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ABHANDLUNGEN
EINUNDZWANZIGSTER BAND.
DRUCK VON BBEITKOPF & HÄBTEL IN LEIPZIG.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICH SACHSISCHEN
GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
EINl'.NDZWANZIGSTKK BAND.
MIT SIEBEN TAKELN,
LEIPZIG
B E [ .S. Hl K Z E L.
l8Si.
o.
ABHANDLUNGEN
DER PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KÖNIGLICH SÄCHSISCHEN
GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN,
NEUNTER BAND.
MIT 'sieben tafeln.
BEI S. Hl HZ EL.
1884.
JAN 71889
/,
t.-/
(O^^t'^.'-n, <i'Ci ■^.
y
INHALT.
O. Ribbeck, Kolax. Eine ethologische Studie S. \
W. Röscher, Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien - H 5
G. Ebers, d^r geschnitzte Holzsar^ des Hatbastru im äg^ptologischen
Apparat der Universität zu Leipzig ' •. -201
A. Leskien, der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen - 263
F. Zarncke, Christian Reuter, der Verfasser des Schelmuffsky, sein
Leben und seine Werke - 455
A. Springer, die 'Genesisbilder in der Kunst des frühen Mittelalters
mit besonderer Rücksicht auf den Ashburnham-Penlateuch . . . - 663
KOLAX
EINE ETHOLOGI8CHK STUDIE
VON
OTTO RIBBECK
MITGLIED DER KÖNIOL. SACHS. GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
AbhaadL d. K. S. Getiellsch. d. WiRseiiHch. XXI.
I.
über die GrundbedeutuDg des Wortes x6XaS geben uns die
Alten direct keine brauchbare Auskunft: nur als Scherze, theils be-
wusste, theils unbewusste, können Ableitungen gelten wie die von
x6Xov, xpocpi^*), oder von xoXXäv^). Zwar würde der ersteren von
formaler Seite kein Bedenken enlgegenstehn. Denn jedenfalls wird
doch unser Wort in die Reihe jener theils adjectivisch, theils sub-
stantivisch gebrauchten Bildungen gehören, durch welche der Begriff
eines Staminnomens in manchen Fällen gesteigert, in andern gleich-
sam verkörpert wird : Xi&aS (steinig, Edelstein) von Xiöo^, x(6(ia^ (ausge-
lassen) von xu)|xoi;, ßu)|xaS =: ßü)(ioX6)^o^ und subst. Nebenform von
ßo5(io(;, icXoüta^ (Nabob) von tcXoöto^, axöfjKf a$ (Grossmaul) von ot6jx-
cpo<;, Oüp<paS (Kehrichthaufen) von oüp9o<;, daXdE{ia5 (= daXafitTTf]^,
Ruderer) von ddXajio;, ^opxaS (Lastträger) von ^opxo;; ferner jjlü-
XaS (Mühlstein) von [xüXtj, oxüiiaS (Seiler) von oiütutj, icöpita^ von
TcopTTTj, xaTcd^^aS von xairavY] u. s. w.^). So könnte auch xoXa^ ent-
weder von x6Xo(; (Brocken) oder von xoXov (Darm) abgeleitet werden
und für den xoXaS der Komödie sogar in recht angemessenem Sinne.
Entschiedenen Einspruch aber erhebt das, soweit uns bekannt, älteste
Beispiel des Gebrauchs bei AI km an. In einem Parthenion, wo zwei
Jungfrauen mit einander verglichen werden, heisst es nach neuer-
\) Athenaeus VI p. 262 A i{^u)p.oxoXa( . . . xoptox; 8' b xdXaE dirl tootoo xeT-
xat. X0A.0V ^ap Y) xpocpTj, oDsv xal b ßouxoXo^; xal b öuaxoA.O(; . . . xoiXia xe r,
2) Athenaeus VI p. 258 B 'Av3poxuor^<; 0' b fatpo? lAsye ttjv xoXaxsiav l/siv
TTjV iTTcüvofjLtav 01710 TOü TTpoaxoXXaoJ^at Tai? b[i.tXiat(;. S[aoI 8s 6oxsI oia tt^v so-
jrepsiav, oti iravta uiroöüeTat xtX. Über den Gebrauch von xoXXav in den Schriften
irspl oikia<;G. Heylbut de Theophrasti libris irspl cpiXta^ (Bonn 1876) S. 21 A. I.
3) Bei Lobeck Pathol. prol. 447 Paralip. 125 — 141. 275 ff., der aber xoXaS
in seine Samrohing nicht mitaufgenommen hat: vgl.* Pathol. prol. .317 f. 447
A. 20.
1»
4 Ribbeck, *
dings festgestellter Lesung^): 'AYTTjot^opa (xsv auia' | a 8e Seüxlpa
7te8 AyiSwv tö ei8o(; | TTCTroc etßi^voj x6Xa$ de^ 8pa|xe(Tat xxX.,
die zweite wird der anderen unmiltelbar auf der Ferse folgen, wie
das Pferd dem Lakonischen Jagdhunde, als xoXaS, d. h. natürlich
weder als Schmeichler noch als Schmarotzer, sondern nach einzig
möglicher Auffassung als untrennbarer, treuer Begleiter. So
werden wir auf Bildungen wie ßoi)x6Xo(;, deoxiXo; (= iepsta: Hesy-
chius) , das elische OeyjxoXo^^j geführt, womit schon Lobeck^) die
atYtxopst; zusammengestellt hat. Dass dem Stamme xoX*) der Begrit!*
der Bewegung eigen ist, bezeugen die Glossen xoXeiv eXdeiv;
xoXsa • icoid Ti^ opy^r^(3l(^ ; xoXtdoat • ipyjioaobai ; xoXaßptCeiv • axtpxäv ;
xoX£Tp(3ai • xaxaTcaToijatv ; xoXü<pp6v • dXacppov ; xoX6xü|jLa * tö xoXoßiv xujxa
il xh xüXiov xai lirt^spov (schol. Aristoph. eq. 692) u. s. w. Auch
der Vogel xoXoio«; mag von seiner Beweglichkeit den Namen tragen,
und xoXü)6i; = öopüßo^, dxa^ia^ '^^9^X'^ zunächst das wirre Durch-
einander von Menschen und Stimmen bedeuten. So wird eSxoXo; und
oüaxoXo; ursprünglich den leichtbeweglichen und den schwerfälligen
ausgedrückt haben. Wenn abei- ßoüx6Xo; der begleitende Hüter seiner
Rinder, der öeoxoXo; der dienende Geföhrte und Pfleger des Gottes ist
{dei cullor^ deicola)^ so muss xoXa$ den Begleiter [adsecula] in emi-
nentem Sinne bedeuten. Diese Auffassung wird vollkommen be-
\) Fr. 83 V. 59 (poel. lyr. Gr. reo. Bergk^ vol. III p. 44). Im Papyrus steht
von erster Hand nach letzter Lesung vonBlass: ITTTTOCCIBHNUUlKOAAZAi-
€CAPAM6ITAI. »Das I nach SA ist durch einen dicken Quersirich getilgt;
ob dann weiter C oder O folgt, ist nicht zu erkennen.« Blass schlug vor (vgl.
Hermes XIII 28) : xoXaS as? oder x. oto?. Ich ziehe das erstere vor. Bergk
schreibt in der letzten Ausgabe xoXa^aTo; und versteht ein Pferd des Skythen-
königs Kolaxais (Herodot lY 5. 7) , welches berühmt gewesen sei durch seine
Schnelligkeit. Aber weder hiervon noch überhaupt von dem Marstall jenes Königs
ist etwas bezeugt. Der £inwand »poterat canis equi minister, non equus canis
comes dici« ist hinfällig, wenn man sich veranschaulicht, wie der spürende Jagd-
hund dem Pferd voranlUuft.
2) Pausanias V 15, 10 Lucian Alex. 41. Inscr. Graecae antiquiss. n. 4 09 Z. 6:
opTip Toxa i>soxoX[ioi. Pausanias Y 15, 7: Ion 6s Trpo tou xaXoufjivou der^xoXscovoc
oixTj|ia.
3) Phryn. p. 652.
4) Curtius Etym. 470 nimmt eine alte Wurzel xav an (sich regen, gehen, ver-
kehren), von der sowohl xoX (in ßouxoXo? u. s. w. und colere) als iroX (in a{-
ircXo; Oer^TToXelv u. s. w.) abstammen.
KOLAX. 5
stätigt, wenn wir in dem Bruchstück aus einer Elegie^) des Asios
von Samos, eines gleichfalls sehr alten^) Dichters, folgende Schil*
derung eines ungeladenen Gastes lesen, der zu einer Hochzeit
kommt :
/(üXic, oTtYp-attY];, TToXüYi^paoc;, Tao^ ^^'Tl
-^XOev xviooxoXaS, euie MsXtj^ s-y^fisi,
' axXvjToi;, Cw>(jloG^) xe5^pTf][JLSvo(;, ev os (xeootoiv
vjpio^ etarf^xet ßop|36poü e$ava8ü(;.
Die satirischen Verse sind von Welcker*) schön erklärt worden.
Der Dichter spottet der allen Zunft der Rhapsoden, der Tafel-
sänger, als deren Heros Eponymos die derb populäre Legende den
KpccocpiXo; (Bralcnfreund) , später in Kpe(6cpuXo<; umgebildet, feierte.
Ein Genosse derselben, der dem Bratenduft nachgehende, erscheint
nun bei der Hochzeit des Smyrnäischen Flussgottes, aus dessen Ehe
mit der Nymphe der göttliche Homeros entspriessen sollte. In ver-
ächtlicher Bettlergestalt, hinkend, gebrandmarkt wie ein Sciave, und
hochbetagt lässt der spöttische Dichter den ungeladenen Gast unter
die erlauchte Versammlung treten, ein Vorbild in manchen Zügen
des hungrigen, demütigen Schmarotzers späterer Zeit.
Grade im Osten, auf den Inseln und dem kleinasiatischen Fest-
lande, scheint der Ausdruck x6Xa^ zunächst heimisch gewesen und
als Titel für eine besondere Classe von Hofbeamten, die zum
Gefolge des Fürsten gehörten, verwendet zu sein. Über diesen
Stand hat Klearchos von Soloi, der Schüler d >s Aristoteles,
der in seiner Schrift Gergithios Geschichte und Spielarten der
x^Xaxec darstellte, wichtige Mittheilungen gemacht, die wir in dem
grossen Bruchstück bei Athenaeus^) lesen. Namentlich gab es auf
Kypros ein Geschlecht altadliger xoXaxsc, die im vertrautesten
Dienst des jedesmaligen Herrschers geradezu eine erbliche Stellung
1} Bei Athenaeus UI p. 125 0.
2} Jünger immerhin iilsKulÜnos undArclniocbos, die ültestcn elegischen Dichler:
Markscheflfel ilesiodi . . . fragmenta p. <260.
3) ^oi[j.oi) ?
4) Epischer Cyclus P 135 f.: vgl. Griech. Gölterlehre III 47.
5) VI 67 p. 255 C: KXiapj^o? o' o iloXsü? äv T(p e7ciYpacpo[xiv(|> rspYii)tt|>
xai TToDsv 7) OLp'/Ji *^^ ovofAaxo; taiv xoXofxcov TcaprjX&e 8irjsTTai xtX.
6 Ribbeck,
einnahmen^), so geheim, dass mao weder ihre Zahl noch ausser
von den hervorragendsten ihre Gesichter kannte. Ihr Stammsitz war
Salamis. Dort theiiten sie sich in zwei auch verwandtschafllich ge-
trennte Gruppen, jede mit besonderer Function: man könnte nach
orientalischem Sprachgebrauch sagen, die einen dienten als Augen
(6'{^daX|io() , die anderen als Ohren (toxa) des Königs^). Diese (ysp-
^tvot genannt^) mischen sich als Spione unter die Bürger in den
Werkstätten und auf den Märkten, erlauschen deren Reden, und
hinterbringen was sie gehört haben jeden Tag den sogenannten
avaxxec, den königlichen Prinzen^). Die anderen {Tzpo\Laka^iz^) unter-
suchten dann weiter was genauerer Nachforschung werth schien.
Als eine Art Kammerherren fungirten die drei xoXaxe;, welche
nach Klearchs Bericht jener junge König auf Kypros, ein Paphier von
Herkunft, um sich hatte. Einer sass am Fussende des silbernen
Bettes und hielt die Füsse des Jünglings in dünne Schleier gewickelt
auf seinen Knieen; der andere sass auf einem Sessel daneben, hielt
die herabhängende Hand desselben, kühlte sie, zog und streckte
jeden Finger; der dritte und vornehmste stand zu Häupten, auf die
Kissen niedergebeugt, und ordnete mit der linken die Frisur des
hohen Herrn, während er mit einem Fächer in der rechten ihm Luft
zuwehte. Da kam eine Fliege und biss den König: der xoXa;, der
nicht wagte sie mit dem Fächer zu verscheuchen, schrie laut auf
und verjagte dadurch nicht nur die eine, sondern alle übrigen Fliegen,
die im Gemach waren ^}. Einer der xoXaxe^ hat die Pflicht, dem
König auf der Strasse zu folgen, und es ist wunderlich anzusehen
wie er Haltung und Geberde desselben, auch den Wurf des Gewan-
des nachahmt^). Auch xoXaxtoe^ hat es vor Zeiten auf Kypros
i) Athenaeus a. 0. p. 255 F: TrapaosSs-'F"^^^^ ^' *^^'^ iravTs; oi xara ttv
KüTTpov jiovap/oi To Tttiv Sü^evcov xoAaxcov ^svo? ci>; yprjaijiov. ^avu j^p to xTTj^a
Tupavvixov eoTi.
2) Vgl. Xenophon Kyrop. VIII 2, 10 f.
3] Vgl. Hesychius: -^zp-ftvo!;' oia^oXo;. Cber die Stadt FipYtva. FspY'-c,
Fsp^iba in der Troas : Athenaeus VI 68 p. i56B Sirabo XIII p. 589 Siephaniis
Bvz. s. V.
«
4) Vgl. Aristoteles Kuirpicov iroXiTSta fr. 141 Rose) bei Harpokration s. v.
avaxxe?.
5; Klearch bei Athenaeus VI p. 255 E. 256 F.
6) Ebenda p. 258 A.
KOLAX. 7
gegeben, die den Prinzessinnen (avaaaai) so zu sagen als Hofdamen
untergeben waren*). Von da auf das Festland verpflanzt an. die
Höfe des Artabazos und seines Schwagers Mentor^) , sowie nach
Syrien, dienten sie den Frauen der Fürsten mit ihren Rücken als
Stufen einer Leiter, um den Wagen zu besteigen, daher xXijiaxi-
06<; genannt^). Zu noch schmählicheren Dingen wurden jene xoXa-
xiSsc von den Fürstinnen in Makedonien verwendet^). Von Kypros
ist nach Klearchs Ansicht der Samen der x6Xax£(; weiter in die Welt
verbreitet*), nur dass sie hier und da mit synonymen Wörtern be-
nannt werden: cpCXoi, exaipot, oüvil]dei(;, oü(xß{u)Toi, lauter
Namen, welche die oben aufgestellte Grundbedeutung bestätigen.
Bis in die homerische Zeit verfolgte Demetrios von Skepsis (im
Tpcoixoc 8tdxoo[io(; ?) die Spuren dieses Verhältnisses: so erkennt er
in dem Troer Podes, der (P 575) als cptXoc eiXaTcivaon^i; und stai-
pot; des Hektor gerühmt wird, den xoXaS, und findet es entsprechend,
dass jener von Menelaos grade am Bauch verwundet wird^). Wie
bei den Parthern die Stellung eines solchen Gesellschafters um die
Mitte des zweiten Jahrh. v. Chr. aufgefasst wurde, erzählte Posei-
don ios von Apamea im 5. Buch seiner biop(ai. Der sogenannte
cpiXoc habe keinen Platz am königlichen Tische, sondern sitze auf
der Erde zu Füssen des Königs, der auf hohem Polster liege. Er
esse wie ein Hund was ihm vom Herrn zugeworfen werde. Oft
werde er aus irgend einer zufälligen Ursache vom Mahl weggerissen
und gepeitscht: blutrünstig falle er dann vor seinem Züchtiger auf
den Boden und beweise ihm seine Verehrung'). Derselbe Schrift-
i) Alhenaeus VI p. 256 C.
2) Ebenda 69 p. 256 G.
3j Plutarch über den Unterschied zwischen Schmeichler und Freund p. 50 c
(H6 H.), Yalerius Maximus IX \, 1, offenbar nach Klearchos. Ihre Golleginnen
auf Samos, welche gleichfalls ihren vornehmen Herrinnen beim Besteigen des
Wagens nur in weniger sclavischer Weise behülflich zu sein hatten, hiessen iiro)-
oocpov (Hesycbius) . Die Worte sind schon von Casaubonus richtig erklärt, weniger
von Meineke bei M. Schmidt.
4] Atbenaeus VI p. 256 E.
5] Ebenda p. 256 B.
6] Ebenda p. 236 D; s. Gaede: Demetrii Scepsii quae supersunt fr. 74.
7) Athenaeus IV p. 4 52 F (fr. bist. Gr. III p. 254 fr. 8 M.).
8 RlBDECK,
Steller bezeichnet als Parasiten der Kelten ihre Barden, welche als au|A-
ßiü>Tai das Heer im Kriege begleiteten und selbstgedichtete Lobgesänge
vor ganzen Versammlungen wie vor Einzelnen mit Gesang vortrugen^).
Aus diesen Andeutungen ergiebt und erklärt sich, wie von Alters
her und im eigentlichen Sinne dieser Stand als ein offiziell anerkannter
vorzugsweise an Furstenhöfen seinen Platz hatte in mannigfachen
Functionen von Kammerdienern, Spionen, Vertrauten, Gesellschaftern:
daher auch im bürgerlichen Leben regelmässig der x6Xa8 seinem
Gönner die Namen ßaotXeü^, rex beilegt und in höfischer Unter-
würfigkeit vor ihm kriecht. Auch Spassmacher, fahrende Sänger und
Dichter, Künstler, Philosophen, Gelehrte aller Art, sowie Beamte und
Feldherrn, sofern sie zum Gefolge eines Königs gehören, fallen unter
den Begrifi* der x6Xa/e;, wie denn z. B. bei Lucian^) Aristoteles als
der geriebenste dieser Classe bezeichnet wird.
II.
Lange Zeil ist der Ausdruck x6XaS mit seinen Ableitungen der
Litteratursprache fast fremd geblieben: Homer, Hesiod, Theognis,
Pindar, Aeschylus, Sophokles, Herodot, Thukydides, Lysias gebrauchen
ihn nicht. Archilochos umschreibt entrüstet das Gebahren eines
Schmarotzers (Perikles) in leider lückenhaft und unsicher überliefer-
ten Versen, ohne dass wir erfahren, mit welchem Namen er Leute
solches Gelichters bezeichnet hat : . . . icoXXov 8s Tctvcov xal jjaXfxpYjtov
[jLS&ü I OUTE tiixov efoeve^xcov | olBs |x-J)v xXyjösU ioi^Xöec oTa 8t^ \
cp(Xci>v cp(Xo^' I aXXd o if] i[a(ydip v6ov xe xal cppsva^ icapi^if^if^^ | et<;
dvai8s(Y]v STcetoirsicatxa^ Muxovtiov Bixtjv^). Dass die bettelhaften In-
sassen der kärglichen Kykladeninsel Mykonos für die Bewohner
des ägäischen Meeres früh den Typus eines Tellerleckers hergaben*),
darf man aus dem Bruchstück mit Sicherheit schliessen : auch Kra-
1) Poseidonios im 23. Buch seiner ioToptai bei Athenneus VI p. 246 D (fr.
bist. Gr. III p. 259 fr. 23 M.). Vgl. IV 37. Joubainville introd. k Tetude de la
litlerature Celtique p. 52 f.
