  den  katholischen  Gottes- 
dienst durch  zwei  Hauptgrundsätze  beherrscht,  nämlich  1)  durch  die  Op- 
position gegen  die  sinnliche  Gottesverehrung  der  heidnischen  Völker,  ver- 
bunden mit  Anschliessung  an  den  jüdischen  Synagogencultus ,  2)  durch  die 
Opposition  gegen  die  Häretiker,  deren  Gebet  selbst,  nach  dem  Urtheile 
des  sonst  so  milden,  weichherzigen  Origenes,  ihnen  zur  Sünde  angerechnet 
wird,  gegen  die  Häretiker,  von  denen  einige  zu  den  Gnostikern  gehörige  in 
ihren  Gottesdienst  Dinge  einführten,  die  damals  den  katholischen  Christen 
höchlich  missfielen  (Lichter,  Weihrauch)  und  sie  in  ihrer  puritanischen 
Einfachheit  bestärkten.  In  unserer  Periode  ging  in  Beziehung  auf  den 
ersten  Punkt  eine  Aenderung  vor,  welche  das  Zeichen  gab  zu  immer 
grösserer  Abweichung  von  der  ursprünglichen  Einfachheit.  In  demselben 
Maasse,  als  seit  Constantin  die  Heiden,  ganz  äusserlich  bekehrt,  massen- 
haft in  die  Kirche  einströmten,  schien  auch  der  unreine  Geist  des  Heiden- 
thums  in  die  katholische  Gottesverehrung  einzudringen.  Schon  Augustin 
klagte ,  mit  Bezug  auf  die  sich  häufenden  Cerimonien ,  dass  es  in  dieser 
Beziehung  mit  der  christlichen  Religion  schlimmer  stehe,  als  mit  dem  Ju- 
denthum  in  der  Zeit  seines  grössten  Verfalles.  Hauptsächlich  aber  kom- 
men hier  in  Betracht  die  neuen  Gegenstände  der  Verehrung,  das  heidnische 
Gepränge,  mit  welchem  diese  Verehrung  sich  umgab,  die  heidnischen  Vor- 
stellungen, die  sich  daran  knüpften.  Die  Kirchenlehrer  bekämpften  diese 
Auswüchse,  vertraten  mit  Muth  und  Beredtsamkeit  die  Sache  der  geisti- 
gen Gottesverehrung,  konnten  aber  um  so  weniger  die  Ausartungen  ab- 
schneiden, als  sie  selber  zum  Theil  darin  befangen  waren  oder  wenigstens 
sich  scheuten,  die  kräftigsten  Massregeln  dagegen  zu  ergreifen. 

§.1.     Gottesdienstliche  Gebäude  i). 

Die  Zeiten,  da  die  Kaiser  die  Kirche  beschützten  und  da  die  Anzahl 
der  Mitglieder  sich  in  so  ungewöhnlichem  Masse  vermehrte,  waren  sehr 
geeignet  zur  Aufführung  neuer  kirchlicher  Gebäude.  Seit  Constantin  er- 
hob sich  eine  bedeutende  Anzahl  neuer  prachtvoller  Kirchen.  Die  kirch- 
liche Baukunst  wurde  mehr  ausgebildet.    Doch  hat  sie  durchaus  nicht  den 


1)  S.  die  angeführten  Werke  von  Lübke.    S.  184. 


36©  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

erhabenen  Schwung  der  späteren  sogenannten  gothischen  Baukunst.  Sie 
hat  keine  Kreuzbogen,  noch  lange  keine  Thürme,  selbst  keine  Kuppeln 
wie  die  byzantinische  Kunst.  Uebrigens  knüpft  sie  an  ein  heidnisches 
Vorbild  an,  zwar  nicht  an  den  antiken  Tempel,  sondern  an  die  Basili- 
ken, fürstliche  Paläste  und  grosse  öffentliche,  besonders  Gerichtsgebäude, 
wovon  eine  Anzahl  von  den  Kaisern  der  Kirche  überlassen  wurde.  Die 
Grundidee  der  christlichen  Kirchenform,  wie  sie  schon  in  den  apostolischen 
Constitutionen  2,  57  dargelegt  ist,  wurde  dem  Basilikenbau  angepasst. 

Die  Kirchen  bildeten  wie  die  meisten  Basiliken  ein  längliches  Viereck 
und  waren  in  der  Regel,  d.  h.  nicht  ohne  Ausnahmen,  gegen  Osten  ge- 
richtet. Der  östliche  Theil  des  inneren  Raumes  war  zur  Verrichtung  des 
eucharistischen  Opfers  bestimmt,  und  hier  hatten  Bischof,  Presbyter  und 
Diakonen  ihi'en  Sitz  —  (ßf}fJ>cc,  to  äyiov^  ayiaa^a).  Dazu  wurde  die  Ein- 
richtung der  Basiliken  benützt.  An  dem  hintersten  Theile  derselben  war 
ein  nach  aussen  gehender,  halbzirkliger  Vorsprung,  an  dessen  innere]*, 
erhöhter  Rundung  die  Richterstühle  der  Geschworenen  und  Richter  sicii 
anlehnten.  Dieselbe  Einrichtung  wurde  in  den  kirchlichen  Gebäuden  an- 
gebracht. Man  öffnete  den  mittleren  Theil  der  östlichen  Mauer  des  Ge- 
bäudes und  brachte  einen  halbkreisförmigen  Vorsprung  an,  der  gewölb- 
artig  mit  dem  oberen  Theile  der  Schlussmauer  zusammenhing,  trihuna 
genannt  wegen  der  Aehnlichkeit  mit  dem  Richterlocale  der  heidnischen 
Basiliken.  Die  kreisförmige  Umfassungsmauer  hiess  absis^  die  Wölbung 
Camera^  concha,  fornix;  bisweilen  hiess  absis  auch  die  Wölbung. 
concha  die  ganze  Tribüne.  An  der  runden  Hintermauer  der  absis  waren 
die  Sitze  für  die  Presbyter  angebracht,  zwischen  diesen  in  der  Mitte  dei 
erhöhte  Sitz  des  Bischofs,  mit  Umhängen  öfter  versehen,  cathedra  ve- 
lata.  Diesem  Sitze  gegenüber  war  der  Abendmahlstisch,  tqaneQa  leqa, 
livfftixrjy  mensa  sacra,  tremenda,  der  zum  Altar  gestempelt  wurde, 
indem  das  Opfer  darauf  gebracht  wurde,  ayiov  &v(Tia(TTrjoiop.  Er  stand 
frei,  so  dass  man  um  denselben  herumgehen  konnte,  nach  Ps.  26,  6:  „ich 
wasche  in  Unschuld  meine  Hände  und  umgehe  deinen  Altar,  Jehovah."  Zur 
rechten  Seite  des  Altars  war  das  Nebentischchen,  TiaQatQanelop^  mensula^ 
worauf  vor  der  Darbringung  des  eucharistischen  Opfers  die  Gaben  derj 
Gemeinde,  die  Oblationen  gelegt  wurden ;  zur  linken  Seite  des  Altars  standi 
der  Behälter,  Gxevotpvlccxiovy  diaconicum  bematis,  worin  die  Geräthe 
gelegt  wurden,  um  gereinigt  und  eingepackt  in  die  Sacristei,  diaconicum 
majus,  gebracht  zu  werden.  Nun  kam  zunächst  ein  Querschiff  oder  Kreuz- 
schiff, entsprechend  den  heidnischen  Basiliken,  worin  die  Parteien  und 
ihre  Sachwalter,  sowie  ein  Theil  des  Publicums  sassen,  später  in  den 
christlichen  Kirchen  Chor  genannt.  Von  dem  Querschiff  gelangte  man 
einige  Stufen  hinuntersteigend  in  das  Langschiff,  yavg,  na  vis,  vom  Quer- 
schiff durch  Gitter,  cancelU,  xixXcdeg  und  Umhang  getrennt;  darin  stand 
der  ambo  (afißcov),  suggestum  lectorum,  von  dem  aus  die  Bibellectionen 
statt  fanden.  Hier  war  die  Gemeinde  versammelt;  in  den  heidnischen  Ba- 
siliken w^urde  in  diesem  Räume  Handel  und  Verkehr  getrieben,  oft  war 
er  nicht  bedeckt,  dagegen  wurde  er  in  den  Kirchengebäuden  von  Anfang, 
an  gedeckt.    In  unserer  Periode  wurde  auch  die  Predigt  in  diesem  Lang- 


Gottesdienst.    Gebäude  für  den  Gottesdienst.  367 

schiff  gehalten,  d.  h.  aus  dem  Chor  in  das  Langschiff  verlegt,  auf  ein 
suggestum  neben  die  cancelli^  daher  dieses  suggestum  cancellus  ecdesiasticus 
genannt.  Die  Gläubigen  sassen  gesondert  nach  Alter,  kirchlichem  Stande 
und  Geschlecht,  hinter  den  Gläubigen  die  Katechumenen ,  nach  ihnen  die 
Büssenden,  wovon  jedoch  nicht  alle  das  Schiff  der  Kirche  betreten  durften; 
im  Oriente  sassen  die  Weiber  auf  den  Emporkirchen,  vneqoaa.  Bis  auf 
Theodosius  I.  sassen  die  Kaiser  im  Querschiff;  dieser  Kaiser  liess  es  sich 
von  Ambrosius  in  Mailand  gefallen,  dass  sein  Sitz  zunächst  ausserhalb  des 
Quer  Schiffs  angebracht  wurde.  Das  Langschiff  wurde  durch  zwei  Säulen- 
reihen in  drei  Theile  getheilt;  manchmal  gab  es  zwei  Säulenreihen  auf 
jeder  Seite  des  Langschiffs ,  so  dass  der  ganze  Raum  in  fünf  Theile  zer- 
fiel. —  Ein  dritter  Haupttheil  des  Gebäudes  war  die  Vorhalle,  ngOraog 
vttQ&rj^^  ferula,  Ruthe,  von  seiner  länglichen  Gestalt  so  genannt,  in 
welchen  man  durch  die  nvXai,  (oqatai  (Apostelgesch.  3,  2.  10)  eintrat;  hier 
hatten  die  unteren  Classen  der  Katechumenen  und  der  Büssenden  ihren 
Platz.  Vor  der  Vorhalle  war  ein  Vorhof,  ai^qtov,  avXri^  a  tri  um,  area, 
in  welchem  ein  Wasserbecken,  xQrjv^,  to  (fqnctq,  (ptaXrj,  cantharus,  stand, 
zur  Lustration  bei  dem  Eintritt  in  die  Kirche.  Auf  dem  grossen,  die 
Kirche  umgebenden  Platze,  negißoXog,  der  öfter  mit  Säulengängen  ver- 
sehen war,  befanden  sich  noch  mehrere  zur  Kirche  gehörige  und  mit  ihr 
verbundene  Gebäude,  worunter  das  hauptsächlichste  die  Taufkapelle,  to 
ßantiatrjQiov,  war;  darin  stand  das  grosse  Wasserbecken,  xoXvfißrj^Qcc, 
Piscina j  für  .die  Untertauchung  der  Täuflinge;  dazu  kamen  noch  andere 
Gebäulichkeiten  von  verschiedenartiger  Bestimmung. 

Seit  dem  vierten  Jahrhundert  begann  der  kirchliche  Gebrauch  der 
Kunst,  die  bis  dahin  nur  im  Privatleben  der  Christen  oder  an  ihren  Be- 
gräbnissstätten, den  Katacomben  Aufnahme  gefunden.  Die  Kunst  wurde 
angewendet  theils  zur  Verzierung  der  Kirchen  und  der  kirchlichen  Ge- 
fässe ,  theils  zum  Unterrichte  des  unwissenden  Volkes.  Es  waren  Abbild- 
jungen  aus  der  biblischen  Geschichte  oder  aus  dem  Leben  und  den  Leiden 
der  Märtyrer.  Im  Oriente  finden  wir  dergleichen  zum  ersten  Male  bei 
Gregor  von  Nyssa  in  seiner  Lobrede  auf  den  heiligen  Theodorus:  ;,das 
stumme  Wandgemälde  spricht  und  erbaut^ ,  sagt  er  in  Bezug  auf  Abbild- 
ungen der  Leiden  der  Märtyrer.  Derselbe  spricht  von  einem  Gemälde, 
welches  die  Opferung  Isaaks  darstellte,  und  welches  er  mit  vielen  Thränen 
betrachtet  habe.  Doch  war  diese  Neigung  zur  Kunst  noch  keineswegs 
herrschend  geworden.  Epiphanius  sah  in  einem  Dorfe  in  Palästina  in 
einer  Kirche  einen  Vorhang,  auf  welchem  ein  Bild  Christi  oder  eines  ande- 
ren Menschen  abgebildet  war.  Darin  eine  Uebertretung  des  zweiten  Ge- 
botes vom  Dekalog  erblickend,  zerriss  er,  als  ob  er  eine  Ahnung  der 
späteren  abgöttischen  Missbräuche  gehabt  hätte,  denselben  Vorhang  und 
rieth  den  Vorstehern  jener  Kirche,  die  Leiche  eines  Armen  damit  zu  um- 
wickeln. Dagegen  liess  Bischof  Paulinus  in  den  Kirchen  zu  Nola  und  Fondi 
Gemälde  aufstellen,  um  das  zum  Fest  des  heiligen  Felix  zusammenge- 
strömte Volk  zu  beschäftigen  und  von  Trunk  und  Ausschweifungen  abzu- 
halten. In  diesen  Kirchen  war,  wie  auch  sonst  gewöhnlich,  Christus  blos 
in  der  Gestalt  eines  Lammes  abgebildet. 


368  Zweite  Periode  des  alten  KathoUcismus. 


§.  2.    Gottesdienstliche  Tage  und  Zeiten. 

Indem  gewisse  Tage  und  Zeiten  vor  anderen  dem  Gottesdienste  ge- 
widmet wurden,  drangen  doch  die  Kirchenlehrer  mit  Macht  darauf,  dass 
man  sich  damit  nicht  begnügen  solle.  So  hebt  Hieronymus,  —  um  nur 
einen  Lehrer  zu  nennen,  —  hervor,  dass  vom  rein  christlichen  Standpunkt* 
aus  alle  Tage  einander  gleich  seien;  jeder  Tag  sei  für  den  Christen  ein 
Freitag,  d.  h.  ein  durch  das  Andenken  an  den  gekreuzigten  Christus  ge- 
weihter Tag,  jeder  ein  Sonntag;  denn  an  jedem  Tage  könne  er  in  der 
Communion  die  Gemeinschaft  mit  dem  auferstandenen  Christus  feiern.  — 
Der  ursprüngliche  Hauptgedanke  aller  gottesdienstlichen  Feier  war  die 
Verherrlichung  des  Herrn,  zunächst  in  der  Woche  an  den  dies  stationum, 
Mittwoch  und  Freitag,  als  dem  Andenken  des  Leidens  Christi  gewidmet, 
und  am  Sonntage,  als  Feier  der  Auferstehung  des  Herrn.  Der  Mittwoch 
fiel  in  unserer  Periode  meistens  weg  ^) ,  weniger  der  Freitag ,  der  in  eini- 
gen Kirchen  noch  durch  die  Communion  ausgezeichnet  wurde,  sowie  durch 
Unterlassen  von  Gerichtsverhandlungen.  Der  Sonntag  wurde  gefeiert  durch 
Unterlassen  der  Arbeit,  der  öffentlichen  Acte,  der  Militär  Übungen ,  auf 
Grund  von  Gesetzen,  die  Constantin  gegeben  hatte  und  die  Theodosius  L 
bestätigte.  So  wie  in  jeder  Woche  des  Herrn  Leiden  und  Tod  einestheils 
und  seine  Auferstehung  andererseits  gefeiert  wurden,  so  beherrschte  der- 
selbe Gedanke  den  jährlichen  Festcyklus;  dieser  wurde  noch  erweitert.  Er 
nimmt  den  Herrn  schon  in  der  Wiege,  ja  schon  bei  der  Empfängniss,  und 
führt  sein  Leben  bis  zur  Himmelfahrt  fort.  Darauf  folgt  die  in  der  ersten 
Periode  schon  vorhandene  Feier  der  Ausgiessung  des  Geistes ;  daran  reihte 
sich  schon  in  der  ersten  Periode  die  Feier  der  ersten  Früchte  des  Geistes, 
Märtyrerfeste,  die  in  unserer  Periode  sich  mehrten.  Stephanus,  die  Apo- 
stel Petrus,  Paulus,  Johannes,  die  unschuldigen  Kindlein,  Johannes  der 
Täufer,  die  Makkabäer  erhielten  ihre  Gedenktage.  Es  kam  sogar  ein 
Marienfest  hinzu.  Doch  fällt  die  Feier  des  Advents  nicht  mehr  in  diese 
Periode.  Die  Idee  des  Kirchenjahres  ist  also  noch  nicht  vollständig  durch- 
geführt. Von  den  Nestorianern  ging  der  Gebrauch  aus,  den  Anfang  des 
kirchlichen  Jahres  in  die  Adventszeit  zu  setzen,  und  das  war  vielleicht 
mit  die  Ursache,  warum  dieser  Gebrauch  erst  später  in  der  katholischen 
Kirche  durchdrang.  In  unserer  Periode  begann  das  Kirchenjahr  mit  dem 
Ostermonat,  mit  Rücksicht  auf  den  analogen  Beginn  des  jüdischen  Kirchen- 
jahres mit  dem  Monat  Nisan  und  im  Hinblick  auf  das  Wiedererwachen  der 
Natur  im  Frühling. 

Das  wichtigste  und  glänzendste  Fest  war  das  Pas  sahfest  mit  dem 
dazu  gehörigen  Festcyklus.  Die  Verschiedenheit  der  Occidentalen  und  der 
Asiaten  in  Bestimmung  der  Zeit  desselben  war  der  zweite  Hauptgegen- 
stand, der  das  Concil  von  Nicäa  beschäftigte.  Diese  Versammlung  sprach 
sich  zu  Gunsten  derjenigen  aus,   welche,    von    der  jüdischen  Bestimmung 


1)  In  Korn  trat  noch  im  vierten  Jahrhundert  der  Sonnabend  als  Fasttag    völlig  an 
die  Stelle  des  Mittwoch. 


Gottesdienstliche  Tage  nnd  Zeiten.  ^69 

abweichend  nicht  auf  den  vierzehnten  Nisan,  sondern  auf  den  Freitag  der 
Passahwoche  setzten  i) ,  so  dass  also  an  diesem  Freitag  der  Tod  Jesu  und 
am  darauf  folgenden  Sonntage  die  Auferstehung  gefeiert  wurde.  Welche 
diesem  Beschlüsse  sich  nicht  unterwerfen  wollten,  wurden  excommunicirt, 
als  tecrffagegdexaTitai,  guartodecimani^).  Aber  damit  waren  alle  Differen- 
zen in  Berechnung  des  Passah  nicht  beseitigt.  Um  dem  Schwanken  in  den 
Berechnungen  ein  Ende  zu  machen,  wurde  von  der  nicänischen  Synode  dem 
Bischof  von  Alexandrien,  wo  man  am  ehesten  die  dazu  nöthigen  Kennt- 
nisse voraussetzen  konnte,  der  Auftrag  gegeben,  alle  Jahre  den  Tag  zu 
bestimmen,  an  welchem  das  Passah  gefeiert  werden  sollte  (Leo  M.  ep.  94).  Im 
Morgenlande  folgte  man  den  alexandrinischen  Bestimmungen,  aber  nicht 
durchgängig  im  Abendlande,  hauptsächlich  nicht  in  Rom,  so  dass,  wie  Leo 
(1.  c.)  berichtet,  das  Passah  in  verschiedenen  Kirchen  an  verschiedenen  Ta- 
gen gefeiert  wurde.  Die  Römer  hielten  fest  an  ihren  unsicheren  Berechnungs- 
principien.  Die  bei  diesem  Anlasse  entstandenen  Streitigkeiten  gaben  Anlass 
zu  Versuchen,  die  Differenz  zu  beseitigen;  doch  das  geschah  auf  entschei- 
dende Weise  erst  in  der  folgenden  Periode  durch  Dionysius  exiguus.  — 
Nach  dem  Concil  von  Nicäa  wurde  hauptsächlich  das  Auferstehungsfest 
Passah  genannt,  oder  man  unterschied  das  Kreuzigungspassah  {naG^a 
(TtavQcotXifjiov) ,  welches  vom  Palmensonntag  bis  zum  Ostertage  dauerte, 
und  das  Auferstehungspassah  {naaxa  avatTtacTifiov).,  die  ganze  Osterwoche 
hiess  Pascha  dominicae  passionis  et  resurr ectionis. 

Dem  Passah  ging  ein  vorbereitendes  Fasten  voran,  dessen  Dauer, 
anfangs  sehr  kurz,  sich  immer  mehr  ausdehnte,  bis  zu  drei,  sechs,  sogar 
sieben  Wochen;  davon  ist  der  Ausdruck  tetrcaQaxoffTfi^  quadragesima  her- 
genommen. Auch  in  Beziehung  auf  die  Dauer  des  Fastens  an  jedem  Tage 
und  auf  die  Gattung  der  Speisen,  deren  man  sich  enthielt,  fanden  Verschie- 
denheiten statt.  Während  der  Fastenzeit  wurden  keine  oder  nur  sehr  wenig 
lärmende  Feste  gefeiert.  Der  Palmensonntag,  geweiht  dem  Andenken  an  den 
Eintritt  des  Herrn  in  Jerusalem  vor  seinem  Leiden  war  der  letzte  Sonn- 
tag der  Fastenzeit.  Mit  diesem  Tage  begann  die  grosse  Woche,  die 
den  Beschluss  der  Fastenzeit  machte  (ißdofjiag  ueyaXri).  Es  wurden  die 
um  geringerer  Ursachen  willen  Gefangenen  losgelassen,  alle  Tage  fanden 
am  Morgen  und  am  Abend  Gottesdienste  statt;  es  wurde  streng  gefastet, 
viele  Almosen  wurden  gegeben,  Werke  der  Barmherzigkeit  verrichtet,  die 
Staatsgeschäfte  unterbrochen.  Ausgezeichnete  Tage  in  dieser  Woche  wa- 
ren ausser  dem  Palmensonntag  der  Chardonnerstag  (fieyaXrj  nsfiTCTtj, 
feria  quinta),  geweiht  dem  Andenken  an  die  Einsetzung  des  Abend- 
mahles: gefeiert  durch  allgemeine  Communion;  der  Charfreitag,  zum 
Andenken  an  Jesu  Leiden  und  Tod,  zugleich  Buss-  und  Fasttag,  naga- 
(Txsvrj  genannt,  als  Vorbereitungstag  auf  den  Sabbath,  auch  Passah  ge- 
nannt, gemäss  dem  ursprünglichen  Sinne  des  Wortes.    In  Antiochien  feierte 


1)  Ein  Kanon  hierüber  ist  nicht  vorhanden;  sondern  die  Bestimmnng  darüber  gibt 
ein  Schreiben  der  Synode  an  die  Kirche  von  Alexandrien  bei  Sokrates  1,  9. 

2)  Vom  Concil  von  Laodicea  als  atgfffis  twv   TffJCaQegdsxaTiTai  bezeichnet,  vgl. 
Epiphanias  haeresis  50,  L 

Herzog,  Kirchengeschichte  L  24 


370  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

man  an  diesem  Tage  den  Gottesdienst  auf  den  Gräbern.  Daran  schloss 
sich  der  grosse  Sabbath,  fieya  aaßßatov^  an  welchem  die  Katechume- 
nen  getauft  wurden  und  weisse  Kleider  anzogen.  Abends  wurden  die 
Städte  erleuchtet.  Die  Kirchen  waren  auch  die  Nacht  über  angefüllt,  und 
unter  Gesang,  Gebet,  Schriftlesen  und  Predigt  wurde  die  Morgenröthe  des 
Ostertages  erwartet  {navvvxideq^  vigiliae  paschales).  Bei  dem  Aufgang  der 
Sonne  begrüsste  man  sich  mit  den  Worten:  Christus  ist  auferstanden. 
Besonders  dieser  Tag  wurde  ausgezeichnet  durch  Werke  der  Wohlthätig- 
keit  und  Liebe.  Die  Feier  der  Auferstehung  zog  sich  durch  die  ganze», 
Woche  hindurch,  so  dass  auch  die  Staatsgeschäfte  noch  still  standen.  Am 
Sonntage  nach  Ostern  erschienen  die  an  der  Ostervigilie  Getauften  zum 
letzten  Male  mit  ihren  weissen  Kleidern  angethan  in  der  Kirche  {dominica 
in  albis,  xvQiaxrj  ev  Xevxoiq^  xaiPfj  xvgiaxii^  dies  novorum,  octava  infantium, 
dies  neophi/tornm^  quasimodogeniti  nach  1  Petr.  2,  2).  Der  Bischof  ermahnte 
sie,  ihrem  Taufgelübde  treu  zu  bleiben  und  sie  vereinigten  sich  mit  der 
übrigen  Gemeinde.  Die  ganze  Zeit  zwischen  Ostern  und  Pfingsten  hiess 
Tf'vtrixofTtri,  so  wie  dieser  Tag  selbst;  diese  fünfzig  Tage  wurden  ausge- 
zeichnet durch  Enthaltung  von  Fasten  an  den  dies  stationum  und  durch 
stehend  verrichtetes  Gebet.  Am  vierzigsten  Tage  dieser  Pfingstzeit  wurde 
seit  dem  vierten  Jahrhundert  die  Himmelfahrt  Christi  gefeiert.  Acht  Tage 
nach  Pfingsten  war  das  Fest  aller  Märtyrer,  welches  erst  im  neunten 
Jahrhundert  durch  das  Fest  der  Dreieinigkeit  ersetzt  wurde. 

Noch  sind  einige  auf  eine  frühere  Zeit  des  Jahres  fallende  Feste  zu 
erwähnen.  Die  Ausschweifungen,  die  bei  dem  Jahreswechsel  statt  fanden, 
bewogen  die  Kirchenvorsteher,  den  ersten  Januar  als  Buss-,  Bet-  und 
Fasttag  gottesdienstlich  zu  feiern.  Im  lateinischen  Abendlande  wurde  im 
Gegensatze  gegen  die  heidnischen  Januarfeste  sogar  eine  dreitägige  Buss- 
und Fastenzeit  angeordnet.  Später  wurde  der  erste  Januar  als  Fest  der 
Beschneidung  in  den  kirchlichen  Festkreis  aufgenommen  und  mit  der 
auf  den  fünfundzwanzigsten  December  fallenden  Feier  der  Weihnachten  in 
Verbindung  gebracht.  Dieser  fünfundzwanzigste  December  wurde,  nach 
römischer  aber  willkürlicher  Berechnung,  als  Geburtstag  Christi,  als  nataUs  \ 
Christi  im  Gegensatz  zu  dem  natalis  solis  invicti,  zuerst  in  der  lateinischen  * 
Kirche,  darauf  auch  in  der  griechischen  Kirche,  aber,  nach  Chrysostomus, 
erst  seit  dem  Jahre  376  gefeiert.  Das  Epiphanienfest  war  älter,  Fest 
der  Erscheinung,  Offenbarung  Christi  (2  Tim.  2,  10.  Titus  2,  11),  es  er- 
öffnete bis  auf  Chrysostomus  den  Festcyklus  der  griechischen  Kirche.  Es 
war  zunächst  Fest  der  Taufe  Christi,  indem  man,  wie  Chrysostomus  sagt, 
davon  ausging,  dass  Christus  nicht  bei  seiner  Geburt,  sondern  erst  bei 
seiner  Taufe  den  Menschen  offenbar  geworden  sei.  Ein  eigenes  Geburts- 
fest Christi  gab  es  damals  in  der  griechischen  Kirche  noch  nicht,  sondern 
die  Geburt  Christi  wurde  als  das  praecedens  und  untergeordnete  am  Epipha- 
nienfeste,  welches  auf  den  sechsten  Januar  fiel,  mitgefeiert.  Mit  der  Feier 
der  Taufe  Christi  verband  sich  die  Feier  der  Taufe  der  Chi'isten,  insofern 
man  annahm,  dass  Christus  durch  seine  Taufe  dem  Wasser  die  Eigenschaft 
mitgetheilt  habe,  ein  Bad  der  Wiedergeburt  zu  werden,  daher  das  Fest 
auch  den  Namen   ta  (paata,    ^fieqa   tcov  ^lotcoy  erhielt.    Die  erste  Spur 


GottesdienstUclie  Tage  und  Zeiten.  371 

der  Epiphanie  findet  sich  im  lateinischen  Ahendlande  im  Jahre  360,  in 
welchem  Jahre  der  nachmalige  Kaiser  Julian  in  Vienne  an  der  Feier  des 
Festes  Theil  nahm.  Weil  es  nicht  zur  Tradition  der  lateinischen  Kirche 
gehörte,  konnte  seine  Bedeutung  um  so  leichter  sich  ändern.  Schon  zu 
Augustinus  Zeit  war  es  Fest  der  Offenbarung  Christi  für  die  Heiden,  und 
als  Substrat  diente  die  Anbetung  der  Weisen  aus  dem  Morgenlande ;  daher 
der  spätere  Name  Dreikönigsfest;  noch  andere  Gesichtspunkte  wurden 
mit  dem  Feste  verbunden.  —  Merkwürdigerweise  waren  die  Schüler  des 
Basilides  die  ersten  gewesen,  die  das  Fest  gefeiert  hatten.  Noch  muss 
bemerkt  werden,  dass  an  der  Epiphanie  die  von  der  alexandrinischen  Kirche 
berechnete  Zeit  der  Osterfeier  des  jedesmaligen  Jahres  verkündigt  wurde. 

Die  Kirchenlehrer  beeiferten  sich,  durch  ihre  Predigten  allen  diesen 
Festen  eine  auf  Besserung  des  Lebens  und  innerliche  Erneuerung  bezüg- 
liche Bedeutung  und  Anregung  zu  geben.  Sie  protestirten  kräftig  gegen 
den  religiösen  Formalismus,  der  sich  vielfach  daran  knüpfte.  Sie  eiferten 
gegen  diejenigen,  welche  für  die  erzwungenen  Entbehrungen,  welche  ihnen 
durch  die  Fasten  auferlegt  wurden,  sich  durch  Schwelgerei  in  den  voraus- 
gehenden Tagen  im  Voraus  zu  entschädigen  suchten  (so  Chrysostomus),  ebenso 
rügten  sie  kräftig  diejenigen,  welche  aus  den  Speisen,  die  ihnen  während 
der  Fasten  erlaubt  waren,  desto  auserlesenere  Leckereien  sich  zu  bereiten 
wussten  (so  Augustin)  i).  Sie  widersetzten  sich  auch  den  Missbräuchen, 
wozu  die  Feste  zu  Ehren  der  Märtyrer  Anlass  gaben.  Es  wurden  nämlich 
nach  der  heidnischen  Sitte  der  Opfermahlzeiten  mit  jenen  Festen  Gast- 
mähler verbunden.  Ein  Concil  von  Hippo  zur  Zeit  Augustin's  bestimmte, 
dass  die  Laien,  soviel  wie  möglich  (quantum  fieri  potest)^  davon  abgehalten 
werden  sollten.  Die  Synoden  erklärten  sich  auch  gegen  die  Missbräuche,  welche 
mit  der  Feier  des  Festes  zu  Ehren  Johannis  des  Täufers  verbunden  waren, 
sei  es,  dass  in  den  Strassen  der  Stadt  grosse  Feuer  angezündet  wurden, 
über  welche  die  Leute  sprangen,  um  Unglück  abzuwenden,  —  wahrschein- 
lich nach  dem  heidnischen  Vorgange  der  Hirtenfeste,  —  sei  es,  dass  am 
Tage  des  Täufers  die  Leute  sich  in  das  Wasser  tauchten. 

Je  mehr  die  MärtjTer  in  die  Vergangenheit  rückten,  desto  höher  stieg 
ihre  Verehrung.  Gross  und  heilsam  ist  die  Macht  geschichtlicher  Erinner- 
ungen und  die  Kirche  hatte  vollkommen  Recht,  die  herrlichen,  religiös- 
sittlich so  tief  anregenden  und  stärkenden  Erinnerungen,  die  sie  besass, 
zu  pflegen.  Für  das  Volk  nun  ersetzte  der  Märtyrercultus  den  Heroendienst 
des  antiken  Heidenthums.  Die  Kirchenlehrer  gingen  auf  diese  Vorstellung 
ein,  in  der  guten  Absicht,  dem  im  Heidenthum  irre  gehenden  religiösen 
Bedürfniss  auf  christlichem  Boden  Befriedigung  zu  gewähren.  So  führt 
Euseb  von  Cäsarea  (demonstr.  ev.  13,  11)  ein  Wort  Plato's  an,  dass  man 
die  in  der  Schlacht  eines  rühmlichen  Todes  Gefallenen  als  gute  Geister 
verehren  solle;  das  passt,  bemerkt  er,  zum  Tode  der  Gottgeliebten;  daher 
die  Sitte,  sich  auf  ihren  Gräbern  zu  versammeln  u.  s.  w.  Theodor  et 
sagt  geradezu,  dass  der  Herr  seine   ,,todten  Angehörigen^'    an   die  Stelle 


1)  Restringendae   sunt  deliciae,   non  mutandae,   ein  Missbrauch,   der  bis   auf  den 
heutigen  Tag  in  der  katholischen  Kirche  verbreitet  ist. 

24* 


372  Zweite  Periode  des  alten  Katholicisnm^, 

der  heidnischen  Heroen  gesetzt  habe ;  ;,anstatt  der  Feste  des  Dionysos  und 
Anderer  werden  nun  die  Feste  des  Petrus ,   Pauhis ,    Sergius  und  Anderer 
gefeiert.**     Da   war   unmittelbare  Gefahr  vorhanden,    dass   die  Grenzlinie 
zwischen  Heidenthum  und  Christenthum  überschritten  würde.     Dass   man 
im  frommen  Glauben,  dass  die  Märtyrer  für  die  Zurückgebliebenen  beteten, 
sich   ihrer  Fürbitte   empfahl,   wenn   sie  in  den  Tod  gingen,    das   an   sich 
mochte   noch  hingehen,   obschon  Chrysostomus    (zu  Matth.  15,  21)    darauf 
dringt,    dass  die  Gläubigen   sich    unmittelbar  an  Gott  wenden.    Denn  der 
Glaube  an  die  Fürbitte  der  Märtyrer  führte  dazu,  ihnen  eine  Art  von  Ubiquität 
beizulegen,   wie  sie  den  heidnischen  Dämonen  war  zugeschrieben  worden, 
besonders  geschah  diess  von  Seite  der  origenistischen  Theologen.   Hieronymut? 
(in  der  Schrift  gegen  Vigilantius  lib.  2)  sucht  der  Sache  eine  ganz  christ- 
liche Wendung  zu  geben.     ^, Willst  du,  so  redet  er  diesen  Gegner  der  Mär- 
tyrerverehrung  an,    willst   du  Gott  Gesetze  vorschreiben?    Willst  du  die 
Apostel  in  Bande  legen,  so  dass  sie  auf  den  Tag  des  Gerichts  in  Gewahr- 
sam gehalten    werden   und  nicht    immerdar   mit    ihrem  Herrn   sind,    vor 
welchen  doch  geschrieben  ist,   dass  sie  dem  Lamme  nachfolgen,  wohin  es 
auch  sich  wende?   Ist  das  Lamm  überall,  so  muss  man  auch  glauben,  dass 
diejenigen,  die  mit  dem  Lamme  sind,  überall  sind.    Wenn  der  Teufel  und 
die  Dämonen   in    der   ganzen  Welt  herumschwärmen    und   vermöge   ihrer 
grossen  Schnelligkeit  überall  gegenwärtig  sind,  werden  die  Märtyrer  nach 
Vergiessung  ihres  Blutes   an  der  Stätte  ihres  Begräbnisses  eingeschlossen 
bleiben   und   sie  nicht  verlassen  können?"    So  wurden  denn  die  Märtyrer 
als  gegenwärtig  angeredet  und  gepriesen  als  Hüter  des  Menschengeschlechts, 
als  mächtige  Fürsprecher  u.  s.  w.  (Basilius).    Man  wählte  sie,  wie  ehemals 
die  heidnischen  Heroen,  zu  Patronen.     Man  fand  die  alte  Sitte,   an  ihren 
Gedächtnisstagen   sie  in   die  Gebete  einzuschliessen ,    unschicklich.    Sogar 
Augustin  meinte,    es  sei  ein  Schimpf,  für  sie  zu  beten,   in  deren  Fürbitte 
wir  uns  vielmehr  empfehlen  sollen.     Daher   das  Opfer   nicht  mehr  für  sie 
dargebracht  wurde,  sondern  Gott  gebeten,   dass  das  Opfer  kraft  der  Für- 
bitte der  Märtyrer  den  Darbringenden  zum  Heile  gereiche.     Kirchenlehrer! 
wie  Augustin  und  Andere  suchten  zwar  dem  Märtyrercultus  seinen  sittlichen 
Gehalt  zu  bewahren:    Man  solle  sie  verehren  um  der  Nachahmung  willen, 
sie  aber  nicht  anbeten  in  religiöser  Weise  ^).      Aber    diese  Ermahnungen 
selbst  bezeugen,    wie   sehr  die  abgöttische  Verehrung   schon   um  sich  ge- 
griffen hatte.     Zeugen  davon  sind  Prudentius   c.  405,    in   seinem    über 
7i€Qi  (TtBipavoav  und  Bischof  Paulinus  von  Nola  1431  in  seinen  Briefen 
und  Gedichten. 

Es  kam  der  Gebrauch  auf,  ihnen  Kirchen  zu  weihen,  und  die  schon 
frühere  Verehrung  ihrer  Reliquien  nahm  mehr  und  mehr  einen  abergläu- 
bischen Charakter  an.  Ursprünglich  hatte  die  Benennung  der  Kirchen 
nach  Märtyrern  nicht  angedeutet,  dass  sie  denselben  geweiht  wären,  aber 
sie  wurde  nach  und  nach  so  gedeutet.  Sowie  die  Heiden  zu  Ehren  ihrer 
Heroen  Tempel  bauten,  zum  Theil  auf  ihren  Gräbern,  so  nun  die  Christen, 
oder  es  wurden  die  Reliquien  der  Märtyrer,  die  oft  durch  besondere  Offen- 
barungen entdeckt  wurden,    an  die  Stelle  gebracht,    wo   man  eine  Kirche, 

1)  Honorandi  sunt  propter  imitationem,  non  adorandi  propter  religionem. 


Märtyrer-  und  Maria  -  CultuS.  373 

baute  und  unter  den  Alter  gesetzt,  wohl  mit  Beziehung  auf  Apokalypse 
6,  9.  Die  Reliquien  wirkten  Wunder  in  Menge,  wovon  auch  Augustin  (de 
civitate  dei  22,  7)  zu  erzählen  weiss.  Zu  diesem  Behufe  musste  die  Zahl 
der  Reliquien  bald  ins  Ungeheure  anwachsen,  mannigfaltiger  Betrug 
wurde  dadurch  veranlasst,  und  ein  einträglicher  Handel  damit  getrieben, 
den  Augustin  zwar  ernst  rügte  und  Theodosius  I.  durch  ein  Gesetz  zu 
beseitigen  suchte.  Eine  neue  Quelle  von  Reliquien  eröffnete  sich  in  Folge 
der  Wallfahrten  nach  dem  heiligen  Lande,  die  seit  dem  vierten  Jahrhundert 
aufkamen.  Die  Kirchenlehrer  suchten  zwar  dem  groben  Aberglauben,  der 
sich  daran  knüpfte,  zu  steuern.  Hieronymus,  der  sehr  wohl  weiss,  dass 
es  nicht  lobenswerth  ist,  Jerusalem  besucht  zu  haben,  sondern  daselbst 
gut  gelebt  zu  haben,  imd  dass  in  Jerusalem  gleichmässig  wie  in  Britannien 
der  Himmel  offen  steht,  sucht  dennoch  die  Leute  nach  der  heiligen  Stadt 
zu  locken,  indem  die  Anbetung  an  der  Stätte,  wo  des  Herrn  Füsse  ge- 
standen haben ,  ein  Theil  des  Glaubens  sei  i).  Gregor  von  Nyssa  kommt 
das  Verdienst  zu,  gegen  diese  Wallfahrten  ohne  Rückhalt  sich  erklärt  zu 
haben ,  indem  er  besonders  das  betonte ,  dass  es  keine  Art  von  Unreinheit 
gebe,  welche  an  den  heiligen  Orten  nicht  verübt  werde.  —  Seit  dem 
Ende  des  vierten  Jahrhunderts  entstand  auch  die  Sage,  dass  die  Kaiserin 
Helena,  Mutter  Constantin's,  bei  ihrem  Besuche  in  Jerusalem  das  Kreuz 
Christi  wieder  aufgefunden  habe  2).  Die  Partikeln  desselben  galten  als 
Wunder  wirkend,  und  es  entstand  der  Glaube,  dass  das  Kreuz  vermöge 
einer  inwohnenden  Kraft  sich  immerfort  erneuere. 

Vom  Cultus  der  Maria  findet  sich  in  der  ersten  Periode  keine  Spur, 
sondern  nur  die  harmlose  Vorstellung,  dass  Maria  als  Werkzeug  der 
Menschwerdung  Christi  die  mittelbare  Ursache  der  Segnungen  sei,  welche 
sich  an  seine  Erscheinung  knüpfen.  Sie  galt  als  Antitypus  der  Eva;  wäh- 
rend diese  der  Schlange  glaubte  und  dadurch  Urheberin  der  Sünde,  des 
Fluches  und  des  Todes  wurde,  so  glaubte  Maria  der  Botschaft  des  Engels 
und  wurde  dadurch  Werkzeug  des  Heils  und  des  Lebens.  Irenäus  nennt 
sie ,  einen  Schritt  weiter  gehend ,  advocata  vlrginis  Evae ,  zwar  nur  in  dem 
Sinne,  dass  sie  durch  ihren  Gehorsam  gegen  die  Botschaft  des  Engels  die 
Folgen  von  Eva's  Ungehorsam  gut  gemacht  habe,  allein  die  spätere  Zeit 
nahm  die  Benennung  advocata  als  Fürbitterin.  Als  zweites  Moment  für 
die  Entstehung  des  Marienculfus  ist  die  grosse  Werthschätzung  des  aske- 
tischen Lebens  und  der  Virgiuität,  welche  durch  das  Mönchthum  im  vier- 
ten Jahrhundert  solch  einen  mächtigen  Antrieb  erhielt,  anzusehen.  Es 
kam  daher  die  Meinung  auf,  dass  Maria  nach  der  Geburt  Jesu  mit  Joseph 
keinen  ehelichen  Umgang  gepflogen  und  ihm  keine  Kinder  geboren  habe. 
Die  entgegengesetzte  Ansicht  der  Antidikomarianiten,  des  Helvidius 
und  des  Bonosus,  Bischofs  von  Sardica,  wurde  als  häretisch  verworfen 
von  Epiphanius  (haer.  78),  und  von  Hieronymus  (adv.  Helvid.).    Einen 

1)  Augustin  1.  c.  berichtet  von  einem  Wunder,  welches  durch  Erdstaub  vom  Grabe 
des  Herrn  in  Jerusalem  gewirkt  worden. 

2)  Euseb  de  vita  Const.  3,  41  berichtet  weitläufig  über  die  Reise  der  Kaiserin  nach 
dem  gelobten  Lande  und  über  ihre  kirchlichen  Bauten  bei  Bethlehem  und  auf  dem  Oel- 
berge,  sagt  aber  kein  Wort  davon,  dass  sie  das  Kreuz  Christi  aufgefunden  habe. 


374  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

bedeutenden  Schritt  weiter  zu  gehen,  wurden  die  Kirchenlehrer  veranlasst 
durch  die  Polemik  gegen  Jovinian,  der  lehrte,   dass  mit  der  Geburt  Jesu 
die    Jungfräulichkeit    seiner  Mutter    aufgehört   habe.     Die   Kirchenlehrer 
stellten   dagegen  den  Satz  auf,    dass  Maria  sowohl  in  als  auch  nach  der 
Geburt  physisch  Jungfrau  geblieben  sei,  d.  h.,  dass  sie  clauso  utero  gebo- 
ren habe,  —  freilich  durch  ein  Wunder,  wozu  als  Analogon  der  Eingang 
des  Auferstandenen  zu  seinen  Jüngern   durch  verschlossene  Thüren  gerne 
benützt  wurde.      So  Ambrosius  und  Pelagius.      Die    apokryphischen  Evan- 
gelien, besonders  das  Protevangelium  Jacobi,  das  dem  vierten  Jahrhundert, 
angehört,  wurden  benützt,   um  die  Geschichte  der  Maria  auszuschmücken. 
Bei  alledem  sprachen  die  Kirchenlehrer  dieser  Periode  gleichwie  die  der 
fi'üheren  offen  von  den  Fehlern  der  Maria.    Chi'ysostomus  zu  Matth.  12^  48  ö'. 
findet  in  diesen  Worten  der  Rüge   die    gerechte  Strafe   für   die  Eitelkeit, 
womit  sie  vor  dem  Volke  ihre  mütterliche  Autorität  habe   zeigen  wollen. 
Aber   schon  in  Schriften   des   fünften  Jahi'hunderts    wird  der  Beweis  zu 
führen  gesucht,  dass  Christus  seine  Mutter  niemals  getadelt  habe;  ja  man 
verstieg  sich  schon  zu  der  Behauptung,   Maria  habe  durch  ihi'e  Tugenden 
alle  Weiber  übertroff'en.     Doch  Epiphanius,    so  sehr  er  sonst  für  die  ver- 
meintliche Ehre  der  Maria  eifert,   protestirt  noch  auf  das   entschiedenste 
gegen  ihre  Anbetung,  die  allein  dem  Herrn  gebühi'e.    Er  stritt  gegen  eine 
Partei  schwärmerischer  Weiber  in  Ai'abien,  die  er  Collyridiane rinnen 
nennt  (haeresis  79);  sie  betrachteten  sich  als  Priesterinnen  der  Maria  und 
fuhren  an  einem  ihr  gewidmeten  Tage  geweihte  Brodkuchen  auf  Wagen  in 
feierlicher  Procession   herum;    diese   wurden   der  Maria   als  Opfer  darge- 
bracht  und   darauf  in  gemeinsamer  Mahlzeit   verzehrt.     Epiphanius,    der 
darüber  entrüstet  war,  erklärte,  dass  Maria  keine  Göttin  sei;  in  der  That 
scheint  das  Ganze  den  Gebräuchen  bei  dem  heidnischen  Erntefest  zu  Ehi'en 
der  Ceres  nachgebildet  zu  sein.    Doch  die  Opposition  in  dieser  Beziehung, 
sowie  in  anderer,  konnte  dem  Uebel  nicht  gründlich  abhelfen,  da  man  die 
Wurzel  des  Uebels  nicht   abschnitt.     Je  mehr  es  aufkam,   dass   man  die 
Maria  Mutter  Gottes  {d^eotoxog)  nannte ,  seitdem  sogar  Gregor  von  Naziauz 
Jeden  füi-  gottlos  erklärte,  der  die  Gültigkeit  des  Ausdrucks  zu  bestreiten 
wage,    nahm  der  Mariencultus   einen  gewaltigen  Aufechwung;   denn,    wie 
richtig  bemerkt  worden,   war  derselbe  in  jenem  Ausdi'ucke  wie  im  Keime 
enthalten.  Der  nestorianischen  Streitigkeit  lag  nicht  blos  ein  christologisches, 
sondern  auch  ein  marianisches  Interesse  zu  Grunde ;  als  dieses  letztere  durch 
die  Sanctionirung  des  ^eotoxog  hinlänglich  gewahrt  schien,  Hess  man  sich 
in  Chalcedon  Bestimmungen  getallen,  welche  wesentlich  mit  denjenigen  der 
autiochenischeu  Schule  übereinstimmten.     Man  sprach  von  der  Mutter  des 
Herrn  in  den  überschwänglichsten  Ausdrücken.     Proclus  und  Cyrill,  beide 
Gegner  von  Nestorius ,  jener  auch  sein  Nachfolger  in  Constantinopel,  wett- 
eiferten  in   ihren  Predigten   miteinander    in   den   schwülstigsten  Lobeser- 
hebungen der  Mutter  Gottes.  —     Ihre  Verehrung  verschmolz   sich  fortan 
mit  dem  Märtyi'ercultus ;  sie  wurde  an  die  Spitze  des  Chores  der  Heiligen 
gestellt  1),  die  Gebete  wurden  nun  an  sie  gerichtet,  Kirchen  zu  ihrer  Ehre 

1)  Denn  es  war  durch  Aufnahme  der  Frommen  des  Alten  und  Neuen  Bundes,  auch 
angesehener  Mönche  der  Märtyrerkreis  zum  Heüigenchor  erweitert  worden. 


Der  öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  375 

erbaut.    Doch  ist  es  nicht  ganz  sicher,   dass  schon  ein  eigenes  Fest  ihr  zu 
Ehren  ist  gestiftet  worden  i);  aber  der  Boden  dafür  war  vorbereitet. 

3)  Der  Gottesdienst  selbst.     Der  öffentliche,   sonntägliche 
Gottesdienst  insbesondere. 

In  der  ersten  Periode  haben  wir  zwei  Theile  des  gewöhnüchen  Gottes- 
dienstes wahrgenommen;   diese  Eintheilung   wurde  noch  befestigt  im  Zusam- 
menhang mit  dem  Verfahren   der  Kirche   gegen   die  Katechumenen   und  die 
Excommuniciiten   und   durch   bestimmte  Benennungen   unterschieden.     Zum 
ersten  Theile  gehörte  Gesang,   Vorlesung  aus  der  Schrift,    Predigt,    Gebet, 
zum    zweiten   das   allgemeine  Kirchengebet  und  die  Abendmahlsfeier.     Der 
nicht  vor  dem  vierten  Jahrhundert  vorkommende  Ausdruck  2)  missa  (Messe), 
ist  am  wahrscheinlichsten  gleich  bedeutend  mit  missio  und  dieser  Ausdruck 
gleich  ditnissio  zu  verstehen  und   wurde   gebraucht   von   der   am  Ende  des 
ersten   Abschnittes  vollzogenen   Entlassung   der  Katechumenen;    daher  der 
Ausdruck  missa  catechumenorum;  davon  unterschied  man  den  zweiten 
Theil  als  missa  fidelium.    Aehnüche  Formeln  der  Entlassung  gab  es  bei 
Volksversammlungen  und  bei  der  Feier  der  heidnischen  Mysterien.     Auf  die 
Unterscheidung  jener  beiden  Theile  wurde  um  so  eifriger  gehalten,  je  mehr 
die  Arcandiscipüu   aufblühte,   besonders    im  vierten  Jahrhundert;    daher  in 
den  Liturgieen  und  Predigten  dieser  Zeit  öfter  von   den  Eingeweihten,    von 
der  Einweihung  die  Rede   ist  ^j.     Mit   der  Ueberwindung   des  Heidenthums 
und  der   allgemeinen  Einführung   der  lündertaufe  hörte   die  Arcandisciphn 
und  die  Entlassung  eines  Theiles  der  Anwesenden  vor  der  Feier  des  Abend- 
mahles von  selbst  auf.      Ambrosius   in    der  Epistel  an  seine  Schwester  Mar- 
cellina benannte  die   missa  fidelium   in   vorzüglichem  Sinne   als   missa;   bis 
zuletzt  das  eucharistische  Opfer  mit  den  dazu  gehörigen  Gebeten  Messe  ge- 
nannt  wurde.      In   der  griechischen  Kirche   wurde    der  Ausdruck  Liturgie 
{XaixovqY^fx,  t(av  xazTjxovfi€vo)y,   %(üv  niattüv)   gebräuchlich  für  die  Bezeich- 
nung   des  Gottesdienstes,    nach   dem  Vorgange  von  Apostelgesch.  13,  2.    In 
der  LXX  wird  das  Wort  Liturgie    gebraucht    vom  Opferdienste  der  Priester 
Exod.  28,  31.    Numeri  4,  38.    Dass  es  deswegen  in  der   angeführten  Stelle 
der  Apostelgeschichte   nicht   auch   Opferdienst   bedeute,    versteht   sich   von 
selbst.    Gebraucht  doch  Paulus  Rom.  15,  27   denselben  Ausdruck  in  allge- 
meinerer Bedeutung. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  wohnen  wir  dem  sonntäghchen 
Gottesdienste  bei.  Die  Gläubigen  wurden  zur  Kirche  gerufen  nicht  durch  die 
erst  im  siebenten  Jahrhundert  in  der  lateinischen  Kirche  aufkommenden  Glocken, 
sondern  durch  einen  an  eine  Platte  von  Eisenblech   anschlagenden  Hammer 


.1)  Die  Lobrede  auf  Maria  von  Proclus,  worauf  Augustin  sich  beruft,  enthält  keine 
bestimmte  Andeutung  davon,  dass  schon  ein  Marienfest  bestand. 

2)  Bellarmin  Tom.  3  p.  410  führt  dafür  keine  älteren  Zeugen  auf,    als  solche,    die 
dem  vierten  Jahrhundert  angehören. 

3)  laactv  oi'  ^i^vrjfiivoiy  oi  Gv^^varm  im  Gegensatz  zu  den  afxvtixoi,  sodann 
uvri^ivitqy  .uvrjGti.     Augustin  hat  als  Ausdruck  der  Arcandisciplin :  norunt  fideles. 


376  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

(in  Klöstern  durch  Posaunen).  Auf  dem  Vorhofe  wuschen  sich  die  Eintre- 
tenden nach  antikem  Vorgange  am  Waschbecken,  x^i/v»/,  die  Hände  und 
machten  bei  dem  Eintreten  in  die  Kirche  das  Zeichen  des  Kreuzes  an  der 
Stirne.  Die  Geistlichen  versammelteif  sich  auch  an  den  ihnen  angewiesenen 
Plätzen,  alle  bekleidet  mit  dem  weissen  Linnengewand  {vestis  alba,  (tti- 
xaqiov).  Der  Bischof,  die  Presbyter  und  Diakonen  trugen  darüber  die 
(TToXa,  das  coQaQioy;  der  Bischof  und  die  Presbyter  darüber  den  weiten 
ganz  geschlossenen  Mantel  ((fadoprig,  planeta,  casula\  wobei  bereits  seit 
dem  Anfange  der  Periode  ein  gewisser  Prunk  an  den  Tag  gelegt  wurde,  um 
den  Eindruck  der  gottesdienstlichen  Feier  zu  erhöhen  ^). 

Der  Gottesdienst  begann  mit  dem  Gesang,  wie  schon  zu  Trajan's  Zeit. 
Der  Gesang,  der  zunächst  recitativ  gewesen,  wui'de  in  unserer  Periode  mehr 
ausgebildet.  Chrysostomus  beklagt  sich  bereits  über  theatralischen  Ausdruck 
desselben ,  Hieronymus  tadelte  es ,  dass  heidnische  Melodieen  christlichen 
Gesängen  untergelegt  wurden.  Es  wurden  eigene  Sänger  (ipaXtat)  dazu 
bestellt,  gewöhnlich  aus  den  jüngeren  Geistlichen  genommen,  wobei  aber 
doch  die  Theilnahme  der  Gemeinde  nicht  ausgeschlossen  war.  Im  Oriente 
wurde  um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  durch  die  Mönche  der  Wech- 
selgesang, Antiphonen,  erfunden,  von  Basilius  und  Chrysostomus  em- 
pfohlen, bald  auch  im  Abendlande  durch  Ambrosius  eingeführt.  Es  wurden 
zunächst  Psalmen  und  Hjmnen  gesungen.  Ehe  die  Antiphonen  eingeführt 
wurden,  sang  ein  Sänger  den  Psalm  vor,  und  die  ganze  Gemeinde  fiel  ein, 
die  Schlusszeilen  wiederholend.  Die  Psalmen  wurden  hauptsächlich,  doch 
nicht  ausschliesshch  in  der  missa  catechumenorum  gebraucht;  man  wählte 
für  bestimmte  Feste  einzelne  Psalmen  aus  (z.  B.  für  den  Todestag  Jesu  den 
22.  Psalm),  so  auch  für  den  Morgen-  und  den  Abendgottesdienst.  Das 
tQigayiov  aus  Jesaias  6,3,  im  vierten  Jahrhundert  etwas  erweitert  (Const. 
apost.  8,  12)  kam  in  der  missa  fidelium  vor.  In  der  missa  catechumenorum 
wurde  nach  dem  Psalmengesang  die  kleine  Doxologie  Apokal.  1,  6  gesungen, 
die  kleine  genannt,  im  Unterschiede  von  der  grösseren  Lucas  2,  14.  Frühe 
hatten  die  Christen  angefangen,  eigene  Lieder  für  den  gottesdienstlichen 
Gebrauch  zu  verfassen.  Im  Occidente  gab  es  im  vierten  Jahrhundert  be- 
deutende Liederdichter,  Hilarius  von  Poitiers,  Ambrosius  von  Mailand. 
Von  den  dreissig  Hymnen,  die  diesem  zugeschrieben  werden,  sind  aber  nur 
zwölf  imzweifelhaft  acht  2) ;  dazu  kommen  einige  Lieder  von  unbekannten 
Verfassern.  Das  besondere  Merkmal  dieser  Hymnendichtung,  die  gewöhnlich 
die  römische  oder  ambrosianische  genannt  wird,  ist,  wie  Koch  bemerkt  5), 
Schmucklosigkeit,  Einfalt  und  Wahrheit,  verbunden  mit  gewaltiger  Kraft 
und  acht  römischer  Objectivität. 

Auf»  den    Gesang  folgte  das   Lesen  der    Schrift,   zunächst  des  Alten 


1)  Im  gewöhnlichen  Leben  trugen  die  Geistlichen  ein  schwarzes  Gewand.  Sisinnius, 
novatianischer  Bischof,  der  dnrch  sein  weisses  Gewand  Aufsehen  erregte,  fragte,  wo  ge- 
schrieben stehe,  dass  der  Bischof  schwarz  gekleidet  sein  müsse. 

2)  Im  zweiten  Bande  der  opera  des  Ambrosius  nach  der  Benedictinerausgabe.  Te 
Deum  laudamus  hat  Ambrosius  aus  dem  Griechischen  tibersetzt. 

3)  S.  den  Artikel  Ambrosius  in  der  Realencyklopädie. 


Der  öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  377 

Testamentes,  sodann  auch  des  Neuen  Testamentes.  Es  wurde  bald  verbo- 
ten ,  die  Schriften  alter  Kirchenlehrer  zu  lesen ,  höchstens  machte  man 
noch  mit  den  Leidensgeschichten  der  Märtyrer  eine  Ausnahme.  Man  regelte 
für  die  Jahresfeste  und  deren  Yorbereitungszeiten  allmählich  die  Auswahl  der 
zu  lesenden  Stücke,  verschieden  in  den  verschiedenen  Kirchen.  In  der  an- 
tiochenischen  Gemeinde  las  man  noch  vor  Pfingsten  die  Apostelgeschichte ;  in 
der  Fastenzeit,  in  Antiochien,  sowie  in  Constantinopel  die  Genesis,  in  Mai- 
land Hiob  und  Jonas.  Für  die  Festlectionen  hatte  sich  schon  in  dieser  Pe- 
riode eine  feste  kirchUche  Regel  gebildet.  Für  die  übrigen  Tage  scheint  die 
Wahl  noch  dem  Bischöfe  überlassen  gewesen  zu  sein.  —  Der  Lector  begann 
die  Function  mit  dem  Segenswunsche:  Friede  sei  mit  Euch,  worauf  die  Ge- 
meinde antwortete:  und  mit  deinem  Geiste.  Der  Diakon  ermahnte  zur  Auf- 
merksamkeit, öfter  laut  rufend:  ^^lasset  uns  aufmerken"  {nqoqexmiiev).  Bei 
der  Vorlesung  des  evangeüschen  Abschnittes  wurden  im  Morgenlande  Lichter 
angezündet,  und  zwischen  den  einzelnen  biblischen  Lectionen  Psalmen  ge- 
sungen. 

Auf  das   Vorlesen  der  Schrift  folgte,    eingeleitet   mit   demselben    Se- 
genswunsche wie  das  Vorlesen  der  heiligen  Scluift,  die  Predigt,  von  dem  Sitze 
des  Bischofs,  wenn  dieser  predigte,  ausserdem  von  dem  Altare  oder  auch  vom 
Ambo  aus  gehalten;  diess  wurde  von  Chrysostomus  beobachtet.    Es  gab  sehr 
mannigfaltige  Arten  von  Predigten  oder  Ansprachen,  —  über  den  vorgelesenen 
Abschnitt  der  Schrift,  über  ganze  Bücher,  die  in  serie  beh^delt  wurden,  so 
von  Origenes,  von  Chrysostomus ;  auch  Reden  ohne  eigentlichen  Text,  Festreden, 
Reden  bei  der  Einweihung  einer  neuen  Kirche,   oder   eines  Bischofs  in  sein 
Amt,   Reden  am  Geburts-   oder  Ordinationstage,  —  Reden  bei  Hungersnoth 
und  Dürre,   nach   einem  Erdbeben,   bei   dem  speciellen  Anlasse  des  Sturzes 
des  Eutropius  von  Chrysostonms ;   von  demselben  Reden,   die   sich  auf  seine 
Verbannung  beziehen ,  sodann  Gedächtnissreden ,  auf  Theodosius  I. ,  die  kai- 
serliche Prinzessin  Pulcheria  u.  s.  w.    Die  Reden   der  Griechen  sind  länger 
als  die  der  Lateiner  schon  zu  des  Origenes  Zeiten.     Die  Reden  wurden  theils 
niedergeschrieben   und    memorirt,    theils    nach    ausgearbeitetem  Plane    frei 
gehalten,  theils  ganz  improvisiit.     Einige  Predigten  ausgezeichneter  Kanzel- 
redner wurden   in   der  Kirche  nachgeschrieben,    einige  beklatscht;    es    gab 
Prediger,  die  daran  grosses  Gefallen  fanden.    Augustin   erntete  auch,   ohne 
es  darauf  anzulegen,  diese  stünnischen  Beifallsbezeugungen:  ,,Ihr  habt,  sagte 
er   bei   einem   solchem  Anlasse,  den  Samen  des  Wortes  empfangen  und  mir 
datür  Worte  gegeben  ^).    Euer  Lob  ist  mir  beschwerhch  und  gefährlich,  wü* 
tragen  es  mit  Zittern."    Wenn   ein   berühmter  Prediger  predigte,    sah   man 
das  auffallende  Schauspiel,   dass,   so   wie  die  Rede  zu  Ende  war,   die  über- 
füllte Kirche  sich  alsobald  leerte.     Chrysostomus  *  fand  es  einst  angemessen, 
seinem  Auditorium  zuzurufen:  „ihr  seid  hier  nicht  im  Theater,  ihr  sitzt  hier 
nicht,  um  Komödianten  zu  sehen."  —     Zum  Predigen  berechtigt   waren   in 
der  früheren  Periode  Bischöfe,  Presbyter  und  Diakonen  gewesen.    Je  mehr 
(üe  Macht  des  Bischofs  sich  hob,    desto   mehr  kamen   die  Presbyter  in  Ab- 
hängigkeit  von   demselben   auch  in   Hinsicht   des  Predigens;   die  Presbyter 


1)  Semen  accepistis,  verba  reddidistia. 


378  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

predigten  als  Delegirte  des  Bischofs.  Es  lag  aber  in  der  Natur  der  Sache, 
dass  die  Presbyter  viel  predigten;  die  Vermelirung  der  Gläubigen  brachte 
das  mit  sich;  auch  Diakonen  predigten  wie  in  alter  Zeit.  In  der  lateinischen 
Kirche  wurde  das  Predigen  bei  weitem  nicht  so  fleissig  geübt,  wie  im  grie- 
chischen Morgenlande.  Die  theologischen  Streitigkeiten  brachten  es  mit  sich, 
dass  der  Inhalt  vieler  Predigten  ein  dogmatischer  war ;  doch  kann  man  nicht 
sagen,  dass  die  Sittenpredigten  fehlten.  Es  war  übrigens  die  Zeit  der  höchsten 
Blüthe  der  geistlichen  Beredtsamkeit;  es  genügt  in  der  griechischen  Kirche 
Gregor  von  Nyssa,  Basilius,  Gregor  von  Nazianz,  Chrysostomus,  in  der  latei- 
nischen Kirche  Ambrosius,  Hilarius  von  Poitiers,  Augustin,  Leo  I.  zu  nennen. 
Es  darf  nicht  verschwiegen  werden ,  dass  auch  die  Meister  der  geistUchen 
Beredtsamkeit  nicht  immer  falsche  Rhetorik  vermieden,  viel  weniger  Prediger 
geringeren  Banges.  Augustin  betiiss  sich  einer  schmucklosen  Dictiou,  die  sehr 
an  das  punische  Latein  erinnerte;  er  wolle  lieber,  sagte  er,  die  Vorwürfe 
der  Grammatiker  sich  zuziehen  als  die  Vorwürfe  der  Gemeinde,  dass  er  un- 
verständhch  predige. 

An  die  Predigt  schloss  sich  unmittelbar  ein  Gebet  ani).  Darauf  wur- 
den die  verschiedenen  Classen  derjenigen,  welche  nicht  am  ferneren  Gottes- 
dienste Theil  nehmen  durften,  die  erste  Classe  der  Katechumeneu,  die  Ener- 
gmuenen  und  die  Poenitenten  unter  Gebet  und  Segenswunsch  entlassen.  Das 
Volk  tiel  ein  mit  den  Worten:  Herr,  erbarme  dich  [xvqu  ileriaov).  Damit 
war  der  erste  Theil  des  Gottesdienstes  beendet,  und  es  begann  nun  der 
zweite  Theil. 

Der  Diakon  ruft:  ;,lasset  uns  aufmerken^  {nqoqex(*ii^^y)'>  der  Bischof: 
;,der  Friede  Gottes  sei  mit  euch  allen,**  das  Volk :  ^^und  mit  deinem  Geiste.^ 
Der  Diakon  sagt  zu  allen :  Küsset  euch  mit  dem  heiligen  Kusse,  die  Kleiiker 
sollen  den  Bischof  küssen,  die  Männer  unter  den  Laien  sich  untereinander, 
ebenso  die  Weiber  2).  Die  Mysterienform  3)  wii'd  dabei  streng  beobachtet 
durch  den  Zuruf  des  einen  Diakon :  es  sei  hier  kein  Katechumene ,  keiner 
der  Ungläubigen,  kein  Heterodoxer :  Dazu  kommen  noch  sittUche  Ermahnungen ! 
keiner  der  etwas  gegen  den  andern  habe,  keiner  in  heuchlerischer  Gesinnung. 
Die  Gebete  werden  theils  knieeud,  theils  aufrechtstehend  verrichtet.  Darauf 
bringen  die  Diakone  die  Gaben  der  Gläubigen  zum  Altar,  wo  der  Bischof, 
der  das  Prachtgewand,  die  Casel  {^.aiinqav  ea^TjTa)  angezogen,  sie  in  Em- 
pfang nimmt  und  das  Zeichen  des  Kreuzes  darüber  macht.  Nach  dem  wie- 
derholten Segenswunsch  ruft  der  Bischof:  ^ habet  droben  den  Sinn  (die 
Merzen)"*,  arco  xov  vovv  {tag  xagdiag).  Bei  Chrysostomus  ist  beides  verbunden: 
ava(rxM(Ji>€r   ruAcoy   tov  vovv  xai  tag  xaqdiag ;  —  die  Gemeinde  antwortet : 


1)  Chrysostomus:  fura  rrjy  naQaiytCty  tv&6(og  «t;/?y. 

2)  Also  vor  der  Communion.  In  der  lateinischen  Kirche  geschieht  diess  nach  der 
Consecration. 

3)  Wie  denn  überhaupt  diese  Mysterienform  als  disciplina  arcani  öfter  sich  zeigt  j 
es  wird  dafür  gebetet,  dass  die  Katechumenen  der  Einweihung  {fxvtjciq)  würdig  werden; 
es  werden  die  a^vr^iot  vom  zweiten  Theile  des  Gottesdienstes  ausgeschlossen  u.  A.  dgl. 
Es  wird  bestimmt  gesagt,  dass  keiner  der  ungeweihten  {afxvfjitay)  die  Elemente  gemessen 
soll.  Wenn  er  ungeweiht  sich  verbergend  sie  geniesst,  so  isst  er  ein  ewiges  Gericht. 


Der  öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  379 

wir  haben  sie  bei  dem  Herrn  (exo^isp  icqog  tov  xvqiov).  Der  Bischof:  las- 
set uns  danken  dem  Herrn.  Alle  rufen:  das  ist  so  geziemend  und  gerecht 
{tthov  xat  dtxaiov).  Nun  fällt  der  Bischof  wieder  ein  mit  der  Formel: 
^wahrhaftig  geziemend  und  gerecht  ist  es" ,  und  nun  folgt  ein  neues  Gebet, 
worin  Gott  der  Schöpfer  und  Erhalter  der  Welt ,  Gott  der  Schöpfer  der 
Menschen  gepriesen  wird,  ebenso  werden  die  Hauptthatsachen  der  bibhschen  Ge- 
schichte angeführt  und  dafür  wii-d  Gott  gedankt,  sowie  für  die  Sendung 
seines  Sohnes,  wobei  die  Umstände  seiner  Passion  erwähnt  werden.  Es  folgt 
die  Einsetzung  des  Abendmahles.  Die  Einsetzungsworte  sind  etwas  verändert  ^) 
„Wii-  bringen  dii-,  dem  Könige  und  Gotte,  gemäss  der  Verordnung  Christi 
dieses  Brod  und  diesen  Kelch  dar,  dir  dankend  durch  ihn,  dass  du  uns  ge- 
würdigt hast,  vor  dii'  zu  erscheinen  und  heihgen  Dienst  zu  verrichten,  und 
wir  bitten  dich,  dass  du  gütig  auf  diese  vorhegenden  Gaben  (Saga)  herab- 
sehen und  daran  Gefallen  haben  mögest  zur  Ehre  deines  Gesalbten  und 
dass  du  deinen  heiligen  Geist  auf  dieses  Opfer  herabsenden  mögest,  den 
Zeugen  der  Leiden  des  Herrn  Jesu,  auf  dass  er  dieses  Brod  als  Leib  deines 
Gesalbten  und  diesen  Kelch  als  Blut  deines  Gesalbten  an  das  Licht  bringe  2) 
auf  dass  die  daran  Theilnehmenden  in  der  Frömmigkeit  befestigt  werden,  die 
Vergebung  der  Sünden  erlangen,  vom  Teufel  und  seinem  Truge  befreit,  mit 
dem  heiligen  Geiste  erfüllt,  deines  Gesalbten  wüi^dig  werden  und  das  ewige 
Leben  erlangen^.  Das  war  die  Consecration,  ayiacfiog,  welcher  die  Enthüllung 
der  dui'ch  den  Altarvorhang  verdeckten  Elemente  vorausging.  Nun  folgte 
ein  langes  Gebet,  welches  Füi'bitten  enthielt  für  die  Kirche  und  ihre 
Diener,  für  den  König  und  die  Aimee,  für  die  Heihgen,  die  von  Alters  her 
sich  das  Wohlgefallen  Gottes  erworben  haben,  deren  einzelne  Classen 
aufgezählt  werden,  —  dann  für  das  Volk,  für  die  Einwohner  dieser  Stadt, 
für  die  in  die  Acht  Erklärten;  für  diejenigen,  die  uns  hassen  und  verfolgen 
um  deines  Namens  willen.  Nach  erneuertem  Segenswunsche  des  Bischofs  und 
Erwiederung  von  Seiten  der  Gemeinde  folgt  ein  Gebet,  das  ein  Diakon 
spricht,  dass  Gott  die  dargebrachte  Gabe  {donQOP  nqoüxoiiiad^ev)  durch  das 
Mttleramt  Christi  auf  den  himmlischen  Altar  versetzen  möge  zum  süssen 
Gerüche.  Hierauf  wurde  nach  vielen  Liturgieen,  aber  nicht  nach  den  apo- 
stoüschen  Constitutionen,  das  Unser  Vater  hergesagt,  wobei  in  der  lateinischen 
Kirche  das  Volk  jede  Bitte  mit  einem  Amen  begleitete.  Nach  erneuter  Auf- 
forderung zum  Aufmerken  spricht  der  Bischof:  ;,das  Heilige  den  HeiHgen^^; 
die  Gemeinde:  Einer  ist  heihg.  Einer  ist  Herr,  Einer  ist  Herr,  Einer  Chri- 
stus, hochgelobt  in  Ewigkeit,  Amen.  Darauf  die  grosse  Doxologie:  ;,Ehre  sei 
Gott  in  der  Höhe,  Friede  auf  Erden  und  den  Menschen  ein  Wohlgefallen. 
Hosianna  dem  Sohne  Davids,  der  da  kommt  im  Namen  des  Herrn,  und  dieser 
ist  uns  erschienen.  Hosianna  in  der  Höhe.''  Darauf  nimmt  der  Bischof  die 
Communiou,  nach  ihm  die  übrigen  Kleriker  nach  den  verschiedenen  Classen. 


1)  rovro    To  fdvCrrjQtoy  rrjg  xatyrjs  &iaO-TjXr]g  —  to  Soifxcc  fxoi)  to  nsQi  nokX(Ov 

2)  a7io(f7]yr],  —  anoifaivsiy  aufdecken,  enthüllen,  an  das  Licht  bringen,  zeigen, 
dasd  etwas  sei.  In  andern  Liturgieen  liest  man  statt  anoiprjyt]  nottj.  Der  Gedanke, 
dass  der  heilige  Geist  die  Elemente  zu  Leib  und  Blut  Christi  mache,  ist  der  griechischen 
Kirche  eigenthümlich  und  kommt  in  vielen  griechischen  Liturgieen  vor. 


380  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

In  entsprechender  Keihenfolge  nahten  die  Asketen,  Diakonissen,  Jungfrauen, 
Wittwen,  auch  die  Kinder,  das  ganze  Volk ;  die  weibHchen  Personen  mit  ver- 
hülltem Haupte.  Der  Bischof  reicht  das  Brod  dar  mit  den  Worten :  der 
Leib  Christi;  der  Empfangende  spricht  Amen;  der  Diakon  reicht  den  Kelch 
mit  den  Worten:  das  Blut  Christi,  der  Kelch  des  Lebens;  der  Empfangende 
spricht  Amen.  Nach  einigen  Gebeten  ertheilt  der  Bischof  der  knieenden  Ver- 
sammlung den  Segen. 

Was  das  Abendmahl  betrifft,  so  kommen  noch  Einzelnheiten  in  Betracht. 
Das  Brod  war  durchgängig  gesäuertes  Brod,  auch  in  der  lateinischen  Kirche ; 
der  Wein  roth,  mit  Wasser  vermischt  nach  antikem  Gebrauch.  Es  scheint, 
dass  die  Elemente  mit  der  Hand  empfangen  wurden  und  in  aufrechter  Stell- 
ung. Die  Manichaeer  wurden  sehi*  getadelt,  weil  sie  ihren  Gläubigen  den 
Wein  nicht  reichten.  In  einigen  Kii'chen  wurde  das  Abendmahl  auch  am  Frei- 
tag gehalten,  in  andern  viermal  in  der  Woche,  d.  h.  am  Sonntag,  Mittwoch, 
Freitag,  Sonnabend.  Aber  schon  Chiysostomus  beklagt  sich,  dass  die  Gläu- 
bigen im  Empfang  des  heihgen  Mahles  so  saumselig  seien.  Dagegen  in  Rom 
und  in  Alexandiien  communicirte  man  öfter  alle  Tage.  Die  Gläubigen 
nahmen  Stücke  von  consecrirtem  Brode  mit  sich  nach  Hause  und  genossen 
es  des  Morgens,  ehe  sie  an  ihre  Geschäfte  gingen,  das  erste  Beispiel  einer 
Communion  unter  einer  Gestalt  in  der  kathohschen  Kii'che.  Vom  Weine 
durfte  Niemand  etwas  mit  sich  nach  Hause  nehmen,  damit  die  Gefahr  des 
Verschüttens  vermieden  würde.  Daher  Chrysostomus  seinen  Commuuicanten 
in  Wein  getauchte  Hostien  mit  nach  Hause  gab.  Aus  dem  Gebrauche,  Ho- 
stien mit  nach  Hause  zu  nehmen,  entstand  bald  ein  abergläubischer  Miss- 
brauch. Der  Bruder  des  Bischofs  Ambrosius  hatte  auf  eine  Seereise  Hostien 
mitgenommen ,  die  er  auf  dem  Leibe  trug.  Als  das  Schiff,  auf  dem  er  sich 
befand,  unterging,  wurde  er  der  erste  gerettet,  und  schrieb  seine  Kettung 
der  Kraft  des  neuen  Amulets  zu.  Ein  Bänder  wurde,  wieAugustiu  berichtet, 
von  einer  Augenkrankheit  durch  das  Auflegen  der  Hostie  auf  die  Augen  geheilt. 

Was  die  vorstehenden  liturgischen  Angaben  betrifft,  so  sind  sie  haupt- 
sächhch  aus  dem  achten  Buche  der  apostolischen  Constitutionen  geschöpft. 
Dieses  um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  zusammengestellte  Pontifical- 
Buch,  welches  zum  Gebrauche  der  Bischöfe  besthnmt  war,  enthielt  zwar  ge- 
wiss Formulare  noch  aus  dem  dritten  Jahrhundert,  aber  ebenso  gewiss  solche 
aus  dem  vierten;  zu  jenen  gehören  Bitten  ^für  die  uns  Hassenden  und  Ver- 
folgenden, für  die  im  Gefängniss,  in  den  Bergwerken  gefangen  gehaltenen 
Brüder;"  es  sei  denn,  dass  man  diese  Angaben  ausschliesslich  auf  die  Zeit 
der  diocletianischen  Verfolgung  beziehen  will.  Zu  den  Bestandtheileu,  die  im 
vierten  Jahrhundert  und  zwar  unter  den  christhchen  Kaisern  hinzu  gekom- 
men sind,  gehören  Formulare,  betrettend  die  Zehnten,  die  Erwähnung  der 
Asketen  als  eines  besonderen  Standes,  die  Ersetzung  der  Thürhüter  {ttvXcöqoi) 
und  Diener  (vjirjQiTai),  die  in  den  früheren  Büchern  angeführt  werden,  durch 
die  vnodiaxovoi,  welche  Veränderung  in  den  Anfang  des  vierten  Jahrhun- 
derts fällt.  So  gehört  auch  die  Verordnung  über  die  Festtage  in  die  Zeit 
der  christhchen  Kaiser.  Auf  jeden  Fall  ist  diese  Liturgie,  gewöhnUch  litiirgia 
Clementis  gemunt ,  die  älteste  der  uns  erhaltenen,  und  ihr  Vaterland  ist 
Syrien.    Es  gab  \iele  andere  Liturgieen,  in  denen  fast  jedes  Land  oder  Pro- 


Der  öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  381 

vinz  und  darin  gewisse  Städte  ihre  eigenen  hatten;  es  sind  aber  nur 
einzelne  Bruchstücke  der  altern  Zeit  davon  erhalten.  Die  uns  erhaltenen 
Liturgieen,  namentlich  auch  die  den  Namen  des  Basilius  und  des  Chrysostomus 
tragen ,  sind  alle  von  späterem  Ursprünge  *).  Die  Zweitälteste  der  uns  er- 
haltenen Liturgieen,  aus  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  vielleicht  stam- 
mend, ist  die  Liturgie,  die  den  Namen  des  Apostels  Jacobus  trägt;  die  we- 
sentlichen Bestandtheile  derselben  kommen  aus  früherer  Zeit  her,  aber  die 
Anrufung  der  Maria  um  ihre  Fürbitte  gehört  gewiss  nicht  der  Zeit  vor  450  an. 
Ueberhaupt  muss  geraume  Zeit  verflossen  sein,  ehe  eine  Liturgie,  die  im 
Gebrauche  war,  genau  niedergeschrieben  wurde,  was  damit  zusammenhängt, 
dass  der  Liturg  nicht  in  allen  Punkten  an  genaue  Wiederholung  stehender 
Formeln  gebunden  war,  wovon  wir  einen  Beweis  bei  Justin  gefunden  haben. 
(S.  oben  S.  195j.  Was  von  lateinischen  Liturgieen  vorhanden  ist,  das  ist 
ebenfalls  nicht  im  Bereich  unserer  Periode  schrifthch  niedergelegt  worden: 
Es  reicht  kein  lateinisches  Formular  bis  in  die  Zeit  Leo's  L,  wohl  aber  mag 
das  Sacramentarmm  Gelasianum  (vom  Pabst  Gelasius  f  496)  und  das  Sacra- 
mentarium  Gregorianum  (Gregor's  L)  diese  oder  jene  Stücke  enthalten,  die 
aus  der  früheren  Zeit  herrührten.  Das  mag  insbesondere  vom  eigentUchen 
Canon  niissae  gelten  2). 

Von  wesentlicher  Bedeutung  ist  hiebei  die  immermehr  sich  befestigende 
Vorstellung  vom  Opfer  im  Abendmahl;  die  Gaben,  im  Gegensatze  zu  den 
blutigen  Opfern  des  alten  Bundes,  unblutiges  Opfer,  avaifiaxtog  ^vcia  ge- 
nannt, sind  zunächst  Dankopfer  und  in  zweiter  Linie,  sofern  darin  die  That- 
sache  des  Todes  Christi  dem  Herrn  vor  die  Augen  gestellt  wird,  symbolisches 
Sühnopfer,  welches  aber  auf  dem  geraden  Wege  sich  befindet,  sich  in  ein 
eigentliches  Sühnopfer  zu  verwandeln,  je  mehr  nämhch  die  Vorstellungen  von 
der  Gegenwart  Christi  sich  verdichten.  Manche  Kirchenlehrer  sträubten 
sich  noch  dagegen,  so  Chrysostomus:  ,, Opfern  wir  nicht  täghch?  Wir  opfern 
zwar,  aber  so  dass  \vir  nur  das  Andenken  des  Todes  Christi  begehen  (hom. 
17.  in  ep.  ad  Hbr.)  —  Wir  bringen  immer  dasselbe  Opfer  dar  oder  vielmehr 
wir  feiern  das  Andenken  jenes  einen  Opfers.''  Folgerichtiger  Weise  hätte 
Chrysostomus  sagen  sollen:  Wir  opfern  nicht;  aber  zu  dieser  Consequenz 
erhob  sich  die  katholische  Lehre  nicht  und  darum  konnte  sie  den  aufgekom- 
menen L-rthum  nicht  mit  Erfolg  bekämpfen.  Wie  spricht  doch  derselbe 
Chrysostomus:    ^Gehe  hinzu  zu  dem  schaudervollen  Opfer  (^vo-««  (pQixtri)', 


1)  Da  Basilius  für  das  Liturgische  sehr  thätig  war,  wie  Gregor  von  Nazianz  oratio 
20  ihm  nachrühmt,  so  ist  es  um  so  natürlicher,  dass  ihm  die  Abfassung  einer  Liturgie 
zugeschrieben  wurde,  welche  in  der  orientalischen  Kirche,  besonders  bei  den  Monophysi- 
ten  in  Gebrauch  (bei  Kenaudot  1,  7.)  kam,  und  wovon  es  verschiedene  Eecensionen  gibt, 
—  Rheinwald  S.  354.  Alle  uns  erhaltenen  Liturgieen  haben  einen  gemeinsamen  Grund- 
typus, der  sich  ausspricht  in  gewissen  Formeln:  justum  et  aequum  —  sursum  corda  u.  s. 
w.  und  in  dem  Opfere  ultus. 

2)  S.  über  das  Ganze  Renaudot  liturgiarum  orientaUum  collectio.  Daniel  codex 
liturgicus  ecclesiae  universae,  die  ersten  4  Bde.  Drey  a.  a.  0.  Rheinwald,  Archaeologie 
S.  353  u.  ff.,  der  die  alten  Liturgieen  aufzählt  und  die  Spuren  davon  bei  den  Kirchenvätern 
nachweist.  Muratori  meinte  mit  Recht,  Gelasius  habe  ein  älteres  römisches  sacramen- 
tarium  lediglich  restaurirt  und  in  bessere  Ordnung  gebracht» 


382  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

geschlachtet  hegt  Christus  vor  dir.  Mit  Angst  und  Zittern  sollen  wir  zu  dem 
Tische  hinzutreten,  auf  welchem  das  I^amm  liegt  ^)/^  Auch  Augustin  lässt  keine 
Wiederholung  des  Opfers  am  Kreuze  in  unblutiger  Weise  zu,  sondern  „wir 
feiern,  sagt  er,  das  Andenken  an  das  vollzogene  Opfer. ^  Allerdings  wird  an 
jedem  Tage  Christus  für  das  Volk  geopfert  2);  das  ist  aber  so  gemeint,  wie 
wenn  wir  am  Sonntag  sagen:  „heute  ist  der  Herr  auferstanden,  da  doch  so 
viele  Jahre  seit  seiner  Auferstehung  verflossen,"  und  doch  weiss  er  viel  vora 
Opfer  im  Abendmahl  zu  reden ,  indem  er ,  im  Anschlüsse  an  Andeutungen 
bei  anderen  Kirchenlehrern  die  ganze  erlöste  Gemeinde  (redemta  civitas)^ 
als  Opfer  auffasst,  Gott  dargebracht  durch  den  grossen  Priester,  der  sich 
selbst  Gott  für  uns  dargebracht  hat,  damit  wir  dieses  Hauptes  Körper 
seien.  —  Wir  sind  viele  Ein  Leib  in  Christo,  und  indem  das  Opfer  seines 
Leibes  im  Abendmahle  dargestellt  wird,  ist  auch  das  Opfer  der  Gemeinde, 
die  ja  sein  Leib  ist,  darin  enthalten.  Im  Sacramente  des  Altars  wird  ge- 
zeigt, dass  die  Gemeinde  in  und  mit  der  ohlatio ,  die  sie  darbringt,  selbst 
dargebracht  wird  (de  civitate  Dei  10,  6)  was  damit  zusammenhängt,  dass 
das  Abendmahl  aufgefasst  wird  als  Sacrament  der  Incoi^poration  in  die  Kirche. 
Es  ist  zwar  noch  verschieden  von  der  späteren  römischen  Messe;  es  wiegt 
das  Selbstopfer  der  Kirche  in  der  Eucharistie  vor,  Christus  kommt  nur  in 
Betracht ,  sofern  er  untrennbar  ist  von  seinem  Leibe. 

Die  weitere  Entwicklung  und  Ausbildung  der  Idee  vom  versöhnenden 
Opfer  hing  wesentlich  davon  ab,  welche  Wendung  die  Vorstellungen  von  der 
Gegenwart  Christi  im  Abendmahl  nehmen  würden.  In  der  griechischen 
Kirche  finden  wir  eine  Reihe  von  Theologen,  welche  an  Origenes  sich  an- 
schhessend  die  symbohsche  Auffassung  der  Einsetzungsw^orte  vertreten.  Für 
Euseb  von  Cäsarea  (demonstratio  ev.  1,  10)  sind  die  Worte  Christi  das 
eigentliche  Object  des  eucharistischen  Genusses.  Fleisch  und  Blut  Christi 
sind  bildliche  Bezeichnungen  der  Lehre  Christi.  Athanasius,  der  Vater 
der  Orthodoxie  genannt,  lehrt  in  seinen  Festreden,  dass  im  Abendmahl  nichts 
Anderes  gewährt  wird,  als  was  auch  die  Engel  und  die  vollendeten  Gläubigen 
im  Himmel  empfangen,  die  geistige  Wirkung,  die  der  Logos  als  Princip  der 
Wahrheit  und  des  Lebens  über  alle  mit  Vernunft  begabten  Geschöpfe  übt. 
Wer  in  allen  Beziehungen  den  Zweck  der  Menschwerdung  des  Logos  an  sich 
erfüllt,  der  geniesst  in  der  einzig  möghchen  Weise  sein  Fleisch  und  sein  Blut. 
In  der  vierten  Epistel  an  Serapion  c.  19  lehrt  er,  dass  Joh.  6,  62—64  nicht 
vom  leiblichen  Essen  die  Rede  sein  könne.  „Denn  für  wie  viele  Menschen 
würde  der  Leib  ausreichen,  dass  er  auch  für  die  ganze  Welt  Nahrung 
würde  ^)?  Um  deswillen  erwähnt  Christus  auch  seine  leibliche  Auffahrt, 
damit  er  sie  (die  Zuhörer)  vom  fleischlichen  Gedanken  abziehe  und  sie  so 
erkennen  lernten,  dass  das  Fleisch,  wovon  er  spricht,  eine  himmhsche  und 
geisthche  Nahrung  sei."    Fleisch  und  Blut  Christi  werden  auf  geistUche  Weise 


1)  Wahrlich    kein  Wunder,    wenn    das  Volk    sich   nicht   beeilte,    diese    fAvCrriQia 
cpQixTtt,  (pQtx(o^€CTaTa,  mysteria  tremenda,  in  Empfang  zu  nehmen! 

2)  Omni  die  populis  immolatur  (Christus). 

3)  lIoGotc  yag  ijQXfv    to    Gmucc,    ivct    xm    tov    xoG/uov    nnvTo?    tovto    TQOtprj 
ytvrirati 


Der  öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  383 

dargereicht  und  sie  werden  zu  einem  Schutzmittel  (Amulet,  <pvlaxtriQcov) 
für  die  Auferstehung  zum  ewigen  Leben.  Im  Wesentlichen  damit  überein- 
stimmend lehrt  Basilius,  mit  dem  Essen  des  Leibes  und  dem  Trinken  des 
Blutes  Christi  sei  nichts  Anderes  gemeint,  als  zu  dem  Logos,  dem  Princip 
aller  Wahrheit,  in  eine  innere,  intellectuelle  und  sittliche  Beziehung  treten. 
Wesentlich  auf  demselben  Standpunkte  stehen  Gregor  von  Nazianz  und 
Makarius  der  Aeltere  (f  390).  Gregor  bezeichnet  Brod  und  Wein  als 
Typen  und  Antitypen  des  Leibes  und  Blutes  Christi,  Bilder  und  Copieen 
der  grossen  Geheimnisse  des  Heils.  Johannes  von  Damascus  meinte,  Gregor 
nenne  die  Elemente  vor  der  Consecration  Typen  und  Antitypen,  —  eine  leere 
Ausflucht,  da  sie  vor  der  Consecration  eben  nichts  sind,  als  Brod  und  Wein. 
Darnach  muss  die  Stelle  im  Briefe  an  Bischof  Amphilochius  erklärt  werden, 
worin  man  die  Annahme  der  leiblichen  Gegenwart  hat  finden  wollen.  In 
Wahrheit  aber  gibt  Gregor  eine  sinnbildliche  Bezeichnung  des  eucharistischen 
Opferactes. 

Es  gab  nun  eine  Reihe  von  griechischen  Theologen,  welche  der  reali- 
stischen Auffassung  sich  zuwendeten  und  auf  die  Annahme  einer  dynamischen 
Veränderung,  wenn  nicht  gar  Verwandlung  der  Elemente  geführt  wurden; 
bei  einigen  sind  beide  Auff"assungen ,  die  symbolische  und  die  realistische,  im 
Streite.  Cyrill  von  Jerusalem  bildet  den  Wendepunkt  im  Uebergange  von 
jener  zu  dieser  Auffassung.  In  den  fünf  letzten,  den  mystagogischen  Kate- 
chesen scheint  er  ganz  deutlich  die  symbolische  Erklärung  zu  vertreten, 
wenn  er  mit  Beziehung  auf  die  vierte  Bitte  im  Unser  Vater  sagt,  das  heilige 
Brod  sei  für  die  Substanz  der  Seele  bestimmt,  es  gehe  nicht  in  den  Bauch, 
werde  nicht  €ig  acpedqmva  geworfen,  sondern  es  vertheile  sich  in  deinem 
ganzen  Organismus  zum  Heile  des  Leibes  und  der  Seele;  die  Juden  meinten 
fälschlich,  der  Herr  lade  sie  zum  Fleischessen  ((Tagxoipayta)  ein,  —  und  an- 
derswo: wie  das  Brod  dem  Leibe  entspricht,  so  der  Logos  der  Seele.  An 
anderen  Stellen  erscheint  derselbe  Cyrill  als  entschiedener  Realist  — :  ,,da 
Christus  selbst  vom  Brode  gesagt:  das  ist  mein  Leib,  wer  dürfte  das  in 
Zweifel  ziehen?''  Cyrill  zieht  sogar  die  Verwandlung  des  Wassers  in  Wein 
auf  der  Hochzeit  zu  Cana  als  Beweis  für  die  Verwandlung  der  Elemente 
{iiexaßaXXeiv)  herbei.  Es  ist  zwar  nicht  nöthig,  an  substantielle  Verwand- 
lung zu  denken,  so  wenig  wie  bei  Weihung  des  Salböls,  mit  dem  auch  eine 
fiSTaßoXri  vorgeht. 

Gregor  von  Nyssa,  obschon  in  anderer  Beziehung  an  Origenes  sich 
anschliessend,  hat  über  das  Abendmahl  eine  Theorie  aufgestellt,  die  sich 
sehr  der  vollen  Verwandlungslehre  nähert,  in  seinem  Xoyog  xatrjxn^tieog  [leyccg 
c.  37.  Er  geht  vom  Gedanken  aus,  dass  Seele  und  Leib  des  Menschen  der 
Erlösung  bedürfen.  Der  Leib  ist  vergiftet  und  kann  nur  durch  ein  ent- 
sprechendes Gegengift  gerettet  werden;  das  ist  jener  Leib,  welcher  stärker 
als  der  Tod  erwiesen  wurde,  der  Leib  Christi,  der  in  unseren  sterblichen 
Leib  eingeht;  nur  durch  Essen  und  Trinken  ist  das  möglich.  Nun  aber  ist 
der  Nahrungsstoff,  der  jedem  Leibe  assimilirt  wird ,  die  eigentliche  Substanz 
desselben.  Wer  also  Brod  und  Wein  sieht,  sieht  insofern  schon  künftige 
menschliche  Leiber.  Nun  aber  nährte  sich  Jesus  auch  von  Brod  und  Wein; 
also  werden  Brod  und  Wein  in  den  Leib   des  Logos   verwandelt.     War  das 


384  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

zu  Lebzeiten  des  Herrn  möglich,  so  kann  auch  jetzt  Brod  und  Wein,  und 
zwar  ohne  von  Jesu  gegessen  und  getrunken  zu  werden,  in  seinen  Leib 
verwandelt  werden.  Das  Unbeholfene  und  Willkürliche  in  diesem  Versuche, 
die  manducatio  oralis  zu  beweisen,  zeigt  dessen  Neuheit.  Chrysostomus 
hat  zwar  die  wunderliche  Theorie  des  Gregor  von  Nyssa  nicht  angenommen, 
doch  ziemhch  deutlich  die  leibliche  Gegenwart  des  Herrn  im  Abendmahl 
gelehrt,  wobei  er  sich  wie  Gregor  von  Nyssa,  wie  Cyrill  von  Jerusalem  auf 
die  enixXfjcng  des  heiligen  Geistes  beruft.  Daneben  spricht  er  den  Gedanken 
aus,  dass  der  im  Himmel  gegenwärtige  Leib  durch  das  Wort  (der  Einsetz- 
ung), das  Christus  durch  den  Mund  des  Priesters  spricht,  in  das  Sacrament 
kommt,  wodurch  die  Elemente  in  Leib  und  Blut  Christi  verwandelt  werden 
(petaQQv&iJiileiv ,  fietaaxsvaleiv).  Nun  kommen  Aussprüche,  aus  denec 
man  schliessen  könnte,  dass  er  die  symbolische  Auffassung  vertreten  will; 
sie  müssen  aber  nach  Massgabe  der  angeführten  verstanden  werden. 

In  der  abendländischen  Kirche  wird  die  von  Tertullian  eingeführte  rea- 
listische Auffassung  von  Ambrosius  befolgt.  Er  nimmt  eine  durch  die 
Consecration  bewirkte  Verwandlung  des  Brodes  im  Abendmahle  an,  wodurch 
es  lebendiges  Brod  wird,  welches  das  ewige  Leben  darreicht,  so  dass,  wer  da- 
von isst,  nicht  sterben  wird  in  Ewigkeit.  Er  fragt,  wenn  das  Wort  des 
Elias  bewirkte,  dass  Feuer  vom  Himmel  herunterkam,  werde  Christi  Wort 
nicht  soweit  wirksam  sein,  dass  es  die  Natur  der  Elemente  verändere? 
lieber  die  Art  und  Weise  der  Veränderung  spricht  sich  Ambrosius  nicht  aus ; 
soviel  ist  ihm  aber  gewiss,  dass  im  Abendmahl  derselbe  Leib  gegenwärtig 
ist,  der  gegen  die  Ordnung  der  Natur  von  der  Jungfrau  geboren  ist.  Au- 
gustin dagegen  steht  entschieden  auf  dem  Standpunkte  der  symbolischen 
Auffassung.  Zu  dem  in  der  Schrift  figurate  dictum  rechnet  er  aus- 
drückhch  die  Worte  Leib  und  Blut  Christi  im  Abendmahl.  Wenn  die  Sa- 
cramente  (sacrae  rei  signa)  nicht  eine  gewisse  Aehnlichkeit  hätten  mit 
denjenigen  Dingen,  deren  Sacramente  sie  sind,  so  wären  sie  überhaupt  keine 
Sacramente;  wegen  dieser  Aehnlichkeit  empfangen  sie  auch  die  Namen  der 
durch  sie  bezeichneten  Dinge.  So  ist  also  das  Sacrament  des  Leibes  Christi 
secundum  qtiendam  modum  Christi  Leib  selbst.  Dieser  quidam  modus 
ist  ihm  der  figürliche  Sinn;  daher  der  Herr,  indem  er  das  Zeichen  seines 
Leibes  darreichte,  keinen  Anstand  nahm  zu  sagen:  das  ist  mein  Leib.  Es 
findet  ein  geisthches  Geniessen  des  Leibes  und  Blutes  Christi  statt,  was  den 
Glauben  voraussetzt  und  was  daher  mit  demjenigen,  das  ausserhalb  des  Abend- 
mahls statt  findet,  auf  die  gleiche  Linie  gestellt  wird,  crede  et  manducasti. 
Wer  nicht  in  Christo  bleibend  ist,  der  geniesst  blos  das  Sacrament,  d.  h. 
das  Zeichen  der  so  herrlichen  Sache  zu  seinem  Gerichte.  Mit  dieser  Fest- 
haltung des  symbolischen  Sinnes  der  Einsetzungsworte  steht  im  Zusammen- 
hange die  Umschriebenheit  des  Leibes  Christi,  vermöge  deren  er  im  Him- 
mel, wohin  er  seinen  Leib  getragen,  nothwendig  an  Einem  Orte  ist.  Ver- 
möge seiner  Gottheit  sagte  er:  ich  bin  bei  euch  alle  Tage  bis  an  der  Welt 
Ende;  nach  dem  Fleische  wird  erfüllt,  was  er  sagt:  mich  werdet  ihr  nicht 
immer  haben.  Augustin  sieht  wohl  ein ,  dass  die  Annahme  der  leiblichen 
Gegenwart  zu  christologischen  Irrtluimern  führt:  „man  kann  nicht  also 
schliessen:   was   in  Gott  ist,   muss  auch   wie  Gott  überall  sein.     Hüten  wii' 


Der  Öffentliche,  sonntägliche  Gottesdienst.  385 

uns  die  Gottheit  Christi  so  zu  fassen,  dass  wir  die  Wahrheit  seiner  mensch- 
lichen Natnr  (verüatem  carnis)  aufheben.  Denn,  als  das  Fleisch  Christi  auf 
Erden  war,  da  war  es  nicht  im  Himmel,  und  jetzt,  da  es  im  Himmel  ist, 
ist  es  nicht  auf  Erden.  ^  Auch  die  römischen  Bischöfe  dieser  Zeit  sind  weit 
entfernt,  die  spätere  römische  Lehre  von  der  Wandlung  zu  vertreten.  Leo 
lehrt,  dass  wir  im  Abendmahl  die  virtus  coelestis  cibi  empfangen.  Gelasius 
wendet  die  chalcedonensische  Lehre  von  zwei  Naturen  auf  das  Abendmahl 
an;  es  macht  uns  theilhaftig  der  göttlichen  Natur  Christi,  doch  hört  die 
Substanz  des  Brodes  und  Weines  nicht  auf  zu  existiren. 

Von  anderen  heiligen  Handlungen  und  Gebräuchen  soll  hier  haupt- 
sächlich die  Taufe  erwähnt  werden.  Dieselbe  Bedeutung  wie  in  der  ersten 
Periode  wurde  ihr  auch  in  dieser  beigelegt,  selbst  nachdem  die  Taufe  der 
neugeborenen  Kinder  allgemein  geworden.  Es  gab  zwar  im  vierten  und 
selbst  im  fünften  Jahrhundert  noch  immer  Beispiele  von  Aufschub  der  Taufe. 
Aber  die  Kirchenlehrer  erklärten  sich  auf  das  entschiedenste  dagegen.  Au- 
gustin,  dessen  Taufe  die  Mutter  auf  spätere  Zeiten  verschoben  hatte,  kann 
nicht  umhin,  diess  zu  missbilligen.  Er  deutet  an,  dass  man  dadurch  den 
Kindern  die  Zügel  schiessen  lasse  zum  Sündigen;  er  beruft  sich  auf  Reden, 
wie  man  sie  oft  zu  hören  bekomme:  „lass  ihn  machen,  denn  er  ist  noch 
nicht  getauft,^  da  wir  doch,  wenn  es  sich  um  das  Wohl  des  Körpers  handelt, 
nicht  sagen:  j,lasse  ihn  gewähren;  er  möge  noch  mehr  Schaden  leiden  am 
Leibe,  denn  er  ist  noch  nicht  geheilt.  Wäre  es  also,  fährt  er  fort,  nicht 
viel  besser  gewesen,  ich  wäre  schnell  geheilt  und  es  wäre  mit  mir  so  ver- 
fahren worden,  dass  das  durch  die  Taufe  gesicherte  Heil  meiner  Seele  unter 
deinem  Schutze  fortan  gesichert  gewesen  wäre?^^  (Confessiones  1,  11). 
Manche  schoben  die  Taufe  auf,  weil  sie  Vergebung  der  begangenen  Sünden 
gewährte  und  für  die  nach  der  Taufe  begangenen  Busse  geleistet  werden 
musste,  so  dass  es  vortheilhaft  schien,  die  Taufe  erst  dann  zu  empfangen, 
wenn  man  schon  alle  Sünden  begangen  hat  und  keine  mehr  zu  begehen  im 
Stande  ist,  am  F:nde  des  Lebens.  Gregor  von  Nazianz  hebt  dagegen 
hervor,  wie  schändlich  es  sei,  auf  solche  Weise  mit  der  götthchen  Gnade 
Wucher  zu  treiben,  wie  gefährlich,  den  Zeitpunkt  des  Todes  abzuwarten,  da 
kein  Mensch  auch  nur  einen  Augenblick  seines  Lebens  sicher  sei  (Ullmann 
a.  a.  0.  S.  468  tf.).  Indessen  fühlte  man  denn  doch  die  Schwierigkeit,  die 
dogmatische  Bedeutung  der  Taufe  unmittelbar  auch  auf  die  Kindertaufe  an- 
zuwenden. Daher  Gregor  von  Nazianz  die  Taufe  der  Neugeborenen  nicht 
unbedingt  forderte.  Er  meinte,  bei  gesunden  Kindern  könnte  man  das  dritte 
Jahr  abwarten,  weil  sie  in  diesem  Falle  von  den  dabei  ausgesprochenen 
Worten  etwas  verstehen  könnten.  August  in  nahm  an,  dass  die  Ku'che, 
durch  die  Pathen  vertreten,  die  Stelle  des  Glaubens  der  Kinder  vertrete. 
Zu  Grunde  lag  der  Gedanke,  dass  das  Kind  vor  seiner  selbständigen  geist- 
lichen Entwicklung  von  den  höheren  Lebenskräften  der  Kirche  getragen 
werde.  Die  Kindertaufe  erhielt  eine  besondere  Bedeutung,  seitdem  sie  mit 
der  Lehre  von  der  Erbsünde  in  Verbindung  gebracht  wurde.  Selbst  Gregor 
von  Nazianz  konnte  nicht  zugeben,  dass  die  ungetauft  gestorbenen  neuge- 
borenen Kinder  die  volle  Seligkeit  erlangen,  obschon  er  lehrte,  dass  sie 
Unrecht  mehr  erlitten,  als  gethan  haben.    Augustin  nahm  an,  dass  solche 

Herzog,   Klrchengeschlchte  I.  25 


38g  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismna. 

Kinder  der  Verdammniss  anheimfallen,  doch  bezeichnet  er  dieselbe  als  sehr  milde 
und  erträglich.  Was  die  Ketzertaufe  betrifft,  so  lehrten  Basilius  Magnus 
und  Gregor  vonNazianz  noch  im  Sinne  von  Cyprian.  Augustin  machte 
im  Kampfe  mit  den  Donatisten  die  römische  Auttassung  geltend,  ohne  jedoch 
seinem  Grundsatze  extra  ecclesiam  nulla  sahis  untreu  zu  werden,  sondern 
vielmehr  ihn  noch  bestätigend  und  verstärkend.  —  Was  den  Taufritus 
betrifft ,  so  kam  in  dieser  Periode  die  Salbung  mit  dem  heiligen  Oele  (elait^ 
ayio))  hinzu,  diie  der  eigentlichen  Taufe  vorausging. 

Taufe  und  Abendmahl  galten  als  die  Sacramente  im  engeren  Sinne; 
im  weiteren  Sinne  nennt  Augustin  das  Chrisma,  das  Salz,  das  den  Katechu- 
menen  gegeben  wurde,  auch  die  Ehe  nach  Ephes.  5,  25  ein  Sacrament. 
Taufe  und  Abendmahl  wurden  mit  Beziehung  auf  Job.  19,  34,  wo  aus  der 
Seite  Christi  Wasser  und  Blut  herausfloss,  von  Augustin  und  Chrysostomus 
besonders  hervorgehoben.  Diese  Schwankungen  hingen  zusammen  mit  der  Be- 
griffsbestimmung vom  Sacrament,  als  sichtbarem  Zeichen  der  unsichtbare! 
göttlichen  Dinge.  Bildlichkeit  geholt  so  sehr  zum  Wesen  des  Sacrament^, 
dass  Augustin  unwillkürlich  Zeichen  und  Sacrament  als  identisch  setzt.  Dio 
res  sacramenti  ist  dem  Augustin  die  göttliche  Gnade,  die  Wirkung  diese' 
Gnade  der  frucUis  spiritalis  oder  die  durch  die  Gnade  an  der  menschlichen 
Seele  bewirkte  Heiligung.  Die  sichtbaren  Zeichen  gehen  nur  den  Leib  an,  die 
durch  sie  dargestelle  Sache,  das  Gnadengut  ist  eine  Wirkung  des  heiligen 
Geistes.  Der  Verwalter  des  Sacraments  kann  nur  die  äusseren  Zeichet 
geben,  die  Gnade  selbst  gibt  Gott.  Das  Bindemittel  des  Sacramentum  und 
der  res  sacramenti  ist  das  Einsetzungsw^ort  des  Sacraments ;  daher  das  Axiom : 
accedit  verhum  ad  elementum  et  fit  sacramentum^  etiam  ipsum  tanquam  visi- 
hile  verhum,  nicht  als  ob  durch  das  Wort  dem  natürlichen  Stoffe  übernatür- 
liche Kräfte  mitgetheilt  würden,  sondern  durch  das  Wort  wird  das  Element 
Zeichen  und  Bild  einer  unsichtbaren,  an  der  Seele  zu  vollziehenden  Gna- 
denwirkung. Aber  die  Sacramente  sind  doch  absolut  nothwendig  zum  Heile, 
insofern  sie  füi'  die  Einzelnen  den  Zusammenhang  mit  der  Kirche,  ausser 
welcher  es  kein  Heil  gibt,  vermitteln.  —  Bei  Optatus  von  Mileve  kommt 
zuerst  der  Ausdruck  conferre  gratiam  vor,  zwar  noch  nicht  wie  in  der 
späteren  katholischen  Dogmatik  mit  dem  Begriff'  des  opus  operatum  verbun- 
den, doch  dazu  hinleitend.  Augustin  hatte  diesen  Ausdruck  nie  gebraucht; 
vom  sechsten  Jahrhundert  an  aber  wurde  er  kirchlich. 


387 

Fünfter  Abschnitt. 

Geschichte  des  christlichen  Lebens  und  der  christlichen  Sitte. 

Erstes  Capitel.    Das  Mönchthum  ^). 

Auf  der  Grundlage,  die  schon  in  der  ersten  Periode  gelegt  worden 
war,  zertheilte  sich  das  christliche  Leben  in  zwei  Hauptzweige,  in  die  soge- 
nannte höhere  Sittlichkeit,  dargestellt  und  erstrebt  im  mönchischen  Leben, 
und  in  dasjenige  sitthche  Leben,  welches  sich  in  den  gewÖhnUchen  Ge- 
leisen bewegte,  —  eine  Unterscheidung  von  unermesslichen  Folgen,  nicht 
allein  in  Beziehung  auf  das  sittliche  Leben  und  die  dasselbe  leitenden  Grund- 
sätze, sondern  auch  was  andere  Zweige  der  kirchhchen  Entwicklung  betrifft. 

Das  Mönchthum,  d.  h.  das  von  der  menschlichen  Gesellschaft  sich  ab- 
sondernde asketische  Leben,  wovon  wir  in  der  ersten  Periode  die  ersten 
Keime  wahrgenommen,  entwickelt  sich  in  dieser  Periode  schon  zu  einer 
bedeutenden  Blüthe  und  Ausdehnung.  Man  kann  aber  durchaus  nicht  sagen, 
dass  es  rein  aus  dem  Wesen  des  Christenthums  hervorgegangen,  sondern  im 
Gegentheil  sehen  wir  darin  eine  Rückwirkung  der  ausserchristlichen  Religions- 
sphäre auf  das  Christenthum ,  welche  Rückwirkung  wir  schon  auf  anderem 
Gebiete  wahrgenommen  haben.  In  seiner  bestimmteren  Gestalt  eignete  es 
den  orientalischen  Rehgionen  und  hing  mit  der  mystisch  -  pantheistischen 
Richtung  derselben  zusammen.  Schon  die  jüdischen  Therapeuten  in  Aegypten, 
die  Essener  in  Syrien  und  in  der  Nähe  des  todten  Meeres  erscheinen  als 
ein  orientalischer  Mönchsorden.  Nun  drang  diese  Richtung  in  die  Kirche 
ein  und  suchte  sich  zwar  mit  christlichen  Anschauungen  und  Bestrebungen  zu 
verschmelzen,  allein  sie  verunreinigte  dieselben  auch.  Die  Opposition  gegen 
das  sittliche  Verderben,  dem  die  Christianisirung  des  Staats-  und  Volkslebens 
durchaus  nicht  genügenden  Abbruch  gethan  hatte ,  trieb  nun  Viele  in  über- 
spannten Rigorismus ;  die  Mönche  wurden  die  Stoiker  oder  Pythagoräer  der 
christlichen  Gemeinschaft,  wie  denn  Pythagoras  und  die  Seinen  einem  Mönchs- 
orden ziemlich  ähnlich  sahen.  Ausserdem  ist  das  Mönchthum  in  der  An- 
schauung vieler  der  damaligen  Christen  eine  Fortsetzung  der  Märtyrerzeit; 
das  in  seinen  Tiefen  aufgeregte  christliche  Bewusstsein  suchte  durch  ein 
selbstgewähltes,  selbstgeschaftenes  Martyrium  das  frühere  von  Gott  geord- 
nete zu  ersetzen  und  sich  die  Segnungen,  die  als  Lohn  des  letzteren  erwartet 


1)  Ausser  Sokrates  und  Sozomenus  S.  Rufin.  H.  E.  und  Vitae  patmm,  Pal- 
ladius,  historia  Lausiaca.  —  Mangold,  de  monachatus  originibus  et  causia  1852.  — 
Gas  8,  Artikel  Mönchthum  in  der  Realencyklopädie.  —  K  ob  er,  die  körperliche  Züch- 
tigung als  Strafmittel  gegen  Kleriker  und  Mönche.  Theologische  Quartalschrift  1875. 
3.  Heft,  enthaltend  beachtenswerthe  Angaben  über  die  Bildungsstufe  der  Kleriker  und 
Mönche.  Hauptsächlich:  Weingarten,  der  Ursprung  des  Mönchthums  im  nachcon- 
stantinischen  Zeitalter  (Schluss  folgt),  in  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte,  herausge- 
geben von  D.  Theodor  B  rieger.    Erster   Band,    erstes   Heft.     Gotha,    Eriedr.   Andreas 

Perthes.    1876. 

25' 


ggg  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

wurden,  zuzusichern.  Uebrigens,  wenn  gleich  das  Mönchthum  schon  in 
dieser  Zeit  in  die  Entwicklung  der  Kirche  mächtig  eingriff,  so  war  das  Alles 
erst  die  Einleitung  zu  der  weltgeschichtlichen  Mission,  die  es  in  der  folgen- 
den Zeit  erfüllte.  Da  zeigte  es  sich,  dass  der  Trieb  zur  mystischen  Beschau- 
lichkeit und  Entsagung,  welcher  die  ersten  Einsiedler  in  die  thebaische 
Wüste  geführt  hatte,  das  Werkzeug  wurde,  um  die  Civilisation  und  das 
Evangelium  in  Europa  zu  verbreiten. 

I.    Mönchthum  im  Oriente, 

Im  christlichen  Morgenlande  nahm  es  seinen  Anfang,  als  ein  diesem 
Himmelsstriche  und  dem  Geiste  des  Orients  besonders  entsprechendes  Insti- 
tut; in  dieser  Beziehung  ist  es  von  Bedeutung,  dass  Aegypten  und  zwar 
die  obere  Thebais  das  specielle  Vaterland  desselben  wurde.  Antonius  gilt 
als  der  Vater  desselben,  sofern  er  den  mächtigen  Impuls  dazu  gegeben  ha- 
ben soll;  womit  keineswegs  geleugnet  wird,  dass  nicht  schon  friiher  und 
gleichzeitig  einzelne  Asketen  sich  von  der  Gesellschaft  absonderten,  noch, 
dass  das  Mönchthum  später  ganz  andere  Formen  angenommen  hat,  wodurch 
es  erst  zu  seiner  tief  greifenden  Wirksamkeit  gelangte.  Die  fast  ausschliess- 
liche Quelle  für  das  Leben  des  Antonius  ist  die  Bearbeitung  desselben  durch 
Athanasius,  angeblich  geschrieben  im  Jahr  365  auf  Verlangen  abendländischer 
Mönche,  von  Bischof  Evagrius  nach  einigen  Jahren  ins  Lateinische  übersetzt, 
leider,  wenn  gleich  einzelne  Angaben  das  Gepräge  der  AVahrheit  und  Ursprüng- 
lichkeit tragen,  verunstaltet  durch  manche  Dinge,  die  der  verschönernden  und 
steigernden  Sage  angehören.  Denn  wie  bald  bildet  sich  der  Mythus  um  eine 
solche  Persönlichkeit?  daher  Gieseler  urtheilte,  die  Schrift  sei  entwedei' 
unächt  oder  interpohrt.  Dennoch  wird  es  nothwendig  sein,  uns  damit  be- 
kannt zu  machen,  wobei  wir  freiUch  für  die  Authentie  der  ganzen  Er- 
zählung nicht  einstehen  können. 

Es  ist  bemerkt  worden,  dass  eine  neue  Richtung  in  derjenigen  Persön- 
lichkeit, in  welcher  sie  sich  Bahn  bricht,  öfter  gewissermassen  einen  dämo- 
nischen Charakter  annimmt.  Es  trifft  diess  auch  nach  der  vorUegenden 
Darstellung  bei  Antonius  zu,  zwar  nicht  in  dem  Sinne,  dass  er  gegen  die 
Aussenwelt  Kämpfe  zu  bestehen  gehabt,  sondern  die  von  ihm  eingeschlagene 
Richtung,  weil  sie  der  Anlage  der  menschlichen  Natur  und  darum  auch  dem 
richtig  verstandenen  Evangelium  widersprach,  konnte  sich  nur  inmitten 
der  gewaltigsten  inneren  Kämpfe  behaupten  und  auf  die  allgemeine  Grund- 
lage des  christlichen  Lebens  zurückgefülirt  werden.  Diesen  Kampf  hat  An- 
tonius siegreich  durchgekämpft,  die  Anforderungen  des  Evangeliums  auf  diese 
abnorme  Weise  vollzogen  und  sein  Mönchsleben  dermassen  in  sein  christ- 
liches Bewusstsein  verarbeitet  und  demselben  assimiliit,  dass  manche  seiner 
Aeusserungen ,  besoijders  aus  den  späteren  Lebensjahren,  als  Regulative  für 
das  christliche  Leben  überhaupt  in  den  verschiedensten  Verhältnissen  gelten 
können.  In  diesem  tieferen  Sinne  ist  er  der  Vater  des  Mönchthums  und  hat 
er  dasselbe  in  der  christlichen  Welt  eingebürgert. 

Geboren  251  im  Dorfe  Coma  an  der  Grenze  der  Thebais  von  wohlha- 
benden und  frommen  Eltern,  spürte   er    früh  in  sich  den  Zug  zum  beschau- 


Das  christliche  Leben.    Mönchthum  im  Orient.  389 

liehen  Leben  und  zur  Weltentsagung.   Ob  er  nie  lesen  gelernt,  wollen  wir  dahin- 
gestellt sein  lassen ;  so  viel  ist  gewiss,  dass  er  später,  vermöge  seines  ausge- 
zeichneten Gedächtnisses  die  geschriebene  Bibel  meinte  entbehren  zu  können. 
Im  achtzehnten  Lebensjahre  seiner  Eltern  beraubt,  sorgte  er  für  seine  jüngere 
Schwester  und  für  das  ganze  Hauswesen.     Als  er   einst  in  die  Kirche  ging, 
dachte  er  gerade  an  die  erste  apostolische  Gemeinschaft,   in    welcher  keiner 
ein  Eigenthum  besessen  haben  sollte.    Es  traf  sich,   dass  in  der  Kirche  ge- 
rade der  Abschnitt  Matth.  19,  21:    ^, willst  du  vollkommen  sein,  so  verkaufe, 
was  du  hast,  und  folge  mir  nach",    vorgelesen  wurde.     Das    entschied    die 
Richtung  seines  Lebens.    Die  ausgedehnten  liegenden  Güter,  die  er  von  den 
Eltern  ererbt,  übergab  er  seiner  Gemeinde,   die  ererbten  beweglichen  Güter 
verkaufte   er  und    behielt    nur,    was   zum    nothdürftigen   Unterhalt    seiner 
Schwester  erforderlich  w^ar;   er   selbst  nährte   sich  von  seiner  Hände  Arbeit. 
Bald  schenkte  er  auch  das  letzte  weg,  was  für  den  Unterhalt  der  Schwester 
bestimmt  w^ar,   und    übergab   sie   einem  Vereine   frommer  Jungfrauen.    Er 
wohnte  als  Askete  im  väterlichen  Dorfe  vor  dem  von  ihm  verlassenen  väter- 
lichen Hause;  er  suchte  ältere  Geistesgenossen  auf  und  bestärkte  sich  durch 
sie  in  der  eingeschlagenen  Richtung.    Während  die  Dorfbewohner  ihn  lobten 
und   bewunderten,    war   er  gräulichen  Versuchungen  ausgesetzt,    d.   h.    er 
musste  seine  neue  Lebensweise  gegen  die  unvertilglichen  Gefühle  und  Triebe 
der  menschlichen   Natur  und   wohl   auch  gegen  Anwandlungen   des  Stolzes 
behaupten.    Um  die  Dämonen  zu  besiegen,   legte  er  sich  noch  grössere  Ka- 
steiungen  auf  und  begab  sich  in  eine  Felsengrotte ,   den  Geist   schwächend 
durch  übertriebenes  Fasten..    Da   erreichten  die  Versuchungen  den  höchsten 
Grad.    Er  glaubte  von  den  Dämonen  körperliche  Misshandlungen  zu  erleiden 
und  wurde  bewusstlos  in  sein  Dorf  zurückgetragen.     Später   lebte   er   zehn 
Jahre  hindurch  auf  den  Ruinen  eines  alten  Bergschlosses.     Darauf  ergab  er 
sich  einer  Art    von   pastoraler   und   seelsorgerischer  Wirksamkeit,    die   ihre 
heilende  Kraft  auch  an  ihm  erwies.     Er  wurde  der   geistliche  Führer  vieler 
durch  sein  Beispiel  herbeigezogener  Asketen.     Rings  um  ihn  bevölkerte  sich 
die  Wüste  mit  Einsiedlerhütten.     Man   suchte   ihn  von   ferne   auf,   um  sich 
seinen   geistüchen  Rath   zu   erbitten,    um  Streitigkeiten  zu   schlichten,   um 
ihm  Verehrung   zu   bezeugen.     Dem   allem   zu   entgehen,    flüchtete  er  sich 
noch  weiter  in  die  Einöde  hinein.     Aber  auch   da  blieb  er  nicht  unentdeckt 
und    konnte   sich   denen   nicht   entziehen,    die    seinen  Rath  und  Belehrung 
wünschten.    In  hohem  Alter  besuchte   er  noch  Alexandrien,   um   dem  Aria- 
*  nismus  entgegen    zu   wirken   (325).     Vierzehn  Jahre   vorher   hatte   er   jene 
Stadt    besucht,    während    der  Verfolgung   des  Maximian,   und  die   dortigen 
Christen  zur  Standhaftigkeit  ermuntert,  welcher  Zweck  so  gut  erreicht  wurde, 
dass    der  Statthalter   alle  Mönche   aus    der  Stadt    vertrieb.     Sterbend,   105 
Jahre  alt,  befahl  er,  seinen  Begräbnissort  geheim  zu  halten,  um  abgöttische 
Verehrung  seiner  irdischen  Ueberreste  zu  verhindern.     Ueberhaupt  leuchtet 
acht  chi'istüche  Demuth  aus  vielen  seiner  Aeusserungen  hervor.    Wir  heben 
hervor  die  köstlichen  Worte;   ^das  ist  das  grosse  Werk  des  Menschen,  dass 
er  seine  Schuld  vor  Gott  auf  sich  nehme   und  bis   zum  letzten  Augenbhcke 
seines  Lebens  auf  Versuchungen  gefasst  sei"  und  jene  anderen  Worte:  „ver- 
traue nicht  auf  deine  Gerechtigkeit."    Nach  dem  Vorgange  vieler  mystischer 


390  Zweite  Periode  des  alten  Katholicisraus. 

Naturen  verachtete  er  das  vermittelte  Wissen  und  sprach  es  keck  aus :  ;,wer 
eine  gesunde  Vernunft  hat,  bedarf  keiner  positiven  Kenntnisse  ^).  Doch  hatte 
er  einen  tiefen  Sinn  für  die  Natur.  Auf  die  Frage,  wie  er  es  aushalten 
könne,  ohne  Bücher  zu  leben,  erwiederte  er:  ^^mein  Buch  ist  die  ganze 
Schöpfung;  dieses  Buch  hegt  oft'en  vor  mir  aufgerollt,  und  ich  kann  in  dem- 
selben, wann  ich  will,  das  Wort  Gottes  lesen." 

Es  ist  aber  durch  Professor  Weingarten  a.  a.  0.  eine  Darstellung  vom 
Ursprünge  des  Mönchthums  angefangen  worden,  welche  in  wesentlichen 
Stücken  sich  von  den  bis  jetzt  gegebenen  unterscheidet.  Wie  sehr  wir  ihm  für 
diese  lehrreiche  und  höchst  anregende  Darstellung  danken,  können  wir  ihm 
am  besten  dadurch  beweisen,  dass  wir  weitläufig  darauf  eingehen.  Zuerst  macht 
sich  Weingarten  an  die  Schrift  des  Hieronymus  de  vita  Pauli  Monachi, 
die  einzige  Quelle  über  das  Leben  dieses  wunderhchen  Heiligen,  und  es  wird 
ihm  nicht  schwer,  zur  deutlichen  Anschauung  zu  bringen,  dass  die  ganze 
Erzählung  der  geschichthchen  Wahrheit  völlig  entbehrt.  Ganz  richtig  ur- 
theilt  der  Verfasser,  die  Absicht  des  Hieronymus  sei  gewesen,  recht  pikant 
zu  sein:  die  Schrift  sei  eine  Nachbildung  beüebter  Romane  der  römischen 
Kaiserzeit,  die  nur  noch  durch  Abentheuerhches  und  Schauriges  vorüber- 
gehend aufgereizt  werden  konnte.  Dazu  kommt,  dass  vor  Hieronymus  Nie- 
mand etwas  von  diesem  Paulus  weiss,  dass  Athanasius  in  seiner  Schrift  über 
Antonius  den  Paulus  dui'chaus  nicht  nennt,  so  dass  es  überhaupt  sehr  pro- 
blematisch ist,  ob  Paulus  von  Theben  existirt  hat.  Weingarten  läugnet 
dessen  Existenz.    Auf  jeden  Fall  ist  er  füi-  die  Geschichte  ohne  allen  Werth. 

Von  grösserer  Bedeutung  ist,  was  derselbe  Gfilehrte  über  das  dem  Atha- 
nasius zugeschriebene  Leben  des  heihgen  Antonius  sagt.  Gegen  die  Aechtheit 
dieser  Schrift  führt  er  vieles  Gewichtige  an.  Es  fällt  auf,  dass  bei  Eusebius 
nicht  einmal  der  Name  des  Antonius  weder  in  der  Kirchengeschichte,  noch 
im  Leben  Constantin's  sich  findet.  Allerdings  wird  er  im  Chronicon  zweimal 
genannt,  aber  nicht  in  dem  urspiünglichen  Bestandtheil  des  Werkes,  sondern 
nur  in  der  selbständigen  Fortsetzung  des  Hieronymus.  Um  so  autfallender 
ist  es,  dass,  nach  der  Sclirift  des  Athanasius,  ein  Briefwechsel  statt  fand 
zwischen  Constantin  und  Antonius,  wobei  sich  herausstellt,  dass  der  Kaiser 
und  dessen  Söhne  Antonius  als  Vater  verehrt  haben  ^j.  Sodann  fällt  auf  die 
lange,  rhetorisch  kunstgemässe  Erläuterung  über  das  Wesen  der  Askese 
(c.  16 — 44),  es  fallen  auf  die  speculativen  Gespräche  mit  den  griechischen  So- 
phisten (c.  74  —  78),  dazu  die  Kenntniss  und  Bekämpfung  platonischer,  neu- 
platonischer und  stoischer  Philosopheme.  Ueberdiess  redet  Antonius  an  ge- 
wissen Stellen  wie  ein  correcter  Dogmatiker  über  den  Glauben  als  unmittel- 
bares Wissen  der /Seele,  über  den  Zweck  der  Menschwerdung.  Zuweit  geht 
wohl  Weingarten,  wenn  er  behauptet,  das  tiefsinnige  Wort:  ;,eine  reine  und 
der  Natur  getreue  Seele  sehe  weiter  als  alle  Dämonen,"  könne  nicht  im 
Schmutz  der  Wüste  entstanden  sein.    Weingarten  sieht  aber  wohl  mit  Recht 


1)  (ü   6   vovg  vyiatyfif  rovrtü   ovx   ayayxata  ra  nQttyfxaxa. 

2)  Ob  Hieronymus  von  der  Schrift  des  Athanasius  nichts  wusste,  als  er  die  vita 
PauH  schrieb,  weil  er  darin  sagt,  quia  de  Antonio  tarn  graeco  quam  romano  stilo  tradi- 
tum  est,  lassen  wir  dahingestellt. 


Das  christliche  Leben.     Mönchthum  im  Orient.  391 

(lie  Schrift  als  Tendeuzschrift  an;  er  stimmt  dem  Gregor  von  Nazianz  in 
der  Oratio  21 ,  5  bei ,  der  sagt :  die  Schrift  sei  die  Darstellung  des  Ideals 
des  Möuchthums  in  Form  der  Geschichte  i).  Nicht  den  ursprünglichen,  son- 
dern den  idealen  Charakter  des  Mönchthums,  die  Aufgaben  desselben  habe 
der  Verfasser  der  Schrift  zeigen  wollen,  um  das  vorhandene  Mönchthum  in 
eine  reinere,  höhere  Atmosphäre  zu  erheben.  Das  stimmt  zu  dem,  was  wir 
oben  bemerkten. 

Dass  man  die  Schrift  dem  Athanasius  zuschrieb,  hängt  nach  Weingarten 
damit  zusammen,  dass  derselbe  seit  356  in  mannigfache  Beziehung  zum 
ägyptischen  Mönchthum  trat.  Dass  Gregor  von  Nazianz  das  Werk  gläubig 
als  athauasianisch  annahm,  kann  in  einer  Zeit  nicht  überraschen,  deren  lite- 
rarischer Glaube  nur  durch  dogmatische  Gründe  bestimmt  wurde.  Wenn 
aber  Weingarten  vermuthet,  die  Schrift  sei  in  den  Cirkeln  des  Hieronymus 
entstanden,  so  müssen  wir  das  dahin  gestellt  sein  lassen.  Auf  jeden  Fall 
ist  die  Schrift  aus  dem  besseren  Geiste  des  Mönchthums  entsprungen.  Wein- 
garten scheint  aber  selbst  die  Existenz  des  Antonius  in  Zweifel  zu  ziehen, 
worin  wir  ihm  jedoch  bis  auf  weitere  Einsicht  nicht  folgen  können. 

Indem  Weingarten  die  eigentüchen  Ursprünge  des  Mönchthums  auf- 
sucht, kommt  er  auf  zwei  Männer  zu  sprechen,  deren  Berichte  bis  jetzt  dem 
traditionellen  Bilde  des  ersten  Geschlechts  der  Mönche  zur  Bestätigung  und 
Illustration  dienten.  Beide  Männer  haben  eine  Zeit  lang  unter  den  ägyp- 
tischen Mönchen  in  der  nitiischen  Wüste  und  in  derThebais  gelebt  und  wollen 
nur  selbst  Erlebtes  oder  von  Augenzeugen  Erkundetes  mittheilen.  Es  ist 
Ruf  in,  der  374  —  380,  und  Palladius,  später  Bischof  von  Helenopolis ,  und 
noch  später  von  Aspona  in  Galatien,  der  390  in  Aegypten  verweilte  2).  Rufin 
spricht  sich  darüber  aus  theils  in  seiner  Kirchengeschichte,  theils  in  seiner 
historia  Monachorum  oder  patrum  eremitica ,  Palladius  in  der  historia  Lau- 
siaca  (die  dem  Lausus,  Statthalter  von  Kappadocien  gewidmeten  vitae  sanc- 
torum  patrum).  Weingarten  sagt  zu  den  Fabeleien,  die  namentlich  Rufiu 
vorbringt:  „es  ist  fast  unglaubhch,  was  er  dieser  absterbenden,  römischen 
Welt  als  von  ihm  selbst  gesehen  oder  durch  Andere  Erkundetes  bieten 
konnte,  wenn  man  nicht  wüsste,  dass  diese  Welt  eben  damals  begriffen  war 
in  ihrer  Umwandlung  aus  dem  antiken  in  ihr  katholisches  Heidenthum^  ^). 


1)  Tov  /iiovttdtxov  ßiov  vofioB^süitt  er  nlaGfiart  ^iriyrjfikbig. 

2)  S.  den  Artikel  Palladius  von  Zoeckler  im  20.  Bande  der  Encyklopädie. 

3)  Rufin  sieht,  wie  aus  dem  Rücken  des  ApoUonius  ein  Dämon  herausspringt  in 
Gestalt  eines  kleinen  Negerknaben  —  der  heilige  Helenus  ruft  ein  Krokodil  herbei,  auf 
dessen  Rücken  er  über  den  Nil  fährt  -  ein  anderer  Heiliger  reist  durch  die  Luft,  — 
der  heilige  Makarius  beschwört  Todte,  die  noch  aus  dem  Grabe  heraus  ihren  Mörder 
nennen,  und  bezauberte,  in  Stuten  verwandelte  Jungfrauen  zurück  verwandelt.  -  Ein 
jüngerer  Makarius  sieht,  wie  bei  der  Messe  ein  kleiner  Teufel  in  Gestalt  eines  braunen 
Aethiopierjungen  vor  jedem  Mönche  spielt,  ihn  zum  Schlafen,  oder  zum  Gähnen,  oder  zum 
Lachen  reizt,  kitzelt  und  hinter  den  Ohren  kratzt,  zum  Beweise,  wie  die  Teufel  dem 
Makarius  sagen,  dass  sie  bei  jeder  Messe  gegenwärtig  seien  Palladius  will  mit  eigenen 
Augen  gesehen  haben,  wie  ein  besessener  Knabe  durch  die  Berührung  des  Makarms  in 
die  Luft  gehoben  worden   und   schwebend   zu   einem   gewaltigen  Schlauch    angeschwollen 

Ein  Heiliger  wird   vön   einer  Hirschkuh  gesäugt,    die  ihm  in   die  Zelle  ^nacjifolgt 


sei. 


392  Zweite  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

Doch  findet  Weingarten  bei  Rufiu  und  bei  Palladius  Erscheinungen  des 
ältesten  christlichen  Mönchthums,  welche  auf  Analogieen  hinweisen,  die  sich 
schon  in  der  vorchristlichen  Zeit  Aegyptens  zahlreich  finden  und  deren  reh- 
giösen  Charakter  die  neueren  ägyptologischen Forschungen  dargethan  habend). 
Er  bezieht  sich  hier  auf  die  bei  Rufin   und  Palladius   vorkommenden  Eremi- 
ten, die  ganze  Menschenalter  hindurch  in  Bergzellen,  Felsengräbern  oder  in 
Pyramiden  sich  eingeschlossen  hielten,  die  reclusi  oder  eyxexXeKTiisvot ,  die 
nur  durch  ein  Fenster  sich  sehen  liessen  oder   durch   die  aus   dem  Fenster 
gestreckte  Hand  die  Kranken  heilten,  auch  den  Segen  spendeten.    Eine  sehr 
in  die  Augen  fallende  Parallele  dazu  bildet  daß  vollständig  organisirte  Mönchs* 
und  Klosterwesen,  welches  mit  dem  Dienst  des  Serapis,   des  in  der  alexan- 
drinischeu  Zeit  vor  allen  verehrten  Gottes,  verbunden  war.     Das  Serapeion 
zu  Memphis,    das  HauptheiKgthum   des  ägyptischen  Serapiscultus  der  Ptole- 
mäer-  und  der  Kaiserzeit  umschloss   in   seinen   weiten  Räumen  eine  Gesell- 
schaft von  Eremiten,  die  hier   in  jahrelanger  unverbrüchlicher  Clausur  leb- 
ten in  abgesonderten  Zellen.     Diese   xatoxoi  '^)   waren   auf  das  Brod   ange- 
wiesen,  das   ihnen  ihre  Verwandten  gaben,   sie   selbst   durften  ihre  Zellen 
nicht  verlassen  und  verkehrten  mit  der  Aussenwelt  nur  durch  ein  Luftloch; 
unbedingte   Ai'muth   war   nicht   geboten.      Ein   ernster   religiöser  Grundzug 
geht  durch  die  aufbehaltenen  Documente.     Es  ist  die  Hoffnung,   ;,rein"   zu 
werden,   in  möglichst  langem  Dienst   des  Serapis,  welche  diese  xaroxoi  in 
ihr  lebendiges  Grab  führte.     Dieses  Mönchthum  beschränkte   sich  nicht   auf 
Memphis,   es   war  auch  in  den  anderen  Serapis-  und  selbst  Isistempeln  hei- 
misch.    Die   grossen  Massen  von  Pilgern,  die  jährlich   nach  dem  Serapeion 
zu   Memphis   wallfahrteten ,    trugen    die  Kunde    von    diesen   reclusi   in    alle 
Schichten  der  ägyptischen  Bevölkerung.    Die  Aehnlichkeit  dieses  ägyptischen 
Mönchthums  mit  dem  christlichen  erstreckt  sich  bis  auf  Dinge  von  geringerer 
Bedeutung.    Das  gemeinsame  Ideal  beider  Arten  des  Mönchthums,  des  heid- 
nischen und  des  christUchen  scheint  die  ana&sta  zu  sein,  ein  immer  höherer 
gradus  impatibilitatis.    Auch  die  christUchen  reclusi  empfingen  ihre  Nahrung 
durch   das  Luftloch    ihrer  Clause   aus   der  Hand   von  Dienern.     Das  Mona- 
sterium  des  Isidorus  in  der  Thebais,  aus  dem  Niemand,    der  hereingetreten 
war,  heraus  durfte,   erinnert  au  die  Abgeschlossenheit  des  Serapeion.    Was 
noch  zuletzt  Beachtung   verdient,    ist  der  Umstand,   dass   die  Entstehungs- 
und Hauptgebiete   des   christlichen  Mönchthums   in   unmittelbarer  Nähe   be- 
rühmter  Serapistempel    lagen.      Die   Geburtsstätte    des   Antonius    liegt   bei 
Herakleopolis ,   in  der  Nähe  des  Serapeions  von  Memphis.     Die  Nilinsel  Ta- 
benna  in  der  oberen  Thebais,  wo  durch  Pachomius  die  erste  Organisation  des 
Mönchthums  gemacht  wurde,  ist  nahe  bei  dem  Isistempel  zu  Philae,  wo  ein 
glänzender  Dienst  des  Osiris  und  Serapis  sich  bis  in  die  Zeiten  des  Justinian 


u.  s.  w.    Daher  Hieronymus  (ep.  133)  urtheilte,  ßufin  zähle  manche  Mönche  auf,  die  nie- 
mals existirt  haben. 

1)  Weingarten  benützt  hier  die  Arbeiten   der  französischen  Akademiker  Lei  rönne 
und.  Brnnet  de  Presle. 

2)  Karoxog  bezeichnet  nicht  blos  den  von  einem  Gott  ergriffenen  und  begeisterten, 
Bondem  auch  den  im  Verschluss  gehaltenenen ,  den  reclusus. 


l)as  christliche  Leben.    Mönchthum  im  Orient.  593 

erhielt.  Viele  von  den  aus  den  zweiundvierzig  Serapistentempeln  bekannten 
Namen  kehren  in  der  alten  Mönchsgeschichte  wieder.  Wenn  die  populär 
ägyptischen  Culte  in  die  christliche  Zeit  hineingespielt  haben,  so  ist  sich  um 
so  weniger  zu  wundern,  dass  das  altägyptische,  so  populäre  Mönchthum  in 
christUcher  Form  in  die  christliche  Kirche  eingedrungen  ist.  Dagegen  kann 
von  einem  Einfluss  der  Therapeuten  auf  das  sich  bildende  christliche  Mönch- 
thum keine  Rede  sein;  denn  sie  kamen  mit  dem  ägyptischen  Volksleben  in 
keine  Berührung,  und  sind  übrigens  nach  der  Mitte  des  ersten  Jahrhun- 
derts verschwunden. 

Antonius  war,  nach  der  angeführten  Biographie,  der  Stifter  einer  ge- 
wissermassen  gemeinsamen  Lebensweise  der  Anachoreten  geworden;  davon 
sehen  wir  ab.  Der  eigentliche  Stifter  des  geordneten  Cönobitenlebens  war 
Pachomius,  der  von  Antonius  unabhängig  die  Mönche  in  grossen  zusam- 
menhängenden Gebäuden  vereinigte  und  dem  Mönchsleben  eine  geregelte  feste 
Gestalt  gab.  Er  stiftete  c.  340  auf  der  Nilinsel  Tabenna  in  Oberägypten  das 
erste eigenthche Kloster,  xoivoßiov,  (davon  abgeleitet  xo^voßitrjg)  fiavSga  (Hürde, 
laurä),  ^ovaarriQiov ,  (fqovtiGTriqiov,  gab  ihm  eine  eigentliche  Regel,  welche 
das  ganze  Leben  der  Mönche,  alle  Beschäftigungen  und  Gottesdienste  ord- 
nete, und  besonders  die  strengste  Unterordnung  unter  die  Vorsteher  {aßßag, 
'nyov^eyog,  aQxit^ccvdQitrig)  zum  Gesetz  machte.  Es  wurden  mehrere  Ge- 
werbe getrieben;  der  Aufnahme  in  den  eigentlichen  Klosterverband  ging  ein 
Noviciat  voran  i).  Dieses  Kloster  wurde  bald  sehr  bevölkert.  Es  entstanden 
ringsherum  andere  Coenobia,  die  zu  demselben  Vereine  gehörten;  derselbe 
umfasste  noch  bei  Lebzeiten  des  Pachomius  dreitausend,  später  siebentausend, 
um  die  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  angeblich  sogar  fünfzigtausend  Mönche. 
Die  Stiftung  des  Pachomius  gab  den  Impuls  zu  vielen  anderen ;  denn  man  fühlte 
die  dringende  Nothwendigkeit ,  das  eigentliche  Anachoretenthum ,  das  Leben 
des  Monachos  in  der  Gemeinschaft  zu  absorbiren.  Anuin  gründete  ein 
berühmt  gewordenes  Kloster  auf  dem  nitrischen  Berge  in  Aegypten,  Hila- 
rion,  Schüler  des  Antonius  eines  bei  Gaza  im  alten  Phönicien,  von  wo 
aus  das  Mönchthum  sich  in  Palästina  und  Syrien  verbreitete.  Unter  den 
Klosterstiftern  nimmt  eine  ehrenvolle  Stelle  ein  Makarius  der  ältere, 
der  Grosse  genannt,  c.  300  geboren,  als  Schüler  des  heiligen  Antonius 
angesehen,  von  früher  Jugend  an  asketischen  Uebungen  ergeben,  daher  Ttat- 
6aQior€Q(ov  zubenannt,  zog  er  sich  im  dreissigsten  Lebensjahre  in  die  ske- 
tische  Wüste  zurück,  worin  er  sechzig  Jahre  lang  verweilte,  als  Vorsteher 
eines  Mönchsvereiues ,  er  starb  c.  390.  Noch  jetzt  trägt  nach  dem  Bericht 
von  Tischendorf  (Reise  in  den  Orient  I,  110)  ein  Kloster  in  der  libyschen 
Wüste  den  Namen  des  Makarius  und  die  ganze  Gegend  lieisst  Makarius- 
wüste  Sein  Leben  ist  mit  allerlei  Wundergeschichten  ausgestattet,  in  des 
Palladius  historia  Lausiaca  c.  20  mitgetheilt.    Ihm  werden  fünfzig  Homilieen 


1)  Die  authentische  Gestalt  der  Mönchsregel  des  Pachomins  lässt  sich  nicht  mehr 

ermitteln     Es  gibt  zwei  Recensionen  derselben,    eine  längere,  bei  Lucas  Holstem,  codex 

e^lTr  m  monast.  und  eine  kürzere  bei  Gazaeus  in  der  Ausgabe  von  ^-^-^  ^^  ^^^ 

bi^um  institutis,   worin   wohl  ächte  Stücke  von  der  Regel  des  Pachomms  enthalten  sem 

iiögen,  die  in  der  Folgezeit  vermehrt  wurden. 


394  Zweite  Periode  des  alten  Katholiciamus. 

zugeschrieben,  die  noch  vorhanden  sind  (bei  Migne  series  graeca  vol.  34), 
dazu  kommen  (ibid.)  sieben  asketisclie  Abhandhuigen ,  die  aber  nicht  ächte 
Werke  des  Makarius  sind,  sondern  aus  den  Ilomilieen  ausgezogen.  Es  kom* 
men  darin  manche  gute  Gedanken  vor,  z.  B.  in  der  Abhandlung  ttsqi  (pvXaxrjg 
xagdiag,  das  Fundament  des  Christenthums  bestellt  darin,  dass  der  Mensch, 
wenn  er  gute  Werke  gethan,  darin  nicht  ausruhe  ^),  noch  sich  gross  zu  sein 
dünke  u.  s.  w. 

Ein  anderer  Makarius,  genannt  der  alexandrinische,  von  Ale- 
xandrien  gebürtig,  daher  der  Städter,  noXitixoq,  zubenannt,  soll  auch 
Schüler  des  Antonius  gewesen  sein,  und  erst  im  vierzigsten  Lebensjahre  die 
Taufe  empfangen  haben;  später  zog  er  sich  in  die  nitrische  Wüste  zurück 
und  wurde  Vorsteher  eines  Mönchsvereins  von  c.  fünftausend  Mönchen;  er 
soll  als  hundertjähriger  Greis  im  Jahre  404  gestorben  sein.  Ihm  wird  eine 
Mönchsregel  zugeschrieben,  die  sich  in  der  Sammlung  der  Mönchsregeln  von 
Lucas  Holstein  und  bei  Migne  a.  a.  0.  findet,  wo  auch  sein  Leben  in  der 
historia  Lausiaca  c.  20.  Eustathius,  Bischof  von  Sebaste  in  Armenien, 
verbreitete  das  mönchische  Leben  in  diesem  Lande. 

Denn  nicht  nur  entsprach  es  einer  weit  verbreiteten  Richtung  der 
Frömmigkeit,  die  berühmtesten,  angesehensten  Kirchenlehrer  wetteiferten 
als  ächte  Kinder  ihrer  Zeit  in  höchst  unvorsichtiger  Weise  in  Bewunderung, 
Empfehlung  und  Förderung  der  neuen  Lebensweise,  und  zwar  in  der  beschrie- 
benen Gemeinschaftsfonn,  so  Athanasius,  die  beiden  (jTregore,  Basilius 
der  Grosse,  Chrysostomus,  Ambro  sius,  August  in.  Man  stellte  die 
Mönche  zusammen  mit  Johannes  dem  Täufer,  mit  den  alten  Propheten,  mit 
den  Aposteln;  diese  sollten  die  Vorbilder  und  Urbilder  des  Mönchthums  ge- 
wesen sein  2).  Das  mönchische  Leben  nannte  man  ein  Leben  nach  Art  der 
Engel  {ayy^^f'^^  öcayMyr],  o  tojv  ayy€?,ü)v  ßiog),  den  hinnnlischen  Wandel 
(ta  enovqavia  noXneviiccTa) ,  das  apostolische  Leben  (o  ßioq  anofftoXixog), 
die  höhere  Philosophie  (rj  viprjXr}  (piXocrocpia) ,  die  göttliche  Philosophie  (^ 
xaxa  ^eov  (piXoGO(pia) ;  das  Mönchslel)en  führen  hiess  geradezu  philosoi)hiren 
{(pi,koao(p6iv ;  daher  auch  iiovaatixrj  (piloaotpia  Soc.  6,  33). 

In  Basilius  dem  Grossen  tritt,  kann  man  sagen,  der  romantische  Zug,  den  das 
Christenthum  den  Gemüthern  einhauchte,  deutlich  hervor.  Auf  mehreren  Rei- 
sen in  Syrien,  Palästina  und  Aegypten  hatte  er  das  Mönchthum  näher  kennen 
gelernt  und  von  Bewunderung  desselben  ergriffen,  gründete  er  359  eine 
kleine  Mönchsgesellschaft  in  einer  Einöde  in  Pontus  nahe  bei  dem  Dorfe 
Anesi,  in  dem  seine  Mutter  Emmelia  und  seine  Schwester  Märina  mit  eini- 
gen frommen  Jungfrauen  ein  asketisches  Leben  führten.  Er  verblieb  daselbst 


1)  Das  erinüert  an  die  Regel,  die  der  Abt  von  St.  Cyran  aufstellte:  wenn  man 
eine  gute  Handlung  vollbracht,  solle  man  sie  in  Gott  verlieren  (perdre  en  Dieu). 

2)  So  berichtet  Sozomenus  1,  12,  dass  Elias,  wie  einige  sagen,  und  Johannes  der 
Täufer  diese  Lebensweise  angefangen,  Hieronymus,  dass  die  erste  Kirche  in  Jerusalem, 
worin  Gütergemeinschaft  eingeführt  war,  der  erste  Mönchsverein  gewesen.  Johannes  Cas» 
sianus  sagt  auch,  das  Mönchthum  habe  in  der  ersten  Kirche  in  Jerusalem  seinen  Anfang 
genommen. 


Das  christliche  Leben.    Mönchthurn  im  Orient.  395 

bis  364.  Er  suchte  mm,  seinen  Freund  Gregor  von  Naziauz,  seinen 
Studiengeuossen  in  Athen,  herbeizuziehen  und  beschrieb  ihm  mit  Wärme 
und  Lebendigkeit  die  Schönheit  der  Gegend,  die  er  bewohnte.  Denn  das 
Christen thum  entwickelte  den  Sinn  für  Naturschönheiten.  ;,Was  mir  das 
hebste  ist ,  fügt  er  hinzu ,  ist  dieses ,  dass  dieser  Aufenthalt  mh'  die  süsseste 
Frucht  der  Ruhe  bringt,  nicht  blos  wegen  seiner  Entfernung  von  der  Stadt, 
sondern  weil  nicht  einmal  ein  Wanderer  diese  einsame  Wildniss  betritt,^^ 
So  stellt  sich  von  dieser  Seite  das  Mönchthum  uns  dar  als  Rückkehr  zur 
Natur ,  zur  ursprünglichen  Einfachheit ,  als  ein  Fhehen  aus  der  Verfeinerung 
einer  verderbten  Gesellschaft  in  die  einsame,  reine  Natur.  Doch  bald  machte 
Basilius  schmerzliche,  wenn  gleich  heilsame  Erfahrungen.  ^,Was  ich  in  dieser 
Einsamkeit  Tag  und  Nacht  thue,  das  schäme  ich  mich  fast  zu  sagen.  Wohl 
habe  ich  den  Aufenthalt  in  der  Stadt  als  die  Quelle  von  tausend  Uebeln 
verlassen,  aber  mich  selbst  konnte  ich  nicht  verlassen.  —  Ich  bin  durch 
diese  Einsamkeit  im  Ganzen  nicht  viel  gefördert  worden.^'  Doch  gibt  er 
deswegen  das  Priucip  des  Mönchslebens  nicht  auf;  er  meint,  es  sei  möglich, 
die  Leidenschaften  wie  wilde  Thiere  durch  sanfte  Behandlung  allmählich  zu 
zähmen  u.  s.  w. 

Gregor    folgte    der  Einladung   des  Freundes ;    beide    verbrachten    hiÖr 
einige  Jahre   (bis  364)    unter  Gebeten,    geisthchen  Betrachtungen,    Studium 
der   heiligen  Schrift  und  Handarbeiten.    Eine  Frucht   ihrer  Studien  ist   die 
Philokalie,    eine   Reihe    von  Auszügen    aus    den    exegetischen  Werken    des 
Origenes.      Gregor  gedachte  später  mit  Freuden  an  diese  Zeit.     ^^Wer  wird 
mich,  schreibt  er  an  seinen  Freund,  in  jene  früheren  Tage  zurückversetzen, 
in  welchen  ich  mit  dir  in  Entbehrungen  schwelgte  ?  wer  wird  mir  jene  Lob- 
gesänge   und  Nachtwachen,   jene  Erhebungen    zu  Gott,  jenes   überirdische, 
unkörperliche  Leben,  jene  Gemeinschaft  und  Seelenruhe  der  Brüder  wieder- 
geben, die  von  dir  zu  einem  gottgleichen  Leben  erhoben  wurden?^'    Seit  364 
von  Bischof  Euseb  von  Cäsarea  in  Kappadocien  zum  Presbyter  geweiht,    seit 
370  Nachfolger   des  Euseb,    stiftete  BasiHus    in    der  Nähe    der  Stadt  einen 
Mönchsverein,    durchaus   gegründet   auf  dasselbe  Princip  wie  die  Stiftungen 
des  Pachomius.     Basilius  wollte  nichts  vom  Anachoretenthum  wissen,  sondern 
nur  vom  Cönobitenleben.      „Das  Einsiedlerleben,  pflegte  er  zu  sagen,    wider- 
spricht dem  Wesen  der  wahren  Liebe,   indem  jeder  nur  für  das  sorgt,  was 
ihm  selbst  Noth  thut.     Es  wird   ein   solcher  auch  nicht  leicht  seine  Fehler 
und  Sünden  erkennen.^      Er   beruft   sich   auch   auf  Prediger  Salomo  4,  10. 
Wehe  dem,  der  allein  ist,  wenn  er  fällt;    es  ist  kein  anderer  da,  der  ihm 
aufhelfe.     In   einer  Gemeinschaft    geht    die  Wirkung   des  Geistes   auf  Alle 
über;   die  Jedem  verUehene  Gnadengabe  geht  auf  Alle  über,    wer  aber  nur 
für  sich  allein  lebt,  hat  vielleicht  eine  Gnadengabe,  aber  er  macht  sie  unnütz, 
indem  er  sie  bei  sich  selbst  vergräbt.  ^^   Zugleich  befahl  BasiHus  den  Mönchen 
Handarbeit  und  wollte  nichts  wissen  von  übertriebener  Askese.    Auf  solchen 
Grundsätzen  war  die  Mönchsregel  gegründet,  welche  Basilius  seinen  Mönchen 
gib*).     Sein  Beispiel  zeigt    nicht  nur   deutlich,    dass    das   Cönobitenleben 


1)  Es  gibt   eine  Reihe  von  längeren   und  'kürzeren  Recensionen  derselben.    In    der 
Aiwgabe  seiner  Werke  von  Garnier  sind  zwei  dem  Basilius  als  Verfasser  zugeschrieben.    Ob 


396  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

immer  mehr  iu  Aufschwung  kam,  souderu  auch,  dass  man  die  Mönche  in 
grössere  Abhängigkeit  von  der  bischöüichen  Autorität  zu  bringen  suchte. 
Seitdem  wurde  es  Sitte,  in  der  Nähe  grosser  Städte  Mönchsvereine  anzu- 
legen. So  wurde  ein  solcher  in  der  Nähe  von  Antiochien  auf  den  benach- 
barten Bergen  gegründet,  auf  welchen  Chrysostomus  in  seinen  Honiilieen  öfter 
zu  sprechen  kommt  i),  indem  er  ihr  fronnnes,  geregeltes,  nur  auf  das  Hinnn- 
lische  gerichtetes  Leben  dem  ausgelassenen  Leben  iu  der  reichen  Hauptstadt 
Syriens  entgegenstellt. 

Es  lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  Viele  durch  das  Beispiel  der  Mönche 
aus  dem  Schlummer  des  Weltlebens  aufgeweckt  wurden.  Auch  Heiden  wur- 
den durch  Mönche  zum  christlichen  Glauben  bekehrt.  Ein  erhebendes  Bei- 
spiel davon  führt  Theodoret  an ,  wie  ein  grosses  Dorf  auf  dem  Libanon ,  das 
noch  ganz  im  Heidenthum  versunken  war,  und  das  einige  Mönche  sehr 
feindlich  behandelt  hatte,  durch  eben  diese  Mönche  eine  grosse  Sunnne 
erhielt,  um  harte  Abgaben  zu  bezahlen,  dadurch  zur  Aufnahme  jener  Mönche 
bewogen  wurde  und  nach  drei  Jahren  den  christlichen  Glauben  annahm. 
Ueberhaupt  zeichneten  sich  die  Mönche,  d.  h.  die  Coenobiten,  die  lieissig 
arbeiteten,  durch  grosse  Wohlthätigkeit  aus.  Selbst  sehr  ärmlich  lebend, 
machten  es  sich  die  Mönche  in  Syrien  und  Aegypten  durch  ihre  Arbeiten 
und  Ersparnisse  möglich,  ganze,  mit  Lebensmitteln  beladene  Schiffe  nach 
nothleidenden  Gegenden  abzusenden.  Denn  die  Vorsteher  der  Klöster  so 
wie  die  Kirchenlehrer  eiferten  dafür,  dass  die  Mönche  viel  arbeiteten,  und 
Chrysostomus  führte  ihnen  tretieud  zu  Gemüthe,  dass,  wenn  der  Herr  sage: 
sorget  nicht,  das  nicht  heisse:  arbeitet  nicht.  Die  Mönche  nahmen  sich 
auch  der  Sklaven  an  und  suchten  deren  Loos  zu  mildern;  das  wird  besonders 
dem  frommen  Abte  Isidor  von  Pelusium  nachgerühmt.  Die  Mönche  leisteten 
auch  der  tyrannischen  Härte  der  Statthalter  der  Provinzen  öfter  muthigen 
Widerstand.  Ein  besonderes  Verdienst  erw^arben  sich  die  Mönche  dadurch, 
dass  sie  Jugenderzieher  wurden,  diess  um  so  höher  zu  schätzen,  je  mehr  das 
Erziehungswesen  vernachlässigt  war,  je  mehr  Verderbniss  aller  Art,  beson- 
ders in  den  Städten  dem  jugendlichen  Alter  drohte.  In  der  Mönchsregel  des 
ßasiüus  sind  darüber  vortreffliche  Anordnungen  enthalten.  Wenn  die  Auf- 
genommenen erwachsen  wären,  sollten  sie  zum  Mönchsgelübde  zugelassen 
werden,  falls  sie  Neigung  und  Tüchtigkeit  zum  Mönchsleben  zeigten;  im 
entgegengesetzten  Fall  sollten  sie  nicht  gebunden  sein.  Wiewohl  Antonius 
das  positive  Wissen  verachtete  und  viele  Mönche  ihm  darin  gleichgeartet 
waren,  so  lässt  sich  doch  nicht  sagen,  dass  das  Mönchthum  principiell  sich 
zur  wissenschaftlichen  Bildung  in  ein  feindhches  Verhältniss  stellte;  Män- 
ner wie  Athauasius,  die  beiden  Gregore,  Basihus,  Chrysostomus,  belorderteu 
diese  Lebensweise  durchaus  nicht  in  solchem  Sinne.  Gregor  von  Nazianz 
bemerkt  in  seiner  Lobrede  auf  den  verstorbenen  Freund  Basiiius,  dass  er 
nicht,  wie  viele  Christen  es  thäteu,  die  Wissenschaft  verachtet  habe;  seine 
Ansicht  sei  gewesen,    dass    dem  Christen  erlaubt   sei^    an    den    erhabenen 


sie  alle  und  in  der  vorliegenden  Gestalt  von  Basiiius  herrühren,   ist  mehr  als  zweifelhaft, 
bemerkt  Ulimann  u.  a.  0.  S.  57. 

1)  Chrysostomus  von  Neander  1,  80  u.  flf.  S. 


Das  christliche  Leben.    Mönchthum  im  Orient.  397 

Werken  der  classischen  Literatur  Gefallen  zu  finden,  so  wie  es  Jedem  frei 
stehe,  an  den  Werken  Gottes  in  der  sichtbaren  Schöpfung  sich  zu  erfreuen. 
Es  wurde  in  den  Klöstern  auch  theologischer  Unterricht  ertheilt ;  die  Kloster- 
schulen wurden  eine  Art  Seminare  für  die  Geistlichkeit. 

Doch  neben  diesen  Lichtseiten,  wie  viele  Schattenseiten,  dunkle  Schat- 
tenseiten zeigt  das  Mönchthum  schon  in   dieser  Periode!    Sie   erklären   sich 
nicht  nur   daraus ,    dass    sich   an  jede  grosse  und  weit  ausgedehnte  geistige 
Bewegung  auch  allerlei  Unreines  anschliesst,    sondern  es  traten   darin  auch 
die  dem  Mönchthum    von    vorn  herein   zu  Grunde  liegenden  Irrthümer  und 
die  aus  denselben  sich  nothwendig  ergebenden  Uebel  zu  Tage.  —    Viele  er- 
gaben  sich   der   allgemein    verehrten    und    bewunderten  Lebensweise  ohne 
inneren  Beruf,   aus  blinder  Nachahmungssucht,  oder  um  unter  dem  Scheine 
der  Entsagung  irdische  Güter  zu  erhalten,    auf   die   sie   nie  hatten  rechnen 
können.    Wenn  rohe  ungebildete  Menschen  von  den  untersten  Ständen  plötz- 
lich Klöster  stifteten  und  Aebte  wurden,    was   Hess    sich   von   ihnen  Gutes 
erwarten?    Man  begreift   so,    dass  aus  der  Mitte  der  Mönche  die  heftigsten 
Bekämpfer  des  Heidenthums  aufstanden   (diess  geschah  besonders  seit  Theo- 
dosius  L),  dass  sie  in  den  theologischen  Streitigkeiten  die  heftigsten  Gegner 
der  Häretiker  wurden,  dass  unter  ihnen  der  gröbste  Aberglaube  im  Schwange 
war.    Ueberhaupt  war  das  mönchische  Leben  der  fruchtbare  Boden  für  geist- 
lichen Hochmuth,  noch  genährt  durch  die  Verehrung,  die  man  den  Mönchen 
darbrachte;   ebenso   entwickelte  sich  alsobald  in  diesen  Kreisen  arge  Werk- 
gerechtigkeit und  erhielt  durch  das  Mönchthum  reichUche  Nahrung  und  die 
kräftigste  Begründung.     Und  doch  traten   bald   furchtbare  Uebelstände  her- 
vor,  wohl  geeignet,   den  geistlichen  Stolz   einigeraiassen  zu  vertreiben  und 
den  Wahn  der  Werkgerechtigkeit  zu  vernichten.    Viele ,    die  sich  in  schwär- 
merischen Kasteiungen  überboten,  geriethen  in's  Verderben;  die  einen  fielen 
in  Stumpfsinn  und  Narrheit,   andere   stürzten   sich   aus  Verzweiflung  in  den 
Strom  des  Weltlebens  und  der  Leidenschaften,  und  verloren  allen  religiösen 
Glauben  und  jeghchen  sittlichen  Halt;  noch  andere  endeten  als  Selbstmörder ; 
es  gab  solche,   welche  Zeitlebens,    wie  sie  klagten,   vom  Teufel  geplagt  und 
heunruhigt,  ein  elendes,  jammervolles  Leben  führten.    So  erging  ein  ernstes 
Gericht  über  dieses  engelgleiche  Leben,    über    diese    göttliche  Philosophie. 
Das  Mönchthum  selbst   ging  darüber   nicht   zu  Grunde,    denn    es    hatte  zu 
viele  Anknüpfungspunkte  im  damaligen  Zustande   der  katholischen  Christen- 
heit.    Der  Andrang  dazu   war   so  ungeheuer,    dass   ihm   durch  kaiserliche 
Gesetze  Einhalt  getlian  werden  musste   und   dass  Chrysostomus ,   der  grosse 
Beförderer  dieser  Lebensweise,  es  für  angezeigt  fand,  die  Frommen  zu  war- 
nen,  dass   sie  sich  nicht   der  Gemeinschaft   der  übrigen  Christen  entzögen, 
unter  welchen  sie  Gutes  stiften  könnten  (Chrysostomus  v.  Neander  1,  90  ff.). 
Aber  das  Bedürfniss  nach  Kegelung  des  asketischen  Lebens  nach  dem  cöno- 
bitischen  Mönchsleben  machte  sich  bei  den  Kirchenlehrern  und  den  besonne- 
nen Liebhabern  der  rein  asketischen  Lebensweise  mehr  und  mehr  geltend. 

Besonders  in  der  Nähe  der  Städte  gab  es  immerfort  viele  einsam 
lebende  Asketen,  Anachoreten  genannt;  sie  überboten  sich  in  seltsamen 
Selbstpeinigungen  und  es  wurden  von  ihnen  Wunderheilungen  erzählt;  daher 
sie  vom  Volke  äusserst  verehrt  wurden  (Sozom.  6,  28—34).    Während  viele 


398  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Asketen  inmitten  der  menschlichen  Gesellschaft  blieben  (Rhemoboth,  Sa- 
rabaiten  genannt),  sah  man  in  Mesopotamien  ganze  Haufen  von  Mönchen 
das  Land  durchziehen  und  sich  wie  das  liebe  Vieh  von  den  Kräutern  des 
Feldes  nähren  (daher  ßocrxoi  genannt).  In  demselben  Lande  schössen  seit 
360  die  Messalianer  oder  Euchiten  auf  (so  genannt,  weil  sie  nur  das 
unablässige  Gebet  für  Sünden  tilgend  hielten),  Choreuten  (wegen  ihrer 
mystischen  Tänze),  auch  Enthusiasten.  In  stolzem  Spiritualismus  mein- 
ten sie  des  Gottesdienstes  und  der  Sacramente  entbehren  zu  können,  ge- 
riethen  zugleich  auf  grobsinuhche  Vorstellungen  über  die  Einigung  der  Seele 
mit  Gott,  und  wahrscheinlich  wurde  ihnen  mit  Recht  Unsittlichkeit  Schuld 
gegeben.  Ihr  Mysticismus  erlaubte  ihnen  nicht  zu  arbeiten;  sie  wollten  blos 
vom  Betteln  leben,  in  Wahrheit  die  ersten  Bettelmönche. 