2) Todtengespräche 13, 5: airavToiv ixsTvo; xoAaxwv dTrtTptirroTaTo? äv. Vgl.
IT. icapao^Tou 36.
3] So habe ich grossentheiis mit Hülfe von Meineke Athen, vol. IV p. 5 und
Bergk zu Archil. fr. 78, die Worte aus dem Excerpt bei Athenaeus l c. \i her-
zustellen versucht.
4] Zenobius V 24 mit der Anm. der Herausgeber.
KOLAX. 9
tinos macht schon Gebrauch von dem sprüchwörtlichen Begriff des
Mykoniers als eines armen Schluckers*). In Athen scheint der
Name x6XaE nicht lange vor der Zeil des Aristophanes eingeführt
zu sein, und von Anfang an hatte er eine gemeine Färbung, so dass
er vom höheren Stil in Poesie und Prosa so gut wie ausgeschlossen
war. Nun aber gab das aufblühende Leben in der führenden Bun-
desstadt, der gesteigerte Fremdenverkehr, die Ansiedelung begüterter
und geistig angeregter Männer, das Auftreten der Sophisten, dazu
der wachsende Wohlstand und das intensivere Behagen an Unter-
haltung und Genuss der Geselligkeit einen gewaltigen Impuls. Mit
glänzendem Beispiel ging Kimon voraus, der TroXü^evcüTaioi; 2), dessen
Haus ein gemeinsames icpuTaveibv für seine Mitbürger war^), indem
er täglich offene Tafel für seine Demosgenossen hielt^).
Auf persönliche Anregung des Perikles geschah es, dass der
Syrakusaner Kephalos seinen Wohnsitz nach Athen verlegte, wo sein
Haus der Mittelpunkt einer geistigen Elite wurde. Bis zum Über-
maass aber trieb diese Gastlichkeit der reiche Kallias, der seines
sparsamen Vaters Erbschaft im Jahr 427 antrat. Während die Ein-
leitung des Platonischen Protagoras, dessen Scenerie in der ersten
Jugendzeit des Alkibiades, etwa ein Jahr vor Ausbruch des pelo-
ponnesischen Krieges gedacht ist, mit leiser Ironie schildert, wie
sich der Schwärm der Sophisten mit dem Gefolge andächtiger Nach-
treter bei ihm wie in einer Herberge häuslich eingerichtet hat,
geisselt Eupolis in seinen R6Xaxe^ die Verschwendung des Haus-
herrn und die niedrige Gesinnung seiner schmarotzenden Gäste.
Darin war die durchschlagende Wirkung dieser Ol. 89,3 = 422 auf-
geführten Komödie begründet, dass den Athenern hier zum ersten-
mal in scharfer und drastischer Ausprägung ein Typus vorgeführt
wurde, der von aussen imporlirt eben im besten Zuge war epide-
misch zu werden.
In Athen nämlich und seiner Komödie begegnet uns der Aus-
4) ine. fab. 388 K.
%) Kratinos io den ^Apyikoyoi fr. i K. Theophrast in seiner Schrift über den
Reichthum haUe die Gastfreundschaft des Kimon als Muster hervorgehoben : Cicero
de ofif. II \S, 64.
3) Plutarch Kimon 10.
4) Aristoteles bei Plularch Kim. \0 (Val. Rose Aristoteles Pseudepigr. fr. 356).
1 0 Ribbeck,
druck xoXa^ erst in den unmittelbar vorausgehenden Jahren*). In den
Acharnern^) des Aristophanes fehlt er noch; einmal in den Rittern
heisst es von Kleon; xöv oeotottjv | igxaXX' , eöwiceü' , exoXdxeu',
eSTjudia (V. 48). Dem Demos gegenüber wird ihm eine ähnliche
Stellung zugeschrieben wie jenen kyprischen und asiatischen Hof-
schranzen, an deren Functionen es auch erinnert, wenn V. 60 von
ihm berichtet vvird^), wenn der Herr speise, stehe er bei ihm und
verscheuche mit seiner Gerbehaut die Redner, wie jene mit dem
Wedel die Fliegen, was denn auch in den Wespen*) geradezu ge-
sagt ist. Übrigens geben er wie sein Nebenbuhler, der Wursthänd-
ler, sich für Liebhaber (epaoTVj^ 1341) des Demos aus, und die Züge
des dXaCcüv überwiegen in ihrer Charakteristik^). Es war ein beissen-
der Vergleich, wer ihn auch zuerst angewandt haben mag, wenn der
leitende attische Staatsmann durch die Bezeichnung xoXa^ zum Kammer-
herrn eines Tyrannen Demos '^), und seine Nachtreter hinwiederum zu
4) Wenn der Scholiast zu den Wolken 687 und den Wespen 74 angiebt,
Kratinos habe in den Seriphiern [fr. 212 K.j den Amynias als aXaCova
xal xoAaxa xat auxocpavrrjV dargestellt, so ist damit der Ausdruck xoXa^ noch nicht
verbürgt. Wer den Hierokleides (oder Hierokles) , welchen Hermippos in den Kep-
xcDTCsc fr. 38 K. und Phrynichos in den Ka)|iaoTai fr. M K. hzi irovTjpfcf ver-
spottet haben sollen, KoA.axocp(opoxX8t6r|^ genannt habe, sagt uns Hesychius
nicht : gewiss weder Phrynichos noch Hermippos, eher Aristophanes oder Eupolis.
2) V. 634 ff., wo von den Schmeicheleien die Rede ist, womit fremde Ge-
sandte die Athener berücken, werden die Verba l^airaTav und Ütüireüstv gebraucht.
3) ßüpofvr^v sx^v I 0£i7n^ouvTo; iatoK aTroaoßei toü? [^r^Topa?. Vgl. schol.:
eBsi Y«p efirsTv fiopoCvr^v . . . xatt; -yap fxopotvai? aTToooßoooi xa? [xuia^ ' b 8s tou?
pKjTopa? stTre.
4) V. 596 : cpoXarcsi 8ia j^etpo? ßX^^ ^^^^ '^^^ [loia; aicafiovei. Zu der-
gleichen Dienstleistungen des xoXaS wird auch gehören, wozu sich Kleon weiter-
hin in den Rittern 910 erbietet: aTTOfJLO^afxsvo;^ w Af^}ji^ [xou irpo? tTjV xscpaXYjv
aTTO^O).
5) Alazon S. 6.
6) Aristoteles in der Politilc p. 1292 fasst dieses Verhältniss mit voller Schärfe
auf: iv fxsv '^ap xal*; xaxa v6[jlov Sr^fioxpaToufiivai^ (iroXeotv) ou "^IveTai Sr^fia-
•ycüYo?, akV ol ßiXTiaTot twv ttoXitcüv eiotv Iv TTpoeoptcf ottou 8* oi vojxoi |ir^
eioi xüptoi, dvTaüi>a '^i'^oy'zai or^\ia^w^ol. [xovapxog -^ap b 8Yi|jL0^
yivexa i . . . b 8' ouv toioüto? of^fio?, Sts jiovapxo? äv, C^ixel [lovap/eiv 8ia to fxiQ
apxeoDai utto vofxoo, xatYivsTat 8207:0x1x0?, Äaxs ol xdXaxs(; 8vxi|j.of
xat saxiv b xotoSxo; oyj|io? avaXoYov xwv [lovapxiwv xf^ xüpavv(8i. 8tb xal xb r^Oo?
xb auxo xal b or^fxaYtoYo? xalbxoXaE ol aoxol xal avaXoYov
xal jAaXioxa 8' sxotxepoi irap' exaxipoi? Joxoooaiv, 01 [jlsv xoXaxec irapa xo-
KOLAX. 1 1
Kammerdienern gleichsam in zweiter Potenz gemacht wurden'). Zu den
letzteren gehörte jener Theoros, der schon in den Acharnern (134 ff.)
als Gesandter des Staates auftritt, von Dikaiopolis als o^XaCci^v^) und
Diätenschlucker beargwöhnt, schärfer und bittrer aber in den Wespen
zur Zielscheibe des Spottes gemacht wird: & uoXk; xai Hscöpou
deoios^^pta I xst tk; ak\o<; TcposoxTjxev Tf](jLc3v xoXa^, ruft der Chor
V. 418 in seiner Bedrängniss aus. Er putzt uns (den Heliasten,
d. h. dem Demos) die Schuhe, rühmt Philokleon^). Das Skolion,
mit welchem ihn dieser bedenkt (1241), lässt vermuthen, dass er
ein Apostat der conservativen Partei war, daher ihn auch Sokrates
in den Wolken (400) unter die meineidigen (sitfopxoi) zahlt. So
lagert er nun unter den Zechgenossen (aufiicoiat) des Kleon (1220);
Sosias aber sieht ihn nahe bei dem Wallfisch, von dem er träumt,
sitzen und zwar auf dem Boden [x'^i'-al 43), wie sich's für den xoXaS
gebührt, und Alkibiades giebt ihm seinen richtigen Namen: HsüdXo;,
T>]v xscpaXijv x6Xaxo(; s^**^^ (^^)-
Von den Demagogen und Volksrednern wird der spöttische Titel
zunächst auf die Lehrer der Beredsamkeit, also der xoXaxeia, und
überhaupt auf die Sophisten übergegangen sein. Ein Chor solcher
Denker (cppoviiaxai) trat im Konnos des Ameipsias auf (Ol. 89, 1,
zugleich mit den Wolken). Wenn von Sokrates, als er sich diesem
Chor nähert^ gerühmt wird; outo^ jisviot Ttetvaiv oöico^ oüirc&TuoT etXY]
xoXaxsuaai, so ist damit gemeint, dass er den einträglichen Betrieb
jener höfischen Kunst, der Rhetorik, verschmäht, zugleich aber wohl
auch, dass er nicht wie andere Gelehrte, Künstler u. s. w. sich dem
Gefolge eines hohen Gönners angeschlossen und bei ihm Versorgung
gesucht hat. Wahrscheinlich hat er selbst das Treiben und ganze
Gebahren wie alle Leistungen eines Gorgias und Protagoras durch
pavvot?, Ol 5s Sr^fiaYcoYot irapa xou or^jAOi? toIi; toioütoi?. Vgl. p. <3<4a. Ent-
sprechend werden in Platon's erstem Alkibiades p. 120 b Staatsmänner geschildert,
die STi ßapßapiCovTsc iXrjXüUaat xoXaxeuaovTs«; tt^v ttoAiv, aAA' oux äp-
Eovte?.
\) Aristophanes Wespen 683 : oii yap [is^aXT^ SouXeta 'oTiv toutoü? \ikv Sirav-
la^ Iv apj^al? | auToo? t' elvai xat too? xoXaxa^ toü; toutcdv [iiaöocpo-
pouvTa«;; 4 033: ^xaxov 84 xuxX(p '^XwT'zai xoXoExcov o^^jLcoSojxivcov dXijf [jlu>vto
Tcepl tr^v xscpaXTjv (des Kleon).
%) Alazon S. 7.
3) V. 600 : Tov oiroY^ov ej^tov ix ttj? Xexavr^? TajjLßaSt' r^iiwi^ irepixcoveT.
1 i Ribbeck,
die noch frische Metapher, xoXaxeta, charakterisirt, wie er es nach-
her in den Platonischen Dialogen thut, zunächst im Gorgias
p. 463 ff., wo die Rhetorik und Sophislik als Theile unter den wei-
teren Begriff der xoXaxefa gestellt werden. Mit grösserer Erregung
aber und allgemeiner spricht derselbe im Phaidros p. 240 b von
dem x6Xa$ als einer schlimmen Bestie und grossen Plage, der frei-
lich dennoch die Natur einen gewissen Reiz verliehen habe^). Wen
Dittenbergers lexicalische Darlegungen 2) überzeugt haben, dass dieser
Dialog bald nach Piatons erstem Sicilischen Aufenthalt (Ol. 98,2 =
387) geschrieben ist, der wird vermuthen, dass gerade die bilteren
«
Erfahrungen, welche der Verfasser so eben am Hof des Dionysios
gemacht hatte, und die unmittelbare Anschauung der berüchtigten
AtovoaoxoXaxec ihm jene Worte eingegeben haben, die Athenaeus
oder dessen Quelle für bezeichnend genug hielt, um sie besonders
anzuführen.
Aber 9 — 10 Olympiaden früher, wie gesagt, hatte bereits Eu-
polis einen ganzen Chor solcher dsiva dr^p(a in seiner Komödie auf-
treten lassen, indem er nicht nur den Sophistenschwarm , der bei
Kallias einzukehren pflegte, nebst dem zahlreichen Anhang andächtig
nachtrelender Hörer, sondern auch das übrige profane Gesindel,
welches die Gastlichkeit des verschwenderischen Hausherrn mis-
brauchte, unter dem Namen von Hofschranzen zusammenfasste und
mit gemeinsamen Zügen ausstattete. Nun aber drängt sich die Frage
auf, in welcher Maske dieser Chor möge aufgetreten sein, da der
Chor der allattischen Komödie doch eine burleske, phantastische Er-
scheinung voraussetzen Idsst. Auf dergleichen scheint auch Lukian
anzuspielen, wenn er im Nigrinos 24, 64 f., nachdem er das würdelose
Betragen der Schmarotzer geschildert hat, hinzufügt: »)das schlimmste
ist, dass viele von solchen, die sich für Philosophen ausgeben,
sich noch viel lacherlicher betragen. Wie glaubst du, dass mir zu
Muthe ist, wenn ich einen von diesen, besonders von den bejahr-
teren sehe, wie er sich unter den Haufen der xöXaxec mischt und
sich einem der Angesehenen als Trabant anschliesst (Bopucpopoövia)
\] eoTi jjiv ÖTj xal aUa xaxa, aUa ti; sjiiEs oatjiwv xolt; uXetoroi? iv T<p
irapau-txa 7)oovv • oiov xoAaxt, osivtj) J>r^picp xal pXaßTQ j^lfaXiQ, oficoc eirejAigev
T| cpooi? fjOovTjV Ttva oüx afJLOuaov.
t) Hermes XVI 32« ff.
KOLAX. 1 3
und sich mit Leuten unterhält, die zu Tisch bitten, da er ja schon
durch seine Erscheinung mehr als die anderen auffällt. Am meisten
ärgere ich mich, dass sie nicht auch die Maske der x6Xaxec anlegen*),
da sie ja doch in allem übrigen dieselbe Rolle spielen wie im Drama
(xd oXXa Y^ 6[jio(ü}<; Ö7coxptv6|X£voi toG SpdfiaTo^).« Es ist hier nicht
von der Gesichtsmaske (irpoocüicov) des xoXaS und Tcapdoixoi; die Rede,
wie sie Pollux IV 4 48 beschreibt, denn ihre Physiognomie konnten
jene schmarotzenden Philosophen doch beim besten Willen nicht
ändern, sondern von dem gesammten An- und Aufzug, der Theater-
Garderobe, von welcher der genannte Compilator an einer anderen
Stelle (IV 115 ff.) nur zu kurz handelt 2). Wenn dort dem Parasiten
ein schwarzes oder graues Gewand (119) und als Zubehör einige
Requisite der Palästra (Schabeisen und Ölflasche 120) jugetheilt
werden, so sind auch diese Garderobestückc wenig geeignet, den
niedrigen Charakter des x6Xa^ sofort ins Licht zu setzen und
schwerlich wird Lukian gerade an sie gedacht haben. Nun wissen
wir, dass Eupolis seinen Chor xotXio8at(jLova; (fr. 172K.), Bauchdä-
monen, und xa^Yjvoxviaodi^pa; (fr. 173), Bratpfannenduftjäger nannte.
Ferner wird in einem Bruchstück (156K.) die phantastische Gestalt
des Kekrops beispielsweise vermuthlich zur Erklärung und Recht-
fertigung einer analogen Bildung angeführt:
xal xiv KsxpoTca xdvcüdsv dv8p6^ <paa Ij^eiv
[xsj^pi xÄv xoj^tüvfiv, xd 8s xdxcüOev duvv(8o<;.
Ich vermuthe, dass hiermit eben die Gestalt der xoXaxe; in dem Eu-
polideischen Chor verglichen war, dass dieselbe von der Bauchgegend
an etwa in einen gewaltigen Darm (xoXov) endigte, eine Bildung,
welche durch die Ähnlichkeit mit derjenigen der Giganten doppelt
wirken musste^). Die Erfindung wäre noch lange nicht so barock wie
das Räthselbild aus einer unbekannten Komödie, welches die Parasiten
zeichnet (anon. com. 497 M.):
YaarJjp 5Xov xb au)(Jia, icavxaj^-^ ßXsiriüv
6cpOaX[j.6<;, Spirov xoii; 680G01 Ö7]p(ov*).
4) TT|V axeuYjv xwv xoXaxcov jxeiaXajA^avooai mit Früzsche.
t) xai 0X8 or^ |iev y; täv uTroxpixtov otoXt] xxX.
3) Die Parasiten heissen öfters •y^iYSVSK.
4) Plutarcb, vom Unterschied zwischen xoXa^ und cp(Xo(; p. 54 b : ouxw^; airsi-
1 4 Ribbeck,
Unter den namhaften Genossen der Zunft, welche in dem Eupoli-
deischen Drama vorkamen, waren denn auch ausser Protagoras, der
dXaCoveüeiat icepl t&v [iexecopcDV, xd he j^afiaOev eadtet (fr. 146K.),
der berüchtigte 6^ocpdYO(; Melanthios (fr. 164)^), und Hungerleider
wie der Sokratiker Chairephon (165), der Kleiderdieb Orestes, Marp-
sias (166) und Kleokritos (167). Ihre Methode und ihre Grundsätze
offenbart der Chor der Schmarotzer im Epirrhema der Parabase^).
Sie stellen sich vor als durchweg feine Herren. Ein gemietheter
Diener begleitet den xoXaS; zwei Röcke hat letzterer im ganzen,
mit denen er wechselt, wenn er auf den Markt ausrückt. Sieht er
da einen reichen Tropf (TrXoüiaS), so macht er sich sofort an ihn,
lobt jedes Wort, welches dieser sagt (vgl. fr. 178), scheint ausser
sich vor Vergnügen über das Gespräch, und erzielt so eine Ein-
ladung zum Essen. Bei Tisch muss er dann freilich viel geist-
reiche Witze machen und dabei seine Zunge hüten, wenn er nicht
riskiren will unsanft vor die Thür gesetzt zu werden. Nicht Feuer
noch Eisen oder Erz hält die x6Xax£<; ab, zum Schmause zu eilen
(fr. 162). Den Kallias preisen sie in dem Liede fr. 163:
poc TjV xoXaxo? 0 vo[xtC«>v xd fafi-ßela taüil tco xapxfvcp iidXAov ri tw xoXaxt Tupoa-
T^xetv ^aorr^^ . . . Ö7]ptov. irapaotToi) ydp b toiouto; e^xovLajio«; iaxi xtX.
i) Klearchos bei Athenaeus I p. 6 c; AUien. VIIF p. 3 43 c; schol. zu Ari-
sloph. Frieden 803, Vögel 4 5^
2) Bei Alhenaeus VI 236 E (fr. 159 K.) :
(iXXa oiaiTav tjv e^oua' ot xoXaxs^ irpo? i)p.a<;
Xi5o|x£V aXX' axoüoai>' o>; safxev SiravTa xofi'J^ot
avöps^ * oToioi irpcoTa jjlsv Trat^ ax6Xoi)i>o^ eattv
aXXoTpioc Toi TToXAa, [xixpov öi ti xajxov autoü.