Ein  anderes  Extrem  der  mönchischen  Werkheiligkeit,  wie  sie  von  den 
Anachoreten  gepflegt  wurde,  zeigte  sich  in  den  Säulenheiligen  oder 
Styliten,  die  übrigens  wie  die  Mönche  überhaupt  heidnische  Vorgänger 
hatten  i).  Der  Vater  dieses  neuen  christlichen  Fakirthums  ist  S  y  m  e  o  n , 
genannt  der  Syrer  von  seinem  Vaterlande,  der  ältere  im  Unterschiede  von 
einem  jüngeren  Säulenheiligeu  desselben  Namens.  Geboren  390  im  nördlichen 
Syrien  von  christlichen  Eltern,  ergab  er  sich  schon  im  dreizehnten  Lebens- 
jahre dem  asketischen  Leben  und  brachte  es  bereits  in  der  mönchischen 
Askese  zu  grosser  Virtuosität,  wobei  er  aber  keine  Ruhe  empfand,  bis  er  den 
höchsten  Grad  solcher  Vollkommenheit  erreicht  hatte.  Seit  420  machte  er 
eine  sechs  bis  sieben  Ellen  hohe  Säule  zu  seinem  Aufenthaltsorte;  durch 
wiederholte  Verlängerung  wuchs  sie  bis  zu  sechsunddreissig  Ellen;  auf  einer 
solchen  Säule  verweilte  er  seit  429  dreissig  Jahre  lang.  Die  Anachoreten 
der  syrischen  Wüste  setzten  ihn  auf  die  Probe,  indem  sie  ihm  befahlen, 
seinen  Standort  zu  verlassen.  Da  er  sich  bereit  zeigte,  ihnen  Gehorsam  zu 
leisten,  standen  sie  von  ihrer  Forderung  ab,  indem  sie  die  Göttlichkeit 
des  ihm  gewordenen  Berufes  anerkannten.  Auf  jener  Säule  war  ringsherum 
eine  Schranke  oder  Gitter  angebracht,  an  das  er  sich  anlehnen  konnte. 
Leute  in  der  Nähe  versahen  ihn  mit  den  nöthigen  Lebensbedürfnissen.  In 
den  Stunden,  die  er  nicht  der  Betrachtung  und  dem  Gebet  widmete,  hielt 
er  Ansprachen  an  die  immerfort  ab-  und  zuströmenden  Zuschauer  und  Zu- 
hörer und  schUchtete  ihre  Streitigkeiten;  er  wurde  nicht  blos  von  Christen, 
sondern  auch  von  den  heidnischen  Nomaden  Syriens  wie  ein  Gott  angestaunt; 
er  brachte  viele  der  letzteren  dazu,  dass  sie  die  Taufe  annahmen.  Er  griff 
auch  in  die  allgemeinen  Angelegenheiten  der  Kirche  ein.  IVIit  acht  mönchi- 
schem Fanatismus  widersetzte  er  sich  einer  humanen  und  gerechten  Mass- 
regel von  Kaiser  Theodosius  II.  zu  Gu^nsten  der  Juden  und  schrieb  ihm 
desshalb  einen  drohenden  Brief.  Von  besserer  Art  ist  seine  Erklärung  an 
Kaiser  Leo  I.  zu  Gunsten  des  cjialcedonensischen  Corfcils.  Sein  Leichnam  wurde 
mit  Pomp  nach  Antiochien  gebracht  und  daselbst  bestattet.  Nahe  an  der 
Stelle,  wo  seine  Säule  stand,  wurde  eine  i)rächtige  Kirche  erbaut,   VI2  geo- 


1)  In  den  (faXloßarftg  bei  Hierapolis,  wo  jährlich  ein  Mann  eine  hohe  steinerne 
Säule  in  Form  eines  Phallus  bestieg,  um  daselbst  mehrere  Tage  und  Nächte  lang  zu 
beten. 


Das  christliche  Leben.    Mönchthmn  im  Occident.  399 

graphische  Meilen  von  Antiochien  entfernt.  Die  Verehrung,  die  er  genoss, 
wirkte  ansteckend  auf  Andere.  Symeon  hatte  so  viele  Nachfolger,  dass  sie 
bald  einen  eigenen  Stand  bildeten.  Zur  Ehre  der  Kirchenlehrer  sei  es  ge- 
sagt, dass  sie  bei  manchen  Gelegenheiten  ernste  Ermahnungen  und  Straf- 
reden an  diese  wunderlichen  Heiligen  richteten.  So  schrieb  Synesius  an  den 
hochmüthigen  Styliten  Nikander:  „wer  sich  selbst  erhöht,  wird  ernie- 
drigt werden.''  Die  Styliten  pflanzten  sich  lange  fort;  einer  der  späteren, 
Alypius,  verbrachte  siebenzig  Jahre  auf  seiner  Säule  bei  Adrianopel.  Einer 
der  letzten  war  ein  Symeon  unter  Manuel  Commenus  (1143—1180)  lebend, 
Fulminatus  genannt,  weil  er  vom  Blitze  erschlagen  wurde.  Im  Abendlande 
fand  diese  Abnormität  keinen  Eingang  i). 

Was  die  Coeuobiten  betrifil,  so  entstand  eine  neue  Abart  derselben  in 
den  sogenannten  Schlaflosen  (axoifiTjtoi).  In  der  ersten  Hälfte  des  fünf- 
ten Jahrhunderts  hatte  nämhch  ein  Abt  die  Einrichtung  getroffen,  dass  das 
Beten  und  Singen  in  seiner  Klosterkirche  Tag  und  Nacht  fortdauerte,  indem 
die  Mönche  sich  darin  ablösten.  Mehrere  Klöster,  worin  diese  Einrichtung 
angenommen  wurde,  entstanden  in  Constantinopel ;  das  berühmteste  ist  das 
von  einem  vornehmen  Römer  Namens  Studius  gestiftete,  um  460;  das 
Kloster  hiess  Studium,  die  Bewohner  Studitae^). 

Unter  dem  weiblichen  Geschlechte  waren  ähnliche  Verbindungen 
entstanden  wie  unter  dem  männlichen.  Pachomius ,  der  Stifter  des  Cönobi- 
tenlebens  für  die  Mönche,  war  es  auch,  der  das  erste  Frauenkloster 
gründete;  die  Vorsteherin  hiess  Mutter,  Mammas.  Der  Name  Nonne  für 
die  weiblichen  Asketinnen  kommt  bei  den  griechischen  Schriftstellern  nicht 
vor,  sondern  nur  bei  den  abendländischen;  er  soll  aus  Aegypten  stammen 
und  ursprünglich  so  viel  als  sanctus,  castus  bedeuten,  er  wurde  in  mascu- 
liner  Form  auch  gewissen  durch  Alter  und  Frömmigkeit  hervorragenden 
Mönchen  gegeben  ^).  —  Bei  der  Einweihung  der  Mönche  und  Nonnen  wurde 
ausdrücklich  bemerkt,  dass  dadurch  die  Heiligkeit  des  Ehestandes  keinen 
Abbruch  erleiden  sollte.  Die  Mönchsgelübde  waren  nicht  unauflöslich;  wer 
sie  auflöste,  musste  sich  allerdings  einer  gewissen  Busse  unterwerfen;  doch 
selbst  so  eifrige  Beförderer  des  Mönchthums  wie  Epiphanius  (haeresis  61) 
und  Hieronymus  (ep.  97)  riethen  in  gewissen  Fällen  dazu,  wie  denn  in  der 
früheren  Periode  Cyprian  (ep.  62)  dieselbe  Ansicht  ausgesprochen. 

IL    Mönchthum  im  Occidente. 

Gewöhnlich  wird  Athanasius  als  derjenige  angesehen,  der  das  Mönch- 
thum im  Abendlande  bekannt  gemacht,  als  er  im  Jahre  341  zum  ersten 
Male  dahin   kam    und   einige  Vertreter  des  Mönchthums   mit  sich  gebracht 


1)  S.  die  Abhandlang  von  Uhlemann  über  Symeon  in  Ilgen's  Zeitschrift  für  hi- 
storische Theologie  1845.  Heft  4  und  den  Artikel  Styliten  von  Mall  et  in  der  Realen- 
cyklopädie,  woselbst  auch  die  Quellen  genannt  sind.  Theodoret  und  Evagrius  sind  grosse 
Verehrer  des  ersten  Symeon. 

2)  S.  Schroekh,  17,  484. 

3)  S.  Du  Gange  s.  v.  —  sodann  Calmet,  commentarius  zur  Eegel  des  heiligen  Be- 
nedict, c.  62. 


400  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

haben  soll.  Weingarten  zeigt  dagegen,  dass  die  erste  Spur  von  dieser  Ein- 
führung des  Mönchthums  in  das  Abendland  erst  bei  Sokrates  sich  findet 
H.  E.  4 ,  23.  Athanasius  selbst  in  der  Schilderung ,  die  er  von  seiner  rö- 
mischen Zeit  entwirft,  spricht  nicht  davon,  sondern  nur  von  seinem  regen 
Verkehr  mit  den  italienischen  Bischöfen.  Dazu  kommt,  dass  Augustin,  als 
er  im  Jahre  385  nach  Mailand  kam,  weder  von  Antonius  noch  vom  Mönch- 
thum  etwas  gehört  hatte.  Die  Biographie  des  Antonius  gehörte  zur  neuesten 
Leetüre.  Erst  als  die  Tage  des  Athanasius  gezählt  >varen,  erfuhr  man  im 
Abendlande  etwas  vom  morgenländischen  Mönchthum.  Ein  abendländisches 
Mönchthum,  an  das  er  die  Biographie  des  Antonius  hätte  schicken  können, 
existirte  damals  gar  nicht. 

Das  steht  aber  fest,  dass  das  Leben  des  Antonius,  von  Evagrius  ins 
Lateinische  übersetzt,  ^iel  gelesen  wurde  und  eine  mächtige  Wirkung  auf 
viele  empfänghche  Gemüther  übte,  so  auch  auf  Augustin,  dessen  Bekehrung, 
wie  wir  gesehen,  dadurch  entschieden  w^urde.  Doch  hatten  die  Liebhabei* 
der  neuen  Lebensweise  anfangs  einen  schweren  Stand,  denn  sie  galt  ah 
Ausgeburt  der  Schwärmerei  und  Verrücktheit ;  daher  viele  Lateiner,  um  sich 
ungehindert  der  Asketik  hingeben  zu  können,  sich  in  die  thebaische  Wüste 
zurückzogen.  Das  Mönchthum  fand  aber  im  Abendlande  auch  eifrige  Beför- 
derer und  Lobredner;  unter  ihnen  ragt  hervor  Hieronymus,  der  seit  374 
eine  Zeitlang  als  Einsiedler  in  der  Wüste  von  Chalcis  in  Syrien  lebte,  später  als 
Mönch  in  einem  Kloster  zu  Bethlehem.  Er  beförderte  auch  durch  Schriften 
das  Mönchthum;  für  die  Lateiner,  die  sich  nach  der  thebaischen  Wüste 
zurückgezogen,  übersetzte  er  des  Pachomius  Regel  in  das  Lateinische.  Er 
beschrieb  das  Leben  der  berühmtesten  Mönche,  z.  B.  des  Paulus  von  Theben 
und  Anderer,  sie  als  Muster  der  Nachahmung  hinstellend  und  viele  Fabeln 
einmischend.  Seine  Schriften  strömen  über  vom  Lob  des  Mönchthums.  ;,Hin- 
längUch  reich  ist,  wer  mit  Christo  arm  ist,^  sagte  er,  um  die  mönchische 
Armuth  zu  empfehlen.  ^^Die  Ehe  bevölkert  die  Erde,  die  Jungfräulichkeit 
bevölkert  den  Himmel,^'  „Grausamkeit  gegen  sich  selbst  ist  die  wahre  Fröm- 
migkeit,^^ mit  solchen  Kraftsprüchen  übte  er  eine  magische  Gewalt  über  die 
Gemüther.  Er  wusste  das  Mönchthum  so  darzustellen,  dass  es  erschien  als 
Reproduction  derselben  Lebensweise,  w^elche  Elias,  Johannes  der  Täufer  und 
die  ersten  Christen  in  Jerusalem  befolgt  hatten,  und  doch  verhehlte  er  sich 
und  Anderen  keineswegs,  welche  Versuchungen,  welche  Qualen  er  durch  sein 
Mönchthum  zu  bestehen,  zu  erleiden  hatte.  Ueber  seinen  Aufenthalt  in  der 
Wüste  von  Chalcis  schreibt  er,  wohl  etwas  übertreibend,  an  Eustochium,  Tochter 
der  eifrigen  Asketin  Paula  ep.  22.  ,,0  wie  oft  wähnte  ich  damals,  als  ich  in  der 
Wüste  weilte,  in  jener  Ungeheuern  Einöde,  die  von  der  Sonnengluth  ausgebrannt, 
den  Mönchen  eine  Wohnstätte  des  Grauens  und  des  Elendes  darbietet,  wie 
oft  wähnte  ich  damals ,  ich  schwelge  in  den  Wollüsten  Roms !  Da  sass  ich 
einsam ,  von  Bitterkeit  erfüllt.  Die  abgezehrten  Glieder  starrten  im  härenen 
Büssergewande  und  die  schmutzige  Haut  hatte  sich  mit  dem  tiefen  Schwarz 
eines  Aethiopiers  überzogen.  —  Ich  also,  der  ich  aus  Furcht  vor  dem  höl- 
lischen Feuer  freiwiUig  diesen  Kerker  erwählt  hatte,  der  ich  nur  mit  Scor- 
pionen  zusammen  lebte  und  mit  wilden  Thieren,  ich  sah  mich  im  Geiste  oft 
genug   unter  den  Reigen  tanzender  Mädchen.    Mein  Antlitz   war  blass  vom 


Das  christliche  Leben.    Mönchthum  im  Ocddent.  401 

Fasten,  aber  in  dem  kalten  Leibe  erglühte  die  Seele  von  Begierden  u.  s.  w.^ 
Er  schrie  oft  Tage  und  Nächte  lang,  sich  die  Brust  zerschlagend,  bis  er 
einige  Ruhe  fand;  nach  vielen  Thränen  glaubte  er  sich  manchmal  unter  die 
Engel-Schaaren  versetzt.  So  musste  er  dieselben  Erfahrungen  wie  die  bis- 
herigen Heroen  des  Mönchthums  durchmachen,  und  er  nahm  seine  Zuflucht 
zu  demselben  Gegenmittel  wie  jene;  er  betrieb  verschiedene  Handarbeiten, 
durch  die  «r  sich  seinen  Lebensunterhalt  verdiente,  nach  der  apostolischen 
Regel:  ;,wer  nichts  arbeitet,  soll  auch  nichts  essen.^  —  Unter  seinem  Ein- 
flüsse wurden,  als  er  nach  Rom  zurückgekehrt  war.  Viele  daselbst,  zum 
Theil  Abkömmlinge  der  berühmtesten  Geschlechter  aus  den  Zeiten  der  Re- 
publik, namentUch  der  Famiüe  der  Scipionen,  für  das  asketische  Leben  ge- 
wonnen. Hier  sind  besonders  einige  Frauen  und  Jungfrauen  zu  nennen: 
Marcella,  Asella,  Lea,  Melania,  Paula  und  ihre  Familie  und  besonders  ihre 
Tochter  Eustochium.  Es  bildeten  sich  kleine  weibliche  und  männliche  Ge- 
nossenschaften des  asketischen  Lebens.  Ein  Geist  der  Busse  ergriff  die 
Söhne  und  Töchter  der  alten  Römer.  Das  Mönchthum  eröffnete  ihnen  einen 
Kampfplatz,  auf  welchem  die  Kämpfe  und  Siege  ihrer  heidnischen  Vorfahren 
erneuert  und  durch  eine  bessere  Sache  übertroffen  werden  konnten.  Sie 
stürzten  sich  in  diese  neue  Laufbahn  mit  demselben  grossherzigen  Schwünge, 
mit  derselben  ausdauernden  Energie,  welche  ihren  Vorfahren  die  Herrschaft 
über  die  Welt  verschafft  hatte.  In  Rom  zumal  war  aber  die  neue  Lebens- 
weise keineswegs  populär.  Die  nachtheiligen  Folgen  übertriebener  Fasten 
(öfter  volle  drei  Tage  hindurch  und  noch  mehrere  in  völliger  Enthaltung 
von  aller  Nahrung  und  von  allem  Tranke)  erregten  des  Volkes  Unwillen. 
Bei  dem  Begräbniss  der  Blaesilla,  einer  Tochter  der  Paula,  von  der  es  hiess, 
sie  sei  durch  Fasten  getödtet  worden,  im  Jahre  384,  rief  das  Volk:  wie 
lange  noch  wird  man  anstehen,  das  abscheuliche  Geschlecht  der  Mönche  aus 
der  Stadt  herauszutreiben,  sie  zu  steinigen,  ic  den  Fluss  zu  werfen?  Meh- 
rere dieser  Asketinnen  begaben  sich  daher  nach  Palästina  zu  Hieronymus. 
Dieser  trieb  seine  Schülerinnen  zur  Schriftforschung  an,  gab  ihnen  Anleitung 
zum  Verständniss  der  Schrift;  mehrere  seiner  exegetischen  Arbeiten  sind  so 
entstanden ,  zugleich  erklärte  er  sich  gegen  übertriebene  Fasten  und  andere 
Kasteiungen. 

Unterdessen  verbreitete  sich  das  Mönchthum  ungeachtet  der  Hinder- 
nisse, die  es  vorfand,  im  Abendlande.  Der  angesehene  und  einflussreiche 
Ambrosius,  ein  grosser  Bewunderer  der  neuen  Lebensweise,  that  sein  Mög- 
lichstes, um  sie  in  Aufnahme  zu  bringen.  In  der  Nähe  von  Mailand  stiftete 
er  ein  Manuskloster,  das  Augustin  rühmend  erwähnt.  Offenbar,  um  unge- 
störter ihrem  Hange  folgen  zu  können ,  siedelten  Viele  sich  auf  Inseln  an. 
So  entstanden  auf  den  Inseln  an  der  Westküste  von  Italien  und  an  der  dal- 
matischen Küste  zahh-eiche  Klöster.  Martinus,  Bischof  von  Tours,  einer 
der  angesehensten  und  einflussreichsten  Bischöfe  Galliens ,  geboren  c.  319, 
t  400 1)  gründete  in  Gallien  zwei  Klöster,  das  eine  bei  Pictavium,  das 
andere  bei  Tours.    Honoratus,  ein  Mann  aus  edler  Familie,  der  sogar  das 


1)  Sem  Leben  von  Sulpicius  Severus   beschriehen,    seine  Wunder   von  Gregor   von 
Tours.    S.  über  ihn  den  Artikel  von  Weingarten  in  der  Bealencyklopädie. 
Herzog,  Kirchengeschichte  I.  26 


402  Zweite  Periode  des  alten  Kathonciämüs. 

Consulat  verwaltet  haben  soll,  ergab  sich  seit  seiner  Bekehrung  zum  Christen- 
thum  dem  Mönchsleben  und  gründete  410  auf  der  Insel  Lerinum  (seitdem 
St.  Honor^  genannt),  an  der  Küste  der  Provence,  ein  Kloster,  das  bald  sehr 
bevölkert  wurde,   während  Anachoreten   einzeln   lebend  sich  auch  in  Menge 
einfanden.     Jenes  Kloster   wurde  eine  Pflanzschule  für  Geistliche;    der  uns 
bekannte  Vincentius   hat  daselbst  als  Mönch  gelebt.     Eine  grosse  Anzahl 
von  Bischöfen  ging  aus  diesem  Kloster  hervor,   unter  ihnen  Hilarius   von 
Arles  und  Eucherius   von  Lyon.     Die  dortige  Klosterschule  blieb  mitten 
in   den   Stüimen  der  Völkerwandening   ein  Sitz  geistiger  Bildung  und  reli- 
giösen Lebens  ^).     Die    benachbarte  kleine  Insel  Liro  oder  Lirone ,    seitdem 
St.  Marguerite   genannt,   einige  Zeit  hindurch  Gegenstand  allgemeiner  Auf- 
merksamkeit als  Gefängnissstätte   des  französischen  Marschalls  Bazaine,   war 
auch  der  Sitz   vieler  Asketen.     Johannes  Cassianus    stiftete   410   zwei 
Klöster  bei  Marseille,  und  gab  durch  seine  Schrift  über  die  Einrichtungen 
der  Klöster  (institutiones  coenohiales) ,    sowie    durch    seine  Darstellung    der 
geistlichen   Gespräche    orientalischer  Mönche   (collationes)   dem  Mönchthum 
und  zwar   dem   Cönobitenleben    mächtigen  Vorschub.     In  Afrika   fand    das 
Mönchsleben  wenig  Eingang;   die  sich  in  Carthago  als  Liebhaber  dieser  Le- 
bensweise zeigten,  wurden  vom  Volke  ausgepfiffen,  ausgelacht,  ausgeschimpft, 
obwohl  Augustin  das  Mönchthum  mit   allem  Eifer   empfahl   und   mit   seinen 
Geistlichen  in  Hippo  in  einer  klosterartigen  Gemeinschaft  lebte.    Die  Mönche 
in  Afrika  zeigten  freilich   oft   nicht  gerade    die  Eigenschaften,    wodurch  sie 
das  Zutrauen  und  die  Verehrung  des  Volkes   sich   hätten   erwerben  können. 
Viele  wurden    durch   ganz   gemeine,    niedrige  Interessen  herbeigelockt.    In 
geistlichem  Gewände   streiften   sie  umher,    trieben  Handel    mit    erdichteten 
KeUquien,   erpressten   von  den  Leuten  Geld  unter  dem  Scheine  der  Heilig- 
keit, schwelgten  des  Nachts  ungestört,   nachdem   sie  am  Tage  gefastet  hat- 
ten.   Einige   wollten  gar   nicht  mehr  arbeiten,   sich   auf  das  Wort  Christi 
berufend ,    dass    man   für   den   anderen  Tag  keine  Sorge   tragen  müsse  und 
damit  die  Ermahnung   des  Apostels   2  Thessal.  3,  12   abweisend.     Augustin 
suchte  sie  eines  Besseren  zu  belehren  in  seiner  Schrift  de  opere  monachorum, 
worin  er  überhaupt  die  Schattenseiten  des  Mönchthums  in  Afrika  aufdeckte. 
Auch  Cassian  führte  in  den  von  ihm  gestifteten  Klöstern  die  Handarbeit  ein. 
Es  zeigte  sich  auch  im  Abendlande  das  cönobitische  Leben  als  das  bei  wei- 
tem bessere;   aber  es   fehlte  Gleichföraiigkeit  auch  bei   den  Cönobiten.    Es 
gab,  nach  Cassian's  Berichte,  fast  eben  so  viele  Arten  und  Regeln  des  aske- 
tischen Lebens,    als   es  Klöster  und  Zellen  gab.    Rufin   suchte   dem  Uebel- 
stande  abzuhelfen  durch  Uebersetzung  der  Regel  des  Basilius,  welche  in  der 
That  in  manchen  Klöstern  eingeführt  wurde.    Im  Ganzen  war  die  Lebensart 
der  abendländischen  Mönche  weniger  streng,  als  diejenige  der  orientalischen 
Mönche. 

in.    Verhältniss  der  Mönche  zum  Klerus. 

Es  konnte  nicht  fehlen,   dass  eine  gewisse  Annäherung  zwischen  den 
Mönchen  und  dem  Klerus  entstand.     Zunächst  gingen  jene  nicht  darauf  aus, 


1)  S.  den  Artikel  Lerinum,  Kloster,  in  der  Realencyklopädie. 


Der  Klerus  und  dessen  Einwirkung  auf  das  Volk.  403 

sich  irgendwie  dem  Klerus  gleichzustellen  oder  sich  in  die  Reihen  des  Kle- 
rus aufnehmen  zu  lassen.  Diese  Neuerung  ging  von  den  Bischöfen  aus,  und 
zwar  unter  starkem  Protest  der  strenger  gesinnten  Asketen.  Cassian  dringt, 
was  bezeichnend  ist,  darauf,  dass  der  Mönch  Bischöfe  sowie  die  Werber 
fliehen  soll ,  denn  kein  Bischof  werde  dem ,  den  er  einmal  für  sich  gewon- 
nen, zur  stillen  Sammlung  in  der  Zelle  und  zum  Studium  Ruhe  lassen.  Es 
geschah  anfangs,  dass  Mönche  wider  ihren  Willen  ordinirt  wurden.  Aber 
schon  vor  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  galten  die  Klöster  als  Pflanzschule 
des  Klerus,  besonders  der  Bischöfe.  Im  übrigen  standen  die  Mönche  in 
derselben  Abhängigkeit  von  den  Bischöfen  wie  die  übrigen  Gemeinden  mit 
ihren  Geisthchen  oder  Plebanen;  gewöhnlich  vertrat  der  Abt  oder  Vorsteher 
die  Stelle  des  Geistlichen.  Noch  ist  zu  bemerken,  dass,  je  mehr  das  Mönch- 
thum  aufkam  und  ungeachtet  aller  Abirrungen  und  verderblichen  Ausartungen 
sich  als  eine  die  Zeit  beherrschende  Macht  erwies,  desto  mehr  auch  die 
Forderung  gestellt  wurde,  dass  die  Kleriker  sich  der  Ehe  entzögen;  wie 
wenig  aber  der  CÖlibat  in  dieser  Periode  allgemein  durchgeführt  war,  ist 
früher  gezeigt  worden. 


Zweites  Capitel.  Zustand  des  Klerus  in  religiös-sittlicher  Beziehung. 
Einwirkung  desselben  auf  das  Tolk,  Sittliche  Grundsätze  und 
christliche  Sitte.    Einfluss  des  Christenthums  auf  die  Gesetzgebung. 

Vom  Zustande  des  Klerus  in  der  genannten  Beziehung  geben  uns  die 
bedeutendsten  und  angesehensten  Mitglieder  desselben  eine  ziemlich  unvor- 
theilhafte  Beschreibung.  Sie  beklagen  sich,  dass  so  ungeheuer  Viele  zum 
geistlichen  Amte  sich  nur  deswegen  hinzu  drängen,  weil  Ehre  und  Vortheil  damit 
verbunden.  Gregor  von  Nazianz  ergeht  sich  scharf  rügend  über  die  Schmei- 
cheleien, Ränke  und  Bestechungen,  welche  man  sich  erlaubte,  um  geistliche 
Stellen  zu  erhalten;  „das  herrlichste  Amt  bei  uns,  bemerkt  er,  ist  nahe 
daran,  ausgepfiff"en  zu  werden."  Indem  so  viele  Unwürdige  in  den  Klerus 
eintraten,  war  die  Folge  davon,  dass  viele  Heuchelei  getrieben  wurde,  dass 
Manche  in  verstellter  Demuth  die  Annahme  geistlicher  Stellen  verweigerten, 
nur  um  desto  mehr  gesucht  zu  werden  und  um  als  grösserer  Ehre  würdig  zu 
erscheinen,  dass  Viele  ihre  Ueberzeugung  nach  der  Stimmung  des  jeweiligen 
Kaisers  modelten.  Bereits  fand  sich  BasiUus  veranlasst,  gegen  Simonie  bei 
Bischofswahlen  zu  eifern  (ep.  76).  Das  Concil  von  Chalcedon  (c.  2)  und  der 
dreissigste  apostolische  Kanon  hat  denselben  Missbrauch  im  Auge,  wenn  sie 
die  Simonie  verbieten.  Das  genannte  Concil  verordnete ,  dass  der  Bischof, 
der  dieses  Vergehens  überwiesen  ist,  „wegen  seiner  eigenen  Stelle  in  Gefahr 
kommen  soll.''  Der  genannte  apostohsche  Kanon  setzt  fest,  dass  ein  Bischof 
oder  Presbyter  oder  Diakon,  der  durch  Geld  seine  Stelle  erhalten,  und  der- 
jenige, der  ihn  ordinirt  hat,  abgesetzt  und  excommunicirt  werden  solle,  wie 
Simon' der  Magier  von  Petrus.  Wenn  man  dieses  Alles  in  Anschlag  bringt, 
so  begreift  man  leichter  die  schnelle  Verbreitung  des  Mönchthums  und  das 
ausserordenthche  Ansehen,  welches  es,  im.  Ganzen  genommen,  genoss;  man 
begreift,   dass   bei  der  Ausartung  der  gesetzm^ssigen  Geistlichkeit  'sich  eine 

26* 


404  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Art  von  freiwilliger  Geistlichkeit   bildete.     Uebrigens  muss   man  bedenken, 
dass  die  Geistlichen  selbst  es   sind,   die   über  die  Ausartung   ihres  Standes 
Klage   führen,   und  dass  ein  Klerus,   zu  welchem  Männer  wie  Athanasius, 
die  beiden  Gregore,  Basilius,  Augustinus,   Hilarius  und  so  viele  andere  vor- 
treffliche Männer  gehören,  nicht  als  erstorben  geachtet  werden  kann.    Diese 
Männer  begnügten  sich  nicht,   die  Fehler  und  Sünden  ihrer  Standesgenossen 
zu  rügen,   wie  das  besonders  Gregor  von  Nazianz  in  dem  Gedichte  auf  sich 
selbst  und  über  die  Bischöfe   (eig   iavzov  xul  neqi  eniCTtonaiv)  that,    son- 
dern ihnen  schwebte  auch  das  Ideal  eines  Theologen  vor,   das   sie   in  sich, 
in  ihrem  Leben  und  Wirken   zu   erreichen   suchten,   wenn   gleich   mit   dem 
schmerzlichen  Gefühle  ihrer  Unzulänglichkeit.     Diess   tritt   am   deutlichsten 
hervor  bei  Gregor  von  Nazianz,  der  auch  am  ausführlichsten  sich  ausspricht 
über  die  Aufgabe  des  geistlichen  Amtes,    über  die  Anforderungen,    die    an 
die  Verwalter  desselben   gestellt  werden  müssen.     Den  Zweck   der  wissen- 
schaftlichen  und   praktischen  Theologie,    die   er  gerne   als  Seelenheilkunde 
auifasste,  setzte  er  darein:  ;,die  Seele  zu  beflügeln,  sie  der  Welt  zu  entreissen 
und  der  Gottheit  zu  übergeben,   das  Bild  Gottes    in   derselben  entweder  zu 
erhalten,  oder,  wenn  es  erlöschen  will,  zu  erfrischen,  oder,  wenn  es  vertilgt 
ist,  wieder  herzustellen,  Christo  eine  Wohnung  zu  bereiten  durch  den  Geist, 
mit  einem  Worte:  den  Menschen  göttlich  zu  machen  {^bov  Ttoirjcai)  und  ihm 
himmlische  Seligkeit  zu  bereiten."    Er  fordert,  dass  der  Geistliche  als  Vor- 
bild und  thätiger  Repräsentant  des  christlichen  Lebens  in   seiner  Gemeinde 
stehen,  nicht  blos  das  Laster  meiden,  sondern  auch  im  Guten  sich  auszeich- 
nen soll,  aber  eben  so  streng  verlangt  Gregor  vom  Religionslehrer,   dass  er 
eine  festgegründete  Erkenntniss  von  den  göttlichen  Dingen,  dass  er  die  hei- 
lige Philosophie  inne  habe,    womit  er  nicht   sagen   will,    dass   der  Theologe 
das  All  der  Gottheit  begreifen  soll,   was   dem  beschränkten  Menschengeiste 
nicht  möglich  ist,   sondern  dass  er  mehr  als  ein  Anderer  vom  Göttlichen  in 
sich  hineingebildet,    mehr   als   ein  Anderer   das  Bild   der  Wahrheit  in  sich 
aufgenommen  hat.     Bei   der  Mittheilung   in   einem   volksmässigen  Vortrage 
derselben  verlangt  Gregor  vor  allem   schlichte  und   ungeschmückte  Einfalt. 
Der  Geistliche  soll  sich,  seiner  Schwäche  bewusst,    dem  vertrauensvoll  hin- 
geben,  der  in  den  Schwachen  mächtig   ist,    und   nur  ein  Werkzeug  Gottes, 
ein  Werkzeug  des  Logos,    ein  Werkzeug  des  heiligen  Geistes   sein  wollen  *). 
Treffliche,   vom  Geist   ihres  Berufes  erfüllte  Geistliche   waren  nicht  blos  in 
der  Reihe  der  genannten  hervorragenden  Lehrer  der  Kirche  zu  finden.    Das 
bezeugt  der  in  seinen  Forderungen  an  seine  geisthchen  Amtsbrüder   gewiss 
nicht  zu  nachsichtige  Augustin:  ,,wie  viele  Bischöfe,  wie  viele  Presbyter,  wie 
viele  Diakonen  habe  ich  als  vortreffliche  und  heilige  Männer  kennen  gelernt, 
deren  Tugend  um  so  mehr  Bewunderung   erregt   und   um  so   preiswürdiger 
ist,   je  schwerer  es  ist,   dieselbe   in   diesem  so  stürmischen  Leben  zu  be- 
wahren" ^). 

Nach   welchen   Grundsätzen    suchte    diese   Geistlichkeit   auf  das  Volk 
einzuwirken?   Welche  Grundsätze  suchte  sie  dem  Volke  einzuprägen,  welche 


1)  S.  UUmann  a.  a.  0.  S.  521-526. 

2)  De  moribus  ecclesiae  catholicae  c.  32. 


Der  Klerus  und  dessen  Einwirkung  auf  das  Volk.  405 

sittliche  Gesinnung  bestrebte  sie  sich  im  Volke  zu  wecken  und  zu  näh- 
ren i)?  Im  Allgemeinen  haben  die  Kirchenlehrer  gereinigte  Begriffe  vom 
Guten  und  von  der  Tugend.  Sie  dringen  auf  das  Innere,  auf  die  Gesinnung 
des  Herzens.  Die  Tugend  wird,  im  Gegensatz  gegen  das  durch  Zwang 
Abgenöthigte ,  als  Sache  der  freien  Willensbestimmung  und  der  uneigen- 
nützigen Liebe,  als  der  Sieg  der  Vernunft  im  Kampfe  mit  der  Lust,  als 
die  höchste  Freude,  Schönheit  und  Herrlichkeit  des  Menschen  dargestellt, 
die  ihren  Lohn  und  ihre  Strafe  in  sich  selber  trägt,  so  dass  Niemand 
anders  als  dui'ch  sich  selbst  in  Schaden  gebracht  wird.  Die  aristotelische 
Vorstellung  von  der  Tugend,  dass  sie  in  der  Mitte  zwischen  zwei  Extre- 
men liege,  widerlegt  Lactanz  durch  die  richtige  Bemerkung,  dass  es  Triebe 
gebe,  die  an  sich  gut,  und  andere,  die  an  sich  böse  seien  (instit.  6,  14. 
15.  16).  Basilius  hebt  hervor,  dass  der  sittliche  Werth  des  Menschen  in 
der  Beschaffenheit  seines  Willens  liegt.  Als  Princip  der  Tugend  sehen 
die  Kirchenlehrer  den  Glauben  oder  die  Liebe  Gottes  an.  Ohne  Glauben 
ist  kein  tugendhaftes  Leben  denkbar;  denn  das  Gute  kann  nur  mit  dem 
Glauben  erfasst  werden;  hinwiederum  ist  die  Erkenntniss  dessen,  was 
durch  den  Glauben  erfasst  wird,  abhängig  von  der  Reinheit  der  Seele.  — 
Daher  halten  die  Kirchenlehrer  so  viel  auf  Rechtgläubigkeit  als  Bedingung 
der  Tugend,  doch  ist  sie  durch  diese  auch  wieder  bedingt;  daher  wird  die 
Ketzerei  für  etwas  Unsittliches  gehalten;  daher  viele  Kirchenlehrer  so 
geneigt  sind,  die  Häretiker  als  unsittliche  Menschen  anzusehen;  daher 
nennt  Hieronymus  die  Ketzerei  das  Verbrechen  des  Geistes  (delictum 
mentiwn).  Die  Ketzerei  wird  hauptsächlich  auch  aus  dem  Hochmuth,  aus 
der  Selbstüberhebung  abgeleitet,  wie  überhaupt  die  Sünde  von  dem  Sünden- 
falle an;  wogegen  die  Demuth  als  die  Haupttugend,  ja  als  die  Quelle  aller 
Tugenden  gepriesen  wird. 

Indem  die  Kirchenlehrer  für  die  Ausübung  der  Tugenden,  für  den 
Kampf  des  Geistes  mit  dem  Fleische,  für  die  sittliche  Erhebung  und  Rei- 
nigung des  Gemüthes  durchaus  Abgezogenheit  von  den  weltlichen  Dingen, 
Jungfrauschaft,  freiwillige  Armuth,  hartes  Leben  und  Einsamkeit  forderten, 
mussten  sie  nothwendig  zur  Ueberschätzung  und  Empfehlung  des  Mönchs- 
lebens gefühlt  werden,  in  welchem  man,  sofern  es  die  Form  des  Cönobiten- 
lebens  annahm,  die  nicht  verkannten  Vortheile  der  Geselligkeit  mit  denjenigen 
der  Einsamkeit  richtig  zu  verbinden  glaubte.  Die  zu  Grunde  liegende  Unter- 
scheidung zwischen  einer  höheren  und  einer  niederen  Tugend  hing  zusam- 
men mit  der  Unterscheidung  zwischen  Gebot  und  Rathschlag  nach  1  Kor. 
7,  6,  welche  Unterscheidung  in  dieser  Periode  erst  recht  bestimmt  und  all- 
gemein gefasst  wui'de.  Die  Kirchenlehrer  gingen  von  dem  Grundsatz  aus, 
dass,  wenn  gleich  es  zu  wünschen  wäre,  dass  Alle  nach  der  Vollkommen- 
heit strebten,  so  müsse  man  schon  zufrieden  sein,  wenn  nur  das  absolut 
Nothwendige  geleistet  werde,  was  man  ohne  Gefahr  nicht  unterlassen  könne. 
Dahin  gehört  die  Erfüllung  der  zehn  Gebote,  als  Theil  der  ofßcia  media, 
wie  Ambrosius  sie  nennt  (de  officiis  1,  3),  im  Unterschiede  von  dem,  was 
Sache  des  Rathes,  nicht  der  Gebote  ist,  was  Gegenstand  der  o/ßcia  perfecta 


1)  S.  darüber  de  Wette'g  christliche  Sittenlehre  2.  Theil.    S.  842  u.  ff. 


406  Zweite  iPeriode  des  alten  Katholicismuä. 

ist,  wozu  gehört,  nach  demselben  Ambrosius,  werkthätige  Feindesliebe, 
Aufopferung,  nach  Gregor  von  Nazianz,  dem  Bösen  nicht  widerstreben  und 
wie  gesagt,  die  mönchische  Askese,  Ehelosigkeit  und  Armuth  u.  s.  w.  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  Stufen  des  sittlichen  Lebens  wurde  dargestellt 
als  Unterschied  des  Guten  und  Besseren;  doch  derselbe  Hieronymus,  der 
den  Unterschied  so  angibt,  bestimmt  ihn  auch,  mit  bestimmter  Beziehung 
auf  die  Ehe  und  die  Jungfräulichkeit,  als  non  peccare  und  bene  facere.  So 
sehr  man  nun  sich  bemühte ,  die  Ehe  in  Ehren  zu  halten,  so  sehr  man  die 
Uebertreibungen  des  Eustathius  und  seiner  Anhänger  missbilligte,  so  blieb 
doch  die  Vorliebe  für  das  ehelose  Leben  vorherrschend.  Hieronymus  meinte 
das  göttliche  Machtgebot:  wachset  und  mehret  euch,  habe  gepasst  zu  den 
Zeiten  nach  der  Sintfluth  und  vor  der  Sintfluth,  aber  nicht  zu  uns,  auf 
welche  das  Ende  der  Zeiten  gekommen.  Man  suchte  auch  den  Leuten  die 
Ehe  zu  verleiden,  indem  man  sie  als  einen  äusserst  beschwerlichen  und 
für  das  Seelenheil  gefährlichen  Stand  schilderte. 

In  ihren  Anforderungen  an  diejenigen,  welche  sich  nicht  der  mön- 
chischen Askese  ergaben,  zeigen  die  Kirchenlehrer  im  Allgemeinen  eine 
grosse  Strenge,  indem  sie  die  Ideale  des  Christenthums  zu  buchstäblich 
fassen.  Sie  verbieten  den  Eid,  daher  Chrysostomus  sagte:  der  wahre 
Christ  lasse  sich  lieber  die  Zunge  abschneiden,  als  dass  er  schwöre;  sie 
verbieten  das  Zinsennehmen,  den  Krieg,  den  Handel,  die  Selbstverthei- 
digung,  die  Todesstrafe.  Ambrosius  hielt  sogar  das  Privateigenthum  für 
Usurpation.  Unwillkürlich  behandeln  sie  die  in  der  weltlichen  Geraein- 
schaft Verbleibenden  wie  Mönche,  stellen  an  sie  Anforderungen,  die  nur 
innerhalb  der  Klostermauern  erfüllt  werden  können.  Durch  gewisse  an- 
dere Anforderungen  befördern  sie  in  wirksamer  Weise  die  Werkheiligkeit. 
Als  Mittel  der  Sündenvergebung  werden  geradezu  angesehen  das  Weinen, 
die  äussere  Demüthigung,  das  Fasten,  das  Almosen.  Ambrosius  lehrt: 
;,du  hast  Geld,  erkaufe  deine  Sünde.  Gott  ist  zwar  nicht  käuflich,  du  aber 
bist  käuflich.  Erkaufe  dich  durch  dein  Geld.  Geld  ist  von  geringem 
Werthe,  aber  kostbar  ist  die  Barmherzigkeit."  Salvian  sagt,  die  Frei- 
gebigkeit gegen  die  Kirche  sei  eine  Loskaufung  von  den  Sünden,  er  führt 
an  Dan.  4,  24,  peccata  tua  misericordiis  redime. 

Dieser  Priester  versteht  es  meisterhaft,  den  Leuten  das  Geld  aus  der 
Tasche  zu  locken,  was  selbst  katholische  Schrifsteller  einigermassen  zuge- 
stehen (in  seiner  Schrift  adversus  avaritiam^  seit  Gennadius  so  benannt),  an 
die  katholische  Kirche  gerichtet.  —  Es  ist  allerdings  nicht  zu  läugnen, 
dass  er  manches  Gute  gegen  die  mehr  und  mehr  gesteigerte  Habsucht 
vorbringt;  er  scheint  aber  zu  vergessen,  dass,  wenn  die  Laien  der  Hab- 
sucht fröhnen,  dieses  sittliche  Uebel  auch  in  den  Reihen  des  Klerus  sich 
findet,  und  dass,  wenn  er  die  Laien  auf  besseren  Weg  zu  bringen  sucht, 
er  dagegen  den  Klerus  auf  einen  Irrweg  zu  führen  im  BegriÖ'e  ist. 

Z  seh  immer  a.  a.  0.  S.  84,  .um  zu  erklären,  wie  es  gekommen,  dass 
Salvian  sich  nicht  begnügt,  einen  Theil  des  Vermögens  für  die  Armen  zu 
fordern,  sondern  auf  das  ganze  Anspruch  macht,  nimmt  seine  Zuflucht  zu 
einer  kühnen  Hypothese,  die  aber  jedenfalls  verdient,  in  ernstliche  Betrachtung 
gezogen  zu  werden.    Da  Salvian  die  Gütergemeinschaft,  als  die  Quelle  der 


Sittliclie  Grundsätze  und  christliche  Sitte.  407 

Glückseligkeit  der  Gemeinde  zu  Jerusalem  ansieht,  da  er  überall  die  Ar- 
men und  Schwachen  von  den  Reichen  und  Mächtigen    gedrückt   sieht,    so 
vermuthet  der  Verfasser,   dass  Salvian   mit  seiner  Schrift  eine  durchgrei- 
fende Reform  der  ganzen  bestehenden  Gesellschaftsverhältnisse   und   zwar 
auf  christlich -asketischer  Grundlage  anbahnen  wollte.     Was  die  einzelnen 
Mönchsverbände    in   kleinen  Kreisen   versuchten    und   durchführten,   eine 
enge  Lebensgemeinschaft  mit  Aufgeben  alles  persönlichen  Eigenthums ,  das 
wollte  Salvian  auf  die  ganze  christliche  Welt  ausgedehnt  wissen.    Er  wollte 
allerdings  die  allermeisten  Schätze  der  Welt  in  der  Kirche  zusammenhäu- 
fen, aber  nur  deswegen,   weil  ihm  diess  der  einzige  Weg  schien,   die  un- 
gleiche Vertheilung  des  Besitzes   aufzuheben,   die    daraus   entspringenden 
Ungerechtigkeiten  und  Laster  wegzuschaffen.     Zschimmer  sieht  dies  Alles 
an  als  den  ersten  Versuch,  die  sogenannte  sociale  Frage  vom  christlichen 
Standpunkte  aus  in  gewissem  Umfange  zu   lösen.     Man  könnte   wohl   mit 
einigem  Rechte    vermuthen,   dass  Salvian  keine    so  hoch  fliegende  Pläne 
verfolgte,  sondern  dass  er  nach  dem  Grundsatze  handelte,  er  müsse  recht 
viel  verlangen,  um  wenigstens  einen  Theil  des  Verlangten  zu  erhalten.  — 
Folgendes  gibt  uns  eine  Vorstellung  davon.    ^Ob   man  Alles  geben  soll? 
fragt  er   und    antwortet:   ;,wer    da    meint,   nicht  Alles  schuldig  zu  sein,^^ 
—  davon  hat  er  früher  gesprochen  —  _^der  braucht  nicht  Alles  zu  geben.  ^^ 
Er  gebe  gar  nichts,  wenn  er  nicht  im  Glauben  und  mit  Gebet  gibt.    Aber 
ich  meine,   Alles  ist  nicht  wenig.    Wer  weiss  denn,    wie   viel   genug  ist? 
Wer  aber  das  nicht  weiss ,  der   gebe  doch  ja   so   viel    er  kann  (nämlich 
Alles,   was  er  hat),   damit,    wenn  auch  die  Grösse  der  Gaben  die  Sünde 
nicht  bedecken  kann,  wenigstens  die  Demuth  des  Sinnes  es  thue.    Schätze 
also  deine  Sünden  sorgfältig   ab;    siehe  zu,    wie  viel  du  für  deine  Lügen, 
Flüche,  Meineide,  Nachlässigkeit  der  Gedanken,  Unreinheit  der  Rede  und 
jede    böse  Regung  schuldig   bist.     Thue   dazu  Ehebruch,   Schamlosigkeit, 
Trunkenheit  und  Mord.     Schätze  den  Preis   für  jede  einzelne  dieser  Sün- 
den und  rechne  hinzu,  dass,   wenn  du  in  deiner  Taxe  zu  niedrig  gegriffen 
hast,  auch  diess  deine  Schuld  noch  vergrössert"  u.  s.  w. 

Auffallend  ist  überdiess  bei  der  sonstigen  Strenge  der  Kirchenlehrer 
ihre  offene  Vertheidigung  der  Nothlüge  (Chrysost.  de  sacerdotio  1,  5). 
Wenn  ein  solcher  Grundsatz  leicht  Eingang  fand,  so  waren  dagegen  an- 
dere zu  überspannt,  zu  sehr  im  Widerspruch  mit  den  Gesetzen  und  Be- 
dingungen des  büi'gerlichen  Lebens,  als  dass  sie  sich  allgemeinen  Eingang 
hätten  verschaffen  können.  Diess  wird  besonders  begreiflich,  wenn  man 
bedenkt,  wie  die  Bevölkerungen  beschaffen  waren,  welche  die  Kirchenlehrer 
geistlich  zu  bearbeiten  hatten.  Sie  waren  meistentheils  nur  ganz  äusser- 
lich  bekehrt,  in  Unglauben  oder  Aberglauben  versunken  und  das  Heiden- 
thum  vielfach  mit  dem  Chiistenthum  amalgamirend  und  heilige  Dinge  als 
Zaubermittel  gebrauchend  0-  Chrysostomus  beklagt  es ,  dass  die  ein  sitt- 
liches Leben  führen  wollen,  sich  auf  die  Höhen  der  Berge  zurückziehen, 
(Mönche)  und  entwirft  nun  in  wenigen  kräftigen  Zügen  ein  Bild  des  sftt- 


1)  Nach  Salvian  adv.  avaritiam,  6.  Buch,  hielten  selbst  christliche  Consuhi  heilige 
Hühner,  stellten  Augurien  an,  trieben  abergläubische  Wahrsagerkünste. 


40d  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

liehen  Zustandes  derer,  die  mcht  diesem  Beispiele  folgten ;  jenen  überliess 
man  das  Streben  nach  höherer  Tugend,  sogar  das  Bibellesen.  Die  öfteren 
Ermahnungen,  die  Chrysostomus  in  dieser  Beziehung  gibt,  zeigen,  wie  tief 
das  Uebel  eingewurzelt  war.  Mit  der  Schrift  mochte  man  sich  nicht  gerne 
beschäftigen,  desto  mehr  aber  mit  den  theologischen  Streitigkeiten,  deren 
Eückwirkung  auf  das  Volk  verderblich  war.  Bezeichnend  ist,  was  Gregor 
von  Nyssa  in  Beziehung  auf  die  Bevölkerung  von  Constantinopel  mittheilt 
in  seiner  Lobrede  auf  den  gerechten  Abraham:  ;,Auch  jetzt  gibt  es  solche, 
welche  nach  Art  jener  Athener  (Apostelgesch.  17,  21)  auf  nichts  Anderes 
gerichtet  sind,  als  immer  etwas  Neues  zu  hören.  Manche,  welche  gestern 
oder  vorgestern  aus  den  Werkstätten  der  Handwerker  hervorgingen,  haben 
sich  auf  einmal  zu  Lehrern  der  Theologie  aufgeworfen.  Manche ,  die  viel- 
leicht Sklaven  waren  und  von  dem  Sklavendienste  entflohen,  philosophiren 
nun  mit  vieler  Würde  über  die  unbegreiflichsten  Dinge.  Alles  in  der  Stadt 
ist  voll  von  solchen  Leuten,^  und  nun  nennt  Gregor  die  verschiedenen 
Verkäufer,  die  man  in  den  Strassen  der  Hauptstadt  findet.  ^^Wenn  du  fragst, 
wie  viele  Obolen  du  herausbekommst,  philosophirt  dir  einer  über  das  Ge- 
zeugt- und  Ungezeugtsein  etwas  vor,  und  wenn  du  nach  dem  Preise  des 
Brodes  fragst,  antwortet  er  dir:  der  Vater  ist  grösser,  und  der  Sohn  ist 
ihm  untergeordnet.  Wenn  du  sagst:  das  Bad  ist  mir  gerade  recht,  so 
entscheidet  er,  dass  der  Sohn  aus  Nichts  geschaffen  sei.^  Ein  ähnlicher 
Formalismus  war  es ,  wenn  die  reichen  Damen  in  Constantinopel  auf  ihre 
langen,  weiten  Gewänder  die  Abbildungen  biblischer  Geschichten  sticken 
Hessen,  so  dass  man  eine  wahi'e  Bilderbibel  zu  sehen  glaubte.  Chrysosto- 
mus meinte,  es  wäre  besser,  diese  Geschichten  den  Herzen  einzupflanzen. 
Andere  Lehrer  entschuldigten  diese  Kleider  und  meinten,  die  Christen 
dürften  wohl  auf  ihren  Kleidern  das  Bild  dessen  tragen,  dem  sie  ihre 
Liebe  geschenkt  hätten. 

Solche  und  so  viele  andere  weit  bedeutendere  Uebelstände  veran- 
lassten Chrysostomus  zu  folgendem  allgemeinem  Urtheil:  ;,Wenn  man  un- 
seren jetzigen  Zustand  genau  prüft,  so  wird  man  sehen,  wie  wohlthätig 
die  Verfolgungen  sind.  Im  Genüsse  des  Friedens  sind  wir  gesunken  und 
haben  die  Kirche  mit  unzähligen  Uebeln  angefüllt.  Da  wir  verfolgt  wur- 
den, waren  wir  weiser,  billiger,  eifriger.  Denn,  was  das  Feuer  für  das 
Gold,  das  ist  für  die  Seelen  die  Anfechtung.^  Doch  ist  immerhin  anzu- 
erkennen, dass  die  Kirchenlehrer,  sei  es  mündlich  in  ihren  Vorträgen, 
sei  es  schriftlich,  ihre  Pflicht  der  Rüge  und  Ermahnung  getreulich  erfüll- 
ten. Es  gibt  nicht  leicht  eine  sittliche  Verkehrtheit,  eine  sittliche  Ver- 
irrung,  welche  sie  nicht  gerügt  hätten.  Eine  Lichtseite  des  damaligen 
religiös -sittlichen  Zustandes  ist  die  Einwirkung  des  Christenthums  auf 
das  Familienleben.  Es  werden  uns  mehrere  fromme  Mütter  genannt,  de- 
nen ausgezeichnete  Kirchenlehrer  das  beste,  was  sie  hatten,  nächst  Gott 
zu  verdanken  hatten.  Nonna,  Mutter  des  Gregor  von  Nazianz,  gewann 
ihren  Gatten  für  das  Christenthum  und  er  wurde  ein  eifriger  Bischof.  Sie 
weihte  den  neugeborenen  Gregor  dem  Dienste  des  Herrn,  eilte  mit  ihm  in 
die  Kirche  und  legte  seine  zarten  Hände  zum  Zeichen  der  Weihe  auf  die 
heilige  Schrift.     Sie   zeichnete   sich    aus   in    allen  christlichen  Tugenden. 


Einfluss  des  Christenthums  auf  die  Gesetzgebung.  409 

Ihr  Sohn,  der  sie  mit  der  Hanna  vergleicht,  welche  ihren  Samuel  Gott 
weihte,  rühmt  ihr  nach,  dass  sie  am  Altare  betend  gestorben.  Die 
fromme  Anthusa  war  die  Mutter  des  Chrysostomus.  Die  fromme  Mon- 
nica  übte  ohne  viele  Worte  wohlthätigen  Einfluss  auf  ihren  Mann  sowie 
besonders  auf  ihren  Sohn  aus.  Solche  und  ähnliche  Beispiele  erregten  die 
Bewunderung  der  Heiden.  ;,Seht,  welche  Weiber  finden  sich  bei  den  Chri- 
sten," rief  Libanius,  der  heidnische  Rhetor  aus,  indem  er  die  fromme 
Anthusa  erwähnte  ^). 

Eine  andere  Lichtseite  dieser  Periode  ist  der  Einfluss,  den  das  Chri- 
stenthum  auf  die  Gesetzgebung  ausübte,  und  zwar  sind  mehrere  Gesetze 
geradezu  durch  Bischöfe  veranlasst  worden.  Man  kann  sagen,  dass  das 
Christenthum  die  Idee  der  Persönlichkeit  wenn  nicht  eigentlich  in  das 
öffentliche  Recht  übertragen,  so  doch  ihr  erst  zu  ihrem  vollen  Rechte 
verholfen  hat.  Das  Christenthum  stellte  vor  allem  die  religiöse  Person 
auf;  diese  sollte  auch  juridische  Person  werden;  denn  sie  fehlte  in  der 
antiken  Welt.  Erinnern  wir  uns  an  den  Zustand  des  weiblichen  Ge- 
schlechts, an  die  väterliche  Autorität  bei  den  Römern,  an  die  Sklaven, 
die  Gefangenen.  Schon  unter  den  heidnischen  Kaisern  war  die  Gesetz- 
gebung des  römischen  Reiches  zum  Theil  durch  den  Einfluss  des  Christen- 
thums verbessert  worden;  das  geschah  noch  in  grösserem  Masse  seit 
Constantin. 

Vor  allem  tritt  uns  in  vielen  Verordnungen  und  Gesetzen  der  christ- 
lichen Kaiser  eine  grössere  Achtung  des  Weibes  entgegen.  Constantin 
erklärte  sogar  weibliche  Personen  von  achtzehn  Jahren,  wenn  sie  untadel- 
haft  waren  und  die  gehörige  Bildung  hatten,  für  majorenn.  Aus  zarter  Rück- 
sicht für  die  weibliche  Natur  gab  er  das  Verbot,  die  Weiber  vor  Gericht 
zu  laden.  Theodosius  I.  übergab  sogar  in  gewissen  Fällen  den  Müttern 
die  Vormundschaft  über  ihre  Kinder.  Die  christlichen  Kaiser  konnten 
zwar  zunächst  die  lupanaria  nicht  aufheben,  aber  sie  machten  anerkennens- 
werthe  Versuche,  um  den  lenones  ihre  Opfer  zu  entreissen.  Constantius 
verbot  christliche  Sklavinnen  an  andere  als  an  christliche  Herren  zu 
verkaufen,  in  der  Voraussetzung,  dass  sie  dadurch  vor  den  lenones  sicher 
gestellt  waren.  Dasselbe  Gesetz  berechtigte  die  Kleriker,  ja  alle  Christen, 
diejenigen  Weiber,  welche  man  der  Prostitution  überlassen  wollte,  selbst 
mit  Gewalt  zu  befreien.  Ebenso  wurde  den  lenones  verboten,  ihren  Töch- 
tern und  Mägden  peccandi  necessitatetn  aufzuerlegen.  Kein  christliches 
Weib,  sie  sei  frei  oder  eine  Sklavin,  konnte  gezwungen  werden,  als  meretrix 
zu  dienen.  Im  Jahre  439  hob  Theodosius  IL  für  Constantinopel  das  Ge- 
werbe der  lenones  auf,  bei  schwerer  Strafe;  dadurch  erlitt  der  Fiscus  der 
Stadt  eine  bedeutende  Einbusse;  doch  ein  rechter  Ehrenmann,  der  Prae- 
fectus  praetorii  Florentius  hatte  sich  anheischig  gemacht,  aus  seinem 
eigenen  Vermögen  den  Schaden  zu  ersetzen.  Leider  konnte  weder  das 
Gesetz  des  Kaisers  noch  die  Wohlthätigkeit  jenes  Präfekten  dem  Uebel 
abhelfen;  das  Gewerbe  blieb.  —  Doch  wurde  der  raptus  einer  Jungfrau, 
der  im  römischen  Rechte  nur  als  ein  am  Vater  begangener  Diebstahl  galt, 


1)  S.  Frank,  das  Christenthum  und  die  Frauen.  1868i 


4 10  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

nun  mit  Tod  bestraft ;  die  betretfendeu  Gesetze  von  Constantius  und  Jovian 
haben  zwar  nur  Wittwen  und  Diakonissen  im  Auge,  da  solche  nicht  den 
Schutz  der  Männer  und  der  Väter  genossen.  Mehrere  Gesetze  haben  zum 
Zweck  die  Befestigung  des  ehelichen  Bandes.  Die  alte  lex  Foppaea^  welche 
die  Grundlage  der  römischen  Ehegesetzgebung  bildete,  wurde  nach  und  nach 
abgeschafft.  Sie  enterbte  und  belegte  mit  Geldstrafen  die  Ehe  losen  und 
die  Kinderlosen.  Constantin  schaffte  diese  Bestimmungen  ab.  Wenn  die- 
selbe lex  Poppaea  die  Vermächtnisse  zwischen  Ehegatten  nach  der  Zahl 
der  Kinder  regelte,  so  wurde  diese  Bestimmung  410  abgethan.  Es  wur- 
den auch  Massregeln  getroffen,  um  die  eheliche  Treue  aufrecht  zu  hal- 
ten. Constantin  verbot  320  den  verheiratheten  Männern  das  Concubinat; 
einige  Jahre  nachher  setzte  er  Todesstrafe  auf  den  Ehebruch  (als  facmus 
atrocissimum,  scelus  immane).  Derselbe  Kaiser  bestrebte  sich  auch,  das 
Concubinat  der  Ehelosen  zu  beschränken  oder  in  Ehe  zu  verwandeln;  die 
Kinder  sollten  als  rechtmässige  gelten,  wenn  die  Eltern  sich  ehelichten; 
der  Concubine  durfte  nichts  vermacht  werden.  Doch  die  Verderbniss  war 
zu  gross,  als  dass  die  Gesetze  sie  aufzuheben  vermocht  hätten.  Immerhin 
wui'de  die  Ehescheidung  erschwert.  Was  die  Kinder  betrifft,  so  hatten 
die  Sitten  schon  zur  Zeit  des  Augustus  sich  insoweit  gemildert,  dass  da- 
mals ein  Vater,  der  seinen  Sohn  getödtet  hatte,  selbst  vom  empörten  Volke 
getödtet  wurde.  Die  Aussetzung  der  Kinder  war  freilich  noch  nicht  aus 
den  Sitten  verschwunden.  Doch  nahmen  manche  Väter,  die  ihre  Kinder 
ausgesetzt  hatten,  sie  nach  einiger  Zeit  wieder  auf.  Constantin,  um  der 
Kinderaussetzung  vorzubeugen,  bestimmte,  dass,  wer  ein  ausgesetztes 
Kind  aufgenommen,  es  behalten  könne.  Theodosius  I.  erklärte  die  als 
Sklaven  verkauften  Kinder  für  ü'ei.  Die  Sklaverei  wurde  nicht  abgeschafft, 
aber  im  Ganzen  genommen  verfolgten  die  christlichen  Kaiser  den  Weg  des 
Fortschi'ittes ,  den  schon  die  Gesetzgeber  der  heidnischen  Periode  betreten 
hatten.  Constantin  erliess  zwar  sehr  strenge  Gesetze  gegen  Sklaven,  die  ih- 
ren Herrn  entflohen  waren ,  denn  das  Sinken  der  Macht  des  Reiches ,  das 
Herannahen  der  Barbaren  verleitete  damals  viele  Sklaven  zum  Aufruhr  oder 
trieb  sie  in  die  Reihen  der  Feinde  des  Reiches;  der  Staat  glaubte  sie 
durch  die  Androhung  der  ärgsten  Strafen  im  Zaume  halten  zu  müssen,  um 
sich  selbst  nicht  den  grössten  Gefahren  auszusetzen.  Doch  abgesehen  da- 
von wurden  manche  Bestimmungen  getroffen,  um  das  Loos  der  Sklaverei 
zu  erleichtern;  die  Freilassung  w^urde  erleichtert.  Die  Kleriker  erhielten 
von  Constantin  die  Befuguiss,  ihre  Sklaven  direct,  ohne  Zeugen  und  ohne 
die  gewöhnlichen  Ceremouien  frei  zu  sprechen.  Der  Staat  suchte  die  Zahl 
der  Ursachen  der  Sklaverei  zu  vermindern.  Constantin  belegte  mit  Todes- 
strafe diejenigen,  welche  Kinder  raubten,  um  sie  als  Sklaven  zu  ge- 
brauchen. Gewisse  öffentliche  Vergnügungen,  Masuma  genannt,  wozu  man 
Sklaven  auf  schmachvolle  Weise  verwendete,  wurden  von  Constantius  ver- 
boten, zum  zweiten  Male  unter  Theodosius  I.  Die  öffentlichen  Schauspiele 
wurden  am  Sonntage  absolut  verboten.  Theodosius  verbot  den  Chilsten 
das  Gewerbe  eines  Schauspielers.  Die  Schauspielerin,  die  Chi'istin  wurde, 
durfte   ihr   Gewerbe   aufgeben.     Seit    325   wurden    die  Gladiatorenkämpfe 


Einfluss  des  Christenthums  auf  die  Gesetzgebung.  4i;[ 

absolut  verboten;  freilich  vergebens.  Seitdem  griff  man  gegen  diese  grau- 
same Belustigung  zu  Palliativmassregeln,  die  zwar  auch  nicht  viel 
fruchteten.  Da  geschah  es  unter  Honorius ,  dass  ein  Mönch  Namens  Te- 
lemach  aus  dem  Oriente  nach  Rom  eilte,  sich  in  den  Circus  stürzte  und  die 
Kämpfenden  von  einander  zu  trennen  suchte,  worauf  er  von  den  wüthenden 
Zuschauern  mit  Steinen  getödtet  wurde  (Theodoret  5,  27).  Honohus,  ge- 
rührt von  dieser  That  des  Märtyrers  für  die  Nächstenliebe,  verbot  absolut 
die  Gladiatoren -Kämpfe  und  Hess  Telemach  in  die  Reihe  der  Märtyrer 
eintragen.  Von  dieser  Zeit  an  gab  es  nur  noch  Kämpfe  mit  wilden  Thie- 
ren.  —  Noch  ist  zu  bemerken,  dass  die  christlichen  Kaiser  die  schärfsten 
Gesetze  gegen  die  noch  immer  weit  verbreitete  Paederastie  erliessen. 
Theodosius  I.  und  Valentinian  belegten  sie  mit  der  Strafe  des  Todes  in 
den  Flammen. 

Während  die  Kirche,  wie  wir  schon  in  der  ersten  Periode  nachge- 
wiesen haben,  sich  der  Armen  und  Verlassenen  hülfreich  annahm  und  in 
unserer  Periode  grossie  Wohlthätigkeitsanstalten  ins  Leben  rief,  welche 
Kaiser  Julian  zur  Nacheiferung  auf  heidnischer  Grundlage  und  Boden  an- 
trieben, stellten  sich  auch  die  christlichen  Kaiser  die  Aufgabe^  den  ver- 
schiedenen Classen  der  Nothleidenden  zu  Hülfe  zu  kommen.  Verarmten 
Eltern,  die  vielfach  der  Versuchung  unterlagen,  ihre  Kinder  zu  verkau- 
fen, zu  verpfänden  oder  gar  zu  tödten,  Hess  Constantin  aus  dem  Fiscus 
oder  auch  aus  seinem  eigenen  Vermögen  Kleider  und  Lebensmittel 
schenken.  Ein  besonderes  Gesetz  desselben  Kaisers  gebot  allen  Richtern 
die  strengste  Unparteilichkeit;  ein  anderes  Gesetz  sollte  die  Käuflichkeit 
der  Richter  beseitigen.  Da  diese  Gesetze  in  vielen  Fällen  nicht  halfen, 
erhielten  die  Armen  und  Niedrigen  die  Erlaubniss,  die  Hülfe  ihres  Bi- 
schofs anzuflehen ,  und  die  Magistratspersonen  erhielten  den  Befehl ,  solch 
eine  ehrwürdige  Fürsprache  zu  berücksichtigen.  Valentinian  L  und  Honorius 
gaben  den  Bischöfen  den  Auftrag,  die  Beobachtung  der  staatlichen  Ver- 
ordnungen zu  Gunsten  der  Armen  und  Nothleidenden  zu  überwachen.  Der 
Staat  übernahm  auch  den  Schutz  über  die  christlichen  Wohlthätigkeits- 
anstalten, und  suchte  ihre  Einkünfte  zu  vermehren.  Die  Formen  der 
peinlichen  Gerichtsbarkeit  wurden  zwar  nur  in  geringem  Masse  gemildert; 
das  Bestreben  der  Kirchenväter,  z.  B.  des  Chrysostomus ,  die  Abschaff'ung 
der  Todesstrafe  zu  bewirken,  hatte,  was  wir  zwar  nicht  bedauern  können, 
keinen  Erfolg;  aber  immerhin  ist  der  darin  sich  kund  gebende  Geist  der 
Humanität  anzuerkennen.  Constantin,  der  einen  vereinzelten  Versuch 
machte,  die  Todesstrafe  abzuschaffen,  zeigte  seine  humane  Gesinnung  da- 
durch, dass  er  die  Brandmarkung  des  Antlitzes  verbot  und  für  bessere  Be- 
handlung der  Gefangenen  Sorge  trug.  Seine  Nachfolger  ahmten  sein  Bei- 
spiel nach.  So  fragmentarisch  diese  Verordnungen  und  Massregeln  sein 
mögen,  so  erkennt  man  doch  darin  die  reformatorische  Wirkung  des  Chri- 
stenthums. übi  Caritas  non  est,  non  potest  esse  justitia ,  hat  Augustin  ge- 
sagt. Die  noch  so  unvollständigen  Bestrebungen  der  weltlichen  und  geist- 
lichen Machthaber,  um  die  vielfachen  Uebelstände  zu  beseitigen,  beweisen, 


412  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismüs. 

dass  da,   wo  Liebe  gegen  die  Menschen  waltet,    auch   dafür  gesorgt  wird, 
dass  Gerechtigkeit  gegen  sie  geübt  werde  i). 


Drittes  Capitel.    Reformatorische  Bestrebungen. 

Wohin  aber  die  Entwicklung  der  Kirche  in  gewissen  Beziehungen  hin- 
neigt, das  ersieht  man  deutlich  aus  der  Aufnahme,  welche  Versuche  zur  Ab- 
stellung von  Missbräuchen,  zui'  Beseitigung  von  herrschenden  Irrthümern,  zur 
Verbreitung  richtiger,  gesunder  Grundsätze  fanden.  Die  Kirchenlehrer,  wenn 
sie  auch  in  manchen  Punkten  die  richtige  Einsicht  hatten,  waren  doch  wieder 
durch  den  herrschenden  Geist  der  Zeit  gehindert  an  der  folgeriqjitigen  An- 
wendung derselben.  Diess  zeigt  sich  z.  B.  in  der  Art,  wie  Chrysostomus  die 
Ueberschätzung  des  Mönchthums  bekämpfte ,  während  er  auf  der  anderen 
Seite  ihm  so  mächtigen  Vorschub  leistete.  Es  bildete  sich  unter  den  Kirchen- 
lehrern die  Ansicht,  dass  man  manchen  Missbrauch  dulden  müsse,  obschon 
man  ihn  mi^sbillige,  eine  Ansicht,  der  sich  wohl  eine  christliche  Seite 
abgewinnen  Hess,  die  aber  auch  in  der  Anwendung  schlimme  Folgen  ha- 
ben musste.  Augustin  bestätigte  und  besiegelte  diese  Ansicht  mit  dem 
Gewichte  seiner  Autorität.  In  der  Schrift  an  Januarius  gesteht  er,  dass 
er  manche  Missbräuche  nicht  zu  rügen  wage,  um  einigen  heiligen  aber  zur 
Unruhstiftung  geneigten  Personen  kein  Aergerniss  zu  geben.  Allein  das 
bedaure  er  gar  sehr,  dass  manche  in  der  Schrift  enthaltene  Gebote  nicht 
berücksichtigt  werden  und  dass  Alles  so  sehi'  angefüllt  sei  mit  mensch- 
lichen Verordnungen,  dass  derjenige  ärger  bestraft  werde,  der  ein  ceri- 
monielles  Gebot  übertreten,  als  derjenige,  der  sich  durch  übermässigen 
Genuss  von  Wein  um  den  Verstand  gebracht.  Unzählbar  sei  die  Menge 
solcher  Missbräuche.  Die  Religion,  welche  der  Herr  frei  haben  wollte, 
welcher  er  nur  wenige  Sacramente  gegeben,  werde  mit  knechtischen  La- 
sten bedrückt,  so  dass  der  Zustand  der  Juden  erträglicher  scheine.  Doch 
die  Kirche  Gottes  mitten  inne  zwischen  Spreu  und  Unkraut  gestellt,  er- 
trage Manches,  allein  sie  billige  nicht,  was  dem  Glauben  und  rechtschaf- 
fenen Leben  widerspreche,  verschweige  es  nicht  und  thue  es  nicht.  Der- 
selbe Augustin  lehrt  in  der  Schrift  gegen  Faustus:  ;,  etwas  Anderes  ist  es, 
was  wir  lehren,  und  wieder  ein  Anderes,  was  wir  ertragen,  ein  Anderes 
ist  es,  was  wir  zu  gebieten ^  ein  Anderes,  was  wir  zu  bessern  beauftragt 
sind.^  Hiezu  wirkte  nicht  sowohl  die  Furcht,  die  Einheit  der  Kirche  zu 
zerreissen,  als  vielmehr  die  Besorgniss,  die  Führerschaft  der  Menge  zu 
verlieren. 

Daher  ein  Mann,  wie  Jovinian,  der  Protestant  seinerzeit,  für  seine 
Bestrebungen  bei  den  angesehensten  Kirchenlehrern  keine  Anerkennung 
fand.    In  Rom  als  strenger  Askete  lebend,    trat  er  in  den  letzten  Jahren 


1)  Die  Schrift  von  de  ßhoer,  dissertatio  de  effectu  religionis  christianae  in  juris- 
prudentiam  romanam.  1776  und  die  von  Trop long,  de  l'influence  du  christianisme  sur  le 
droit  civil  des  Romains  1843  sind  jetzt  mehr  oder  weniger  tiberflüssig  gemacht  durch 
die  früher  erwähnte  Schrift  von  Karl  Schmidt. 


Refonnatorische  Bestrebungen.    Jovinian.  .  413 

des  vierten  Jahrhunderts  in  einer  Schrift,    die  wir  leider  nur  aus  den  Be- 
richten  seiner  Gegner   kennen,   als  ßekämpfer   der  Ueberschätzung  des 
Mönchthums  auf.    Sein  Hauptprincip  war:   „es  gibt  nur  Ein  göttliches  Le- 
benselement,  welches  alle  Gläubigen  mit  einander  theilen,   Eine  Gemein- 
schaft mit  Christo,  Eine  Wiedergeburt.    Alle,   welche   diess  mit  einander 
gemein  haben,  haben  denselben  himmlischen  Beruf,  dieselbe  Würde,  dieselben 
himmlischen   Güter,   daher  das   ehelose  Leben  oder  die  Ehe,   das  Essen 
oder   das  Fasten   keinen  Unterschied   zwischen   den  Christen   bedingt;    es 
kommt  Alles  auf  das  innerliche  Leben   an.     Somit  fiel    die  Theorie    von 
einer    asketischen  Vollkommenheit,    von   dem  Unterschiede    zwischen  den 
Kathschlägen  und  den  Geboten.     Daher  er  sagen  konnte,   es  komme  auf 
dasselbe  hinaus,    ob  einer  sich  dieser  oder  jener  Speisen  enthalte  oder  ob 
er  sie  mit  Danksagung  geniesse.     So  sagte  er  auch  mit  Recht,    dass  die- 
jenigen,   die  um  der  gegenwärtigen  Noth  willen   das  ehelose  Leben  er- 
wählt haben,  sich  dessen  nicht  überheben  sollten.    Er  gab  zu,  dass  Ehelo- 
sigkeit und  Fasten  unter  gewissen  Umständen  gut  sein  könne ,  wie  er  denn 
selbst  als  Asket  lebte ;  nur  sollte  das  asketische  Leben  nicht  so  allgemein 
empfohlen  werden.    Es  wurde  ihm  nicht   schwer,   aus   dem  Neuen  Testa- 
ment seine  Empfehlung  der  Ehe  zu  begründen  (1  Tim.  5,  14.  Hebr.  13,  4. 
1  Kor.  7,  39  u.  a.  St.).    Was  das  Fasten  betrifft,  so  führt  er  an,  dass  dem 
Reinen  Alles  rein  sei,   dass  Christus  von  den  Pharisäern  ein  Fresser  und 
Weinsäufer  genannt  worden,    dass   er    das  Mahl   des  Zachäus   nicht  ver- 
schmäht und  die  Hochzeit  zu  Kana  besucht  habe.     Die  Ehelosigkeit   und 
die  Fasten  könnten  nichts  eigenthümlich  Cliristliches  sein,  da  sie  sich  auch 
im  Cultus  der  Kybele  und  der  Isis  fänden.    Wenn  man  die  Furcht  vor  den 
Höllenstrafen,   das   Streben  nach  den  höheren  Stufen  der   Seligkeit   als 
Antrieb  zu  den  asketischen  Anstrengungen  gebrauchte,  so  behauptete  Jo- 
vinian dagegen,   dass   der  Christ,   der   durch  den  Glauben   ein   göttliches 
Leben    empfange,   seiner   Seligkeit    schon   gewiss  sei.    Ja  er  ging  soweit 
zu  behaupten ,    dass   wer    getauft  sei ,    vom  Teufel  nicht  versucht  werden 
könne;   darunter   verstand   er   aber  die  Geistestaufe;   an  denjenigen,    die 
versucht  werden,    zeige  es  sich,    dass  sie  nur  die  Taufe  mit  Wasser  em- 
pfangen haben.     Mit   dieser  Ansicht  will  er  keineswegs  behaupten,  dass 
der  Zustand   des  Wiedergeborenen    über    alle  Versuchungen  erhaben   sei; 
immerhin  aber  ergab  sich  daraus ,    dass ,   wer  wirklich  wiedergeboren  wor- 
den, nicht  wieder  aus  der  Gnade   falle   (nach  1  Joh.  3,  9),   eine  Ansicht, 
die  selbst  von  lutherischen  Theologen  getheilt  wird.    Hingegen  ging  er  zu 
weit,   indem   er  allen  Unterschied  zwischen  den  Sünden  läugnete,   indem 
alles  Sündhafte,    wie   verschieden  es  auch  in  seiner  äusseren  Erscheinung 
sein  möge,   dasselbe  ungöttliche  Leben  offenbare.     Er  wollte  dadurch  die 
willkürliche    Eintheilung    in  Todsünden  und    lässliche   Sünden  beseitigen, 
nach  welcher  Eintheilung  man  die  Zahl  der  vom  ewigen  Leben  ausschlies- 
senden  Sünden  sehr  beschränkte.    So  behauptete  er  auch,    mit  Beziehung 
auf  die  bekannte  Parabel,  dass  es  gleich  sei,  ob  einer  sich  früh  oder  spät 
bekehre.    Noch  verdient  erwähnt  zu  werden,   dass  Jovinian   durchaus  den 
Begriff  der  unsichtbaren  Kirche,    in    welcher  kein  Unreiner  ist  und  deren 
Glieder  alle  von  Gott  gelehrt  sind,  hervorhebt.    Ueberdiess  lehrte  Jovinian, 


414        '•  •  Zweite  Periode  des  alten  Katholicisinus. 

wie  Ambrosius  und  Augustin  melden,  dass  die  Jungfrau  Maria  Christum 
zwar  als  Jungfrau  empfangen,  aber  nicht  als  Jungfrau  geboren  habe. 

Jovinian's  kräftige  Polemik  gegen  die  Ueberschätzung  des  asketischen 
Lebens  fand  Anklang  in  Rom,  so  dass  mehrere  Nonnen,  selbst  solche  von 
vorgerücktem  Alter  sich  in  die  Ehe  begaben;  daher  entbrannte  gegen  ihn 
der  Zorn  der  Kirche  und  ihrer  Lehrer.  Auf  einer  Synode  in  Rom  39<D 
sprach  der  Bischof  Siricius  über  Jovinian  als  luxuriae  magister  und  über 
acht  seiner  Anhänger  das  Verdammungsurtheil  aus.  Jovinian  begab  sich 
nach  Mailand,  aber  auch  hier  war  seines  Bleibens  nicht.  Bischof  Ambro- 
sius, welchem  Bischof  Siricius  das  Urtheil  der  genannten  Synode  mitgetheilt, 
Hess  auch  auf  einer  Synode  zu  Mailand  den  kühnen  Bekämpfer  des  aske- 
tischen Lebens  verdammen  und  Jovinian  und  seine  Anhänger  aus  Mailand 
vertreiben.  Zwei  Mönche  in  Mailand,  Sarmatio  und  Barbatianus, 
mussten,  weil  sie  Ansichten  Jovinian's  sich  angeeignet,  die  Stadt  verlassen ; 
auch  in  Vercelli,  wohin  sie  sich  gewendet,  Hess  ihnen  der  Feuereifer  des 
Ambrosius  keine  Ruhe,  indem  er  ihnen  sittliche  Zügellosigkeit  Schuld 
gab.  Das  that  in  höherem  Maass  Hieronymus  in  seiner  Schrift  gegen  Jovi- 
nian, der  wir  überhaupt  die  nähere  Kenntniss  der  Ansichten  Jovinian's 
entnehmen.  Hieronymus  schadete  aber  seiner  Sache  durch  die  Ueber- 
treibungen,  in  welche  er  verfiel,  in  Vertheidigung  des  asketischen  Lebens, 
so  dass  Jovinian  Recht  zu  haben  schien  mit  seiner  Behauptung,  dass  man 
jenes  Leben  nicht  preisen  könne,  ohne  den  Ehestand  herunterzusetzen  — ; 
diess  bewog  Augustin  zu  seiner  Schrift  de  bono  conjugali^  worin  er  durch 
seine  Mässigung  wieder  gut  zu  machen  suchte,  was  Hieronymus  durch  seine 
Heftigkeit  verdorben  hatte.  Was  aber  die  durch  Jovinian  hervorgerufene 
Bewegung  betrifft,  so  wurde  sie  sehr  bald  gänzlich  unterdrückt.  Immer- 
hin kommt  ihm  das  Verdienst  zu,  seine  Reformationsbestrebungen  an  be- 
stimmte Principien  angeknüpft  zu  haben,  von  welchen  aus  folgerichtiger- 
weise noch  andere  Irrthümer,  als  die  von  ihm  namentlich  bestrittenen, 
fallen  mussten. 

Ein  änderer  Protestant  seiner  Zeit,  zwar  nicht  wie  Jovinian  zu  all- 
gemeinen Princii)ien  aufsteigend,  aber  schärfer  in  seinen  Angriffen  auf  die 
im  Schwange  gehenden  Irrthümer  und  Missbräuche,  ist  Vigilantius  i), 
von  Geburt  ein  GaHier,  aus  Calagurris,  dem  heutigen  Casere,  einem  Dorfe 
in  der  Grafschaft  Commenges.  Nachdem  er  eine  Zeitlang  zu  dem  von  den 
Eltern  ausgeübten  Gewerbe  der  Gastwirthschaft  angehalten  worden,  wid- 
mete er  sich  der  geistlichen  Laufbahn  und  wurde  im  Jahre  395  in  Barce- 
lona zum  Presbyter  geweiht,  worauf  er  (nach  Gennadius  c.  35)  eine  geist- 
liche Stelle  in  der  Diöcese  Barcelona  bekleidete.  Es  scheint  aber  gewiss, 
nach  den  Angaben  des  Hieronymus,  dass  er  eine  Zeitlang  in  GaHien,  in 
der  Nähe  seiner  Heimath  als  Presbyter  fungirt  hat.  Von  wesentlichem 
Einfluss  auf  ihn  und  auf  seine  späteren  Erlebnisse  war  sein  Aufenthalt  in 
Palästina  (396).  Er  machte  hier  nämlich  die  persönliche  Bekanntschaft 
des  Hieronymus,    an   den    er  durch  Bischof  PauHnus  von  Nola  empfohlen 


1)  S.  über  ihn  des  Hieronymns  Schrift  adv.  Vigil. ,   desselben  Briefsammlung,    den 
Artikel  von  Schmidt  in  der  Realencyklopädie. 


Reformatorische  Bestrebungen.     Vigilantius.  415 

worden,  und  der  ihn  freundlich  aufnahm,  und  ihn  in  seiner  Antwort  an 
Paulinus  sogar  den  heiligen  Presbyter  Yigilantius  nannte.  Doch  bald  trat 
eine  Spannung  ein  zwischen  beiden  Männern.  Hieronymus  studirte  damals 
den  Origenes  und  war  voll  Begeisterung  für  ihn.  Vigilantius,  dem  die 
Lehrweise  des  grossen  Alexandriners  keineswegs  zusagte,  stellte  seinen 
Gastwirth  darüber  zu  Rede.  Dieser,  dessen  schwächste  Seite  es  war,  den 
Ruf  seiner  Orthodoxie  aufrecht  zu  halten,  suchte  seine  Orthodoxie  vor 
seinem  Gaste  zu  erweisen  und  brachte  diesen  auch  auf  einen  Augenblick 
zur  Anerkennung  derselben.  Schliesslich  entzog  sich  Vigilantius  durch 
schnelle  Abreise  solchen  Discussionen,  wendete  sich  zunächst  nach  Aegypten 
und  später  nach  Gallien  zurück.  Er  scheint  aber  auf  seiner  Rückreise 
Beschuldigungen  gegen  Hieronymus  in  Beziehung  auf  seine  Orthodoxie 
ausgesprochen  zu  haben,  Beschuldigungen,  denen  er  auch  einen  schrift- 
lichen Ausdruck  gab,  worauf  Hieronymus  ein  Sendschreiben  an  ihn  richtete, 
voll  der  heftigsten  Vorwürfe  und  der  gemeinsten  Spöttereien.  Er  sollte 
nicht  Vigilantius,  sondern  Dormitantius  heissen;  so  sehr  sei  sein  Verstand 
von  Schlafsucht  befallen.  Im  Jahre  404  erhielt  nun  Hieronymus  durch  den 
Presbyter  Riparius  von  Tarracon  in  Spanien  die  Nachricht,  dass  Vigilan- 
tius sehr  auffallende  Lehren  verbreite  (auch  in  einer  eigenen  Schrift). 
Hieronymus  sprach  sich  in  einem  Briefe  an  Riparius  in  höchstem  Grade 
erbittert  darüber  aus  und  bedauerte  nur,  nicht  die  ganze  Schrift  des  Man- 
nes vor  sich  zu  haben,  um  ihn  nach  Herzenslust  angreifen  zu  können.  Er 
meinte,  Vigilantius  verdiene  um  seiner  Irrthümer  willen  am  Leben  gestraft 
zu  werden.  Doch  suchte  er  vor  Allem,  ihn  moralisch  zu  vernichten.  Er 
Hess  sich  seine  Schriften  kommen  (406)  und  verfasste  nun  in  einer  einzigen 
Nacht  die  Widerlegungsschrift,  welche  die  Hauptquelle  ist  für  unsere 
Kenntniss  des  Mannes  und  welche  bestimmt  war,  die  durch  ihn  angeregte 
Bewegung  zu  unterdrücken. 

Was  sind  denn  das  für  schreckliche  Dinge,  um  welcher  willen  der 
gelehrte  Kirchenvater  sich  so  sehr  ereiferte?  Es  scheint  die  Reise  nach 
Palästina,  welches  damals  für  die  christliche  Welt  dieselbe  Stellung  hatte 
wie  Rom  zu  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  auf  Vigilantius  einen 
ähnlichen  Eindruck  gemacht  zu  haben ,  wie  auf  Luther  seine  Reise  nach 
Rom.  Fortan  kämpfte  er  gegen  diejenigen  Seiten  des  kirchlichen  Lebens, 
welche  damals  an  den  heiligen  Stätten  mit  besonderer  Liebhaberei  gepflegt 
wurden  und  um  deren  willen  die  katholischen  Christen  mit  besonderer 
Ehrfurcht  nach  jenen  Stätten  ihre  Blicke  richteten.  Doch  es  ist  nicht 
möglich,  aus  des  Hieronymus  Darstellung  mit  den  beigegebenen  wörtlichen 
Citaten  sich  ein  zusammenhängendes  Bild  von  der  Anschauungsweise  des 
Mannes  zu  machen.  Ein  Hauptgegenstand  seiner  Polemik  war  der  Cultus 
der  Märtyrer  und  ihrer  Reliquien.  In  der  Verehrung  der  Märtyrer,  sowie 
sie  seit  geraumer  Zeit  statt  fand,  sah  er  mit  Recht  einen  Rückfall  in  das 
Heidenthum,  eine  Vergötterung  der  Creatur,  indem  die  Anrufung  der 
Märtyrer  eine  Art  von  Allgegenwart  derselben  voraussetze;  und  wenn  man 
die  Anrufung  derselben  an  ihre  Reliquien  knüpfen  wollte,  so  entstände 
die  lächerliche  Vorstellung,  dass  die  Seelen  der  Märtyrer  allezeit  ihren 
Staub  umflattern.      Ihm  war  auch  die  Abgötterei,    die    mit   den  Reliquien 


416  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

derselben  getrieben  wurde,  zuwider;  erstens  zweifelte  er  mit  Recht  an 
der  Aechtheit  derselben,  noch  mehr  bezweifelte  er  die  Wunder,  die  von 
denselben  berichtet  wurden;  sodann  missbilligte  er  das  Herumtragen  der 
Todtengebeine ,  die  Einhüllung  derselben  in  kostbare  Stoffe.  Er  nannte 
die  Sammler  und  Verehrer  der  Reliquien  Aschensammler  (cinerarios)  und 
Abgötter.  Auch  das  Anzünden  von  Kerzen  zu  Ehren  der  Märtyrer  sah 
er  als  Nachahmung  eines  heidnischen  Gebrauches  an;  dabei  wollte  er  kei- 
neswegs den  Märtyrern  und  Heiligen  Abbruch  thun ;  spricht  er  doch  davon, 
dass  das  Lamm  sie  mit  dem  Glanz  seiner  Majestät  beleuchtet  i).  Er  hielt 
auch  den  nächtlichen  Gottesdienst  in  den  Kirchen,  die  Vigilien,  wegen 
der  dabei  vorkommenden  sittlichen  Aergernisse  für  verwerflich ;  doch  wollte 
er  blos  die  zu  Ehren  der  Märtyrer  gefeierten  abgeschafft  wissen.  Die 
Ostervigilien  Hess  er  gelten,  sowie  auch,  dass  zu  Ostern  das  Halleluja 
gesungen  werden  sollte,  woraus  hervorgeht,  dass  Vigilantius  nur  die  Gleich- 
stellung der  Feste  zu  Ehren  des  Herrn  und  derjenigen  zu  Ehren  von  blossen 
Menschen,  also  wieder  Creaturvergöttening,  beseitigen  wollte.  Zugleich 
sprach  er  sich  aus  gegen  den  Cölibat  der  Geistlichen,  gegen  das  asketische 
Leben  überhaupt.  Er  wollte  nichts  wissen  von  der  selbst  erwählten  Ar- 
muth,  und  meinte,  es  sei  besser,  den  Armen  nach  und  nach  zu  helfen, 
als  sich  auf  einmal  seines  Besitzes  zu  entäussern.  Er  hat  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dass  durch  das  Mönchthum  wesentliche  geistliche  Aufgaben, 
Seelsorge  und  dergleichen  unmöglich  würden  und  dass  Weltflucht  durch- 
aus nicht  soviel  sei  als  Besiegung  der  Welt.  Er  suchte  auch  den  beson- 
deren Nimbus,  der  das  Mönchthum  in  Palästina  umgab,  zu  zerstören  und 
meinte,  dass  die  Geldspenden  dahin  aufliören  sollten;  das  musste  dem 
Hieronymus  beinahe  wie  ein  persönlicher  Angriff"  erscheinen. 

Der  Grund  der  äusserst  unwürdigen  Polemik  des  Hieronymus  gegen 
die  reformatorischen  Bestrebungen  des  gallischen  Priesters  ist  nicht  blos 
in  der  Gemüthsart  des  Kirchenvaters  zu  suchen,  sondern  auch  darin,  dass 
Vigilantius  Anhänger  fand.  Hieronymus  beklagte  sich  von  Anfang  an,  dass 
der  Diöcesanbischof  dem  kühnen  Neuerer  nicht  Stillschweigen  auferlege. 
In  der  Lombardei  hatte  Vigilantius  mehrere  Bischöfe  auf  seiner  Seite,  was 
die  Verwerfung  des  Cölibats  betrifft,  der  damals  wahrscheinlich  schon 
manche  bittere  Frucht  gebracht  hatte  2).  Er  hatte  auch  unter  dem  nie- 
deren Klerus  und  unter  den  Laien  Anhänger,  wie  denn  Riparius  befürchtet, 
seine  Parochie  möchte  durch  die  Grundsätze  des  Vigilantius  angesteckt  wer- 
den. Doch  das  geschah  nicht;  die  gerügten  Missbräuche  und  Irrthümer,  durch 
so  gewaltige  Autoritäten  vertreten  oder  geduldet,  konnten  ungehindert  fort- 
wuchern. Vigilantius  antwortete  nicht  auf  des  Hieronymus  Schmähschrift; 
er  scheint  bald  darauf  gestorben  zu  sein.  Wenigstens  weiss  die  Geschichte 
nichts  mehr  von  ihm. 

Etwas  früher  als  die  von  Jovinian   und  Vigilantius    versuchte  Oppo- 
sition gegen  die  Verirrungen  der  Zeit  fällt  die  von  Aerius,  Jugendfreund 

1)  Magnum  honorem  praebent  hnjusce  modi  homines  beatis  martyribus,  quos  agnns, 
qui  est  in  medio  throni,  cum  omni  fulgore  majestatis  suae  illustrat. 

2)  Inter  Hadriae  fluctus  Cottiique    regis    alpes   in  nos  declamando  clamavit.    Prob 
nefas,  episcopos  sui  sceleris  dicitur  habere  consortes. 


Ansbreitung  des  Christenthums.    Afrika.  417 

des  Eustathius,  des  nachherigen  Bischofs  von  Sebaste  in  Armenien,  Aerius 
führte  in  Gemeinschaft  mit  ihm  eine  Zeitlang  ein  asketisches  Leben,  und 
wurde  von  Eustathius  seit  dessen  Erhebung  zur  bischöflichen  Würde  (355) 
zum  Presbyter  geweiht  und  zum  Vorsteher  eines  Armenhauses  in  Sebaste 
ernannt.  Doch  bald  geriethen  die  beiden  Männer  mit  einander  in  Streit. 
Differenzen  in  den  Ansichten  über  gewisse  nicht  unwichtige  Punkte  der 
Kirchenverfassung,  des  Gottesdienstes  und  des  christlichen  Lebens  mehrten 
das  Feuer  des  Streites  zwischen  beiden  ehemals  befreundeten  Männern. 
Aerius  stand  übrigens  in  seiner  Opposition  durchaus  nicht  vereinzelt.  Denn, 
als  es  dahin  kam,  dass  er,  ungeachtet  der  Ermahnung  des  Eustathius, 
das  ihm  anvertraute  Haus  in  Sebaste  verliess  (360),  schlugen  sich  eine 
Menge  Christen  beiderlei  Geschlechter  zu  ihm.  Es  entstand  eine  eigene 
Partei  der  Ae  rianer,  die,  von  allen  Seiten  verfolgt,  ihre  Versammlungen 
häufig  auf  freiem  Felde,  in  Wäldern  und  auf  Bergen  hielt,  doch  bald 
spurlos  verschwand.  Gegen  die  Grundsätze,  welche  Aerius  mit  den  Seinen 
vertheidigte,  lässt  sich  vom  Standpunkte  des  Protestantismus  aus  nichts  ein- 
wenden, aus  welchem  Grunde  den  Protestanten  die  aerianische  Ketzerei 
öfter  ist  Schuld  gegeben  worden.  Aerius  hielt  nämlich  nach  apostolischer 
Tradition  die  Gleichheit  von  Bischot  und  Presbyter  fest.  Mit  Berufung 
auf  1  Kor.  5,  7  erklärte  er  sich  gegen  die  in  jenen  Gegenden  herrschende, 
offenbar  judaisirende  Beibehaltung  der  Passahmahlzeit  bei  der  Feier  des 
Abendmahles.  Aerius  bekämpfte  auch  den  Werth  der  Fürbitte  für  die 
Todten  und  die  sittlichen  Auswüchse,  die  sich  daran  knüpften.  Er  wollte 
auch  von  den  durch  die  Kirche  gebotenen  Fasten  nichts  wissen,  nicht  als 
ob  er,  der  Askete,  das  Fasten  selbst  verworfen  hätte.  Er  erklärte  sich 
gegen  die  kirchlich  gebotenen  Fasten  wegen  des  jüdisch -knechtischen  We- 
sens, das  dadurch  befördert  werde.  So  musste  denn  auch  dieser  Refor- 
mationsversuch in  Sand  verlaufen  und  dadurch  die  bekämpften  krthümer 
nur  noch  bestärken  i). 


Sechster  Abschnitt. 


Ausbreitung   des    Christenthums    ausserhalb   des    römischen 

Reiches. 

Wir  wenden  uns  zuerst  nach  Africa,  von  da  nach  Asien,  durchwan- 
dern darauf  Europa  bis  nach  Spanien.  Das  isolirte  Grossbritannien  er- 
heischt eine  abgesonderte  Betrachtung.  Auf  diesem  weiten  Schauplatze 
begegnen  uns  die  mannigfaltigsten  Völker  und  mannigfaltige  Schicksale 
des  Christenthums,  auch  verschiedenartige  Auffassungen  desselben,   worin 


1)  S.  Epiphanias.    75  Haeresie.    Schroekh  6,  227  ff.    Neander  2,  372. 
Herzog,  Kirchengeachichte  I.  27 


418  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

sich  die  inneren  Bewegungen  der  katholischen  Kirche  des  römischen 
Reiches,  welches  überhaupt  auf  die  »Missionen,  deren  Entwicklung  und  Er- 
folge einwirkt,  abspiegeln.  Insbesondere  ist  die  Missionsgeschichte  dieser 
Zeit  unter  den  germanischen  Völkern  zum  Theil  eine  Fortsetzung  der 
Geschichte  des  Arianismus. 

I.  In  Africa  ist  das  wichtigste  Ereigniss  die  Gründung  der  abes- 
sini sehen  Kirche  *),  die  sich  merkwürdigerweise  mitten  unter  muhamme- 
danischen  und  heidnischen  Völkern  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  hat. 
Ein  christlicher  Gelehrter  aus  Tyrus,  Meropius,  Philosoph,  unternahm 
unter  Constantin  eine  wissenschaftliche  Entdeckungsreise.  Als  er  an  der 
Küste  von  Abessinien  landete,  wurde  er  nebst  der  ganzen  Mannschaft 
des  Schiffes  getödtet,  ausgenommen  zwei  Jünglinge,  Verwandte  oder  Neffen 
des  Meropius,  Frumentius  und  Aedesius,  deren  zartes  Alter  den  Bar- 
baren Mitleid  eingeflösst  hatte.  Sie  kamen  als  Sklaven  an  den  Hof  des 
Königs  in  Auxuma  (Axum  im  heutigen  Tigre),  wo  der  eine  zum  Schatz- 
meister, der  andere  zum  Mundschenk  des  Königs  erhoben  wurden.  Vor 
seinem  Tode  liess  sie  der  König  frei.  Die  Königin  Regentin  Hess  die 
beiden  in  hohen  Aemtern,  die  sie  zur  Einführung  des  Christenthums  be- 
nutzten. Sie  zogen  ägyptische  Kaufleute  herbei,  und  die  Christen  erhielten 
das  freie  Niederlassungsrecht  mit  Privilegien.  Aedesius  kehrte  nach  Tyrus 
zurück,  Frumentius  setzte  sich  in  Verbindung  mit  dem  neu  erwählten 
Patriarchen  von  Alexandrien  Athanasius  (326),  erbat  sich  von  diesem 
Priester  für  sein  neues  Vaterland  und  wurde  von  ihm  zum  Bischof  geweiht 
und  kehrte  nach  Abessinien  zurück,  als  Patriarch  Abessiniens  Abba  Salama 
genannt.  Der  neue  König  Aizan  und  sein  Bruder  wurden  getauft,  das 
Christenthum  machte  rasche  Fortschritte.  Während  der  arianischen  Wir- 
ren behauptete  Frumentius  seine  Stellung  gegen  Kaiser  Constantius,  der 
den  König  bewegen  wollte,  ihn  durch  einen  arianisch- gesinnten  Patriarchen 
zu  ersetzen.  Von  wesentlicher  Bedeutung  ist  die  im  vierten  und  fünften 
Jahrhundert  gemachte  äthiopische  Bibelübersetzung,  d.  h.  in  der 
alten  Landessprache  des  axumitischen  Reiches,  die  von  den  Eingeborenen 
auch  die  Geersprache  genannt  wird.  Sie  ist  nach  dem  in  der  alexandri- 
nischen  Kirche  jener  Zeit  recipirten  Texte  verfertigt,  woraus  auf  ihr  hohes 
Alter  ein  Schluss  gemacht  werden  kann ;  denn  nur  in  der  ersten  Periode  der 
äthiopischen  Literatur  wurde  aus  dem  Griechischen  übersetzt.  Schon  Chry- 
sostomus  scheint  diese  Uebersetzung  zu  kennen.  Sie  ist,  nach  dem  Urtheile 
von  Dill  mann  sehr  getreu  nach  dem  Griechischen  gemacht  und  im  Gan- 
zen als  eine  sehr  wohl  gelungene  und  glückliche  zu  bezeichnen.  Bisweilen 
trifft  sie  mit  dem  Sinn  und  den  Worten  des  hebräischen  Urtextes  im  Alten 
Testament  auf  überraschende  Weise  zusammen  2). 

IL  Was  Asien  betrifft,  so  kommt  zunächst  in  Betracht  die  Ver- 
breitung des  Christenthums  unter  den  Hamyaren  (Homeriten)  in  Ara- 
bien (c.  350)  durch  den  arianisch -gesinnten,  von  Kaiser  Constantius  gesen- 
deten Theophilus;  diese  Sendung  hatte  zunächst  glücklichen  Erfolg  (Philo- 

1)  S.  Sokrates  1,  19.     Sozom.  2,  24.    Theodoret  1,  22. 

2)  S.  den  Artikel  äthiopische  Kirche  von  W.  Hofmann  und  äthiopische 
Bihelühersetzung  von  Dillmann,  beide  in  der  Realencyklop&die. 


Ausbreitung  des  Christenthums.    Persien.    Armenien.  419 

storgius  2,  6,  3,  4.  5).  Doch  spater  wurden  die  christlichen  Gemeinden 
unterdrückt. 

Im  neupersischen  Reiche  war  das  Christenthum  am  Anfange 
der  Periode  weit  ausgebreitet.  An  der  Spitze  der  Kirchen  stand  der  Bi- 
schof von  Seleucia-Ktesiphon,  der  Hauptstadt  des  Reiches.  DerHass 
gegen  die  Römer  wurde  auf  das  Christenthum  übergetragen,  seitdem  die 
römischen  Kaiser  den  christlichen  Glauben  angenommen.  Daher  konnten 
die  Empfehlungen  Constantius  bei  dem  Könige  Schapur  (Sapora)  zu 
Gunsten  der  Christen  wenig  ausrichten.  Zum  politischen  Argwohn  gesellte 
sich  der  religiöse  Fanatismus,  der  schon  Mani  ins  Verderben  gebracht 
hatte.  So  begann  im  Jahr  343  eine  Verfolgung,  welche  viele  Christen 
aus  allen  Ständen  dahinraffte  und  welche  mit  wechselnder  Stärke  bis  zum 
Tode  des  Königs  (381)  fortdauerte.  Der  ehrwürdige  greise  Bischof  Symeon 
von  Seleucia-Ktesiphon  war  als  das  erste  Opfer  dieser  Verfolgung  gefallen. 
Bis  zum  Jahr  414  trat  nun  Ruhe  ein,  König  Jezdegerd  war  sogar  den 
Christen  günstig.  Bischof  Maruthas  von  Tagrit  genoss  sein  Vertrauen 
und  trug  viel  dazu  bei,  den  Christen  bessere  Tage  zu  bereiten.  Sie  nah- 
men ein  Ende  durch  den  fleischlichen  Eifer  des  Bischofs  Ab  das  von  Susa, 
welcher  eigenmächtig  einen  persischen  Tempel  (ein  nvQeiov)^  in  welchem 
das  Feuer  als  Symbol  des  Ormuzd  verehrt  wurde,  niederreissen  Hess. 
Der  König  machte  ihm  zuerst  in  mildem  Tone  Vorwürfe  und  forderte  ihn 
auf,  den  Tempel  wieder  aufzurichten.  Als  der  Bischof  sich  dessen  stand- 
haft weigerte,  begann  eine  langjährige  Verfolgung,  worin  viele  Christen 
unter  den  fürchterlichsten  Martern  den  Tod  fanden.  Das  Christenthum  gab 
neue  Beweise  der  weltüberwindenden  Kraft,  welche  es  seinen  Bekennern 
einflösst.  Theodosius  IL  erzwang  422  unter  dem  Nachfolger  des  Jezdegerd, 
König  Varanes,  durch  einen  Krieg  das  Ende  der  immer  wüthender  ge- 
wordenen Verfolgung.  (S.  in  der  Realencyklopädie  den  Artikel  Persien, 
Christenthum  in.) 

In  Armenien  war  das  Christenthum  in  der  vorigen  Periode  einge- 
drungen. Am  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  wurde  es  durch  Gregorius, 
von  Geburt  einen  Armenier,  weiter  verbreitet,  der  dafür  den  schönen  Bei- 
namen (fcotKTtrjg,  illuminator  erhielt,  zum  Zeichen,  dass  er  in  den  Gegen- 
den ,  wo  die  Anbetung  des  Feuers  herrschte ,  das  wahre  Licht  verbreitet 
habe.  Durch  ihn  wurde  auch  der  König  Tiridates  bekehrt,  seinem  Bei- 
spiele folgten  die  angesehensten  Grossen  und  der  grösste  Theil  des  Volkes. 
Darauf  zum  Bischof  Leontius  von  Cäsarea  in  Kappadocien  gesendet  (302), 
wurde  er  von  ihm  zum  Patriarchen  der  armenischen  Kirche  geweiht.  Seit 
dem  galt  dieses  Cäsarea  als  die  Metropole  von  Armenien.  Gregorius  war 
verheirathet  und  hatte  mehrere  Söhne,  wovon  der  eine,  Aristax,  das  nicä- 
nische  Concil  besuchte,  dessen  Beschlüsse  in  Armenien  angenommen  wur- 
den. Am  Ende  seines  Lebens  übergab  er  sein  Amt  dem  Sohne  Aristax. 
Von  ihm  sind  unter  seinem  Namen  vorhanden,  doch  von  zweifelhafter 
Aechtheit  Homilieen,  in  Constantinopel  1737  erschienen. 

In  der  späteren  Zeit  dieser  Periode  erwarben  sich  besondere  Ver- 
dienste um  die  armenische  Kirche  Nerses,  Patriarch  oder  Katholikos  vom 
Jahr  360  bis  390,    Sahak    sein   Sohn    und   Mesrob   (Myesrob),    auch 

27* 


420  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus, 

Maschthor  genannt.  Jener  Sahak  (i.  e.  Isaak),  im  Jahr  388  durch 
Chosrov  im  Alter  von  50  bis  60  Jahren  zur  Würde  des  Katholikos  oder 
Patriarchen  erhoben,  zubenannt  der  Grosse,  der  letzte  Sprössling  aus  dem 
Geschlechte  Gregor's  des  Erleuchters,  brachte  eine  gleichmässige  Ordnung 
in  den  ganzen  Gultus,  wurde  der  geisliche  Rathgeber  des  Königs  und  der 
Grossen,  erbaute  oder  stellte  wieder  her  Kirchen  und  Klöster.  Mesrob 
war  sein  Jugendfreund.  Nachdem  er  die  Stellung  eines  Staatssecretärs 
bei  dem  Könige  verlassen,  und  einige  Zeit  in  der  Einsamkeit  als  Askete 
gelebt,  kam  er  zu  Sahak,  der  ihm  auftrug,  im  Lande  herumzuziehen  und 
das  Evangelium  zu  predigen.  Mit  Hülfe  der  weltlichen  Machthaber  ver- 
trieb er  die  Heiden,  welche  sich  noch  in  verschiedenen  Gegenden  verbor- 
gen hielten.  Während  seiner  Missionsarbeiten  wurde  ihm  das  Bedürfniss 
einer  eigenen  Schrift  für  das  Armenische  recht  fühlbar.  Er  brachte  dat; 
armenische  Alphabet  erst  nach  langjährigen  Bemühungen  in  Verbindung 
mit  seinem  Freunde  Sahak  und  unterstützt  vom  frommen  König  Wram- 
schapuh  zu  Stande.  „Nach  den  neuesten  Untersuchungen,  sagt  Peter- 
mann, gebührt  ihm  zwar  nicht  das  Verdienst,  das  ganze  Alphabet  erfun- 
den und  gebildet,  sondern  nur  das  nicht  viel  geringere,  ein  altes,  längst 
vergessenes  wieder  hervorgezogen,  vervollständigt  und  im  ganzen  Lande 
eingeführt  zu  haben."  Wegen  des  mangelnden  Alphabets  hatte  es  bis 
dahin  keine  armenische  Uebersetzung  der  Bibel  gegeben,  die  Bibel- 
lectionen  und  Gebete  wurden  in  der  dem  Volke  unverständlichen  syrischen 
Sprache  gehalten.  Beide  Männer  machten  sich  nun  sogleich  an  diese 
Uebersetzung.  Mesrob  übersetzte  das  Neue  Testament,  Sahak  das  Alte 
Testament,  und  zwar  aus  dem  Syrischen,  da  durch  persischen  Einfluss  alle 
griechischen  Schriften  vernichtet  waren.  Diese  Uebersetzung,  von  den 
Fachgelehrten  sehr  gerühmt,  wurde  sehr  verbreitet,  erlitt  aber  seit  der 
näheren  Verbindung  mit  dem  Abendlande  mehrere  Interpolationen  aus  der 
Vulgata.  Die  beiden  genannten  Männer  errichteten  darauf  im  ganzen 
Lande  Schulen  zum  Unterricht  in  der  Schrift  und  in  der  Religion.  Sie 
waren  auch  als  Schriftsteller  sehr  thätig;  ihre  Schriften  gelten  als  Muster 
des  Stiles  bei  den  Armeniern;  sie  führten  die  Glanzperiode  der  arme- 
nischen Literatur  herbei,  worunter  viele  Schriften  der  Kirchenväter,  auch 
Philo's,  sodann  selbständige  Erzeugnisse  ^). 

HL  Die  Bekehrungen  auf  dem  Continente  von  Eur  opa  führen  uns  zu  den 
germanischen  Völkern,  durch  welche  überhaupt  eine  neue  Wendung  der 
Weltgeschichte  eingeleitet  wird.  Was  wäre  aus  dem  Christenthum  geworden, 
wenn  diese  Völker  dasselbe  nicht  angenommen  hätten?  Es  hätte  das 
Loos  des  weströmischen  Reiches  getheilt.  Von  den  germanischen  Völkern 
im  Norden  und  Westen  bedrängt,  seit  den  ersten  Jahrzehnden  des  sieben- 
ten Jahrhunderts  von  den  Muhammedanern  im  Osten,  die  bald  auch  am 
äussersten  Westen  Europa's  erobernd  .auftraten ,  wäre  es  auf  einen  kleinen 
Flächenraum  beschränkt  worden  —  und  auf  ersterbende  Völker.    Da  wur- 


1)  S.  in  der  Eealencyklopädie  die  Artikel  Armenien  im  19.  Bande,  von  Pe- 
termann,  Gregor  der  Erlauchter  im  1.  Bande,  Mesrob  im  9.  Bande,  Sahak  im 
20.  Bande  und  die  daselbst  angegebenen  Quellen,  diese  beiden  letzten  ebenfalls  von  Pe- 
termann. 


Ausbreitung  des  Christenthums.    Germanische  Völker.  421 

den  ihm  neue,  in  der  ersten  Jugendkraft  stehende  Völker  zugeführt,  unter 
welchen  es  einen  neuen,  bald  den  wichtigsten  Schauplatz  seiner  Thätigkeit 
finden  sollte  i). 

Tacitus  hat  mit  seiner  Schrift  den  entarteten  Römern  seiner  Zeit  das 
unverdorbene,  in  mancher  Hinsicht  dem  altrömischen  ähnliche  germanische 
Volksthum  gleichwie  in  einem  Spiegel  zur  Nachahmung  als  Muster  vorgehalten 
und  das  von  den  eigenen  Mitbürgern  als  barbarisch  verachtete  Volk  in  sei- 
nem wahren  Werthe  dargestellt.  —  Die  Macht  der  Sitte  grösser  als  die 
der  Gesetze,  die  Keuschheit  der  Jünglinge,  die  Achtung  vor  dem  weib- 
lichen Geschlechte,  die  Monogamie,  die  Seltenheit  des  Ehebruchs,  die 
Geradheit  und  Offenheit  des  Charakters,  das  im  Ganzen  humane  Ver- 
hältniss  zwischen  Herren  und  Knechten,  die  Tiefe  des  Gefühles  sich  kund- 
gebend in  treuer  Erinnerung  an  die  dahingeschiedenen  Angehörigen,  —  das 
sind  eben  so  viele  bedeutsame  Züge  des  Gemäldes,  welches  der  römische 
Geschichtschreiber  vor  uns  entrollt,  wobei  er  übrigens  die  Schattenseiten 
nicht  verdeckt,  z.  B.  die  Liebe  zum  Trünke,  sowie  er  auch  das  anführt, 
dass  die  Germanen  nicht  nur  keine  Städte,  sondern  auch  keine  unter  ein- 
ander verbundene  Wohnstätten  haben;  jeder  wählt  sich  nach  freiem 
Belieben  die  Stätte  für  sein  Haus  und  baut  es  auf,  gänzlich  abgesondert 
von  den  anderen:  ein  acht  germanischer  Zug. 

Die  germanische  Götterlehre,  wie  sie  in  der  Edda  vorliegt,  ist  bei 
aller  paganischen  Verdunkelung  des  Gottesbewusstseins ,  welche  sich  darin 
kund  gibt,  doch  durchaus  nicht  ohne  sittlichen  Gehalt.  Diess  zeigt  sich 
besonders  in  der  Vorstellung  vom  Weltende.  Das  alte  Göttergeschlecht, 
weil  es  sich  mit  dem  Riesengeschlecht,  den  rohen  ungebändigten  Natur- 
kräften in  eine  Verbindung  eingelassen  und  sich  dadurch  befleckt  hat,  geht 
unter,  die  Welt  und  die  auf  ihr  wohnende  Menschheit  wird  durch  Feuer 
verzehrt.  Nach  dem  Weltbrande  erhebt  sich  eine  durch  das  Feuer  geläu- 
terte neue  Erde,  ein  neues  Göttergeschlecht,  so  wie  ein  neues  Menschen- 
geschlecht entsteht;  das  Gute  behauptet  fortan  für  immer  die  Herrschaft 
in  der  Welt,  unter  der  Oberleitung  des  höchsten  Gottes,  des  Allvaters, 
dem  die  anderen  Götter  dienstbar  sind  und  der  durch  seine  rathschlagende 
und  richterliche  Thätigkeit  die  beste  Bürgschaft  für  die  Erhaltung  des 
Friedens  darbietet.  Dabei  wird  die  altgermanische  Vorstellung  von  einer 
Vergeltung  nach  dem  Tode,  zusammenhängend  mit  dem  stark  ausgepräg- 
ten Glauben  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  wesentlich  modificirt,  inso- 
fern in  der  neuen  Welt  alles  Böse  verschwunden  ist  und  damit  die  Straf- 
leiden von  selbst  authören.  Wenn  die  jüngere  Edda  in  der  erneuerten 
Welt  die  Strafleiden  fortdauern  lässt,   so   rührt   das  her   von  christlichen 

Einflüssen.     Noch  ist  zu  bemerken,    dass  die  Germanen  eine  unsichtbare 

♦ 

1)  S.  die  zu  Anfang  der  Periode  angeführten  römischen  Schriftsteller.  Sodann 
Tacitus  de  situ,  moribus  et  populis  Germaniae.  Jornandes  (Jordanis)  de  origine 
actibusque  Getarum.  Ausgabe  vonCloss.  Stuttgart  1861  und  die  Artikel  von  Weitzsäcker 
in  der  Kealencyklopädie.  Jakob  Grimm,  deutsche  Mythologie,  2.  Ausgabe,  Walz,  über 
das  Leben  und  die  Lehre  des  Ulfila  u.  s.  w.  1840.  B  es  seil,  über  das  Leben  des  ülfila 
u.  s.  w.  1860.  W.  Kr  äfft,  die  Kirchengeschichte  der  germanischen  Völker,  1.  Band 
1854  —  dazu  ßettberg'a  Kirchengeachichte  Deutschlands.  1846. 


422  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Gottheit  verehrten:  ;,sie  halten  es  der  Hoheit  der  Himmlischen  nicht  an- 
gemessen, sie  in  Wände  einzuschliessen  oder  in  Gestalt  menschlichen 
Antlitzes  abzubilden;  dagegen  weihen  sie  Haine  und  Gehölze  und  rufen 
unter  göttlichen  Namen  jenes  unerforschliche  Wesen  an,  das  nur  ihr  ehr- 
furchtsvolles Gemüth  erkennf"  ^).  Doch  gab  es  bei  ihnen  Bilder  der 
Gottheit. 

Das  erste  germanische  Volk,  das  hier  in  Betracht  kommt,  sind  die 
Gothen,  ursprünglich  Geten  genannt,  den  Römern  schon  mehi'ere  Jahr- 
hunderte vor  Christi  Geburt  bekannt  und  in  den  Gegenden  der  unteren 
Donau  angesiedelt.  Im  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  nach  Christi  Ge- 
burt kam  der  Name  Gothen  auf,  der  eine  Anzahl  Einzelstämme  befasste. 
Damals  drangen  sie  mit  grösserer  Kühnheit  als  früher  gegen  das  römische 
Reich  vor.  Im  Kampfe  mit  ihnen  fand  Kaiser  Decius  in  den  Sümpfen  der 
Donau  seinen  Tod  (251).  Unter  der  Regierung  von  Valerian  und  Gallien 
drangen  sie  in  drei  grossen  Heereszügen  zu  Wasser  und  zu  Lande  vor, 
bis  nach  Kleinasien,  wo  sie  viele  Denkmäler  des  Alterthums,  besonders 
auch  den  prächtigen  Tempel  der  Diana  zu  Ephesus  zerstörten.  Erst  Con- 
stantin  gelang  es,  die  Gefahren,  womit  sie  das  römische  Reich  bedrohten, 
zu  beseitigen,  indem  er  mit  ihnen  einen  Frieden  abschloss,  der  so  lange 
währte,  als  Glieder  der  constantinischen  Familie  (363)  regierten;  er  nahm 
40,000  derselbe^  in  sein  Heer  auf.  Während  ihrer  Kriegszüge  im  dritten 
Jahrhundert  gegen  Valerian  und  Gallien  hatten  sie  viele  Gefangene  in  Gala- 
tien  und  Kappadocien  gemacht,  die  sie  mit  sich  fortschleppten,  unter  ihnen 
Christen  und  insbesondere  Geistliche,  welche  unter  den  Gothen  Anhänger 
für  den  christlichen  Glauben  gewannen.  Seit  der  näheren  Verbindung  mit 
dem  römischen  Reiche  mehrte  sich  unter  ihnen  die  Zahl  der  Christen. 
Auf  dem  Concil  von  Nicäa  (325)  erscheint  bereits  ein  Bischof  Gothiens, 
Theophilus,  der  die  Beschlüsse  des  Concils  mit  unterzeichnet  hat. 

Die  weitere  Verbreitung  und  Begründung  des  Christenthums  unter 
den  Gothen  war  hauptsächlich  das  \^erk  des  Ulfila,  geboren  313  im 
Schoosse  einer  christlichen  Familie,  welche  die  Gothen  aus  Kappadocien 
und  zwar  von  Sadagqkhina  in  der  Nähe  der  Stadt  Parnassus  als  Gefangene 
fortgeschleppt  hatten.  Da  seine  Vorfahren  wohl  schon  über  ein  halbes 
Jahrhundert  unter  den  Gothen  gelebt  hatten,  als  Ultila  geboren  wurde, 
erhielt  er  einen  gothischen  Namen,  Vulfila  von  Vulfs,  d.  h.  Wolf,  also 
Wölflein  2).  Ei'  erlernte  unter  den  Gothen  ihre  Sprache,  wurde  ausserdem 
von  seinen  Eltern  in  griechischer  Bildung  und  im  Christenthum  auferzo- 
gen.  Er  wirkte  zuerst  als  Lehi'er  unter  den  an  die  Donau  vorgerückten, 
aber  nördlich  von  derselben  wohneuden  Westgothen  (Wesegothen), 
Thervinger,  Taifalen.  Im  Jahr  343  wurde  er  zum  Bischof  geweiht 
und  zwar  wahrscheinlich  von  arianisch -  gesinnten  Bischöfen;  denn  er  be- 
hauptet in  se4iiem  Glaubenstestamente  kurz  vor  seinem  Tode,  dass  er  dem 
arianischen  Bekenntniss  immer  ergeben  gewesen  sei;  die  leichtere  P'ass- 
lichkeit  der  arianischen  Lehre  muss  hiebei  wesentlich  in  Anschlag  gebracht 


1)  Tacitus  Germania  c.  Ö. 

^)  Phüostorgius  nennt  ihn  Ov^(ftXai. 


Ansbreitung  des  Christenthums.    Germanische  Völker.  423 

werden.     Dazu    kam,    dass   die  Gothen   durch   Annahme   des    arianischen 
Bekenntnisses    ihre   Verbindung    mit    dem    römischen    Reiche    erleichtern 
konnten.     Immerhin  aber  ist  Ulfila's  Auffassung  der  Trinitätslehre  so  be- 
schaffen,  dass  sie   mit  keiner  der  von  den  arianischen  Parteien  vorgetra- 
genen Formel  völlig  übereinstiöimt  i).     Er   gelangte   zu   hohem  Ansehen, 
indem  er  als   politischer  Geschäftsträger   in  den  Verhandlungen  mit    dem 
oströmischen  Reiche  gebraucht  wurde.     Es  hatte  sich  nämlich,  hauptsäch- 
lich  durch  Ulfila's  Bemühungen    die  Zahl   der   Christen   unter   den  West- 
gothen  so  sehr  gemehrt,  dass  der  Beherrscher  derselben,  Athanarich,  der 
noch  Heide  war,  auf  sie  aufmerksam  wurde ;  da  aber  die  christlichen  Gothen 
ohnehin  als  heimliche  Freunde  der  verhassten  Römer  galten,    so   erhoben 
sich  Verfolgungen  gegen  dieselben;  viele  starben  den  Märtyrertod,  andere 
giengen  als  Bekenner  aus  dem  Kampfe  hervor;    diese  Verfolgung  fällt  in 
das    Jahr   350,    sieben    Jahre    nachdem    Ulfila    Bischof    geworden.      Da 
bewirkte  dieser,  dass  Kaiser  Constantius  den  christlichen  Gothen  die  Nie- 
derlassung   auf  römischem  Boden  erlaubte.     Unter  Anführung  des  Ulfila 
zogen  sie  in  grossen  Schaaren  über  die  Donau  nach  Moesien,    in  die  Ge- 
gend   von  Nikopolis,   an    den  Fuss  des  Haemus.     Daselbst   wirkte  Ulfila 
unter  ihnen  bis  zum  Jahre  388.    Er  dehnte  unter  mannigfaltigen  Gefahren 
seine   Wirksamkeit   auch   auf   die   Gothen    auf  dem  nördlichen  Ufer  der 
Donau  aus;   dieselbe   wurde    durch  andere  Missionäre   unterstützt,    unter 
anderen    durch    den     aus    Kappadocien    stammenden   Eutyches.      Die 
Folge  dieser  gesegneten  Wirksamkeit   war    eine  neue  Verfolgung,    welche 
Athanarich  370   über  diese  unter   seiner  Botmässigkeit  stehenden  Gothen 
verhängte,  wobei  Viele  ihren  Glauben  mit  ihrem  Blute  besiegelten  (Sabas, 
Nicetas).    Die  christlichen  Gothen  wurden  auf  den  römischen  Boden  hin- 
übergejagt und  fanden  daselbst  eine  Zuflucht.    Von  dieser  neuen  Verfolgung 
war  Ulfila  selber  unmittelbar  nicht  berührt  worden.    Die  Verfolgung  nahm 
erst  ein  Ende,    seitdem  die  Gothen  sich   in   zwei   grosse  Massen    theilten 
und  Frithigern,  der  Gegner  von  Athanarich,   den  Christen  Schutz  verlieh. 
Frithigern  selbst   fand  bei  Kaiser   Valens,    der   dem  Arianismus   ergeben 
war,  Schutz  gegen  Athanarich  und  nahm  mit  seinen  Gothen  das  arianische 
Christenthum  an,  was  wohl  hauptsächlich  auf  Ulfila's  Wirksamkeit  zurück- 
zuführen ist. 

In  diese  Zeit,  bald  nach  dem  Jahr  370  fallen  die  Arbeiten,  wodurch  er 
besonders  bekannt  geworden  ist.  Er  gab  den  Gothen  das  Alphabet,  dessen 
sie  sich  fortan  bei  dem  Schreiben  bedienten  2).  Er  unternahm,  wozu  er 
in  jeder  Hinsicht  vorbereitet  war ,  die  Uebersetzung  der  ganzen  heiligen 
Schrift  aus  dem  Griechischen  in  die  gothische  Sprache.  Nur  die  Bücher 
der  Könige  hat  er  nicht  übersetzt,  weil  sie  von  Krieg  handeln  und  das 
kriegslustige  Volk  eher  vom  Krieg  zurückgehalten,  als  dazu  angetrieben 
zu  werden  brauchte  3).   Die  Uebersetzung  ist  in  ihrer  Art  ein  Meisterstück, 

1)  Es  ist  mögHchTdass  er  seit  dem  Concile  von  Constantinopel   im  Jahr  360,    an 
welchem  er  Theil  nahm,  seinen  Arianismus  bestimmter  ansprägte. 

2)  Philostorgius  2,  5:    yQafx^axuiP  avTois  oixsicoy  €vq€tvs  xar«ffT«ff.     Sokratea 
4,  33.     Ovliftlag  yga/ujUKra  (cpfvgi  For^ix«. 

3)  Philoatorgias  2,  5. 


424  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismüg. 

getreu  nach  dem  griechischen  Texte,  doch  ohne  knechtisch  demselben  zu 
folgen,  und  ohne  dem  Geiste  der  gothischen  Sprache  Abbruch  zu  thun. 
Die  Uebersetzung  ist  nicht  mehr  vollständig  vorhanden;  die  bedeutendsten 
Fragmente  derselben  finden  sich  im  codex  argenteus^),  Durch  diese 
vortreffliche  Uebersetzung  war  die  Verbreftung  des  Christenthums  unter 
den  Gothen  wesentlich  erleichtert. 

Die  Missionswirksamkeit  des  Ulfila  unter  Frithigerns  Schutz  auf  dem 
nördlichen  Ufer  der  Donau  hatte  nur  einige  Jahre  gedauert,  als  die  Gothen 
von  einem  stärkeren  Volke  gedrängt  wurden.    Mit  dem  Einfall  der  Hunnen 
in  Europa  375  beginnt  die  eigentliche  Völkerwanderung,    welche  im  Jahr 
568  durch  Ansiedelung  der  Longobarden   in  Italien    ihren  Ausgang    nahm. 
Gedrängt  von  den  Hunnen    erhielten    die  Gothen    durch    die  Vermittlung 
des   Ulfila    von    Kaiser  Valens   375  Wohnsitze   in  Thracien,    in   welches 
Land  mehrere  Hunderttausende  einzogen,  ein  neues  Feld  der  Wirksamkeit 
für  Ulfila:   sie  nahmen  das  arianische  Christenthum  an.    Nicht  lange  nach 
der  Uebersiedelung  rief  die  harte  Behandlung,  welche  die  Gothen  in  Thracien 
von  den  römischen  Statthaltern  erfuhren,  einen  Krieg  zwischen  den  Römern 
und  Gothen  unter  Frithigern  hervor,   der   die  Missionsthätigkeit  des  Ulfila 
unterbrach.    In  der  Schlacht  bei  Adrianopel  (378),  worin  Valens  fiel,  blieben 
die  Gothen  Sieger,    verwüsteten    weit  und  breit  das  Land  bis  zum  adria- 
tischen  Meerbusen  und  drangen  bis  zu  den  Mauern  von  Constantinopel  vor. 
Theodosius  suchte  den  Verheerungen  der  Gothen  zu  steuern   und   sie   zu- 
rückzutreiben,  welcher  Versuch  begünstigt  wurde   durch   den  Tod  Frithi- 
gerns.    Mit  Athanarich  und  seinen  Westgothen   schloss    er   ein  Bündniss 
und  nahm  sie  in  den  römischen  Heeresdienst   auf.     Um   sie,    die  Arianer 
waren,    zufrieden  zu  stellen,    was  eine  Massregel  der  Politik  war,  dachte 
er  zuerst  daran,   durch   ein  Concil  von  Constantinopel   im   Jahr  383    eine 
Unionsformel  aufstellen  zu  lassen,    in    der   sich  Nicäner  und  Arianer  ver- 
einigen könnten.    Doch  schliesslich  liess  er  sich  die  Bekenntnisse  der  ver- 
schiedenen Parteien  übergeben  und  entschied  endgültig  für  das  nicänische. 
Ulfila,   auf  Grund  jenes  Bekenntnisses  als  Häretiker  verurtheilt,    tief  be- 
kümmert über  diesen  Ausgang  der  Sache,  fiel  in  eine  Krankheit,    der    er 
noch  im  Jahr  383  erlag.  Er  hatte  aber  dafür  gesorgt,  dass  tüchtige  Schüler 
sein  Werk  fortsetzten,  unter  anderen  Auxentius,  Bischof  von  Dorostorus 


1)  Dieser  Codex  gehört  dem  ffinften  oder  spätestens  dem  Anfang  des  sechsten  Jahr- 
hunderts an;  er  enthält  die  vier  Evangelien  in  folgender  Ordnung:  Matthäus,  Johannes, 
Lukas ,  Marcus.  Den  Namen  hat  er  daher  erhalten ,  weil  er  mit  silberner  (theilweise  mit 
goldener)  üncialschrift  geschrieben  ist  (auf  purpurröthliches  Pergament).  Er  befindet  sich 
auf  der  Bibliothek  der  Universität  üpsala.  Ehe  er  nach  Schweden  kam,  war  er  in  Prag 
im  kaiserlichen  Schatze  aufbewahrt  gewesen,  bei  der  Einnahme  von  Prag  im  Jahr  1648 
wurde  er  durch  die  Schweden  erbeutet  und  an  die  Königin  Christine  gesendet.  Im  Jahr 
1699  kam  er  nach  üpsala.  Es  gibt  aber  noch  mehrere  andere  Codices,  die  jedoch  mei- 
stens nur  kleinere  Fragmente,  besonders  aus  den  paulinischen  Briefen  enthalten.  Sämmt- 
liche  Fragmente  nebst  lateinischer  Uebersetzung  und  kritischen  Anmerkungen  sind  von 
Gabelentz  und  J.  Loebe  herausgegeben  worden.  Leipzig  1843.  S.  auch  Hug,  Ein- 
leitung in  das  Neue  Testament  I  S  130  -  141.  Nach  seiner  Ansicht  ist  der  codex  argen- 
teus  in  Italien  geschrieben. 


Ausbreitung  des  Christenthums.    Germanische  Völker.  425 

(Silistria).  Ungeachtet  der  von  Constantinopel  aus  gemachten  Versuche, 
die  V^estgothen  für  das  nicänische  Bekenntniss  zu  gewinnen,  erhielt  sich 
unter  ihnen  der  Arianismus  und  verbreitete  sich  mit  gi'osser  Schnelligkeit 
unter  den  übrigen  in  das  römische  Reich  einbrechenden  und  in  demselben 
sich  ansiedelnden  germanischen  Völkern,  wozu  ausser  der  grösseren 
Verständlichkeit  der  arianischen  Lehre  der  Hass  gegen  die  Römer,  die 
am  nicänischen  Dogma  festhielten,  beitrug.  So  nahmen  die  Ostgothen 
und  Vandalen  das  arianische  Christenthum  an,  ebenso  einige  andere 
germanische  Völker,  die  zuerst  das  katholische  Bekenntniss  angenommen 
hatten.  Die  Burgunder  nahmen,  seitdem  sie  ihre  Wohnsitze  in  den  Ge- 
genden des  Oberrheins  aufgeschlagen,  das  katholische  Christenthum  an 
c.  417  0.  Seitdem  sie  neue  Wohnsitze  am  Jura  gefunden,  bekannten  sie 
sich  zum  Arianismus,  doch  nicht  völlig.  Selbst  in  dei  königlichen  Familie 
drang  er  nicht  völlig  durch.  Unter  den  Sueven  in  Spanien  hatte  auch 
zuerst  das  katholische  Christenthum  Eingang  gefunden,  wurde  aber  seit 
469  durch  die  Westgothen  verdrängt.  Diese,  so  wie  die  Vandalen  be- 
drückten die  älteren  katholischen  Bewohner  der  betreffenden  Gegenden. 
Fürchterlich  litt  besonders  die  afrikanische  Kirche,  durch  die  Vandalen 
(seit  430).  Inmitten  dieser  Bewegungen  eilte  das  weströmische  Reich  sei- 
nem Untergange  entgegen.  Alarich,  König  der  Westgothen,  eigentlich 
im  Dienste  beider  Hälften  des  römischen  Reiches  stehend,  unzufrieden  mit 
der  Behandlung,  die  ihm  vom  weströmischen  Hofe  widerfuhr,  erschien  im  Jahr 
410  mit  einem  grossen  Heere  aus  verschiedenen,  zum  Theil  noch  heidnischen 
germanischen  Völkern  zusammengesetzt,  vor  Rom;  da  brach  über  die 
Welthauptstadt  das  Geschick  ein,  welches  sie  über  so  viele  andere  Städte 
gebracht  hatte.  Doch  da  Alarich  und  die  meisten  seiner  Krieger  Christen 
waren,  so  war  die  angerichtete  Zerstörung  weder  gross  noch  allgemein. 
Alarich  gab  Befehl,  die  Kirchen  und  die  darin  geflüchteten  Christen  unan- 
getastet zu  lassen.  In  der  That  sah  man  mitten  in  der  allgemeinen  Ver- 
wirrung einen  langen  Zug  von  Bewohnern  Roms,  beladen  mit  kostbaren 
Kirchengefässen  und  christliche  Gesänge  anstimmend,  unangefochten  sich  nach 
dem  Vatican  bewegen.  —  Der  neue  Einbruch  der  Hunnen  in  der  Mitte  des 
fünften  Jahrhunderts,  an  welche  mehrere  germanische  Völker  durch  Zwang 
sich  angeschlossen,  brachte  nicht  nur  das  weströmische  Reich  in  die  äus- 
serste  Gefahr;  es  war  geschehen  um  die  europäische  Civilisation ,  wenn 
Etzel  (Attila),  mit  seinen  fünf  bis  siebenhunderttausend  Mann  den  Sieg 
davon  trug.  In  der  Schlacht  bei  Chälons  (sur  Marne)  wurde  er  451  be- 
siegt. Auf  der  Seite  der  Römer  unter  des  Aetius  Führung  standen  meh- 
rere germanische  Völker.  Attila  wandte  sich  nach  Italien  im  folgenden 
Jahre  und  brachte  ganz  Oberitalien  in  seine  Gewalt.  Doch  drang  er  nicht 
weiter  vor;  er  Hess  sich  mit  Leo  L,  der  begleitet  von  zwei  vornehmen 
Römern  ihm  bis  an  den  Mincio  entgegengekommen  war,  in  Unterhandlungen 
ein  2),  in  Folge  deren  er  Italien  verliess,   worauf  er   im  Jahr  453   durch 


1)  Die  Nachricht  bei  Sokrates  7,  30,    der  die  Bekehrung  in  eine  spätere  IZeit  ver- 
setzt, ist  wahrscheinlich  unrichtig. 

2)  In  agro  Venetum  Ambulejo   sagt  Jornandes  S.  151.     Bekanntlich  hat  sich   an 


426  Zweite  Periode  des  alten  Katholiciamus. 

den  Tod  die  Welt  vom  Schrecken  seines  Namens  befreite.  Darauf,  nachdem 
Aetius,  die  letzte  Stütze  des  Staates  durch  den  argwöhnischen  Valentinian  III. 
getödtet  worden  (454),  brachen  die  Vandalen  ^iu  ItaUen  ein.  Rom  wurde 
vierzehn  Tage  lang  geplündert;  doch  Mord  und  Brand  hatte  der  König 
Geiserich  abzuhalten  versprochen  und  er  hielt  Wort.  Das  weströmische  Reich 
schleppte  sein  sterbendes  Dasein  noch  bis  zum  Jahr  476  fort,  in  welchem 
Odoacer,  König  der  Rugier,  den  jungen  Kaiser  Romulus  Augustulus 
absetzte. 

Welchen  Eindruck  diese  Bewegungen  und  Umwälzungen  und  damit  ver- 
bundenen Verheerungen  auf  die  Gemüther  der  Bewohner  des  römischen 
Reiches  machten,  haben  wir  erst  zum  Theil  angedeutet.  Während  die  Hei- 
den darin  die  Strafe  der  Götter  für  die  Verwerfung  der  alten  Religion,  unter 
deren  Schutz  Rom  die  Welt  erobert  hatte,  erblickten,  erkannten  die  Chri- 
sten darin  die  gerechte  Strafe  für  das  sittliche  Verderben,  welches  unter 
ihnen  in  furchtbarem  Maasse  sich  gesteigert  hatte.  ;,Wir  gehen  unter  durch 
unser  eigenes  sitthches  Verderben,^  sagte  Hieronymus.  ^^Was  ist  die 
Gesammtheit  der  Christen  anderes  als  eine  Kloake  von  Lastern,"?  sagte  Sal- 
vian^),  der  in  seiner  Schrift  de  gubernatione  Dei  ein  abschreckendes  Bild 
der  Verkommenheit  der  christlichen  Bewohner  des  römischen  Reiches  ent- 
wirft, während  er  die  Tugenden  der  als  barbarisch  verachteten  Germanen 
und  besonders  die  Keuschheit  hervorhebt,  wodurch  die  Meisten  derselben  sich 
auszeichneten.  Daher,  während  Hieronymus  das  Ende  der  Welt  kommen 
sieht,  als  er  erfährt,  dass  Alarich  Rom  erobert  hat,  während  er  ausruft, 
^mit  der  einen  Stadt  ist  die  Welt  untergegangen"  2^,  während  Ambrosius 
ebenfalls  alle  Hoffnung  auf  eine  bessere  Zukunft  aufgegeben,  stellen  sich, 
was  sehr  beachtenswerth  ist.  Augustin,  Leol.  und  Salvian  auf  einen 
höheren  Standpunkt;  sie  sehen  in  allen  diesen  Bewegungen  die  Vorboten 
einer  besseren  Zukunft,  und  setzen  ihre  Hoffnung  auf  die  germanischen 
Völker.  Und  doch  konnten  diese  Männer  sich  nicht  verhehlen,  dass  die 
germanischen  Völker  theils  von  der  Häresie  angesteckt,  theils  noch  tief  im 
Heidenthum  versunken  waren.  Die  Franken,  worunter  wir  ein  Völker- 
bündniss  der  seit  dem  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  am  hnken  Rheinufer 
angesessenen  germanischen  Stämme  zu  verstehen  haben,  traten  in  den  Be- 
reich der  römischen  Civilisation,  wie  sie  in  Gallien  zur  Oberherrschaft  gelangt 
war,  ein,  und  es  war  vorauszusehen,  dass  sie  vielleicht  auch  mit  der  rö- 
mischen Civilisation  das  Christenthum  annehmen  würden;  aber,  obschon  bis 
zum  Ende  der  Periode  einzelne  Franken  den  neuen  Glauben  annahmen,  so 
berechtigte  im  Jahr  451  nichts  zu  der  Hoffnung  einer  baldigen  Bekekrung 
dieser  wild  kriegerischen  Stämme,  unter  denen  die  Sicambrer  die  vor- 
nehmsten Waren.    Unmittelbar  bevorstehend  War  üur  eine  grosse  Gefahr  für 


diese  Zusammenkunft  später  eine  ausschmückende  Sage  geknüpft.  Sehl*  gut  erörtert 
Perthel  a.  a.  0.  S. 90  die  Gründe,  welche  den  Hunneükönig  zur  Rückkehr  aus  Italien  be- 
wogen haben. 

1)  S.  über  ihn  und  besonders  die  Schrift  de  gubernatione  Dei,  eine  Art  Theodicee, 
Ebert  a.  a.  0.  S.  437  u.  ff.    Zschimmer  a.  a.  0. 

2)  Zu  Psalm  38,  4:  in  una  urbe  totus  orbis  interiit. 


Ausbreitung  des  Christenthnms.    Grossbritannien.  427 

das  Christenthum ,  wenn  diese  Völker  in  ihren  Eroberungszügen  sich  weiter 
gegen  Süden  ausdehnten  und  die  Reiche  der  arianischen  Westgothen  und 
der  Burgunder  angrifieu.  Eine  andere  Gefahr  bedrohte  die  Kirche  von  Seite 
der  Alemanen,  auf  dem  rechten  Rheinufer,  die  unter  den  germanischen 
Rheinau wohnern  am  längsten  Heiden  bUeben  und  in  den  Gegenden,  wohin 
sie  kamen,  schon  aus  Hass  gegen  die  Römer,  jegliche  Spur  des  Christeh- 
thums  vertilgten. 

IV.    Auch  in  dem  den  Römern  unterworfenen  Britannien*)  hatte  das 
daselbst  schon  seit  den  Zeiten  TertuUian's   verkündigte  Christenthum  grosse 
Bedrängnisse  erlitten.     Nach   dem   die  Kirche  Britanniens   in   der  diocletia- 
nischen  Verfolgung  schwere  Verluste  erlitten  und  darauf  eine  Zeitlang  Ruhe 
und  Sicherheit  genossen,   wurden  die  Briten  von  den  Scoten  (in  Schottland 
und  Irland)  und  Rieten  (in  Schottland  einheimisch)   angefallen,   wobei  auch 
die  Kirche  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde.     Die  Hülfe,   die   sie  von  dem 
römischen  Reiche  erhielten  (404),   bUeb  bald  aus;    die  Briten  hatten  immer- 
fort von  den  Einfällen  der  Rieten  zu  leiden.    Da  riefen  sie  zu  ihrem  Schutze 
die  Angeln   und  Sachsen   aus  Skandinavien   herbei  (449).     Diese  jedoch 
benützten  die  Schwäche    der   alten  Bewohner,   um   mit  Hülfe  nachfolgender 
Stammgenosseu    und   Verwandten    sich    des   Landes    zu  bemächtigen.     Die 
Briten   erhielten   sich  unabhängig  nur   in  Northumberland   und  Korn- 
wallis, hier  allein  mit  ihnen  das  Christenthum.    Beda  sieht  darin  ein  gött- 
liches Strafgericht  über  den  verderbten  Zustand  der  christlichen  Gemeinden 
und  der  Geistlichen   unter  den  Briten,   wovon  er  ein   abschreckendes  Bild 
entwirft  2).    Wann  das  Christenthum  zuerst  unter  den  Scoten  in  Schottland 
verkündigt  worden  und  unter  ihnen  christUche  Gemeinden  sich  gebildet  ha- 
ben, ist  nicht  mehr  zu  ermitteln.    So  viel  ist  jedoch   gewiss,   dass   um   die 
Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  sich  christliche  Gemeinden  unter  den  Scoten 
in  Schottland  fanden.     Was  Irland  betrifft,   so  wäre  nach  Beda  1,  13,    der 
hier  dem  Prosper  Aquitanus  folgt,   (c.  430)   Palladius   vom  römischen  Bi- 
schof Coelestin  zu  den  an  Christum  glaubenden  Scoten  in  Irland  als  Bischof 
geschickt  worden  3),  wobei  vorausgesetzt  wird,  dass  damals  das  Christenthum 
unter  den  Scoten  in  Irland  schon  festen  Fuss  gefasst  hatte.     Aber   derselbe 
Gewährsmann  redet  anderswo   von  Irland    als   von  einer  heidnischen  Insel. 
Auf  jeden  Fall  war  um  die  Mitte   des   vierten  Jahrhunderts   und  noch   ge- 
raume Zeit  später  das  Christenthum,  sei  es  in  England,  sei  es  in  Schottland, 


1)  S.  tiber  Grossbritannien  Beda,  bistoria  ecclesiastica ,  bei  Migne,  Lappenberg, 
Geschichte  von  England.  —  Ebrard,  die  iro  -  schottische  Missionskirche  im  secbsten, 
siebenten  und  achten  Jahrhundert  1873.  -  D.  Todd,  the  book  of  Hyüintis  of  tb«  ancient 
churchoflreland.  DubhnlSöö.—  Die  Artikel  Guide  er,  Ninian,  Palladiüs,  Patriciiu 
von  Schoell  in  der Kealencyklopädie,  von  demselben:  de  ecclesiasticae Britonum Scoto- 
rumqne  historiae  fontibus.  1851.  -  Greith,  Bischof  von  St.  Gallen,  Geschichte  der 
altirischen  Kirche  nnd  ihrer  Verbindung  mit  Rom,  Galüen  und  Alemannien  (von  480- 
630).  1867.  -  Werner,  Bonifacias,  der  Apostel  der  Deutschen  und  die  Boraanisirung 
von  Mitteleuropa.  1875. 

2)  H.  E.  1,  14.  _ 

B)  Uebrigens  ist  diess  wahrscheinlich  eine  Erfindung  der  römischen  KirchenpoUtUc. 
Palladius  verschwindet  spurlos  aus  der  Geschichte. 


428  Zweite  Periode  des  alten  Katholicismus. 

sei  es  in  Irland  auf  mehr  oder  minder  kleine  Kreise  beschränkt.  Wenn  ihm 
nicht  eine  neue  Lebensquelle  eröffnet  wurde,  so  war  grosse  Gefahr  vorhan- 
den, dass  es  bald  dem  Verschwinden  nahe  kommen  könnte. 

Da  wurde  durch  Patricius  (St.  Patrick)  dem  Christenthum  eine 
Wohnstätte  in  Irland  bereitet,  von  wo  aus  es  weithin,  auf  den  Continent 
von  Europa  seine  Wirksamkeit  ausbreitete.  Doch  des  Patricius  Lebensge- 
schichte ;,ist  so  mit  Sagen  verwoben,  sagt  Scholl  a.  a.  0.,  dass  die  histo- 
rischen Fäden  nur  mit  Mühe  sich  herausfinden  lassen.  —  Der  keltischen 
Nation  hat  es  nie  recht  gehngen  wollen,  von  der  epischen  Auffassung  der 
Geschichte  zui'  rein  historischen  aufzusteigen."  Uebrigens  sind  denn  sloch 
über  Patricius  einige  glaubwürdige  Quellen  vorhanden,  vor  allem  die  con- 
fesssio,  eine  Autobiographie  und  die  epistola  Patricii  ad  christianos  Corotico 
stcbditos  *);  die  confessio  trägt  allerdings  das  Gepräge  hohen  Alterthums,  das 
Gepräge  der  Aechtheit.  Der  Verfasser,  zurückblickend  auf  Gottes  gnaden- 
reiche Führung,  nimmt  sich  vor,  bereits  hochbetagt  und  nahe  am  Ende 
seiner  irdischen  Laufbahn  —  ein  Bekenntniss  seines  Glaubens  abzulegen;  er 
will  zugleich  seinen  Söhnen  in  dem  Herrn,  deren  er  viele  Tausende  getauft, 
ein  Vermächtniss  hinterlassen,  da  er  täglich  in  Gefahr  der  Ermordung  oder 
Gefangenschaft  schwebt.  Der  Inhalt  der  confessio  ist  folgender:  Patricius, 
Sohn  des  Diakon  Calpurnius  und  Enkel  des  Presbyter  Potitus,  aus 
Baunavon  Taberniae  (im  heutigen  Schottland),  wird  im  sechzehnten 
Lebensjahre  mit  vielen  tausend  Menschen  durch  irische  Seeräuber  nach  Ir- 
land geführt  zur  Strafe  für  Abfall  von  Gott  und  für  Ungehorsam  gegen  die 
Priester.  In  Irland  bekehrt  sich  der  junge  Patricius.  Nach  VerÜuss  von 
sechs  Jahren  gelingt  es  ihm,  in  das  Vaterland  zurückzukehren.  Doch  ihn 
erfüllte  bald  der  Trieb,  in  dem  Lande,  in  welchem  er  seine  Sünden  er- 
kannt und  wo  er  Gott  gefunden,  das  Evangelium  zu  verkündigen.  Nach 
Verfluss  einiger  Jahre  erscheint  ihm,  ähnlich  wie  dem  Paulus  jener  Mann 
aus  Macedonien,  im  Traum  ein  gewisser  Victorius,  der  ihm  einen  Brief 
übergibt,  dessen  Anfang  ^^Stimme  der  Hibernier"  lautet.  Als  er  denselben 
zu  lesen  anlängt,  glaubt  er  einen  Ruf  aus  dem  Walde  Foclut  zu  vernehmen, 
;,wir  bitten  dich,  heiliger  Knabe,  dass  du  zu  uns  kommest  und  unter  uns 
wandelst."  Diess  bewegt  ihn  auf  das  tiefste  und  er  erwacht  aus  dem  Traume, 
überzeugt,  dass  ihn  Gott  gerufen.  Keine  Einreden  der  Eltern  und  der 
Freunde  vermochten  ihn  in  seinem  Entschlüsse,  den  Irländern  das  Evangelium 
zu  verkündigen,  wankend  zu  machen.  Er  empfing  die  Ordination  als  Pres- 
byter, schiffte  nach  Irland  hinüber  und  wirkte  daselbst  bis  in  das  Greisen- 
alter, unter  steten  Gefahren  und  Anfeindungen,  aber  mit  glänzendem  Er- 
folge. Bald  erhob  sich  der  erzbischöliiche  Stuhl  von  Armagh.  Die  epistola 
ist  an  Coroticus,  einen  Häuptling  der  Irländer,  oder  vielmehr  an  die  ihm  unter* 
worfenen  Irländer  gerichtet.  Dieser  Häuptling,  dem  Namen  nach  Christ, 
hatte  eine  Anzahl  so  eben  getaufter  Christen  überfallen,  theils  getödtet, 
theils  an  die  Picten  verkauft.   Patricius  nennt  sich  in  der  epistola  selbst  epis-^ 


1)  Beide  abgedruckt  bei  Ebrard.  Beilage  I,  dazu  kommt  ein  Hymnus  von  St. 
Sechnall  auf  Patricius,  aus  dem  achten  Jahrhundert,  bei  Todd  als  hymnus  Seeundini  auf- 
geführt; dazu  kommen  spätere  Biographien. 


Ausbreitung  des  Christenthums.    Grossbritannien.  429 

copusy  was  nach  der  unter  den  Scoten  geltenden  Anschauung  keine  Schwie* 
rigkeit  macht.  —  Zu  beachten  ist ,  dass  Patricius  zwar  Sohn  und  Enkel  von 
verheiratheten  Geistlichen,  aber  selbst  nicht  in  die  Ehe  getreten.  Die  Ver- 
muthung,  dass  die  Stelle  der  confessio,  wo  die  Virginität  gelobt  wird,  vom 
jesuitischen  Herausgeber  interpolirt  worden,  muss  wenigstens  dahin  gestellt 
bleiben.  Ferner  ist  zu  beachten,  dass  in  der  confessio  nichts  vorkömmt  von 
einer  Reise  des  Patricius  nach  Rom,  von  seinem  Aufenthalte  daselbst  und  von 
seiner  Sendung  nach  Irland  durch  Pabst  Coelestin.  Das  Alles  ist  eine  spätere 
Ausgeburt  der  römischen  Kirchenpohtik.  Des  Patricius  Wirksamkeit  ist  von 
den  späteren  Biographen  mit  Sagen  umwoben  worden,  denen  vielleicht  ein 
geschichtlicher  Kern  zu  Grunde  liegt,  aber  im  Einzelnen  ist  es  fast  unmög- 
lich, das  Aechte  vom  Unächten  zu  scheiden.  Die  Angaben  über  Patricius 
gehen  so  sehr  aus  einander,  dass  einige  gemeint  haben,  Palladius  und  Pa- 
tricius seien  eine  und  dieselbe  Person,  andere  haben  angenommen,  es  habe 
mehrere  Männer  des  Namens  Patricius  gegeben;  doch  diese  Ansichten  sind 
jetzt  aufgegeben.  Unerklärlich  bleibt  das  Stillschweigen  Beda's  über  Patricius. 
Was  die  Chronologie  seines  Lebens  betrifft,  so  kann  sie  nicht  aus  der  con- 
fessio, noch  aus  der  epistola  geschöpft  werden.  Nach  Tigernach,  dem  älte- 
sten irischen  Annalensammler ,  f  1088,  ist  Patricius  im  Jahr  341  geboren, 
im  Jahr  357  nach  Irland  abgeführt  worden,  nach  einem  alten  Liede  gestor- 
ben 493 ,  im  Alter  von  120  Jahren ,  demnach  müsste  er  373  geboren  sein. 
Als  Anfang  der  Missionsthätigkeit  des  Patricius  wird  fast  einstimmig  das 
Jahr  432  genannt  ^).  —  Von  wesentlicher  Bedeutung  ist,  dass  in  keiner  irgend- 
wie glaubwürdigen  Quelle  von  der  Verbindung  des  Patricius  mit  Rom,  von 
einer  Unterwerfung  desselben  unter  Rom  die  Rede  ist.  Vielmehr  preist  ihn 
der  Hymnus  Seeundini,  als  den,  auf  welchen,  als  auf  Petrus,  die  Kirche 
Irlands  gegründet  ist  2).  So  wurde  dieser  Kirche  ein  acht  nationales  Ge- 
präge aufgedrückt.  Um  so  weniger  kann  man  sich  wundern,  wenn  die  hei- 
lige Brigitta,  eine  jüngere  Zeitgenossin  des  heiligen  Patricius,  mit  Maria 
zusammengestellt  wird  3). 


1)  S.  den  Artikel  Patricius  von  Schoell  in  der  Realencyklopädie. 

2)  Super  quem  aedificatur,  ut  Petrum,  ecclesia. 

3)  S.  den  Artikel  Brigitta  der  Irländer  in  der  Realencyklopädie  Bd.  19. 


Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Vom  Jahr  451  bis  Anfang  des  achten  Jahrhunderts,  vom  Concil  von 
Chalcedon  bis  zu  den  Bilderstreitigkeiten  und  bis  zu  Bonifacius,  Apostel  der 
Deutschen. 

Einleitung. 

Es  ist  die  Periode  des  sinkenden  alten  Katholicismus^und  des  Ueber- 
ganges  vom  alten  Katholicismus  zum  römischen  Kathohcismus.  Da  nun  die 
Geschichte  in  immerwährendem  Flusse  begriffen  ist,  so  ist  im  Grunde  jedes 
Zeitalter  eine  Zeit  des  Ueberganges.  Doch  gibt  es  gewisse  Perioden  der 
Geschichte,  auf  welche  jene  Benennung  in  vorzüglichem  Sinne  anwendbar  ist. 
In  jeder  Geschichte  treten  nämlich  gewisse  Richtungen  hervor;  sie  ha- 
ben ihren  Anfang,  worin  sich  ihr  Wesen  noch  nicht  deutlich  und  folgerichtig 
offenbart  und  entwickelt;  sie  erreichen  ihren  Culminationspunkt ,  oder,  wenn 
man  will,  ihre  grösste  Breite,  ihre  grösste  Entfaltung;  sie  sinken,  lösen  sich 
auf  und  bereiten  so  den  Uebergang  zu  neuen  Erscheinungen,  die  sich  durch 
das  Hinzutreten  neuer  Factoren  aus  ihnen   entwickeln. 

Eine  solche  Uebergangsperiode  ist  diejenige,  deren  Darstellung  wir  jetzt 
beginnen.  Welche  sind  die  Hauptmerkmale  dieses  Ueberganges?  1)  Die  begin- 
nende Trennung  zwischen  der  griechisch -morgenländischen  und  der  lateinisch- 
abendländischen Kirche.  Diese  beiden  Hälften  der  katholischen  Kirche  offenbar- 
ten, wie  wir  gesehen,  von  Anfang  an  jede  ihren  eigenthümlichen  Charakter. 
Während  dem  sie  noch  zu  einem  Ganzen  verbunden  sind,  und  friedlich  neben  ein- 
ander bestehen,  gehen  sie  doch  in  wichtigen  Dingen  jede  ihren  eigenen  Weg. 
In  der  neuen  Uebergangsperiode  entstehen  mehr  oder  minder  lang  dauernde 
Conflicte;  das  Concilium  quinisextum  am  Ende  der  Periode  ist  eine  wirksame 
Vorbereitung  auf  die  Trennung  zwischen  beiden  Kirchen;  nur  durch  diese 
Trennung  wurde  die  Ausbildung  des  römischen  Katholicismus  ermöghcht. 
2)  Die  Entwicklung  und  Verstärkung  der  in  der  früheren  Periode  verfolgten 
religiösen  Richtung,  die  sich  kund  gibt  als  Rückwirkung  der  jüdischen  und 
heidnischen  Religion  auf  das  Christenthum ,  welche  Rückwirkung  ihren  stärk- 
sten Anhaltspunkt  findet  im  römischen  Bischof. 

Liese  Periode  ist  der  Schauplatz  der  grössten  politischen  Umwälzungen, 
welche  auf  die  Kirche  mannigfach  einwirken.  Es  entsteht  dadurch  die  Noth- 
wendigkeit,  die  Masse  des  geschichtlichen  Stoffes  in  zwei  Theile  zu  zerlegen, 
so  schwer  es  manchmal  bei  den  sich  durchkreuzenden  Bewegungen  wird, 
jene  Theilung  durchzuführen.  Im  Ganzen  aber  kann  man  sagen,  dass  die 
Geschichte  a  parte  potiore  sich  in  zwei  Hälften  zerlegt,    die   sich  zwar  viel- 


Ausbreitung  und  Beschränkung  des  Christenthums.  431 

fach  berühren,  in  gewissen  Beziehungen  in  einander  übergehen,  aber  denn 
doch  in  anderer  Beziehung  sich  als  unterschieden  kund  geben.  Auf  der 
einen  Seite  steht  als  fester  Hort  des  Katholicismus  die  Kirche  des  römischen 
Reiches,  dessen  politische  Hauptstadt  Constantinopel  ist,  das  noch  einige 
Provinzen  des  Abendlandes,  namentUch  Rom,  als  erste  kirchüche  Hauptstadt 
behält,  wenngleich  dieses  eine  Zeitlang  germanischen  Königen  unterworfen 
ist.  Auf  der  anderen  Seite  stehen  die  theils  noch  heidnischen,  theils  neu- 
bekehrten, aber  zunächst  dem  Arianismus  ergebenen  germanischen  Völker, 
welche  in  den  römischen  Provinzen  des  westlichen  Europa,  so  wie  auch  des 
nordwestlichen  Africa  sich  angesiedelt  und  darin  Reiche  gegründet  haben, 
wovon  einige  allerdings  blos  ephemeren  Bestand  haben,  während  ein  anderes 
zu  kräftigem,  vielversprechendem  Dasein  gelangt.  Hauptsächlich  im  Bischof 
von  Rom  berühren  sich,  was  die  kirchlichen  Verhältnisse  betrifft,  die  beiden 
grossen  Massen  der  Geschichte.  Noch  eine  Zeitlang  bleibt  die  katholische 
Kiixhe  des  römischen  Reiches  auf  dem  Vordergrunde.  Im  Verlauf  der  Pe- 
riode treten  die  germanischen  Völker  bedeutender  hervor.  Am  nordwest- 
lichen Ende  Europa's,  jenseits  des  Canals,  gelingt  es  dem  römischen  Bischof, 
sich  einen  neuen  Schauplatz  der  Wirksamkeit  zu  schaffen,  von  dem  aus  er 
in  der  folgenden  Periode  seine  Herrschaft  über  den  Continent  von  Europa 
ausdehnt. 

Erste  Abtheilung. 
Die  Kirche  vorherrschend  des  römischen  Reiches. 

Erstes  Capitel.    Aeussere  Schicksale.     Ausbreitung  und  Beschränk- 
ung des  Christenthums. 

Vor  allem  ist  zu  erwähnen  die  völlige  Unterdrückung  des  Heidenthums. 
So  wie  die.  Regierung  Kaiser  Justinian's  I.  (527—565)  die  Zeit  einer  mäch- 
tigen Erhebung  des  alternden  Reiches  war,  so  zeichnete  sie  sich  auch  aus 
in  genannter  Hinsicht.  Erst  dieser  Kaiser  Hess  die  neuplatonische  Schule 
in  Athen  aufheben  (529),  worauf  ihre  Lehrer  nach  Persien  wanderten.  Der- 
selbe Kaiser  war  es  auch,  der  den  bis  dahin  geduldeten  Isiscultus  in  Philae 
in  Aegypten  aufhob.  Den  Heiden  in  Kleinasien  wurde  die  Taufe  zwangs- 
weise ertheilt;  dagegen  erhielt  sich  das  Heidenthum  bei  den  Mainotten  im 
Peloponnes  bis  in  das  neunte  Jahrhundert.  Auch  im  Abendlande  setzte  es 
sporadisch  sein  Dasein  fort.  König  Theodorich  fand  es  für  nöthig,  die  heid- 
nischen Opfer  bei  Todesstrafe  zu  verbieten.  Im  Jahr  470  fand  der  Impera- 
tor Anthemius  in  Rom  die  Lupercalia  zum  Schutze  der  Heerden  gegen  die 
Wölfe,  das. bezeugte  der  römische  Bischof  Gelasius  (492— 496).  Bis  610 
bestand  das  Pantheon  in  Rom.  In  einem  Apollotempel  auf  dem  Berge  Cas- 
sinum  wurde  bis  zu  Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts  geopfert.  In  Sicilien 
und  Corsica  gab  es  bis  zu  Anfang  des  siebenten  Jahrhunderts  hin  und  wie- 
der Heiden  i),   in  Sardinien  deren  viele.    Nicht  nur  die  Grundbesitzer,  auch 


1)  Gr.  ep.  3,  62.  8,  1. 


432  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

die  Bischöfe  und  weltlichen  Beamten  Sardiniens  duldeten  das  Heidenthum, 
indem  sie  sich  für  die  Erlaubniss,  den  Götzen  zu  opfern,  Geld  zahlen  Hessen. 
Gregor  forderte  die  Abstellung  solcher  Missbräuche;  es  sollten  die  Bauern 
durch  grössere  Abgaben  vom  Heidenthum  abwendig  gemacht  werden  ^). 

Unter  Kaiser  Justinian  traten  einige  Völker,  welche  an  den  Ufern  des 
schwarzen  Meeres  wohnten,  sich  beugend  vor  dem  mächtigen  römischen 
Kaiser,  in  die  katholische  Kirche,  die  Abasger,  Alanen,  Lazen,  Zah- 
nen, Her u  1er.  Wichtiger  sind  die  Fortschritte  der  Nestorianer.  Aus 
dem  römischen  Reiche  vertrieben,  suchten  und  fanden  sie  Schutz  in  Persien ; 
die  Lehrer  der  theologischen  Schule  von  Edessa  flüchteten  nach  diesem 
Lande;  es  erblühte  in  Nisibis  eine  neue  theologische  Schule,  im  sechsten 
Jahrhundert  die  einzige  in  der  Christenheit.  Vom  regen  Missionstriebe  er- 
füllt, verbreiteten  sie  sich  weithin  in  Asien;  in  Indien  sollen  sie  sich  mit 
älteren  Resten  des  Christenthums  in  diesem  Lande  verschmolzen  haben.  Im 
Jahre  636  sollen  sie  sogar  bis  nach  China  vorgedrungen  sein  und  daselbst 
christliche  Gemeinden  gestiftet  haben.  Die  Jesuiten  fanden  nämlich  im  Jahr 
1625  in  der  Nähe  von  Siganfu,  der  Hauptstadt  der  Provinz  Xensi  ein  chi'ist- 
liches  Denkmal  vom  Jahr  782,  theils  in  chinesischer,  theils  in  syrischer 
Sprache  abgefasst;  es  ist  ein  grosser,  bei  Grundlegung  einer  Mauer  ausge- 
grabener Stein ,  auf  welchem  oben  ein  Kreuz'  eingegraben  ist ;  darunter  folgt 
die  Inschrift,  welche  den  ganzen  Stein  einnimmt.  Die  Jesuiten  schrieben 
diese  Inschrift  ab,  übersetzten  sie  ins  Lateinische  und  schickten  sie  nach 
Europa.  Es  wird  darin  der  christliche  Glaube  dargelegt,  von  der  Gründung  der 
christhchen  Kirche  in  China  im  Jahr  636  geredet,  sowie  von  der  Begünstigung 
derselben  durch  den  Kaiser.  Beigefügt  sind  die  Namen  von  siebenzig  Män- 
nern ,  welche  von  636  bis  781  das  Evangelium  in  China  verkündigt  haben  *). 
Unter  den  Nestorianem  that  sich  früher  ein  bedeutender  Gelehrter  her- 
vor, der  Aegyptier  Kosmas,  zubenannt  Indikopleustes,  weil  er  auf 
seinen  Reisen  als  Kaufmann  nach  Indien  soll  gekonmien  sein.  Nach  Voll- 
endung seiner  Reisen  wurde  er  Mönch  und  schrieb  mehrere  Schriften,  wo- 
von erhalten  ist  die  c.  535  verfasste  ;cßf(rrrai/«xi/  to7toyQa(pta  navtog  xorr- 
/*oi;,  von  Montfaucon  in  der  CoUectio  nova  P.  P.  graec.  T.  II  herausgegeben ; 
der  Verfasser  wurde  als  Nestorianer  erwiesen  von  La  Croze,  histoire  du 
christianisme  des  Indes  1,  40.  Semler,  historiae  ecclesiasticae  capita  selecta 
1,  421  sieht  ihn  auch  als  Nestorianer  an,  was  daraus  hervorgeht,  dass  er 
öfter  sich  gegen  Eutyches  ausspricht,  aber  niemals  gegen  Nestorius.  So 
schätzt  er  auch  sehr  hoch  Theodor  von  Mopsuestia.  Der  theologische  Be- 
standtheil  seines  Werkes  ist  aus  Theodor  und  aus  Diodor  von  Tarsus  gezo- 
gen, und  enthält  manche  nützliche  Bemerkungen.  Semler  1.  c.  hat  geurtheilt, 
dass  für  die  Geschichte  des  griechischen  Textes  des  Neuen  Testamentes  aus 
dieser  Schrift  Vieles  geschöpft  werden  könne.    S.  auch  Schroekh,   16.  Band, 


1)  Gr.  ep.  4,  23-26. 