5 ip-aito) oi [AOL Su' laxov j^apisvTS tootw,
otv ji^xaXafißavcov ae\ Oaxspov iSs^auvto
&U »Yopav. IxsT 8' eireiSav xax{8ü) xiv' avSpa
T^XtOtov, irXooxouvxa o', £üI)ü? irspi xoiixov si\i.i.
xav XI xoj^'jQ Xe^cov b irXoüxaS, iravo xoüx' liraivc«,
10 xat xaxaTrXrjxxojAai ooxcov xolot Xo^oiot yaipstv.
£tx' sttI osTttvov lpj^opL£oÖ' aXXüOi? aXXo? r^jitov
fjLOÜiav Itc' dXXocpuXov, ou öel ^(aptsvxa iroXXa
xov xoXax' £u&£«)<; Xi^fitv, 73 'x(pip£xai i)upaC£.
oioa 8' 'Axiaxop' atixb xov oxiYfxaxfav TraUovxa *
15 axtt>{x{xa ^ap sItz^ aoeh^if;, £tx' auxov b iral? {>opaC£
i^aYCtYCMv iyovTOi xXotbv ':Tapiou)X£v OfvfiT.
KOLAX. 1 5
xaXXaßtöa^ H ßaCvet,
[i^Xa 8e 5^p6jjnrceTat.
Der verschwenderische Hausherr beschenkt sie dafür mit Bechern, He-
tären und anderen Kostbarkeiten^), und daneben stehlen sie auch noch
Servietten (168). Diese Verbindung von zudringlicher, ironischer
Schmeichelei, Gefrässigkeit, Spitzbüberei, Witz und Possenhaftigkeit ist
typisch für den Charakter geblieben : OcäcJ;, ö^ocpa^oc oder YQtaipfjxap-
Yo<;, und 7eXü>Toicoi6(; sind zu einem schönen Dreiklang verschmolzen.
Ungeladen zu Festen und Schmausen zu kommen ist ja ein altes
Vorrecht des berufsmässigen Lustigmachers: er gilt ähnlich wie
die fahrenden Spielleute des Mittelalters als unentbehrliches, selbst-
verständliches Element bei solchen Gelegenheiten. Wer nun bei
Opferfesten an den Altären herumlungerte, um dann beim Schmause
als Possenreisser seine Rolle zu spielen und ein Stück vom Braten
zu erhaschen, hiess ß(o 1x0X65^0«;^). Vom Y^^^'^o^oi'i^^ giebt das
Xenophon tische Symposion'*) eine deutliche Anschauung, ob-
wohl seine Glanzzeit, wie seine Klagen beweisen, vorüber ist: 8et-
I) Maximus Tyrius 20, 7 und Eupolis fr. 4 55 (vgl. 4 64) K.
t) Harpokration : ßü)|xoXo)^su8o{>at * xuptu)^ iki-^ovxo ß(u{j.oXo^oi 01 iicl
Tttiv Ouoicuv uTTo TOü^ ßwjxoüc xaÖtCovTsc xat p-stÄ xoXaxstag TrpoaaiTouv-
Ts^ (also Bettler, die am Fusse der Altäre hocken, um vom Opfer etwas ab-
zukriegen) . Sil 6s xal oi TtapaXafißavofJLSvot Tal? Ouatai? aüXr^rat xs xal [xavreK;.
(Vgl. etym. m. '247, 55. schol. Plat. p. 424 B.) Bei Pherekrates in der Tu-
pavvi^ fr. 4 44 K. rühmt ein Gott die weise Einrichtung, welche den Olympiern
den fetten Duft von Altären zuträgt:
xäicetft' ?va [xiq icpo^ xoTai ßu)(j.oT(; Tcavia/ou
eiel koyjm'ze^ ßoijioXojfoi xaA.<i)(jL£&a,
hzoiqozv 0 Zsu? xauvoBoxTjv [is^caXTjv iravo.
Im Gerytades des Aristophanes (um die Zeit der FRÖsche) wird ein Parasit ange-
lassen (fr. 4 66 K.) : j^apievTtCsi xal xaTa^atCeti; r^\Lm xal ßojfxoXojfsost. Dass der
aau{i.ßoA.Qg Spass machen muss, ist nach Anaxandrides in der Gerontomania
fr. 4 0 M. eine alte Satzung des Rhadamanthys und Palamedes.
3) Vgl. 4, 4 4 ff. 2, 24 f. 4, 50. Das Substantivum xoXaS findet sich in
den Xenophontischen Schriften nirgends, nur das Verbum xoXaxsueiv in der Be-
deutung »den Hof machen« (Kyrop. I 6, 3 VII 2, 23 Memor. I 2, 24 II 9, 8
IV 4, 4 Hellen. I 6, 7 V 4, 4 7 Hier. 4, 4 5 resp. Laced. 4 4, 2) und einmal
Oecon. 4 3, 4 2 xoXaxeofiaxa, Scbmeichelkünste.
1 6 RiBBEGK,
TTveiv TdXX^ipta ist sein Zweck, dem er nachgeht, mag er geladen sein
oder nicht, denn axXYjxov IXdeiv eirl xb Seficvov scheint ihm sogar
lustiger. Er reisst nicht nur Witze, sondern giebt auch mimische
Actionen und Tänze komischer Art zum Besten. Lacht man nicht,
so wird er melancholisch; was er sich von den Gästen gefallen
lassen muss, zeigt das ßeXo«; y^Xcotottoiöv in den ' OatoXö^ot des Aeschy-
lus (fr. 171). Ein solcher Clown, wie er z. B. noch bei der
Hochzeit des Karanos in Makedonien auftritt ^) , ist trotz mancher
Ähnlichkeit doch schon in dem einen Hauptpunkt vom x6Xa5 unter-
schieden, dass er sich keiner einzelnen Person fest und dauernd
anschliesst.
Hauptsächlich um seiner 6'];ocpaifia und -^aoTpunap-^ia willen, die
er gern am fremden Tisch befriedigte, mag der falsta£Fähnliche
Schildwegvverfer Kleonymos^) von Aristophanes in den Wespen Kola-
konymos genannt sein. Denn schon in der zweiten Parabase der
Ritter (1281) stellt dieser Aristokratenchor eine tiefsinnige Erwägung
darüber an, wie jener nur zu solcher Virtuosität im Essen gekom-
men sein möge:
cpaol [xiv Y<ip iauTiv epeitTÖixsvov xä tcüv ej^^vtcov dvepcov
oox äv feSsXösLv dizh ti^i; oiuüyjc;, toü^ 8 dvTtßoXsiv av 6[i.o((o^*
t&' iü ava, 7cpo(; •yo'^dKov, ISeXöe xal oü^YvcüOi t-q xpaTueC'Q.
Doch wird ihm weder hier, zwei Jahre vor Aufführung der Wespen,
noch früher, in den Wolken und den Acharnern, der charakteristische
Spitzname x6XaS schon beigelegt.
Während nun Pia ton in seiner Unterscheidung ehrlicher und
unehrlicher xlpat^) den Begriff der xoXaxeia willkürlich weiter fasst
und das entscheidende Kriterium allein in der Verleugnung der
Wahrheit zum Zweck des angenehmen Scheins (j^apiCe-
oöai) findet, gleichviel in welcher Absicht übrigens ein solcher Be-
trug geübt werde, unterlässt er doch an anderen Stellen*) nicht die
\) Athenaeus rv p. 4 30G.
2) Alazon S. Sl8.
3) Gorgias p. 463 ff. 502 b. 521 b. Euripides im Erechtheus fr. 364, 18 ff.
N. umschreibt den Begriff der xoXaxe; ganz entsprechend : (piXouc Ss tou; piv fi.7]
)raXü)VTa? 4v Xoyoi? | xixTTjoo* tou? 8s Tcpo? Z^P*^^ ^'^^ "ijSov'j | t-j o^
irovTjpou? xX^&pov eJpYito) ax^Y^?.
4) Soph. p. 222 e resp. IX p. 590 d Sympos. p. 183 a.
\. Allgemeine Voraussetzungen de» Wachsthums der grossen Stödte etc. ] 7
niedergeschlagen, wie es uns in der Überlieferung entgegentritt. Was Rom betrifft,
so begegnen wir seit der Consolidirung der römischen Herrschaft zahlreichen
S) mptomen einer förmlichen Masseneinwanderung zuerst aus Italien , dann den
Provinzen, die, wie Friedländer mit Recht bemerkt^), zwar in wechselnder, aber
bis auf Constantin wohl schwerlich auf die Dauer abnehmender Stärke die Stadt
tlberfluthete und ihre Bevölkerung mit den Bestandtheilen aller Nationalitäten
der alten Welt mischte^). Schon Cicero nennt Rom »eine aus der Vereinigung der
Völker gebildete Gemeinde«^) ; und Stimmen aus der Kaiserzeit feiern die Stadt,
»welche die Blicke aller Götter und Menschen auf sich wandte«, als »Versamm-
lungsort des Erdkreises«^), als eine »Weltherberge«^), als ein »Gompendium der
Welt« ^). Äusserungen, welche lebhaft an Montchr^tien's Charakteristik von Paris
erinnern : »Paris pas une cit^, mais une nation ; pas une nation, mais un monde« ^,
und an das Wort eines modernen Culturhistorikers von den Weltstädten der
Gegenwart, als den riesigen »Encyklopädien« der allgemeinen Civilisation^). In
der That ist es durchaus das Bild der modernen Grossstadt mit ihrer gewaltigen
Concentrirung des gesammten Volkslebens, an welche uns die Schilderungen des
kaiserlichen Rom gemahnen. »Betrachte doch einmal, schreibt Seneca seiner
Mutter-*), diese Menschenmenge, für welche kaum die Häuser der unermesslichen
Stadt ausreichen. Der grössere Theil dieses Schwarmes lebt fern von der Hei-
math. Aus ihren Municipal- und Colonialgemeinden, ja aus dem ganzen Erd-
kreise sind sie zusammengeströmt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt. Andere
die Nothwendigkeit eines öffentlichen Amtes, Andere ihre Stellung als Abgeord-
nete, Andere die Schwelgerei, die nach einem reichen und fttr Laster bequemen
Tummelplatze sucht, Andere das Streben nach Wissenschaft, Andere die Schau-
spiele. Die hat die Freundschaft herbeigezogen, jene die Industrie, welche hier
ausgedehnten Stoff findet, ihre Geschicklichkeit zu zeigen. Einige bieten ihre
Schönheit feil , Andere ihre Beredtsamkeit. Da gibt es keine Art von Menschen,
welche nicht in der Hauptstadt zusammenträfe, wo sowohl den Tugenden wie den
Lastern grosse Prämien winken« *<^).
darf wohl seit Zurapts Erörterungen »Über den Stand der Bevölkerung und Volksvermehrung
im Alterthum« (S. 64 f.) als völlig überwunden gelten.
4) A.a.O. I, i9.
3) Vgl. was Ammianus MarcelHnus von Kaiser Constantius erzählt: stupebat, qua celeri-
täte omne quod ubique est hominum gcnus confluxerit Romam. XVI, 4 0, 6.
3) De pet. cons. 44, 64 Roma est civitas ex nationum conventu constituta.
4) Juli Flori epitome p. XLIJahn: in illo orbis terrarum conciliabulo. Noch im
4. Jahrb. sagt Symmachus von Rom (IV, 18) : undique gentium convenitur.
5) 'Ey^PiOfirj x^ xoa fxoxqoqn^ C I. G. 5993 A. 48.
6) Ausdruck des Sophisten Polemo (2. Jahrb.), cf. Athenaeus I, 36: oqa^ oixovfiivrjg d^fjioy
X7]¥^Piofjiriy fprjoi' Xiyet dk xai, ort ovx ay tig axonov noQqto to^eviay Xiyoi rijy^PdJfiijy noXiy
InitofATjy xrjs oixovfxiyrjs. Cf. ib.: IniXelnoi d* ay fis ovx Vf^^^^ f^^^ k^a^i^fiovfAeyoy
jag iy tp 'Patfiaitay oh^ayonoXs^ ^PtofAtj ctqid-fAOVfiiyas noXeif . . dia xo nX^S'O^' xai yaQ oXu
l&yri ä&Qoiüf a^to&i avytfxiarai xtX. Cf. Galen ed. Kühn XVIII, 4, p. 347.
7) Trait« d'^onomie politique (4646) p. 46 (angeführt bei Röscher, System III, 38).
8) Riehl, Land und Leute, 6. Aufl. S. 422.
9) Cons. ad Helv. 6.
4 0) Vgl. i4hnliche Äusserungen über die universelle Stellung Alexandrias bei Dio Chryso-
Pöhluanii, Überrölkenxng. 2
16 I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Städte etc.
Nichts könnte die stddtebildende Kraft dieser Epoche besser veranschau-
lichen, als die phllnomenale Entwicklung der beiden erst durch Julius Cflsars
Neugründung aus dem Schutt erstandenen Städte Korinth und Carthago, die —
allerdings durch ihre geographische Lage ebenfalls mächtig gefordert - — in nicht
sehr langer Zeit zu grossen städtischen Centren heranwuchsen. Auf der völlig
verödeten Trttmmerstätte des zerstörten Korinth erblühte in wenig Menschen-
altern eine glänzende Handelsstadt mit einem wahrhaft internationalen Verkehrs-
leben, wie vordem »das reiche Korinth«, eine »allen Hellenen gemeinsame Stadt
und in Wahrheit die Metropole von Hellas«^). Noch bedeutsamer ist das Wachs-
thum des römischen Carthago, dessen Fortschritte in materieller und ideeller Hin-
sicht so grossartige waren, dass es am Ende wohl als das »afrikanische Rom« der
Welthauptstadt selbst sich an die Seite stellen konnte, und die alte Nebenbuhler-
schaft beider Städte wieder aufzuleben schien^]. Schon um die Wende des i.
und 3. Jahrhunderts erscheint es unter den grössten Städten des Reiches und
wurde — nach dem Urtheile Herodians — an Grösse und Einwohnerzahl nur von
Rom übertroffen, während ihm den zweiten Rang nur Alexandria streitig machte 3).
Was das zu bedeuten hatte, lässt sich darnach ermessen, dass Alexandria schon
zur Zeit Diodors nach amtlichen Aufzeichnungen eine freie Einwohnerschaft von
300000 Seelen hatte ^), eine Zahl die natürlich bei der Grösse der Fremden- und
Sklavenbevölkerung noch weit hinter der wirklichen Bevölkerungsziffer zurück-
blieb. Zudem gilt diese Zahl noch für eine Zeit (480. Olymp.) ^}, die vor den —
mit der augusteischen Monarchie beginnenden — grossartigen Aufschwung Ale-
xandrias fällt, einen Aufschwung, in Folge dessen sich die Bevölkerung in den
zwei Jahrhunderten bis Herodian allem Anschein nach mehr als verdoppelt haben
muss^). Wenn das damalige Carthago an Grösse mit dieser Stadt rivalisiren
konnte, so muss es sicherlich wieder mindestens an die 700000 Einwohner ge-
habt haben, wie die alte Punierstadt kurz vor ihrem Untergänge ^). Damit fällt
stomus or. XXXII ed. Dindorf 1, 448, vgl. XXII, p. Sli — Constantinopels bei Gregor von Nazianz
or. XXXIIp. 517 Migne.
4) Vgl. des Aristides Lobrede auf die Stadt Or. III p. 21 ff. ed. Dindorf und die Schilderung
bei Friedländer II, H3f.
8) Salvian , Gub. dei VlI, 67 : illa ... Romanis arcibus seinper aemula, armis quondam et
fortitudine, post spien dore ac dignitate. Carthaginem dico et urbi Roniae maxime adversariam
et in Africano orbe quasi Romam ... universa penitus quibus in toto mundo disciplina
rei publicae vel procuratur vel regitur, in se habuit etc. Cf. Ausonius de dar. urbibus 2. Vgl.
die Schilderung bei Jung, Die romanischen Landschaften des römischen Reiches S. 423 ff, und
C. I. Lat YIII, 438. Für das rasche Wachsthum der Stadt zeugt schon Strabos Bemerkung: xal
yvy et xis aX%rj %aXas oixeUai jüy iy Aißvr^ noXsaty XVII, 3, 4 5; cf. Melal, 7, 2. So frühe
nach der Gründung !
3) Herodian VII, 6, 4 : ^ yovy noXis ixeiyij xai dvyctfjiei x^VH-^^^ ^"^ TiXt^d-ti tüy xtnoi--
xovyxiay xal fiByid-Bi fAoytis * PtafArjg itnoXelnerai) g>iXoyeixovaa nqog trjy iy Aiyvmi^*AX%^ay-
dqov noXiy nhql deviegeitay,
4) Diodor XVII , 52 : joty xaroixovyttoy elyai toh^ iy avrj diaxqißoyxas iXsvB'iqovs
nXBioyas Ttoy jQiaxoyja fivQiadfoy, Mit welchem Recht Marquardt, Römische Staatsverwaltung
II, 4 47 hier die Frauen und Kinder nicht mitgerechnet sein lässt, sehe ich nicht ab.
5) ib. I, 44. 6) Vgl. die Schilderung der Stadt bei Friedländer II, 4 34 ff.
7) Strabo XVII, 3, §45.
I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachstbums der grossen Städte etc. \ 9
auch ein Licht auf die Grösse anderer Stödte z. B. Antioehias der »Metropole des
Orients« '), welche schon Josephus als dritte Stadt des Reiches — nach Rom und
Alexandria — bezeichnet^), während sie später von Libanius mit den drei grtfss-
ten Städten nach Rom und Gonstantinopel, d. h. ohne Zweifel mit Alexandria,
Carthago und Mailand auf eine Stufe gesetzt wird^). Die Grösse Mailands aber,
welches wie viele andere Städte seit der diocletianischen Epoche besonders als
Regierungs- und Verwaltungscentram emporkam, lässt sich unter Anderem auch
darnach beurtheilen, dass bei der Einnahme und Zerstörung der Stadt durch
König Vitiges im Jahre 593 nach dem Berichte Procops^) 300000 Erwachsene männ-
lichen Geschlechts ums Leben gekommen sein sollen. Wenn femer — im Osten —
eine Stadt dritten Ranges wie Cäsarea in Gappadocien an die 400000 Einwohner
hatte (im 3. Jahrb.) % welche Dimensionen muss da die Bevölkerungszunahme der
neuen Welthauptstadt am Bosporus angenommen haben, wo alle erdenklichen
künstlichen Mittel und die Gunst einer unvergleichlichen Lage zusammenwirkten,
ein Culturcentrum zu schaffen , welches in Bälde alle Städte des Ostens Ober-
fltlgelte und am Ende selbst Westrom an Bevölkerungszahl gleich kam^). Dass sich
endlich neben diesen grossen Metropolen zahlreiche andere Städte mehr oder
minder in grossstädtischer Weise entwickelt haben — man denke nur an Lyon^}
und Trier ^), Emerita^), Tarraco^^), Seleucia, Laodicea, Smyrna, Ephesus^') und
andere — dafür legt die Provincialgeschichte und die Grossartigkeit der monu-
mentalen Oberreste beredtes Zeugniss ab.