2)  S.  Mosheim  historia  ecclesiastica  Tartarorum.  Blumhard,  Missionsgeschichte 
3 ,  79.  Mosheim  und  Abel  Remusat  in  den  melanges  asiatiques  Tome  I  haben  die  Aecht- 
heit  dieses  Denkmals  anerkannt;  während  andere  Gelehrte,  namenthch  Neumann,  sie  ver- 
werfen, Neander  sie  bezweifelt. 


Störung  der  Ausbreitung  des  Christenthums  durch  Muhammed.  433 

S.  190,  und  der  theologische  Bestandtheil ,  der  zunächst  als  Nebensache 
erscheint,  ist  viel  wichtiger  als  der  Hauptinhalt,  der  allerlei  sonderbare 
Meinungen  enthält,  z.  B. ,  dass  die  Erde  nicht  eine  Kugel,  'sondern  platt  und 
ein  längliches  Viereck  sei. 

Unter  Justinian  fand  das  Christenthum  von  Aegypten  aus  in  Nubien 
Eingang;  es  bildete  sich  daselbst  ein  christliches  Reich  wie  in  Abessinien, 
die  Kirchen  beider  Reiche  erkannten  den  koptischen  Patriarchen  in  Alexan- 
drien  als  ihr  Oberhaupt  an  und  Messen  von  demselben  ihre  Bischöfe  weihen. 

Indess  auf  diese  Weise  das  Christenthum  sich  weiter  verbreitete,  erlitt 
es  von  anderer  Seite  grossen  Abbruch  durch  das  Auftreten  Muhammed's  ^ 
und  die  Eroberungen  der  Araber.  Die  rehgiöse  Gährung,  welche  durch  das 
Christenthum  in  der  Menschheit  hervorgebracht  worden,  hat  wohl  indirect 
dazu  beigetragen,  dass  sich  ein  ähnhcher  Gährungsprocess  unter  den  Ara- 
bern entwickelte.  Muhammed,  der  sich  ausserordentlicher  göttlicher  Oifen- 
barungen  rühmte,  trat  seit  611  unter  dem  arabischen  Volke  als  religiöser 
Reformator  auf,  und  lehrte,  dass' ein  einiger  Gott  sei  und  Muhammed  sein 
Prophet.  Anfangs  vom  eigenen  Volke  verfolgt,  im  Jahr  622  aus  Mekka 
vertrieben,  gelang  es  ihm,  sein  Volk  für  sich  zu  gewinnen  und  Arabien  sich 
zu  unterwerfen,  so  dass  es  ihm  als  Propheten  und  Fürsten  huldigte.  An- 
fangs gegen  andere  Religionen  tolerant,  machte  er  bald  den  Religionskrieg 
zur  Pflicht  und  lehrte,  dass  das  Paradies  unter  dem  Schatten  der  Schwerdter 
ruhe ;  denjenigen,  die  im  Glaubenskriege  ihre  Seele  aushauchten,  versprach  er 
die  höchsten  Freuden  des  sinnlich  ausgemalten  Paradieses.  Von  wildem  Erober- 
ungsgeiste beseelt,  von  Religionsfanatismus  durchglüht,  warfen  sich  die  arabi- 
schen Heereshaufen  zuerst  auf  die  zunächst  gelegenen  Provinzen  des  byzanti- 
nischen Reiches,  deren  Bewohner,  zum  Theil  von  der  kathohschen  Kirche  getrennt 
und  bedrückt,  die  Ai'aber  als  Befreier  aufnahmen  und  obwohl  nicht  gezwun- 
gen, so  doch  durch  irdische  Vortheile  angelockt,  zum  Theil  den  christlichen 
Glauben  aufgaben.  Schon  im  Jahr  639  war  die  Eroberung  von  Syrien  voll- 
endet. Im  folgenden  Jahre  erlag  Aegypten  den  Angriffen  der  Araber.  Im 
Jahr  651  begann  die  Herrschaft  des  Halbmondes  im  persischen  Reiche.  Seit 
707  gerieth  die  ganze  Nordküste  von  Afrika  unter  arabische  Herrschaft. 
Von  da  setzten  die  Moslemin  nach  Spanien  hinüber,  dessen  Eroberung  bis 
711  vollendet  war.  Constantinopel  selbst  wurde  mehrmals  von  ihnen  be- 
drängt, zweimal  lauge  belagert  (669—676,  717  und  718).  Das  Christenthum 
verlor  in  den  entrissenen  Provinzen  sehr  viele  seiner  Bekenuer;  es  ver- 
schwanden die  katholischen  Patriarchate  von  Antiochien,  Jerusalem  und 
Alexandrien.  Die  Geburtsstätten  des  Christenthums  fielen  in  die  Hände  der 
Anhänger  Muhammed's.  Es  ist  merkwürdig,  dass  das  Heidenthum  im  rö- 
mischen Reiche  kaum  ausgerottet  war,  als  dieser  neue  Feind  über  dasselbe 
herfiel.  Die  Gründung  der  arabischen  Herrschaft  war  übrigens  von  grosser 
Bedeutuim-  für  das  christliche  Europa,  wie  sich  das  in  späterer  Zeit  zeigte. 


1)  S.  den  Artikel  Muhammed  und  der  Islam  in  der  Realencyklopädie. 
Herzog,   Kirchengeschichte  I.  28 


434  Dritte  Periode  des  alten  'Katholioiainiia. 


Zweites  Capitel.    Geschichte  der  theologischen  Streitigkeiten. 

Die  Geschichte  der  Theologie  bewegte  sich  wieder  in  Streitigkeiten,  die 
sehr  heftig  wurden  und  allerlei  Leidenschaften  aufregten.  Sie  unterscheiden 
sich  aber  von  den  früheren  Streitigkeiten  in  doppelter  Hinsicht.  Es  wurde 
kein  eigentlich  neuer  Controverspunkt  behandelt;  der  Anthe^l  des  Staates 
war  viel  bedeutender  als  in  der  früheren  Periode.  Es  traten  die  Erschein- 
ungen hervor,  die  man  mit  dem  Namen  Byzantinismus  gebrandmarkt  hat. 

§.  1.    Der  monophysitische  Streit 

entstand  aus  einer  Reaction  gegen  die  Beschlüsse  von  Chalcedon,  w^elchen 
die  Theologen  der  alexandrinischen  Schule  fortwährend  abgeneigt  blieben. 
Man  nannte  sie  Monophysiten,  sie  ihre  Gegner  Nestorianer  oder 
Dyophysiten.  Es  entstanden  desshalb  in  Palästina  Volksaufstände;  in 
Alexandrien  und  Antiochien  standen  Gegenbischöfe  gegen  einander  auf.  In 
Antiochien  wurde  ein  Mönch  aus  Constantinopel ,  Peter  der  Walker 
(Petrus  fullo ,  o  r^atpevg) ,  ein  eifriger  Monophysite ,  auf  den  Patriarchen- 
stuhl erhoben.  Er  Hess  in  die  Messliturgie  die  Formel:  Gott  ist  gekreuzigt, 
aufnehmen,  und  wurde  deswegen  von  Kaiser  Zeno  abgesetzt  (470).  Allein 
der  Zwiespalt  wurde  damit  nicht  beseitigt.  Zeno  wurde  durch  den  Usur- 
pator Basiliscus  vertrieben  (476).  Dieser,  um  seine  Partei  durch  die  Mono- 
physiten zu  verstärken,  befahl  in  demselben  Jahre  den  Bischöfen,  die  Be- 
schlüsse von  Chalcedon  zu  verdammen,  welchem  Befehle  viele  Bischöfe  sich 
fügten.  Da  gelang  es  dem  vertriebenen  Zeno,  zum  Theil  durch  die  Hülfe 
des  Patriarchen  von  Constantinopel,  Acacius,  der  einen  Aufruhr  zu  dessen 
Gunsten  angestiftet  hatte,  sich  wieder  auf  den  Thron  zu  schwingen.  Allein 
die  Monophysiten  waren  noch  so  mächtig,  dass  er,  auf  den  Rath  des  Aca- 
cius, zwischen  ihnen  und  der  katholischen  Kirche  eine  Vermittlung  anzu- 
bahnen suchte  durch  sein  Henotikon  (482)  ^),  eine  an  die  Kirchen  des 
alexandrinischen  Patriarchates  gerichtete  Unionsformel.  Es  waren  darin  die 
Beschlüsse  von  Nicäa,  von  Constantinopel  (381),  als  gültig  anerkannt,  ebenso 
die  Anathematismen  Cyrills  gegen  Nestorius,  über  diesen  so  wie  über  Euty- 
ches  der  Stab  gebrochen,  mit  Uebergehung  der  streitigen  Benennung  ^Natur'^ 
gelehrt,  dass  Christus  nach  der  Gottheit  gleichen  Wesens  mit  dem  Vater, 
nach  der  Menschheit  gleichen  Wesens  mit  uns  sei,  dass  Christus  einer  sei 
und  nicht  zwei ;  denn  dem  einen  kommen  die  Wunder  und  die  Leiden  zu  2). 
W^elche  aber  anders  denken,  sei  es  jetzt  oder  ehemals,  sei  es  in  Chalcedon 
oder  auf  irgend  einer  anderen  Synode,  über  die  wurde  das  Anathema  ge- 
fällt; das  erste  Beispiel  eines  von  einem  Kaiser  erlassenen  Glaubensedictes. 
Die  Patriarchen  von  Constantinopel  und  Alexandrien  unterzeichneten  zum 
grossen  Aerger  ihrer  Gemeinden  dasselbe;  andere  Bischöfe,  die  sich  dessen 
weigerten,  wurden  abgesetzt.     Der  so  entstandene  neue  Zwiespalt  steigerte 


1)  Bei  Evagrius  3,  U. 

2)  ft^o^  yrro  ftvni   (fnf^fv  rrt  Tf   (^rrviirtTn  xnt   rn   naS^ij' 


Der  raonophysitische  Streit.  435 

sich,  als  der  römische  Bischof  FeUx  H.,  empört  über  die  Gemeinschaft  des 
Acacius  mit  den  Monophysiten ,  den  Bannfluch  über  letzteren  aussprach.  In 
Aegypten  trennten  sich  die  strengen  Monophysiten  von  ihrem  Patriarchen, 
der  das  Henotikon  angenommen.  In  anderen  Theilen  des  Morgenlandes  hielt 
das  Henotikon  den  Frieden  äusserlich  aufrecht.  Aber  Kaiser  Anasta%ius 
(491—518),  der  auf  diese  Weise  für  den  Frieden  zu  wirken  suchte,  starb 
von  beiden  Parteien  gehasst.  Sein  Nachfolger,  Justin  I.  (518-527)  entschied 
sich  gegen  die  Monophysiten;  nur  in  Aegypten  wagte  er  es  nicht,  sie  anzu- 
greifen. Sie  schwächten  sich,  indem  sie  sich  in  verschiedene  Parteien  spal- 
teten. Severus,  Patriarch  von  Antiochien,  behauptete,  dass  der  Leib 
Christi  etwas  Verwesliches  {tp^aqtov  ti)  gewesen  sei;  mit  ihm  stimmte 
überein  Theodosius,  Patriarch  von  Alexandrien  (Severiani,  Theodosiani, 
(p&aQToXatQai).  Julian,  Bischof  von  Halicarnass,  behauptete  das  Gegen- 
theil  (Julianistae,  a^&aQTodoxtjtai ,  phantasiastae) ,  von  jenen  ersten 
giengen  die  Agnoeten  oder  Themistiani  (nach  Themistius,  Diakon  in 
Alexandrien)  aus,  die  lehrten,  dass  Christi  menschhche  Seele  uns  in  allem, 
auch  im  Nichtwissen  gleich  gewesen  sei  (mit  Berufung  auf  Marc.  13,  32. 
Joh.  11,  34).  Die  Julianisten  trennten  sich  wieder  in  zwei  Parteien;  die 
einen  lehrten,  dass  das  Fleisch  Christi  vom  Augenblicke  seiner  Verbindung 
mit  dem  Logos  an  unerschaffen  gewesen;  sie  wurden  von  ihren  Gegnern 
axtiffTTitai  genannt;  diese  Gegner  wurden  von  ihnen  xtiffToXatgat  genannt. 
Um  das  Jahr  530  breitete  Johannes  Philoponus  unter  den  Monophy- 
siten seine  sonderbaren  Meinungen  über  die  Dreieinigkeit  aus  (Philoponiani, 
Tritheitae).  Patriarch  Damianus  von  Alexandrien  wurde  beschuldigt,  die 
Irrthümer  des  Sabellius  zu  erneuern.    Andere  Verzweigungen  übergehen  wir. 

Justinian  I.  (527 — 565)  war  im  Grunde  des  Herzens  den  Beschlüssen 
von  Chalcedou  zugethan.  Aber  seine  Gemahlin,  die  Kaiserin  Theodor a, 
war  den  Monophysiten  günstig  und  wirkte  in  diesem  Sinne  auf  den  Kaiser 
ein ;  auf  ihren  Antrieb  liess  er  Gespräche  zwischen  kathohschen  und  mono- 
physitischen  Bischöfen  anstellen.  Da  sie  den  gewünschten  Erfolg  nicht  hat- 
ten, liess  er  die  monophysitische  Formel:  Gott  ist  gekreuzigt,  für  recht- 
gläubig erklären.  Auch  diess  befriedigte  die  Monophysiten  nicht  und  erbit- 
terte die  Katholiken.  Die  Formel  galt  im  Abendlande  als  monophysitisch 
und  blieb  nur  bei  den  Katholiken  in  Syrien  übhch.  Der  Monophysitismus 
erlitt  neue  Niederlagen;  der  durch  den  Einfluss  der  Kaiserin  Theodora  zum 
Patriarchen  von  Constantinopel  erhobene  Anthimus  (536)  wurde  wiegen 
seines  Monophysitismus  in  demselben  Jahre  wieder  abgesetzt.  Vigilius, 
durch  die  Bänke  der  Kaiserin  Theodora  und  der  Gattin  des  siegreichen 
Feldherrn  Belisar,  Antonina,  zum  Bischof  von  Rom  erhoben  (538),  sass 
kaum  fest  in  seiner  neuen  Würde,  als  er  die  Bedingung,  unter  welcher  er 
sie  erhalten,  ausser  Acht  setzte  und  sich  im  Sinne  der  Beschlüsse  von  Chal- 
cedon  gegen  den  Kaiser  und  den  Patriarchen  Mennas  von  Constantinopel 
aussprach. 

Um  dieselbe  Zeit  wurden  die  origen istischen  Streitigkeiten  er- 
neuert. In  den  Klöstern  Palästina's  hatte  sich  eine  eifrige,  für  Origenes 
begeisterte  Partei  gebildet.  Durch  zwei  Aebte  aus  ihrer  Mitte,  Domitiau 
und  Thcodorus  Askidas  hatte  sie  sich  Einfluss  am  Hofe  verschafft;   sie 

28* 


436  i)ritte  Periode  des  alten  Katholioismua. 

hatten  die  Gunst  Justinian's  gewonnen,  indem  sie  ihren  Eifer  für  das  chal- 
cedonische  Concil  zur  Schau  trugen.  Justinian  machte  Domitian  zum  Bischof 
von  Ancyra,  Theodorus  von  Askidas  zum  Bischof  von  Cäsarea  in  Kappado- 
cien,  aber  beide  verweilten  meist  am  Hofe  und  arbeiteten  für  ihre  Partei  in 
Palästina.  Da  wurde  Justinian  gegen  die  Lehren  des  Origenes  bearbeitet. 
Er  befahl  dem  Mennas,  Patriarchen  in  Constantinopel ,  auf  einer  Synode  in 
Constatinopel  über  die  Irrthümer  des  grossen  Alexandriners  das  Anathema  aus- 
sprechen zu  lassen,  Mennas  gehorchte  (544),  die  Synode  entschied  nach  dem 
Willen  des  Kaisers,  selbst  Domitian  und  Theodorus  Askidas  beugten  sich 
unter  den  kaiserlichen  Willen.  Diese.  Sache  gab  Anlass  zu  einer  neuen 
Wendung  des  monophysitischen  Streites.  Durch  ihre  Nachgiebigkeit  hatten 
Domitian  und  Theodorus  Askidas  zwar  die  auf  ihren  Sturz  berechnete  Mass- 
regel vereitelt.  Allein  sie  fühlten  sich  in  ihrer  Stellung  nicht  sicher  und 
suchten  daher  die  Aufmerksamkeit  des  Kaisers  von  Origenes  abzuziehen, 
indem  sie  eine  andere  Bewegung  ins  Werk  setzten ,  welche  die  origenistische 
Streitigkeit  in  Vergessenheit  bringen  sollte.  Sie  überredeten  Justinian,  dass 
die  Verdammung  der  Häupter  der  antiochenischen  Schule  die  Monophysiten 
befriedigen  werde,  ohne  die  Anhänger  des  chalcedonischen  Concils  abzu- 
stossen;  es  waren  Theodor  von  Mopsuestia,  Lehrer  des  Nestorius,  Theo- 
doret  und  Ibas,  Bischof  von  Edessa,  in  Betreff  seines  Briefes  an  Maris, 
Bischof  von  Hardaschir  in  Persien.  Es  waren  Theodoret  und  Ibas  vom  Con- 
cil von  Chalcedon  zwar  für  rechtgläubig  erklärt  worden,  doch  verdammte 
Justinian  (544)  die  drei  Kapitel  (xecpalata),  wie  man  die  drei  Punkte  oder 
Artikel  nannte;  die  darüber  entstandene  Streitigkeit  erhielt  den  Namen 
Dreicapitelstreit.  In  derThat  wurde  dadurch  der  Streit  keinesweges  be- 
endet. Die  Monophysiten  blieben  nach  wie  vor  Gegner  der  Beschlüsse  von 
Chalcedon;  die  Katholischen,  besonders  im  Abendlande,  glaubten,  diese 
Beschlüsse  seien  durch  die  Verdammung  der  drei  Capitel  angetastet  worden. 
Um  der  Sache  ein  Ende  zu  machen,  berief  der  Kaiser  im  Jahr  553  nach 
Constantinopel  eine  neue  ökimienische  Synode,  die  fünfte,  welche  die  Ver- 
dammung der  drei  Capitel  bestätigte.  Vigilius,  der  eine  Zeitlaug  wider- 
standen, nahm  endlich  die  Beschlüsse  der  Synode  an  (554),  ebenso  sein 
Nachfolger  Pelagius  I.  (555).  Darob  entzweiten  sich  viele  abendländische 
Bischöfe  mit  Rom  sowohl  wie  mit  Constantinopel.  Unter  den  Geisthcheu, 
w^elche  im  Abendlande  gegen  die  Verdammung  der  drei  Capitel  schrieben, 
ragen  hervor  Fulgeutius  Ferrandus,  Diakon  in  Carthago,  f  551,  Fa- 
cundus,  Bischof  von  Hermiane.  Den  letzten  Versuch,  die  Monophysiten 
zu  gewinnen,  machte  Justinian,  indem  er  (560)  die  Lehre  von  der  Unver- 
weslichkeit des  Leibes  Christi  zum  Gesetz  erhob.  Schon  war  der  Patriarch 
Eutychius  von  Constantinopel  entsetzt  und  verbannt  worden,  schon  drohte 
dem  ehrwürdigen  Patriarchen  Anastasius  von  Antiochien  dasselbe  Schicksal, 
als  der  Tod  den  alten  Kaiser  ereilte  (565)  i)  und  damit  die  Sache  ein  Ende 
nahm.  Justinian  ist  ein  sprechender  Beweis ,  wie  bei  gutem  Willen ,  der 
aber  nicht  durch  Einsicht  geleitet  wird,  grosses  Unheil  angerichtet  werden 
kann.    Er  erstrebte  eine  Versöhnung   aller  Kirchenparteien    und    verhärtete 


1)  Evagrius  4,  38. 


Der  monotheletische  Streit. 


437 


sie;  doch  war  es  von  wesentlicher  Bedeutung,  dass  die  katholische  Kirche 
die  Beschlüsse  von  Chalcedon  aufrecht  hielt. 

Die  ägyptischen  Monophysiten  wollten  den  von  Justinian  (536)  er- 
nannten Patriarchen  von  Alexandrien  nicht  anerkennen;  sie  wählten  einen 
anderen;  das  sind  die  koptischen  Christen,  die  von  den  Arabern,  als  sie 
das  Land  erobert  hatten,  begünstigt  wurden.  Mit  ihnen  stand  in  Verbindung 
die  abessinische  Kirche.  Die. armenischen  Christen  verwarfen  auch  die 
chalcedonischen  Beschlüsse.  Eine  Synode  zu  Twin  sprach  sich  entschieden 
für  die  monophysitische  Lehre  aus.  In  Syrien  und  Mesopotamien  ordnete 
Jakob  Baradai  (541—578)  die  in  Auflösung  begriffenen  Monophysiten- 
gemeinden;  nach  ihm  wurden  die  syrischen  Monophysiten  Jakobiten  ge- 
nannt. —  Der  Monophysitismus  wurzelte  also  hauptsächlich  in  den  morgen- 
ländischen Gegenden  und  fand  seine  kräftigsten  Widersprecher  im  Abend- 
lande. Woher  das?  Der  morgenländische  Geist  hebt  es,  das  Menschhche 
im  Götthchen  aufgehen  zu  lassen;  der  abendländische  Geist  hält  mehr  das 
Menschliche  fest. 

§.  2.    Der  monotheletische  Streit 

ist  eine  Fortsetzung  des  monophysitischen.  Den  äusseren  Anlass  dazu  gab 
Kaiser  Heraclius  (611  —  641)  durch  einen  neuen  Versuch,  die  Monophy- 
siten zur  Kirche  zurückzuführen.  Auf  seinem  Feldzuge  gegen  die  Perser 
erfuhr  er  in  Syrien  und  Armenien  von  monophysitisch  gesinnten  Bischöfen, 
dass  diejenigen,  die  dieser  Richtung  zugethan  waren,  besonders  daran  An- 
stoss  nähmen,  dass  aus  der  kathohschen  Lehre  von  zwei  Naturen  auch  eine 
Zweizahl  von  Willen  in  Christo  gefolgert  würde.  Diese  Frage  war  unbe- 
greiflicherweise bis  dahin  gar  nicht  in  Anregung  gekommen.  Da  Sergius 
Patriarch  von  Constantinopel  sich  für  die  Lehre  von  Einem  Willen  erklärte, 
mit  Berufung  auf  Aussprüche  älterer  Kirchenlehrer,  so  betrat  nun  der  Kai- 
ser diesen  Weg,  in  der  Absicht,  die  Monophysiten  zu  gewinnen.  Er  ver- 
bot, fernerhin  zwei  Willen  in  Christo  zu  lehren,  und  es  gelang  so  dem 
Patriarchen  Cyrus  von  Alexandrien  einen  Theil  der  Severianer  in  Aegypten 
zur  Rückkehr  in  die  kathoUsche  Kirche  zu  bewegen  (633).  Auch  Pabst 
Honorius  erklärte  sich  für  dieselbe  Lehre  von  Einem  Willen  in  Christo 
in  zwei  Schreiben  an  Sergius.  Er  verwarf  den  Ausdruck  zwei  Energieen 
und  erklärte  den  Ausdruck:  Ein  Wille  für  den  richtigen;  er  liess  den  guten 
menschüchen  Willen,  weil  er  dem  göttlichen  sich  stets  conformirt,  in  diesen 
geradezu  übergehen.  Die  Opposition  dagegen  ging  aus  von  Sophronius, 
seit  634  Patriarchen  von  Jerusalem,  der  in  der  Lehre  von  Einem  Willen  Apol- 
linarismus  sah  und  sich  in  diesem  Sinne  in  einem  bei  Anlass  seines  Amts- 
antrittes erlassenen  Schreiben  {ev^qoviGxmtov)  ^)  aussprach.  So  entstand  in 
der  Kii'che  neue  Gährung  und  Bewegung.  Um  sie  zu  beschwichtigen,  er- 
liess  Heraklius  die  von  Sergius  verfasste  Ekthesis  (638),  worin  die  Lehre 
von  Einem  Willen,   d.  h.   einem  in  moralischer  Hinsicht  sich  nicht  wider- 


1)  Hefele  3,  138  führt  es  zugleich  als   evvoStxov   einer  in  Jerusalem   gegen  die 
Monotheleten  gehaltenen  Synode  an. 


438  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

sprechenden  Willen  so  vorgetragen  war,  dass  alle  göttliche  und  menschüche 
Energie  dem  einen  fleischgewordenen  Logos  zugesclirieben ,  und  die  Lehre 
von  zwei  Willen  oder  zwei  Energieen  ausdrücklich  verboten  war.  In  Rom 
hatte  die  Gegenpartei  seit  dem  Tode  des  Honorius  ihren  Hauptsitz.  Pabst 
Johannes  IV.  nahm  die  Ekthesis  nicht  an  und  Pabst  Theodor  sprach 
über  Paulus,  Patriarchen  von  Constantinopel,  als  der  monotheletischen  Lehre 
zugethau,  den  Bann  aus  (646),  worauf  Kaiser  Constans  IL  duixh  den  tv- 
Tiog  die  Bewegung  vergebens  zu  stillen  versuchte  (648).  Es  war  darin  kei- 
ner von  beiden  Lehrweisen  der  Vorzug  gegeben,  sondern  nur  Stillschweigen 
darüber  geboten.  Pabst  Martin  I.  sprach  auf  der  ersten  Lateransynode 
(649)  den  Bann  aus  über  die  Lehre  von  Einem  Willen  und  über  die  beiden 
darüber  erlassenen  kaiserhchen  Verordnungen;  darauf  wurde  er  abgesetzt 
und  musste  sein  Leben  im  Exil  beschüessen.  So  wurde  die  Kirchengemein- 
schaft zwischen  Rom  und  Constantinopel  auf  kurze  Zeit  wieder  hergestellt. 

Unter  Coust antin  Pogonatus  trat  die  alte  Trennung  wieder  ein. 
Um  ihr  ein  Ende  zu  machen,  versammelte  der  Kaiser  die  Bischöfe  des 
Reiches  zu  einem  neuen  allgemeinen  Concil  in  Constantinopel  (680),  worin 
der  Kaiser  in  eigener  Person  den  Vorsitz  führte.  Hier  wie  in  Chalcedon 
siegte  die  vom  römischen  Bischof  vertretene  Lehre.  Pabst  Agatho  hatte 
die  Lehre  von  zwei  Willen  vor  Abhaltung  der  Synode  in  einem  Schreiben 
an  den  Kaiser  entwickelt.  Er  nahm  seinen  Ausgang  von  den  zwei  Naturen 
in  Christo,  die  nicht  zwei  Personen  constituirten ,  sondern  Einen  Herrn  Je- 
sum  Christum.  Aus  dieser  Lehre  ergebe  sich  folgerecht  die  von  zwei  natür- 
lichen Willensvermögen  (nciturales  voluntates)  ^  wie  denn  der  Herr  an  eini- 
gen Stelleu  Menschliches,  an  anderen  Göttliches,  noch  an  anderen  beides 
zugleich  von  sich  kund  gebe.  Er  bittet  den  Vater,  dass  dieser  Kelch  an 
ilim  vorübergehe,  doch  nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe  Luc.  22,  42; 
Philipper  2,  8  heisst  es,  er  war  gehorsam  bis  zum  Tode;  Luc.  2,  51:  ge- 
horsam den  Eltern;  Joh.  6,  38  sagt  er:  ich  bin  vom  Himmel  gekommen, 
nicht  um  meinen  Willen  zu  thun,  sondern  den  Willen  meines  Vaters  im 
Himmel.  Darauf  folgen  Zeugnisse  der  Väter.  Auf  das  Zusammenwirken 
beider  Willensvermögen  geht  Agatho  nicht  ein  ^).  Diese  Lehre  bestätigte 
das  Concil  in  seinem  oqoq,  indem  zugleich  in  der  dreizehnten  Sitzung  das 
Anathema  über  die  Anstifter  und  Anhänger  der  monotheletischen  Lehre 
ausgesprochen  wurde.  ^Nebst  ihnen  soll,  das  ist  unser  gemeinsamer  Be- 
schluss,  aus  der  Kirche  ausgeschlossen  und  anathematisirt  werden  der  ehe- 
malige Pabst  Honorius  von  Altrom,  w^eil  wir  in  seinem  Briefe  an  Sergius 
landen,  dass  er  in  Allem  dessen  Ansicht  folgte  und  seine  gottlose  Lehre 
bestätigte.'-  Gleichlautende  Erklärungen  gab  dieselbe  Synode  in  späteren 
Sitzungen.  In  Form  eines  Antwortschreibens  an  den  Kaiser,  in  Schreiben 
an  die  spanischen  Bischöfe  gab  auch  Leo  IL,  der  682  dem  Agatho  nachge- 
folgt war,  die  Bestätigung  des  Anathema  des  Concils.  Das  Concihum  quini- 
sextum  vom  Jahr  692,  so  wie  sie  siebente  und  die  achte  allgemeine  Synode 
wiederholten  und  bestätigten  die  Beschlüsse  der  sechsten  Synode  und  na- 
mentlich  das  Anathema   über  Honorius.     Auch  in  dem  von   den  folgenden 


1)  Mansi  11,  233  s.  3. 


Der  monotheletische  Streit.  439 

Päbsten  bei  ihrer  Stuhlbesteiguug  abzulegenden  Glaubensbekenntniss  wur- 
den anathematisirt  die  Urheber  des  neuen  ketzerischen  Dogma  —  mit 
Honorius.  Nichts  ist  historisch  so  deutlich  erwiesen,  als  dass  Honorius  die 
Lehre  von  Einem  Willen  in  Christo  angenommen  und  desshalb  mit  dem 
Fluche  der  Kirche  belegt  worden.  Doch  schon  in  jener  Zeit  suchte  mau  ver- 
gebens Honorius  rein  zu  waschen,  durch  die  Annahme,  dass  er  gelehrt,  in 
Christo  seien  nicht  zwei  einander  streitende  Willensvermögen  gewesen.  Ba- 
ronius  ging  noch  weiter,  er  stellte  die  haltlose  Hypothese  auf,  dass  die  Acten 
des  sechsten  allgemeinen  Conciles  verfälscht  worden,  dass  an  Stelle  des 
Theodorus,  Patriarchen  von  Constantinopel  Honorius  gesetzt  worden.  Hefele 
meint,  Honorius  sei  im  Herzen  orthodox  gewesen  und  habe  nur  des  rechten 
Ausdruckes  verfehlt  i).  —  Mit  den  Beschlüssen  der  genannten  Synode  war 
dieser  christologische  Streit  beendet,  die  Lehre  von  Chalcedon  aufs  neue 
bestätigt.  Alles,  was  die  Beschlüsse  von  Chalcedon  Ungenügendes  bieten, 
haftet  auch  den  Beschlüssen  des  sechsten  allgemeinen  Concils  an,  wobei 
immerhin  das  Gute  anzuerkennen  ist,  dass  die  monophysitische  Anschauungs- 
weise in  Form  der  monotheletischen  aufs  neue  verworfen  wurde.  Doch 
gelangte  diese  Lehre  im  Jahr  711  durch  den  Usurpator  Philippicus  Bardanes 
wieder  zur  Herrschaft.  Er  versammelte  in  Constantinopel  ein  neues  Concil, 
welches  die  Beschlüsse  des  sechsten  verwarf  und  ein  monotheletisches  Sym- 
bol aufstellte.  Viele  orientahsche  Bischöfe  fügten  sich  unter  den  kaiserlichen 
Willen.  Unter  denjenigen,  die  widerstanden,  steht  in  erster  Linie  Rom. 
Das  monotheletische  Intermezzo  dauerte  nur  bis  713;  damals  wurde  Bardanes 
durch  einen  Mihtäraufstand  abgesetzt  und  ihm  die  Augen  ausgestochen. 
Anastasius  IL  wurde  zum  Kaiser  ausgerufen,  der  alsobald  seine  Anhäng- 
lichkeit an  die  orthodoxe  Lehre  in  einem  an  den  Pabst  gerichteten  Decret 
aussprach  und  damit  das  Zeichen  gab,  dass  die  zur  monotheletischen  Lehre 
abgefallenen  Bischöfe  sich  davon  wegwendeten ;  von  einer  Synode  in  Constan- 
tinopel 715  wurde  die  Lehre  von  zwei  Willen  aufs  neue  bestätigt  und  die 
entgegenstehende  aufs  neue  verworfen. 

Der  Monotheletismus  erhielt  sich  nur  unter  denMaroniten  und  zwar 
in  Fonn  einer  besonderen  kirchlichen  Gemeinschaft  (ecclesia  Maronitarum) ^ 
die  das  Libanongebirge  und  seine  Abhänge  und  Thäler  bewohnt.  Ursprünghch 
sind  es  Syrer,  was  noch  immer  daraus  hervorgeht,  dass  sie  von  Anfang  an 
bis  jetzt  die  Liturgie  in  syrischer  Sprache  haben,  welche  die  wenigsten  von 
ihnen  verstehen,  da  sie  arabisch  reden.  Der  Name  rührt  her  von  dem  Klo- 
ster des  heiligen  Maron  und  von  diesem  selbst,  der  wahrscheinHch  um  das 
Jahr  400  gelebt  hat  und  den  die  Maroniten  noch  jetzt  als  ihren  vorzüglich- 
sten Heiligen  verehren.  Verschieden  von  diesem  Maron  ist  Johannes 
Maron,  aus  Sii'um  bei  Antiochien  gebürtig,   unterrichtet  in  Antiochien,  im 


1)  Er  wollte  nach  Hefele  sagen,  dass  ein  unverdorbener  menschlicher  Wille  in 
Christo  war,  moralisch  geeinigt  mit  dem  göttlichen  Willen.  Daraus  folgerte  er,  dass  in 
Christo,  sowie  nur  eine  Person,  so  auch  nur  Ein  Wille  gewesen.  S.  Hefele  3,  137  ff. 
Dasselbe  sagt  Hefele  in  der  während  des  vaticanischen  Concils  geschriebenen  Brochure: 
Honorius  und  das  sechste  aUgemeine  Concil.  Tübingen  1870;  darin  geht  der  Verfasser 
Rttch  den  neuesten  Vertheidigern  des  Honorius  zu  Leibe. 


440  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

genaimteu  Kloster  und  in  Constantinopel,  darauf  Mönch  und  Priester,  in  jenem 
Kloster  übte  er  grossen  Einfluss  unter  den  Maroniten  aus,  sowohl  in  geist- 
lichen, als  in  weltlichen  Dingen.  Seitdem  sie  im  Jahre  1182  zur  römischen 
Kirche  übergetreten,  haben  maronitische  Schriftsteller  mit  römischen  gewett- 
eifert, um  den  Monotheletisnms  der  Maroniten  zu  läugnen;  sie  lassen  Johan- 
nes Maron  nach  Rom  reisen,  von  Houorius,  dem  Monotheleten,  der  weit  früher 
lebte,  zum  Patriarchen  erhoben  werden,  darauf  den  ganzen  Libanon,  Mo- 
nophysiten  und  Monotheleten  zum  römischen  Glauben  bekehren.  Dagegen 
sind  nach  den  besten  neuen  Forschungen  die  Maroniten  bis  1182  durchaus 
der  monotheletischen  Lehre  ergeben  gewesen  i). 

j:^.  3.    Augustinische  und  semipelagianische  Streitigkeiten. 

Sie  gehören  ausschliesshch  dem  lateinischen  Abenlande  an  und  haben 
insofern  ein  weit  besseres  Gepräge,  als  die  bis  jetzt  behandelten  Streitigkei- 
ten, w^eil  >sich,  was  die  morgenländische  Kirche  betrifft,  die  Einmischung 
des  Staates  und  die  Abhängigkeit  der  Kirche  von  der  kaiseriichen  Willkür 
auf  die  grellste  Weise  zeigte,  aber  nichts  von  alle  dem  in  den  genannten 
abendländischen  Känii)fen.  Zunächst  wurde  in  Gallien  der  Semipelagianismus 
herrschend  und  durch  die  Synoden  von  Arles  und  Lyon  475  bestätigt.  Er 
hatte  eine  wesentliche  neue  Stütze  erhalten  in  der  Person  des  Faustus, 
des  früheren  Abtes  des  Klosters  auf  der  Insel  Lerinum,  nachherigen  Bischofs 
von  Riez  in  der  Provence,  f  c.  490  unter  burgundischer  HeiTschaft,  der 
seinen  Lehrbegriflf  hauptsächlich  in  der  Schrift  de  gratia  Dei  et  hiDna- 
nae  7nentis  lihero  arhitrio  entwickelte,  eine  Zusammenfassung  dessen, 
was  er  in  seinen  übrigen  Schriften  lehrte.  Die  Schrift  ist  entstanden  aus 
dem  Auftrag  der  Synode  von  Arles  475,  ihre  Verhandlungen  schriftlich  dar- 
zulegen. Die  Synode  von  Lyon  ersuchte  Faustus,  noch  einige  Zusätze  zu 
seinem  Lehrbegriffe  zu  machen;  dieses  Auftrages  entledigte  er  sich  in  der 
professio  fidei.  Dass  er  den  sehr  achtungswerthen  Presbyter  Lucidus  zum 
öffentlichen  Widerrufe  der  augustinischen  Lehre  bewog,  musste  die  von  ihm 
vertretene  Lehre  nicht  wenig  fördern.  —  Was  den  Inhalt  derselben  betrifft, 
so  ist  der  Hauptmangel,  an  dem  sie  leidet,  in  der  Unbestimmtheit  des  Be- 
griffes der  Gnade  zu  suchen.  Er  dachte  sich  unter  der  Gnade  keine  über- 
natürliche Einwirkung  Gottes  auf  den  Menschen,  wodurch  sein  Verstand 
erleuchtet  und  sein  Wille  die  Kraft  zum  Guten  bekommt,  —  also  keine  ad- 
7ninistratio  Spiritus  sancti^  sondern  nur  eine  Anregung  der  dem  Menschen 
inwohnenden  sitthchen  Kraft  (vermittelst  Belehrung ,  Ennahnung,  Drohung). 
Auf  das  schärfste  wird  die  absolute  Prädestination  verworfen.  ^ Anathema 
über  diejenigen,  welche  sagen,  dass  Christus  nicht  für  alle  Menschen  gestorben 
sei.^  Mehrere  Schriftsteller,  in  Gallien  vertraten  diese  Lehrweise  und  ver- 
w^arfen  dii^ect  die  augustinische,  Arn  ob  ins  der  jüngere,  der  Verfasser  der 
Schrift:  Praedestinatus  (c.  460),  Gennadius,  Presbyter  in  Marseille 
(t  nach  495),   welcher  letztere  in  seiner  Schrift  de  scriptoribus  ecclesiasticis 


1)  S.  den  Artikel  von  Rödiger  über  die  Maroniten  In  der  Realencyklopädie  Bd.  X. 
S.  176. 


Augustinische  und  semipelagianisclie  Streitigkeiten.  44| 

dem  Augustin  Vielschreiberei  vorwirft  und  auf  ihn  den  salomonischen  Spruch 
anwendet:  in  multiloqiiio  non  effugies  peccatum.  Gewöhnlich  aber  wurde 
die  verhasste  Lehre  von  der  absoluten  Prädestination  nicht  auf  den  verehr- 
ten Augustin  zurück.o-eführt,  den  der  Verfasser  des  Praedestmatus  als  voll- 
kommen orthodox  erklärte,  sondern  seinen  Anhängern,  den  sogenannten 
Prädestinatianern  zugeschrieben.  Eine  eigene  Sekte  der  Prädestinatianer  gab 
es  jedoch  nicht,  wie  denn  überhaupt  diese  Streitigkeiten  nicht  in  Bildung 
abgesonderter  Kirchengemeinschaften  ausliefen. 

Von  Bedeutung  war  es,  dass  Rom  durchaus  am  Augustinismus  fest- 
hielt, seitdem  Zosimus  in  der  epistola  tractoria  den  Pelagianismus  verwor- 
fen hatte.  Auch  der  semipelagianische  Lehrbegriff  wurde  auf  einer  römischen 
Synode  c.  496  von  Gelasius  verworfen.  Es  geschah  diess  in  Form  eines  von 
Gelasius  verfassten  und  von  der  Synode ,  woran  zweiundsiebenzig  Bischöfe 
Theil  nahmen,  gebilligten  Decrets  de  libris  recipiendis  et  7ion  reci- 
piendis.  Es  werden  darin  die  Schriften  des  Augustin  und  des  Prosper 
als  von  der  Kirche  recipirte  Schriften  aufgeführt,  dagegen  die  Schriften 
des  Cassian  und  des  Faustus  zu  den  Apokryphen  gezählt,  d.  h.  zu  solchen 
Schriften,  welche  zu  lesen  rechtgläubigen  Christen  verboten  ist.  Der  Semi- 
pelagianismus  hatte  auch  in  Gallien,  ungeachtet  der  grossen  Autorität  des 
Faustus,  dessen  Schriften  in  diesem  Lande  sehr  viel  gelesen  wurden,  nicht 
völlig  die  Oberhand  gewonnen.  An  der  Spitze  der  augustinisch ,  gesinnten 
Bischöfe  Galliens  standen  zwei  Männer,  Avitus,  490  als  Erzbischof  vonVienne 
gestorben,  der  gegen  des  Faustus  Lehre  vom  freien  Willen  schrieb,  Cäsa- 
rius  von  502  bis  542  Bischof  von  Arles,  der  in  einem  verloren  gegangenen, 
von  Gelasius  erwähnten  Buche  de  gratia  et  lihero  arbitrio  die  Lehre 
vortrug,  dass  der  Mensch  aus  eigener  Kraft  ohne  die  zuvorkommende  Gnade 
Gottes  nichts  Gutes  thun  könne.  Vorzüghch  aber  ragte  hervor  «als  Anhänger 
Augustins  Fulgentius,  Bischof  von  Kuspe  in  der  Provinz  Byzacene  in 
Afrika,  t  533,  der  in  mehreren  Schriften  die  Lehrweise  des  Bischofs  von 
Hippo  vortrug.  Er  läugnete  mit  Becht,  dass  Augustin  eine  doppelte  Präde- 
stination, die  eine  zur  Seligkeit,  die  andere  zur  Verdammniss  lehre.  Er 
lehrte,  dass  die  Prädestination  der  Bösen  eine  Prädestination  zur  Bestrafung, 
und  dass  sie  von  der  eigenen  Schuld  des  Menschen  abhängig  sei.  So  wie  in 
Fulgentius  eine  Neigung  sich  kund  gibt,  die  Härten  der  augustinischen  Lehre 
zu  mildern,  so  trat  dieses  Streben  noch  bestimmter  hervor  in  den  folgenden 
Verhandlungen,  besonders  in  den  Beschlüssen  der  zweiten  Synode  von  Orange 
529,  unter  def  Leitung  des  Cäsarius  von  Arles  zu  Stande  gekommen.  Die 
Beschlüsse  sind  unterschrieben  von  vierundzwanzig  Bischöfen  und  acht  vor- 
nehmen Laien,  die  man  zur  Synode  eingeladen,  weil  die  semipelagianische 
Denkweise  auch  unter  den  Laien  sich  Anhänger  verschafft  hatte.  In  den 
genannten  Beschlüssen  waren  zwar  die  anthropologischen  und  die  soteriolo- 
gischen  Sätze  Augustin's  bestätigt  aber  nicht  diejenigen,  betreffend  die  abso- 
lute Prädestination.  Aecht  augustinisch  ist  z.  B.  der  dritte  Beschluss :  ^^wenn 
Jemand  sagt,  dass  die  Gnade  Gottes  auf  die  Anrufung  des  Menschen  ertheilt 
werden  könne,  nicht  aber,  dass  die  Gnade  selbst  es  hervorbringe,  dass  er 
von  uns  angerufen  werde,  der  widerspricht  dem  Propheten  Jesaias  oder  dem 
Apostel,   der  dasselbe  sagt:    inventus  sum  a  non   quaerentibus  me^ 


442  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

yalam  apparui  his^  qui  me  non  interrogabant^  ij  —  ebenso:  ;,wenü 
Jemaud  behauptet,  dass  Gott  unseren  Willen  erwarte,  damit  wir  von  der 
Sünde  gereinigt  werden,  nicht  aber  bekennt,  dass  es  durch  die  Eingiessung 
und  Einwirkung  des  heihgen  Geistes  auf  uns  geschieht,  dass  wir  gereinigt 
sein  w^ollen,  der  widersteht  dem  heiligen  Geist,  welcher  durch  Salomo  sagt: 
praeparatur  voluntas  a  Domino.'^  Demgemäss  wird  in  anderen  Sätzen 
der  Anfang  des  Glaubens  auf  ein  Geschenk  der  Gnade  zurückgeführt;  bei 
alledem  werden  aber  die  semipelagianischen  Lehren  nicht  namentlich  ver- 
worfen. Cäsarius  erhielt  Anfeindungen  wegen  des  von  ihm  aufgestellten 
LehrbegriÖ'es.  Daher  versammelte  er  noch  in  demselben  Jahre  eine  Synode 
in  Valence,  um  durch  zahh'eiche  Stimmen  der  Lehi'e  Augustin's  den  Sieg 
zu  verschalfen.  Cäsarius  wui'de  durch  Krankheit  abgehalten,  der  Synode 
beizuwohnen,  an  seiner  Stelle  präsidirte  Bischof  Cyprian  von  Toulon.  Die 
Acten  der  Synode  sind  nicht  mehr  vorhanden;  so\iel  ist  aber  gewiss,  dass 
sie  die  Beschlüsse  von  Arles  bestätigte.  Cäsarius  ersuchte  nun  Pabst  Fe- 
lix IV.,  diesen  Lehrbegriff  zu  bestätigen;  da  dieser  unterdessen  gestorben, 
so  that  es  sein  Nachfolger  Bonifacius  IL  Dieser  gemilderte  Augustinismus 
lindet  sich  auch  bei  Gregor  L  Er  beherrschte  noch  eine  Zeitlang  die  Theo- 
logie, bis  er  von  der  pelagianischen  Richtung  im  Mönchthum  und  kirchlichen 
Werken  überwuchert  wui'de. 


Drittes   CapiteL     Anbau  der  theologischen  Wissenschaften  und  der 
Wissenschaften  überhaupt  2), 

Es  kamen  äussere  und  innere  Verhältnisse  der  Kirche  zusammen,  um 
diesen  Anbau  aufzuhalten;  die  grossen  Umwälzungen  und  Kriege,  besonders 
im  Abendlaude,  die  unter  vielen  Mönchen  herrschende  Verachtung  der  welt- 
Uchen  Wissenschaften  nicht  nur,  sondern  auch  der  theologischen  Wissen- 
schaften wirkten  ungünstig.  Die  theologischen  Streitigkeiten  konnten  aller- 
dings die  theologische  Thätigkeit  beleben  und  haben  es  auch  wenigstens  im 
Abendlande  gethan,  wie  die  vorstehende  Darstellung  es  beweist.  Auf  der 
anderen  Seite  verengte  sich  besonders  unter  den  christologischen  Streitig- 
keiten der  Begriff  der  Orthodoxie  so  sehr,  dass  sogar  die  Werke  des  Ter- 
tulüan,  des  Lactanz,  des  Clemens  von  Alexandrien,  des  Arnobius  zu  den 
apokrypliischen  Schriften  gerechnet  wiu'den.  Diess  geht  hervor  aus  dem 
oben  angeführten  decretum  de  libris  recipiendis  et  non  recipiendis^  welches 
mit  Wahrscheinlichkeit  einer  römischen  Synode  unter  Gelasius  (496)  beige- 
legt wird.  Man  fing  an,  sich  sorgfaltig  vor  Neuerungen  zu  hüten  und  sich 
hauptsächlich  aus  der  Quelle  der  älteren  Lehrer,  unter  denen  auch  eine 
Auswahl  getroffen  wurde,  zu  sättigen.  Was  die  Bibelerklärung  betrifft,  be- 
gann man  die  sogenannten  Cateneu,  Sammlungen  von  Erklärungen  der 
älteren  Exegeten  zu  verfertigen.  Im  Morgenlande  wurde  der  Anfang  dazu 
durch  Procopius  Gazaeus  um  520,  im  Abendlande  durch  Prima sius, 
Bischof  von  Adrumetum  um  550  gemacht. 


1)  Jesaia  65,  1.     Römerbrief  10,  20. 

2)  Bahr  uud  Ebert  a.  a.  0. 


Anbau  der  theologischen  Wissenschaften.  443 

In   diesen  Geleisen   bewegt   sich    die    schriftstellerische  Thätigkeit   des 
Magnus  Aureliiis  Cassiodorusi),  die  übrigens,  so  wenig  sie  auf  den  Ruhm 
der  Originalität  Anspruch  machen  kann,   für  ihre  Zeit  bedeutend  war  und 
sehr  wohlthätige  Anregung   gab.      Er    verdient    um   so   mehr  Anerkennung, 
als  er  zugleich  Staatsmann  und  wohl  der  letzte  römische  Staatsmann  zu  nen- 
nen war,  sich  auch  in  dieser  Beziehung  grosse  Verdienste  erwarb  und,  'obwohl 
selbst  nicht  Geistlicher  noch  Theologe  von  Beruf,  doch  auf  dem  Gebiete  der 
Theologie  sehr  thätig  war.    Er  war  es,  der  das  Studium  überhaupt  und  das 
theologische   Studium  insbesondere  in  das   abendländische  Mönchthum   ein- 
führte.    Das  hohe  Ziel ,    das   er  verfolgte ,   war,   die  Klöster  zu  Asylen  der 
Wissenschaft  zu  machen,   worin   die   classische  und  die  christliche  Literatur 
gesammelt  würden  (Ebert  a.  a.  0.).    Geboren  um  das  Jahr  477  zu  Scyllacium, 
einem  angenehm  gelegenen  Städtchen  in  Bruttien,   gehörte   er  einer   altrö- 
mischen Familie  an.     Sein  Grossvater  hatte  440  Sicilien  und  Bruttien  gegen 
den  Vandalen   Geiserich    vertheidigt   und  nachmals  verwaltet.     Sein  Vater 
hatte    sich    in   Staatsdiensten    hervorgethan.     Der   Sohn  muss    einen   sehr 
guten  Jugendunterricht  genossen  haben,    denn   er   vereinigte   in  sich,    sagt 
Manso,  alle  göttliche  und  menschliche  Weisheit,  die  damals  umhef.    Als  er 
herangewachsen,    waren    die   weströmischen  Cäsaren   verdrängt,    das   west- 
römische Reich  in  fremder  Hand.    Odoacer,  König  der  Heruler,  hatte  sich 
zum  Herrscher  Italiens  erhoben.    Zum  Glück   für  die  Besiegten  erschien  es 
den  deutschen  Eroberern  bequemer  und  gerathener,   die  alten  Staatsformen 
beizubehalten  und  für  die  Leitung  des  Ganzen  Eingeborene  zu  wählen,  die  sich 
ihnen  durch  Kenntniss  der  Verfassung  und  durch  Gewissenhaftigkeit  in  der 
Verwaltung  empfahlen.    So  kam   es,   dass  Cassiodor  schon  unter  Odoacer  in 
den  öffentlichen  Geschäftskreis   eintrat.      Diese  Laufbahn    wurde   durch   die 
Besiegung  Odoacer's  nicht  unterbrochen.     Er  empfahl  sich  dem  neuen  Herr- 
scher, The  oder  ich,    dadurch,   dass  er,   man  weiss  nicht,   ob  in  ausdrück- 
lichem Auftrage  oder  aus  freiem  Antriebe   sich    nach  SiciUen  begab  und  die 
dem  neuen  Herrscher  abgeneigten  Gemüther    ohne  Gewalt,    durch   beredte 
Vorstellungen  gewann.    Dadurch  erwarb  er  sich  das  volle  Zutrauen  des  Für- 
sten, von  dem  das  Wohl  und  Wehe  Italiens  abhing,  und  erhielt  hohe  Staats- 
ämter.   So  lange  Theoderich  lebte,  war  er  sein  Geheimschreiber,  oder  rich- 
tiger gesagt,   sein   erster  Minister.     Wenige  Anordnungen  des  Königs   sind 
ohne  ihn,   die  meisten  mit  und  durch  ihn  erlassen  worden;   die  wichtigsten 
Verfügungen  sind  aus  seiner  Feder  geflossen;  er  war  die  vorzüglichste  Stütze 
des  ostgothisshen  Reiches   und  von  unverkennbarem  Einfluss  auf  alle  Zweige 
der  Verwaltung.     Mit  dem  Tode  Theoderich's  526  hörte  der  blühende  Zu- 
stand des  Reiches  auf;   Cassiodor  fuhr  zwar  fort,  den  Nachfolgern  des  ver- 
storbenen Königs  Dienste  zu  leisten,   konnte  aber  den  Verfall  des  sich  dem 
Untergange  nähernden  ostgothischen  Reiches  nicht  aufhalten.     Das  Unglück 
der  Zeit,  sein   sechzigjähiiges  Alter  brachte  ihn  540  zu  dem  Entschlüsse, 
seine  Aemter  niederzulegen  und  sich  in  die  klösterUche  Stille  zurückzu- 
ziehen. 


1)  S.  ausser  Bahr  und  Ebert  Manso,  Geschichte  des  ostgothischen  Reiches  in  Ita- 
lien. 1824. 's.  85  ff.    ßitter,  Geschichte  der  christlichen  Philosophie  2,  598. 


444  Dritte  Periode  des  alten  iCatliolicismus. 

Von  seiner  mehr  als  vierzi^ährigeu  politischen  Laufbahn  hat  er  ein 
schönes  Denkmal  hinterlassen  in  der  Sammlung  von  Schreiben  und  Verord- 
nungen, die  er  im  Namen  der  ostgothischen  Könige  erlassen  hatte.  Man 
lernt  daraus  diese  Könige,  die  Arianer  waren,  von  voitheilhafter  Seite  ken- 
nen. So  sagte  Theoderich  bei  Anlass  einer  kleinen  Vergünstigung,  die  er 
den  Juden  ertheilte:  ^^wir  können  die  Religion  nicht  befehlen,  weil  Niemand 
gezwungen  werden  kann ,  wider  seinen  Willen  zu  glauben^  i).  Noch  treffen- 
der lässt  er  den  König  Theodat  an  Kaiser  Justinian  schreiben:  ^da  die 
Gottheit  mehrere  Religionen  duldet,  so  unterstehen  wir  uns  nicht,  den  Un- 
terthanen  eine  einzige  aufzuerlegen.  Denn  wir  erinnern  uns  wohl  gelesen 
zu  haben,  dass  man  dem  Herrn  freiwillig,  nicht  auf  irgend  einen  zwingen- 
den Befehl  opfern  müsse.  Wer  anders  zu  handeln  versucht,  übertritt  offen- 
bar die  himmlischen  Gebote;^  —  wie  denn  die  arianischen  Herrscher  der 
Ostgothen  gegen  die  kathoUschen  Bewohner  des  Landes  äusserst  duldsam 
sich  zeigten.  Schon  in  den  früheren  Jahren  seines  Lebens  schrieb  Cassiodor 
auf  Befehl  Theoderich's  ein  Jalu'buch  (Chronikon)  der  Weltgeschichte  bis 
zum  Jahr  519,  eine  zu  compendiöse  Schrift,  als  dass  sie  Bedeutung  für  uns 
haben  könnte.  Wichtiger  würde  seine  Geschichte  der  Gothen  (de  rebus  ge- 
stis  Gothorum  lihri  XII)  sein,  welche  König  Athalarich  in  einem  Schrei- 
ben an  den  römischen  Senat  wegen  ihrer  genauen  Untersuchungen  bis  auf 
die  älteste  Zeit  sehr  rühmte;  sie  ist  leider  verloren;  Jornandes  hat  einen 
Auszug  daraus  gemacht  in  der  Schrift  de  Getarum  sive  Gothorum 
origine  et  rebus  gestis. 

In  der  Schrift  de  anima,  die  er  auf  Ersuchen  einiger  Freunde  ver- 
fasste,  gibt  sich  schon  ein  asketischer  Zug  kund,  neben  dem  Bestreben, 
einen  würdigen  Begriff  von  der  menschlichen  Seele  aufzustellen,  an  ihre  er- 
habene Bestinmmng  zu  erinnern,  aber  auch  zugleich  den  Unterschied  zwi- 
schen Schöpfer  und  Geschöpf  nicht  ausser  Acht  zu  lassen.  Um  540  riss 
er  sich  nun  von  allen  seinen  bisherigen  Aemtern  los,  kurz  bevor  Ravenna 
und  König  Vitiges  in  die  Hände  der  Römer  fielen.  Er  hatte  bereits  seit 
einiger  Zeit  in  der  Nähe  seiner  Vaterstadt  ein  Kloster  Cmonasterium  Viva- 
riense)  bauen  lassen,  fast  luxuriös  ausgestattet  mit  Gärten,  Canälen,  Fisch- 
behältern und  Bädern,  Sonnen-  und  Wasseruhren;  eine  besondere  Zierde, 
zugleich  sehr  wohlthätig  anregend  war  die  zahlreiche  Bibliothek.  Das  Klo- 
ster war  in  zwei  Abtheilungen  angelegt.  Auf  dem  angrenzenden  Berge  gab 
es  kleine  Einsiedeleien,  in  welche  sich  diejenigen  Mönche,  die  sich  stark 
genug  fühlten ,  einschhessen  konnten.  In  dieses  Kloster  zog  sich  der  bereits 
mehr  als  sechzigjährige  Mann  zui'ück,  doch  ohne  je  die  Stelle  eines  Abtes 
darin  zu  bekleiden,  sondern  er  führte  die  Oberaufsicht  über  das  Kloster  und 
lebte  so  zienüich  als  ein  Mönch.  Dass  er  aber  die  Regel  Benedict's  in  sein 
Kloster  eingeführt,  diese  von  den  Benedictinem  aufgestellte  Behauptung  ist 
von  katholischen  Schriftstellern  selbst  widerlegt  worden. 

Er  munterte  seine  Mönche  nicht  nui'  überhaupt  zum  Studiren  auf, 
sondern  bewies  ihnen  auch  durch  das  Beispiel  berühmter  Kirchenlehrer,  dass 


1)  Keligionem  imperare  non  possumns ,  qnia  nemo  cogitur,  ut  credat  invitus.     Eine 
Reminiscenz  aus  der  ^uten  alten  Zeit  der  Kirche  S.  74, 


Anbau  der  theologischen  Wissenschaften.  445 

es  erlaubt  und  nützlich  sei  zum  Verständniss  der  heiligen  Schrift,  sich  mit  der 
heidnischen  Gelehrsamkeit  zu  beschäftigen.  Er  trug  den  Mönchen  auf,  Ab- 
schriften von  Büchern  zu  machen,  ertheilte  ihnen  dazu  die  sorgfältigste  An- 
weisung, besonders  über  die  Rechtschreibung.  Er  zog  gute  Buchbinder  in 
das  Kloster,  und  entwarf  selbst  die  Bilder,  womit  die  'Bände  geziert  werden 
sollten,  so  wie  er  auch  beständig  brennende  Nachtlampen  für  die  studiren- 
den  Mönche  erfand.  —  Die  Mönche  sollten  aber  vor  allen  Dingen  die  Bibel 
fleissig  lesen ,  die  besten  Ausleger  vergleichen ,  die  verdächtigen  meiden  und 
vorzüglich  auf  den  sittlichen  Unterricht,  der  unter  der  einfachsten  Erzählung 
verborgen  liege,  aufmerken.  Auf  das  Abschreiben  der  Bibel  legte  er  be- 
sonderen Werth :  „der  Satan  empfängt  so  viele  Wunden,  als  der  Copist  Worte 
des  Herrn  abschreibt.^ 

Cassiodor  schrieb  selbst  mehrere  Bücher  für  seine  Mönche,  zuerst  eine 
expositio  in  psalmos  seu  Commenta  Psalterii,  aus  den  Commen- 
taren  Augustin's  ausgezogen,  mit  Benutzung  der  Commentare  des  Hilarius, 
Ambrosius,  Hieronymus  u.  A.,  viele  mystisch -dogmatische  Deutungen  ent- 
haltend. Die  expositio  in  Cantica  Canticorum^  in  demselben  Geiste 
verfasst,  ist  erwiesen  unächt.  Von  besonderer  Bedeutung  und  Wichtigkeit 
ist  die  Schrift  de  institutione  divinarum  literarum,  —  als  Anleitung 
zum  Lesen  und  zum  Verständniss  der  heiligen  Schrift.  Dabei  durchgeht  er 
der  Reihe  nach  die  einzelnen  Schriften  der  Bibel,  und  gibt  die  namhaftesten 
Ausleger  an;  dazu  kommen  Schilderungen  ausgezeichneter  Kirchenlehrer, 
Anweisungen  für  das  Leben  der  Mönche  und  über  die  dem  Geistlichen  noth- 
wendigen  weltlichen  Kenntnisse.  ^^Es  lässt  sich  nicht  läugnen,  sagt  Bahr,  dass 
diese  Schrift,  die  sich  auch  durch  einen  minder  schwulstigen  Vortrag  und  einen 
einfachen  Stil  vor  den  übrigen  Schriften  Cassiodor's  empfiehlt,  zu  den  nütz- 
lichsten und  einfiussreichsten  Schriften  jenes  Zeitalters  gehört  und  sowohl 
wegen  der  acht  christlichen  Gesinnung,  die  sich  darin  ausspricht,  als  wegen 
des  ausgebreiteten  Wissens  Cassiodor's  und  seiner  Sorge  für  die  Erhaltung 
wissenschaftlichen  Sinnes  besondere  Beachtung  verdient.  Sie  hat  daher  einen 
dauernden  Einfluss  das  ganze  Mittelalter  hindurch  ausgeübt,  dessen  Schul- 
wissenschaft im  Ganzen  keine  andere,  als  eben  die  von  Cassiodor  in  dieser 
Schrift  behandelte  und  empfohlene  ist.''  Als  Fortsetzung  dieser  Schrift 
wollte  er  die  de  artibus  ac  disciplinis  liberalium  literarum  an- 
gesehen wissen.  Er  handelt  darin  in  sieben  Abschnitten  von  der  Grammatik, 
Rhetorik,  Dialektik,  Arithmetik,  Musik,  Geometrie,  Astronomie.  Noch  in 
seinem  dreiundneunzigsten  Jahre  schrieb  er  für  seine  Mönche  ein  Buch  de 
orthographia,  Auszug  aus  zwölf  römischen  Schriftstellern,  welche  den- 
selben Gegenstand  bearbeitet  haben.  Von  den  Uebersetzungen  griechischer 
Schriftsteller,  die  er  für  seine  Mönche  machte,  ist  diejenige  übrig  geblieben, 
welche  sein  Freund  Epiphanius,  ein  Sachwalter,  von  den  drei  Kirchenge- 
schichten des  Sokrates,  Sozomenus  und  Theodoret  verfasst  hat.  Er  bear- 
beitete sie  auszugsweise  zu  Einem  Werke.  Dieser  Auszug,  nebst  der  Ueber- 
setzung  und  Fortsetzung  der  Kirchengeschichte  des  Euseb  von  Rufinus,  unter 
dem  Titel  historia  tripartita  war  im  Mittelalter  das  gewöhnliche 
Handbuch  der  abendländischen  Geistlichen  für  die  alte  Kirchengeschichte.  — 
Derselbe  Cassiodor  sah  mit  Schmerz,    dass   während   die  weltlichen  Wissen- 


446  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns. 

Schäften  noch  immer  eifrig  betrieben  und  in  verschiedenen  Schulen  die 
Philosophie,  Arzneiwissenschaft,  die  Beredtsamkeit ,  die  Rechtswissenschaft 
gelehrt  wurden,  es  keine  öffentlichen  Lehrer  für  die  heiligen  Schriften  gab. 
In  Nachahmung  der  alexandrinischen  Schule  sowie  derjenigen  von  Nisibis  in 
Mesopotamien,  die  sich  aus  den  Resten  derjenigen  von  Edessa  gebildet  hatte, 
verabredete  er  mit  Pabst  Agapetus  die  Gründung  einer  theologischen  Schule  in 
Rom,  „auf  dass  die  Seele  das  ewige  Heil  erlange  und  die  Zunge  der  Gläu- 
bigen an  reine  Diction  gewöhnt  werde. ^  Er  führt  darauf  an,  dass  die 
Kriegszeiteu  die  Verwirklichung  dieses  Planes  verhindert  hätten.  Das  gab 
ihm  die  erste  Anregung  zur  Abfassung  seiner  Schrift  de  institutione  di- 
vinarum.  literarum  ^).  —  Unter  solchen  Beschäftigungen  erlebte  der 
verdienstvolle  Mann  ein  sehr  hohes  Alter  (von  zwischen  neunzig  und  hundert 
Jahren),  ohne  dass  das  Todesjahr  mit  Sicherheit  angegeben  werden  kann. 

Den  Mangel  gelehrter  Schulen  suchte  im  Jahr  529  eine  gallische  Sy- 
node zu  Vaison  in  der  Grafschaft  Venaissiu  (c.  1)  einigeFmassen  zu  ersetzen 
durch  die  Verordnung,  dass  alle  Pfarrer  nach  der  heilsamen  in  Italien  be- 
obachteten Gewohnheit  die  jungen  Vorleser  in  ihre  Häuser  aufnehmen,  sie 
die  Psalmen  lehi'eu,  zum  Lesen  der  heiligen  Schrift  anhalten  und  im  Gesetze 
des  Herrn  unterrichten  sollten.  Mit  Unrecht  ist  Gregor  der  Grosse  als  Be- 
förderer der  Schulen  gepriesen  w^orden;  die  von  ihm  gestifteten  Schulen 
waren  lediglich  Singschulen;  davon,  sowie  von  seiner  Verachtung  der  welt- 
Hchen  Wissenschaften  wird  nachher  die  Rede  sein. 

Von  anderen  Männern   des  Abendlandes   ist    hier  vor   allem   noch   zu 
nennen    Boethius    Anicius    Manlius    Torquatus    Severinus,    rö- 
mischer Staatsmann  und  Philosoph,  geboren  zu  Rom  um  480,  aus  einer  der 
berühmtesten  und  schon  lange  christlichen  Familien  jener  Zeit,   der  Anicier. 
Seine  tüchtigen  Studien  Imhnten  ihm  den  Weg  zu  hohen  Ehrenstellen.    Un- 
ter König  Theoderich  war  er  510  Consul,    und    genoss    das  Vertrauen    des 
Königs,  der  auch  in  gelehrten  Dingen  seine  Hülfe  in  Anspruch  nahm.    Sein 
wachsendes  Ansehen  machte  ihn  den  Höflingen,    bald  auch  dem  Könige  ver- 
dächtig;  des  Hochverraths ,  jedoch  mit  Unrecht  angeklagt,    endete   er  sein 
Leben  auf  dem  Schaffot  (524  oder  525).     In  der  Folgezeit  entstand  das  Ge- 
rücht, dass  sein  eifrig  katholischer  Glaube  ihm  den  Hass  Theoderich's  zuge- 
zogen;  so  kam  es,  dass  er  zum  katholisclien  Heiligen  und  Märtyrer  gestem- 
pelt und  in  mehreren  Städten  Italiens  als  solcher  verehrt  wurde.    In  Wahr- 
heit aber  gehört   er,    nach   seinen  ächten  Schriften  zu  urtheilen,    kaum  der 
christlichen  Kirche  an.     Nirgends  bekennt   er   sich  ausdrücklich   zur  christ- 
lichen Religion.     In  der  Philosophie   hält   er  eifrig   an   der    alten  Lehre  des 
Aristoteles   und  Piaton.      Es   ist    ein  Hauptpunkt   seiner  Bestrebungen,    die 
alte   wissenschaftliche  Bildung   in   der  Gegenwart  aufzufrischen  und  der  Zu- 
kunft zu   erhalten.      Daher   theils  Uebersetzungen ,    theils  Erklärungen  und 
Ergänzungen    der    Schriften    des    Aristoteles,    Poi-phyrius,    Euklides    u.   A., 
Schriften,    welche   für  den  Unterricht  der  späteren  Zeit  eine  grosse  Bedeut- 
ung erlangt  haben.     Die  Eintheilung  der  Wissenschaften    und  Künste  in  tri' 


1)  In  der  Vorrede  spricht  er  sich  darüber  aus. 


Anbau  der  theologischen  Wissenschaften.  447 

vium  und  quadrivium,  von  ihm  gebilligt  in  der  Schrift  de  arithmetica, 
empfahl  sich  dem  Mittelalter  auch  durch  seine  Autorität.  Sein  Hauptwerk, 
de  consolatione  philoso2)hiae,  im  Gefängniss  geschrieben,  beruht  sei- 
nem Hauptinhalte  nach  auf  der  heidnisch  -  antiken  Philosophie,  hauptsächlich 
der  platonischen.  Durch  dieses  im  Mittelalter  sehr  viel  gelesene  Werk  hat 
er  auf  die  Philosophie  und  Theologie  jener  Zeit  bedeutenden  Einfluss  gehabt i). 

Gregor!.,  der  Grosse,  Bischof  von  Rom  nimmt,  so  mangelhaft 
seine  Schriften  auch  sein  mögen,  in  der  Geschichte  der  Theologie  dieser 
Zeit  eine  sehr  bedeutende  Stelle  ein  und  ist  in  mehrfachen  Beziehungen 
theologisch  thätig  gewesen.  Doch  wird  es  angemessen  sein,  seine  Leistungen 
auf  diesem  Gebiete  im  Zusammenhange  mit  seinem  Leben  und  mit  seinen 
übrigen  Leistungen  zu  betrachten. 

Von  Männern  des  Abendlandes  ist  hier  noch  zu  schildern  Isidorus, 
Erzbischof  von  Hispalis  (Sevilla) ,  wohl  zu  unterscheiden  von  Isidor  von  Cor- 
dova,  der  um  das  Jahr  400  blühte,  daher  öfter  Isidorus  junior  genannt. 
Er  folgte  seinem  Bruder  Leander  auf  dem  erzbischöflichen  Stuhle  von  Hispa- 
lis, und  hatte  ihn  ungefähr  vierzig  Jahre  lang  inne  bis  an  seinen  Tod 
(635  oder  636).  Von  seinen  zahlreichen,  fast  vollständig  erhaltenen  Schriften 
hat  sein  Freund,  Bischof  Branlio  von  Saragossa  (627—646)  ein  Verzeichniss 
(praenotatio)  hinterlassen.  Sie  umfassten  ziemlich  die  damalige  Wissenschaft, 
sind  übrigens  nicht  die  Resultate  eigener  Forschung,  sondern  stellen  die 
Kenntnisse  und  das  Wissen  der  früheren  Zeit  in  w^ohl  geordneten  Auszügen 
und  Sammlungen  zusammen.  In  einer  Zeit  allgemeiner  Verwilderung  und 
Rohheit  haben  sie  dazu  beigetragen,  dass  die  Grundlagen  einer  höheren 
Bildung  und  der  Sinn  für  Wissenschaft  erhalten  wurden.  Für  uns  sind  von 
besonderem  Werthe  die  eigentlich  theologischen  Schriften.  Es'  sind  theils 
mystisch  allegorische  Bibelerklärungen,  ausgezogen  aus  den  Werken  früherer 
Kirchenväter,  theils  eine  Art  von  Lehrbuch  der  Dogmatik  und  Moral,  unter 
dem  Titel  sententiae,  aus  dem  Werke  Gregors  L  über  das  Buch  Hiob 
und  aus  Augustin  ausgezogen,  w^elche  Schrift  dazu  beigetragen,  im  Mittel- 
alter die  dogmatischen  Ansichten  jener  beiden  Väter  zu  erhalten  und  zu 
verbreiten.  Die  Schrift  de  ecclesiasticis  officiis,  von  welcher  Isidor 
in  der  Vorrede  selbst  sagt,  sie  sei  aus  den  Schriften  der  alten  Autoren  ge- 
schöpft, behandelt  die  Gebräuche  und  Einrichtungen  der  Kirche  und  sucht 
ihren  Ursprung  nachzuweisen,  wozu  kommen  Anordnungen  über  die  Oblie- 
genheiten der  Geistlichen.  Isidor  hat  auch  eine  Mönchsregel  geschrieben, 
die  derjenigen  des  Benedict  von  Nursia  ähnlich  ist,  doch  nicht  gerade  dar- 
nach gemacht. 

Von  wesentlicher  Bedeutung,  jedoch  weniger  für  diese  Zeit,  als  für  die 
spätere  sind  die  in  Aegypten  entstandenen,  dem  DionysiusAreopagita, 
dem  durch  Paulus  bekehrten  Beisitzer  des  Areopag,  nach  Dionysius  von 
Korinth  erstem  Bischof  von  Athen  2),  zugeschriebenen  Schriften ,  zu  dem 
Zwecke,    ihnen  grössere  Autorität  zu  verschaffen.     Die  Titel  sind:    von  der 


1)  S.  Ritter,  Geschichte  der  christlichen  Philosophie  2.  580  u.  ft.;   üher  denselben 
ebenfalls  weitläufiger  Ebert  a.  a.  C,  wo  auch  die  Literatur  über  ihn  angegeben  ist. 

2)  Apostelgeschichte  17,  34.    Euseb  /  Kirchengeschichte  3,  9  und  4,  23. 


448  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

himmlischen  Hierarchie,  von  der  kirchlichen  Hierarchie,  von  den  göttlichen 
Namen,  von  der  mystischen  Theologie;  dazu  kommen  zehn  Biiefe;  ein  elf- 
ter, der  später  hinzugekommen,  rührt  von  einem  anderen  Verfasser  her. 
Diese  wohl  am  Ende  des  fünften  oder  Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts 
verfassten  Schriften  tauchen  zum  ersten  Male  im  Jahr  531  auf,  bei  Anlass 
einer  zwischen  den  Severianern  und  Katholiken  auf  Befehl  Justinian's  in  Con- 
stantinopel  stattgehabten  UnteiTedung.  Als  die  Severianer  sich  auf  sie 
beriefen,  erklärte  sie  der  Erzbischof  von  Ephesus  für  unächt,  da  sonst  sich 
nicht  erklären  liesse,  warum  sie  Männern  wie  Athanasius  und  Cyrill  von  . 
Alexandrien  unbekannt  geblieben-  seien.  In  der  griechischen  Kirche  gelang- 
ten sie,  obgleich  die  Zweifel  an  ihrer  Aechtheit  fortbestanden,  zu  hohem 
Ansehen,  wurden  mehrfach  commentirt  und  galten  als  Muster  der  mystischen 
Theologie.  Im  Abendland  erwähnt  ihrer  zuerst  Gregor  der  Grosse.  Sie 
wurden  bekannter,  seitdem  Kaiser  Michael  Ludwig  dem  Frommen  (827)  ein 
Exemplar  zum  Geschenk  gemacht;  sie  wurden  um  so  geschätzter,  da  man 
den  Verfasser  mit  dem  berühmten  fränkischen  Schutzheiligen  verwechselte 
und  ihm  die  Stiftung  der  Kirche  von  Paris  zuschrieb,  —  entgegen  dem 
Zeugnisse  des  Gregor  von  Tours,  der  den  Stifter  der  Pariser  Kirche  in  die 
Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  versetzt.  Die  ferneren  Schicksale  dieser 
Schriften,  die  mehrfachen  Uebersetzuugen,  die  im  Mittelalter  davon  gemacht 
wurden,  der  Einfluss,  den  sie  nicht  blos  auf  die  mystische,  sondern  auch 
auf  die  scholastische  Theologie  ausübten,  die  Zweifel  an  der  Aechtheit,  die 
im  Refonnationszeitalter  wieder  auftauchten,  bis  Dalläus  in  einer  eigenen  Schrift 
die  Unächtheit  abschhessend  bewies.  Alles  dieses  wird  später  zur  Sprache 
kommen.  Es  ist  überflüssig,  die  verschiedenen  Vermuthungen  über  den 
Verfasser  durchzugehen  und  zu  prüfen.  So  viel  steht  fest,  dass  sie  der 
späteren  neuplatonischen  Schule  angehören.  Sie  sind  bestinmit,  die  Ideen 
dieser  Schule  als  den  wahren,  ursprünglichen  Inhalt  der  christUchen  Lehre  i 
und  der  kirchlichen  Institutionen,  als  die  tiefere  geheime  göttliche  Wissen- 
schaft darzustellen,  welche  vom  Verfasser  der  empfänglichen  Jugend  zu- 
gänglich gemacht  wird.  Er  versteckte  sich  hinter  den  verehrten  Namen  des  | 
Areopagiten,  um  sowohl  auf  die  philosophisch  gebildeten  Heiden,  als  auf  | 
die  christlichen  Kreise  zu  wirken.  Wenn  jene  den  Christen,  die  sich  neu- 
platonische Ideen  aneigneten,  vorwarfen,  dass  sie  den  Hellenen  ihr  recht- 
mässiges Eigenthum  entwendeten,  so  suchte  der  Verfasser  die  in  diesen 
Schriften  niedergelegte  Speculation  als  altes  Eigenthum  einer  christlichen 
Schule  der  Weisheit  zu  Athen  und  als  den  wahren  Gehalt  der  kirchlichen 
Institutionen  darzustellen,  wodurch  die  Heiden  erkennen  sollten,  dass  sie 
keine  Ursache  hätten,  sich  gegen  den  Eintritt  in  die  Kirche  zu  sträuben. 
Auf  der  anderen  Seite  meinte  der  Verfasser  den  Christen  Anleitung  zu  geben 
zur  tieferen  Erforschung  der  christliclien  Lehre  und  sie  über  dogmatische 
Streitsucht  zu  erheben  i).  Ueber  Maximus,  f  662,  eines  anderen  Mystikers 
Leben  und  Schriften  Siehe  Realencyklopädie.    20.  Band  S.  114—146. 

1)  Die  beste  Ausgabe  dieser  Schriften  ist  die  von  Balthasar  Corderius.  Paris  1615, 
Antwerpen  1636,  —  neu  abgedruckt  Brixiae  18oi.  S.  dazu  Engelhardt,  die  angeblichen 
Schriften  des  Dionysius  Areopagita  u.  s.  w.  1823,  Baur,  Geschichte  der  Lehr«  von  der 
Dreieinigkeit,  —  den  Artikel  von  K.  Vogt  in  der  Realencyklopädie. 


449 


Viertes  Capitel,    Geschichte  der  Verhältnisse  zwischen  Kirche  nnd 
Staat  und  Geschichte  der  Kirchenverfassung,  der  Patriarchen,  ins- 
besondere des  römischen. 

Da  bemerken  wir  zuerst  eine  grössere  Abhängigkeit  der  Kirche  vom 
Staat  einerseits  und  doch  auch  erweiterte  Rechte  der  Kirche  andererseits, 
daher  auch  wieder  grössere  Abhängigkeit  des  Staates  von  der  Kirche.  Dass 
die  Kaiser  in  äusseren  kirchlichen  Angelegenheiten  Gesetze  gaben,  war  ganz 
in  der  Ordnung,  und  auch  die  römischen  Bischöfe  fügten  sich  ohne  Wider- 
rede unter  solche  kaiserliche  Verordnungen.  Aber  auch  Glaubensedicte 
wurden  in  den  monophysitischen  und  monotheletischen  Streitigkeiten  von  den 
Kaisern  erlassen.  Rom  ging  nicht  unversehrt  aus  diesen  Kämpfen  hervor,  ob- 
schon  anzuerkennen  ist,  dass  keine  andere  Kirche  den  kaiserlichen  Anmass- 
ungen  solchen  Widerstand  leistete  wie  die  römische.  Es  war  von  grosser 
Bedeutung  für  das  Ansehen  des  römischen  Stuhles,  dass  ein  römischer  Bi- 
schof, Martinus  I.  mit  der  Märtyrerkrone  geschmückt  wurde,  und  dass 
Agatho  den  Triumph  erlebte,  dass  seine  Lehre  von  zwei  Willen  in  Christo 
vom  ökumenischen  Concil  680  sanctionirt  wurde. 

Was  die  Erweiterung  der  Rechte  der  Kirche  betrifft,  so  Hess  sich 
Justinian  dieselbe  besonders  angelegen  sein.  Er  ordnete  die  bischöfliche 
Gerichtsbarkeit.  Die  Bischöfe  wurden  in  bürgerhchen  Streitigkeiten  Richter 
der  Kleriker,  Mönche  und  Nonnen.  Das  alte  bischöfliche  Recht  der  Auf- 
sicht über  die  Sitten  und  der  Sorge  für  die  Unglücklichen  wurde  festgestellt 
durch  l)egünstigende  und  erleichternde  Gesetze.  Die  Bischöfe  erhielten  die 
nöthigen  Befugnisse,  um  sich  der  Gefangenen,  der  Findlinge,  der  Waisen 
anzunehmen.  Die  Statthalter  der  Provinzen  waren  auch  in  gewissen  Be- 
ziehungen von  den  Bischöfen  abhängig.  Der  Bischof  hatte  Antheil  an  ihrer 
Wahl  und  konnte  gegen  die  Bedrückungen,  die  sie  verübten,  einschreiten. 
In  gewissen  Fällen  entschieden  die  Bischöfe  zwischen  dem  Statthalter  und 
den  von  ihm  ungerecht  Verurtheilten.  Dafür  sollten  auch  die  Statthalter 
die  Bischöfe  an  die  Beobachtung  der  kirchlichen  Gesetze  erinnern.  Kaiser 
Heraclius  übergab  den  Bischöfen  sogar  die  Criminalgerichtsbarkeit  über  die 
Kleriker.  Doch  alle  diese  Hechte  und  Obliegenheiten ,  wodurch  die  Vor- 
steher der  Kirche  mehr  und  mehr  in  die  civilisatorische  Thätigkeit  des 
Staates  hineingezogen  wurden,  vermochten  nicht,  ihnen  im  Ganzen,  besonders 
im  Morgenlande  nicht,  einen  neuen  Geist  einzuhauchen. 

In  der  Geschichte  der  Patriarchen  traten  nur  noch  die  römischen  Bi- 
schöfe bedeutend  hervor.  Ein  günstiger  Umstand  für  sie  war  die  Auflösung 
des  weströmischen  Reiches  im  Jahr  476.  Seit  dem  waren  sie  eine  Zeitlang 
germanischen  Fürsten  unterworfen,  dem  König  Theoderich  von  493  bis  526, 
der  es  ruhig  geschehen  liess,  dass  502  eme  römische  Synode  unter  dem 
Vorsitze  des  Pabstes  Symmachus  alle  Einmischung  der  Laien  m  die  inneren 
Angelegenheiten  der  römischen  Kirche  verwarf,  (Mansi  8,  266).  Seit  unter 
Justinian  Italien  für  das  oströmische  Reich  erobert  worden,  kamen  die  Päbste 
wieder  unter  römische  Botmässigkeit.   Justinian  hielt  sie  in  grosser  Abhangig- 

29 
Herzog,   Kirchengeschichte  I. 


450  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

keit.  Dieses  Verhältniss  wurde  nicht  aufgehoben  seit  dem  Einfalle  der 
Longobarden  in  Italien  (568).  Es  verblieben  seitdem  dem  oströmischen  Kai- 
ser das  Exarchat  von  Ravenna,  das  Herzogthum  Rom  und  Neapel,  die 
Seestädte  Liguriens  und  die  äussersteu  südlichen  Gegenden  Italiens.  Die 
römischen  Bischöfe  waren  den  Exarchen  von  Ravenna  als  den  Stellvertretern 
des  oströmischeu  Kaisers  untergeben,  ihre  Wahl  bedurfte  der  kaiserhchen 
Bestätigung,  sie  bezahlten  Abgaben.  Sie  traten  als  die  reichsten  Güterbe- 
sitzer 1)  an  die  Spitze  der  Vertheidigungsanstalten  gegen  die  Longobarden. 
Auf  ihren  Besitzungen  hatten  sie  schon  kleine  befestigte  Schlösser.  Das 
gereichte  ihnen  zum  Vortheil  in  ihrer  kirchlichen  Stellung  zu  den  Kaisern. 
Sie  steigerten  ihre  hierarchischen  Ansprüche  und  stützten  sich  dabei  we- 
sentlich auf  ihren  Charakter  als  Nachfolger  Petri.  Im  Jahr  511  wurde  zu- 
erst von  einem  lateinischen  Bischof,  Ennodius  von  Ticinum,  der  Grund- 
satz ausgesprochen,  dass  der  römische  Bischof  von  Niemand  gerichtet  wer- 
den könne.  Doch  gestanden  sie  noch  zu,  dass  sie  den  allgemeinen  Concilien 
untergeordnet  und  dass  die  Bischöfe  nur  im  Falle  einer  Verschuldung  auf 
sie  zu  hören  verpflichtet  seien. 

Was  zur  Hebung  der  römischen  Bischöfe  wesentlich  beitrug,  ist  der 
Umstand,  dass  unter  ihnen  gewisse  bedeutende  Persönlichkeiten  auftraten, 
deren  Einfluss  so  weit  reichte,  dass  die  von  anderen  gegebenen  Blossen  we- 
niger zum  Schaden  des  römischen  Bischofs  gereichten. 

Zu  Anfang  der  Periode  ist  uns  solch  eine  mächtige  Persönlichkeit  be- 
gegnet in  Pabst  Leo  I.  Im  Verlaufe  der  Periode  tritt  Gregor  L,  der 
Grosse  hervor  2).  Seme  hohe  Bedeutung  erhellt  schon  daraus,  dass  er  in 
mannigfaltige  Gebiete  des  Lebens  der  Kirche  eingegritlen  hat.  Er  gehört 
der  Geschichte  der  Hierarchie,  der  Theologie,  des  Gottesdienstes,  der  Seel- 
sorge, des  Mönchthums,  der  Missionen  an.  Hier  kommt  er  zunächst  in 
Betracht  als  Bischof  überhaupt,  insbesondere  als  Bischof  von  Rom  in  seiner 
hierarchischen  Stellung. 

Geboren  zu  Rom  c.  540,  vom  Vater,  der  aus  altem  i)atricischem 
Geschlecht  abstammte,  mit  Sorgfalt  erzogen  und  für  Staatsgeschäfte  be- 
stimmt, entwickelte  sich  frühe  in  ihm  eine  ernstere  Neigung,  die  ihm  aller- 
dings keine  Liebe  zur  classischen  Literatur  einflösste.  Doch  war  er  kein 
solcher  Feind  der  classischen  Bildung,  wie  man  öfter  behauptet  hat.  Aller- 
dings gestand  er  später,  er  bekünnnere  sich  nicht  um  die  Granmiatik,  es 
sei  unwürdig,  verha  coelestis  oraculi  den  Regeln  des  Donat  zu  unterwerfen 
(in  der  Epistel  an  Leander  vor  dem  Commentar  über  Hieb).  Nach  dem  Tode 
des  Vaters  gründete  er  aus  dem  geerbten  Vermögen  sechs  Klöster  und  nahm 
seinen  Aufenthalt  in  einem  derselben  und  befliss  sich  der  äussersteu 
Enthaltsamkeit.  Er  wurde  Diakon  des  Bischofs  Pelagius  und  sein  Geschäfts- 
träger (apocrisiarius)  am  kaiserlichen  Hofe  in  Constantinopel.      Daselbst  fing 


1)  Patrimonium  hiess  zunächst  das  Vermögen  der  Kaiser;  worauf  die  Kirchen  ihre 
Güter  patrimonia  der  betreffenden  Heiligen  nannten,  das  römische  Kirchengut  wurde  dem- 
nach Patrimonium  Petri  genannt. 

2)  Lau,  Gregor  I.  der  Grosse,  nach  seinem  Leben  und  seiner  Lehre  geschildert 
1845.     Pfahl  er,  Gregor  I.  und  seine  Zeit.     1.  Band. 


Kirchenverfassung.    Der  römische  Patriarch.    Gregor  d.  G.  451 

er  an,  seinen  Commentar  zum  Buche  Hiob  zu  schreiben,  welcher  sich  weit 
weniger  mit  der  eigentlichen  Worterklärung  und  der  historischen  Interpre- 
tation abgibt,  als  mit  allegorischen  Auseinandersetzungen  zum  Behuf  der 
Auffindung  eines  tieferen  Schriftsinnes,  woran  sich  ausführliche,  moralische 
Betrachtungen  knüpfen;  daher  die  Aufschrift  des  Werkes  Moralia  in  den 
Handschriften  desselben.  Dazu  kommen  Erörterungen  über  dogmatische 
Punkte  sowohl  als  über  die  verschiedensten  Lagen  und  Verhältnisse  des 
menschlichen  Lebens.  Daher  das  Werk,  ungeachtet  es  als  exegetische  Ar- 
beit keinen  Werth  hat,  sehr  gute  Aufnahme  fand,  viel  gelesen  und  nament- 
lich vielfach  in  andere  Sprachen  übersetzt  wurde.  Als  eine  in  Rom  herr- 
schende ansteckende  Krankheit  (590)  Bischof  Pelagius  hingerafft  hatte,  wähl- 
ten Senat,  Geistlichkeit  und  Volk  Gregor  zu  dessen  Nachfolger.  Dieser 
weigerte  sich  anfangs,  die  Stelle  anzunehmen  und  wendete  sich  selbst  an 
den  Kaiser  mit  der  Bitte,  die  Wahl  nicht  zu  bestätigen.  Doch  der  Brief, 
der  diese  Bitte  enthielt,  wurde  durch  den  kaiserlichen  Statthalter  vernichtet 
und  an  dessen  Stelle  ein  anderes  Schreiben  nach  Constantinopel  mit  der 
Bitte  um  Genehmigung  der  Wahl  geschickt.  Während  die  Bestätigung 
durch  den  Kaiser  in  Rom  erwartet  wurde,  besorgte  Gregor  die  Geschäfte 
des  römischen  Stuhles.  In  einer  ergreifenden  Predigt  ermahnte  er  das  Volk 
zur  Busse.  Als  Bussübung  ordnete  er  eine  grosse  Procession  an,  septi- 
formis  litania  genannt,  weil  das  ganze,  freilich  sehr  zusammengeschmol- 
zene Volk  in  sieben  Abtheilungen  getheilt  war,  wovon  jede  von  einer  be- 
sonderen Kirche  ausging,  und  die  alle  in  derselben  Kirche  zusammentrafen, 
in  der  Kirche  der  heiligen  Maria,  um  unter  Thränen  und  Seufzern  Ver- 
gebung ihrer  Sünden  zu  erflehen.  Drei  Tage  dauerten  diese  Umzüge,  die 
selbst  dadurch  nicht  unterbrochen  wurden,  dass  eines  Tages  in  Zeit  von 
einer  Stunde  achtzig  Menschen  todt  niederfielen.  Nach  einer  alten  Sage 
erschien,  als  der  letzte  Umzug  bei  dem  Grabmal  Hadrian's  vorbeikam,  dem 
Gregor  ein  Engel  auf  der  Spitze  dieses  Gebäudes,  der  das  Schwerdt  in  die 
Scheide  steckte,  zum  Zeichen,  dass  die  göttliche  Rache  jetzt  befriedigt  sei; 
daher  das  Grabmal  Hadrian's,  später  Engelsburg  genannt,  'mit  der  Statue 
eines  Engels,  der  sein  Schwerdt  in  die  Scheide  steckt,  geschmückt  wurde. 

Als  endlich  die  kaiserliche  Bestätigung  der  Wahl  Gregorys  eingetroffen 
war,  gab  dieser  sein  anfänghches,  übrigens  aufrichtig  gemeintes  Sträuben 
auf  und  widmete  sich  fortan  mit  unermüdlichem  Eifer  den  Obliegenheiten 
seines  Berufes.  Vor  allem  suchte  er  selbst  das  Beispiel  der  wahren  Lebens- 
weise eines  Bischofs  zu  geben.  Er  führte  ein  einfaches,  strenges  Leben  in 
Gemeinschaft  mit  seinen  Klerikern.  Die  von  Alters  her  gerühmte  Wohltkä- 
tigkeit  der  römischen  Kirche,  wodurch  sie  ihren  Einfluss  verstärkte,  übte  er 
in  grossartiger  Weise,  indem  er  die  Armen  bis  an  den  Berg  Sinai  unterstützte. 
Bald  nach  seiner  Erwählung  schrieb  er  sein  liher  regulae  pastoralis, 
bei  Anlass  der  Vorwürfe,  die  ihm  gemacht  worden,  weil  er  sich  anfangs 
geweigert,  die  päbstliche  Würde  anzunehmen.  Die  Schrift  enthält  eine 
Menge  guter  und  feiner  Bemerkungen  über  die  Art,  wie  die  verschiedenen 
Geister  und  Gemüther  angefasst  werden  müssen.  Es  sind  aber  lauter  mo- 
ralische Ermahnungen,  die  er  gibt;  in  die  tieferen  Beziehungen  zu  Christo 
lässt  er  sich  nicht  ein.    ßeachtenswerth  ist  die  Bemerkung,   dass  die  Liebe 

29* 


452  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns. 

ZU  den  Seelen  den  Antrieb  geben  soll  zur  Uebernabme  des  geistlichen  Am- 
tes. Folgende  Dinge  verdienen  noch  erwähnt  zu  werden:  Das  pastorale 
Lehramt  (pastorale  magisterium)  ist  die  Kunst  der  Künste.  Dabei  werden 
vier  Punl^e  behandelt:  1)  auf  welcher  Weise  einer  zur  Regierung  der  Kirche 
gelangt  (nicht  durch  schlechte  Mittel),  2)  auf  welche  Weise  er,  nachdem  er 
dahin  gelangt,  sein  Leben  gestaltet,  3)  auf  welche  Weise  er  lehrt,  4)  wie 
er  täglich  seine  Schwachheit  sich  vergegenw^ärtigt.  —  Der  Pastor  soll  haupt- 
sächlich darnach  streben,  den  Untergebenen  durch  die  Art,  wie  er  lebt,  den 
Weg  des  Lebens  zu  zeigen.  Denn  die  Stimme  des  Redners,  den  sein  Wan- 
del empfiehlt,  wird  am  meisten  die  Herzen  der  Zuhörer  durchdringen.  — 
Doch  empfiehlt  Gregor  sehr  warm  das  Predigen.  Aber  dem  Tadel  soll  Lob 
beigemischt  sein,  um  die  Gemüther  derjenigen,  die  man  tadelt,  zu  gewin- 
nen. Diese  Schrift  wurde  das  Handbuch  des  Klerus  im  Mittelalter,  von 
Alfred  dem  Grossen  in  das  Angelsächsische  übersetzt.  Die  eigentlichen 
Pastoralgeschäfte  waren  das  Hauptaugenmerk  Gregorys.  Er  predigte  öfter 
und  bedauerte  es,  dass  er  nicht  noch  mehr  zu  predigen  Zeit  habe.  Das 
Predigen  galt  ihm  als  Hauptgeschäft  des  Bischofs.  Zweiundzwanzig  Homi- 
lieen  über  die  dunkeln  Stellen  des  Ezechiel,  vierzig  Ilomilieen  über  evan- 
gelische Lectionen  gal)  er  heraus.  Andere,  ihm  zugeschriebene  exegetische 
Schriften  sind  wahrscheinlich  unächt. 

In  seiner  hierarchischen  Stellung  zeigt  er  sich  sehr  verschieden  von 
den  späteren  Päbsten.  Gegenüber  dem  Kaiser  beobachtete  er  strengen  Ge- 
horsam. Als  er  einst  in  den  Fall  kam,  gegen  eine  vom  Kaiser  Mauritius 
getroffene  Verordnung  zu  protestiren ,  that  er  es  in  den  demüthigsten  Aus- 
drücken: ^jWer  bin  ich.  Staub  und  Wurm,  der  ich  zu  meinem  Herrn  rede"? 
Nicht  nur  diess ,  er  unterwarf  sich.  Noch  weniger  gereicht  ihm  zu  Ehren, 
dass  er  Kaiser  Phocas,  Mörder  von  Mauritius,  aus  rein  [)olitisch  -  kirchlichen 
Gründen  so  ehrend  anerkannte  als  Nachfolger  des  ermordeten.  Doch  lässt 
sich  nicht  verkennen ,  dass  er  sich  gegenüber  dem  Kaiser  eine  gewisse 
Selbständigkeit  bewahrte,  wobei  seine  Stellung  als  einziger  Patriarch  des 
Abendlandes  und  als  der  reichste  Grundbesitzer  Italiens  ihm  zu  Hülfe  kam, 
so  dass  er  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Lenkung  der  italienischen  Angele- 
genheiten ausübte.  —  Wenn  ihm  schien,  dass  die  Staatsgewalt  in  Sachen 
der  Kirche  ungesetzliche  Entscheidungen  getroffen,  so  ruhte  er  nicht  eher, 
als  bis  sie  zurückgenommen  waren.  Auf  der  anderen  Seite  wollte  er  den 
Titel  allgemeiner  Bischof  für  den  römischen  Bischof  nicht  annehmen,  ob- 
schon  er  gestand,  dass  er  allein  denselben  zu  führen  das  Recht  habe.  Nach 
dem  Vorgange  Augustiji's,  der  sich  servus  Christi  et  'per  ipsum  servus  ser- 
vorum  ipsiiis  nannte,  nannte  er  sich  servus  servorum  Bei.  Das  gab  Anlass 
zu  einem  Streite  zwischen  den  beiden  ersten  Patriarchen  der  kathohschen 
Christenheit.  Als  nämlich  nach  dem  Vorgange  mehrerer  Metropoliten  Asiens, 
die  für  sich  den  Titel  xcc^ohxog  angenommen ,  nach  dem  Vorgange  Kaiser 
Justinian's,  der  den  Patriarchen  von  Constantino])el  als  ökumenischen  Pa- 
triarchen angeredet  hatte,  Joliaiines  der  Fast  er  (vricrtsvtrjg^  jejunator), 
diesen  letzten  Titel  zu  gebrauchen  anfing  (587),  erklärte  sich  dagegen  auf 
das  schärfste  Pelagius  H.   und   besonders  Gregor   als   gegen   eine  antichrist- 


Kirchenverfassung.    Der  römische  Patriarch.    Gregor  d.  G.  453 

liehe  und  teuflische  Benennung  in  einem  Briefe  an  Johannes   (ep.  5,  18)  0- 
Doch  glaubte  er  sich  als  Nachfolger  Petri   berufen,    über   die   ganze  Kirche 
und  auch  über  die  von  Constantinopel  die  Oberaufsicht  zu  führen.     Es  lässt 
sich  nicht  läugnen,    dass   er  in  dieser  Beziehung  sehr  wohlthätig  eingewirkt 
hat.    Er  traf  bei  Antritt  des  Pontificats   die  Kirche  Italiens  in  sehr  trauri- 
gem Zustande.      Er   richtete   seine   Thätigkeit   auf  Wiederherstellung    des 
kirchhchen  Lebens  und  der  klösterlichen  Zucht.    Nicht  mit  Unrecht  hat  man 
ihn  einen  Reformator  der  Kirchenzucht  genannt.     Dabei   verschmähte  er  es 
nicht,  das  Gute,  überall,  wo  er  es  fand,  auch  bei  geringeren  Kirchen  nach- 
zuahmen.    Der  Eifer,    mit  dem  er  in  seiner  reformatorischen  Wirksamkeit 
verfuhr,   verbunden  mit  seiner  unparteiischen  Gerechtigkeit  und  der  Strenge 
der  von   ihm   auferlegten  Strafen,    hoben    wieder   den   gesunkenen  Zustand 
Italiens,   erwarben  ihm  aber  auch  viele  Feinde.    Dabei  war  er  freilich,   wie 
übrigens   schon   seine  Vorgänger,    bemüht,   die  Befugnisse  und  Rechte   des 
apostolischen  Stuhles  zu  erweitern.    Jedes  Privilegium  desselben,   mochte  es 
durch  Usurpation   hervorgerufen    oder   durch  besondere  Umstände  und   für 
einen  einzelnen  Fall  veranlasst  sein,  suchte  er  für  alle  Zeiten  als  ein  Recht 
des   apostolischen    Stuhles  festzuhalten,    auch    wenn   ältere   kirchliche  Be- 
stimmungen dagegen  sprachen  2).     Doch   wollte   er  für   seine  Person  keine 
Ehre;    über   sich   selbst   urtheilte   er  bescheiden  und  bewies   immer  unge- 
heuchelte  Demuth.    Er  starb  am  12.  März  604,  nachdem  er  während  seines 
Pontificats  beständig  mit  Krankheiten  und  Schmerzen   heimgesucht  gewesen, 
wodurch  er  sich  aber  in  seiner  Amtsthätigkeit  nicht  hindern  Hess.  —    Sein 
Eingreifen  in  die  Entwicklung   des  Cultus,  des  Mönchthums,    der  Missionen 
soll  später  zur  Sprache  kommen.     Hier  soll  nur  noch  bemerkt  werden,  dass 
sich  aus  seinen  Schriften    eine   weitläufige  Kenntuiss   seiner  Ansichten    über 
alle  Theile   der  christlichen  Glaubenslehre   schöpfen  lässt;    davon   hat  Lau 
eine  eingehende  Darstellung   gegeben,    wozu   dieser  Gelehrte  bemerkt:    ;,er 
sammelte  mehr  nur  das  in  der  lateinischen  Kirche  Uebhche,  es  jedoch  weiter 
verarbeitend.     Durch  unmerklich  verschiedene  Autfassung  des   von  der  Vor- 
zeit Ueberkommenen  bahnte    er,   ohne    vielleicht   die  Bedeutsamkeit   seines 
Thuns  zu  erkennen ,  die  Entwicklung  des  späteren  (römischen)  Katholicismus 
an  und   zeichnete   ihr   den  Weg   vor."      Seine   theologischen  Ansichten  und 
Ueberzeugungen  fanden  um  so  mehr  Anklang,  je  mehr  sein  Charakter  und 
die  Stelle,  die  er  bekleidete,  Achtung  geboten. 

Auf  dem  Gebiete  der  lürchenverfassung  und  Hierarchie  bleibt  übrig, 
noch  einen  Bück  auf  che  allgemeinen  Synoden  zu  werfen.  Wenn  sie 
auf  der  einen  Seite  zur  Entwicklung  und  Befestigung  der  Kircheneinheit  we- 
sentlich beitrugen,  so  geschah  es  auch  durch  besondere  Umstände,  dass  sie 
Spaltungen   veranlassten,    so    dass    eine   Synode    den  Hauptanlass   gab    zur 


1)  Seit  dem  Ende  des  siebenten  Jahrhunderts  nahm  der  römische  Bischof  den  Titel 
allgemeiner  Bischof  an. 

2)  So  verfahr  er  mit  den  Beschlüssen  der  Synode  von  Sardica.  Lau  S.  178.  Für 
aUe  die  bis  jetzt  berührten  Punkte  bildet  die  Sammlung  der  Briefe  Gregor's  die  wich^ 
tigste  Quelle. 


454  iDritte  Periode  des  alten  Katholicisransl. 

Trennimg  der  griechisch  -  morgenläudischen  und  der  lateinisch  -  abendländischen 
Kirche.    Es  kommt  hier  in  Betracht 

das  Concilium  qiiiuisextum,  als  Ergänzung  des  fünften  und 
sechsten  allgemeinen  Concils  so  genannt,  auch  Trullanum,  weil  der  TruUus, 
ein  kaiserlicher  Palast  in  Constantinopel  die  Versammlungsstätte  war.  Um 
die  Kirchenverfassung  zu  ordnen,  mit  welcher  sich  früher  die  Synoden  we- 
niger beschäftigt  hatten,  berief  Justinian  IL  auf  das  Jalu'  692  ein  neues 
ökumenisches  Concil  nach  der  Residenzstadt.  Die  griechischen  Bischöfe 
waren  von  der  bestimmten  Absicht  geleitet,  den  Patriarchen  von  Rom  zu 
demüthigen.  Den  Römern  missfielen  unter  anderen  folgende  Beschlüsse  der 
Synode:  indess  die  Beschlüsse  der  meisten  griechischen  Synoden  die  Bestä- 
tigung erhielten,  wurden  viele  abendländische  Synoden  und  alle  Decretalen 
der  römischen  Päbste  übergangen.  Im  Widerspruche  mit  den  abendländischen 
Verordnungen  wurde  den  Geisthchen  vom  Presbyter  herab  die  Ehe  erlaubt, 
mit  Ausnahme  der  zweiten  Ehe,  der  Ehe  mit  einer  Wittwe  und  der  Heirath 
nach  empfangener  Ordination.  Der  Patriarch  von  Constantinopel  erhielt  die 
Bestätigung  seines  alten  Ranges  als  des  zweiten,  unmittelbar  nach  dem  rö- 
mischen. Obgleich  die  römischen  Legaten  die  Beschlüsse  der  Synode  unter- 
schrieben, nahm  Sergius  I.  sie  nicht  an.  Der  Kaiser  wurde  durch  seinen 
bald  darauf  folgenden  Tod  verhindert,  die  Annahme  zu  erzwingen.  Die  Sy- 
node wurde  im  Abendlande  nicht  anerkannt  und  war  so  die  erste  öffentliche 
Erscheinung  der  Trennung  zwischen  den  beiden  Hälften  der  katholischen 
Kirche,  herbeigeführt  durch  den  sich  steigernden  Hochmuth  der  römischen 
Patriarchen.  Es  zeigte  sich  dabei,  dass  die  römischen  Bischöfe,  wenn  gleich 
sie  eiuestheils  sich  um  die  Kirche  grosse  Verdienste  erwarben,  sei  es  durch 
Aufrechthaltung  der  Zucht  und  Ordnung,  sei  es  als  muthige  Vertreter  der 
Glaubenswahrheit,  anderntheils  einem  hierarchischen  Geiste  Raum  gaben, 
welcher  das  Gedeihen  und  den  Erieden  der  Kii'che  gefährdete  und  für  die 
Zukunft  nichts  Gutes  erwarten  Hess,  oder  wenigstens  nur  mit  viel  mensch- 
lichem Be'werk  vermischtes  Gute. 

Die  kirchliche  Gesetzgebung  erzeugte  einen  eigenen,  bald  sehr  aus- 
gedehnten und  tief  eingreifenden  Zweig  der  theologischen  Literatur.  Zuerst 
sind  die  sogenannten  apostolischen  Kanon  es  zu  erwähnen,  wovou  die 
fünfzig  ersten  bald  nach  der  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  unter  dem  Na- 
men des  Clemens  aus  den  apostolischen  Constitutionen  und  aus  den  Kanones 
mehrerer  Synoden  des  vierten  Jahrhunderts  (insbesondere  der  Synode  von 
Antiochien,  341)  gesammelt  wurden;  Dionysius  exiguus  übersetzte  sie,  und 
nur  diese  hielt  die  lateinische  Kirche  fest.  Mit  dem  Anfange  des  sechsten 
Jahrhunderts  kamen  in  der  griechischen  lürche  noch  fünfunddreissig  hinzu, 
welche  den  Constitutionen  angehängt  wurden  (Drey  a.  a.  0.).  Um  dieselbe  Zeit 
fing  man  an,  die  ConciUenbeschlüsse  nach  einer  Sachordnung  zusammenzu- 
stellen. Die  erste  Sammlung  dieser  Art  ist  die  des  Johannes  Schola- 
sticus,  des  späteren  Patriarchen  von  Constantinopel  f  578.  In  der  latei- 
nischen Kirche  entstand  seit  dem  Concile  von  Chalcedon  die  sogenauate 
prisca  translatio;  eine  ausgedehntere  Sammlung  gab  Dionysius  exiguus 
noch  vor  dem  Jahr  500  heraus.     In  Spanien  entstand  zwischen  633  und  636 


Geschichte  des  Gottesdienstes.    Versammlungsorte.  455 

eine  für  den  Gebrauch  der  dortigen  Kirche  bestimmte  neue  Sammlung,  welche 
später  irriger  Weise  den  Namen  der  isidorischen  erhielt,  weil  man  sie  dem 
hochgefeierten  Isidorus  von  Hispalis  zuschrieb. 

In  die  kirchliche  Gesetzgebung  schlägt  auch  das  Busswesen  ein;  es 
entstanden  Bussbücher,  Bussordnungen  (libri  poenitentiales) ,  als 
Anleitung  für  die  Priester  zur  Verwaltung  der  Bussdisciphn.  Es  sind  bald 
einzelne  Kanones  von  Synoden,  päbsthche  Decretalen,  bischöfliche  Schreiben, 
Entscheidungen  für  einzelne  Fälle,  Register  einzelner  Vergehen,  mit  Hinzu- 
fügung der  entsprechenden  Busse,  bald  auch  ausführliche  Abhandlungen  über 
das  Busswesen.  Solche  Bussbücher  hat  es  nach  und  nach  eine  grosse  Zahl 
gegeben.    Hier  können  wir  nur  auf  die  Anfänge  uns  einlassen. 

In  der  morgenländischen  Kirche  beruhte  die  Handhabung  der  Busse 
zum  Theil  auf  Gewohnheiten,  die  sich  an  die  heilige  Schrift  anlehnten,  theils 
auf  Kanones  von  Synoden  (von  Ancyra  314,  Nicäa  325  u.  a.).  Ueberwie- 
gende  Autorität  erhielten  die  drei  Briefe  des  Basilius  von  Cäsarea  ai?  Am- 
philochius,  deren  vierundachtzig  Capitel  eine  förmliche  Bussordnung  bilden. 
Johannes  Scholasticus  nahm  achtundsechzig  Kanones  davon  in  seine  Samm- 
lung der  Kirchengesetze  auf,  und  die  trullanische  Synode  bestätigte  sie.  Ein 
eigenes  Pönitentialbuch  w^urde  dem  bereits  genannten  Bischöfe  von  Constantino- 
pel,  Johannes  dem  Faster  {vrjatevTtjg  585 — 595)  beigelegt,  doch  ist  es  er- 
wiesen späteren  Ursprungs.  Auf  die  Abfassung  von  Bussordnungen  im 
Abendlande  ist  das  griechische  Kirchenrecht  nicht  ohne  Einfluss  geblieben; 
indessen  verfolgte  die  lateinische  Kirche  hierin  ihren  eigenen  Weg  und  ent- 
wickelte auf  diesem  Gebiete  ein  viel  reicheres  Leben.  Schon  zur  Zeit  Cy- 
prian's  hatte  man  in  der  afrikanischen  Kirche  eine  Art  Bussordnung  für  die 
vielen  Lapsi,  die  Synoden  von  251  und  255  stellten  die  ältesten  Pöuitential- 
kanones  auf.  Eine  vollständigere  Bussdisciphn  entwickelte  sich  zuerst  in 
den  Klöstern.  Das  abendländische  Busswesen  wurde  besonders  in  Gross- 
britannieu  gepflegt  und  wirkte  von  da  aus  auf  den  Continent  von  Europa, 
insbesondere  auf  die  fränkische  Kirche  ein.  —  Wir  werden  später  davon 
zu  reden  Anlass  haben.  (S.  W  a  s  s  e  r  s  c  h  1  e b  e  n ,  die  Bussordnungeu  der  abend- 
ländischen Kii-che,  Halle  1851  und  den  Artikel  ,, Bussbücher''  von  Jacobson 
in  der  Reale ncyclopädie). 


Fünftes  Capitel.    Geschichte  des  Gottesdienstes. 

Was  wir  in  der  zweiten  Periode  des  alten  Kathohcismus  heranwachsen 
sahen,  äusserliches  Wesen  und  Gepränge  zum  Behuf  der  Anziehung  der 
rohen  Volksmassen,  das  steigerte  sich  in  dieser  Periode  und  überwucherte 
den  Gottesdienst.  Wenn  schon  darin  eine  sehr  bedenkliche  Annäherung  an 
len  Paganismus  stattfand,  so  zeigte  sich  diess  noch  deutlicher  und  stärker 
m  Opfercultus,  wie  er  mehr  und  mehr  sich  gestaltete. 

Was  zuvörderst  die  kirchlichen  Versammlungsorte  betrifft,  so  erhielt  sich 
im  Abendlande  der  Basilikenstyl  bis  in  das  neunte  Jahrhundert.  Zu  gleicher  Zeit 
blühte  in  der  griechisch-morgenländischen  Kirchelder  byzantinische  Styl,  mit  den 
run;len  Kuppeln.  Das  vollendete  Muster  dieser  byzantinischen  Bauart  ist  die  So- 


456  t)ritte  Periode  des  alten  Kiatholicismus. 

phienkirche  in  Constantinopel,  welcher  die  Marcuskirche  in  Venedig  nachgebildet 
ist,  worin  sich  so  recht  augenscheinhch  die  Herrlichkeit  des  byzantinischen 
Staatskirchenthums  abspiegelt.  Zuerst  von  Constantin  erbaut,  unter  Anastasius 
abgebrannt,  wurde  sie  von  Justinian  wiederhergestellt  und  557  eingeweiht  ^). 
Ihre  Länge  betrug  190',  die  Breite  115',  die  Höhe  180'.  Der  Theil  der 
Kirche,  wo  der  Hauptaltar  stand,  enthielt  an  Schmuck  und  Verzierungen 
den  Werth  von  40,000  Pfund  Silber.  Es  war  daher  keine  Uebeitreibung, 
wenn  der  Kaiser  von  diesem  seinem  Werke  behauptete,  dass  er  Salomo 
übertroffen  habe  2).  Es  wird  berichtet,  dass  er  für  den  Dienst  dieser  Kirche 
sechzig  Presbyter,  hundert  Diakonen,  vierzig  Diakonissen,  neunzig  Subdiako- 
nen,  huudertundzehn  Lectoren,  fünfundzwanzig  Sänger,  hundert  Thürhüter, 
im  Ganzen  ein  Dienstpersonale  von  fünfhundertundfünfundzwanzig  Personen, 
verordnet  habe.  Seit  jener  Zeit  hat  die  morgenländische  Baukunst  keine 
wesentlichen  Fortschritte  gemacht.  Unter  demselben  Kaiser  wurden  noch 
viele  andere  Kirchen  erbaut.  Es  kam  jetzt  mehr  und  mehr  auf,  die  Kirchen 
mit  Gemälden  und  Statuen  der  Heiligen  zu  schmücken.  Unsere  Periode  von 
der  Mitte  des  fünften  bis  zu  Anfang  des  achten  Jahrhunderts  wird  von  den 
Kennern  als  die  Blüthezeit  der  altchristlichen  Malerei  angesehen  ^).  Also- 
bald  aber  wucherte  der  Aberglaube  und  paganisirendes  Wesen  auf.  Im  Mor- 
genlande wusste  man  seit  518  durch  Theodorus  Lector  von  authentischen 
Bildern  Christi,  die  Lucas  verfertigt  haben  sollte,  welchem  bald  andere 
Bilder  heiliger  Personen  folgten;  darauf  kamen  ^^die  nicht  mit  Händen  ge- 
machten Bilder  ,^^  ein  Gegenstück  zu  den  vom  Himmel  gefallenen  Bildern 
(ayakfiata  SioTtetri)  des  Heidenthums  *).  Bald  sprach  man  auch  von  Bildern, 
die  Blut  schwitzten,  und  kam  die  Anbetung  (nQoffxvvTifTtg)  der  Bilder  auf 
und  wurde  in  Schutz  genommen.  Im  Abendlande  zeigte  sich  auch  bereits 
der  Uebergang  zur  paganischen  Verehrung  der  Bilder  und  gründliche  Mass- 
regeln dagegen  wurden  nicht  gebilligt.  Als  Serenus,  Bischof  von  Marseille 
dem  Unfug  der  Anbetung  der  Bilder  Einhalt  thun  wollte  durch  Entfernung 
derselben  aus  den  Kirchen,  wurde  er  von  Gregor  I.  getadelt  (ep.  9,  105). 
Dieser  meinte,  die  Bilder  sollten  beibehalten  werden,  damit  diejenigen,  die  nicht 
lesen  könnten,  durch  die  Anschauung  der  Bilder  Unterricht  empfingen. 
Uebrigens  gestattete  er,  dass  man  sich  vor  den  Bildern  niederwerfe,  und 
that  es  selbst,  aber,  fügt  er  hinzu,  wir  werfen  uns  nicht  als  vor  einer 
Qottheit  nieder,  sondern  wir  beten  den  an,  dessen  Erinnerung  wir  mittelst 
des  Bildes  feiern  (ep.  9,  52),  —  ganz  in  derselben  Weise  wie  die  Heiden 
die  Anbetung  ihrer  Götterbilder  zu  rechtfertigen  gewohnt  waren.  Deutlich 
zeigte  sich  hiebei  der  Umschwung  der  altkatholischen  Anschauung. 

Glocken  kamen  auf  seit  dem  Anfang  des  siebenten  Jahrhunderts,  zuerst 
in  Nola  in  Campanien,  darauf,  unter  Sabinianus,  Nachfolger  Gregorys,  in 
Rom  und  anderwärts.  In  Verbindung  damit  entstanden  die  ersten  Thürme 
worin  die  Glocken  aufgehängt  wurden;    zuerst  waren  diese  Thürme  von  den 


1)  Die  Beschreibung  davon  bei  Evagrius  H.  E.  4,  31  —  bei  Lübke. 

2)  ^olofxoivtt  y€vtX7]xa. 

3)  S.  Ulrici  im  Artikel  Malerei,  christliche  in  der  Realencyklopädie. 

4)  Apostelgesch.  19,  35.    fivagrins  4,  27. 


l)er  Gottesdienst.    Versammlungsorte.  ^m 

Kirchen  abgesondert,   wie   man  noch   in  Italien  welche   sieht  (in  Venedig 
und  Pisa).    Bei  den  Griechen  kamen  die  Glocken  nicht  auf. 

Doch  mehr  als  auf  Glocken  und  Bilder  wurde  auf  die  Reliquien 
der  Heiligen  Gewicht  gelegt,  welche  in  den  ihnen  geweihten  Kirchen 
unter  den  Altar  gelegt  wurden.  Sie  kamen  aber  auch  im  Privatleben  vor 
und  wurden  von  den  Kirchenvorstehern  an  hohe  Personen  verschenkt 
so  z.  B.  von  Gregor  I.  an  den  König  der  Westgothen  Reccared  Theile 
des  Kreuzes  Christi  und  Haare  Johannis  des  Täufers  (ep.  9,  122).  Es 
knüpften  sich  an  die  Reliquien  mehr  und  mehr  Wunderwirkungen,  und  es 
wurde  Betrug  mit  den  Reliquien  getrieben.  Es  war  verhängnissvoll  für 
die  katholiche  Kirche,  dass  ein  Mann  von  so  aufrichtiger  und  tiefgegrün- 
deter Frömmigkeit  wie  Gregor  I.  in  dieser  Beziehung  sich  nicht  nur 
über  den  Aberglauben  seiner  Zeit  nicht  erheben  konnte,  sondern  dass  er 
ihn  sogar  durch  das  ganze  Gewicht  seiner  Autorität  bekräftigte  und  beför- 
derte. So  erschien  Rom  als  die  eifrigste  Schutzpatronin  der  sinnlichen, 
dem  Heidenthum  sich  nähernden  Richtung  der  katholischen  Frömmigkeit. 
Gregor  legte  sich  die  Sache  so  zurecht,  dass  durch  die  Wunder  die  Ge- 
müther des  rohen  Volkes  für  den  Glauben  gewonnen  werden  müssten,  und 
dass  der  Glaube,  wenn  er  einmal  lebendig  in  der  Seele  ist,  der  Wunder 
nicht  mehr  bedürfe.  Aber  die  Erfahrung  ergab  ein  anderes  Resultat.  Immer 
mehrere  Wunder  wollten  die  Gläubigen  und  Gregor  war  eifrig  bemüht,  dieser 
•  Wundersucht  Nahrung  zu  geben.   Ihr  dienen  auch  seine  Dialogen. 

Mit  den  Reliquien  hing  zusammen  die  steigende  Verehrung  der  Hei- 
ligen, denen  eine  Unmasse  von  Kirchen  geweiht  wurden.  Im  Jahr  610 
wurde  das  römische  Pantheon  in  eine  Kirche  der  Maria  und  aller  Heiligen 
umgewandelt,  was  den  Sieg  des  Christenthums  über  das  Heidenthum  an- 
schaulich darstellte.  Dazu  kamen  neue  Feste,  ein  Fest  zu  Ehren  aller 
Heiligen,  mehrere  Marienfeste,  das  Fest  der  Verkündigung  Maria 
am  25.  März,  das  Fest  der  Reinigung  Maria  am  2.  Februar,  ausser- 
dem das  Fest  der  Kreuzerhöhung  (festum  exaltatmiis  crucis) ,  einge- 
setzt für  das  Morgenland  zunächst,  als  Kaiser  Heraclius  631  das  vom 
Perserkönig  geraubte  Kreuz  Christi  nach  Jerusalem  zurückbrachte  und  es 
in  feierlicher  Procession  auf  seinen  Schultern  den  Golgotha  hinauf  trug, 
um  es  in  der  wiederhergestellten  Kirche  des  heiligen  Grabes  zu  erhöhen. 
Bald  darauf  führte  Honorius  I.  dieses  Fest  auch  im  Abendlande  ein. 

In  Verbindung  mit  den  Festen  steht  das  Kirchenjahr,  d.  h.  die 
Anordnung  des  Jahres  nach  kirchlichen  Bestimmungen,  zum  Zwecke,  theils 
die  Stiftung,  theils  die  Anordnung  des  Heiles  in  ihrem  geschichtlichen 
Verlaufe  darzustellen ;  daher  zwei  Hälften  des  Kirchenjahres  unterschieden 
wurden,  das  seinestre Domini ,  welches  den  Weihnachts-,  Oster-  und  Pfingst- 
cyklus  umfasste ,  das  semestre  ecclesiae  die  anderen  Feste.  Es  begann  im 
Laufe  des  fünften  Jahrhunderts  mit  dem  Feste  von  Maria  Verkündigung 
25.  März,  welches  Fest  schon  Chrysostomus  die  Wurzel  aller  Feste  Christi 
genannt  hatte.  Dass  der  erste  Sonntag  im  Advent  als  Anfang  des  Kirchen- 
jahres angenommen  wurde,  ist  hauptsächlich  dem  Einflüsse  Roms  zuzu- 
schreiben. Die  morgenländische  Kirche  begann  das  Kirchenjahr  am  ersten 
Sonnta<?e  nach  dem  Feste  der  Kreuzerhöhung,    welches   auf  den   14.  Sep- 


458  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismiiä. 

tember  fällt.  Inmitten  dieser  Entwicklung  wurde  auch  die  Osterberech- 
nung weiter  fortgeführt.  Der  Abt  Dionysius  der  Kleine  führte  525  im 
Abendlande  den  schon  längst  im  Morgenlande  herrschenden  neunzehnjähri- 
gen Ostercyclus  ein,  worauf  er  allmälich  im  Abendlande  überall  durchdrang. 
In  Britannien  aber  bildete  er  einen  Hauptcontroverspunkt  zwischen  den  alt- 
katholischen Geistlichen  und  den  römisch-katholischen.  Derselbe  Abt  Dio- 
nysius schlug  vor,  die  Jahre  statt  ab  urbe  condita  von  Christi  Geburt  an 
zu  zählen,  welche  Geburt  er  in  das  Jahr  754  ab  urbe  condita  setzte,  welche 
Aera  christiana,  wie  man  sie  nannte,  im  achten  Jahrhundert  durch  die 
fränkischen  Herrscher  Pipin  und  Karl  im  Abendlande  gebräuchlich  wurde; 
nach  den  neueren  Forschungen  ist  freilich  in  dieser  Aera  das  Geburtsjahr 
Christi  um  einige  Jahre  zu  früh  angesetzt.    (S.  Ideler,  Chronologie). 

Nicht  nur  gab  es  eine  Anzahl  neuer  Feste,  wovon  wir  gar  nicht  alle 
genannt  haben,  es  entstanden  auch  neue  Formen  der  Gottesverehrung. 
Mamercus,  Bischof  von  Vienne,  war  es,  der  feierliche  Buss-  und  Bittan- 
dachten mit  Fasten  und  Processionen  verbunden  für  die  drei  Tage  vor  Him- 
melfahrt anordnete  f/?'^aw2a^;  rogationes).  Dieser  Andacht  gab  Gregor  I.  wäh- 
rend der  grossen  in  Rom  herrschenden  Pest  die  beschriebene  eigenthümliche 
Gestalt  (litania  septiformis)'^  wahrscheinlich  waren  die  Theilnehmer,  meint 
Gregorovius,  schon  damals  eben  so  gekleidet,  wie  man  es  gegenwärtig 
noch  in  Rom  sehen  kann  (die  Männer  eingehüllt  in  Busssäcke  von  grobem 
Stoff,  das  Gesicht  ganz  verhüllt  bis  auf  die  Augen). 

Gregor  erwarb  sich  auch  Verdienste  um  den  Kirchengesang,  er  führte 
Sängerschulen  ein,  daher  man  ihn  später  als  Beförderer  der  Schulen 
überhaupt  verehrte;  er  gilt  als  Vater  des  Choralgesanges,  der  daher  der 
gregorianische  Gesang  heisst,  und  weil  er  in  Rom  ursprünglich  geübt 
wurde,  der  römische.  Er  unterschied  sich,  sagt  Lau  S.  262,  von  dem 
ambrosianischen  durch  grössere  Weichheit  und  Lieblichkeit,  nur  fehlt  ihm 
die  Verbindung  des  Rhythmus  und  des  Metrums  mit  der  Melodie,  welche 
dem  ambrosianischen  eigenthümlich  ist.  Auch  Hymnen  zum  Gebrauch  im 
Gottesdienste  hat  Gregor  aufgesetzt,  sowie  denn  schon  frülier  in  der  latei- 
nischen Kirche  solche  entstanden  waren,  worunter  besonders  die  des  Am- 
brosius  von  Mailand  Erwähnung  verdienen.  Gregor  stattete  überhaupt  den 
Gottesdienst  mit  neuen  Cärimonien  aus,  daher  sein  Ehrenname  pater 
caerinionia  r  u  in. 

Wesentlich  ist  sein  Antheil  an  der  Entwicklung  und  festeren  Aus- 
prägung des  Messcultus.  Er  fand  Arbeiten  früherer  Päbste  vor,  ins- 
besondere das  sacrainentarium,  das  Gelasius  I.  c.  495  verfertigt 
hatte  und  welches  im  Laufe  der  Zeit  durch  Zusätze  entstellt  worden  war. 
Er  gab  dasselbe  unter  seinem  Namen  neu  heraus,  vieles  auslassend,  eini- 
ges hinzusetzend,  anderes  ändernd,  wie  sein  Biograph  Johannes  diaconus 
2,  17  berichtet.  Der  noch  jetzt  in  der  römischen  Kirche  übliche  Canon 
missae  rührt  von  Gregor  her  (ep.  9,  12),  womit  nicht  geläugnet  werden 
soll,  dass  darin  Aelteres  vorhanden  ist.  Gregor  hat  auch  ein  Antipho- 
narium  verfasst,  d.  h.  eine  Sammlung  der  Antiphonen,  die  in  der  Messe 
gesungen  wurden.  Ob  er  auch  das  ihm  beigelegte  liber  responsalisy 
welches  die  bei  der  Messe  üblichen  Responsorien  und  den  Gesang  bei  den 


Der  Gottesdienst.    Der  Messopfercultus.  459 

kanonischen  Stunden  des  Tages  und  der  Nacht  enthielt,  verfasst  habe,  ist 
mehr  als  zweifelhaft. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  ein  römischer  Bischof,  einer  der  wenigen, 
die  sich  mit  Theologie  ernstlich  abgegeben,  es  war,  der  den  römisch-ka- 
tholischen Messopfercultus  ausgeprägt,  in  theologischer  sowohl,  als  in  prak- 
tisch -  kirchlicher  Beziehung. 

Gregor  fand  eine  Vorstellung  vom  Opfer  im  Abendmahl  vor,  welche 
sich  der  von  einem  versöhnenden  Opfer  näherte,  obwohl  dieselben  Kirchen- 
lehi'er,  die  so  lehren,  auch  wieder  das  Opfer  als  ein  blosses  Opfer  der 
Erinnerung  auffassen.  Auch  Gregor  kann  sich  keine  einheitliche  An- 
schauung vom  Messopfer  bilden.  Zunächst  spricht  er  den  Gedanken  aus 
von  einer  Wiederholung  des  Opfers  am  Ki'euze,  wodurch  die  Segnungen 
des  letzteren  für  uns  vermittelt  werden.  ^jChristus  wird  für  uns  im  Ge- 
heimniss  der  heiligen  Darbringung  aufs  neue  geschlachtet''  i).  Im  Gefühl, 
wie  es  scheint,  der  Unhaltbarkeit  dieser  Auffassung  und  doch  bemüht,  um 
jeden  Preis  die  Idee  vom  versöhnenden  Opfer  festzuhalten,  spricht  er  sich 
dahin  aus,  dass  nur  insofern  Christus  von  den  Gläubigen  empfangen  und 
genossen  wird,  eine  Erneuerung  seines  Leidens,  mithin  eine  Opferung 
desselben  statt  finde,  eine  Ansicht,  welche  geradezu  die  Negation  des 
Opfers  im  Abendmahl  ist,  daher  sie  das  Concil  von  Trident  mit  dem  Ana- 
thema belegt  hat  2).  Eine  sich  selbst  widersprechende  Theorie  ist  also 
die  Grundlage  derjenigen  gottesdienstlichen  Handlung,  welche  den  gesamm- 
ten  katholischen  Cultus  l)eherrscht  und  die  ihn  überwuchert  hat. 

Die  Sache  hat  noch  eine  andere  Seite.  Der  sinnige  Gedanke  älterer 
Lehrer,  namentlich  Augustinus,  dass  das  Abendmahl  eine  Darstellung  der 
Selbsthingabe  der  erlösten  Gemeinde  an  Gott  sei,  wird  von  Gregor  aufge- 
nommen und  so  fortgesponnen ,  dass  nur  unter  dieser  Bedingung  das  Opfer 
der  Messe  versöhnende  Wirkung  habe.  So  verbindet  sich  das  Thun  der 
Gläubigen  mit  der  Opferung  Christi  in  der  Messe,  um  das  Werk  der 
Sühne  zu  vollbringen.  „yViv  sollen,  sagt  er,  Gotte  tägliche  Opfer  der  Thrä- 
nen  und  tägliche  Opfer  seines  Fleisches  darbringen."  Also  werden  beide 
Opfer,  das  Christi  und  das  der  Gemeinde,  völlig  auf  dieselbe  Linie  ge- 
stellt. ;,Dann  erst  wird  die  Eucharistie  für  uns  ein  wahrhaftiges  Opfer 
sein  vor  Gott,  wenn  wir  selbst  uns  zum  Opfer  gemacht  haben"  3).  So 
wird  die  Wirkung  des  Messopfers  zwar  limitirt,  aber  in  dieser  Limitation 
wird  doch  die  liealität  davon  sicher  gestellt.  Nun  kann  keine  Rede  mehr 
davon  sein,  dass  es  blos  Erinnerung  an  das  Opfer  Christi  sei.  Es  ist  ein 
Opfer  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes,  wirkt  aber  gemeinschaftlich  mit 
den  eigenen  Genugthuungswerken  der  Gläubigen.  Nun  wird  die  Ver- 
söhnung zu  einem  fortwährenden  Acte  Gottes  oder  Christi  einerseits  — 
und  der  Menschen  andererseits,  die  durch  ihre  Büssungen  sich  jenes  Opfers 


1)  Pro  nobis  iterum  per  mysterium  sacrae  immolationis  immolatur.  dialogen  4,  58. 

2)  Sessio  XXIL  canones  de  sacrificio  missae.  1  si  quis  dixerit,  —  quod  offerri  non 
8it  aliud  quam  nobis  Christum  ad  manducandem  dari,  anathema  sit. 

3)  Tunc  ergo  vere  pro  nobis  hostia   erit  Deo,   cum   nos  ipsos   hostiam   fecerimus. 
Dialogen  1.  c. 


460  Dritte  Periode  des  alten  Katholiciamus. 

würdig  machen.  Sowie  das  Messopfer  das  Opfer  Christi  am  Kreuz  nach- 
ahmt, so  ahmt  auch  der  Gläubige  mit  seinen  Büssungen  dasselbe  Opfer 
nach;  diese  beiden  Nachahmungen  sind  als  eigentliche  Opfer  angesehen, 
welche  die  Versöhnung  vollziehen.  Beide  bestärken  die  Macht  der  Kirche, 
die  durch  den  Priester  das  Messopfer  verrichtet,  und  die  kirchliche  Werk- 
gerechtigkeit, wodurch  die  Gläubigen  unter  die  Gebote  der  Kirche  ge- 
knechtet werden,  die  Werkgerechtigkeit,  die  durch  das  asketische,  das 
mönchische  Leben  geübt  wird. 

Ist  der  Begriff  des  Messopfers  auf  die  genannte  Weise  festgestellt, 
so  muss  um  so  mehr  der  Gedanke  der  leiblichen  Gegenwart  sich  geltend 
machen;  denn  die  Opferung  setzt  ein  zu  Opferndes  voraus,  und  so  wächst 
nun  beides  immer  mehr  zusammen,  leibliche  Gegenwart,  die  bis  zur  Ver- 
wandlung sich  steigert  und  wahrhaft  versöhnendes  Opfer,  welches  für  alle 
möglichen  Fälle  und  Nöthen  wirksam  verwendet  wird. 

Damit  fällt  zugleich  die  Nothwendigkeit  des  Geniessens  des  Abend- 
mahles, der  Communion  weg;  man  kommt  ja  nicht,  um  zu  empfangen, 
sondern  um  zu  geben,  d.  h.  zu  opfern,  und  aufs  Geben  kommt  es  an,  um 
des  Segens  der  Handlung  theilhaftig  zu  werden.  So  sind  die  bald  auf- 
kommenden Privatmessen  die  nothwendige  Folge  dieser  Theorie.  Der 
Rückfall  in  die  paganische  Religionssphäre  ist  dabei  unverkennbar;  es  ist 
unter  christlicher  Aussenseite  und  mit  christlichem  Namen  der  heidnische 
Opfercultus  erneuert.  Sofern  der  Gläubige  mit  seinen  Genugthuungswerken 
das  Opfer  Christi  nachahmt,  so  liegt  darin  die  treibende  Kraft  zu  allerlei 
Kasteiungen,  zu  den  Abtödtungen  des  mönchischen  Lebens  bis  zu  den 
Stigmatisationen  herab.  Darin  wird  in  Betreff  der  damit  verbundenen 
Werkgerechtigkeit  der  Rückfall  in  die  jüdische  Religionssphäre  offenbar. 

Sowie  das  Messopfer  für  alle  möglichen  Nöthen  und  Anliegen  ver- 
wendet wurde ,  so  besonders  auch  für  die  im  Fegefeuer  schmachtenden 
Seelen;  diese  Wendung  gab  Gregor  der  Sache,  wodurch  einestheils  die 
Vorstellungen  von  der  Tragweite  des  Messopfers  ungeheuer  gesteigert 
wurden,  andererseits  die  Vorstellungen  vom  reinigenden  Feuer  eine  sehr 
ansehnliche  Verstärkung  erhielten.  Beides  trug  wesentlich  bei  zur  För- 
derung der  Macht  der  Kirche.  Es  ist  ein  merkwürdiges  Zeichen  der  Zeit, 
dass  die  Vorstellung  vom  Fegefeuer,  welches  fortan  im  katholischen  Leben 
solch  eine  hervorragende  Stellung  einnimmt,  bei  Gregor  zunächst  nur  als 
Voraussetzung  auftaucht,  in  problematischer  Weise  behandelt,  und  auf 
keine  eigentliche  Bibelstelle  gegründet  wird.  Tn  Antwort  auf  die  Frage 
(in  den  Dialogen  4,  39),  ob  man  annehmen  müsse,  dass  es  nach  dem  Tode 
ein  Reinigungsfeuer  (ignis  purgatorius)  gebe,  beruft  sich  Gregor  auf  einige 
Bibelstellen,  worin  keine  Spur  von  Andeutung  des  Fegefeuers  zu  finden  ist. 
Er  meint  aber,  dass  man  annehmen  müsse,  es  gebe  für  gewisse  leichtere 
Sünden  ein  dem  jüngsten  Gerichte  vorangehendes  Reinigungsfeuer  wegen 
dessen,  was  der  Herr  sagt  Matth.  12,  31.  32,  woraus  hervorgehe,  dass 
gewisse  Schulden  in  dieser  Welt,  andere  in  der  zukünftigen  Welt  können 
erlassen  werden.  Was  die  Stelle  1  Kor.  3,  12 — 15  betrifft,  so  lässt  er  es 
völlig  unentschieden ,  ob  sie  vom  Feuer  der  Trübsal  in  diesem  Leben  oder 


Der  Gottesdienst.    Der  Messopfercultus.  461 

von  der  zukünftigen  Reinigung  müsse  verstanden  werden  i).  Im  Grunde 
aber  eignet  er  sich  die  letztere  Auslegung  der  Stelle  an,  indem  er  ihr 
jedoch  eine  andere  Wendung  gibt,  als  welche  sie  bei  Augustin  hat.  Er 
versteht  nämlich  Holz ,  Heu,  Stoppeln,  welche  der  eine  auf  das  Fundament 
baut,  von  den  kleinsten  und  leichtesten  Sünden,  welche  durch  das  Feuer 
können  vernichtet  werden.  Gold,  Silber,  kostbare  Steine,  welche  der 
andere  auf  das  Fundament  baut,  gelten  ihm  für  grössere  und  härtere 
Sünden ,  die  eben  deswegen  nicht  können  vernichtet  werden  2). 

Nun  trug  man  sich  damals  mit  allerlei  Geschichten  von  Todtener- 
scheinungen,  wie  denn  seit  geraumer  Zeit  der  Tod,  zumal  in  Italien  und 
insbesondere  in  Rom,  eine  furchtbar  grosse  Ernte  gehalten  hatte.  Gregor 
erklärte  sich  die  häufigen  Erscheinungen  von  Todten  auf  eine  allerdings 
sinnige  Weise :  in  demselben  Maasse  als  die  gegenwärtige  Welt  ihrem  Ende 
sich  naht,  wird  die  zukünftige  Welt  von  dieser  Annäherung  beeinflusst 
und  offenbart  sich  in  deutlicheren  Kennzeichen  3).  Bei  der  in  das  Unge- 
heure wachsenden  Bedeutung,  welche  man  dem  Messopfer  beilegte,  wurden 
die  genannten  Erscheinungen  sehr  bald  in  diesen  magischen  Kreis  hinein- 
gezogen. So  kommt  Gregor  zu  dem  offenen  Geständniss,  welches  er  mit 
mehreren  auffallenden  Beispielen  belegt:  ;,wenn  nach  dem  Tode  keine 
unvertilglichen  Schulden  vorhanden  sind,  so  pflegt  nach  dem  Tode  die 
heilige  Darbringung  der  heilbringenden  Hostie  vielen  Seelen  Hülfe  zu 
schaffen,  so  dass  bisweilen  diese  Seelen  selbst  sie  zu  verlangen  scheinen'^  ^). 
Zugleich  trug  der  umsichtige  Gregor  Sorge  dafür,  dass  das  Messopfer  dem 
Eifer  in  Vollbringung  der  kirchlichen  Busswerke,  im  Ergreifen  des  aske- 
tischen Lebens  keinen  Eintrag  thue.  Er  geht  davon  aus,  dass  die  heil- 
bringende Hostie,  die  für  die  Todten  dargebracht  wird,  immerfort  nur 
insofern  wirkt,  als  sie  verbunden  ist  mit  Büssungen  der  Lebenden,  die 
das  Messopfer  für  die  Todten  darbringen,  wovon  mehrere  Beispiele  ange- 
führt werden ;  nur,  fährt  er  fort ,  sei  es  besser  und  sicherer ,  dass  jeder 
dasjenige  seiht  thue,  wovon  er  hofft,  dass  andere  nach  seinem  Tode  es 
für  ihn  thun  werden.  Es  lag  darin  die  Aufforderung,  sich  dem  asketischen 
Leben  zu  ergeben,  mit  allem,  was  damit  zusammenhängt,  und  sie  war 
um  so  wirksamer,  als  sie  mit  dem  Siegel  der  höchsten  Autorität  der 
katholischen  Kirche  versehen  war. 


1)  Quamvis  hoc  de  igne  tribulationis  in  hac  vita  nobis  apposito  possit  intelligi, 
tarnen  si  quis  hoc  de  igne  futurae  purgationis  accipiat,  pensandnm  sollicite  est  etc. 

2)  In  diese  zwei  Auslegungen  Augustinus  einerseits  (S.  340),  Gregor's  andererseits, 
theilen  sich  fortan  die  katholischen  Lehrer. 

3)  Dialog.  4,  51,  quantum  praesens  seculum  propinquat  ad  finem,  tantum  futurum 
seculum  ipsa  jara  quasi  propinquitate  tangitur  et  signis  manifestioribus  aperitur. 

4)  Dial.  4,  55:  si  culpae  post  mortem  insolubiles  non  sunt,  multorum  solet  animas 
etiam  post  mortem  sacra  oblatio  hostiae  salutaris  adjuvare,  ita  ut  hanc  nonnunquam 
ipsae  defunctorum  animae  expetere  videantur. 


462  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 


Sechstes  Capitel.    Geschichte  des  Mönchthnms.    Benedict  von  Nursia 
und  der  Benedictinerorden. 

Die  in  der  katholischen  Kirche  waltenden  Anschauungen  und  Grund- 
sätze brachten  es  mit  sich,  dass  das  christliche  Leben  immer  mehr 
einen  asketischen,  bestimmter  gesagt,  einen  mönchischen  Anstrich  bekam. 
Es  flüchtet  sich  in  die  Zellen  der  Mönche.  Im  Oriente  verlor  es  seine 
ursprüngliche  übertriebene  Strenge  und  Härte,  bestand  aber  fort  in  ver- 
schiedenen Formen.  Justinian  hatte  es  sich  zum  Grundsatz  gemacht,  das 
Mönchsleben  zu  begünstigen.  Er  erlaubte  den  Kindern,  wider  den  Willen 
der  Eltern  in  die  Klöster  zu  ziehen,  ebenso  den  Sklaven  gegen  den  Willen 
ihrer  Herren.  Nur  denjenigen  öffentlichen  Beamten,  welche  einige  Zeit 
im  Kloster  verweilt  hatten,  gestattete  er,  den  geistlichen  Stand  zu  er- 
greifen. Er  begünstigte  das  Cönobitenleben  und  traf  Massregeln  gegen 
das  Herumschweifen  der  Mönche.  Im  Abendlande  nahm  das  Mönchthum 
einen  bedeutenden  Aufschwung;  es  befestigte  sich  innerlich  und  dehnte 
sich  äusserlich  aus.  Es  stand  nämlich  im  Abendlande  der  Mann  auf,  der 
berufen  war,  einen  neuen  Wendepunkt  in  der  Geschichte  des  Mönchthums 
zu  bilden. 

Das  Leben  Benedictes  von  Nursia  ist  von  Gregor  I.  im  zweiten  Buche 
der  Dialogen  beschrieben  worden,  vielfach  vermischt  mit  legendenartigen 
Zügen,  worin  sich  der  Charakter  der  Zeit  und  die  grosse  Verehrung,  die 
Benedict  genoss,  abspiegeln.  Für  die  weitere  Geschichte  des  Ordens  sind 
Hauptquellen,  die  annales  ordinis  Benedicti  von  Mabillon  und  Mar- 
tene  1703—1739  herausgegeben,  bis  1157  reichend,  die  Acta  Sancto- 
rum  ordinis  S,  Benedicti  von  D'Achery  und  Mabillon  1668  — 1701 
herausgegeben,  bis  1100  reichend. 

Benedict,  geboren  480,  im  Schoosse  einer  geachteten  Familie  ^)  in 
Nursia  in  Umbrien  (im  ducatus  Spoleto,  später  zum  Kirchenstaat  gehörig), 
von  den  Eltern  nach  Rom  geschickt,  um  die  Wissenschaften  zu  erlernen, 
fand  grosses  Missfallen  an  den  ausgelassenen  Sitten  der  Lehrer  sowohl 
als  der  Zöglinge  und  gab  daher  das  Studium  auf.  Er  zog  sich  in  eine 
Wildniss  zurück  in  der  Nähe  von  Neapel  und  lebte  als  Einsiedler.  Eine 
grosse  heftige  Versuchung  zur  Wollust  überwand  er  für  immer,  indem  er 
sich  nackt  in  Dornen  und  Disteln  herumwälzte.  Der  Ruf  seiner  heroischen 
Frömmigkeit  bewirkte,  dass  die  Mönche  eines  benachbarten  Klosters,  die 
ihren  Prior  verloren  hatten,  den  heiligen  Einsiedler  baten,  dessen  Stelle  zu 
übernehmen.  Das  war  der  entscheidende  Wendepunkt  in  seinem  Leben. 
Nachdem  er  die  Mönche  durch  seine  Strenge  abgestossen,  zog  er  sich 
wieder  in  die  Einsamkeit  zurück.  Doch  war  in  ihm  der  Trieb  zum  Re- 
gieren und  Wirken  erwacht,  der  fort  und  fort  genährt  wurde  durch  die 
vielen  Leute,  welche  angezogen  durch  den  Ruf  seiner  Frömmigkeit  und 
durch  die  Wunder,    die  man  von  ihm  erzählte,    sich  in  seiner  Nähe  an- 


1)  Liberiori  genere  exortus. 


Geschichte  des  Mönchthums.     Benedict  von  Nursia  463 

siedelten,  um  unter  seiner  geistlichen  Leitung  ein  gottgeweihtes  Leben  zu 
führen.  Bald  konnte  er  zwölf  Klöster  stiften.  Manche  Römer  von  Adel 
übergaben  ihm  ihre  Söhne  zur  geistlichen  Erziehung.  Wie  hatte  sich  seit 
Hieronymus  die  Stimmung  in  Italien  das  Mönchthum  betreffend  ge- 
ändert !  Die  Zeiten  waren  aber  auch  völlig  andere  geworden.  Rom  war 
fünfmal  eingenommen,  ein  paar  Male  geplündert  worden;  das  weströmische 
Reich  hatte  ein  Ende  genommen;  die  Ostgothen  beherrschten  Italien.  Die 
alte  Welt  sank  in  den  grossen  Erschütterungen  zusammen.  So  wie  zu  des 
Hieronymus  Zeit  die  Töchter  aus  den  edelsten  Familien  Rom's  mit  Eifer 
das  asketische  Leben  ergriffen,  so  sah  man  jetzt  junge  adelige  Römer  mit 
einander  wetteifern  in  derselben  Lebensweise,  die  so  ganz  der  düstern, 
durch  die  öffentlichen  Unglücksfälle  hervorgerufenen  Stimmung  entsprach. 
Als  Streitigkeiten  mit  einem  benachbarten  Priester  Benedict  bewogen,  die 
bisherige  Stätte  seines  Wirkens  zu  verlassen,  zog  er  sich  auf  einen  Berg 
zurück,  wo  das  alte  castrum  Cassinum  lag,  und  gründete  daselbst  auf  den 
Trümmern  eines  Apollotempels  ein  einfaches  Kloster,  woraus  später  die 
prächtige  Abtei  Monte  -  Cassino  geworden  ist.  Im  Jahr  529  führte  er  da- 
selbst seine  Mönchsregel  ein  ^).  Die  grosse  Ausbreitung,  die  sie  fand,  der 
Umstand,  dass  sie  das  Muster  wurde  für  alle  folgenden  Mönchsregeln  des 
Abendlandes,  lassen  es  als  nöthig  erscheinen,  sie  zum  Gegenstande  einer 
besonderen  Betrachtung  zu  machen. 

Die  Regel  hebt  an  mit  einigen  Ermahnungen,  welche  dazu  bestimmt 
sind,  den  wahren  Begriff  des  Mönchslebens  den  Gemütheyn  einzuprägen. 
An  der  Spitze  des  Ganzen  steht  die  Rückkehr  zum  Gehorsam  gegen  Je- 
sum ,  von  dem  der  Mensch  durch  Ungehorsam  sich  abgewendet.  Wer  dem 
eigenen  Willen  entsagt,  um  dem  Herrn  Jesu  Christo  zu  dienen,  der  er- 
greift die  starken  Waffen  des  Gehorsams. 

Wenn  Jemand  sich  meldet,  um  in  das  Kloster  aufgenommen  zu  wer- 
den, so  muss  man  ihm  den  Eintritt  erschweren.  Während  mehrerer  Tage 
lässt  man  ihn  allerlei  Demüthigungen  und  Anfechtungen  erfahren,  um 
seinen  Glauben  zu  prüfen,  worauf  er  aus  dem  Zimmer  der  Gäste  in  das 
der  Novizen  geführt  wird.  Einer  der  älteren  Mönche  begibt  sich  zu  ihm 
und  beschreibt  ihm  mit  lebhaften  Farben  die  Schwierigkeiten  des  Weges, 
der  zu  Gott  führt.  Beharrt  er  auf  seinem  Entschlüsse,  so  kann  er  im 
Kloster  bleiben ;  man  liest  ihm  die  Mönchsregel  vor  —  wieder  nach  sechs 
Monaten,  nach  vier  Monaten.  Ist  man  überhaupt  mit  ihm  zufrieden,  so 
wird  er  der  Aufnahme  für  würdig  erklärt.  Er  gibt  sein  Vermögen  den 
Armen  oder  dem  Kloster.  Er  schreibt  oder  lässt  eine  Bittschrift  schrei- 
ben, in  welcher  er  Gott  und  den  Heiligen  verspricht,  seine  Mönchsgelübde 
zu  halten:  stabilitas  loci  (nicht  umherzuschweifen),  conversio  morum 
—  dabei  wird  kein  besonderes  Gelübde  der  castitas  abgelegt,  sondern  es 
wird  an  einem  anderen  Orte  nur  gesagt,  der  Mönch  solle  die  Keuschheit 
lieben  (c.  4),  obedientia  gegen  den  Abt.  Er  wiederholt  diese  Gelübde 
im  Bethause  (oratorium)  des  Klosters  vor  der  versammelten  Brüderschaft. 


1)  Bei  Lucas  Holsteinius  im  codex  regularum  monasticarum  Korn  1661,  sodann  bei 
Calmet  mit  einem  weitläufigen  Commentar  versehen.    Paris  1734—1750. 


464  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Er  legt  seine  Bittschrift  auf  den  Altar,  unter  welchem  die  Reliquien  der 
Heiligen  ruhen,  damit  auch  sie  Zeugen  seines  Versprechens  seien.  Er 
wirft  sich  darauf  zu  den  Füssen  jedes  anwesenden  Bruders  nieder  und 
bittet  jeden,  für  ihn  zu  beten.  Er  legt  seine  weltliche  Kleidung  ab  und 
empfängt  das  Ordensgewand,  dessen  Hauptbestandtheile  eine  tunica  und 
eine  cucidla  oder  cuculltis  sind  i).  Wenn  Eltern  von  Adel  ihre  Kinder  dem 
Kloster  übergeben  wollen,  so  machen  sie  die  Bittschrift  und  wickeln  sie 
nebst  der  Hand  des  Kindes  in  den  Zipfel  des  Altartuches;  das  geschah 
auch,  wenn  nichtadelige  Eltern  ihre  Kinder  dem  Kloster  übergaben. 

Von  dem  Augenblicke  der  Aufnahme  an  nimmt  der  Mönch  Theil  an 
allen  gottesdienstlichen  Uebungen.  Sie  sind,  wie  zu  erwarten,  sehr  aus- 
gedehnt. In  Zeit  von  vierundzwanzig  Stunden  versammeln  sich  die  Brüder 
siebenmal  in  der  Kirche  zu  den  sieben  kanonischen  Stunden,  nach  Psalm 
119,  164:  siebenmal  des  Tages  habe  ich  dein  Lob  gesungen,  —  in  der 
Nacht  zwei  Stunden  nach  Mitternacht  nach  Psalm  119,  62:  nach  Mitter- 
nacht stehe  ich  auf,  dir  zu  danken  für  deine  gerechten  Gebote.  Die  Pau- 
sen zwischen  den  sieben  gottesdienstlichen  Stunden  sind  zum  Theil  der 
Handarbeit  gewidmet,  d.  h.  der  Gewerbsarbeit  oder  dem  Ackerbau  —  zum 
Unterhalte  des  Klosters;  Alles,  was  verkauft  wird,  soll  zu  einem  unge- 
wöhnlich niedrigen  Preise  verkauft  werden.  Die  Regel  dringt  mit  vielem 
Eifer  auf  Arbeit,  denn  sie  sagt:  der  Müssiggang  ist  eine  Pest  der  Seelen. 
Gewöhnlich  werden  die  vier  ersten  Stunden  des  Tages  der  Handarbeit  ge- 
widmet, —  es  folgen  zwei  Stunden,  für  das  Lesen  der  heiligen  Schrift  oder 
der  Schriften  der  katholischen  Lehrer  bestimmt,  —  dann  wieder  Handarbeit 
bis  zum  Mittagessen.  —  Nach  dem  Mittagessen  einige  Ruhe;  darauf  wie- 
derum Arbeit  bis  zum  Nachtessen,  nun  nochmals  Arbeit,  darauf  Schlafen, 
angethan  mit  denselben  Kleidern  wie  am  Tage.  Äer  Abt  oder  seine  Un- 
tergebenen durchwandern  während  des  Tages  das  Kloster,  um  nachzu- 
sehen, ob  alle  bei  der  ihnen  angewiesenen  Arbeit  fleissig  sind.  Was  die 
Nahrung  betrifft,  so  wird  sie  abwechselnd  von  den  Mönchen  selbst  bereitet. 
In  der  Regel  sollen  nur  die  Kranken  Fleisch  gemessen,  die  anderen  blos 
Gemüse,  Fische,  Eier,  Früchte;  während  der  Sommerarbeiten  sind  die 
ausgetheilten  Portionen  grösser  als  gewöhnlich.  Wein  erlaubt  die  Regel 
aus  Herablassung  zu  dem  ausgearteten  Geschlecht,  da  die  alten  Väter 
keinen  Wein  getrunken  hätten.  Während  der  Mahlzeit  liest  einer  der 
Brüder  aus  der  Schrift  oder  katholischen  Schriftstellern  vor;  die  grösste 
Stille  herrscht  während  der  Mahlzeit.  In  der  grossen  Fastenzeit  wird  nur 
einmal  des  Tages  gegessen.  Die  Vergehungen  betreffen  zum  Theil  sehr 
kleinliche   Dinge   und   Aeusserlichkeiten    in   Beobachtung   der    minutiösen 


1)  Die  Cuculla  war  ursprünglich  eine  Kopfbedeckung  in  Form  einer  Caputze,  wie 
sie  die  Kinder  trugen  und  hiess  auch  Caputze.  Später  wurde  die  Cuculla  zu  einem  von 
allen  Seiten  geschlossenen,  bis  auf  die  Knöchel  reichenden  Mantel,  der  nur  oben  eine 
Oeffnung  hatte,  um  ihn  über  den  Kopf  anziehen  zu  können,  daher  auch  casula  und  cappa 
genannt.  Noch  später  wurde  die  Cuculla  an  den  Seiten  geöffnet  und  mit  Aermeln  versehen. 
Benedict  gab  weislich  darüber  keine  ins  detail  gehende  Verordnungen.  (S.  c.  55  der 
Regel  und  dazu  Calmet.    Tomus  II  S.  152  etc.    Du  Cange  s.  v. 


Das  Mönchthum.    Die  Klöster.  465 

Vorschriften ,  wofür  gewisse  zum  Theil  empfindliche  Strafen  bestimmt  sind. 
Frecher  Ungehorsam,  Hochm^th  und  Verhalten  gegen  die  Oberen,  Murren 
u.  s.  w.  werden  noch  härter  bestraft.  Die  Strafen  durchlaufen  verschiedene 
Grade,  von  der  Ermahnung  in  secreto  zur  Censur  vor  allen  Brüdern, 
Entziehung  der  Nahrung,  Excommunication,  Schlägen,  Ausstossung  aus  dem 
Kloster.  Der  Excommunizirte ,  der  von  allem  Umgang  mit  den  Brüdern 
ausgeschlossen  ist,  wirft  sich,  während  die  Brüder  im  Bethause  versam- 
melt sind,  vor  der  Thüre  desselben  auf  die  Erde,  und  insbesondere  vor 
jedem  der  Austretenden,  —  und  wiederholt  diese  Acte  der  Demüthigung, 
so  lange  es  der  Abt  für  gut  findet. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  die  den  Abt  betreff'enden  Verord- 
nungen. Er  wird  von  der  ganzen  Brüderschaft  gewählt;  es  sollen  nur  die 
besten  und  frömmsten  gewählt  werden.  Denn  er  ist  der  Stellvertreter 
Christi ;  auf  ihn  geht  das  Wort  des  Herrn :  wer  euch  hört ,  der  hört  mich. 
Gehorsam  gegen  den  Abt  ist  daher  die  erste  Pflicht  des  Mönches.  Das 
dritte  Mönchgelübde  betrifft  zunächst  das  Verhältniss  zum  Abte.  Niemand 
darf  ihm  widersprechen,  nicht  einmal  ohne  seine  Erlaubniss  sich  in  seiner 
Gegenwart  niedersetzen.  Dieselbe  Ehrfurcht  wird  den  anderen  Vorgesetz- 
ten erwiesen.  Es  wurden  für  den  Abt  besondere,  aber  allerdings  sehr 
weise  Vorschriften  gegeben.  Er  soll  nichts  lehren,  oder  befehlen,  was  den 
Geboten  Christi  zuwiderlaufe.  Er  soll  eingedenk  sein,  dass  er  von  seiner 
Lehre  und  Leitung  einst  im  Gerichte  Kechenschaft  ablegen  müsse.  Er 
soll  das  Gute  und  Heilige  mehr  durch  sein  Thun  als  durch  seine  Worte 
lehren.  Er  soll  sich  hüten,  dass  er  nicht  andere  lehrend  selbst  verwerf- 
lich werde.  Er  soll  keinen  Unterschied  machen  zwischen  Mönchen,  die  als 
Freie  und  denjenigen,  die  als  Unfreie  (Leibeigene)  in  das  Kloster  getreten 
sind  1).  i)enn  in  Christo  sind  wir  alle  Eins ,  und  unter  demselben  Herrn 
leisten  wir  denselben  Kriegsdienst.  Bei  Gott  ist  kein  Ansehen  der  Person; 
nur  das  begründet  vor  ihm  einen  Unterschied,  wenn  wir  reicher  an  guten 
Werken  und  demüthiger  vor  ihm  erfunden  werden.  Hier  erscheint  das 
Mönchthum  als  Princip  der  Milderung  der  geselligen  Ungleichartigkeit. 
Der  Abt  soll  gegen  Alle  dieselbe  Liebe  beweisen.  Er  strafe  die  Laster 
gleich  vom  Anfang  ihres  Entstehens  an  und  gedenke  ües  Priesters  Eli  und 
dessen  Söhne.  Er  möge  recht  bedenken,  was  für  ein  schweres  Geschäft 
es  ist,  Seelen  zu  leiten.  Er  beklage  sich  nicht  wegen  geringen  Vermögens 
{de  minore  forte  suhstantid),  eingedenk  der  Worte  des  Herrn:  trachtet  am 
ersten  nach  dem  Reiche  Gottes  und  nach  seiner  Gerechtigkeit,  so  wird 
euch  solches  Alles  zufallen,  und:  nichts  fehlt  denjenigen,  die  ihn  fürch- 
ten 2).  Mit  den  Excommunizirten  soll  er  wie  ein  weiser  Arzt  umgehen, 
gleich  dem  Hirten,  der  neunundneunzig  Schafe  zurückliess,  um  das  eine 
verlorene  zu  suchen. 

Unter  solcher  Leitung  soll  die  mönchische  Tugend  eingeübt  werden. 
Von  Vollkommenheit  ist  keine  Rede.  Benedict  gesteht,  dass  er  nur  den 
Anfang  der  Bekehrung  herbeizuführen  beabsichtige. 


1)  Non  praeponatur  ingenuus  ex  servitio  convertenti  c.  2. 

2)  Nihil  deest  timentibus  enm. 

Herzog,  Eirchengeschichte  L  BO 


466  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

•  Es  gibt  zwölf  Grade  der  Demuth.     Der  Mönch   soll   iiiinier  Gott   vor 
Augen  haben  und  seiner  Gebote  allezeit  gedenken;  diess  ist  der  erste  Grad 
der  Demuth;  aber  schon  vorher  c.  5  wird  der  Gehorsam  als  der  erste  Grad 
der  Demuth  aufgestellt,  —   der  Mönch    soll    nicht    seinen  Willen   lieben, 
sondern  den  Willen  dessen  erfüllen,   der  da  gesagt:   ich  bin  nicht  gekom- 
men,  zu  thun  meinen  Willen.     Er   soll  aus  Liebe  zu  Gott  seinen  Vorge- 
setzten Gehorsam  leisten.      In    diesem  Gehorsam  soll  er  Ungerechtigkeit 
und  harte  Behandlung  ertragen,  —  er  soll  seinem  Obern  alle  seine  bösen 
Gedanken  beichten.    Er  soll  zufrieden  sein,   wenn  man  ihm  die  niedrigste 
Arbeit  aufträgt,    —    er   soll  sich  überdiess  als  unnützer  Knecht  ansehen. 
Er   bekenne   sich   nicht  nur   als    der   unwürdigste   unter  seinen  Brüdern, 
sondern  er  halte  sich  auch  dafür.  —    Er  soll  nur  reden,  wenn  er  gefragt 
wird.  —    Er    sei   nicht  zum  Lachen  geneigt.  —    Er   zeige    immer    seine 
Demuth;    er  gehe  einher  mit  geneigtem  Haupte,  die  Augen  auf  die  Erde 
gerichtet,    zu  jeder  Stunde  sich  wegen  seiner  Sünden  anklagend.     Es  soll 
ihm  immer  so  zu  Muthe  sein ,    als  wenn  er  jetzt  vor  dem  furchtbaren  Ge- 
richte Gottes  erscheinen  müsste,  er  soll  dazu  sagen:    Herr,  ich  bin  nicht 
werth,    meine  Augen    gegen  Himmel   aufzuheben.      Wenn  der  Mönch  alle 
diese  Stufen  der  Demuth  erstiegen  hat,   wird  er  bald  zu  jener  Liebe  Got- 
tes gelangen,  welche  als  die  vollkommene  die  Furcht  austreibt,   und  durch 
welche  er  Alles,  was  er  früher  nicht  ohne  Furcht  beobachtete,  ohne  Mühe, 
wie  von  Natur  zu  beobachten  anfangen   wird,    nicht   mehr  aus  Furcht  vor 
der  Hölle ,  sondern  aus  Liebe  zu  Christo ,  aus  Kraft  der  guten  Gewohnheit 
und  aus  Freude  an  den  Tugenden,   welche   der  Herr   seinem   von  Sünden 
reinen  Knechte   einflössen   will.   —     Hier   scheint    der   gesetzliche  Stand- 
l)unkt,   der  das  ganze  Mönchsleben  beherrscht,    überwunden  zu  jpin.    Das 
Ziel  der  evangelischen  Freiheit  wird  im  Auge  behalten.     Allein  die  ganze 
Einrichtung  des  Mönchslebens  war  nicht  dazu  geeignet,  die  Gemüther  die- 
sem Ziele  entgegenzuführen,   sie  wurden  in  knechtischer  Furcht   erhalten 
sowie  in  Werkgerechtigkeit.     Die   gesetzliche  Richtung   wurde   durch  das 
Messopfer  bestärkt  und   befestigt.      Das  Alles    passte    einigermassen   zur 
Stufe  der  Bildung,  worauf  die  Germanen  standen. 

Hier  sollen  noch  einzelne  specielle  Züge  angeführt  werden.  Bei  den 
ersten  Benedictinern  findet  man  keine  Spur  von  eigentlich  wissenschaft- 
licher Thätigkeit.  Die  Regel  verpflichtete  durchaus  nicht  dazu,  sondern 
nur  zum  Lesen,  wodurch  allerdings  Sinn  für  wissenschaftliche  Beschäf- 
tigung konnte  geweckt  werden.  Cassiodor  führte,  wie  wir  gesehen,  den 
Anfang  dazu  ein  in  dem  von  ihm  gestifteten  Kloster;  worauf  auch  die 
Benedictiner  diese  Richtung  einschlugen.  Da  der  Hang  zum  Klosterleben 
in  dieser  Zeit  so  mächtig  war,  da  die  Regel  Benedict's  diesem  Hange  die 
angemessene  Befriedigung  gab,  da  sie  ein  Heil-  und  Schutzmittel  war 
gegen  manche  Auswüchse  des  Mönchslebens,  insbesondere  gegen  das  Um- 
herschweifen der  Mönche,  so  verbreitete  sich  die  genannte  Regel  in  Ita- 
lien, Gallien,  Spanien,  verdrängte  andere  Mönchsregeln  und  gab  dem 
abendländischen  Mönchsleben  mehr  Einheit.  Doch  waren  die  Klöster  ge- 
raume Zeit  noch  völlig  unabhängig  von  einander.  Wie  zahlreich  sie  wur- 
den,   wie  später  ein   fester  Verband  zwischen  ihnen  entstand,    wie  Vieles 


Verhältniss  der  Mönche  zur  Weltgeistlichkeit.  467 

sie  geleistet  für  die  Civilisation  Europa's,  für  Erhaltung  der  heiligen  Schrift, 
der  Werke  der  alten  Classiker  und  der  Kirchenväter,  wie  sie  in  vielen 
Gegenden  des  westlichen  Europa  das  Land  urbar  gemacht,  wie  sie  sehr 
wirksame  Missionare  wurden,  das  soll  später  noch  zur  Sprache  kommen. 
Monte  Cassino  wurde  589  von  den  Longobarden  zum  ersten  Male  zerstört, 
720  wieder  aufgebaut  durch  Petronax  aus  Brescia,  der  auch  Abt  wurde.  — 
Von  Anfang  an  gab  es  auch  Nonnenklöster,  die  nach  der  Regel  Benedicts 
eingerichtet  waren,  befindlich  in  der  Nähe  der  Mannsklöster,  und  so,  dass 
Mönche  und  Nonnen  im  Chor  zusammentrafen;  welcher  Gebrauch  später 
aufhörte.  Scholastica,  die  Schwester  Benedicts,  ist  die  Stifterin  der  Bene- 
dictinernonnen. 