Angesichts des Mangels bevölkerungsstatistischer Angaben seien hier noch
trotz ihres problematischen Werthes die wichtigsten Umfangszahlen verschie-
dener Grossstädte mitgetheilt, die uns zufällig überliefert sind. Rom hatte zur
Zeit der Messung Vespasians im Jahre 74 einen Umfang von 43200 Schritten ^^),
während sich für die aurelianische Mauer, die noch lange nicht alles bewohnte
Terrain umschloss^^), zusammen mit den nicht ummauerten Theilen Trasteveres
1) Wie sie Zosimus I, i7 nennt.
2) B. J. III, S, 4.
3) IIqos ßeodoCioy Itki talg diaXXayalg I, 673 : yv¥ ik dvoly (ikv r^ds devtiqa (Rom und
Constantinopel), tqioI dk i<trj, Ausonius I. c. 111 zweifeit, ob er Antiochia oder Alexandria an
dritter Stelle nennen soll. Vgl. auch Johannes Ghrysostomus , der die christliche Gemeinde
von Antiochia als einen d^fxov etxoaiy iyTeiyofieyoy fAv^iaiag bezeichnet. Homil. in Ignat. § 4.
4) B. G. II, 21 : trjy 61 noXiy €$■ ida(pof xa&elXoyf ay6^as f*ky xteiyaytec rjßr^ifoy anayxas
ovx fi<scoy Tj fAvqiadas tQioacoyjaf yvyalxas^ dk iy äydganodtoy notijaafieyoi X6y(f. Cf. Ausonius
1. c. V über Mailand. Die Angabe Procops, so stark sie übertreiben mag, ist doch nicht ganz
bedeutungslos.
5) Nach ZonarasXIl, 88 p. 444 Dind.
6) Vgl. Gap. 8.
7) Vgl. Hirschfeld , Lyon in der Rdmerzeit.
8) Hettner, Das römische Trier; in den Verh. der Trierer Philoiogenversammlung S. 15 ff.
4879. Vgl. Jung a. a. 0. S. 234 ff.
9) Vgl. Jung, S. 20 f.
40) Ebd. 22 ff., vgl. Hübner im Hermes I, 97 ff.
44) tber die letzteren Stttdte vgl. Gurtius, Beiträge zur Geschichte und Topographie Klein-
asiens. Abh. der Berliner Akad. 4872, S. 4 ff. und Friedländer a. a. 0. II, S. 122 f.
42) N. H. ni, 5, 66. 4 3) Vgl. unten S. 24.
2»
20 !• Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Städte etc.
schon über 17000 Schritte ergeben^). Für Garthago werden, wie es scheint mit
Bezug auf die frühere Raiserzeit, 1 0250 Schritte angegeben^), desgleichen für
Alexandria, welches zur Zeit Diodors nur etwas über 80 Stadien = 4 0000 Schritte
gemessen hatte ^) ; 16360^), ein bedeutsames Symptom des Wachsthums dieser
Stadt s). Wenn für Antiochia etwas über 8000 Schritte angegeben werden*), so
bleibt das hinter der höchsten Umfangsziffer desselben gewiss weit zurück. Die-
selbe mochte kaum viel unter 18000 Schritt betragen'^) , wie sie z. B. Gonstanti-
nopel in der Zeit seiner grössten Ausdehnung thatsächlich erreicht hat®).
Um die Bedeutung dieses Wachsthums der grossen Städte für deren eigene
Zustände, wie für die antike Givilisation überhaupt beurtheilen zu können , ist
vor Allem eine Antwort auf die Frage erforderlich , ob die Zunahme der gross-
städtischen Bevölkerungen wesentlich als Symptom der Prosperität und gestei-
gerter Gulturleistungen zu betrachten sei, oder ob dieses Wachsthum bereits jene
Grenze überschritt, wo es eine Quelle des Elends für das Ganze oder für grosse
Glassen der Bevölkerung werden und dem gesammten gesellschaftlichen Organis-
mus der Grossstadt ein krankhaftes Gepräge geben musste.
Da es nach der Natur der Dinge und bei der Beschaffenheit der Quellen in
erster Linie Rom ist, dem die Diagnose gilt, ein Central- und Herzpunkt, von dem
eine Welt ihre Impulse empfing, so hat das Problem eine gewisse universalhisto-
rische Bedeutung. Wir haben es heutzutage unmittelbar vor Augen und empfin-
den es in banger Sorge, dass »Europa krankt an der Grösse seiner grossen Städte«.
Wir die wir Altenglands gesunde Eigenart in London begraben und Paris zum
ewig eiternden Geschwüre Frankreichs emporgewuchert sehen , die wir selbst in
dem individualisirten Deutschland die enorme Steigerung der grossstädtischen
Volksmassen, besonders unserer nationalen Hauptstadt als einen für das ganze
Volk fühlbaren socialen und politischen Druck empfinden , wir können uns auf
das lebhafteste vergegenwärtigen, in welchem Umfange bei der ungeheueren Cen-
4) Vgl. Jordan, Topographie der Stadt Rom im Alterthum I, 334 fT. II, 471, wo mit Recht
von den übertriebenen Angaben der Alten abstrahirt wird.
5) Nach dem von Mommsen in den Abhandlungen der Sachs. Gesellsch. d. W. III, S. 873
herausgegebenen Fragment aus Cod. Paris. 8319. Cf. Itinerarium Alexandri (A. Mai class. auct.
VII) I, 26. Dazu Boysen im Philologus Jahrg. 1883, S. 410 ff.
3} XVH, 52. Je 40 Stadien in der Länge, 1 Plethron in der Breite. — Die Angabe gilt für
die 50er Jahre des letzten Jahrh. v. Chr.
4] Nach der Anmerk. 2 genannten Quelle.
5) So erklären sich offenbar die verschiedenen Angaben der Alten ; ein Moment, welches
Kiepert (Zur Topographie des alten Alexandria; Zeitschr. der Gesellsch. f. Erdkunde z. Berlin
VII, S. 344) ganz ausser Acht gelassen, indem er die verschiedenen Messungen ohne Rücksicht
auf ihre Ursprungszeit bunt durcheinander wirft. — Wenn Diodor a. a. 0. 10000 Sehr., Plinius
V, 10 15000 (wo die Beziehung auf die Gründungszeit offenbar ein Versehen ist), ein noch
Späterer 16360 Sehr, angibt, so lässt sich doch die im Text berührte Ursache dieser genau mit
der Zeit steigenden Differenz unmöglich verkennen.
6) Vgl. Itinerarium Alexandri I, 26.
7) Hug (Antiochia und der Aufstand des Jahres 387 S. 6), der die Zahl allerdings durch
eine unberechtigte Quelleninterpretation gewinnt.
8) 4 8 milliaria nach Phrantzes III, 3 p. 238 ed. Bonn. Die Angabe des Laonikus Chalkon-
dylas (ed. Bonn. p. 388), 441 Stadien, ist offenbar zu niedrig, ebenso die der Regionenbeschrei-
bung: 14075' Länge und 6150' Breite (Riese: Geogr. lat. min. p. 4
I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Städte etc. 21
tralisaiion des römischen Staatswesens die aus einer Übervölkerung der Gapitale
und der grossen Städte überhaupt entspringenden Krankheitserscheinungen auf
das Allgemeine zurückgewirkt haben müssen.
Dass nun in Wirklichkeit eine solche Übervölkerung bestand, ist leicht er- ünmdgiichkeit
" einer sifFery
weislich , sehr schwierig aber und nach verschiedenen Seiten hin unmöslich ist m^'^s®'^ ^~
^ *^ Btimmunff der
es, eine analytische Darlegung der Intensität der einzelnen EinOüsse zu geben, Kg^'***J^^^^^^
die sich in der genannten Wirkung offenbaren, und damit die Intensitöt dieser Yori»^^°iB««*
letzteren selbst genauer festzustellen. Wir vermögen zwar noch eine Fülle von
Symptomen zu constatiren, allein zu einer völlig genügenden Beantwortung der
Frage, in welchem Grade und in welcher Ausdehnung sich die Erkrankung
des grossstadtischen Volkskörpers bemächtigt hat, fehlt uns die wichtigste Hand-
habe: die Leuchte der Statistik. Die Statistik allein kann uns die genaue und
zuverlässige Kenntniss der Zahl und Beschaffenheit der Bevölkerung nach ihrem
Stande und ihrer Bewegung gewähren, welche für eine bevölkerungswissen-
schaftliche Aufgabe, wie die vorliegende, von fundamentalem Werthe ist. Was
zunächst den Stand der Bevölkerung betrifft, so wäre eine ziffernmässige Ermitt-
lung der Einwohnerzahl darum von Interesse für uns, weil sie durch eine Yer-
gleichung der Volkszahl mit der Gesammtfläche des Stadtareals bis zu einem ge-
wissen Grade über die Dichtigkeit der städtischen Bevölkerung Aufschluss gewäh-
ren d. h. zeigen würde , inwieweit dieselbe mehr oder minder enge zusammen-
gedrängt wohnte. Die amtliche Bevölkerungsstatistik des kaiserlichen Roms wäre
bei ihrer ausgezeichneten Organisation^] wohl im Stande gewesen, eine genügende
Berechnung der städtischen Bevölkerungszahl zu liefern, wenn sie nicht aus-
schliesslich die praktischen Bedürfnisse der Staatsverwaltung im Auge gehabt
und eines wissenschaftlichen Interesses völlig ermangelt hätte. Der römische
Gensus stellte zugleich eine Volkszählung dar, die nach dem Urtheil eines moder-
nen Statistikers 2) ihrer Aufgabe in vollkommenerer Weise gerecht wurde, als die
entsprechenden statistischen Erhebungen in vielen Staaten der Gegenwart (1 866).
Diese Volkszählung umfasste wenigstens in der Raiserzeit nicht nur die freie,
sondern auch die Sklavenbevölkerung; allein sie gewährte trotzdem keine aus-
reichende Kenntniss der städtischen Bevölkerungszahl, da sie im Unterschied von
den modernen Volkszählungen stets nur die Ermittlung der rechtlichen, nicht der
factischen Bevölkerung bezweckte^). Für die Frage, wo der Einzelne in die Er-
hebungslisten einzutragen sei, war nicht der Wohnort, sondern der Heim aths-
ort das Entscheidende ; und es wäre daher selbst mit den Hülfsmitteln des kaiser-
lichen statistischen Bureaus zu Rom, an welches die Zusammenstellungen der
provinciellen Centralbureaus , beziehungsweise Municipalbureaus eingeliefert
wurden, nur sehr schwer möglich gewesen, den factischen Stand der grossstädti-
schen Bevölkerungen genau zu berechnen. Auch hat es die für die Vergangen-
heit so charakteristische Geringschätzung der zahlenmässigen Genauigkeit wohl
nirgends dazu kommen lassen. Wenigstens besitzen wir für keines der grossen
4) Vgl. Hildebrand, Die amtliche Bevölkerungsstatistik im alten Rom. Jahrbücher für
Nationalökonomie und Statistik 1866, S. 81 ff,
2) Hildebrand a. a. 0. S. 82.
3) Vgl. Huschke, Über den Census zur Zeit der Geburt Christi, S. H8 ff.
22 !• Allgemeine VoraossetzuDgen des Wachsthums der grossen Städte etc.
Centren des Reiches eine genaue Angabe oder auch nur eine Schätzung der Ein-
wohnerzahl.
Die einzige Ziffer, in der man einen Anhaltspunkt für eine bevölkerungs-
wissenschaftliche Untersuchung finden könnte , ist die im Monumentum Ancyra-
num für die plebs urbana Roms angegebene, die im Jahre 5 v. Chr. in einer Starke
von 3SI0000 Köpfen von August mit einem Congiarium bedacht ward<). Allein
auch diese Zahl ist für unsere Zwecke werthlos, da nicht einmal der Begriff'der
plebs urbana vollkommen feststeht. Denn wenn man auch — was doch keines-
wegs der Fall ist — als erwiesen annehmen wollte, dass dieselbe nur die stimm-
berechtigten Bürger und nicht zugleich die freigeborenen Rinder männlichen Ge-
schlechts umfasste^), so bliebe doch immer noch die Frage ungelöst, ob die plebs
urbana des Monumentum Ancyranum mit der plebs Romana identisch ist, oder ob
beides verschiedene Begriffe sind; d.h. ist nur die letztere die plebs der Ge-
sammtstadt »usque ad extrema tectorum«, die plebs urbana dagegen nur die der
eigentlichen urbs, der Roma muris cincta, der Altstadt ohne die Vorstädte?^) —
Andererseits entbehren wir jeder Kenntniss und jedes halbwegs genügenden
Massstabes für die Schätzung der freien weiblichen Bevölkerung und der Kinder-
zahl der plebs, des Senatoren- und Bitterstandes und ihrer Angehörigen, der
zahlreichen Insassenschaft, der enormen Sklavenmasse und vollends der fluctui-
renden Fremdenbevölkerung Wenn es daher die Neueren immer und immer
wieder unternommen haben, die Yolkszahl der Weltstadt zu ermitteln^), so war
das nur möglich durch die Zuhülfenahme jener Conjecturalstatistik , die, um mit
Engel zu reden, ein Irrlicht und viel schlimmer ist, als gar keine Statistik. Oder
sollten wir, um uns die für die Bevölkerungsfrage so wichtige Einsicht in die
Dichtigkeit der Stadtbevölkerung zu verschaffen, die Bahnen einer Forschung be-
schreiten, die z. B. aus der überlieferten Häuserzahl Roms mittelst einer ganz
äusserlichen und willkürlichen Verwerthung der von der modernen Statistik be-
züglich der mittleren Einwohnerzahl der Häuser unserer Grossstädte gewonnenen
Resultate auf die Einwohnerzahl der römischen insulae und damit auf die Be-
völkerungsziffer der Stadt selbst zurückschliessen zu dürfen glaubt^], von anderen
noch problematischeren Experimenten ganz zu schweigen? Die neuesten Unter-
suchungen auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik des mittelalterlichen Städte-
wesens, wo uns die Archive eine Controle ermöglichen, wie sie für das Alterthum
fehlt, haben in drastischer Weise gezeigt, zu welch fundamentalen Irrthümem
1) R. G. D. A. ed. Mommsen p. 86.
2) Wie allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit von Friedländer a. a. 0. I^, 51 und Mar-
quardt a. a. 0. II, 147 angenommen wird.
3) Vgl. Rodbertus in den Jahrb. f. Nationalökonomie und Statistik 1874, S. 4.
4) Vgl. Marquardt a. a. 0. II, 117 flF. und den Excurs bei Friedländer I^, 51 ff., welche beide
unter Berücksichtigung der früheren eigene Berechnungen aufgestellt haben.
5} Vgl. z. B. Marquardt I^, 121 : »Wenn man mit Gibbon aus der Zahl der Häuser auf die
Einwohnerzahl einen Schluss machen will, so muss man die Verhältnisse einer dicht zusammen-
gedrängten Bevölkerung zu Grunde legen. In Paris kamen 1872 auf ein Haus 28,4, in Berlin
1871 dagegen 57,14 Personen. Rechnet man in Rom auf das Haus 29, so ergiebt dies 1,832,637
Einwohner, rechnet man 57, so erhält man 2,619,321 Einw. Ein in der Mitte liegender Ansatz
I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachslhums der grossen SUidte etc. 23
fast mit Nothwendigkeit Schätzungen und Berechnungen führen müssen ^ die an
der Hand wenig sicherer Anhaltspunkte und mittelst moderner Durchschnitts-
und Verhältnisszahlen vorgenommen werden ^). Wenn man das Resultat der einen
von den zwei aus dem Mittelalter bis jetzt bekannt gewordenen genauen Volks-
zählungen — der von Nürnberg aus dem Jahre H49 — mit den auf Schätzung
beruhenden Angaben von Schriftstellern derselben Epoche vergleicht und dabei
die entmuthigende Wahrnehmung macht, wie weit sich selbst Zeitgenossen mit
ihren Schätzungen von der Wahrheit entfernen können^), so wird man kaum
zweifelhaft darüber sein, dass vollends die Nachlebenden auf solches Experimen-
tiren verzichten sollten. Kann ja doch schon eine einzige Fehlschätzung das ganze
historische Bild verunstalten und zu den allerverkehrtesten Schlüssen führen.
Mit einleuchtender Schärfe ist dies jüngst — eben mit Beziehung auf die mittel-
alterliche Bevölkerungsstatistik — von Bücher hervorgehoben worden ^], und auch
wir glauben hier unsererseits mit besonderem Nachdruck darauf hinweisen zu
müssen, da noch neuerdings selbst aus den Kreisen der historischen Schule die
wissenschaftliche Berechtigung der Schätzung behauptet worden ist, und insbe-
sondere die Alterthumskunde noch immer daran festhält, dass es mit ihrer Hülfe
möglich sei, antike Bevölkerungsfragen »ihrer Lösung näher zu führen «r 4).
Auch das Areal, auf dem sich die grossstädische Bevölkerung zusammen-
drängte, entzieht sich jeder genaueren Berechnung. Der Flächengehalt des wirk-
lich städtisch bebauten Terrains (die Vorstädte inbegriffen) ist für keine antike
Grossstadt mehr zu constatiren; eine Aufgabe, die übrigens selbst für die Zeit-
genossen keine so ganz einfache gewesen wäre. »Wer die Grösse Roms ausfindig
machen wollte, meint Dionysius von Halikamass, der würde nothwendig in Ver-
legenheit gerathen und kein sicheres Kennzeichen besitzen, wo die Stadt aufhört
und das Land anfängt. So innig ist die Stadt mit dem Lande verwoben und er-
weckt in dem Beschauer die Vorstellung einer unbegrenzten Ausdehnung ff^).
von 35 Personen auf das Haus würde dagegen auf 4,608,355 Einwohner fdhren«. — Ein Resul-
tat, das dann ge Wissermassen zur Bestätigung der vom Verfasser auf anderem Wege gefundenen
Bevölkerungsziffer von 4,610,000 Einw. dienen soll. Die gänzliche Werthlosigkeit dieses Ver-
fahrens, die übrigens an sich klar ist, zeigen auch die abweichenden Resultate Wintersheims
;Völkerwanderung I, 262), die in analoger Weise gewonnen sind.
4) Vgl. Bücher, Zur mittelalterlichen Bevölkerungsstatistik mit besonderer Rücksicht auf
Frankfurt a. M.; in der Tüb. Zeitschr. für die ges. Staatswissenschaft (4884) S. 585. Was hier
im ersten »allgemeinen Theile« über die Anwendung der statistischen Methode auf die Erfor-
schung des mittelalterlichen Gesellschafts- und Wirthschaftslebens gesagt wird, verdient auch
von der classischen Alterthumskunde wohl beherzigt zu werden.
2) Vgl. Bücher a. a. 0. S. 544 f.
3) A. a. O. Die neuerdings hervortretende beachtenswerthe Reaction gegen Büchers eigene
bevölkerungsstatistische Ergebnisse kann der Richtigkeit des oben angedeuteten allgemeinen
Gesichtspunktes natürlich keinen Eintrag thun.
4) So Friedländer mit Beziehung auf die Frage nach der Bevölkerung Roms a. a. 0. P, S. 54.
Wir können es auch Rodbertus nicht zugeben , dass auf dem von Friedländer mit so aner-
kennenswerther Besonnenheit und Vorsicht betretenen Wege »zu einer annähernd richtigen
Bevölkerungsziffer zu gelangen« sei. Vgl. Rodbertus in den Jahrbüchern für Nationalökonomie
und Stotistik 4874 (2), S. 4.
5) IV, 48.
24 I* Allgemeine Voraussetzungen des WachsUiuins der grossen Stttdle etc.
Gans das Bild der modernen auf das Land hinaus sieh ausbreitenden Grossstädte,
bei denen es ebenfalls kaum mehr möglich ist, eine irgendwie feste Grenze zwi-
schen Stadt und Land zu ziehen ^). »Ueberall griffen die Ausläufer der Stadt in
die Gampagna hinaus und verschlangen nach und nach die zahlreichen umliegen-
den Flecken und Ortschaften und ihre Vorstädte verloren sich in neuen Anlagen
prachtvoller Landhäuser, Tempel und Monumente, deren marmorne Zinnen,
Giebel und Kuppeln aus dem dunklen Grttn der Haine und Gärten hervorleuch-
teten«^).
Zwar hat man in Rom unter Vespasian eine Vermessung des städtisch über-
bauten Areals (ubi continenti habitatur, usque ad extrema tectorum) vorgenom-
men, allein der unvollständige und unklare Bericht des Plinius^) ermöglicht eine
ziffernmässige Kenntniss nur für den Umfang, nicht aber für den Flächeninhalt
desselben, wobei im Hinblick auf die angedeutete Schwierigkeit, die Grenze städti-
scher Bebauung genau zu fixiren, nicht einmal die Angabe der Umfangszahl ohne
alle Bedenken ist. Auch der von Dureau de la Malle ^) auf 4396,469 Hektaren
berechnete Flächeninhalt des von der Aurelianischen Mauer umschlossenen Ter-
rains giebt keinen genügenden Aufschluss über die Ausdehnung der damaligen
bewohnten Stadt. Allerdings beabsichtigte diese Umwallung der Bevölkerung
einen möglichst vollständigen Schutz zu gewähren, allein die fortificatorischen
Rücksichten gestatteten bei Weitem nicht alles städtisch bebaute Gebiet in die
Enceinte hineinzuziehen^). Nicht nur erscheinen mehrere Abschnitte der in der
bekannten SUdtbeschreibung aus der Zeit Constantins zur Regionenstadt, der
urbs XIV regionum, gerechneten Quartiere rein städtischen Charakters von der
Mauer ausgeschlossen^), sondern es muss auch — nach der scharfsinnigen Beweis-
führung von Rodbertus^) — die Differenz zwischen der Befestigungslinie und der
Aussenlinie der Vorstädte eine sehr beträchtliche gewesen sein. Was vollends
die Angaben der constantinischen Städtbeschreibung über die Umfangszahlen und
die Grenzen der Städtbezirke, der Regionen, betrifft, so kann eine von so un-
sicherer Grundlage ausgehende Schätzung nur zu schlimmen Fehlschlüssen führen.
Oder sollten wir mit dem neuesten deutschen Topographen Roms, den das man-
gelhafte Material nicht vor einer solchen Schätzung der Grösse der constantini-
schen Städt zurückschreckt, annehmen können, dass diese Weltmetropole nur
einen Flächenrauni von höchstens 900 Hektären (9 Millionen DM.) bedeckte^)? —
Ein Grössenverhältniss, das sich sofort in seiner inneren Unmöglichkeit heraus-
1) Vgl. z. B. mit Bezug auf London die Vierteljahrsschrift für Voikswirthschaft und Cultur-
geschichteXI, 3, 44.
2] Friedlander a. a. 0. I, 10.
3j H. N. 111, 66, 67. Vgl. dazu Jordan, Topographie der Stadt Rom im Alterth. II, 86 ff.
4} A. a. 0. 1, 847 etwas mehr als 2/5 des Flächeninhalts von Paris im Jahre 4840.
5} Vgl. schon Niebuhr, Beschreibung Roms I, 145.
6) Vgl. Jordan I, 345.
7) Auf Grund der charakteristischen Gegenüberstellung der intramurani und extramurani
in der nach dem aureliani sehen Mauerbau verfassten Vita Elagabali c. 27. Vgl. auf Grund
brieflicher Mittheilungen Rodbertus' die Ausführung bei Friedländer a. a. 0. S. 59.
8) Jordan I, 548.
I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Stttdte etc. 25
Stellt, wenn man bedenkt, dass schon eine Stadt, wie unser Köln, mit 436000
£inwohnem und einer selbst Berliner Verhältnisse übersteigenden Dichtigkeit
der Bevölkerung, sich über eine Fläche von 770 Hektaren ausbreitet*), ganz ab-
gesehen von den 5924 Hektaren Berlins 2) oder gar der Grösse anderer, an die
Millionenstadt Rom nicht entfernt heranreichender Städte, wie z. B. Königsbergs
(2042 Hekt.), Hannovers (2472), Breslaus (3024) »).
Es dürfte nach dem Gesagten wohl gerechtfertigt erscheinen, dass wir den
modernen Berechnungen der Grösse der Stadt und ihrer Einwohnerschaft keinen
Einfluss auf die Beantwortung unserer Frage gestatten, und damit auf jede Ziffern-
massige Ermittlung der Agglomeration der Bevölkerung verzichten. Und Gleiches
gilt natürlich für alle anderen Grossstädte, für welche uns ja noch weniger An-
haltspunkte zu Gebote stehen, als für Rom. Diese Lücke in unserer Renntniss,
die wir bei den gegenwärtigen Hülfsmitteln als eine unausfüllbare bezeichnen
müssen , darf übrigens in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Aus der
rohen Verhältnisszahl zwischen der Grösse der Bevölkerung und der ihres Wohn-
areals ist ja für die Frage nach dem günstigen oder ungünstigen Zustande der
Bevölkerung nicht viel zu entnehmen; und eine Uebervölkerung kann bei jedem
Verhaltniss zwischen Volkszahl und Wohnfläche eintreten, sobald nur das Gleich-
gewicht zwischen der Productions- und Gonsumtionsfähigkeit der Bevölkerung
oder einzelner Schichten derselben gestört ist. Es eröffnet allerdings eine be-
deutsame Perspective, wenn uns die moderne Statistik darüber aufklärt, dass
z. B. in Berlin (4878) im Allgemeinen 4,32 DRuthen auf den Einwohner kamen,
in den Theilen innerhalb der Ringmauer aber nur 1 ,70, dass innerhalb des letz-
teren Rayons nur 8 Stadtbezirke mehr als 3,60 DR. auf den Einwohner hatten,
ausserhalb bereits 31^). Allein Leben gewinnen diese Zahlen erst durch eine ein-
dringende vergleichende Analyse sämmtlicher Erscheinungen des socialen und
physischen Lebens der nach dem Dichtigkeitsgrade des Wohnens local geschie-
denen Bevölkerungsgruppen. Auch bezeichnet ja die durch die Reduction nach
der bewohnten Fläche ausgedrückte Dichtigkeit (density) und die auf analogem
Wege gefundene gegenseitige Nähe (proximity, Entfernung der Bewohner von
einander) ^) noch nicht dasjenige Dichtigkeitsverhältniss , welches eigentlich erst
für das Vorhandensein einer Übervölkerung beweisend ist, nämlich die Dichtig-
keit des Beisammenwohnens in Gebäuden und Stuben. Dass uns freilich auch
für diese einen zahlenmässigen Ausdruck zu finden versagt ist, müssen wir als
eine der empfindlichsten Lücken unseres Wissens auf diesem Gebiete bezeichnen.
i) Vgl. Zeitschr. des preuss. stat. Bureaus 4877 den Aufsatz über die Dichtigkeit der Be-
völkerung in Preussen und die mittleren Abstände der Bewohner von einander, S. 496. Was
die Dichtigkeit der Bevölkerung betrifft, so kamen nach der Zählung von 4 875 auf 4 00 Hektaren
in Berlin 46384, in Köln 47584 Bewohner, s. ebd.
2) ib. mit Bezug auf das Jahr 4875, wo Berlin etwa 4 Million Einwohner hatte, aller Wahr-
scheinlichkeit nach kaum mehr , als Rom selbst noch unter Gonstantin gehabt haben dürfte.
3) ib.
4) Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 4 878 (4. Jahrg.), S. 3.
5) Vgl. über diese und ihre Berechnung die Zeitschr. des preuss. stat. Bureaus 4877,
S. 476f.
26 I- Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Stödte etc.
sowenig wir auch verkennen, dass bei den völlig abweichenden YerfaSlUnissen des
socialen Lebens im Alterthum die Grösse des Wohnraums weit minder entschei-
dend fttr das gesammte Wohlbefinden der Bevölkerung war, als heutzutage^). —
Nicht minder wichtig als die Renntniss des Standes der Bevölkerung wäre
fttr uns eine auf statistischen Erhebungen beruhende Aufklärung über die Be-
wegung derselben^ den Bevölkerungswechsel. Denn dieser letztere ist abhängig
von Ursachen, welche ihrer Natur und ihrer Intensität nach so innig mit den be-
sonderen socialen Zuständen zusammenhängen, dass sich in ihrer combinirten
Wirkung — d. h. eben in der Bewegung der Bevölkerung — diese Zustände auf
das deutlichste wiederspiegeln ^). — Es kann jetzt keinem Zweifel mehr unter-
liegen, dass die statistischen Aufnahmen im alten Rom ausgebildet geiiug waren,
um fttr die Beantwortung vieler hier in Betracht kommenden Fragen vortreffliches
Material zu bieten. Aus den amtlichen Geburtslisten ^j, die nicht nur Name und
Geschlecht des Kindes, sondern auch Name und Stand der Eltern aufführten,
waren die bedeutsamsten Aufschlttsse ttber die eheliche Fruchtbarkeit im Allge-
meinen und der einzelnen Bevölkerungsclassen im Besonderen zu gewinnen.
Mit Httlfe der amtlichen Todtenlisten, aus denen uns noch durch Sueton und Euse-
bius einzelne statistische Angaben^) erhalten sind, liess sich ein zweites wichti-
ges Symptom der allgemeinen Verfassung des Yolkskörpers , nämlich das Sterb-
lichkeitsverhältniss ^) constatiren, wenn auch nicht leicht fttr die gesammte Ein-
wohnerschaft Roms, so doch wenigstens fttr einzelne ihrer Gesammtzahi nach
bekannte Bevölkerungsgruppen , wie z. B. fttr die socialpolitisch wichtigste der
plebs urbana. Auch war es nicht bloss die als Gradmesser fttr die Gesundheits-
verhältnisse so trttgerische allgemeine Sterblichkeitsziffer, ttber die die römische
Mortalitätsstatistik — innerhalb der angedeuteten Grenzen — leichten Aufschluss
gewährte, sie ermöglichte sogar die fttr die Erkenntniss der wirklichen Sterblich-
keit und deren Ursachen ungleich wichtigere Berechnung besonderer Sterblich-
keitsziffern fttr die einzelnen Altersgruppen, da sie zugleich eine Statistik der
Sterbefälle nach dem Alter darstellte, auf Grund deren in Rom in der That Über-
sichten der Altersclassen der yei*storbenen angefertigt wurden®). Wenn dagegen
der Gensus eine sehr sorgfältige, auch auf die unfreie Bevölkerung sich er-
streckende Altersstatistik der Lebenden lieferte und Zusammenstellungen der
einzelnen Altersclassen ermöglichte, welche die Gesammtziffer der denselben an-
gehörenden Personen genau angaben und den Altersaufbau der ganzen censirten
4) Vgl. darüber Capitel 3, sowie Rodbertus (Jahrbücher für Nationalökon. und Stat 4874,
S. 27), der übrigens eine Berechnung »der Bewohnerzahl für den Wohnraum einer römischen
insula« für möglich gehalten zu haben scheint.
2) Vgl. Wappäus, Bevölkerungsstatistik I, 420; Quetelet, Physique sociale I, 458 f.
3) Civitstandsregister in Rom schon seit der Königszeit! In der Kaiserzeit war mit der
Führung derselben das Ärar im Tempel des Saturn betraut, das zugleich das Staatsarchiv ent-
hielt. Vgl. Hildebrand , Die amtliche Bevölkerungsstatistik im alten Rom a. a. 0. S. 85.
4) Vgl. Hildebrand a. a. 0.
5) d. h. das Verhöltniss der während eines Jahres Gestorbenen zur mittleren Bevölkerung
desselben Jahres , heutzutage gewöhnlich ausgedrückt durch Reduction der Gestorbenen auf
4 000 Seelen der Bevölkerung.
6) Vgl. Hildebrand a. a. 0. S. 92.
I. Allgemeine Voraussetzungen des Wachsthums der grossen Städte etc. 27
Reichsbevölkerung klar veranschauliehteD *) , so war freilich die Verwerthung
dieser Resultate des Census für die grossstädtische Bevölkerungsfrage dadurch
besonders erschwert, dass die Listen der einzelnen Zahlungsorte zunächst nur
die rechtliche, nicht die factische Bevölkerung angaben. Andererseits scheint sich
die rein praktische Tendenz der römischen Bevölkerungsstatistik auch insofern
geltend gemacht zu haben, als s'e ein für die socialpolitische Beurtheilnng der
Bevölkerungszustände so wichtiges Moment, wie die Statistik der Eheschliessun-
gen, nicht in den Kreis ihrer Thätigkeit gezogen hat.
Allein wenn auch auf diesem Gebiete Manches verraisst werden mag, so darf
es doch immerhin als eine der empfindlichsten Lücken unserer culturgeschicht-
liehen Kenntniss der Antike bezeichnet werden, dass von den Resultaten jener
bedeutsamen Versuche des antiken Staates, durch Massenberechnungen die Er-
scheinungen des Volkslebens arithmetisch aufzufassen, nur einiges Wenige in die
Literatur Eingang gefunden hat. Insbesondere haben wir es hier zu beklagen,
dass uns fast keine Zahl erhalten ist, welche für die Beurtheilnng des civilisato-
rischen Werthes oder Unwerthes der Volksvermehrung in Rom und anderen
Grossstädten einen Anhaltspunkt böte. Eine Lücke doppelt fühlbar für uns, die
wir uns daran gewöhnt haben, das gesammte moderne Gesellschafts- und Wirth-
schaftsleben ziffernmässig zu zerlegen und zu begreifen, und denen es daher zum
Bedürfniss geworden ist, auch die socialen Erscheinungen der Vergangenheit nach
den Ergebnissen quantitativer Messung zu gruppiren und in ihren inneren Be-
ziehungen auf Grund reciproker Zahlenreihen zu ermitteln. Trotzdem wird es,
solange nicht etwa neues InschriftenmateriaP) ergänzend eintritt, immer noch
besser sein , Resignation zu üben und unumwunden anzuerkennen, dass uns —
von ein paar Zahlen abgesehen — wirklich gemessene oder noch messbare Symp-
tome fttr eine Analyse der grossstädtischen Krankheitserscheinungen nicht zu
Gebote stehen, als wenn wir mit denen im Dunkeln tappen würden, die nun ein-
mal nicht darauf verzichten zu können glauben , für Thatsachen , die sich bei der
Natur unserer Quellen jeder quantitativen Bestimmung entziehen , einen zahlen-
mässigen Ausdruck zu suchen.
4) V^I. Hildebrand S. 89 f., der allerdings auf die uns hier speciell beschäftigenden Ge-
sichtspunkte nirgends eingeht
2) Diesen oder jenen für die Beurtheilnng der Bevölkerungszustände wichtigen Aufschluss,
so z. B. über die ungeheure Kindersterblichkeit in Rom, gewähren die Inschriften schon jetzt.
II.
Staat, Gesellschaft und Volkswirthschaft in ihrer Bedeutung für
die grossstädtische Bevölkerungsfrage.
Prodactionaord- Die Einwirkung der Volksvermehruag auf die Statik der der Gesellschaft
"*^^Mo™^' förderlichen und nachtheiligen Kräfte hängt wesentlich ab von der Art und Weise
der Gestaltung des gesammten Volksorganismus überhaupt. Übervölkerung d. h.
Störung des Gleichgewichts zwischen Erwerb und Unterhaltsbedarf einer Be-
völkerung oder einzelner Classen muss eintreten, wenn die Bevölkerung in sUjr-
kerer Progression anwächst als die Summe der Existenzmittel, oder wenn die
Vertheilung des Volkseinkommens sich zu Ungunsten ganzer Bevölkerungsschich-
ten allzu einseitig verschiebt. Die Ergiebigkeit der Production aber und die
Nutzbarmachung ihres Ertrages für eine möglichst grosse Anzahl von Individuen
ist bedingt durch den Gesammtcharakter des Gesellschafts- und Wirthschafts-
lebens, welch letzterer freilich seinerseits wieder durch den Grad der Volksver-
mehrung mächtig beeinflusst wird. Treffend hat daher Adolf Wagner die
Frage der zulässigen Volksdichtigkeit dahin beantwortet , dass die letztere einer-
seits abhängt von der Technik und Ökonomik der Production und den natürlichen
Bedingungen derselben, andererseits von der geltenden wirthschaftlichen Rechts-
ordnung für die Production, den Erwerb, den Handel. »Insoweit hat — wie man
mit Wagner wohl behaupten darf — der Socialismus eines Marx ganz Recht, dass
jede Productionsordnung auch ihr eigenes Bevölkerungsgesetz hat; richtiger aus-
gedrückt : dass der Spielraum der Volksvermehrung und der Volksdichtigkeit, die
Capacität eines Gebietes in Beziehung auf die Volkszahl von der Eigenthums-
und Erwerbsordnung wesentlich mitbestimmt wird«^).
Die Bedeatnng Für die Grossstadt, wo die Wohlfahrt oder die Existenz gewaltiger dicht zu-
der Industrie ffl^
die gro888t&dii- sammengedränster Volksmasscu an der höchstmöglichen Fruchtbarkeit der socialen
»cheBeTölke- , , ,
rungefrage. Productiou hängt, ist CS ciue volkswirthschaftliche Nothwendigkeit, dass sie zu-
gleich Industriestadt ist^). Auch in Rom hat die grossstädtische Entwicklung eine
bedeutende industrielle Betriebsamkeit zur Folge gehabt; und die fabrikmässige
1) Vgl. A. Wagner in der A. Allg. Zeitg. 4 880, S. «481.
2) Vgl. Engel, Die Industrie der grossen Städte. Eine socialstatistische Betrachtung. Ber-
liner städtisches Jahrbuch 1868, S. 434.
II. Staat, Gesellschaft und Volks wirthschaft in ihrer Bedeutung etc. 29
Ausbildung und Masseuproduction einzelner Gewerbszweige, wie z. B. der Metall-
industrie, der Tuehmanufacturen; der Kunstgewerbe^), die sehr weit entwickelte
Theilung der Arbeit bis in die handwerkmassigen Kleinbetriebe hinein^), das
Auftreten genossenschaftlicher Elemente im Gewerbsleben 3) sind bedeutsame
Symptome einer mit der Agglomeration der Bevölkerung fortschreitenden Lei-
stungsfähigkeit der Production. — Allein so sehr dies gegenüber weitverbreiteten
Vorstellungen von der »Nahrungslosigkeit« des alten Rom^) hervorgehoben wer-
den muss, so kann doch andererseits kein Zweifel sein, dass in Rom die Summe
des durch gewerbliche Thätigkeit neugeschaffenen und gesteigerten Einkommens
der Population ganz unverhältnissmässig hinter der Bevölkerungszunahme zurück-
blieb. Auf dem Arbeitsleben der Welthauptstadt lastete der Druck der Universal-
berrschaft, welche die Ausnützung fremder Production zum Princip der römischen
Ökonomie erhob und dadurch die Spannkraft zu eigener Productivität lähmte.