Von  Bedeutung  sind  die  Verhältnisse  der  Mönche  zur  Weltgeistlich- 
keit. (S.  S.  403).  Da  man  das  Mönchsleben  als  die  Vollkommenheit  des 
christlichen  Lebens  ansah,  so  hatte  man  bald  angefangen,  die  Geistlichen 
aus  den  Mönchen  zu  wählen.  Der  Widerstand  der  strengeren  Mönche 
dagegen,  sich  darauf  gründend,  dass  die  mönchische  Demuth  mit  der 
geistlichen  Würde  unverträglich  sei,  hatte  bald  aufgehört.  Der  Mönch- 
stand wurde  als  Vorbereitung  auf  den  geistlichen  Stand  angesehen.  Die 
Forderung  des  Cölibats  sollte  die  Kleriker  den  Mönchen  gleichstellen.  — 
Von  ihrem  Ursprünge  an  waren  die  Klöster  unter  der  Aufsicht  der  Bi- 
schöfe ihres  Sprengeis  gewesen.  Die  Bischöfe  schickten  in  die  Klöster  die 
zur  Verrichtung  des  Gottesdienstes  nöthigen  Priester,  diese  lebten  in  den 
Klöstern,  genährt  und  gekleidet  auf  Kosten  der  Congregation.  Es  gab 
aber  Klöster,  welche  nicht  einmal  beständig  Priester  bei  sich  hatten.  Es 
geschah  nun,  dass  Bischöfe  ihr  Ansehen  missbrauchten.  Daher  in  Africa 
einige  Klöster  in  ein  Unterthänigkeitsverhältniss  zu  einem  entfernten  Bi- 
schof, z.  B.  zum  Bischof  von  Carthago  traten.  In  Italien  erklärten  sich 
mehrere  Synode^  für  Beibehaltung  der  alten  Sitte,  dass  die  Klöster  den 
Bischöfen  ihrer  Sprengel  unterworfen  sein  sollten.  Aber  in  Verbindung 
mit  dem  Bischof  von  Rom  nahmen  sie  die  Klöster  in  Schutz  gegen  die 
Bedrückungen  von  Seiten  der  Bischöfe  und  verboten  diesen  jegliche  Ein- 
mischung in  die  eigentlichen  interiora.  —  Benedict  that  einen  Schritt, 
um  die  Klöster  von  den  Bischöfen  unabhängig  zu  machen.  Es  sollten  vom 
Abt  aus  der  Zahl  der  Mönche  einige  zu  Priestern  und  Diakonen  gewählt 
werden,  welche  nun  die  geistlichen  Functionen  zu  verrichten  hatten,  wobei 
Benedict  ihnen  einzuschärfen  gebot,  sie  sollten  sich  wegen  ihrer  geist- 
lichen Würde  nicht  überheben  und  den  Gehorsam  unter  die  Regel  nicht 
vergessen. 


'    30 


468  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns, 

Zweite  Abtheilung, 
Die  Kirche  unter  den  germanischen  Völl(ern  und  in  Grossbritannien  ^). 

Die  neuen  Entwicklungen  der  katholischen  Kirche,  die  wir  bis  dahin 
betrachtet  haben,  werden  den  germanischen  Völkern  angeeignet.  Diese 
sind  die  Erben  der  altkatholischen  Kirche,  mit  ihren  Vorzügen  und  Män- 
geln ,  mit  ihren  Tugenden  und  ihren  Fehlern,  mit  den  grossen  Wahrheiten, 
welche  die  Kirche  vertritt,  so  wie  auch  mit  den  Irrthümern,  in  die  sie 
hineingerathen  ist,  mit  ihrer  Grösse  und  ihrem  Verfalle.  Es  ist  insbe- 
sondere das  lateinische  Christenthum ,  welches  zu  den  genannten  Völkern 
übergeht,  unter  ihnen  sich  Geltung  verschafft.  Unter  diesem  Joche  ver- 
lebten sie  ihre  religiöse  Jugend,  verleben  noch  manche  derselben  ihr 
späteres  Alter.  Wir  haben  uns  übrigens  in  der  vorstehenden  Darstellung 
schon  mit  einigen  dieser  Völker  beschäftigt,  deren  Geschichte  in  die  des 
römischen  Reiches  besonders  verflochten  ist. 

Erstes  Capitel.     Yerbreitung   des  Christenthums  unter  den  germa- 
nischen Völkern  auf  dem  Continente  von  Europa. 

Am  Anfange  der  Periode  war  die  im  Jahr  375  begonnene  Völker- 
wanderung noch  nicht  beendigt,  sie  wurde  es  erst  seit  dem  Einzüge  der 
Longobarden  in  Italien  568.  Inmitten  grosser  Bewegungen  und  Umwälz- 
ungen fassen  die  germanischen  Völker  auf  dem  Boden  des  römischen 
Reiches  festen  Fuss,  und  das  Christenthum  gründet  seine  Herrschaft  unter 
einem  Theile  derselben,  und  zwar  so,  dass  mehrere  zunächst  dem  Arianis- 
mus  zufallen,  später  aber  zur  katholischen  Kirche  übertreten.  Man  kann 
aber  kaum  sagen,  dass  der  Bischof  von  Rom  unter  ihnen  Suprematrechte 
ausübt.  Nur  unter  einem  dieser  Völker  gründet  er  eine  eigentliche  Herr- 
schaft, die  nun  im  achten  Jahrhundert  durch  Missionäre  dieses  Volkes  auf 
den  Continent  von  Europa  verpflanzt  wird. 

Das  interessanteste  der  neu  gestifteten  Reiche  ist  das  der  Ost- 
gothen,  welches  einen  Theil  von  Italien,  Illyrien,  Dalmatien,  Helvetien, 
Rhätien,  Pannonien  (einen  Theil  von  Steyermark,  Kärnthen,  Ki'ayn,  Un- 
garn), Vindelicien  (einen  Theil  von  Schwaben,  Bayern,  Salzburg),  Noricum 
(Ober-  und  Innerösterreich,  einen  Theil  von  Steyermark,  Krayn,  Bayern 
und  Salzburg)  umfasste,  gestiftet  durch  Theoderich,  der  von  493  bis 
526  regierte,  der  bedeutendste  germanische  König  in  dieser  Zeit,  gross 
als  Feldherr,  Gesetzgeber,  Regent,  Administrator,  Freund  und  Pfleger  der 
Wissenschaften,  eifrig  bemüht  um  die  Wohlfahrt  und  das  Gedeihen  seiner 
Unterthanen,  in  allen  seinen  civilisatorischen  Bestrebungen  trefflich  unter- 


1)  Rettberg,  Kirchengeschichte  Deutschlands,  2  Bände  1846.  1848,  leider  unvoll- 
endet. —  Friedrich,  Kirchengeschichte  Deutschlands,  bis  jetzt  2  Bände,  1867.  1869. 
Die  Quellen  und  Bearbeitungen,  betreffend  die  Barche  in  Grossbritannien,  sind  bereits 
genannt  worden. 


Verbreitung  des  Christenthums  unter  den  germanischen  Völkern.  469 

stützt  von  seinem  Geheimschreiber  oder  Minister  Cassiodor  (S.  443),  übrigens 
arianisch  gesinnt  mit  sammt  seinem  Volke,  aber  aus  Grundsatz  sowohl  als  aus 
Politik    gegen   seine  katholischen  Unterthanen,    die   alten  Bewohner    des 
Reiches,  tolerant  und  gerecht.     Seinen  weitherzigen  Grundsatz,   dass  wir 
die  Religion  nicht  befehlen  können,  weil  Niemand  kann  gezwungen  werden, 
wider  seinen  Willen  zu  glauben,  haben  wir  schon  angeführt.    Theoderich's 
Tod  (526)    gab    das  Zeichen  zu  unheilvollen  Verwicklungen,    die   mit  der 
Zerstörung  des  ostgothischen  Reiches  endigten  (553)  ^).     Als  im  Jahr  568 
die   Longobarden    (eigentlich    Langobarden)    nach   Italien    herabgestiegen, 
eroberten   sie   zunächst   die  Pogegenden  und  dehnten   sich    darauf  gegen 
Süden  hin  aus;   doch  blieben   die  Landschaften  von  Rom  und  Neapel,   die 
Südspitze  von  Italien  und  Sicilien  in  den  Händen   von  Byzanz.    Diess  ist 
der  Anfang  der  Getheiltheit  Italiens,   die  erst  seit  wenigen  Jahren  aufge- 
hört hat  2).    Da  nun  die  Longobarden  bei  der  Eroberung  meistentheils  Aria- 
ner  waren ,  so  sah  sich  die  römische  und  katholische  Bevölkerung  in  ihrem 
katholischen  Glauben  bedroht,  denn  die  Longobarden  waren  im  Verhältniss 
zu  den  fein    gesitteten  Ostgothen  voh   und   ungeschlacht  3).     Die  Königin 
Theodelinde,   die  fromme  katholische  Gemahlin  Königs  Autharis,    kam  der 
bedrängten  Kirche  zu  Hülfe;  sie  fand  selbst  Unterstützung  bei  Gregor  dem 
Grossen.    „Das  römische  Kirchenhaupt  ward  Einheitspunkt  der  nationalen 
Interessen  4) ,  der  nationalen  Bedeutung  der  Romanen."    Erst  unter  König 
Grimoald,  f  6'71,  wurden  alle  Longobarden  katholisch;  das  byzantinische 
Italien  war  es  immer  gewesen.    Die  Burgunder,  zuerst  katholisch,  dann 
Arianer,   traten   517   wieder   zur    katholischen   Kirche   über,   worauf  die 
Franken  und  die  Ostgothen  sich  in  ihr  Reich  theilten  (534).    Die  Sueven 
in  Spanien  traten  unter  König  Theodemir  I.  (550—569)  vom  Arianismus  zur 
katholischen  Kirche    über,  ebenso   die  Westgothen   in  Spanien,   unter 
König  Reccared  589,   auf  der  Kirchenversammlung  zu  Toledo.    Im  Jahr 
534  wurde  das  arianische  Vandalenreich  in  Nordafrica  durch  Belisar  zer- 
stört,   das    ganze  von   den  Vandalen  besetzte  Land   unter   die  Herrschaft 
des  byzantinischen  Kaisers  zurückgebracht,   die  katholische  Kirche,   deren 
Mitglieder ,  Geistliche  und  Laien,  unter  den  Vandalen  Unsägliches  erlitten, 
wieder  hergestellt,  bis  Nordafrica  707  den  siegreichen  Waifen  der  Araber 

erlag. 

Unmittelbar  nach  Attila's  Tode,  vom  Jahre  453  bis  482  zeichnete 
sich  in  Noricum  Severin,  wahi'scheinlich  aus  Italien  gebürtig,  durch  seine 
geistliche  Wirksamkeit  aus,  daher  der  Apostel  von  Noricum  genannt.  In 
dieser  Provinz  des  römischen  Reiches  war  zwar  schon  seit  geraumer  Zeit 
das  Christenthum  eingeführt  worden;  so  fand  Severin  überall  in  jenen 
Ländern  Christenthum  vor,   und  zwar  katholisches  bei   den  alten  Emwoh- 


1)  Man  so,  Geschichte  des  ostgothischen  Reiches  in  Italien.  1824. 

2)  Weitzsäcker,  Artikel  Longobarden  in  der  Realencyklopädie. 

3)  Gothorum  laus  est  civilitas  custodita  sagten  die  Römer  unter  Theoderich  und 
Amalasunta.  Jornandes  sagt  von  ihnen:  pene  oranibus  barbaris  Gothi  sapientiores  seraper 
extiterunt,  Graecisque  prope  consimiles. 

4)  Wie  zu  den  Zeiten  Friedrichs  I. 


470  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

nern  des  Landes,  arianisches  bei  den  eingewanderten  Germanen,  insbe- 
sondere bei  den  Rugiern.  Um  nach  verschiedenen  Seiten  hin  wirken  zu 
können ,  nahm  er  seinen  Wohnsitz  in  der  Gegend  von  Fabiana,  einer  Stadt 
an  der  Donau,  unweit  vom  heutigen  Poechlarn.  Daselbst  gründete  er  eine 
Zelle,  d.  h.  eine  Art  von  mönchischer  Niederlassung  in  freier  Weise,  viele 
Schüler  um  sich  sammelnd,  denen  er  als  leuchtendes  Vorbild  christlicher 
Tugend  und  besonders  asketischer  Tugend  vorstand.  Eine  solche  Zelle 
oder  klösterliche  Niederlassung  gründete  er  auch  bei  Wien  auf  dem  Kah- 
lenberge,  bei  Passau  und  noch  an  anderen  Orten.  In  der  grössten  Ab- 
tödtung  lebend,  übte  er  grosse  Gewalt  über  die  Gemüther.  Von  allen 
Seiten  wendete  man  sich  an  ihn  mit  Bitten  um  Rath,  Belehrung,  auch 
um  Heilung  von  Krankheiten ;  denn  er  wurde  noch  bei  Lebzeiten  als  Wun- 
derthäter  verehrt,  wollte  aber  nicht  dafür  angesehen  sein.  Er  hat  we- 
sentlich zum  Sturze  des  Arianismus,  zur  Befestigung  der  katholischen 
Kirche ,  zur  Ausbreitung  und  Befestigung  des  Mönchthums  beigetragen  ^). 

Ein  Ereigniss  von  ungeheurer  Wichtigkeit  für  die  weiteren  Schick- 
sale des  Christenthums ,  des  katholischen  insbesondere,  war  die  Bekehrung 
der  Franken  2),  seit  dem  Siege  über  den  römischen  Feldherrn  Syagrius 
(486)  in  Gallien  festgesetzt,  unter  ihrem  Könige  Chi odo wich,  aus  dem 
Geschlechte  der  Merowinger.  Sie  fanden  in  Gallien  Christenthum  und 
zwar  katholisches  vor.  Ihre  Feinde,  die  Burgunder,  waren  Arianer;  die 
Alemannen  3j,  ebenfalls  Feinde  der  Franken,  waren  noch  Heiden.  Es 
geschah  nun  bald  nach  der  Einwanderung,  dass  katholisches  Christenthum 
theilweise  Eingang  bei  den  Franken  fand.  Chlodowich  selbst  heirathete 
eine  katholische  Königstochter,  Clothilde  (Crotechildis) ,  aus  burgundischem 
Geschlechte,  die  es  sich  zur  ernsten  Aufgabe  machte,  ihren  Gemahl  zur 
Annahme  des  katholischen  Bekenntnisses  zu  bewegen;  sie  bearbeitete  das 
Gemüth  Chlodowich's  in  diesem  Sinne.  Mittlerweile  erhoben  sich  die  krie- 
gerischen Alemannen,  welche  die  Gegenden  des  Oberrheines  und  einen 
Theil  der  Schweiz  inne  hatten.  Sie  überfielen  die  Franken  (496)  in  der 
Gegend  zwischen  Köln  und  Aachen  '*).  Im  Getümmel  der  Schlacht ,  als 
der  Sieg  sich  auf  die  Seite  der  Alemannen  neigte,  rief  der  bis  zu  Thränen 
gerührte  Chlodowich  Jesum,  den  Chlothilde  den  Sohn  des  lebendigen  Gottes 
nennt,  um  Hülfe  an  und  gelobte  ihm,  wenn  er  ihm  den  Sieg  über  die 
Feinde  verschaffe,  sich  auf  seinen  Namen  taufen  zu  lassen.  ;,Ich  sehe, 
dass  meine  Götter  keine  Gewalt  haben,  da  sie  ihren  Anhängern  nicht  zu 
Hülfe  kommen.    Nun    flehe  ich  dich  an  und  wünsche,  an  dich  zu  glauben, 


1)  S.  den  Artikel  Severin  in  der  Realencyklopädie,  wo  die  Quellen  und  die  Literatur 
weitläufig  angegeben  sind. 

2)  S.  S.  Gregorii  Florentii  Gregorii  episcopi  Turonensis  Listoriae  ecclesiasticae 
Francorum  libri  decem.  (Zuletzt  bei  Migne).  —  Loebell,  Gregor  von  Tours  und  seine 
Zeit  1839. 

3)  S.  Stalin,  Wirtembergische  Geschichte  1.  Theil  1841.  —  Hefele,  Geschichte 
der  Einführung  des  Christenthums  im  südwestlichen  Deutschland,  besonders  in  Wirtem- 
berg.  1837. 

4)  Ob  bei  Zülpich  (Tolbiacum)  scheint  zweifelhaft.  Gregor  von  Tours  gibt  gar 
keine  Oertüchkeit  an  2,  30. 


Verbreitung  des  Christenthuins  unter  den  germanischen  Völkern.  47  ^ 

nur  um  meiner  Feinde  los  zu  werden'^  i).  Darauf  wurden  die  Alemannen 
in  die  Flucht  geschlagen;  als  sie  sahen,  dass  ihr  König  getödtet  worden, 
unterwarfen  sie  sich  dem  Chlodowich,  indem  sie  zu  ihm  sagten;  schone 
des  Volkes,  schon  sind  wir  dein '^).  Er  gebot  sogleich  Einstellung  aller 
Feindseligkeiten  und  nahm  die  Unterwerfung  des  tapfern  Volkes  an.  Ale- 
mannien  hörte  damit  auf,  ein  eigenes  Reich  zu  bilden,  es  wurde  dem 
fränkischen  Reiche  einverleibt.  Clothilde,  welcher  der  König  nach  seiner 
Heimkehr  das  Vorgefallene  mittheilte,  Hess  heimlich  Remigius,  Erz- 
bischof von  Rheims  kommen ,  der  dem  Könige  sehr  zusprach ,  er  solle 
seinen  Göttern  entsagen.  „Dich  höre  ich  gerne  an,  entgegnete  Chlodowich, 
(loch  will  mein  Volk  seine  Götter  noch  nicht  verlassen,  aber  ich  werde  zu 
ihm  reden  nach  deinem  Worte."  Doch  das  war  nicht_  nöthig,  das  Volk  er- 
klärte sich  bereit,  seinen  Göttern  zu  entsagen  und  dem  Gotte  zu  folgen, 
den  Remigius  als  unsterblich  verkündigt.  Sogleich  Hess  nun  der  hocher- 
freute Bischof  Alles  zur  Taufe  vorbereiten.  Die  Kirche  zu  Rheims  wurde 
schön  geschmückt,  behangen  mit  Teppichen,  erfüllt  mit  dem  Glanz  der 
Lichter  und  dem  Dufte  köstlichen  Weihrauchs.  Der  Taufaltar  war  mit  wohl- 
riechendem Balsam  übergössen.  Als  der  König  die  Taufe  Empfing,  sagte 
ihm  Remigius:  ;7beuge  in  Sanftmuth  deinen  Nacken,  Sicamber.  Bete  an, 
was  du  verbrannt ;  verbrenne ,  was  du  angebetet  hast"  ^).  Dreitausend 
Franken  emptingen  zu  gleicher  Zeit  die  Taufe.  Aber  ein  Theil  des  Heeres 
blieb  der  alten  Religion  getreu,  sagte  sich  von  Chlodowich  los,  wie  er 
befürchtet  hatte,  und  begab  sich  unter  die  Oberhoheit  eines  seiner  Vettern 
(kehrte  jedoch  später  zu  Chlodowich  zurück). 

Man  hat  behauptet,  politische  Beweggründe  hätten  den  König  zur 
Annahme  des  Christenthums  und  insbesondere  des  katholischen  bewogen, 
um  nämlich  sich  auf  einen  besseren  Fuss  zu  den  alten  Einwohnern  des 
Landes  zu  stellen,  um  unter  dem  Vorwande  religiösen  Eifers  die  aria- 
nischen  Germanen  bekriegen  zu  können.  Doch  das  letzte  hätte  er  immer- 
hin thun  können.  Zudem  musste  er  den  Eindruck  auf  das  Heer  befürch- 
ten. In  der  That  hatte  ihn  diese  Erwägung  anfangs  nicht  ohne  Grund 
bedenklich  gemacht,  und  was  das  erste  betrifft,  so  zeigt  das  Beispiel  des 
ostgothischen  Königs  Theoderich,  dass  es  nichtkatholischen  Fürsten  mög- 
lich war,  mit  den  katholischen  Unterthanen  auf  gutem  Fusse  zu  stehen. 
Indessen  soll  keineswegs  geläugnet  werden,  dass  ein  politisches  Moment 
in  der  Bekehrung  Chlodovvig's  enthalten  ist.  Nur  muss  man  sich  das  Ver- 
hältniss  desselben  zum  Christenthum  nicht  denken  wie  dasjenige  Napoleon's 
zu  dem  Islam  während  des  Feldzuges  in  Aegypten,  wo  er  aus  rein  mili- 
tärischen Rücksichten  sich  stellte,  als  ob  er  im  Begriff  sei,  sich  zum  Pro- 
pheten aus  Mekka  zu  bekennen.  Chlodowich  glaubte  alles  Ernstes  an  den 
Sohn  Gottes,  seitdem  er  auf  sein  Gebet  bei  ihm  Hülfe  gegen  seine  Femde 
gefunden  hatte.     Dass  er  nach  wie  vor  grausam,   hinterlistig  war,   kein 


1)  Tantum  ut  eruar  ab  adversariis  meis.    Naives  Geständniss! 

2)  Ne  amplius,  quaesumus,  populus  pereat,  jam  tui  sumus.  ^        ,.  ,.     . 

3)  Greg.  Tur.  2,  31.    Mitis  depone   colla,    Sicamber.      Adora  quod  incendisti,   m- 
cende  quod  adorasti. 


472  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Mittel  scheute,  um  zu  seinen  Zwecken  zu  gelangen,  dass  das  Christenthum 
von  ihm  als  Deckmantel  seiner  Eroberungslust  gebraucht  wurde,  das  be- 
weist nicht,  dass  das  Bekenntniss  des  christlichen  Glaubens,  das  er  ab- 
legte, blos  ein  erlogenes,  erheucheltes  war;  es  zeigt  nur  soviel,  dass  sein 
Christenthum  auf  sehr  niedriger  Stufe  stand,  worüber  man  um  so  weniger 
sich  wundern  kann,  da  auch  die  Geistlichkeit  keine  bessere  Gesinnung 
kund  gab.  Einen  schlagenden  Beweis  davon  gibt  die  Art,  wie  Gregor  von 
Tours  2,  40  bei  Erzählung  der  Schandthaten  Chlodowich's  sich  äussert, 
;,dass  Gott  täglich  seine  Feinde  vor  ihm  niederstreckte,  weil  er  mit  auf- 
richtigem Herzen  vor  ihm  wandelte  und  that,  was  wohlgefällig  war  in 
Gottes  Augen, ^^  womit  er  natürlich  nicht  sagen  will,  dass  diese  Gräuel- 
thateu  dem  Herrn  angenehm  waren,  sondern  dass  Chlodowich  gut  katholisch 
gesinnt  war,  die  Zwecke  der  katholischen  Kirche  förderte,  und  dass  des- 
wegen Gott  ihm  seine  Anschläge  gelingen  liess.  Immerhin  aber  läuft  die 
Sache  darauf  hinaus,  dass  Gott  um  des  guten  Zweckes  willen  jene  Gräuel- 
thaten  mit  günstigem  Erfolge  krönte.  Der  politische  Gesichtspunkt  ver- 
drängte den  religiös -ethischen  und  nahm  zugleich  die  Gestalt  des  letz- 
teren an. 

Es  gibt  gewisse  Ereignisse  in  der  Geschichte,  in  welchen  Gottes 
Finger  mit  unverkennbarer  Deutlichkeit  hervortritt.  Ein  solches  ist  der 
Sieg  der  Franken  über  die  Alemannen  und  die  Bekehrung  Chlodowich's 
zum  Christenthum.  Hätten  die  Alemannen  gesiegt,  so  würden  sie  das 
Christenthum  in  furchtbare  Gefahr  gebracht  haben.  Denn  sie  waren 
wüthende  Feinde  des  Christenthums  und  hingen  mit  grossem  Eifer  an 
ihrer  heidnischen  Religion.  Die  Schlacht  bei  Zülpich  befestigte  die  frän- 
kische Ansiedelung  in  Gallien,  die  damit  verbundene  Bekehrung  Chlodo- 
wich's machte  die  Franken  zur  Schutzmacht  des  katholischen  Christen- 
thums gegen  die  germanischen  Völker,  die  theils  noch  Heiden,  theils  dem 
arianischen  Bekenntniss  zugethan  waren.  Sie  erwiesen  sich  später  auch  als 
Schutzmacht  des  Christenthums  gegen  die  von  Spanien  her  in  Gallien  ein- 
dringenden Araber,  die  der  tapfere  Karl  Martell  bei  Poitiers  schlug  (732). 
Dadurch  wurde  vom  Christenthum  eine  ungeheure  Gefahr  abgewendet. 

Die  Bekehrung  Chlodowich's  und  seiner  Franken  war  vor  allem  wich- 
tig für  die  Stellung  dieses  Volkes  gegenüber  den  alten  gallischen  Ein- 
wohnern des  Landes.  Beide  Völker  konnten  sich  nun  besser  zu  einem 
Volke  verschmelzen.  Der  König  setzte  nun  seine  Eroberungen  fort.  Die 
Westgothen  unter  ihrem  König  Alarich  hatten  einen  grossen  Theil  des 
südlichen  Galliens  inne.  Chlodowich  urtheilte:  ;,es  ist  mir  lästig,  dass 
diese  Arianer  einen  Theil  Galliens  inne  haben.  Lasst  uns  sie  überwinden 
und  ihr  Land  erobern^  (Gregor  2 ,  37).  Alarich  fiel  507  in  der  Schlacht 
bei  Poitiers ,  die  Westgothen  wurden  in  Gallien  auf  Guyenne  und  Langue- 
doc  beschränkt.  Chlodowich  machte  sich  auch  an  die  Burgunder.  Nach- 
dem er  den  Sohn  des  Königs  Sigbert  beredet  hatte,  den  eigenen  Vater  zu 
tödten,  tödtete  er  den  Vatermörder  und  bemächtigte  sich  seines  Königreiches. 
Das  bei  Chlodowich's  Tode  (511)  schon  bedeutend  erweiterte  Reich  der 
Franken  dehnte  seitdem  seine  Grenzen  noch  weiter  gegen  Osten  aus; 
c.  528  wurden   die  Thüringer   und  Bayern   unterworfen.     Das    fränkische 


t)a8  Christenthum  auf  den  britannischen  Inseln.  473 

Reich  war  seit  dem  Untergang  des  ostgothischen  in  Italien,  später  des 
westgothischen  in  Spanien  das  bedeutendste  germanisch -romanische  Reich 
in  Europa.  Seitdem  die  merovingischen  Könige  in  Schlaffheit  und  Unthä- 
tigkeit  versanken,  erhoben  sich,  wie  gerufen,  um  die  wankende  Macht  zu 
retten,  die  fränkischen  Majordomen.  Pipin  von  Heristall  (Schloss  an  der 
Mosel)  durfte  sich  seit  687  dux  et  princeps  Francorum  nennen  und  erwies 
sich  durch  die  That  als  solchen. 


Zweites  Capitel.    Die  britannischen  Inseln 

wurden  die  zweite  grosse  Schutzmacht  des  katholischen  Christenthums. 
Die  Franken  waren  hauptsächlich  die  politische,  militärische,  Grossbritan- 
nien die  geistige  Schutzmacht  der  Kirche,  der  Feuerheerd  der  Missionen. 
In  England  breitet  sich  neben  dem  altkatholischen  das  römisch-katholische 
Christenthum  aus.  Es  entsteht  ein  zum  Theil  blutiger  Kampf  zwischen 
beiden  Formen  des  Katholicismus ,  wobei  die  römische  den  endlichen  Sieg 
davon  trägt  und  England  Rom  unterworfen  wird  i). 

In  Irland  nahm  seit  Patrik  das  Christenthum  einen  mächtigen  Auf- 
schwung; ein  Jahrhundert  nach  ihm  war  fast  ganz  Irland  christlich;  zahl- 
reiche Klöster  erblühten.  Das  Land  erhielt  den  Ehrennamen  insula 
Sanetorum.  Columba,  der  ältere  (518 — 597),  that  sich  im  sechsten  Jahr- 
hundert unter  ihnen  besonders  hervor.  Von  seinem  Coenobium  Dearmag 
aus  regierte  er  als  Altbischof  die  irische  Kirche;  bald  setzte  er  nach 
Schottland  hinüber  und  predigte  den  wilden  Pikten  das  Evangelium  mit 
besserem  Erfolge  als  im  vorhergehenden  Jahrhunderte  Ninian  es  gethan 
hatte.  Schon  hatte  ein  verjagter  Pikten -König,  der  in  Irland  den  christ- 
lichen Glauben  angenommen,  in  der  Nähe  des  jetzigen  Perth  ein  Coenobium 
zur  Bekehrung  seines  Volkes  gegründet.  Da  schenkten  die  bekehrten 
Pikten  dem  von  ihnen  hochverehrten  Columba  die  Insel  Hy,  auch  Jona, 
Jowa  genannt,  an  der  Westküste  Schottlands  gelegen,  daselbst  gründete 
er  ein  Coenobium.  Von  diesem  sowie  von  dem  zu  Dearmag  aus  wurden  in 
Grossbritannien  sowie  in  Irland  noch  sehr  viele  Coenobien  gegründet.  Von 
Hy  aus  führte  Columba  das  Regiment  über  die  irisch -schottische  Kirche, 
als  abbas  presbyter,  dem  sowie  seinen  Nachfolgern  selbst  die  Bischöfe  un- 
tergeben waren  2).  Später  that  sich  unter  den  Verkündigern  des  Evan- 
geliums Aidan  hervor,  den  König  Oswald  von  Northumberland  nach 
seinem  Uebertritte  zur  christlichen  Kirche  als  Bekehrer  in  das  Land  be- 
rufen (635).  Am  Ostrande  desselben  auf  der  Insel  Lindisfarne  (jetzt 
holy  Island)  gründete  er  ein  Coenobium,  durchwanderte  zu  Fuss  das  Land 


1)  S.  die  früher  über  Grossbritannien  angeführten  Werke  S.  427,  besonders  Beda's 
Kirchengeschichte,  die  Werke  von  Ebrard  nnd  Greith,  von  Werner,  ßonifacius,  der 
Apostel  der  Deutschen  und  die  ßomanisirung  von  Mitteleuropa.  1875. 

2)  Beda  3,  4  habere  autem  solet  ipsa  insula  rectorera  seraper  abbatem  presbyterura, 
cujus  jure  et  omnis  provincia  et  ipsi  etiam  episcopi  ordine  inusitato  debeant  esse  sub- 
jecti,  juxta  exemplum  primi  doctoris  illius,  qui  non  episcopus  sed  presbyter  extitit  et 
monacbus. 


>^74  Dritte  Periode  des  alten  Katholicisnius. 

und  bekehrte  bald  die  Einwohner,  auf  die  er  durch  das  Beispiel  seines 
Eiters,  seiner  Entsagung  den  besten  Eindruck  machte.  Der  fromme  Kö- 
nig Oswald,  voll  von  Eifer  für  die  geistliche  Wohlfahrt  seines  Volkes,  Hess 
sich  sogar  dazu  herab ,  wenn  Aidan ,  der  sächsischen  Sprache  anfangs  un- 
kundig, predigte,  neben  ihm  stehend,  das  Vorgetragene  zu  dollmetschen. 
Aidan  stand  durchaus  nicht  vereinzelt  unter  den  irisch -schottischen  Geist- 
lichen. Beda,  dessen  Urtheil  vollkommen  unparteiisch  ist,  da  er  römischer 
Katholik  war,  gibt  jener  Geistlichkeit  im  Allgemeinen  ein  sehr  gutes 
Zeugniss.  Bald  wurden  noch  andere  angelsächsische  Königreiche  für  das 
Christenthum  gewonnen.  In  Wallis  und  Cornwallis  hatte  sich  das  Christen- 
thum  seit  der  angelsächsischen  Einwanderung,  wie  es  scheint,  unabhängig 
von  der  iro- schottischen  Kirche  erhalten.  Schon  510  war  daselbst  das 
Kloster  Bangor  entstanden,  welches  zweitausend  Mönche  umfasste,  nicht 
zu  verwechseln  mit  dem  gleichnamigen  in  Irland. 

Unterdessen  war  in  England  eine  andere  Macht  zum  Schutze  und 
zur  Verbreitung  des  Christenthums  aufgetreten,  —  die  Macht  Roms.  Beda 
(2, 1)  berichtet  als' eine  von  den  Vätern  ererbte  Sage,  dass  Gregor  der  Grosse, 
als  er  noch  Mönch  war,  einst  auf  dem  Markte  zu  Rom  junge  Männer  von 
edler  Physiognomie  ausgestellt  sah,  die  als  Sklaven  verkauft  werden  soll- 
ten. Die  verschiedenen  Könige  der  angelsächsischen  Ileptarchie  führten 
nämlich  beständig  Krieg  mit  einander  —  und  verkauften  die  Gefangenen 
als  Sklaven.  Als  er  erfahren,  dass  die  Ausgestellten  Heiden  seien,  soll 
Gregor  den  Gedanken  gefasst  haben,  das  Evangelium  in  England  zu  ver- 
kündigen; der  Pabst  war  geneigt,  ihn  als  Missionar  reisen  zu  lassen;  aber 
die  Einwohner  von  Rom  sollen  sich  diesem  Vorhaben  widersetzt  haben. 
Die  Sache  ist  an  sich  wahrscheinlich,  wenn  auch  die  Worte,  die  Gregor 
bei  dem  Anblicke  jener  Sklaven  ausgesprochen  haben  soll,  auf  Rechnung 
der  dichtenden  Sage  eingeschrieben  werden  mögen.  Fortan  beschäftigte 
der  Gedanke  einer  Mission  unter  den  Angelsachsen  die  Seele  Gregors. 
Wusste  er  doch  um  die  Existenz  der  iro -schottischen  Kirche,  er  mochte 
befürchten,  dass  sie  mehr  und  mehr  sich  ausdehnen  und  für  die  Herrschaft 
Roms  eine  drohende  Stellung  einnehmen  könnte.  Die  Verwerfung  der 
drei  Capitel  durch  die  römischen  Bischöfe  Vigilius  und  Pelagius  I.  hatte 
wie  überall  im  Abendlande,  so  auch  in  Grossbritannien  grosses  Misstrauen 
gegen  Rom  geweckt;  die  Bischöfe  Hiberniens  hatten  ihre  Missbilligung  der 
Verwerfung  der  drei  Capitel  in  einem  eigenen  Schreiben  an  Gregor  in 
ziemlich  scharfem  Tone  ausgesprochen,  indem  sie  daher  die  grossen  Un- 
glücksfälle, die  über  Italien  eingebrochen  waren,  ableiteten.  Gregor  fand 
es  für  nöthig,  an  diese  Bischöfe  ein  Mahn-  und  Entschuldigungsschreiben 
desshalb  zu  richten,  worin  er  die  Sache  so  darzustellen  suchte,  als  ob  die 
drei  Capitel  lediglich  Personen,  keineswegs  eine  dogmatische  Frage  be- 
träfen. Er  wünscht  nun,  dass  ihr  unverfälschter  Glaube  sie  (die  hiber- 
nischen  Bischöfe)  zur  Mutterkirche,  die  sie  gezeugt  habe,  zurückführe; 
er  spricht  die  Erwartung  aus,  dass  sie  zur  römischen  Einheit  {ad  unitatem 
nostram)  zurückkehren  werden  (592).  —  Bereits  hatte  sich  also  die  Fiction 
gebildet,  dass  die  britische  oder  keltische  Kirche  eine  Tochter  der  römi- 
schen sei,  und  früher  ihi'  unterworfen  gewesen.    Um  so  mehr  ist  die  Ver- 


Bas  Christenthum  auf  den  tritannischen  Inseln.  475 

mutliung  gegründet,  dass  der  Papst  dieser  unabhängigen  kirchlichen  Macht 
einen  Damm  entgegenstellen  wollte. 

Seitdem  er  Pabst  geworden,  schritt  er  zur  Ausführung  seines  Vor- 
habens. Allerdings  lieferte  er  damit  ein  Meisterstück  von  pastoraler 
Weisheit  und  berechnender  Klugheit  sowohl  als  kühnen  Unternehmungs- 
geistes. Im  Jahr  596  schickte  er  Augustin,  Abt  des  Benedictinerklosters 
St.  Andreas  in  Rom  mit  mehreren  1)  Mönchen  nach  England.  Unterwegs 
scheinen  sie  aus  Furcht  vor  der  als  grausam  bekannten  Nation  der  Angel- 
sachsen, deren  Sprache  sie  nicht  einmal  kannten,  den  Muth  verloren, 
ihrem  Vorgesetzten  den  Gehorsam  aufgekündigt  zu  haben;  sie  schickten 
ihn  desshalb  zurück  nach  Korn,  um  sich  vom  Pabste  die  Erlaubniss  zur 
Rückkehr  zu  erbitten.  Gregor  wollte  nichts  davon  wissen;  in  dem  Briefe, 
den  er  dem  Augustinus  mitgab,  ermahnte  er  sie,  ihrem  Vorgesetzten  Ge- 
horsam zu  leisten.  In  England  angekommen ,  und  auf  einer  kleinen  Insel 
Thanet  in  der  Themse  gelandet,  benachrichtigten  sie  den  König  Ethelbert 
von  Kent  von  ihrer  Ankunft,  in  beweglichen  Worten  die  Botschaft,  die 
sie  ihm  brachten,  anpreisend.  Ethelbert  war  zwar  kein  Christ,  doch  kein 
Feind  des  Evangeliums,  und  seine  Frau,  die  fränkische  Prinzessin  Bertha, 
war  katholische  Christin;  bewogen  durch  dies^,  ging  er,  die  neuen  An- 
kömmlinge zu  besuchen.  Da  er  aber  befürchtete,  sie  möchten  Zauberer 
sein ,  ging  er  ihnen  auf  freiem  Felde  entgegen.  Augustin  mit  den  Seinen 
zog  heran  in  einem  auf  das  Gemüth  des  Barbaren  wohl  berechneten  Auf- 
zuge, ein  silbernes  Crucitix  und  Gemälde  von  Christo  vor  sich  her  tragend 
und  unter  Absingung  von  Litaneien.  Darauf  hielten  sie  eine  geistliche 
Ansprache  an  den  König  und  sein  Gefolge,  worauf  dieser  erwiderte:  was 
sie  da  vorgebracht  hätten,  sei  zwar  recht  schön,  aber  er  könne  jetzt  noch 
nicht  aufgeben,  was  die  Nation  der  Angelsachsen  so  lange  Zeit  hindurch 
festgehalten.  Doch  werde  er  für  ihren  Wohnsitz  und  ihren  Unterhalt  sor- 
gen; auch  wolle  er  nicht  verhindern,  dass  sie  alle,  die  sie  könnten,  für 
ihren  Glauben  gewännen.  Darauf  wies  er  ihnen  ein  Haus  in  seiner  Haupt- 
stadt Dorovernum,  dem  späteren  Canterbury,  an.  Ihr  stilles,  erbauliches, 
thätiges  und  frugales  Leben  machte  auf  die  Bewohner  des  Landes  den 
besten  Eindruck.  Zu  Weihnachten  598  empfingen  zehntausend  Angelsachsen 
die  Taufe,  welche  „die  Einfachheit  des  Lebens  der  Bekehrer  und  die 
Süssigkeit  ihrer  himmlischen  Lehre  bewunderten.^'  Nach  einiger  Zeit  be- 
kannte sich  auch  der  König  Ethelbert,  den  Gregor  durch  dessen  Gemahlin, 
die  neue  Helena,  wie  er  sie  nannte,  bearbeiten  liess,  zum  christlichen  Glau- 
ben. Der  Pabst  hielt  ihm  das  Verfahren  Constantin's  zur  Nacheiferung  vor. 
Sein  Beispiel  bewirkte,  dass  noch  mehrere  Angelsachsen  die  Taufe  be- 
gehrten, wobei  der  König,  wie  Beda  berichtet,  zwar  den  Bekehrten  seme 
Gunst  zuwendete,  aber  gegen  die  Unbekehrten  in  keinerlei  Weise  Zwang 
übte;  denn  er  hatte  von  seinen  Lehrern  gehört,  der  Dienst  unter  Christo 
{servitium  Christi)  müsse  ein  freiwilliger,  nicht  ein  erzwungener  sem. 
Darauf  begab  sich  Augustinus  nach  Arles,  um  sich,   der  Anordnung  Gre- 


1)  Beda  1,  23  nennt  nur  plures,  später  1,  25  ferme  quadraginta;  es  waren  noch 
andere  dazu  gekommen. 


476  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismas. 

goi^s  gemäss,    vom    dortigen  Erzbischof  zum  Erzbischof  der  Angelsachsen 
weihen   zu   lassen.     Bei   diesem  Anlasse   ertheilte    er   ihm,    der,    wie    es 
scheint,   beschränkten  Sinnes    war,   als  Antwort   auf  eine  Anzahl  Fragen, 
die  Augustin  an  ihn  gerichtet    hatte,    vortreffliche  Instructionen,    die  den 
praktischen   Sinn  Gregor's   bekunden.      Unter  Anderem   empfahl   er   ihm, 
alles  Gute,   was  er  anderwärts  ftnde,   in  die  neue  angelsächsische  Kirche 
zu  übertragen,  sich  nicht   steif  an    die   römischen  Gebräuche   zu   halten. 
Alsobald  schickte  er  ihm  nach  der  damals  aufkommenden  Sitte  als   beson- 
dere Auszeichnung  das  erzbischöfliche  Pallium,   welches   er  bei  der  Messe 
tragen  sollte.    Er  verfuhr  überhaupt,  als  ob  das  ganze  Land  schon  christ- 
lich geworden  wäre  und   zwar  in   römisch-katholischer  Form.     Auf  sein 
Geheiss  sollte  Augustinus  ein  zweites  Erzbisthum  in  York  errichten,  und  dies 
dem  Augustinus  unterworfen  sein;  jedem  der  beiden  Erzbisthümer  sollten 
zwölf  Bisthümer  untergeordnet  werden ,   die   noch  aus  den  Heiden  gebildet 
werden  sollten.    In  den  päbstlichen  Instructionen  darüber  war  angedeutet, 
dass  diese  Erzbisthümer  alle  Priester  in  Britannien  umfassen  sollten.    Alle 
sollten  aus  Augustinus  Wort  und  Leben   die  Form   des   richtigen  Glaubens 
und  rechten  Wandels  (et  rede  credendi  et  bene  vivendi  fwmam)  empfangen. 
Schon  früher  hatte  er  ihm  geschrieben,    dass  er  ihm  alle  Bischöfe  Britan- 
niens übergebe,  auf  dass  die  Unwissenden  belehrt,  die  Schwachen  gestärkt, 
die  Schlechten  durch  Zucht  gebessert   würden.     Indem  Gregor  dem  Augu- 
stin solche  Arbeit  anwies,   versäumte  er  nicht,   ihn  soviel  wie   möglich  zu 
unterstüzen.    Es  kamen  neue  Arbeiter,  die  in  das  angefangene  W^erk  ein- 
traten;   sie   brachten    kostbare  Gefässe,    Priestergewänder,   Altarzierden, 
Bücher,  Missale  mit.    Eine  Instruction,  die  dem  Pabste  besonders  am  Her- 
zen lag  und  worüber  er  lange  nachgedacht  hatte,  schickte  er  dem  Augustin 
nachträglich;  sie  betraf  die  demselben  und  dem  König  früher  gegebene  Ermahn- 
ung, überall  die  Götzentempel  und  Insignien  des  Heidenthums  zu  zerstören. 
Gregor  hatte  sich  inzwischen  überzeugt,  dass  eine  solche  Massregel  der  auf- 
blühenden Kirche  zum  Schaden  gereichen  könnte.  So  befahl  er  nun,  die  Götzen- 
tempel nicht  zu  zerstören,  sondern  die  Götzenbilder  hinaus  zu  werfen,  die 
Tempel  mit  Weihwasser  zu  besprengen,   Altäre  zu  erbauen  und  Reliquien 
hineinzulegen.    Als  Grund  gibt  er  an,  dass  das  Volk  durch  solche  Schonung 
sich  eher  bewegen  lassen  werde,    seinen  Irrthum   abzulegen,    und  an  den 
gewohnten  Stätten  sich  zu   versammeln   zur  Anbetung  des  wahren  Gottes. 
Auch    die   den  Göttern  gebrachten  Opfer  von  Rindern   sollten   nur   dahin 
abgeändert  werden,    dass  am  Tage   der  Einweihung  der  Kirchen  oder  am 
Todestage  der  Märtyrer  das  Volk  um  die  früher  zum  Götzendienst  benutz- 
ten Tempel  herum  Zelte  von  Baumzweigen  mache  und  durch  religiöse  Gast- 
mähler das  Fest  verherrliche.    ^^Denn",  so  sagte  der  Pabst,   „es  ist  nicht 
möglich,    rohen  Gemüthern  Alles   zugleich  zu  nehmen.     Wer  die  höchste 
Stufe  erreichen  will,  muss  schrittweise,  nicht  in  Sprüngen  sich  dazu  erhe- 
ben*' (Beda  1,  30).     Diese   letzte  Verordnung  konnte  freilich  eine  gefahr- 
drohende Tragweite  erhalten,   und  zur  Vermengung  von  Christlichem  und 
Paganischem  verleiten. 

Doch   es  galt  nicht  blos,  Heiden  zu   bekehren,   sondern    die  ältere 
Kirche  Grossbritanniens  unter  das  Joch  Rom's   zu  beugen.     Es  lässt  sich 


Das  Christenthum  auf  den  britannischen  Inseln.  477 

von  vorn  herein  erwarten ,  dass  jene  Kirche  in  mehr  als  einem  Punkte 
sich  von  derjenigen  unterschied,  deren  Vertreter  Augustin  und  seine  Ge- 
fährten waren.  Daher  entstand  ein  Kampf  zwischen  beiden  Kirchenformen, 
der  altkatholischen  und  der  römisch-katholischen,  welche  letztere  in 
kräftigem  Aufblühen  begriffen  war.  Es  ist  noch  nicht  der  Ort,  alle  Eigen- 
thümlichkeiten  der  altkatholischen  Kirche  Grossbritanniens  ins  Auge  zu 
fassen.  Wir  besprechen  vorerst  nur  diejenigen,  über  welche  gestritten  wurde. 
Augustin  berief  nämlich  (601)  mit  Hülfe  des  Königs  Ethelbert  die 
Bischöfe  der  zunächst  gelegenen  Provinz  der  Britonen  zu  einer  Zusammen- 
kunft und  suchte  sie  durch  brüderliche  Ermahnung  zu  bereden,  dass  sie, 
den  katholischen  Frieden  im  Verhältniss  zu  einander  festhaltend,  gemein- 
sam den  Heiden  das  Evangelium  j)redigen  sollten.  Hier  erwähnt  Beda  2, 2 
nur  die  Differenz  der  Osterberechnung  i)  und  setzt  hinzu,  dass  jene  Bischöfe 
noch  manches  Andere  thaten,  was  der  kirchlichen  Einheit  zuwider  lief, 
und  dass  sie  weder  durch  Bitten  noch  durch  Scheltworte  {increpationibus), 
noch  durch  ein  von  Augustin  verrichtetes  Wunder  (über  dessen  Authentie 
man  in  Zweifel  sein  kann)  sich  bewegen  Hessen,  ihre  eigenen  Traditionen 
aufzugeben.  Bald  darauf  fand ,  nach  gemeinsamer  Verabredung  eine  neue 
Synode  statt,  woran  auch  gelehrte  Männer  aus  dem  angesehensten  bri- 
tischen Kloster,  Bangor,  Theil  nahmen.  Sie  nahmen  vor  allem  Anstoss 
daran,  dass  Augustin  mit  den  Seinen  nicht  aufstand,  als  sie  in  die  Ver- 
sammlung traten;  darüber  erzürnt,  wiesen  sie  alle  seine  Vorschläge  ab. 
Er  eröffnete  ihnen  nämlich,  dass  sie  in  vielen  Dingen  der  Gewohnheit  der 
allgemeinen  Kirche  zuwider  handelten;  doch,  wenn  sie  in  drei  Punkten 
ihm  gehorchen  wollten,  d.  h.  Ostern  zu  der  richtigen  Zeit  feiern,  die  Taufe 
nach  dem  Ritus  der  römisch-apostolischen  Kirche  administriren  2) ,  gemein- 
sam mit  ihnen  den  Angelsachsen  das  Evangelium  verkündigen,  so  wollten 
sie  (Augustin  und  seine  Begleiter)  alles  Uebrige,  was  sie  thäten,  obschon 
ihren  Gebräuchen  zuwiderlaufend,  mit  Gleichmuth  tragen.  Alles  war  ver- 
gebens, zum  grossen  Aerger  des  Erzbischofs  Augustin,  der  sich  besonders 
auch  durch  die  Erklärung  des  Abtes  D  e  y  n  0  c  h  von  Bangor  verletzt  fühlte. 
Aufgefordert  zur  Unterwerfung  unter  Rom,  hatte  dieser  erklärt:  er  sei 
bereit,  dem  römischen  Bischof  Gehorsam  zu  leisten,  aber  nur  wie  jedem 
anderen   frommen  Christen   durch  Liebe,   Wohlwollen   und   thätige  Hülfe. 


1)  Mit  dieser  Differenz  verhielt  es  sich  so;  Um  den  unsicheren  Berechnungen,  ver- 
möge welcher  in  verschiedenen  Kirchen  Ostern  nicht  an  demselben  Tage  gefeiert  wurde, 
ein  Ende  zu  machen,  hatte  der  Abt  Dionysias  exiguus  im  Jahr  525  eine  neue  Ostertafel 
aufgestellt,  welche  zuerst  in  Italien,  sodann  in  den  übrigen  abendländischen  Kirchen 
Eingang  fand  (S.  369).  Die  altbritische  Kirche  dagegen  war  bei  der  vor  Dionysius  gel- 
tenden Berechnung,  d.  h.  bei  dem  Cyclus  von  84  Jahren  geblieben  (quae  computatio 
octoginta  quatuor  annorum  circulo  continetur  Beda  2,  2),  so  dass  nun  in  England,  wo 
die  altkatholische  und  die  römisch-katholische  Kirchenform  sich  berührten,  ähnliche  Ver- 
wirrung entstand,  wie  früher  in  der  katholischen  Kirche  überhaupt.  (S.  Beda  2,  2.  19. 
3,  4.  25). 

2)  Worin  die  Kelten  hierin  von  dem  römisch-katholischen  Ritus  abwichen,  ist  nicht 
ganz  deutlich. 


478  Dritte  Periode  des  alten  Katliolicismus. 

Von  einem  anderen  Gehorsam  wisse  man  bei  den  Seinen  nichts  ^).  Augiistin  soll 
ihnen  erkLärt  haben,  da  sie  den  Frieden  mit  den  Brüdern  nicht  annehmen 
wollten,  so  würden  sie  von  Feinden  Krieg  erleiden  müssen.  In  der  That 
überzog  einige  Jahre  darauf,  nach  Augustinus  Tode,  der  König  von  Nort- 
humberland,  aufgestiftet  vom  König  Ethelbert,  das  Land  mit  Krieg.  Eine 
grosse  Menge  Mönche  von  Bangor,  die  hinter  der  Schlachtlinie  für  den 
Sieg  der  Ihrigen  beteten,  wurden  auf  Befehl  des  feindlichen  Königs  nieder- 
gemacht, 1200  an  der  Zahl,  das  Kloster  wurde  zerstört  und  die  Einwohner 
des  Landes  unterwarfen  sich  Rom.  Beda,  der  sonst  so  milde  Beda,  sieht  in 
diesem  Eintreffen  des  von  Augustin  angekündigten  Verderbens  ein  göttliches 
Strafgericht  über  die. Verachtung  der  göttlichen  Heilsabsichten;  damit  spricht 
er  gewiss  das  Urtheil  mancher  Zeitgenossen  des  Unglückes  aus. 

So  war  denn  die  Frage,  betreffend  die  Unterwerfung  unter  Rom  zu 
einer  brennenden  Frage  geworden ;  zu  der  Differenz  in  der  Osterberechnung 
kam  noch  diejenige  betreffend  die  Tonsur  der  Geistlichen.  Während  die 
römischen  die  uns  bekannte  Tonsur  hatten,  die  angeblich  vom  Apostel  Pe- 
trus sich  ableitet,  schoren  sich  die  britischen  das  Haar  auf  der  Vorderseite 
des  Kopfes  zwischen  den  Ohren,  und  li essen  ihr  langes  Haar  über  den  Bücken 
herunterwallen,  das  wurde  gewöhnlich  die  Tonsur  des  Apostels  Paulus  ge- 
nannt; die  römischen  aber  behaupteten,  das  sei  die  Tonsur  des  Magiers 
Simon;  so  wurde  diese  unschuldige  Differenz  neuer  Anlass  zur  Feindschaft. 

Es  folgte  ein  halbes  Jahrhundert  von  Unruhen,  Streitigkeiten,  durch 
welche  die  heidnischen  Bewohner  nur  wenig  zum  Uebertritte  bewogen 
werden  mochten.  In  Northumberland  zumal  stritten  sich  beide  Kirchen- 
formen um  die  Herrschaft.  Unter  dem  Nachfolger  des  ehrwürdigen,  ver- 
dienstvollen Aidan,  Colman,  ereignete  es  sich,  dass  der  König  und  die 
Königin  zu  verschiedenen  Zeiten  Ostern  feierten.  Der  König  Oswin  ver- 
anstaltete deswegen  im  Nonnenkloster  Strenaeshalch  (664)  ein  Reli- 
gionsgespräch zwischen  Colman  und  dem  römisch-katholischen  Priester 
Wilfrid  im  Beisein  des  Königs  und  seines  Sohnes,  so  wie  noch  mehrerer 
Geistlichen  von  beiden  Seiten.  Nachdem  das  Gespräch  schon  eine  Zeitlang 
sich  hingezogen,  sagte  Wilfrid  zu  Colman,  der  sich  auf  das  Vorbild  des 
hochverehrten  Columba  berufen  hatte,  ^obschon  Euer  Columba,  der  auch 
der  unsre  war,  sofern  er  Christi  war,  heilig  und  mit  mächtigen  Wunder- 
kräften ausgestattet  war,  kann  er  vorgezogen  werden  dem  seligen  Fürsten 
der  Apostel,  zu  dem  der  Herr  gesagt  hat:  du  bist  Petrus,  und  auf  diesen 
Felsen  werde  ich  meine  Kirche  bauen,  und  die  Pforten  der  Hölle  werden 
nichts  gegen  sie  vermögen,  und  ich  werde  dir  die  Schlüssel  des  Himmel- 
reiches geben?  Darüber  erstaunt,  frug  der  König,  ob  der  Herr  Petrus  in 
der  That  so  ausgezeichnet  habe.  Auf  die  bejahende  Antwort  Colman's  frug 
der  König  weiter,  ob  Cdumba  dieselbe  Macht  erhalten  habe.  Als  Colman 
verneinend  geantwortet,  fuhr  der  König  fort:  Ihr  stimmt  also  darin  über- 
ein, dass  jene  Worte  des  Herrn  zu  Petrus  gesagt  sind  ?  beide  bejahten  die 
Frage,  worauf  der  König  erwiderte:  diesem  Thürhüter  mag  ich  nicht  wi- 
dersprechen.   Ich  begehre  so  viel  wie  möglich  allen  seinen  Befehlen  Folge 


1)  Rettberg  1,  319. 


Das  Christenthum  auf  den  britannischen  Inseln.  479 

ZU  leisten,  damit  nicht,  wenn  ich  dereinst  vor  die  Thüre  des  Himmelreiches 
komme,  Niemand  da  sei,  der  mir  sie  aufschliesse.  Damit  war  der  Sieg 
Roms  in  Northumberland  entschieden.  Alle  Anwesenden  gaben  mit  gen 
Himmel  erhobenen  Hcänden  ihre  Zustimmung  zu  erkennen.  Colman  zog 
sich  nach  Schottland  zurück  (Beda  3,  25).  Wilfrid  wurde  römischer  Bi- 
schof von  Northumberland;  statt  des  lateinischen  führte  er  den  anglischen 
Kirchengesang  ein. 

Die  römische  Kirchenform  machte  reissende  Fortschritte  in  England, 
ohne  jedoch  die  ältere  ganz  zu  verdrängen.  Sie  empfahl  sich  im  Gegensatze 
gegen  die  Einfachheit  des  altkeltischen  Gottesdienstes  durch  imponirenden 
Prunk,  so  wie  auch  durch  steinerne  Kirchen,  wogegen  die  altkeltischen  von 
Holz  erbauten  Kirchen  unvortheilhaft  abstachen.  Im  Jahr  668  kam  Theo- 
dorus,  ein  wissenschaftlich  gebildeter  Mann,  als  vom  Pabst  geweihter 
Erbischof  von  Canterbury  nach  England  und  war  bis  690  unermüdlich  thätig 
für  Rom.  Eine  Synode  in  Hertford  673  befestigte  das  Werk.  Als  der  Abt 
Adamnanus  von  Jowa  sich  von  dem  Vorzug  der  römischen  Osterberech- 
nung hatte  überzeugen  lassen ,  fügten  "sich  die  Irländer.  Nur  Schottland, 
Jowa  an  der  Spitze,  das  Adamnan  verlassen  hatte,  sammt  den  Pikten  und 
einem  Theile  der  Britonen  leistete  Widerstand.  Aber  der  König  der  Pik- 
ten Naiton  IL,  bearbeitet  durch  Abt  Ceolfrid  in  einem  langen  von 
Beda  (5,  21)  mitgetheilten  Briefe,  führte  die  römische  Osterberechnung  ein 
(c.  680).  Welch  ein  wichtiger  Streitpunkt  die  Form  der  Tonsur  geworden 
war,  ergibt  sich  aus  demselben  Briefe  des  Abtes  Ceolfrid  an  den  König  der 
Pikten.  Nun  aber  wurde  sogar  das  Kloster  Jowa  unter  Abt  Dunchad 
durch  den  Mönch  Egbert  für  die  römische  Berechnung  des  Osterfestes  und 
für  die  römische  Form  der  Tonsur  gewonnen,  —  doch  ohne  den  römischen 
Supremat  eigentlich  anzuerkennen.  Die  iro  -  schottische  Kirche  von  Jowa 
blieb  selbständig  und  besass  als  unbestrittenes  Gebiet  Nordirland  nebst 
Albanien  und  das  Reich  der  Briten,  welches  Cambrien,  Strathclyde  und 
zuletzt  auch  das  Gallowayland  umfasste. 

Während  die  Iro -Schotten  sich  mit  Mühe  der  richtigeren  römischen 
Osterberechnung  erwehrten,  zeigten  die  römisch  gewordenen  Angelsachsen 
grosse  Devotion  gegen  Rom.  Es  wurde  unter  ihnen  Sitte,  zu  den  limina 
apostolortm  zu  wallfahrten.  Mehrere  Könige  vertauschten  in  Rom  die 
königliche  Krone  mit  der  Mönchskrone.  In  der  römisch  -  katholischen  Geist- 
lichkeit entwickelte  sich  ein  reges  Leben.  Der  Kampf  mit  der  gebildeten 
iro-schottischen  Geistlichkeit  beförderte  die  wissenschaftliche  Bildung.  Theodor 
und  sein  Arbeitsgefährte,  der  römische  Abt  Hadrian,  beförderten  die  Stu- 
dien, legten  Schulen  an,  begünstigten  das  Studium  der  griechischen  Sprache. 
Es  entstanden  neue  bedeutende  Klöster,  mit  guten  Schulen  versehen,  wo- 
durch die  Angelsachsen  abgehalten  wurden,  die  keltischen  Schulen  in  Irland 
zu  besuchen,  die  bis  dahin  grosse  Anziehungskraft  gezeigt  hatten,  zumal  da 
man  die  jungen  Angelsachsen,  die  der  Studien  wegen  nach  Irland  kamen, 
von  Seite  der  Scoten  vortrefflich  aufnahm  und  für  ihren  Unterhalt  sorgte. 
Unter  der  rr.misch- katholischen  Geistlichkeit  zeichnete  sich  am  meisten 
aus  Beda  Venerabilis,  Mönch  und  Vorsteher  des  Klosters  Jarrow,  der 
mehrmals  Bischofsstelleu  ausschlug   und   die  Einladung  des  Pabstes,   nach 


480  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Rom  zu  kommen,  ablehnte,  um  in  seinem  geliebten  Kloster  zu  bleiben, 
worin  Lernen,  Lehren  und  Schreiben,  wie  er  selbst  sagt,  5,  24,  seine  ein- 
zige Freude  war.  Seine  erhaltenen  zahlreichen  Werke  umfassen  fast  das 
gesammte  Wissen  der  Zeit,  ausser  der  Theologie  Physik,  Chronologie, 
Philosophie,  Grammatik,  Astronomie,  Arithmetik,  Geschichte,  —  er  schrieb 
auch  viele  Commentare  zur  heiligen  Schrift,  Biographieen  von  Heiligen,  die 
Kirchengeschichte  der  Angelsachsen,  die  Hauptquelle  für  vorstehende  Dar- 
stellung. Seine  grosse  Anhänglichkeit  an  die  römische  Kirchenform  machte 
ihn  nicht  blind  für  die  Vorzüge  der  iro  -  schottischen  Geistlichkeit  und  für 
die  Fehler  der  eigenen  Geistlichkeit,  f  735  ^). 

Noch  bleibt  hier  eine  Seite  des  kirchlichen  Lebens  in  Grossbritannien, 
sei  es  des  alt -katholischen,  sei  es  des  römisch-katholischen,  zu  besprechen 
übrig,  das  Busswesen.  Die  alt-katholische  Kirche  des  Landes  zeigte  einen 
praktischen  Sinn,  welcher  sie  auf  die  Handhabung  kirchlicher  Ordnung, 
auf  Erhaltung  und  Verbreitung  christlicher  Sitte  und  Disciplin  hinwies. 
Diese  Richtung  wurde  dadurch  befördert,  dass.  vorzugsweise  von  den 
Klöstern  die  religiös -kirchliche  Thätigkeit  ausging.  Die  Bestimmungen 
der  Ordensregel  wurden  Norm  und  Muster  in  weiteren  Kreisen.  Hauptsäch- 
lich diejenigen  Laster  und  Vergehen,  zu  welchen  jene  Völker  besonders  hin- 
neigten, wurden  in  den  Bussordnungen  ausführlich  behandelt  (Mord,  ver- 
schiedene Arten  von  geschlechtlichen  Sünden,  Sünden  wider  die  Natur 
u.  s.  w.).  Es  kommen  hier  in  Betracht  gewisse  Kanones  einer  irischen 
Synode  c.  456,  unter  der  Leitung  des  Patricius  gehalten,  ein  liber  Da- 
vidis,  Bischofs  von  Minevia,  f  544,  das  Poenitentiale  des  Vinniaus 
geboren  c.  450,  des  Gildas,  eines  britischen  Mönchs  im  Kloster  Bangor, 
t  583. 

Lange  Zeit  hindurch  ist  der  uns  bekannte  Theodor  von  Tarsus  als 
Begründer  der  späteren  Bussdisciplin ,  als  Urheber  mehrerer  Bussordnun- 
gen angesehen  worden.  Es  ist  aber  von  Kunstmann  und  Wasserschieben 
bewiesen  worden,  dass  Theodor  keine  solchen  Schriften  verfasst  hat.  Er 
gab  allerdings  Entscheidungen  in  Gemeinschaft  mit  englischen  Bischöfen, 
geschöpft  theils  aus  der  griechisch -kirchlichen  Praxis,  theils  aus  der  dio- 
nysischen Sammlung,  ausserdem  aus  altbritischen  und  scotischen  Quellen, 
und  die  Bestimmungen,  die  seinen  Namen  tragen,  enthalten  zwar  ursprüng- 
liche Aussprüche  Theodor's,  sind  aber  von  einem  Dritten,  wohl  noch  bei 
Lebzeiten  Theodor's  zusammengestellt  worden.  So  entstand  das  poeniten- 
tiale Iheodori  oder  canon  Theodori  de  ratione  poenitentiae, 
Quelle  fast  aller  in  späteren  Sammlungen  vorkommenden  Excerpte.  —  Der 
folgenden  Periode  gehören  die  dem  Beda  und  dem  Egbert,  Erzbischof  von 
York  (731  —  767)  beigelegten  Bussordnungen,  auf  welche  in  ähnlicher 
Weise  wie  bei  Theodor  mehrere  Bussordnungen  zurückgeführt  werden; 
Beda  und  Egbert  benützten  aber  fleissig  die  Bestimmungen  Theodor's. 

Werfen   wir   nun  einen  Blick   auf   den  Inhalt   dieser  verschiedenen 


1)  S.  den  Artikel  Beda  von  Schoell  in  der  Realencyklopädie ,  D.  Karl  Werner, 
Beda  der  Ehrwürdige  und  seine  Zeit,  Wien  1875,  der  eine  sehr  gute  Uebersicht  der 
literarischen  Thätigkeit  Beda's  gibt. 


Das  Christenthum  auf  den  britannischen  Inseln.  431 

Bussordnungen,  so  lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  sie  an  grossen  Gebrechen 
leiden,  dass  sie  nicht  nur  das  gesetzliche  Wesen,  welches  die  katholische 
Kirche  angenommen,  in  hohem  Grade  verstärken  mussten,  dass  sie  aber 
zugleich,  was  weit  schlimmer,  eine  eigentüche  Corruption  der  Busszucht  an 
den  Tag  legen. 

Die  angeführte  irische  Synode  unter  des  Patricius  Leitung  bestimmt 
offenbar  im  Zusammenhang  mit  dem  im  nationalen  Rechte  anerkannten  Com- 
positionensystem ,  dass  derjenige,  welcher  den  Bischof  oder  den  excelsus 
princeps  verwundet  hat,  je  nachdem  das  Blut  bis  auf  den  Boden  geflossen 
ist  oder  nicht,  gekreuzigt  und  ihm  die  Hand  abgehauen  werden,  oder  er  im 
ersten  Falle  septem  ancillae  *) ,  im  zweiten  den  halben  Werth  derselben 
zahlen  solle.  Patricius  mildert  diese  Entscheidung,  d.  h.  er  verwirft  die 
Lebens-  und  Leibesstrafe,  er  behält  zwar  die  Composition  mit  sieben  ancil- 
lae bei ,  stellt  aber  neben  dieselbe  mit  gleicher  Wirkung  die  kirchliche  Busse 
von  sieben  Jahren,  durch  welche  allmähhch  die  welthche  nationale  verdrängt 
worden  ist.  —  Wichtiger  ist  folgender  Zug.  Ein  libellus  Scotorum,  eine 
Sammlung  irischer  oder  schottischer  Kanones,  welche  in  das  Poenitentiale 
Theodor's  aufgenommen  worden,  enthält  Bestimmungen,  in  welchen  das 
nationale  Recht  und  eine  besondere  Berücksichtigung  desselben  von  Seiten 
der  Kirche  hervortritt  2).  Durch  die  Zahlung  des  Wehgeldes  soll  die 
Busse  auf  die  Hälfte  reducirt  werden.  Die  Kirche  'sucht  also  die  Blutrache 
durch  Begünstigung  des  Wehrgeldsystems  und  dessen  Einfluss  auf  die  Busse 
zu  beseitigen.  Unverkennbar  erscheint  hier  die  Bussanstalt  bereits  corrum- 
pirt.  Eine  äussere  Leistung  und  Handlung  gilt  hier  als  eine  Art  von  Er- 
satz der  Busse,  der  reuigen  Gesinnung,  der  inneren  Besserung.  Nach  einer 
anderen  Entscheidung  geht  die  Berücksichtigung  des  nationalrechtlichen 
Standi)unktes  von  Seiten  der  Kirche  soweit,  dass  den  Dieb,  welcher  dem 
Bestohlenen  das  Sühngeld  zahlt,  eine  geringere  Busse  trifft,  als  denjenigen, 
welcher  dasselbe  nicht  zahlen  will  oder  kann. 

Theodor  wird  auch  als  der  Begründer  der  Bussredemtionen  ange- 
sehen; doch  scheint  er  sie  schon  in  der  altkeltischen  Kirche  vorgefunden  zu 
haben.  Leider  fanden  sie  einen  sehr  empfänglichen  Boden  und  breiteten 
sich  in  der  abendländischen  Kirche  sehr  weit  aus.  Arreum  ist  das  hiber- 
nische  Wort  dafür,  von  Du  Gange  erklärt  als  remissio  poenae,  permidatio,  im- 
mutatio;  das  Wort  kommt  nach  Du  Gange  vom  sächsischen  Ar  tan  =  parcere, 
condonare  ^). 

Ehe  wir  weiter  gehen,  wird  es  nöthig  sein,  noch  einige  Augenblicke 
bei  der  irisch  -  schottischen  Kirchenform  in  ihrem  Unterschiede  von  der  römi- 
schen zu  verweilen,  diess  ist  um  so  mehr  angemessen,  als  durch  die  wichtigen 
Forschunj'en  Ebrard's   in   dem  anj^eführten  Werke   die  Aufmerksamkeit  auf 


1)  Der  Ausdruck  ancillarum  pretium  reddere,  od.  ancillas  reddere  bezieht  sich  auf 
das  alte  Privatrecht,  wonach  Mägde  als  eine  Art  Münze  berechnet  wurden,  so  dass  an- 
cillae, ancellarura  pretium  einer  gewissen  Summe  Geldes  gleichkam.     (S.  Du  Gange  s.  v.). 

2)  Si  quis  pro  ultione  propinqui  hominem  occiderit,  poeniteat  sicut  homicida  Vit 
vel  X  annos.  Si  tarnen  reddere  vult  propinquo  pecuniam  aestimationis ,  levior  erit  poeni- 
tentia,  i.-  e.  dimidio  spatio, 

3)  Das  Ganze  aus  Wasserschieben  a.  a.  0. 

Herzog,  Kirchengcschichte  I.  21 


482  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus, 

diesen  Gegenstand  ist  gelenkt  worden,  wie  auch  durch  Werner,  der  Ebrard 
in  einigen  Punkten  beistimmt,  doch  in  anderen  sich  von  ihm  entfernt.  Auch 
die  kathohsche  Geschichtschreibung  hat  von  den  Forschungen  Ebrard's 
Kenntniss  genommen,  wenn  gleich  sie,  wie  aus  den  Werken  von  Friedrich 
und  von  Greith  deuthch  erhellt,  wohl  zu  leichten  Fusses  darüber  hinweg- 
geschritten ist. 

Was  zuvörderst  die  Benennung  betrifft,  so  wäre  vielleicht  die  von  Schoell 
im  Artikel  Culdeer  empfohlene  vorzuziehen:  Keltische  Kirche,  —  die  in 
drei  Zweige  sich  vertheilt,  den  britischen,  den  irisch-scotischen 
und  den  albanisch-scotischen.  Der  britische  Zweig  umfasste  die  roma- 
nischen Briten  und  blühte  im  sechsten  Jahrhundert  in  Wales  auf,  —  wobei 
wir  uns  auf  das  oben  Gesagte  bis  zur  Zerstörung  des  Klosters  Bangor  be- 
rufen; —  wichtiger  ist  der  irisch  -  scotische  Zweig,  der  Irland  und  einen  Theil 
von  Schottland  umfasste,  und  den  Rom,  wie  wir  gesehen,  doch  nicht  zur 
völligen  Unterwerfung  brachte;  der  albanisch  -  scotische  Zweig  ging  unmittel- 
bar aus  der  irischen  Kirche  hervor.  Columba,  der  ältere,  verpflanzte  näm- 
lich, wie  wir  gesehen,  diese  Kirche  563  in  das  Land  der  albanischen  Scoten 
und  Pikten.  —  Ebrard,  obschon  er  die  Benennung  irisch-schottische  Kirche 
in  der  Aufschrift  seines  Werkes  gebraucht  hat,  empfiehlt  doch  die  Benennung 
Culdeer,  cu Ideische  Kirche  und  gebraucht  sie  im  Verlaufe  seiner  Dar- 
stellung. Er  gibt  zu,  dass  vor  dem  Jahr  800  der  Name  nicht  vorkomme 
(nach  Schoell  nicht  vor  1200).  Der  Name  lautete  ursprünglich  Kelledei, 
Keledei.  —  Gele  bedeutet  der  Mann,  de  Gott.  Celide  =  Mann  Got- 
tes, vir  Dei^  so  wird  Columban,  d.  j.,  von  den  Seinen  genannt,  die  von  ihm 
gestifteten  Klöster  hiessen  virorwn  Dei  coenohia  ^). 

Was  vor  Allem  auffällt,  ist  dieses,  dass  der  Streit  zwischen  der  iro- 
schottischen  oder  alt -britischen  und  der  römischen  Kirchenform  sich  in 
ostensibler  Weise  durchaus  nur  auf  solche  Dinge  bezieht,  welche  nach  pro- 
testantisch-evangelischer Anschauung  das  Wesen  des  Christenthums  nicht 
von  ferne  beiiihren.  Beide  Kirchen  haben  sich  nicht  als  principiell  von  ein- 
ander geschieden  angesehen;  diess  wird  man  dem  Professor  Friedrich  und 
dem  Bischof  Greith  im  Allgemeinen  zugeben  müssen,  wie  es  denn  auch  aus 
unserer  ganzen  Darstellung  hervorgeht.  Selbst  in  der  Frage  über  die  Un- 
terwerfung unter  Rom  herrschte,  wie  uns  das  Beispiel  Colman's  gezeigt  hat, 
kein  absoluter  Gegensatz  zwischen  beiden  Kirchen;  die  Ansicht  des  Abtes 
Deynoch  von  Bangor,  die  wir  die  protestantische  nennen  können,  war  nicht 
die  durchweg  geltende.  Die  Iro- Schotten,  die  überhaupt  den  alten  Katholi- 
cismus vertreten ,  gestanden,  wie  es  scheint,  dem  römischen  Bischof  eine 
ähnliche  Würde  zu  wie  Cyprian,  Augustin  und  andere  Väter;  und  darum 
zeigten  sie  sich  schwach,  als  die  römischen  Geistlichen  daraus  Folgerungen 
zogen  in  Beziehung  auf  die  Befugnisse  des  römischen  Bischofs.  Uebrigens 
waren  diese  in  damahger  Zeit  noch  nicht  sehr  ausgedehnt,  wie  die  Vor- 
schläge  beweisen,   welche   den  alt -britischen  Geistlichen   gemacht  wurden, 


1)  Ebrard  glaubt,  dass  die  keltischen  Geistlichen  von  ihren  Gemeinden  von  Anfang 
an  so  bezeichnet  wurden.  Sie  behielten,  meint  Schoell,  jenen  Namen  zur  Unterscheidung 
bei  seit  der  Verdrängung  der  alten  britisch  -  scotischen  Kirche  im  Mittelalter. 


Das  Christenthum  auf  den  britannischen  Inseln.  433 

SO  dass  der  Uebergang  zur  römischen  Form  dadurch  erleichtert  wurde. 
Manche  nahmen  auch  die  römische,  d.  h.  verbesserte  Osterberechnung  an^ 
ohne  sich  desshalb  Rom  zu  unterwerfen,  aber  allerdings  war  es  ein  Schritt 
dazu.  Die  protestantische  Kirche  hat  zwar  den  gregorianischen  Kalender 
annehmen  können,  ohne  im  mindesten  sich  Rom  in  anderen  Beziehungen 
zu  nähern;  aber  die  alt -britische  Kirche  war  eben  keine  protestantische, 
sondern  eine  alt -katholische  und  aus  der  angegebenen  Ursache  leichter  für 
Rom  zu  gewinnen. 

Was   die   anderen  Eigenthümlichkeiten    der   keltischen  Kirche  betrifft, 
so  kommt  in  Betracht  eine  Auffassung  des  geistüchen  Amtes,    die   mit   dem 
römischen  Priesterthum  wenig  gemein  hat,   und   das   war  in  den  gegebenen 
Verhältnissen   allerdings   eine   sehr    wichtige   Differenz,    wenn    gleich  nicht 
dogmatischer  Art.    Die  Klöster  nahmen   eine  Stellung   ein  und   übten   eine 
Wirksamkeit  aus,   wie  sie  damals  in  der  kathohschen  Kirche  unerhört  war. 
Nicht   nur   waren   sie  Feuerheerde   weit  reichender  Missionen,    sondern  sie 
standen  auch  an  der  Spitze  der  Kirche  und  übten  das  Kirchenregiment.   Die 
Aebte,  die  immer  Presbyter  waren,  sowie  auch  gewöhnlich  die  Mönche,  ver- 
sahen die  Seelsorge  und  das  Pastorat  in  dem  zum  Kloster  gehörigen  Kirchen- 
sprengel oder  Hessen  sie  unter  ihrer  Oberaufsicht  versehen.     Jeder  Gemein- 
depriester hiess  Bischof,  so  dass  die  bischöfliche  Würde  nicht  einen  höheren 
Grad  hierarchischer  Machtstellung  bezeichnete,  sondern  die  pastorale  Berufs- 
thätigkeit.      Zu   jeder  Kirche   gehörte  ein  Bischof  und  jeder  Bischof  war 
Missionspfarrer.      Die   obere  Kirchenleitung  war  in  den  Händen   des  Abtes 
und  sein  Kloster  genoss  als  Mutter  der  von  ihm  aus  gesammelten  Gemeinde 
eine  entsprechende  Verehrung.     Das   bezieht   sich  auf  die  Klöster  Bangor 
und  hauptsächlich  Hy  oder  Jowa,  Jona  dessen  Kloster,  (sagt  Beda  3,  3)  bei- 
nahe in  allen  Klöstern  der  nördhchen  Scoten  und  aller  Picten  die  Oberleitung 
nicht  kurze  Zeit  hindurch  führte,  und  auch  die   dazu   gehörige  Bevölkerung 
regierte  ^).     Um   die  Klöster  herum   siedelten   sich   nämlich  die   bekehrten 
Landesbewohner   an;    so   wird  ein  Kloster   erwähnt  quadraginta  familiarum 
(Beda  3,  25).     Ob   aber   eine  Centralisation  der  gesammten   Kirchenleitung 
in  Jowa  stattgefunden,   das  muss  dahingestellt  bleiben.     Es   lässt   sich    von 
vorn  herein  erwarten,  dass   die  entfernten  Stationen  nicht  in  ganz  strictem 
Abhängigkeitsverhältniss  von  Jowa  standen.     Dazu  bemerkt  (S.  34)  Werner 
treffend:    „wäre    ein    einheitliches  Kirchenregiment  vorhanden  gewesen,    so 
hätte  Rom  nicht  so  rasche  und  leichte  Siege  erringen  können.    Aber  gerade 
die  römische  Einheit  verschaffte  einen  Vortheil   nach   dem  anderen  über  die 
britische  Getheiltheit.    Das  mehr  geistige  Band,  das  die  Culdeer  umschlang, 
war   nicht   stark   genug  gegenüber   der   straffen  Zucht    der   wohlgeschulten 
römischen  Kriegsmacht.  "^  —     Dass  mit  den  Klöstern  Schulen  verbunden  wa- 
ren,  ist  bereits  erwähnt.     Was  besonders  auffällt,  neben  dem  Mannskloster 
war  oft  ein  Nonnenkloster,  doch  in  einem  durchaus  abgesonderten  Gebäude. 
Es  gab,    was  noch   mehr   auffällt,    verheirathete  Mönche   und  Nonnen;    den 
Mönchen  wie  auch  den  Nonnen  wurde  kein  Gelübde  des  CöHbats  aufgelegt, 


1)  Cujus  monasterium  in  cunctis    pene   septentrionalinm   et    omnium  Pictorum  mo- 
nasteriis  non  parvo  tempore  arcem  tenebat  regendisque  eorum  populis  praeerat. 

31  * 


484  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

—  wie  übrigens  auch  Benedict  von  Nursia  ein  solches  nicht  auflegte  (S.  S.  463). 
Das  hing  damit  zusammen,  dass  die  Bischöfe  und  Presbyter  nicht  an  den  Cö- 
hbat  gebunden  waren,  so  dass  es  viele  gab,  die  verheii'athet  waren.  War  doch 
der  heilige  Patricius  selbst  Sohn  eines  Geistlichen.  Nicht  selten  vererbte 
sich  die  Würde  des  Abtes  vom  Vater  auf  den  Sohn.  Dieser  Punkt  wurde 
römischerseits  nicht  urgirt;  er  sollte  keinen  Grund  abgeben  zur  Ablehnung 
der  Verbindung  mit  Rom,  —  wie  es  denn  noch  im  fünften  Jahrhundert  ver- 
ehelichte Bischöfe  selbst  im  römischen  Reiche  gab. 

Die  keltischen  Geistlichen  zeichneten  sich  aus  durch  eifriges  Studium 
der  Schrift.  Columba  der  ältere,  kannte  Hieronymus  und  schätzte  ihn,  so- 
wie Philo.  Er  beförderte  die  biblischen  Studien.  Hat  er  doch  sogar  die 
Psalmen  aus  dem  Urtext  übersetzt  und  eine  Auslegung  derselben  geschrie- 
ben. Doch  bildete  diess  keinen  principiellen  Gegensatz  gegen  das,  was  in 
der  römisch-katholischen  Kirche  geschah.  Ohne  Zweifel  ist  die  geschilderte 
Wirksamkeit  des  Theodor  von  Tarsus,  die  so  schöne  Erfolge  hatte,  entstan- 
den aus  Nachahmung  des  durch  die  keltischen  Geistlichen  gegebenen  Bei- 
spieles und  als  Gegenwirkung  zu  betrachten.  Dass  aber  diese  schon  in 
protestantischer  Weise  das  Schriftprincip ,  im  Gegensatz  gegen  die  Tradition 
aufgestellt  und  angewendet  hätten,  davon  ist  keine  deutliche  Spur  vorhan- 
den, wie  ihnen  denn  in  dieser  Beziehung  von  römischer  Seite  kein  Vorwurf 
gemacht  wurde.  Das  hing  damit  zusammen,  dass  auf  römischer  Seite  da- 
mals der  Gegensatz  von  Schrift  und  Tradition  noch  nicht  so  stark  ins  Be- 
wusstsein  getreten. 