Die Capitalmacht, welche sich in Rom concentrirte , war zum grossen Theil nicht
erarbeitet, sondern erobert , auf mehr oder minder unproductivem Wege gewon-
nen durch Tribute, Zölle und Erpressungen, durch Monopolisirung des Geld Ver-
kehrs und sonstige Ausnützung der Provinzen, der »praedia populi Romani«.
Diese Art des Erwerbes gab dem Verkehrsleben Roms eine gewisse unproductive
Richtung. Das in Rom zusammenströmende Capital trat zum grossen Theil nicht
als ein lebendiger productiver Factor der heimischen Industrie auf, sondern
wandte sich mit Vorliebe wirthschaftlich gar nicht oder wenig productiven Unter-
nehmungen zu, Steuerpachtungen, Wechsler- und Wuchergeschäften u. dgl. Der
Überfluss an Tauschwerthen, welche die enorme Ansammlung von Edelmetallen
in Rom erzeugte, legte der Gapitale die Erzeugnisse des Gewerbe- und Kunst-
fleisses einer Welt zu Füssen. All das wirkte dem Aufischwung der römischen
Industrie entgegen und prägte dem Handel Roms jenen Charakter der Passivität
auf, den man sich mit opulenter Gleichgültigkeit gefallen Hess , obwohl dadurch
Rom mehr und mehr in Abhängigkeit von der auswärtigen Production gerieth ^).
4} Vgl. Blümner, Die gewerbliche Thötigkeit der Völker des classischen Alterthums S.4 4S,
der übrigens die intensive und extensive Entwicklung der Industrie Roms einigermassen
unterschätzt«
5) Siehe die charakteristischen Beispiele , die Friedender, Sittengeschichte P, 266 f. zu-
sammengestellt hat. Vgl. die Aufzählung der Berufsarten, die sich aus dem ManufacturgeschKft
entwickelt haben, bei Marquardt, Privatalterthümer IP, 566 ; s. ebd. S. 605 ff. über die Bau-
gewerke, wo die Arbeitstheilung in einer selbst für unsere Zeit überraschenden Weise fortge-
schritten erscheint Vgl. S. 652 ff. über die Metall techniken.
3} Wallon, Histoire de Tesclavage III, 4 09 und die sehr einleuchtenden, wenn auch aller-
dings hypothetischen Erörterungen über die Bedeutung der römischen coUegia opiflcum bei
Herzog, Gallia Narbonensis 488 ff. Vgl. Schiller, Nero 489.
4) Vgl. z. B. Mommsen, R. G. III, 497, der noch dem Rom der Zeit Ciceros und Gäsars
ohne Weiteres die »Industrielosigkeit des heutigen (d. h. des päpstlichen] Rom« zuschreibt I
Noch weniger zutreffend ist natürlich Dureau's Vergleich mit Versailles und Madrid. Econ.
pol. I, 406.
6) Vgl. zu obiger Ausführung v. Scheel, Die wirthschaftlichen Grundbegriffe im Corpus
juris civilis. Jahrb. für Nationalökonomie und Statistik 4866, Bd. VI, S. 880 und ebd. die Abh.
über den Begriff des Geldes in seiner historisch-ökonomischen Entwicklung , wo Scheel S. 24
im Hinblick auf die unproductive Gestaltung des Verkehrslebens Roms auch darauf hinweist,
30 n. Staat, Gesellschaft und Volkswirthschaft in ihrer Bedeutung etc.
Während von dem Export römischer Industrieerzeugnisse nur ausnahmsweise
die Rede ist*), nennt Plinius den Tiber den milden Kaufherrn aller Dinge,
die auf Erden erzeugt werden^). Die Güter der ganzen Welt konnte man in Rom
in der Nähe prüfen^). j)Was die Arbeit der Hellenen und Barbaren erschaflFt, —
sagt Aristides in seiner Lobrede auf die Stadt — kommt zu Euch. Wenn also
jemand Willens ist, all das zu schauen, so muss er entweder die ganze Welt
durchreisen, oder sich in dieser Stadt aufhalten. Denn was bei allen Völkern
erzeugt und bereitet wird , das ist hier zu allen Zeiten im Überfluss vorhanden.
So viele Lastschiffe kommen hierher aus allen Ländern im ganzen Sommer und
Herbst, dass die Stadt einer aligemeinen Werk statte der ganzen Erde gleicht«^).
»Hierher kommt, was alle Kttnste und Ge werke, so viele es deren giebt, produ-
ciren«^). In der Thät ein glänzendes Schauspiel dieser Weltbazar! Und doch
welch ein Mangel an wirthschaftlicher Kraft zeigt sich auf der Kehrseite des
Bildes! Ein Mangel, der für die Lage der ganzen Bevölkerung von grösster Be-
deutung sein musste.
Man stelle neben dieses Rom, dessen höchste wirthschaftliche Leistung darauf
hinausläuft, ein Stapelplatz für die Weltproduction zu sein, die moderne vorzugs-
weise durch eigene Gewerbsamkeit wachsende Grossstadt, etwa Paris, dessen
Zustände man seit Dureau de la Malle und Mommsen ^) so gerne zur Vergleichung
mit denen Roms heranzieht. Hier finden wir in Wirklichkeit, was in Rom nur
Schein, eine allgemeine Werkstätte für die Welt. Hier hat die grossstädtische
Entwicklung, insbesondere die auf der internationalen Mischung der Bevölkerung
beruhende Concentration der verschiedensten fremdländischen Anschauungen,
Bestrebungen und Bedürfnisse in Einer Stadt eine Anregung für die Erweiterung
und Vervollkommnung ihrer Productionsmittel und die Gestaltung ihrer Producte
gegeben, welche die städtische Industrie in den Stand setzte, durch die Befriedi-
gung der Bedürfnisse und Geschmacksrichtungen der verschiedensten Völker und
Zonen auf die Erzeugnisse der eigenen Arbeit einen Markt für den Weltconsum
zu gründen, sowie durch die zur höchsten Vollkommenheit gebrachte Ausbildung
vieler einzelner Zweige auf die weitere technische Entwicklung und die Ge-
dass wir im römischen Recht nirgends den Begriff des Productivcapitals , sondern nur des in
Tauschwerthen bestehenden Capitals finden , wo das Geld nicht als zur Production bestimmt,
sondern als rein consumtibles erscheint. Vgl. auch Bruder in der Tübinger Ztschr. für Staats-
wissenschaft 1876, S. 636.
4) Vgl. Blümner a. a. 0., der allerdings wohl etwas zu weit geht, wenn er die Erzeugung
»eigentlicher Ausfuhrartikel« Rom ganz und gar abspricht. S. ebd. S. 4 43.
5) N. H. III, 54.
8) ib. XI, 240; Plutarch, De fort Rom. 42 (825 D); Galen XIV, 23. S. Friedländer a. a. 0.
I^S. 45.
4) Aristides or. ed. Dindorf I, 826 (R. 200) : oio're ioixiyai triv noXiy »oiy^ nvi -n^g yiqg
5) xal navxa ivtavd^a avfimTne^, i/inoQiai xtX tixyai bnocai ahi re xai yeyi-
yfjyrui xtX,
6) Der z. B. R.G. III^, 292 das Rom der cäsarischen Zeit als eine »in jeder Hinsicht
dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts vergleichbare « Stadt bezeichnet , was übrigens wohl
nur in Beziehung auf die politische Situation gemeint sein kann.
11. Staat, Gesellschaft und Volkswirthschaft in ihrer Bedeutung etc. 3 \
schmacksrichtung der nationalen und fremden Production einen bestimmenden
Einfluss zu gewinnen. Wenn man erwägt, welch Unsumme von Elend trotz die-
ser eminenten Fruchtbarkeit der Gtttererzeugung auch hier mit der grossstädti-
schen Menschenanhäufung verbunden ist, so vdrd man eine Ahnung davon ge-
winnen, wie schwach die Kauf- und Consumtivkraft, wie prekär die Lage der
Massen in einer Stadt gewesen sein muss , wo diese Anhäufung kaum viel gerin-
gere Dimensionen annahm und zugleich die unproductive Gestaltung des Wirth-
schaftslebens es unmöglich machte, durch eine genttgende Verwerthung der in
der Bevölkerung ruhenden Arbeitskraft den Unterhaltsbedarf dieser Massen auch
nur annähernd aus dem Ertrag ihrer Arbeit zu decken.
In dieser Hinsicht stand die Welthauptstadt — abgesehen etwa von der spä-
teren Residenz Constantinopel — hinter anderen Grossstädten des Reiches
mehr oder minder weit zurück. Ungleich grösser war doch der Spielraum für
die Vennehrung und Dichtigkeit der Bevölkerung in den grossen Städten des
hellenistischen Ostens; vor. Allem in Alexandria, der ersten Handels- und AUxMdru.
Industriestadt der damaligen Welt^}. In bezeichnendem Gegensatz zu Rom war
hier schon in der ersten Zeit des mit der Begründung des Kaiserreiches beginnen-
den Aufschwunges die Ausfuhr grösser als die Einfuhr^}. Die Webstühle Alexan-
driens arbeiteten für Britannien, wie für Arabien und Indien, seine Buntwirke-
reien, Glasbläsereien, Papierfabriken, officinellen Techniken u. s. w. beherrschten
den Weltmarkt im gesammten Umkreis des ungeheuren Freihandelsgebietes des
Imperium Romanum^). Wir begegnen hier Grossindustriellen modernsten Stils,
wie jener Firmus einer war , der unter Aurelian die Hand selbst nach der Krane
ausstreckte, ein Industriebaron, dem allein seine Papierfabriken einen so grossen
Gewinn abwarfen, dass er sich rühmte, von Papyrus und Leim eine Armee unter-
halten zu können *) ! Allerdings ein bedenkliches Symptom, welches auf das Em-
porkommen eines übermächtigen Capitalistenthums schliessen lässt, wenn wir
auch über die Bedeutung desselben für die Geschicke der arbeitenden Glassen
aus den Quellen nichts erfahren. Ferner ist nicht zu verkennen, dass in den
grossen Industriecentren die Tendenz zu übermässiger Menschenanhäufung be-
sonders dadurch verschärft wurde, dass in allen Zweigen der antiken Production
4) Straho XVII, 4 , § 43 (S. 798): /aiyunoy IfAnoqBioy x^g oinovfjiivris. Vgl. zum Folgenden
die ausgezeichnete Schilderung des alexandrinischen Lebens bei Friedlftnder, Darstellungen a.
d. Sittengeschichte Roms 11^, 434 IT., sowie über die tonangebende Stellung Alexandrias in der
damaligen Culturwelt den Vortrag Lumbroso's in der Festsitzung des archäologischen Instituts
V. i3. April 4880. Bullettino dell' Instit. 4880, S. 474 if.
2] Strabo ib. § 7 (798).
5) Blümner a. a. 0. S. 8 H Vgl. Lumbroso a. a. 0.:^ »Alessandria regina del commercio e
dellamoda« (S. 474) und die dort angeführten Stellen, welche auf diese Beherrschung der
Mode ein Licht werfen. Charakteristisch ist der Beiname fecunda, fertilissima, der sich in Be-
zug auf die Stadt findet, SS. bist. Aug. Saturninus c. 8 (ed. Peter II, S. 209), aber auch schon
weit früher : Bell. Alexandrinum c. 8. Charakteristisch für die lange Dauer dieser dominirenden
Stellung sind die Zeugnisse für den ausgedehnten Export Alexandrias im 4. Jahrb. in der tot.
orb. descr. § 85 und 36, sowie im 6. Jahrb. bei Gregor von Tours, Hist. Franc. V, 6. VI, 6.
4) SS. hist. Aug. Firmus c. 3 (ed. Peter XU, 206) : perhibetur tantum habuisse de chartis,
ut publice saepe diceret, exercitum se alere posse papyro et gtutine.
32 n. Staat, Gesellschaft und Volks wirthschaft in ihrer Bedeutung etc.
die Massenhaft igkeii der aufgewandten Menschenkraft das zu leisten hatte,
was die Neuzeit durch vervollkommnete Werkzeuge undMaschinen erreicht i). Doch
wie dem auch sein mag; jedenfalls bildet es einen erfreulichen Gontrast zu der
über weite Volksschichten sich erstreckenden Arbeitslosigkeit in Rom , wie wir
sie im Verlaufe dieser Darstellung zu constatiren haben werden , wenn Hadrian
im Jahre 134 an seinen Schwager Servian unter dem Eindruck eines wieder-
holten Besuches von Alexandria schreiben konnte^]: »Niemand ist hier unthfitig,
jeder treibt irgend ein Gewerbe. Die Podagrischen haben zu schaffen, die Blin-
den haben zu thun, nicht einmal wer das Ghiragra hat, geht mttssig«^).
^wayen^rth- ^^^ ^^^ ®^ ^^^^ kciueswcgs bloss die geringere Capacität in Beziehung auf
Schaft, ji^ Volkszahl im Allgemeinen , durch welche sich Rom zu seinen Ungunsten von
anderen grossstädtischen Gentren des Reiches^) unterschied , sondern es kann
auch kaum ein Zweifel darüber bestehen , dass insbesondere hinsichtlich der
freien Bevölkerung die Aufnahmefähigkeit der Stadt in ausserge wohn-
lichem Grade unter einem Übel zu leiden hatte , welches ja allerdings die antike
Gesellschaft und Volkswirthschaft überhaupt beherrschte und sich daher tiberall
in der fraglichen Richtung fühlbar machte, das aber in Rom in Folge der natür-
lichen Rückwirkungen der Welteroberung extensiv und intensiv seinen HOhe-
punct erreichte. Wir meinen die Beengung des Nahrungsspielraumes
der freien Arbeit durch das für die wirthschaftliche Unproductivität der römi-
schen Ökonomie ebenfalls charakteristische enorme Umsichgreifen der Skla-
verei in Rom, durch welche sich das römische Gapital der productiven Kräfte
der fremden Völker selbst bemächtigte und dieselben zu einem erdrückenden
Wettbewerbe mit der freien Arbeit in Masse auch auf dem hauptstädtischen
Markte concentrirte.
Nicht genug, dass die mit dem Institute der Sklaverei enge zusammenhän-
gende D geschlossene Hauswirthschaft« den Bedarf eines grossen Theiles der Be-
sitzenden an den meisten Gegenständen des gewöhnlichen Gonsums durch Skla-
venarbeit deckte^) und in dieser Hinsicht die freie Arbeit vorzugsweise auf den
4) Vgl. Röscher, Ansichten der Volkswirthschaft P, 46 AT. (Über das Verhältniss der Na-
tionalökonomie zum classischen Alterthum.)
%) Ich zweifle nicht an der Echtheit des Briefes und bin auch nicht durch das überzeugt,
was neuestens Dürr, Die Reisen des Kaisers Hadrian S. 88 ff., für eine theilweise Unechtheit
vorgebracht hat. — Übrigens ist die Echtheitsfrage für uns hier irrelevant.
8) SS. bist. Aug. Satuminus c. 8 (Peter II, 909) : omnes certe cujuscunque artis et viden-
tur et habentur. podagrosi quod agant habent, habent caeci quod faciant, ne chiragrici quidem
apud eos otiosi vivunt.
4) Darunter wahrscheinlich auch Antiochia, die anerkannte Capitale ganz Vorder-
asiens, deren industrielle Betriebsamkeit z. B. von Libanius, yiynoxixof ed. Reiske I, 858 ge-
rühmt wird : tono^ ovdelf tfjiXof ;|fei^0Te;|fy^/uaT0f , äXXa x^v fAix(fov T*f Xaßtjtai XQaanidov,
na^ax^Vf^n tovto äxeffTtJQioy ij Xi naqanXr^aioy,
5) Man vergegenwärtige sich das System der »Oikenwirthschaft«, wie es bekanntlich
^odbertUs treffend bezeichnet hat, dem gemäss »die Eigenthümer, welche ihre Sklaven die Roh-
productionsarbeiten vornehmen Hessen, auch gleich selbst durch andere Sklaven an dem Roh-
product die Fabricationsarbeiten, ja bei denjenigen Producten, die überhaupt von ihnen in den
Handel gebracht wurden, auch sogar die Transportarbeiten bewirkten, so dass also das Product
KoLAX. 33
Der xoXaS *) stellt sich die Aufgabe, dem, welchem er sich ange-
schlössen hat, in alle Wege, durch dick und dünn angenehm ('j)§uc)
in Thaten und Worten zu sein, und zwar um seines eignen Vortheils
willen. Wie unechtes Gold den Glanz und Schimmer des echten,
so ahmt er gleissnerisch die Holdseligkeit und Gefälligkeit des wahren
Freundes uach^), doch währt seine Treue nur so lange, als Glück
und Wohlstand des Herrn ^). Jenem ospoirapaaiTov -^ho^ des Alexis
(fr. 114) schliessen sich die feineren Hausfreunde und Vertraute an,
welche ihre xoXaxeCa unter ernsthaft ehrbarer Miene zu verslecken
wissen. Plutarch*^) nennt sie die tragischen im Gegensatz zu denen
der Komödie, oder die wilden, d. h. gefährlichen, im Gegensatz zu
den zahmen^), jenen harmlosen armen Schluckern, die nicht einmal
einen Burschen haben, der ihnen die Oelflasche zur Palästra trägt
(auToXi^xoOoi), und froh sind, wenn sie am Tisch geduldet werden
(xpaTreCetc), — Possenreissem und ekelhaften Kerlen, deren Gemeinheit
in Teller und Becher aufgeht^).
Nicht ganz übereinstimmend, aber doch ähnlich unterscheidet
Donat eine gemeinere Gattung der Parasiten, welcher der Terenzische
Phormio angehöre, und eine vornehmere, der adsentatores ^ die erst
in neuerer Zeit (vgl. Eun. 2147) aufgekommen sei, vertreten durch Gnatho
im Eunuchus^).
schon Antiphon, der Zeitgenosse des Sokrales, erörtert, aus dessen Schrift icepl
o^ovo(a^ u. a. folgender Satz erbalten ist: iroXXol 8' Ij^ovre? cpfXoü? oo ^iT^"*"
oxoooiv, aXX' 4ta(poo? irotouvTat ö«w:a? itXooTou xal tü^^t]!; xoXaxa; (Begleiter,
Nachtreter des Glückes): fr. 109 Bl. bei Suidas s. v. xoXaxe(a. Vgl. Blass Att.
Beredsamkeit I S. 99 ff. Übrigens dürfte der Inhalt sich mit Synonymik befasst
hahen, ebenso wie in der gleichbenannten Schrift des Chrysippos.
\) Einiges zur Charakteristik in meinem Vortrag über die mittlere und neuere
attische Komödie (4 857) S. 38 ff. Vgl. auch A. Hug: de Graecorum proverbio aoxo-
[jLaToi xxX 1872.
%) Plutarch, Unterschied zwischen Freund und xoXaE p. BOB.
3) Maximus Tyrius XX 6 : o 84 xoXaE euioj^fa? [jlsv xoivcovoc airXTjOTOTaTOC,
Iv hk tat? oüp.(popai? afjLixTOTaxo?.
i) A. 0. p. 50E.
5) A. 0. p. 6\ C.
6) ci>v h [xi^ XoirdfSi xal xuXixi p,sTa ßu>|jLoXox^ac xal ßSeXupCac r^
avsXeaOep(a iff-y^STat xaTa6r]Xoc: Plutarch über den Unterschied zwischen
Freund und xoXa^ p. 50 G.