Ueberhaupt  wurde  den  Kelten  keine  eigentliche  Häresie  vorgeworfen  *). 
In  Hinsicht  des  Messopfers  besonders  rühmen  die  römisch-katholischen  Theolo- 
gen die  Uebereinstimmung  der  Kelten  mit  der  katholischen  Kiixhe.  Darin 
haben  sie  theils  Recht,  theils  Unrecht.  Es  hängt  diess  zusammen  mit  der 
damaligen  Beschaffenheit  der  Lehre  vom  Messopfer,  so  dass  auch  die  pro- 
testantischen Theologen,  welche  hierin  die  Kelten  als  von  der  katholischen 
Lehre  abweichend  darstellen ,  theils  Recht ,  theils  Unrecht  haben  2). 


1)  Die  von  Ebrard  S.  134  dagegen  angeführten  Stellen  scheinen  mir  diesen  Satz 
nicht  umzuwerfen.  Man  müsste  nährere  Angaben  haben,  um  ein  sicheres  Urtheil  fällen 
zu  können. 

2)  Greith  a.  a.  0.  S.  441  führt  aus  einem  alten  keltischen  Missale  die  Worte  an: 
gratias  tibi  agimus,  domine  sancte,  qui  nos  corporis  et  sanguinis  Christi  filii  tui  commu- 
nione  satiasti.  Er  führt  diese  Worte  an  als  Beweis,  dass  die  keltische  Kirche  das  Mess- 
opfer kannte,  da  doch  nur  von  der  Communion  die  Rede  ist.  Ebenso  führt  er  den  von 
Todd  im  book  of  Hymn.  und  auch  von  Ebrard  S.  116  mitgetheilten  Hymnus  an,  der  in 
einer  Handschrift  vom  Jahr  691  aufbehalten  sein  soll.  Allein  auch  in  dem  ganzen  Hym- 
nus ist  nicht  mehr  vom  Messopfer  die  Rede,  als  in  dem  angeführten  alten  Missale.  Das 
beweist  aber  nicht,  dass  die  keltische  Kirche  hierin  von  der  katholischen  abwich,  sondern 
die  Sache  entspricht  der  damaligen  Lehre  vom  Messopfer,  wie  wir  sie  bei  Gregor  dem 
Grossen  gefunden  haben  S.  459,  wobei  das  eigentliche  Opfer  in  der  Vertheilimg  der  Elemente 
besteht,  so  dass  die  Begriffe  sacrificium  und  sacramentum  zusammenfliessen.  Erst  weit  später 
treten  beide  Begriffe  scharf  auseinander,  und  so  waren  sich  in  dieser  Beziehung  beide 
Parteien  keines  Zwiespaltes  der  Ansicht  bewusst,  wie  denn  Bischof  Greith  diesen  Hymnus 
anführt   als   deutlichen  Beweis  der  Uebereinstimmung  der  Kelten  mit  der  römisch -katho- 


Das  Christenthnm  auf  den  britanniscben  Inseln.  485 

Die  keltischen  Christen  kannten  allerdings  Heilige  und  empfahlen  sich 
ihrer  Fürbitte  i);  der  Umstand,   dass    die  schottischen  Kirchen  meist  den 
einheimischen  Heiligen  gewidmet  sind ,  scheint  mir  nicht  dagegen  zu  sprechen. 
Das  verdient  alle  Anerkennung,   dass   die  keltische  Kirche  mit  den  Heiligen 
und  ihren  Reliquien  keinen  Götzendienst  trieb  2)  und  die  Anbetung  der  Bil- 
der durchaus  verwarf;  allein  wir  wissen  ja,  wie  eifrig  die  fränkische  Kirche 
sich  später  gegen  die  Verehrung  der  Bilder  ausgesprochen.  Die  Kelten  scheinen 
auch  die  Lehre  vom  Fegefeuer  nicht  gekannt  zu  haben,  obschon  sie  für  die 
Todten  beteten ;   die  Lehre  vom  Fegefeuer  war  aber  damals  noch  nicht  weit 
verbreitet.    Es  ist  den  Kelten  auch  römischerseits ,   wenigstens  damals  nicht 
vorgeworfen  worden,  dass  sie  kein  Fegefeuer  annähmen.    Was  nun  die  evan- 
gelischen Aeusserungen  betrifft,  die  sich  bei  ihnen,  namentlich  bei  Columban 
den  jüngeren  finden  und  die  Ebrard  mit  Fleiss  gesammelt  hat,    so  ist   von 
römischer  Seite  desswegen  nie  eine  Klage  gegen  sie   erhoben,   nie   ein  Wort 
des  Tadels  dessw^egen  gegen  sie   laut  geworden.     Beide  Theile   waren   sich 
keines  Zwiespaltes  in  den  Dingen,   welche   die  Heilsordnung  betreffen,    be- 
wusst.    Bei  manchen  katholischen  HeiUgen  findet  man  Aussprüche  ähnUcher 
Art,    z.  B.   bei   der  schwedischen  heiligen  Brigitta^),   bei  Franz  von  Assisi, 
bei  Anselm  von  Canterbury,   Aussprüche,  welche   den  Glauben  an  das  Ver- 
dienst Christi,  ohne  alle  Beimischung  von  Werkgerechtigkeit,  bezeugen,  welche 
Aussprüche  mit   den   asketischen  Uebungen  derselben  Personen  einen  ebenso 
grossen   Contrast  bilden,  wie  die  evangehschen  Aussprüche  Columban's    mit 
seiner  Mönchsregel. 

Wir  erkennen  alle  Vorzüge  der  keltischen  Kirche  mit  Freude  an,  aber 
einen  tief  gehenden  dogmatischen  Gegensatz  gegen  die  römische  Kirche 
können  wir  bei  ihr  nicht  entdecken.  Wir  begreifen  jedoch,  dass  die  obwal- 
tenden Differenzen  den  Römisch -gesinnten  hinlänglichen  Anlass  gaben  zu  hef- 
tigem Streite  und  bitterer  Feindschaft,  die  übrigens  auch  bei  den  Iroschotten 
und  den  Britonen  sich  kund  gab,  Beda  2,  4.  20. 


lischen  Lehre.    Ans  demselben  Hymnus  geht  hervor,  dass  die  Kelten  die  Kelchentziehung 
nicht  kannten,    aber    eben   so   wenig  fand  sie  damals  in  der  römisch-katholischen  Kirche 

statt 

'  1)  Der  Schutz  des  Vaters,  des  Sohnes,  des  heiligen  Geistes,  der  Schutz  Mariens 
und  der  anderen  Maria ,  der  Schutz  aller  Heiligen  waltet  über  uns."  Ueberdiess  die  Bitte, 
dass  eine  Jungfrau  durch  die  Fürbitte  des  heiligen  Devi  aufgenommen  werde  m  die  Gnade 

''***' 2)  Sie  ehrte  aber  die  Reüquien  der  Heiligen,  wie  denn  Colman,  als  er  Northumber- 
land  verhess,  die  Gebeine  Aidan's  mit  sich  nahm.  .  v,    io7a 

3)  S.  St.  Brigitta,  die  nordische  Prophetin  und  Ordensstifterin  von  Hamerich.  1874. 
„VerdammUch  ist  es  zu  glauben,  -  sagt  die  Heilige,  die  in  allen  Satzungen  ka^o  ischer 
Isketik  wandelt  -,  dass  man  durch  eigenes  Verdienst  selig  werden  könne.  Wenn  der 
Mensc'  tausendmal  'seinen  Leib  um  Gottes  willen  t5dten  Hesse,  so  taug  ^^^^^^^J^^^ 
um  für  eine  einzige  Sünde  Gott  genug  zu  thun.  -  Alles  ist  lauter  Gnade,  von  mir 
selbst  vermag  ich  nichts  als  zu  sündigen." 


486  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismns. 


Drittes  Capitel.     Die   Ton   Grossbritannien    ausgehenden    Missionen 
auf  dem  Continente  von  Europa  i). 

Grossbritannien  wurde  ein  Feuerheerd  der  Missionen  für  das  westliche 
Europa,  insonderheit  für  Deutschland  und  die  Schweiz.  Schon  die  ungemein 
grosse  Bevölkerung  der  grossbritannischen  Klöster  kam  dem  Eifer  für  die 
Ausbreitung  des  Evangeliums  sehr  willkommen.  Die  Bewohner  Grossbritan- 
niens zeigten  bereits  damals  den  Missionscharakter,  den  sie  in  der  neuesten 
Zeit  glänzend  entfaltet  haben  2).  Sie  wandern  in  Schaaren  aus ,  dringen  in 
die  dichten  Wälder  des  heidnischen  Europa  und  bringen  mit  sich  die  ersten 
Keime  der  Bildung,  der  Civilisation ,  des  geregelten,  gesitteten  Lebens,  und 
bieten  allen  Beschwerden,  Mühsalen  und  Gefahren  Trotz.  Unter  ihnen  fin- 
den wir  Könige,  Fürsten  und  Fürstensöhne,  Söhne  angesehener  Familien. 
Es  gab  aber  zwei  Classen  von  Missionaren.  Die  einen,  Irläüder,  Schotten 
oder  Engländer  der  altbritischen  Kirche  halten  an  dem  altkatholischen  Chri- 
sten thum  und  an  der  Unabhängigkeit  von  Kom  fest;  die  anderen  sind  rö- 
misch-katholisch gesinnt  und  dringen  auf  Gehorsam  gegen  Rom.  In  dieser 
Periode  gehören  die  Missionare  überwiegend  zur  ersten  Classe.  Erst  in  der 
folgenden  Periode  treten  diejenigen  der  zweiten  Classe  bedeutend  auf.  Neben 
diesen  britannischen  Verkündigern  des  EvangeUums  finden  wir  auch  einige 
fränkische,  welche  den  ilirer  Nation  eigeuthümlichen  kühnen  Unternehmungs- 
geist offenbaren. 

Nach  Fridolin,  Fridolt,  angeblich  von  hoher  keltischer  Geburt,  der 
zu  Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts  der  erste  Apostel  Alemanniens  gewe- 
sen sein,  das  Evangelium  in  Chur  und  in  Glarus  verkündigt  und  ein  Frauen- 
kloster in  Seckingen  gestiftet  haben  soll  3j,  kommt  hauptsächlich  in  Betracht 
Columban  der  jüngere,  im  Unterschiede  von  Columban  dem  älteren, 
einer  der  edelsten  Charaktere  der  keltischen  Kirche.  Ein  geborener  Irländer, 
erzogen  in  dem  irischen  Kloster  Bangor,  fühlte  er  im  dreissigsten  Lebens- 
jahre in  sich  ein  feuriges  Verlangen,  das  Evangelium  zu  verkündigen.  Be- 
gleitet von  zwölf  Mönchen ,  die  ihm  sein  Abt  zur  Unterstützung  mitgegeben, 
reiste  er  c.  590  nach  dem  Continent,  in  der  Absicht,  sich  den  an  den 
Grenzen  des  fränkischen  Reiches  wohnenden  Heiden  zu  widmen,  Doch  kam 
er,  aufgefordert  von  König  Gunthram,  nach  Burgund,  um  auf  die  rohen 
Volksmassen  zu  wirken.  In  einer  Wildniss  des  Vogesengebirges  stiftete  er 
ein  Kloster  auf  den  Ruinen  des  Schlosses  Anegray;  der  Ruf  der  Frömmig- 
keit der  Mönche  reizte  Andere  zur  Nacheiferung ;  so  entstand  bald  ein  neues 
Kloster  Luxeuil,  und  darauf  ein  di'ittes  Eon  ta  in  es,  endlich  noch  mehrere 


1)  S.  die  friiher  angeführten  Werke  von  Kettberg,  Hefele,  Friedrich. 

2)  Natio  Scotorum,  worunter  auch  die  Irländer  verstanden  werden,  quibus  consue- 
tudo  peregrinandi  jara  paene  in  naturam  conversa  est,  heisst  es  in  der  Vita  St.  Galli  bei 
Pertz,  monumenta  2,  30. 

3)  Nach  Friedrich  2,  435  ist  er  wahrscheinlich  kein  Schotte,  sondern  ein  Aleraanne 
oder  Franke  gewesen,  übrigens  ein  sehr  correcter  Kathoük.  Friedrich  meint  auch,  er 
habe  in  Säckingen  vor  dem  Frauenkloster  eines  für  Mönche  gegründet. 


Die  Missionen  auf  dem  Coutinente  von  Europa.  437 

andere.  Von  der  Regel,  die  er  ihnen  gab,  und  die  wahrscheinlich  sich  an 
die  Regel  des  Stammklosters  ßangor  anschloss,  gibt  es  mehrere  Codices,  wo- 
von die  von  St.  Gallen  und  von  Bobio  die  bedeutsamsten  sind.  Im  Codex 
der  Benedictinerabtei  Ochsenhausen  sind  nun  die  Bestimmungen,  die  von 
den  Geschichtschreibern  mit  vollem  Rechte  beanstandet  worden  sind,  betref- 
fend die  Prügelstrafen  für  kleinliche  Vergehen,  so  dass,  wer  beim  Essen 
vergass,  seinen  Löffel  mit  dem  Kreuzeszeichen  zu  bezeichnen,  fünf  Schläge 
empfing  u.  s.  w.  Man  hat  aus  inneren  Gründen  die  Aechtheit  dieses  Codex 
bestritten,  indem  die  erwähnten  Prügelstrafen  zu  den  acht  evangelischen 
Aeusserungen  Columban's  nicht  passen.  Es  gibt  aber  viele  solche  Contraste 
im  Katholicismus,  wobei  wir  uns  auf  das  weiter  oben  Bemerkte  berufen. 
Uebrigens  könnte  man  sich  die  Sache  so  erklären,  dass  Columban  jene  klein- 
lichen Verordnungen  nur  als  Windeln  der  Kindheit  ansah;  das  dürfte  man 
aus  mehreren  seiner  Aussprüche  in  den  instructiones  an  seine  Mönche 
schhessen:  ^^  Lasset  uns  nicht  gleich  sein  den  übertünchten  Gräbern.  Trach- 
ten wir  darnach,  innerlich  und  äusserlich  gereinigt  zu  sein.  Denn  die  wahre 
Frömmigkeit  besteht  nicht  in  der  Demuth  des  Körpers,  sondern  in  derjeni- 
gen des  Geistes.  —  Wir  sollen  den  nicht  ferne  von  uns  wohnenden  Gott 
suchen;  denn  er  wohnt  in  uns,  gleich  wie  die  Seele  im  Körper,  wenn  anders 
wir  seine  Glieder  sind.^ 

Columban  erwarb  sich  durch  seine  strenge  Sittenzucht  und  -seinen  Eifer 
für  Wiederherstellung  der  alten  Ordnung  und  Strenge  im  Mönchthum  theils 
Anhänger  und  Verehrer,  theils  heftige  Gegner.  Dazu  kam,  dass  er  die 
vaterländischen  Gebräuche  nicht  aufgeben  mochte  und  namenthch  an  der 
keltischen  Osterberechnung  eifrig  festhielt;  er  erlaubte  sich  sogar,  an  Gregor  den 
Grossen  und  an  Bonifacius  IV.  in  Beziehung  auf  diese  letztere  Angelegenheit 
sehr  freimüthige  Briefe  zu  schreiben.  Er  hielt  Bonifacius  das  Beispiel  der 
Bischöfe  Polykarp  und  Anicet  vor,  die  in  Liebe  von  einander  geschie- 
den seien ,  obgleich  jeder  dem  Gebrauche  seiner  Kirche  getreu  geblieben. 
Der  Streit  über  die  Osterfeier  ward  damals  so  lebhaft  geführt,  dass  sich  im 
Jahr  602  eine  fränkische  Synode  eigens  desshalb  versammelte.  Columban 
richtete  an  sie  einen  sehr  freimüthigen  Brief,  worin  er  den  versammelten 
Vätern  empfahl,  sich  noch  mit  wichtigeren  Dingen  als  mit  der  Osterbe- 
rechnung abzugeben,  als  Hirten  dem  Vorbilde  des  ersten  der  Hirten  nach- 
zufolgen, indem  das  blose  Wort  der  Predigt  nichts  nütze  ohne  ein  damit 
übereinstimmendes  Leben.  Man  kann  es  bedauern,  dass  solche  Ermahnungen 
zum  Theil  unwirksam  gemacht  wurden  durch  seine  steife  Anhänglichkeit  an 
'  die  vaterländischen  Traditionen  und  dass  er  dadurch  Anlass  gab  zur  Ver- 
treibung aus  diesem  wichtigen  Arbeitsfelde,  worin  er  für  Herstellung  von 
Zucht  und  Ordnung,  für  Verbreitung  von  Religiosität  und  Sittlichkeit  segens- 
reich gewirkt  hatte.  Damals  herrschte  nach  Gunthram's  Tode  über  Burgund 
Dietrich  H.  (Theoderich)  in  dessen  Gebiet  die  von  Columban  gestifteten 
Klöster  lagen  und  der  bis  dahin  Columban  unterstützt  hatte.  Nun  aber 
gerieth  dieser  mit  der  Grossmutter  des  Königs,  der  schrecklichen  Brune- 
hild  in  Streit.  Sie  nahm  es  sehr  übel  auf,  dass  er  den  lüderlich  lebenden 
Dietrich  zum  Verlassen  seiner  Concubine  bewog  und  ihn  zum  Eingehen  einer 
ordentlichen  Ehe  ermahnte.     Brunehild   brachte   es,   indem   sie  auch   den 


488  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

Osterstreit  geschickt  benutzte,  dahin,  dass  er  610  aus  Burgund  vertrieben 
wurde.  Nach  mehreren  Wandeningen,  wobei  er  auch  in  den  Canton  Zürich  und 
nach  Arbon  und  Bregenz  kam,  daselbst  drei  Jahre  wirkte,  einige  seiner  Be- 
gleiter zurückhess,  wurde  er  auch  von  da  vertrieben;  er  wendete  sich  zu 
den  Longobarden  613  und  stiftete  das  Kloster  Bobio  und  starb  615.  In  der 
letzten  Zeit  seines  Lebens  mischte  er  sich  noch  in  den  Dreicapitelstreit  und 
erklärte  sich  gegen  die  Verwerfung  der  drei  Capitel.  Der  Brief,  den  er  in 
dieser  Angelegenheit  an  Bonifacius  IV.  schrieb,  ist  ein  Beweis  zugleich  seiner 
Achtung  gegen  die  römische  Kirche  und  seiner  Vorsicht  in  Bestimmung  der 
Grenzen,  die  er  der  bevorzugten  Stellung  Roms  anwies;  denn  er  pries  die 
römische  Kirche  als  Of-bis  terrarum  caput  ecclesiarum^  doch  mit  Ausnahme 
von  Jerusalem,  wie  er  hinzusetzte,  und  zu  gleicher  Zeit  warnte  er  die  rö- 
mische Kirche  vor  einer  darauf,  dass  dem  Petrus  die  Schlüssel  des  Himmel- 
reiches verliehen  worden,  gegründeten  Anmassung.  Beiden  Parteien  ruft  er 
zu,  sie  sollten  einmüthig  sein.  Indem  er  aber  Eutyches  und  Nestorius  als 
verwandte  Irrlehrer  zusammenstellte  und  damit  eine  sehr  mangelhafte  Kennt- 
niss  der  älteren  Lehrstreitigkeiten  verrieth,  konnte  er  um  so  weniger  Er- 
folg von  seinen  Ermahnungen  erwarten. 

Columban's  Wirksamkeit  auf  dem  Continente  hat  zur  Stiftung  des  Klo- 
sters St.  Gallen  Anlass  gegeben,  und  das  ist  nicht  der  geringste  Erfolg  der- 
selben. Uebrigens  muss  vor  allem  bemerkt  werden,  dass  dem  Gallus  sowie 
dem  Columban  und  Fridolin  und  mehreren  anderen  mehr  die  Pflege  und 
Verbreitung  christhcher  Keime,  als  die  Pflanzung  neuer  zu  verdanken  ist. 
Um  den  Bodensee  herum  waren  die  Grundsteine  mancher  christlicher  Ge- 
meinden gelegt  worden;  manche  Kiixhen  hatten  später  die  wilden  Aleman- 
nen zerstört,  ihre  Diener  zerstreut  oder  vertrieben;  es  waren  aber  noch 
solche  am  Bodensee  zu  finden,  an  die  der  von  Columban  wegen  Krankheit 
zurückgelassene  Gallus  (Gallun)  sich  anschloss.  Als  er  von  seiner  Krankheit 
genesen  war,  fühlte  er  in  sich  den  Trieb,  sich  in  der  Nähe  anzusiedeln. 
Man  kennt  die  liebüche  Geschichte  von  den  bescheidenen  Anfängen  des  seit- 
dem so  bedeutend  und  mächtig  gewordenen  Stiftes  St.  Gallen,  —  wie  der 
heilige  Mann  in  Begleitung  eines  der  Gegend  kundigen  Geistlichen  sich  in 
den  benachbarten  Wald  begab,  ohne  Furcht  vor  den  wilden  Thieren,  die  im 
Walde  hausten,  wie  er  endlich  an  einen  Ort  kam,  wo  das  Flüsschen  Steinach 
von  einem  Felsen  herunterströmend  einen  Weiher  gebildet  hatte;  hier  fiel 
Gallus,  zufällig  in  ein  Gesträuch  verwickelt,  zu  Boden ;  er  sah  darin  die  gött- 
liche Weisung  zur  Niederlassung.  Er  fonnte  von  einem  Baumzweige  ein 
Kreuz,  hängte  daran  die  mitgebrachte  Reliquien  enthaltende  Kapsel,  und 
bezeichnete  so  den  Platz  zum  Anbau  einer  Zelle,  wie  man  im  Mittelalter 
lange  die  klösterlichen  Niederlassungen  nannte  (613).  Wie  es  sich  mit  der 
Heilung  der  Tochter  des  alemannischen  Herzogs  Kunz  verhielt,  lassen  wir 
dahingestellt;  soviel  ist  sicher,  dass  Kunz  ihm  das  Bisthum  Constanz  ver- 
schaffen wollte.  Gallus  schlug  es  beharriich  aus,  beförderte  aber  dahin  sei- 
nen Schüler  Johannes.  Bald  bildete  sich  eine  Mönchsniederlassung,  der 
Gallus  die  Mönchsregel  Columban's  gab,  die  •  erst  ein  Jahrhundert  später 
durch  die  des  Benedict  von  Nursia  ersetzt  wurde.  Die  Mönche  machten  den 
Boden  ui'bar,   verkündigten  weit  und  breit  das  Evangelium  den  Landesbe- 


Bie  Missionen  auf  dem  Continente  von  Europa.  489 

wohnern;  viele  derselben  siedelten  sich  um  die  Zelle  herum  an.  Gallus 
wirkte  unverdrossen  bis  an  sein  Lebensende  646.  In  der  folgenden  Periode 
erhob  sich  St.  Gallen  zu  einer  sehr  bedeutenden  Culturstätte  i). 

Auf  ähnliche  Weise  wie  am  Bodensee  und  in   dessen  Nähe  wurde  das 
Evangelium  noch  an  vielen  Orten  verkündigt;   wobei   die  Klöster   eine   sehr 
bedeutende  Stelle  einnahmen;  es  entstand  deren  in  den  von  den  Alemannen 
bewohnten  Gegenden   eine   ordentliche  Zahl,    die   in   der  folgenden  Periode 
sich  noch  bedeutend  mehrte.     Das  Kloster  Hirse  hau   wurde  645  gestiftet. 
Trutpert  gründete  612  das  Kloster,  das  seinen  Namen  trägt.    Landolin, 
zu  den  Alemannen  gekommen,  um  ihnen  das  Evangelium  zu  predigen,  wurde 
von  den  Einwohnern  getödtet;  an  der  Stelle  des  Mordes  entsprang  nach  der 
Sage   die  Heilquelle,   die   den  Bädern   von   Landolin  ihren  Namen  gegeben 
hat.    Das  Evangehsationswerk  ging  überhaupt  unter  den  Alemannen  langsam 
vorwärts  und  stiess  auf  neue  Hindernisse,  seitdem  die  Alemannen,  als  unter 
den  letzten  Merovingern  die  fränkische  Monarchie  in  Verfall  gerieth,  wieder 
unabhängig  geworden.     Erst  im  Jahr  724    wurde    durch   den  Franken  Pir- 
minius  auf  einer  Insel  im  Bodensee  das  Kloster  Reichenau  gestiftet,  ein 
Sitz  der  Bildung,    der  Wissenschaft,   der  Missionen.  —     Unter  den  Bayern 
waren  thätig  Eustasius,   Abt  von  Luxen,   Rupert,    der  das  Evangelium 
auch  in  Salzburg  predigte,  ausserdem  Corbinian,  Emmeram;  die  Mission 
wurde  wesentlich  erleichtert,  seitdem  Karl  Martell  722  die  Bayern  und  Ale- 
mannen zum  Gehorsam  zurückbrachte.    Unter  den  Thüringern  zwischen  Main 
und  Saale  wirkte  Kilian   und   fand  dabei  am  Ende  des  siebenten  Jahrhun- 
derts  den  Mäityrertod.      In   Brabaut    wirkte  Amandus,    beschützt    durch 
Dagobert  II.  (673—679),  er  starb  675  als  Bischof  von  Mastricht.   Die  Mis- 
sionare unter  den  Friesen  erfreuten  sich  des  besonderen  Schutzes  des  fränki- 
schen Majordomus.     Als   der  Engländer   Wilfrid   unter   den   Friesen   das 
Evangelium  verkündigt  undRadbod,  Fürst  der  Friesen,  das  Werk,  das  unter  dem 
Schutze  des  Vaters  angefangen  worden,   so  viel  an  ihm  war,   zerstört  hatte, 
zwang  Pipin  von  Heristall  den  Sohn,  die  Missionare  wohl  zu  empfangen;   es 
kamen  mehrere  aus  England,  welche  Pipin  schützte;  zwei  von  ihnen,  Ewald 
genannt,   wendeten  sich  nach  Westphalen  zu  den  Sachsen   und  wurden  von 
ihnen  erschlagen  694.     Ein  anderer,  Suidbert  stiftete  das  Kloster  Kaisers- 
wörth   auf  einer   von  Pipin  geschenkten  Rheininsel,    f   '^13.     Em   anderer 
Missionar,    Wilibrord,  Hess  sich  in  Rom  legitimiren,   wurde  Bischof  von 
Utrecht,  stiftete  auch  mehrere  Klöster. 

Viertes  CapiteL    Innere  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche  nnter 
den  germanischen  Völkern. 

Diese  Verhältnisse  erhalten  dadurch  eine  besondere  Wichtigkeit,  dass 
sie  Anfangspunkte  einer  langen  Entwicklungsreihe  sind.  Sie  geben  den 
Schlüssel    zum  Verständniss    der  Kirchengeschichte    des   Mittelalters.     Bei 

iT^eben  des  heiligen  GaUus  ist  von  Walafrid  Strabo  f^^^^^^^^^^ 
Grund  einer  älteren  Quelle  ans  dem  achten  Jahrhundert,   die   m  der  Neuzeit  ist  heraus 
gegeben  worden. 


490  Dritte  I*eriode  des  alten  Katholicismus. 

Beleuchtung  der  äusseren  Verhältnisse  ist  schon  darauf  Rücksicht  genommen 
worden;  sie  erheischen  aber  eine  nähere  Betrachtung. 

Wir  beginnen  mit  einigen  Bemerkungen  über  den  Zustand  dieser  Völker 
im  Allgemeinen,  über  den  Grad  ihrer  Civilisation  und  Gesittung.  Die  Vor- 
stellung, die  man  sich  gewöhnlich  von  ihrem  barbarischen  Zustande  macht, 
bedarf  einiger  Einschränkung.  Barbarisch  war  dieser  Zustand,  verglichen 
mit  der  Stufe  der  Civilisation,  worauf  wir  stehen.  Allein  das  Eintreten  in 
civilisirte  Länder,  die  Verschmelzung  mit  den  alten  gebildeten  Einwohnern 
übte  alsobald  einen  grossen  Einfluss  auf  die  neuen  Herren  des  Landes  aus. 
Schon  der  Umstand,  dass  sie  sich  so  leicht  verschmolzen,  ist  ein  Beweis 
von  ihrer  Bildungsfähigkeit,  die  allerdings  erhöht  wurde  durch  ihre  Annahme 
des  Christenthums ;  aber  auf  der  anderen  Seite  stellte  sich  diese  auch  als 
Folge  dar;  es  bestand  also  eine  Wechselwirkung. 

Die  feste  Ansiedlung  der  germanischen  Völker  in  den  Ländern  des 
westlichen  Europa  und  die  Gründung  der  neuen  Staaten  fiel  mit  ihrem  Ueber- 
tritte  zum  Christenthum  zusammen.  Dass  die  Bekehrungen  in  Masse  ge- 
schahen, das  gehört  allerdings  einer  unteren  Stufe  der  Bildung  an,  und  die 
Folge  davon  war,  dass  Heidenthum  und  heidnische  Vorstellungen  sich  noch 
lange  Zeit  hindurch  erhielten.  Oftmals  nahm  das  Volk  das  Christenthum 
an,  folgend  dem  Beispiel,  welches  ihm  seine  Führer  gegeben  hatten.  Dar- 
aus ergab  sich  eine  sehr  enge  Verbindung  zwischen  Kirche  und  Staat.  Die 
Zustände  der  kathoUschen  Kirche  unter  Constantin,  Theodosius,  Justiuian 
wurden  massgebend  für  die  Kirche  unter  den  germanischen  Völkern.  Aus 
dieser  engen  Verbindung  von  Kirche  und  Staat  erhielt  die  königliche  Macht 
unter  diesen  Völkern  neuen  Zuwachs,  welche  Macht  schon  in  Folge  der 
vorangegangenen  Eroberungszüge  bedeutend  gewonnen  hatte. 

Die  germanischeu  Völker  traten  in  den  durch  die  Römer  civilisirten 
Ländern  unter  den  Einfluss  der  römischen  Cultur.  In  dieser  Weise  wurde 
die  römische  Herrschaft  auch  nach  dem  Untergange  des  weströmischen 
Reiches  fortgesetzt.  Die  alten  Einwohner  blieben  und  bildeten  die  Haupt- 
masse der  Bevölkerung.  Denn  man  muss  nicht  denken,  dass  sich  immer 
ganze  Völker  in  den  eroberten  Provinzen  niederliessen,  sondern  die  erobern- 
den Heereshaufen  bildeten  oft  den  kleinsten  Theil  der  Bevölkerung.  Die 
Sprache  der  Eroberer  so  wie  die  der  alten  Landesbewohner  wurde  ein  Idiom, 
gemischt  aus  der  germanischen  Sprache  und  der  römischen,  wobei  das  rö- 
mische Element  das  Uebergewicht  erhielt  und  auch  noch  keltisches  seine 
Stelle  fand. 

So  entstanden  die  romanischen  Sprachen  bei  den  romanischen  Völkern 
oder  den  romanischen  Germanen.  Seit  der  Ansiedelung  in  den  ursprünglich 
römischen  Provinzen  begann  auch  die  schriftliche  Aufzeichnung  ihrer  Ge- 
setze. Bereits  in  der  ersten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  schrieben  die 
Westgothen  ihre  Gesetze  nieder  und  zwar  in  römischer  Sprache,  wenn  gleich 
ohne  ciceronianische  Reinheit.  Diese  Sprache  wurde  die  officielle,  die 
Sprache  des  Staates;  es  war  die  alte  Sprache  der  Kirche  und  blieb  es  auch. 
Der  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache  im  Gottesdienst  hing  ursprünglich 
keineswegs  mit  hierarchischen  Interessen  zusammen,  sondern  er  ergab  sich 
aus  dem  ganzen  Culturzustande  dieser  Völker. 


Innere  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche.  4^1 

Unter  ihnen  fasste  der  römische  Katholicismus  seine  tiefsten  Wurzeln, 
er  ist  zum  Theil  ihr  Werk ,  das  Erzeugniss  ihres  religiösen  Geistes.  Die 
romanischen  Völker  gingen  den  rein  germanischen  in  der  Cultur,  auch  in 
der  religiösen  voran.  Die  reinen  Germanen  blieben  hinter  den  Romanen  in 
jeglicher  Art  von  Cultur  zurück.  Aber  ihre  nationale  Eigenthümlichkeit, 
härter,  unbeugsamer,  als  die  der  romanischen  Germanen,  Wieb  mehr  unver- 
sehrt. Daher  sie  so  lange  sich  stnäubten,  das  Christenthum  anzunehmen, 
und  sie  zum  Theil  nur  durch  Gewalt  dazu  vermocht  werden  konnten,  bis 
sie  im  sechzehnten  Jahrhundert,  nachdem  sie  lange  das  römische  Joch  ge- 
tragen, durch  Wiederbelebung  des  nationalen  Bewusstseins  dem  römischen 
Elemente  den  grössten  Abbruch  thaten. 

Was  nun  die  eigentlich  kirchhchen  Verhältnisse  betrifft,  so  wurden 
die  früheren  Einrichtungen  der  altkathoMschen  Kirche  beibehalten,  doch  mit 
stark  ausgeprägter  Abhängigkeit  vom  Staate.  Die  Kirchen  wurden  vom 
Staate  reich  begabt,  mit  Beneficien,  Lehengütern ;  die  Bischöfe  wurden  ange- 
sehen als  Vasallen,  Dienstmannen  des  Königs.  Gerne  stützten  sich  die  Könige 
auf  sie  gegenüber  den  unruhigen  weltlichen  Vasallen.  Nach  altem  Gebrauch 
wurde  der  Bischof  gewählt  von  einigen  benachbarten  Bischöfen,  von  den 
Geistlichen  der  betreffenden  Kirche,  mit  Gutheissung  des  Volkes  und  unter 
Bestätigung  des  Königs.  Unter  den  Merovingern  traten  die  Stimmen  der 
Geistlichkeit  und  des  Volkes  in  den  Hintergrund  gegen  die  Entscheidungen 
der  Könige,  deren  Wort  den  Ausschlag  gab,  mehr  als  in  irgend  einem  an- 
deren germanischen  Reiche  ^).  Mehr  und  mehr  kam  im  fränkischen  Reiche 
der  Gebrauch  auf,  dass  die  Bischöfe  allein  durch  den  König  gewählt  wur- 
den. Besonders  Karl  Martell  (717  —  741)  liess  es  sich  zu  Schulden  kommen, 
die  ihm  ergebensten  Offiziere  mit  den  einträglichsten  kirchlichen  Aemtern, 
Bisthümern  und  Abteien  zu  versehen. 

Die  kirchlichen  Güter  waren  tributpflichtig,  und  die  darauf  ange- 
siedelten Leute  zum  Kriegsdienste  verpflichtet.  Im  Jahr  571  haben  wir 
das  erste  Beispiel  von  Bischöfen,  welche  in  den  Krieg  zogen.  Die  alten 
kirchlichen  Synoden  durften  sich  nur  mit  Erlaubniss  des  Königs  versammeln,  die 
Beschlüsse  derselben  unterlagen  der  königlichen  Sanction  und  wurden  durch 
den  König  veröffentlicht.  Auf  den  Reichstagen  wurden  auch  kirchliche  An- 
gelegenheiten behandelt  und  beschäftigten  bisweilen  ausschliesshch  die  Ver- 
sammlung (Spwdus  regia,  synodale  concilhm,  mallus  regius,  Campus 
Martins).  Da  nun  die  Reichstage  von  Rechtswegen  auch  von  den  Bischöfen 
besucht  wurden,  so  hörten  die  altkirchUchen  Synoden  auf.  Die  Bischöfe 
genossen  übrigens  im  Allgemeinen  grosses  Ansehen,  besonders  bei  denWest- 
gothen;  sie  übten  die  Aufsicht  über  die  gesammte  Gerichtsbarkeit  und  hatten 
das  Recht,  ungerechte  Richter  zu  tadeln.  Die  Excommunication ,  die  sie 
bisweilen  verhängten,  brachte  auch  bürgerliche  Nachtheile  mit  sich.  Die 
Bischöfe  hatten  volle  Gewalt  über  die  ihnen  untergeordneten  Kleriker  und 
gingen  öfter  auf  höchst  brutale  Weise  mit  ihnen  um;  denn  es  waren  meistens 
ehemalige  Leibeigene;   den  Freien  war  der  Eintritt  in  den  geistlichen  Stand 


1)  Loebell  S.  337. 


4ÖÖ  Öritte  Periode  des  alten  Katholicisraus. 

sehr  erschwert.  Der  König  galt  als  Richter  der  Bischöfe.  Daher  Gregor 
von  Tours  zu  König  Chilperich  sagte:  ,^wenn  einer  von  uns  vom  Wege  der 
Gerechtigkeit  abgewichen  ist,  so  kann  er  durch  dich,  o  König,  eines  besseren 
belehrt  werden.   Wenn  aber  du  abweichst,  wer  ^vird  dich  zu  rügen  wagen?" 

In  diesen  Verhältnissen  konnte  der  römische  Bischof  keine  positive 
Intervention  ausüben.  Er  war  umgeben  mit  einem  gewissen  Nimbus  als 
Inhaber  des  Stuhles  Petri.  Aber  sein  Einfluss  wechselte  nach  den  Umstän- 
den, nach  dem  Belieben  der  welthchen  Herrscher.  In  der  Geschichte  der 
Merovinger  gibt  es  ein  einziges  Beispiel  von  päbstlicher  Einmischung.  Zwei 
Bischöfe,  Salonius  von  Embrun  und  Sagittarius  von  Gap,  waren  wegen  ge- 
waltthätiger  Handlungen,  eigentlich  Mordthaten,  vom  zweiten  Concil  in  Lyon 
567  abgesetzt  worden.  Sie  baten  König  Guntram,  der  ihnen  gewogen  war, 
ihnen  Empfehlungsbriefe  an  Pabst  Johann  III.  zu  geben ;  mit  diesen  versehen 
wanderten  sie  nach  Rom  und  wussten  den  Pabst  durch  lügenhaften  Bericht 
zu  gewinnen;  er  setzte  sie  wieder  in  ihre  Aemter  ein  und  König  Guntram 
setzte  es  durch  ^).  Es  war  ein  anerkanntes  Recht  des  Pabstes,  dass  er  über 
die  Aufrechthaltung  der  Kanones  zu  wachen  habe  und  dass  bei  deren  Ver- 
letzung an  ihn  appellirt  werden  dürfe.  Aber  die  Art,  wie  er  in  der  erwähn- 
ten Angelegenheit  dieses  Recht  ausübte,  war  wenig  geeignet,  sein  Ansehen 
zu  erhöhen.  Einige  Zeit  vorher  war  es  geschehen  (557),  dass  Childebert  I. 
dem  Pabste  Pelagius  L,  auf  den  wegen  der  Verwerfung  der  drei  Capitel  der 
Verdacht  der  Ketzerei  gefallen  war,  zumuthete,  sich  über  seine  Orthodoxie 
gegen  ihn  auszuweisen,  wozu  Pelagius,  weil  er  des  Königs  bedurfte,  sich 
verstand,  indem  er  sich  darauf  berief,  dass  selbst  der  Pabst  nach  der  Schrift 
den  Königen  unterthan  sein  müsse  ^).  Es  kam  die  Zeit,  wo  die  arianischen 
Longobarden  den  Bestand  der  kathohschen  Ivirche  in  Italien  bedrohten.  Von 
dieser  Zeit  an  suchte  Rom  bei  den  fränkischen  Herrschern  Schutz  gegen  die 
Longobarden.  Gregor  suchte  auch  zu  diesem  Zwecke  Verbindung  mit  Frank- 
reich, und  knüpfte  sie  -geschickt  an,  durch  Geschenke  und  ReUquien.  Aber 
im  siebenten  Jahrhundert  finden  wir  ein  einziges  Beispiel  eines  Briefwechsels 
mit  Rom.  Bischof  Amandus  von  Mastricht  meldete  dem  Pabste,  dass  er 
abdanken  wolle,  weil  er  seine  Kleriker  nicht  mehr  zügeln  könne.  Obwohl 
der  Pabst  davon  abrieth,  beharrte  Amandus  bei  seinem  Entschlüsse. 

Anders  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  in  der  kathohschen  Kirche 
Spaniens.  Unter  dem  Drucke  der  Eroberer,  der  arianischen  Westgothen, 
zeigte  diese  Kirche  grosse  Devotion  gegen  Rom,  ebenso  die  Westgothen 
selbst,  seitdem  sie  unter  König  Reccared  zur  kathohschen  Kirche  überge- 
treten. Damals  war  die  unter  den  Arianern  heiTschende  Priesterehe  durch 
das  dritte  Concil  von  Toledo  vom  Jahr  589  abgeschalTt  worden  und  die 
Folge  davon  wachsende  Unsittlichkeit  des  Klerus  gewesen.  König  W  i  t  i  z  a 
(701  —  710),  um  diesem  Uebel  abzuhelfen,  brach  die  Verbindung  mit  Rom 
ab,  erklärte  die  römischen  Decretalen,  welche  den  Cöhbat  geboten,  für  nicht 
verbindlich  und  verbot  alle  Appellationen  nach  Rom.  Doch  hatte  diese 
Emancipation   keine    weiteren  Folgen,    da    einige  Jahre  hernach   (711)   die 


1)  Greg.  Tut.  5,  21. 

2)  Regibus,  quibus  nos  etiam  subditoa  esse  s.  scriptarae  praecipiunt. 


Innere  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche.  493 

Araber  Spanien  eroberten.  Der  Name  des  Königs  Witiza  aber  wurde  seit 
dem  neunten  Jahrhundert  in  den  Chroniken  Gegenstand  arger  Verläumdungen, 
als  ob  er  unter  der  Geisthchkeit  die  Unzucht  befördert  hätte. 

Was   den   geistig -sittlichen  Zustand  der   Geisthchkeit,   besonders   im 
Frankenreiche  betrifft,   so  müssen  wir  vor  allem  mehrere  Generationen  oder 
Schichten   derselben   unterscheiden.     Zuerst  begegnet  uns   eine  Generation 
römisch  -  gallischer  Bischöfe,   von  wissenschaftlicher  Bildung  und  von  reinen 
und  strengen  Sitten  im  Ganzen.    Auf  dem  Concil  von  Orleans  511  bemerkt 
man  unter  zweiunddreissig  anwesenden  Bischöfen  zwei  germanische  Namen. 
Auf  dem  Concile   ebendaselbst   vom  Jahr   549   kommen   auf  achtundsechzig 
anwesende  Bischöfe  acht  germanisch-keltische  Namen  i).    Gewiss  suchten  die 
Provincialen  ein  solches  Verhältniss  mit  Eifer  zu  erhalten.     Mehrere  dieser 
Bischöfe  leisteten  kräftigen  Widerstand  gegen  die  Bedrückungen  der  Kirche 
durch  fränkische  Grosse.    Unter  diesen  Geistlichen  und  Bischöfen  ragt  hervor 
als  Schriftsteller  und  Bischof  der  bereits  angeführte  Gregor,  Bischof  von 
Tours,   geboren  c.  540,   im  Schoosse  einer  senatorischen  Famihe  der  Stadt 
Arverna  (dem   heutigen  Clermont  -  Ferrand).     Die  Famihe  gehörte  zu    den 
angesehensten  der  Romanen  GaUiens,    mit   den   vornehmsten  Häusern   ver- 
schwägert.   Der  Knabe  wurde   nach   dem  Tode   des  Vaters  von  der  Mutter 
zum  Dienste  der  Kirche   bestimmt   und  von   seinem  Oheim  Gallus,   Bischof 
von  Arvema   und  dessen  Nachfolger  Avitus   unterrichtet,   von    diesem  zum 
Diaconus   geweiht.     Der  Ruf  seiner  Gaben  und  vorzüghchen  Eigenschaften 
bewirkte,  dass,  als  der  bischöfliche  Sitz  in  Tours  erledigt  wurde.  Aller  Augen 
sich  auf  den ,    auch   von   den    Königen   geschätzten  Mann  warfen   und  dass 
Geistlichkeit,  Adel  und  Volk  einstimmig  ihn  zum  Bischof  wählten  (573).    Er 
weigerte   sich   zuerst,    die  Wahl   anzunehmen;    der  König  Sigibert  nöthigte 
ihn  dazu.     Er  erwies   sich   als   ein  treuer  Hirte  seiner  Gemeinde  und  ver- 
stand es  auch  mit  weltlicher  Klugheit  ihre   weltlichen  Interessen  zu  vertre- 
ten.   Sein  Einfluss  erstreckte  sich  weit  über  seinen  Sprengel  hinaus.    Tours, 
die  Stadt  des  heiligen  Martin,    war   damals  das   rehgiöse  Centrum  Galüens. 
Unter  König  Chilperich  kämpfte  er  muthig  für  die  Kirche  gegen  die  Ueber- 
griffe  einer  tyrannischen  Staatsgewalt.     Unter  König  Childebert  wurde  er  in 
den  wichtigsten  Staatsangelegenheiten  dessen  Berather  und  Beistand.    Allge- 
mein   verehit   starb    er  594.      Unter    seinen   zwanzig   Schriften  nimmt  die 
historia  Francorum  die  erste  Stelle  ein.    Ueber  diese  Schrift  sprechen 
sich  Loebell  und  Ebert  a.  a.  0.  weitläufig  aus.     Mit  Recht  wird  bemerkt, 
dass  dieses  Werk  der  Gattung  der  Memoiren  angehört,   dass  die  Geschichte 
in    lauter   Einzelgeschichten    sich    auflöst,    die    nicht    innerlich   verknüpft 
sind,   doch  wird  die  Darstellung  fesselnd  durch  den  Reiz  des  Individuellen. 
Uebrigens  ist   für  Gregor   die  Geschichte   nur   eine  Geschichte   des  Reiches 
Gottes,   sagt  Ebert.    ,Die  Kirche  ist  so  zu  sagen  der  Exponent  der  Welt- 
geschichte.   Nur  insofern  das  Geschehene  sich  auf  sie  bezieht,  hat  es  histo- 
rische  Bedeutung.^   -     Wie  sehr  aber   der  politische  Gesichtspunkt    den 
religiös -kirchlichen  beeinflusst,    haben   wir  bereits  gezeigt.     Dazu  kommen 


1)  Rettberg  1,  288. 


494  Dritte  Periode  des  alten  Katholicismus. 

geistliche  Schriften,  Leben  und  Wunder  der  Heiligen,  insbesondere  die  Schrift 
de  miraculis  S.  Marti7ii,  des  grossen  gallischen  Heiligen,  von  welchem  Chlo- 
dowich  sagte:  „wie  können  wir  hoffen  zu  siegen,  wenn  der  heilige  Martinus 
beleidigt  wird?"  Auf  diesem  Gebiete  zeigt  sich  Gregor  in  seiner  ganzen 
Schwäche  und  Blosse,  in  der  grössten  Abhängigkeit  von  dem  in  Aber-  und 
Wunderglauben  versunkenen  Christenthum  seiner  Zeit.  Bisweilen  wird  es 
schwer  zu  glauben,  dass  er  selbst  dem  Glauben  beimisst,  was  er  seinen  Le- 
sern auftischt,  z.  B.  dass  in  einem  Brunnen  in  Bethlehem  noch  immer  der 
Stern  der  Weisen  zu  sehen  sei,  wie  ihm  sein  Diaconus,  der  es  selbst  ge- 
sehen, mitgetheilt  habe.  Was  aber  die  Wunder  der  Heiligen  betrifft,  so 
gibt  der  Verfasser  am  Ende  des  Buches  c.  50  über  die  Wunder  des  heiligen 
Julian  das  Motiv  davon  an:  der  Leser  solle  sich  durch  diese  Wunder  über- 
zeugen, dass  er  nur  durch  die  Hülfe  der  Märtyrer  und  übrigen  Freunde 
Gottes  selig  werden  könne  ^). 

Es  folgte  von  dem  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  an  eine  Gene- 
ration von  fränkisch -gennanischen  Bischöfen,  an  wissenschaftlicher  Bildung 
der  früheren  Generation  nachstehend,  so  dass  sie  in  ihre  Sprache  gewaltige 
Barbarismen  aufnahmen,  die  übrigens  schon  bei  der  früheren  Geistlichkeit 
zum  Theil  vorkommen,  aber  an  Tüchtigkeit  der  Gesinnung  steht  diese  Ge- 
neration der  früheren  nicht  nach.  Unter  ihnen  zeigt  sich  viel  Hang  zum 
beschaulichen  Leben.  Manche  ziehen  sich  am  Abend  ihres  Lebens  in  ein 
Kloster  zurück  2).  Es  kam  eine  neue  Generation  von  Bischöfen  unter  Karl 
Martell,  als  der  rohe  Soldatengeist  sich  der  kirchlichen  Aemter  bemächtigte. 
Den  Cölibat  der  Priester  hielt  das  germanische  Abendland  fest  in  der  Form, 
die  Pabst  Siricius  385  angeordnet  hatte,  wonach  den  niederen  Graden,  ein- 
schliesslich des  Subdiaconus,  die  Ehe  sollte  gestattet  sein,  aber  nur  als 
erste  Ehe  und  mit  einer  Jungfrau.  Leo  L  dehnte  446  den  Cölibat  auch  auf 
die  Subdiakonen,  aber  nicht  für  Gallien  aus.  Die  gallischen  Synoden  des 
sechsten  Jahrhunderts  nahmen  diese  Gesetze  so  an,  dass  die  Subdiakonen 
bald  zum  Cöhbat  verpflichtet  wurden,  bald  nicht.  Es  gab  aber  sehr  viele 
Beispiele  von  verheiratheten  Geistlichen,  es  gab  presbyterae,  diaconissae  und 
subdiaconissae ;  es  gab  verheirathete  Bischöfe  3).  Es  war  unmöglich ,  den 
Cölibat  streng  aufrecht  zu  halten,  hinwiederum  mehrten  sich  in  Folge  des 
Cöhbats  die  Fleischessünden  der  Kleriker,  —  daneben  Trunkenheit  und 
Habgier. 

Eine  sehr  wichtige  Stellung  nahmen  die  Klöster  ein  als  Kolonisations- 
heerde.  Diesseits  des  Rheins  sind  sie  volksthümlicher  als  jenseits,  weil  an 
sie    die   Einführung    des   Christenthums    in    der   umliegenden   Gegend   sich 


1)  Ergo  bis  miraculis  lector  intendens  intelligat,  non  aliter  nisi  martyrum  reliqno- 
ramqne  amicorum  Dei  adjutoriis  se  posse  salvari.  Ego  autem  Domini  misericordiam  per 
beati  martyris  Juliani  patrocinia  deprecor,  ut  advocatus  in  causis  alumni  proprii,  coram 
Domino  assistens  obtineat,  ut  absque  impedimento  maculae  ullius  hujus  vitae  cursum 
peragam,  atque  illa,  quae  confessus  sum  in  baptismo  irreprehensibiliter  teneam,  fideliter 
exerceam  atque  visibiliter  usque  ad  consummationem  hujus  vitae  custodiam. 

2)  Rettberg  1,  300. 

3)  Rettberg  2,  650  ff. 


Innere  Verhältnisse  der  katholischen  Kirche.  495 

knüpft.  Sie  sind  die  ersten  Sitze  der  Missionen.  Daher  suchen  sie  sich 
der  Vormundschaft  der  Bischöfe  zu  entziehen,  von  denen  sie  öfter  zu  leiden 
haben;  sie  leben  fast  in  bestäucUgem  Streit  mit  ihnen.  Ein  Abt  von  St. 
Gallen  wurde  im  Streit  mit  dem  Bischof  von  Constanz  zum  Märtyrer.  In 
manchen  Klöstern,  vor  allem  in  St.  Gallen  wurde  die  Regel  Columban's  ein- 
geführt; in  einigen  wurden  zwei  Regeln  vorgeschrieben,  die  Columban's  und 
die  Benedicts ;  diese  empfahl  sich  durch  grössere  Bestimmtheit  und  durch 
grössere  Milde  in  den  Verordnungen,  die  Nahrung  und  die  ganze  Behandlung 
der  Mönche  betreffend.  Aber  die  Regel  Benedict's  wurde  in  dieser  Periode 
noch  verhältnissmässig  selten  eingeführt,  in  St.  Gallen  erst  unter  Abt  Othmar, 
auf  die  Empfehlung  des  fränkischen  Majordomus  Pipin.  Es  war  die  blühende 
Zeit  für  das  Mönchthum,  indem  es  mehr  und  mehr  als  der  Weg,  zu  christ- 
licher Vollkommenheit  zu  gelangen,  angesehen  wurde;  daher  Könige  und 
Königinnen,  Fürsten  und  Fürstinnen  in  das  Kloster  gingen,  durchaus  nicht 
blos  englische  (Schroekh,  Kirchengeschichte  20,  10). 

Der  sittliche  Zustand  der  germanischen  Völker,  besonders  der  Franken 
und  Burgunder  war  seit  ihrer  Ansiedelung  auf  dem  Boden  des  westlichen 
Europa  sehr  gesunken.  Insonderheit  ist  die  fränkische  Fürstengeschichte 
ein  Gewebe  von  Treulosigkeiten  und  Mordthaten,  eine  kaum  unterbrochene 
Kette  von  Lastern  und  Tyrannei,  von  Unthaten  blutdürstiger  Grausamkeit 
und  Rachgier,  die  die  Merovinger,  gleich  den  Pelopiden  in  der  Volkssage, 
gegen  einander  selbst  üben.  Bei  dem  Lesen  dieser  Frevelthaten  im  Ge- 
schichtswerke des  Gregor  von  Tours  fragt  man  sich  entsetzt,  was  aus  jener 
Sittenreinheit  geworden,  welche  die  Römer  an  den  Germanen  einst  so  hoch 
gerühmt  hatten.  Das  Beispiel  der  Könige  wirkte  ansteckend  auf  die  Grossen 
des  Reiches,  selbst  auf  die  Geistlichkeit,  wie  wir  denn  gesehen,  dass  Gregor 
von  Tours  leichten  Herzens  die  Greuelthaten  Chlodowich's  entschuldigt. 
Seitdem  begingen  selbst  Geistliche  auf  Befehl  der  merovingischen  Herrscher 
Schandthaten.  Die  schreckliche  Fredegunde,  Gemahhn  des  Königs  Chilperich 
zu  Soissons,  liess  sich  das  zu  Schulden  kommen  i)  und  sagte  noch  beruhigend 
zu  den  gegen  Sigbert  ausgesandten  Mördern:  Wenn  sie  in  der  Ausführung 
des  ihnen  gegebenen  Auftrages  unterliegen  sollten,  so  werde  sie,  die  Kö- 
nigin, für  sie  viele  Almosen  an  heiligen  Orten  austheilen  lassen.  Die  Ueber- 
tragung  des  altgermanischen  Wehrgeldes  auf  das  kirchliche  Gebiet  wirkte 
auch  entsittlichend,  indem  so  die  kirchlichen  Strafen  in  Geschenke  an  Kirchen 
und  Klöster  verwandelt  wurden:  ein  bequemes  Mittel,  um  die  Kirche  zu 
bereichem,  zugleich  um  die  Laien  durch  Vermeidung  empfindlicherer  Strafen 
anzuziehen.  Dass,  wo  solche  Gesinnung  sich  kund  gab,  auch  noch  eigent- 
liches Heidenthum,  so  streng  es  auch  von  oben  verboten  war,  sich  wenig- 
stens sporadisch  erhielt,  darüber  kann  man  sich  nicht  wundern.  Gregor 
von  Tours  (8,  15)  berichtet,  dass  er  zu  Trier  ein  Bild  der  Diana  gefunden, 
welches  das  unwissende  Volk  anbetete.  So  erhielt  sich  auch  heidnischer 
Aberglaube,  wogegen  die  Synoden  noch  oft  ankämpfen  mussten.  Grimm  m 
seiner  deutschen  Mythologie  führt  lange  Verzeichnisse  von  abergläubischen, 
dem  Heidenthum  entlehnten  Meinungen  und  Gebräuchen  an. 


1)  Gregor  von  Tours  1,  20.  8,  29. 


496  Dritte  Periode  dos  alten  Katliolicismus. 

Wie  sehr  in  diesen  Verhältnissen  das  Christenthum  als  Gesetz  aufge- 
fasst  und  angewendet  wurde,  erhellt  unter  anderen  aus  einer  Predigt  des 
hochverehrten  Bischofs  Eligius  von  Noyon,  f  659  ^).  Nachdem  er  zuerst  an 
das  jüngste  Gericht,  an  die  Glaubenswahrheiten  und  auch  an  die  Pflicht, 
christhche  Werke  zu  verrichten,  erinnert  hat,  fährt  er  also  fort:  „Derjenige 
also  ist  ein  guter  Christ,  der  nicht  an  die  Amulete  {phyladerid) ,  die  Er- 
findungen des  Teufels,  glaubt,  die  Füsse  seiner  Gäste  wäscht,  sie  liebt  als 
seine  Verwandten,  unter  die  Armen  Almosen  austheilt,  oft  in  die  Kirche 
geht,  die  Oblationen  darbringt,  von  den  Früchten  der  Erde  nichts  kostet, 
ehe  er  einen  Theil  davon  geopfert;  der  nicht  falsche  Münze  und  ein  dop- 
peltes Mass  gebraucht ,  nicht  auf  Wucher  leiht ,  keusch  lebt  und  seine 
Söhne  ermahnt ,  keusch  und  gottesfürchtig  zu  leben ,  der  das  apostolische 
Symbol  und  das  Unser  Vater  auswendig  lernt  und  beides  seinen  Kindern 
einprägt.  Wer  diess  Alles  thut,  der  ist  fürwahr  ein  guter  Christ.  Ihr  habt 
gehört,  meine  Brüder,  welclie  die  guten  Christen  sind.  So  gebt  euch  Mühe, 
dass  der  Name  Christi  nicht  leer  in  euch  bleibe.  Denkt  immer  über  die 
göttlichen  Gebote  nach  und  erfüllt  sie.  Erkaufet  eure  Seelen  von  den  Stra- 
fen, so  lange  ihr  die  Mittel  dazu  habt.  Gebt  Almosen  nach  eurem  Ver- 
mögen, habt  Frieden  und  Liebe  unter  einander,  flieht  die  Lüge,  verabscheut 
den  Meineid,  sagt  kein  falsches  Zeugniss,  begeht  keinen  Diebstahl,  bringt 
die  Oblationen  und  Zehnten,  beschenket  nach  Vermögen  die  heiligen  Orte 
mit  Kerzen,  behaltet  im  Gedächtniss  das  apostolische  Symbol  und  das  Vater 
Unser.  Kommt  oft  in  die  Kirche,  bewerbet  euch  demüthig  um  die  Fürbitte 
der  Heiligen.  Heiliget  den  Tag  des  Herrn  mit  Unterlassen  der  Handarbeit. 
Liebet  eure  Nächsten  wie  euch  selbst.  Wenn  ihr  alles  dieses  erfüllt  habt, 
könnt  ihr  einst  in  aller  Sicherheit  vor  Gottes  Richterstuhl  treten  und  ihm 
sagen:  ;,HeiT,  gib  uns,  denn  wir  haben  gegeben,  erbarme  dich  über  uns, 
denn  wir  haben  uns  des  Nächsten  erbarmet.  Wir  haben  gethan,  was  du 
befohlen  hast.  Gib  uns  jetzt,  was  du  versprochen  hast.'^  Hier  zeigt  sich 
dieselbe  Werkgerechtigkeit,  die  Luther  bekämpfte,  als  er  gegen  Tetzel  den 
Satz  behauptete,  dass  man  nicht  durch  Beiträge  zum  Bau  der  Peterskirche 
in  Rom  sich  von  den  Strafen  der  Sünde  loskaufen  könne. 

Schluss. 

\  Das  ist  also  das  Endresultat  des  alten  Katholicismus ,  zum  deutlichen 
Beweise,  wie  sehr  man  irre  gehen  würde,  wenn  man  die  Vereinigung  der 
christlichen  Confessionen  auf  Grund  des  alten  Katholicismus,  dessen  Ent- 
wicklung wir  seit  dem  Abschlüsse  des  apostohschen  Zeitalters  verfolgt  ha- 
ben, bewerkstelligen  wollte.  Was  wir  am  Ende  der  ersten  Periode  des 
alten  Katholicismus  (S.  220)  bemerkten,  betreifend  Gesetz,  Priester- 
thum  und  Opfer,  worin  sich  die  Reaction  der  jüdischen  und  heidnischen 
Religionssphäre  auf  das  Christenthum  vollzieht,  das  hat  sich  seitdem  bis  in 
die  ersten  Jahrzehnte  des  achten  Jahrhunderts  in  stets  wachsenden  Dimen- 
sionen entwickelt.    Was  am  Anfange  des  vierten  Jahrhunderts  erst  keimartig 


1)  Bei  Gieseler  1,  2.  451. 


ScMusa.  497 

und  sporadisch  vorhanden  war,  ist  seitdem  zur  herrschenden  Macht  in  der 
Kirche  geworden.  Die  Menschheit  ist  im  Bereiche  der  kathoHschen  Kirche 
wieder  unter  das  Gesetz  gethan,  wozu  nothwendig  Priesterthum  und  Opfer 
gehören.  Es  ist  hinzugekommen  der  Cultus  der  Heiügen,  der  Glaube  an 
die  durch  die  Heiligen  verrichteten  Wunder,  und  die  von  den  Vorstehern 
der  Kirche  eifrig  vertretene  und  den  Gläubigen  stark  eingeprägte  Ueber- 
zeugung,  dass  sie  nur  durch  Hülfe  der  Märtyrer  und  übrigen  Freunde  Gottes 
seüg  werden  können.  Daher  die  hagiographische  Literatur  sich  schon  ziem- 
lich ausdehnt  und,  was  wichtiger  ist,  die  Wunder  der  Heiügen  sich  erstaun- 
lich vermehren,  so  dass  dem  einzigen  Martin  von  Tours,  der  freilich  der 
Hauptheros  auf  diesem  Gebiete  ist,  mehrere  hundert  Wunderthaten  zuge- 
schrieben werden.  Der  Zauberkreis,  in  welchen  so  das  rehgiöse  Bewusst- 
sein  eingehüllt  wird,  kommt  der  Kirche  zu  gute,  befestigt  und  erhöht  ihre 
Autorität  uud  ihre  Wii'kung  auf  die  Gemüther  der  Völker.  Im  Cultus 
der  Heiligen  vollendet  sich  das  gesetzliche  Wesen  dieses  altkathoHschen 
Christenthums.  Der  von  Gott  bestellte  Mittler  tritt  im  Bewusstsein  des 
Volkes  sein  Amt  ab  an  die  rein  menschlichen  Vermittler  und  zieht  sich 
zurück  in  das  Dunkel  der  immanenten  Trinität.  Er  tritt,  kann  man  auch 
sagen,  sein  Amt  ab  an  die  Priester,  die  das  Messopfer  darbringen  und  durch 
die  Furcht  vor  den  Qualen  des  Fegefeuers  die  Gemüther  zu  beherrschen 
anfangen. 

Ungeachtet  der  Entstellungen,  die  das  altkatholische  Christenthum 
aufweist,  behielt  es  einen  Theil  seiner  rehgiös- sittlich  erneuernden  Kraft, 
deren  Erweisungen  und  Wirkungen,  so  wie  wir  sie  in  der  Gesetzgebung  des 
römischen  Reiches  verfolgen  können ,  so  auch  neben  viel  Rohheit  und  sitt- 
licher Verderbuiss  im  Leben  der  christHchen  Völker  sich  zeigen.  Denn  es 
ist  mit  dem  Evangelium  das  Princip  einer  sittlich -religiösen  Erneuerung  in 
die  Völker  gelegt,  das  zwar  oft  hintangesetzt  und  wie  überfluthet  wird  vom 
Strom  des  Verderbens,  aber  doch  immer  wieder  unerwartet  sich  geltend 
macht.  IJeberhaupt  müssen  wir  als  Protestanten  uns  hüten,  dass  wir  nicht 
völlige  Negation  des  Christenthums  und  somit  auch  seiner  Wirkungen  da 
vermuthen,  wo  es  sich  in  anderen  Formen  bewegt,  als  welche  wir  gewohnt 
sind  und  wir  mit  Recht  als  dem  richtig  -  verstandenen  Evangelium  allein 
entsprechend  erachten.  Es  findet  hier  die  früher  gemachte  Bemerkung  ihre 
erweiterte  Anwendung,  dass  die  Christen  in  ihrem  Inneren  Grösseres  be- 
sitzen, als  was  ihnen  gegeben  wird,  begrifflich  nicht  nur,  sondern  auch  m 
den  Formen  ihres  religiösen  Lebens  auszudrücken. 

Doch  ist  die  Arbeit  der  Kirche  in  Betreff  der  Dogmenbildung  und  der 
theologischen  Wissenschaften  in  der  ersten  und  zweiten  Periode  des  alten 
Katholicismus  von  überwiegender  Intensität  und  Bedeutung  gewesen  und 
selbst  in  der  dritten  Periode  durchaus  nicht  ganz  bei  Seite  gelassen  worden. 
Die  vorzüghchsten  Kirchenlehrer,  die  freilich  den  früheren  Perioden  des 
alten  Katholicismus  angehören,  sind  mit  dem  Namen  Kirchenvater  ge- 
schmückt worden,  weil  sie  das  Dogma,  d.  h.  die  begriffliche  Fassung  der 
Glaubenswahrheit  geschaffen  haben.  Diese  dogmatische  Arbeit  ist  zwar  mit 
vielen  Gebrechen  behaftet.  Es  fehlt  einiges  daran,  dass  Athanasius  die 
Alternative  überwunden:  der  Logos  entweder  Gott  von  Art,  aber  ohne  eigene 

Herzog,  Kirchengeschichte  I. 


49d  Dritte  Periode  des  alten  Eatholicismus. 

Hypostase  oder  eine  besondere  Hypostase,    aber   ohne  Gottheit.     Es  fehlt 
einiges  daran,  dass  er  die  hypostatische  Selbständigkeit  des  Logos,  die  Gott- 
heit   desselben    und    den  Monotheismus   befriedigend   miteinander  vereinigt 
hätte.    Ebenso  sind  die  chalcedonensischen  Beschlüsse   von  Seiten   ihrer  Be- 
gründung,  sowie   diejenigen,   welche  gegen  die  monophysitische   und  mono- 
theletische  Lehre  gerichtet  sind,  sehr  ungenügend,  —  nicht  zu  reden  von  so 
manchen  Irithümern  oder  absonderlichen  Gedanken,  die  in  Behandlung  anderer 
Glaubenspunkte   zum  Vorschein    kamen,    die   aber    damals    weniger  Anstoss 
gaben,  als  das  jetzt  der  Fall  ist.    Das  bleibt  aber   fest   stehen,   die  Kirche 
hat  mit   redlichem,   unermüdlichem  Eifer  Jahrhunderte  lang  gekämpft  und 
gestritten,   um   die  wesentlichen  Bedingungen  ihres  Lebens  und  ihrer  Wirk- 
samkeit,  den   wesentlichen  Inhalt   des   Glaubens  an   Christum,    die   wahre 
Gottheit  Christi  und  die  wahre  Menschheit  Christi  festzustellen,  und  sie  hat 
in  dieser  Beziehung  Grosses  geleistet.      Sie    hat   auch   redlich  sich  bemüht, 
die  richtigen  Anschauungen  über  die   menschliche  Natur,    die  richtigen  Be- 
griffe,  betreffend  das  Verhältniss  des  Menschen  zu  Christo   aufzustellen,   so 
dass  die  That  Christi  am  Menschen  nicht  entweder  als   unmöglich  oder  als 
unnöthig  erscheinen  sollte.     Ueberhaupt  müssen  die  Resultate  der  Dogmen- 
bildung nicht  allein  aus  dem  Gesichtspunkt  dessen,  was  sie  Mangelhaftes  an 
sich  haben,  betrachtet  und  beurtheilt  werden,  sondern  wir  müssen  sie  haupt- 
sächhch  im  Verhältniss  zu  ihrer  Zeit  und  dem  dazu  gehörigen  Bildungsstande 
betrachten,    und   das  Gute   und  Haltbare,   was  darin  zu  Tage  gefördert  ist, 
unterscheiden  von  dem  Unhaltbaren.     Wir   dürfen  auch   nicht   ausser  Acht 
lassen,  dass  in  einer  Zeit,   wo  die  furchtbarsten  Unglücksfälle  nicht  nur  die 
Mittel,   sondern  auch  die  Lust  zu  wissenschaftlichen  Studien  ertödteten  oder 
lähmten,   christliche   Geistliche  oder    fromme  Laien    (Cassiodor)    es    waren, 
welche  sich  die  Aufgabe  stellten  und  an   deren  Lösung  unverdrossen  arbei- 
teten,  die  Schätze   der   alten  Literatur   und  Wissenschaft   zu  retten,    den 
Sinn  für  wissenschaftliche  Bildung  und  Studien   zu  pflanzen  und  zu  pflegen. 
Ohne  die  katholische  Kirche  wäre,   das   kann   man  ohne  alle  Uebertreibung 
sagen,  in  den  Stürmen  der  Völkerwanderung  die  gesammte  bisherige  Cultur 
vernichtet  worden.    So  kann  man  auch  sagen,    dass    unsere   neuere   theolo- 
gische Bildung  zum  Theil  auf  der  patristischen  Theologie  ruht,   so  sehr  die 
Mängel  dieser  Theologie  im  protestantischen  Kreise   sind  anerkannt  worden. 
Selbst  unsere  Philosophie  hat  von  den  Kirchenvätern,   den  griechischen  und 
lateinischen,  sehr  wohlthätige  Anregung  erhalten.     Zunächst  aber  ruht  dar- 
auf die  Theologie  und  Philosophie  des  Mittelalters. 

Bei  alledem  sehen  wir  in  der  katholischen  Kirche,  die  einst  die  Chri- 
sten mit  Macht  zusammengehalten  hatte,  einen  grossen  Riss  sich  vorbereiten, 
der  mit  der  Bildung  des  römischen  Katholicismus  zusammenhängt.  Mit  dem 
Aufkommen  der  allgemeinen  Kirche  hatten  die  Zeiten  des  alten  Katholicismus 
begonnen.  Mit  der  Aussicht  auf  völlige  Zerreissung  der  allgemeinen  Kirche 
in  zwei  getrennte  Hälften  schliessen  sich  die  Zeiten  des  alten  Katholicismus 
ab.  Wir  haben  die  Entwicklung  der  Autorität  des  römischen  Bischofs,  der 
römischen  Kirche  verfolgt  von  der  Zeit  des  Clemens  von  Rom  an,  als  er 
im  Namen  der  römischen  Kirche  an  die  korinthische  Kirche,  ohne  alle  Auf- 
forderung von  Seiten  dieser   letzteren,   ein   ernstes  Mahnschreiben  richtete, 


Schluss. 


499 


wie  es  scheint,  von  der  Voraussetzung  ausgehend,  dass  der  römischen  Kirche 
eine  Art  Oberaufsicht  über  die  anderen  Kirchen  rechtmässig  zukomme.  Wir 
haben  seitdem  die  Autorität  Roms  stufenweise  wachsen  gesehen;  wenn  wir 
keineswegs  verschwiegen  haben,  dass  sich  Menschliches  in  das  Aufstreben  der 
römischen  Kirche  gemischt  hat,  so  haben  wir  zugleich  die  Verdienste  derselben 
um  die  Kirche  überhaupt  dargelegt,  ohne  welche  Verdienste  die  Macht,  welche 
Rom  erwarb  und  ausübte,  ganz  und  gar  unerklärlich  wäre.  Die  Mischung 
von  christlichem  Geiste  und  Streben  einerseits  und  von  hoffärtig  hierarchischem 
Geiste  und  Treiben  andererseits,  welcher  Geist  übrigens  auf  Seite  der  griechisch- 
morgenländischen  Kirche  auch  nicht  fehlt,  auf  der  einen  Seite  gemein- 
nütziges, auf  der  anderen  selbstsüchtiges  Handeln,  einestheils  Fürsorge  für 
das  Wohl  der  Kirche,  die  keine  Arbeit,  keine  Mühen,  keine  Gefahren,  kein 
Leiden  scheut,  und  damit  verbundenes  eifriges,  unablässiges  Bestreben,  das 
Wachsthum  der  Hausmacht  zu  befördern  (wenn  dieser  Ausdruck  erlaubt  ist), 
ein  Streben,  welches  ohne  Scheu  die  kathohsche  Einheit  zerreisst,  um  sich 
die  Oberhand  zu  sichern,  dazu  kommend  jene  Mischung  von  Wahrheit  und 
Irrthum,  die  nun  einmal  der  Menschheit  auf  verschiedenartigen  Stufen  der 
Bildung  so  sehr  zusagt,  das  ist  das  Geheimniss  der  Grösse  Roms,  welches 
letztere  wir  in  den  folgenden  Zeiten,  in  den  Zeiten  des  römischen  Katholi- 
cismus  noch  ungeheuer  wachsen,  die  höchste  Stufe  seiner  Macht  erreichen, 
aber  auch  abnehmen,  und  die  Reformation  des  sechszehnten  Jahrhunderts 
vorbereiten  sehen  werden. 


32 


Nachträge. 

Es  herrscht  gegenwärtig  eine  grosse  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
ältesten  Kirchengeschichte.  Was  von  den  Früchten  dieser  Thätigkeit  zu 
unserer  Kenntniss  gelangte,  haben  wir  benützt  oder  wo  wir  nicht  mehr  Zeit 
dazu  hatten,  bloss  eingetragen;  denn  einiges  Neue  ist  während  des  Druckes 
erschienen  und  haben  wir  es  noch  während  des  Druckes  benützen  können ;  so 
z.  ß.  die  Abhandlung  von  ScTiultze  über  die  Christologie  des  Origines,  die 
Abhandlung  von  Professor  Weingarten  über  den  Ursprung  des  Mönchthums. 

Was  die  nachträglichen  Angaben  betrifft,  so  verweisen  wir  zunächst 
auf  die  kritische  Uebersicht  über  die  kirchengeschichtlichen  Arbeiten  aus  dem 
Jahr  1875.  I.  Geschichte  der  Kirche  bis  zum  Concil  von  Nicaea  von  D.  A. 
Harnack  —  in  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  .  .  herausgegeben  von 
D.  Theodor  Brieger.    Gotha  1876.  1.  Bd.  I.Heft. 

Im  Einzelnen  führen  wir  an  patrum  apostolicorum  opera,  herausgegeben 
von  Oscar  de  Gebhardt,  Adolf  Harnack,  Theodor  Zahn,  erstes 
Fascikel:  die  Epistel  des  Barnabas,  die  Episteln  des  Clemens  Romanus. 
Papiae  quae  supersimt  Presbyterorum  reliquiae  ab  Irenaeo  servatae.  Die 
Epistel  an  Diognet  1876.  Das  Ganze  nach  den  besten  Ausgaben,  mit  kri- 
tischem und  historischem  Commentar  versehen,  das  zweite  Fascikel  enthal- 
tend Ignatii  et  Polycarpi  epistolae,  martyria  fragmenta  ist  vor  Kurzem 
erschienen. 

Besondere  Beachtung  verdient  die  neue  Ausgabe  des  Clemens  Romanus, 
die  vollständige  Ausgabe  der  beiden  Briefe  desselben  von  Bryennios, 
Metropolit  in  Serrae  in  Macedonien,  in  Constantinopel  herausgekommen. 
S.  das  neue  Leipziger  Literaturblatt  von  Schürer.  19.  Februar  1876.  Nr.  4. 
Anzeige  von  A.  Harnack.  Die  römische  Gemeinde,  die,  wohl  zu  bemerken, 
dem  grösseren  Theile  nach  aus  Nicht -Römern  besteht,  führt  in  den  neuen 
Stücken  c.  59 — 63  gegen  die  korinthische  Gemeinde  eine  Sprache,  worin 
sich  der  römische  Herrschergeist  ankündigt.  Sie  fordert  Gehorsam  von  der 
korinthischen  Gemeinde,  an  die  sie  ohne  alle  Aufforderung  von  ihr,  rein  von 
sich  aus,  das  Mahnschreiben  richtet. 

Was  den  zweiten  unächten  Brief  betrifft,  so  liegt  er  in  dieser  neuen 
Ausgabe  zum  ersten  Male  vollständig  vor,  und  es  ergibt  sich  daraus,  dass 
es  kein  Brief,  sondern  eine  Homilie  ist. 

Neuerdings  ist  auch  Arnobius  neu  herausgegeben  worden  als  Vol.  IV 
des  corpus  scriptorum  eccles.  lat.    Wien  1875. 

Dazu  kommt  eine  Arbeit  von  Weif fenbach,  über  das  Papiasfragment 
bei  Euseb  Kirchengeschichte  3,  39.  Giessen  1874,  von  Hilgenfeld,  eine 
Abhandlung:  Papias  von  Hierapolis  in  der  Zeitschrift  für  wissenschafthche 
Theologie.  1875. 

In  dem  äusserst  reichhaltigen  dritten  Universitätsprogramm  von  Gaspari 
über  die  Quellen  zur  Geschichte  des  Taufsymbols  und  der  Glaubensregel; 
finden  sich  sehr  werthvolle  Angaben  über  den  Gebrauch  der  griechischen 
Sprache  bei  dem  Gottesdienste  in  der  lateinischen  Kirche,  —  über  Hip- 
polytus. 


Nachträge.  kq< 

Ferner  nennen  wir  Lipsius,  die  Quellen  der  ältesten  Ketzerge- 
schichte. 1875.  Anzeige  von  A.  Harnack  in  der  Leipziger  Literaturzeitung 
von  Schürer.  1676.  Nr.  4. 

Ron  seh,  Studien  zur  Itala  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftüche 
Theologie.  1875. 

Die  Abhandlung  von  A.  Harnack,  Beiträge  zur  Geschichte  der  marcio- 
nitischen  Kirchen  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Theologie.  1876. 

Es  wäre  wohl  noch  einiges  nachzutragen,  doch  wir  beschränken  uns 
auf  das  vorstehende,  woraus  der  geehrte  Leser  schon  ersehen  mag,  dass 
wir  gesucht  haben,  einigermassen  Schritt  zu  halten  mit  der  kirchlichen  Ge- 
schichtsforschung in  der  Gegenwart. 

Zu  Seite  186.  187,  wo  von  den  Katakomben  die  Rede  ist,  sei  mir  ein 
Nachtrag  gestattet.  Am  10.  April  1668  erliess  die  Congregation  der  Riten 
und  Reliquien  ein  Decret,  bestätigt  von  Clemens  IX.,  folgenden  Inhalts: 
„die  Palme  und  das  Gefäss,  das  mit  dem  Blut  der  Märtyrer  gefüllt  ist,  sollen 
für  sichere  Zeichen  gelten,  dass  das  Grab,  bei  dem  man  jene  Dinge  gefunden, 
eines  Märtyrers  Grab  sei.^^  Allein,  wie  im  Texte  gesagt  ist,  die  Palme  ist 
ein  allgemein  christliches  Symbol  nach  Apokal.  7,  9,  was  auch  Benedict  XIV. 
anerkannte.  Das  rothgefärbte  Gefäss  oder  die  Phiole  enthielt  den  Abend- 
mahlswein, der  selbst  den  Kindern  bei  der  Taufe  eingegossen  wurde,  nach 
einem  im  dritten  Jahrhundert  im  Abendlande  aufgekommenen  Gebrauche 
oder  vielmehr  Missbrauche,  —  mit  Beziehung  auf  die  falsch  verstandene 
Stelle  Joh.  6,  53.  Es  sind  aber  ein  Fünftel  der  KindergTäber  mit  solchen 
Phiolen  versehen.  Obwohl  es  feststeht  nach  Euseb  8,  9,  dass  in  der  diocle- 
tianischen  Verfolgung  Kinder  den  Märtyrertod  starben,  so  lässt  sich  keines- 
wegs annehmen,  dass  ihre  Zahl  so  überaus  gross  war.  Ein  belgischer  Jesuit, 
P.  Victor  de  Bück  hat  das  Verdienst,  diesen  Irrthum  widerlegt  zu  haben, 
worauf  Pius  IX.  am  10.  December  1863  ein  Decret  erliess,  es  solle  das  an- 
geführte Decret  des  Jahres  1668  seine  Geltung  behalten. 

Noch  will  ich  anführen,  dass  aus  den  Zeiten  des  Pabstes  Damasus 
(366—384)  das  erste  Beispiel  einer  Heiligenanrufung  vorkommt,  in  einer  In- 
schrift des  Pabstes  Damasus  auf  dem  Grabe  der  heihgen  Agnes:  TJt  Damast 
precibtcs,  precor,  faveas,  inclita  martyr.  Dass  in  einigen  Inschriften  die  Ueber- 
lebenden  sich  in  die  Gebete  der  vorangegangenen  Angehörigen  empfehlen, 
ist  nichts  specifisch  -  katholisches ,  ebensowenig  das  receptus  ad  Deum  in  den 
Inschriften  einiger  Gräber,  welche  Worte  ja  eine  förmUche  Negation  des 
Fegefeuers  enthalten. 

Zu  Seite  149  ist  nachzutragen  Flügel,  Mani  und  seine  Lehre  1862. 

Zu  Seite  301  über  die  Nestorianer  als  Kirchenpartei  S.  den  Artikel 
von  P  et  ermann  in  der  Realencyklopädie. 


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Druckfehler. 

Seite  20  Zeile    7  von  oben  lies:  3  statt  8. 

„     32      „     18  von  unten  lies:  Bedeutung  statt  Beachtung. 
„38       „10  von  oben  lies  nach  Apostel:  ausser  von  Petrus. 
„46       „19  von  unten  lies:  la  Bastie  statt  la  Baslie. 
„     88       „       8     „        „      lies:  Gewässer  statt  Geniessen, 
„  121       „     21     „       „     lies:  den  Gehalt  statt  die  Gestalt. 
„  121       „       1  von  unten  lies  xotvatg  statt  xatuati. 
„  126      „       1     „        „      lies:  Thascius  statt  Therseires. 
„128       „     14  von  unten  lies:  bei  uns  statt  von  uns. 
„151       „     10  von  oben  lies:  sie  allein  statt  die  älteren. 
„  161       „     16     „        „     lies:  jenem  statt  seinem. 
„  229       „     20     „        „     lies:  ein  Vetter  statt  eines  Vetters. 
„  ibid.     „     20     „        „      lies:  Constantius  statt  Constantiii. 
„  277       „       2     „        „     lies:  an  Serapion  statt  gegen  Serapion. 
„  337       „       8     „        „      streiche:  im  Anfang. 
„  375       „       6  von  unten  lies:  Augusti  statt  Augustin. 
„  390       „       4     „       „       lies:  ypa^^ar«  statt  7H)ay^axa. 
Berichtigung.    Seite  46  Zeile  17    von  oben:    Afra   starb   als  Opfer  der  diocletia- 

nischen  Verfolgung. 


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