7) Donat zu Ter. Phormio III \ (11 2) : 'in hac scaena de parasltis vilioribus
Abhandl. d. K. 8. Oesellscb. d. Wiscenfich. XXI. g
34 Ribbeck,
Wir beginnen mit dem vulgären edax parasitus. Er ist ein
Freigeborener, bisweilen guter Eltern Kind: nachdem er oder sein
Vater das Vermögen durchgebracht hat, ist er zu diesem Erwerb
gedrängt worden, der ihn von der Gnade Ubermüthiger Emporkömm-
linge (veÖTrXoüTot) abhängig macht ^). Sein Tyrann ist der Bauch ^),
ein Gefäss von wunderbarer Fassungskraft^). Ein Ungethüm, ganz
Bauch, das Auge nach allen Seiten spähend, auf den Zähnen kriechend,
das ist — nicht etwa der Krebs ,' sondern der Parasit^). Farnes
ist die Mutter des Gelasimus im Stichus, denn seit seiner Geburt ist
er nie satt gewesen. Als dankbarer Sohn trägt er zur Vergeltung
sie, die ihn doch nur 1 0 Monate lang als Frucht im Leibe getragen,
nun schon länger als 1 0 Jahre im Magen als centnerschwere Riesin ;
täglich hat er Wehen und kann doch nicht von ihr entbunden wer-
den*^). Er selbst ist, wie er vom Vater weiss, zur Zeit einer Theurung
geboren, daher sein Appetit^). Wenn mich doch Jemand wie eine
Gans mästen wollte! wünscht ein anderer'). Epikur hatte Recht, -JjSovi^
für das Gute zu erklären, aber das höchste Gut ist essen ((jiaaaadai) ,
wo eben das Gute zur ifjSovT^ hinzukommt^). Des Lebens Amme,
Hüterin der Freundschaft, Feindin des Hungers, {axpJx; exXütoü ßoüXtjiiotj;
ist die Tafel^). Nicht Feuer, nicht Eisen oder Erz hält den x6Xa8
ab zur Mahlzeit zu gehen*®), geladen oder ungeladen"). Das war ein
guter Demokrat, der xdXXÖTpia Seiuveiv erfunden hat; wer dagegen
von seinen Gästen einen Beitrag zur Mahlzeit (oofjLßoXd;) verlangt,
Terentius proponit imaginem vitae, ut in Eunucho de potioribus et bis, qui nuper
processerint , id est de adsentatoribus. animadverteoduin autem buiusmodi genus
bominum magis a Terentio lacerari'.
\) Vgl. Alkiphron III 64. Terenz Eun. 235: 'conveni bodie adveniens quen-
dam mei loci hinc atque ordinis Hominem haud inpurum, itidem patria qui ab-
ligurrierat bona'.
t) Alexis fr. 205: der Parasit spricbt.
3) Dipbilos fr. 57, Monolog eines Parasiten.
4) Com. anon. fr. 497. Ergasilus in den Captivi 187: 'cum calceatis dentibus
veniam tarnen'.
5) Plaulus Sticbus 4 55(1.
6) Stichus 4 79 f.
7) Epigenes fr. 2.
8) Hegesippos fr. 2 : der Parasit spricht.
9) Timokles fr. 4 3.
4 0) Eupolis fr. 4 48 (Chor der xoXaxe^].
4 4 ) Epicharm 'EXirf^ fr. 2 (Parasit) .
KoLAX. 35
verdient aus seinem Hause gejagt zu werden^) Wer vollends Einen
verhindert einen Schmaus zu geben, der verdient den Flüchen des
Buzyges anheimzufallen ^) . Daher ist es auch heilige Pflicht, bei einem
aoüfißoXov SsfjTvov pünktlich zu erscheinen: wer sich da verspätet,
ist im Stande auch in der Armee zu desertiren ^) . Der Gewissenhafte
hält sich schon vorher in der Nähe der Küche auf und misst sorg-
fältig die Schatten, um zu ermitteln, wie lange es noch hin ist bis
zur Essstunde ^); denn die Zeit wird ihm gar lang und er verwünscht
wohl die Einrichtung der Sonnenuhren, die sich an das Gebot des
Magens nicht kehren, welcher doch einzig und allein entscheiden
sollte-^). Er beobachtet die Vorzeichen: geht ein fetter Rauch aus der
Küche grade in die Höhe, so frohlockt er und verspricht sich eine
gute Mahlzeit; sieht er aber nur ein dünnes Wölkchen in schräger
Richtung, so denkt er sich gleich, dass es nichts Solides geben wird^).
Der Parasit vereinigt das Raffinement des Feinschmeckers (dcpo-
'^difoc,) mit dem unersättlichen Schlund des Vielfrasses (dBTjcpdYoc).
Den Küchenzettel macht er mit gleichmässiger Berücksichtigung der
Qualität und Quantität am liebsten selbst^).
Ist er erst an der Arbeit, so überlässt er vorläufig gern den
Andern das Gespräch und ruht selber nicht, bis er reinen Tisch ge-
macht und sogar den Teller durchbohrt und zum Sieb verwandelt hat^).
Die jungen Leute nennen ihn alle durch die Bank
Aus Neckerei Parasit, doch macht er sich nichts daraus.
Lautlos bei Tische schmausend sitzt der Telephos;
4) Eubulos fr. 72 (Parasit).
2) Diphilos fr. 59 (vgl. Paroemiogr. Gr. I p. 388. Haupt Hermes V 36
Bemays Monatsber. d. Berliner Akad. d. W. 1876 Oct. S. 605.
3) Amphis fr. 38.
4) Plutarch über d. Unterschied zw. (pCXo? und xoXa? p. 60 D; vgl. Eubulos
fr. H8 Menandros fr. 353 Hesychius s. vv. Sexaicoov oroixsiov. SioSsxatcoSo?
(iirtairoo^ oxia).
5) Aquilius fr. I. Bei Alkiphron HI 4 schlägt ein Parasit, der die sechste Stunde,
die der Mahlzeit, nicht erwarten kann, vor, den Sonnenzeiger entweder umzu-
stürzen oder umzustellen. Dasselbe deutet der Name 'ExtoSicoxtt]; im folgenden
Briefe an.
6) Diphilos fr. 58.
7) Plautus Persa 93 0". 4 05 fr. Capt. 4 59 ff. 909 ff. Menaechra. 209 ff. Curcul.
319 ff. 366.
8) Alexis fr. 256.
3*
36 Ribbeck,
Fragt man ihn was, so nickt er blos, dann schnauft er so,
Dass oft der Hausherr zu den Kabiren ängstlich fleht.
Den fürchterlichen Sturmwind zu beschwichtigen.
Ein Ungewitter für die Freund' ist dieser Mensch^).
Bei einem Hochzeitsschmaus zu platzen, das ist die schönste Todes-
art, die sich ein solcher denken kann^). Bisweilen machen sich die
Tischgenossen den rohen Spass, ihm gewaltsam Festes und Flüssiges
in Massen einzufüllen wie in ein Fass, so dass es entsetzliche Kata-
strophen giebt^). Sein aufgetriebener Bauch könnte Athleten als
Pauksack dienen^).
Er sitzt zu Unterst am Tisch ^), nimmt im Nothfall mit dem eng-
sten Platz vorlieb, nur ebensoviel wie ein Hund zum Liegen braucht^).
Sobald das Handwasser (vor Beginn der Mahlzeit) gereicht ist^),
gehen von Rechtswegen seine Functionen als Spassmacher (^eXcöio-
Tcoiö^, ßa)|jLoX6](oc, ridiculus homoY) an. Er hat die Pflicht, geistreich
und witzig zu sein^): to?^ 8' 6 xoXa^ udfiirptoxoc ö^aCveiv ^px'^^^ fi«3xov,
hiess es in einem parodischen Gedichte, vielleicht des Matron^").
Dazu bereitet er sich vor aus Apophthegmen- und Anekdotenbüchem ") ,
4) Alexis fr. 4 73. V. 4 vor coars sind zwei Halbverse im griechischen Text
ausgefallen.
2) Alexis fr. %%6: vgl. Phoinikides fr. 3.
3) Alkiphron III 7
4) Timokles im nüXTYjc fr. 29 :
eupTjasi; 84 täv iTTlOlTfcOV
TOüT(üv Tiva?, ot SetTTVouoiv iocpü8a)|iivoi
xaXXoTpi'y ^auTou^ avTi xtt>puxo)v XiTusiv
irapi^fovTe? aftXrjTaTaiv.
5) Plautus Stichus 489: ^scis tu med esse unum imi subselli virum'. (vgl.
493) Capt. 471 : 'nil morantur iam Lacones imi subselli viros'.
6) Stichus 620.
7) Plutarch (flko^ u. xoXa^ p. 50 C: toü? aüToXrjxoöoo? . . . xal TpaiteCiac xal
p-eta To xara jjsipo; ii8a>p axoDOfiivoo«;, a)<; n; sTtcs, dazu Wyttenbach.
8) Stichus 4 74 Capt. 470. 477.
9) Epicharmos a. 0. V. 4 f.: TTjveT 8e x^'P^^^^ ®M ^^^^ woii«> icoXov | Y^Xüixa
xal Tov btiaivT' liraivicD. Eupolis fr. 4 59, 42: oo 8£i x^pfevTa iroXXi | tov
xoXax' eu&io)^ Xi^siv, t] 'xcpipetat OüpaCe.
40) Athenaeus V p. 4 87A: vgl. Meineke anal. crit. ad Athen, p. 63. 85.
4 4) Stichus 400: 'ibo intro ad libros et discam de dictis melioribus'. 454:
Mibros inspexi: tarn confido quam potis, Meum rae obtenturum regem ridiculis
logis\ (224 : Mogos ridiculos vendo') Saturio im Persa 392 ff. zu seiner Tochter :
KoLAx. 37
die er besitzt, und die neben Badestriegel, Oelflasche, zwei Röcken,
mit denen er wechselt^), und einigen anderen noth wendigen Toiletten-
gegenständen bisweilen sein ganzer Reich thum sind^). Erzielt er
nicht die gehörige Wirkung, so muss er wenigstens passiv die Kosten
der Unterhaltung tragen, muss sich den muthwilligsten Schabernack^),
Ohrfeigen und Prügel aller Art^) gefallen lassen; Töpfe jeder Be-
stimmung fliegen ihm an den Kopf ^), was ihm gelegentlich ein Auge
kosten kann®); er wird wohl auch hinausgeworfen^), in den Block
gespannt^), und kann unter allen Umständen von Glück sagen, wenn
er leidlich heil nach Hause kommt ^).
Zur Erheiterung der Gesellschaft prügeln sich auch zwei Para-
siten gegenseitig und recitiren dazu schallende Anapästen voll atti-^
sehen Salzes^®), welche an die zwischen dem Paphlagonier und dem
Wursthändler in den Rittern gewechselten Gomplimente erinnert haben
mögen. Oder der Parasit tanzt den x6pSaS; wenn aber alle beim
Zechen eingeschlafen sind, nimmt er wenigstens eine Serviette, falls
Mibrorum ecciUum ego habeo plenum soracum. Si hoc adcurassis lepide, quoi
rei operam damus, Dabuntur dotis tibi inde sescenti logi, Atque Atticiomnes:
nullum Siculum acceperis'. Litterarische Bildung verräth auch das Gitat aus einer
Tragödie im Curculio 594 ff.
1) Eupolis fr. 159, 5 f.
i) Plautus Persa ISO ff. Stichus 24 8 ff.
3) Alkiphron III 6 45. 48. 54. 64. 66. 68. Noch rohere Spässe als in
Athen wurden mit den Parasiten im Peloponnes, in Sparta, Argos, Korinlh ge-
trieben: Alkiphron III 54. Ueber die Knickerei der Korinthier klagt der 60. Brief.
III 74 (s. Chairephon}: Stossseufzer eines Parasiten, dass nicht nur der Herr und
die Gäste, sondern auch die Knechte und Mägde ihren Muthwiilen an ihm auslassen.
4) Capt. 88. 472 (nil morantur iam) ' plagipatidas , quibus simt verba sine
penu et pecunia*. Entschädigungen für Körperverletzungen des Parasiten setzt die.
lex convivalis am Schluss des Querolus fest.
5) Aeschylus fr. 4 94. Plautus Capt. 89. Gurcul. 394ff. Pers. 60.
6) Curculio 394 ff.
7) Plutarch, Unterschied zwischen fCXo; und xoXaE p. 50 D.
8) Eupolis fr. 4 59, 43: oI8a 8' 'Axiaxop' aoTO tov ortYliaxCav iraftovra* |
(3xa>(ip.a ifÄp eilt' aaeX^ig, ett' aotov b iroi; dopaCe | ttayaYcov l^ovra xXoibv
icapiBoixev Oivet.
9) Der Syrakusanische Parasit, der iroXXa xara^a^uiv, iroXX* ip-Ttwov ohne
Diener (vgl. Eupolis fr. 4 59, 3 f.) und Leuchte durch die Finsterniss heimtorkelt
und dabei den Schaarwächtem (irepdroXoi) in die Hände fällt^ dankt den Göttern,
wenn er mit blossen Prügeln davon kommt : Epicharm 'CXiu(c.
40) Alkiphron III 43.
38 RiMECK.
die Silbei^er^lhe schon in Sicherheit gebfachl sein sollten, unter die
Achsel und macht sich ans dem Staube'^.
Von der Laone seines Herrn muss er sich Alles gefallen lassen^.
Wird er geschimpft, so muss er es sein, der am herzlichsten über
sich lacht'^. Alle Vorwürfe und Schmähungen, mit denen ihn jener
im Zorn tractirt, muss er von vornherein zugeben, jedem Streit und
G>nflict mit aalglatter Geschmeidigkeit ausweichen. Setzt man ihm
ein verdorbenes Stück Fisch von gestern vor, so darf er sich nicht
ärgern *). Zurechtweisungen, welche er sich durch vorschnelles irpo^
^dpiv Xejeiv zuzieht, hat er mit Dank hinzunehmen^).
Leider unterwerfen sich auch Gelehrte und Philosophen einer
so schnöden, freiwilligen Knechtschaft (edeXoSouXeta , SooXoicpeiwSia) .
Sie eifern gegen die xokaxzia und übertreffen einen Gnalhonides oder
Struthias darin. Um sich durch die Aufwartung am Moi^n [salulatio]
die Einladung zu Tisch zu verdienen, stebn die togati in Rom um
MittemachC auf, machen die Runde durch die Stadt, lassen sich von
den Dienern der Reichen verächtlich behandeln, müssen es als hohe
Gunst des Herrn ansehn, wenn ihnen gestattet wird, Brust oder Hand
desselben zu küssen; und was müssen sie dann bei Tafel herunter-
schlucken von schlechten Speisen und Getränken, von faden Redens-
arten, von Demütbigungen aller Art! Mit Unrecht schimpfen sie
I) Alkiphron III 46. Stibitzereien des Parasiten: 47. 53. Vgl. Eupolis fr.
16$, Bekanntlich gehörte dergleichen auch im Kreise des Catull zu den nicht
ungewöhnlichen Scherzen: c. \t. 25.
t) Vgl. Antiphanes fr. 81. 8 f. Menander ine. fab. 586.
3) Plutarch über d. rechte Art zu hören 16 p. 46 G. Vgl. Lukian Timon
45, 159: ifuitÄv airavrcov ßopioTate xal avOpcuTCcov teiTpiicTOTars. — aet 91X0-
9xai(Aa>v oi y^-
4) Axionikos fr. 6, 9 :
otov ^(Aepu Tt? ioTi xal [t.a'/exai Tt jiof
|ieTeßaXo)jL7jV irpoc toutov, osa t' sxprpii yje,
xaxco^ o(AoXoYO)v eu&iu)^ ou ßXairrofiai.
irovTjpo? ü)V T6 X9'^i^^^ 8tva( <fr^oi ti?,
iYX(i>p.iaCü)V TOüTov airiXaßov X*P^^-
IfXauxou ßsßpQDXco^ T^ixa/o; k(fboy Tr^pLepov
aupiov ScoXov toüt' 85(107 oox aj^Öojwti.
5) Vgl. die Geschichte, welche Tiniaeus bei Athen. VI p. 250 0 von Demokles^
dem xoXaS des jüngeren Dionysios, und Hegesandros ebenda p. 248 E von Klei>
sophos, dem xoXa^ des Makedonischen Philippos, erzählt.
KoLAx. 39
beim Nachhausegehen über die (xtxpoXoYta und die ößpic des Wirthes :
ihre eigene Kriecherei ist Schuld an dem Hochmuth desselben, sie
sind es, welche den Gelehrtenstand in Verruf bringen*).
Trübsehg ist der Anblick eines unversorgten Parasiten, der keine
Einladung auf dem Markt erhascht hat und nicht wagen darf, unge-
laden zu kommen, was freilich der wahre Meister seines Fachs ohne
Bedenken thut^). Vergebens ist er diesem und jenem irXoüxaS nach-
gegangen, hat alle seine Künste des Witzes^) und der Schmeichelei
versucht*): der hartherzige hat ihn mit leeren Ausflüchten, er speise
selbst auswärts^), habe keinen Platz mehr am Tisch®), wohl gar mit
Hohn^ abgefertigt. Nur den Schadenfrohen kann es belustigen zu
sehen, wie der verwöhnte, zwischen den reichen Essvorräthen um-
herirrend, kaum 4 j^aXxoa^ in der Tasche, nach dem Preise aller
Delicatessen der vornehmen Fischhändler fragt und endlich, weil alles
zu theuer ist, zu den elenden (Ae|ißpdSe(; seine Zuflucht nimmt ^).
Mit hungrigem Magen kehrt er heim zu seiner schmalen Kost^), oder
geht müssig spazieren, und muss sich den Spitznamen xeaxpeuc
gefallen lassen*^). Es bleibt ihm nichts übrig, als melancholische
Betrachtungen über die schlechten Zeiten, die Entartung der Sitten,
den Verfall der Gastlichkeit**), den Egoismus des |iov6atToi;, der sich
selbst um die beste Lebensfreude bringt*^), die Unsterblichkeit des
Hungers*^) anzustellen. Ist der ständige Pfleger in den Ferien aufs
1) Lukian NigriDos 22, 60, über Miethlinge 40, 704 , Ausreisser 4 9, 375.
Stelleo aus luvenal und Martial bei Friedländer Sitteogesch. I^ S. 338 f.
2) Epicharmos'EXitf?: aovSeiicvio) xq) kmxi, xaX^aai 8sT [xovov | xal T(p ya
^T(/\ XcovTi^ xcouSiv 8&i xaXelv.
3) Plautus Capt. 478 fr.
4) Vgl. Eupolis fr. 4 59, 6 ff. Petronius c. 3. Gelasimus im Stich us 470 ff.
kommt sogar mit einer Einladung zuvor, um so die Gastfreundschaft seines rex
hervorzulocken.
5] Plautus Stichus 4 90 fr. 596 fr.
6) Stichus 487. 592.
7) Stichus 64 7 fr. Eine MystiBcation bei Alkiphron III 5.
8) Timokles fr. 4 4 .
9) Pomponius V. 80 f.
4 0) Ameipsias fr. 4. Alexis fr. 254. Anaxandrides fr. 34, 8. Eubulos fr.
68. Diphilos fr. 52. Euphron fr. 2. Zenobius paroem. IV 52. S. unten,
4 4] Stichus 4 83fr. Capt. 469 ff.
4^) Alexis fr. 266.
4 3) Alexis fr. 4 56. Antiphanes fr. 86.
44) RnsEiiK.
Land gegangen, verreist oder in Kriegs^erangenschafl. so härmt sich
der verwaiste xikaz ab in aufrichtigster Sehnsucht nach dem ab-
wesenden Beschützer' . Wenn alle Hülfsqnellen versagen oder wenn
der vielgemisshandelte endlich aller Demüthigungen satt ist, so denkt
er als letzten Trost an die Halsschlim^e, die allem Kununer ein Ende
machen wird^;.
Aber welcher Jubel, wenn dann der geliebte rer, sein Leben,
sein Genius, seine Freude, sein gnädiger Gott [deu^ praesens wohl-
t>ehalten und wohlhabend wiederkehrt ^ , vorausgesetzt dass nicht
etwa ein mitgebrachter Rival oder mehrere ihn aus dem früheren
Besitze zu verdrängen drohen'^! Er dünkt sich nicht mehr Parasit,
sondern ^regum rex regalior'"^^, und gebehrdet sich, wenn er etwa
selbst die frohe Botschall zu überbringen hat, wie ein ser>'us currens,
der durch die Strassen fegt und Alles, was ihm in den Weg kommt,
umrennen möchte^'}.
Ein classisches Exemplar des behäbigen, wohl situirten xoXa^
ist Gnatho im Eunuchus: 'qui color nitor vestitus, quae habitudo
corporis! onmia habeo, neque quicquam habeo: nil quom est, nil
defit tamen' rühmt er schmunzelnd (242 f.). Wohlgenährt, von ange-
nehmer Gesichtsfarbe, weder schwarz wie ein Sciav noch weiss wie
4) Platitus Capt. 133 fr.
2; Sticbus 639: 'potione iuncea onerabo gulam\ Alkipbron HI 6. 49. Einer
bei Alkiphron III 7 will in den Peiraieiis gebn und sich als Lastträger verdingen,
ein andrer III 34 will Tagelöhner auf dem Lande werden. Ein dritter III 70 bat
es bei einem Bauer versucht, aber die harte Arbeit bat er nicht vertragen. Er
ist in die Stadt zurückgekehrt, aber alle Thüren sind dem Verbauerten verschlossen
geblieben: so hat ihn der Hunger einer Megarischen Räuberbande in die Arme
getrieben. Ein vierter, III 71, geht unter die Schauspieler, aber es wird ihm
schwer sich so spät in die Kunst einzustudieren und sein Erfolg ist sehr zweifel-
haft. Bei dem dritten Fall (III 70) erinnert man sich des Verbotes in Cato*s Buch
de re rustica 5, 4: (vilicus) 'parasitum nequem habeat*.
3) Sticbus 372 fr. 372 ist zu vertheilen : Pinacivm. tuum virum Gelasimvs.
et vitam meam. i59(r. 582 0*. Capt. 768 ff. Freude über einen freigebigeu und
gastfreien Kaufmann, der mit grossen Reichthümern zu Schiff aus Istrien gekommen
ist: Alkiphron III 65.
4j Sticbus 388 ff.
5j Capt. 825.
6} Capt. 778 ff. 790 ff. Für solche Fälle passt was in dem commentum de
comoedia p. 4 4, 23 R. allgemein angegeben wird: 'parasiti cum intortis paliiis
veniunt\
KOLAX. 4 1
ein Frauenzimmer, lebhaft, mit kühnem, feurigem Blick, das Bild
eines frischen Lebemannes^). Aber auch Phormio, welcher vom
adsentator nichts an sich hat, befindet sich in seiner harmlosen
Stellung als ständiger Tischgast des jungen Herrn ganz wohl und
erkennt die Güte desselben dankbar an, wie er ja auch durch die
Thal beweist, 338 ff.:
fmmo enim nemo satis pro merito gratiam regi refert.
t6n asumbolum venire unctum atque lautum e balineis,
ötiosum ab animo, quem ille et cura et sumptu absumitur!
dum tibi fit quod placeat, ille ringitur: tu rideas;
prior bibas, prior decumbas. cena dubia adponitur . . .
Geta quid istuc verbist? Phormio ubi tu dubites quid sumas
potissimum.
haöc quem rationem ineas quam sint suavia et quam cara ßint,
6a qui praebet, non tu hunc habeas plane praesentem deum?
Nach allgemeiner Regel, wie es scheint, ist der xoXa^ noch ein junger
lediger Mann, da Niemand an einem greisen Possenreisser Geschmack
findet^). Nur ausnahmsweise ist er über 30 Jahre alt') und verheira-
thet^). Ausdrücklich führt Pollux die Maske des xöXa^ und des uapaaiTo;
unter denen der veavCaxoi auf. Beide sind von dunkler Hautfarbe,
wie sie die Palästra mit sich bringt, gebogener Nase, wohlgepflegt
und gelenkig. Der Parasit untei'scheidet sich durch eingedrückte
Ohren (in Folge der vielen Ohrfeigen, wie ein Athlet) und lustigeren
Ausdruck, der x6Xa8 durch emporgestreckte Augenbrauen, was ihm
ein boshafteres Ansehen giebt^). Aristoteles erkennt ihn an der
glatten Stirn, dem griosenden oder auch unbeweglichen Gesichts-
ausdruck, wie ihn schönthuende Hunde haben, den nach oben ge-
\) Lukian über den Parasiten 44 p. 864.
i) Alexis fr. 255: xoXaxoc 8e ß(o(; (iixpov xp<>vov av&sT. | ouSelc yap x<^^P^^
iroXioxpoxacpcp irapaa(T({>. Adulescens heisst der Parasit in der Regel, z. B.
in Plautus' Henaechm. 494. 498.
3] Menaechm. 446.
4) Saturio im Persa.
5) Onom. IV 4 48: xoXaS 88 xal irapaairo^ {liXavs^, ou {jli^v eEo) TraXaCcrrpaC;
iic('fpuitot, euira&eT^' T(j> ik itapaa{T(p (loXXov xarittys Ta oyra, xal faiSpoTspo^
iariv, waicep b x6Xa£ avaTiraxai xaxoTj&saTepcDg ra? ocppu?. Vgl. die Terracotten
der Sammlung Castellani in The illustrated London news Nov. tt, 1873. — 492.
42 RiBBBGK,
richteten Pupillen^]. Hündisch sind auch seine Bewegungen: er duckt
sich zur Erde, und der ganze Körper erscheint wie zerbrochen^).
Die Darstellung des Parasiten veranschaulicht eine interessante Anek-
dote^). Ambivius, der die Rolle des Phormio zuerst gespielt habe,
sei berauscht aufgetreten, und so habe er gleich die ersten -Worte
gesprochen, aufstossend vor Sattigkeit, die Lippen leckend wie ein
betrunkener^), das Ohr mit dem kleinen Finger reibend. Terenz
aber, der anfangs unwillig über den Zustand seines Schauspielers
gewesen sei, habe ausgerufen, gerade so habe er sich den Parasiten
gedacht, als er die Rolle geschrieben habe, und sei ganz mit ihm
ausgesöhnt gewesen.
<) Aristoteles Physiogn. p. 84 4 b, 36: ol 8' ateve; e3fovTe<; (to jiirioTrov),
xoXaxec* avacpipexai iicl to yIyvojiävov ica&oc i8ot 8' av Tic i'ct tojv xuvcuv,
oTi ol xüve?, iiT£i8av dcoTieocoat, x^^^^^ '^^ pixüMrov sj^oooiv. Apuleius Physiogn.
in Val. Rose^s anecdota Graeca et Graecolatina I p. 4 54 f.: Mdem Aristoteles dicit
eos qui supercilia obducunt, pupillas autem superius tendunt atque omni vultu
summisso sunt^ esse qaidem inhoneste blandos et referri ad canes. idein Aristoteles
dicit eosy qui vultu omni tranquillo, pari modo blandos esse: et hos ad canes
referri*.
2] Apuleius Physiognom. a. 0. p. 4 48, 43: ^qui autem summittunt sese
atque omne corpus infringunt, inhoneste bland! sunt, quos Graeci xoXaxac vocant :
refertur hoc ad canes*.
3) Donat zu Phormio III 4 (US), 4 : 'adhuc narratur fabula de Terentio et
Ambivio ebrio, qui acturus hanc fabulam oscitans temulenter atque aurem minimo
scalpens digitulo hos Terentio pronuntiavit versus, quibus auditis exclamaverit poeta
se taiem, cum scriberet, cogitasse parasitum, et ex indignatione, quod eum satu-
rum potumque deprehenderat, delenitus statim sit*. Jenes 'aurem scalpere* wird
schwerlich zu unterscheiden sein von dem gestus der inpudici, welche 'dlgito
scalpunt uno caput* (luvenal 9, 4 33 nach dem berühmten Epigramm des Calvus
auf Pompeius: vgl. Seneca epist. 52, 4 2). Ferner sind zu vergleichen ol Tot ma
irrepoT^ xvtt>{A£Voi (Lukian über d. Tanz 2 p. 266, über Verleumdung 24 p. 452),
welche sich durch diesen Kitzel Wollust erregen.
4) Donat zu V. 34 5: 'haec et labia lingens, ut ebrius, et ructans, utpote
satur, pronuntiavit actor bonus'. Diese Bemerkung erinnert an die bekannte Anek-
dote des Hermippos bei Athen. I p. 2 4B, Theophrast habe einmal, um den o^o-
cpa^o^ darzustellen, die Lippen mit der Zunge beleckt : xa( icots o^ocpa^ov p.tp«o-
(xevov i^CpavTa tiqv '^kmooa'^ irepiXeC^^eiv toI X^^^'^l* Vielleicht ist bei Donat nach
Mingens* eine Lücke anzunehmen und ein besonderer gestus für den ebrius aus-
gefallen. Weitere interessante Bemerkungen über Mimik und Vortrag des Parasiten
zu III 4 (II 2), 7. 24. III 2 (II 3), 4 4. 22. V 6, 4. 9. 7, 42. 44. 57. 77.
88. 8, 26; über den eigenthümlichen Parasitenstil zu III I (II 2), 4 3. 4 6. 22.
24. 25. 28. V 8, 64.
KoLAX. 43
Der vornehmere x6Xa^, zumal der militärische, erfreut sich
einer gesicherteren Stellung: er ist der unzertrennliche Begleiter seines
§eoir6T7]^. So rühmt sich der Parasit des Cleomachus in den Bacchides
Y. 601: Mllius sum integumentum corporis'^). Die niedrige Rolle
des verlachten und gemisshandelten Spassmachers ist ein überwun-
dener Standpunkt für ihn. Er ist es, der sich innerlich über den
Herrn lustig macht, äusserlich allerdings als unterwür6ger Freund
und Vertrauter durch äusserste Schmiegsamkeit und Fügsamkeit seiner
Eitelkeit fröhnt^). Unter allen Bedingungen muss er ihm irpbc X^P^^
sprechen und handeln^). Allem, was der Herr sagt, stimmt er zu,
zollt er Beifall und Bewunderung^). Dem Geschwätzigen leiht er ein
gefälliges Ohr^). Zu den Tischreden des Ungebildeten applaudirt er
mit einem Geschrei wie ein durstiger Frosch®). Poetische Vorträge
des Reichen bewundert er in immer neuen Wendungen^); singt der-
selbe, so ruft er bravo, wenn auch alle übrigen schweigen. Macht
der Reiche einen Witz und sei es auch der frostigste oder abge-
droschenste, so weiss sich der x6Xa^ vor Lachen nicht zu halten^).
1) Auch die Charakteristik bei Theophrast c. 2 setzt dies voraus.
2) Terenz Eunuchus 246: 'olim isti fuit generi quondam quaestus apud saeclimi
priüs : Hoc novomst aucupium : ego adeo hanc primus iaveni viam. £st genus
homiDum, qui esse primos se omnium rerum volunt, Nee sunt: hos consector,
hisce ego oon paro me ut rideant, Sed eis ultro adrideo et eorum ingenia admiror
simul*. Zahlreiche Winke über die Charakteristik des Goatho sind im Commentar
des Donat eingestreut.
3] Vgl. Plutarch Unterschied zw. cpiXo^ und xoXaS p. 55 A: tou 84 xoXaxoc
toot' epifov iarl xal xiXo?, asf tiva icai8(av tj itpaEiv ij Xoifov icp* 7)8ov^ xal
icpoc '^8ov73V o^OTcoisTv xal xapuxeosiv. Nikolaos (IV 570 M.) V. 36: irpo< X^P^^
o(i(Xet TOU TpicpovTO^ Itc' 6Xi&p(p. Euripides fr. 364, 4 8 ff. Schon der gewöhn-
liche Parasit muss to ofJLiXiQTixov^ to aTci){jiuXov^ to rfi6 haben: Alkiphron III 44, 2.
4) Eunuchus 254 : 'quidquid dicunt laude: id rursum si negant, laado id
quoque. Negat quis, nego; ait^ aio; postremo imperavi egomet mihi Omnia ad-
sentari: is quaestus nunc est multo uberrumus*. Vgl. 44 6f. Menaechm. 4 62:
Men. sed quid ais? Pen. egone? id enim quod tu vis, id aio atque id nego. Vgl.
mil. gl. 35. Eupolis fr. 4 59, 9: xav xi tiyji Xi^oiv o icXootaS, icavo toüt'
iicaivo^ , Kai xaTairXii^TTOfAai Soxwv toIoi Xo^otai j^afpsiv. Horaz serm. II 5,
96-r98. Vgl. die unmuthige Aeusserung des Caelius: ^dic aliquid contra, ut duo
simus' (Seneca de ira III 8, 5)^.
5) Horaz serm. II 5, 95: 'aurem substringe loquaci'.
6) Lukian An den Ungebildeten 20, 4 4 5. Petronius c. 40. 48.
7) Lukian Miethlinge 35 p. 694. Vgl. An den Ungebildeten 7, 4 07.
8) Menandros fr. 286 : y^Xoiti icpo? xov KuTCpiov dxOavoojjievo^. Terenz Eun.
44 Ribbeck,
Cheirisophos , der x6Xa^ des Dionysios, sieht den Tyrannen mit
einigen Bekannten lachen, steht zwar zu weit ab, um ihr Gespräch
hören zu können, lacht aber doch mit, und wie ihn Dionysios fragt,
warum er lache, ohne doch zu wissen um was es sich bandle, er-
widert er: ich bin überzeugt, dass was ihr geredet habt spasshafl
war*). Oeflfentliche Vorlesungen des Gönners unterbricht der Ver-
ehrer fortwährend durch ungestümes Beifallsrufen, wobei er auf-
steht^), wenn auch alle übrigen Zuhörer lachen über den elenden
Inhalt und den schlechten Vortragt). Er bittet sich das Manuscript
aus zu häuslichem Studium^). Dieselbe Geschichte hört er unver-
drossen zum tausendsten Mal wieder und versichert, er kenne sie
noch nicht^). Grossthaten, deren sich der diXaCcov rühmt, erregen
immer von Neuem sein Staunen, und mit kecker Erfindung überbietet
er jene Rodomontaden durch neue Wunder, die er ihm ironisch
unterschiebt®).
Als Geschichtschreiber') füllen solche Leute ihre Werke mit abge-
schmackten Lügen zur Verherrlichung ihres Helden. So beschrieb Ari-
stobulos einen Zweikampf des Alexandres und des Porös im Stil einer
homerischen dptaxeCa, und las jenem die Stelle vor. Alexandros
nahm ihm das Buch fort, warf es ins Wasser und sagte: so sollte
man es auch mit dir machen, der du solche Zweikämpfe für mich
bestehst und Elephanten mit einem Spiess tödtest^). Ein anderer
verglich den griechischen Befehlshaber mit Achill, den König der
426 ff. 497. Theophr. t p. ^23, 2< P. : xal diraivioat 6e cfSovTos xal imoTjiATjva-
a&ai 8i, 8? irauaerai, 'OpOto? (vgl. Lukian Timon 47, \60) ' oxoKJ/avTi tj;u)^pd);
dTciYeXaaai , to xe ijjLaTtov cSaai e?; to ardp-a ax; 8tq oü Suvafievoc xaxaaj^siv tov
7^Xü)Ta.
I) Hegesandros bei Athenaeos VI p. 249 E.
2] Plutarch über die rechte Art zu hören p. 44 D: vgl. Quintilian 11 2, 9 ff.
u. a. Horaz a. p. 420 ff. Petronius 4 0 p. 4 4, 3 B.
3) Lukian An den Ungebildeten 7, 4 07.
4) luvenal III 44 : Mibrum, Si malus est, nequeo laudare et poscere'.
5j Terenz Eunuchus 424 f.
6) Plautus Miles gl. I 4. Vgl. Nikolaos (IV 579 M.) in den Anweisungen für
den xoXaS V. 36: Tzapaxarzs'zal xi«; xal icoiet irdvta? vexpoo? Asdrvcp* owoir^ toü-
Tov 67uo|j.üXT7]p(aa(; EJ? tt^v xpaTreCav xal au n^v X^^^^ acpSi;.
7) Lukian über Geschichtschreibung 4 2, 4 7.
8) Vgl. Artolrogus im miles glor. 25 : *\e\ elephanto in India Quo pacto
pugno praefregisti bracchium*.
KoLAX. 45
Perser mit Thersites *). Ein Architekt erbot sich den Athos zu einem
Bild von Alexandros zu machen und zwar zu einem ähnlichen : dieser
erkannte ihn als x6Xa^ und liess ihn fallen^).
Unerschöpflich ist das Füllhorn der Schmeicheleien, von den
directen faustdicken an, wie sie für den dickhäutigen dXaCci>v passen,
bis zu den raffinirtesten und verstecktesten für feinere Naturen^). Eine
gewisse naive Derbheit, die thut als könne sie ihrer Bewunderung nun
einmal keine Zügel anlegen, wirkt oft am meisten^). Die drastischen
Hyperbeln der x6Xaxe<; des Eupolis fr. 1 63, die wir in den Elspaai des
vermeintlichen Pherekrates fr. 131 wieder aufgenotnmen und verarbeitet
fanden, sind noch weiter variirt in der 'EirtxXYjpoc des Diodoros fr. 2, 34 ff. :
Too^. Se xoXaxeueiv Suva[ievou(;
xal TüivT iiraiveiv, oT(; liteiS*)] irpoaepü^foi
^acpavt3a(; "^ oaTupöv a(Xoüpov xaTacpGtYcÄv,
Xa xal ^i8' Icpaaav aoibv i^ptoTTjxevau
iiztl S' diroirapSoi (letd xivoc xaTaxe(|ievo^
TOüTCDV, TcpoodYCüv T^jv ^iv' sSeiT aoToö (ppdaat,
Tcodev t6 du{jL£a|xa toüto Xafißavet*).
4) Lukian a. 0. U, 20. Vgl. mil. glor. 64. Alazon S. 3 4 ff. Man sieht,
die Schmeicheleien der xoXaxsc und die Prahlereien der aXaCovec in der attisch-
römischen Komödie sind zum guten Theil unmittelbar aus dem Leben gegriffen
und erinnerten die Zeitgenossen Menanders an handgreifliche Beispiele der Gegenwart.
2) Lukian a. 0. 4 2, 4 7; für die Bilder 9, 4 89.
3) Plutarch über den Unterschied zw. cp(Xoc und xoXaS p. 57 A: 8eivo<; ü>v
cpoXaTTsa&at to uTroirrov, av piv soicapücpou xivo? aifpotxoo XaßYjTai <pop(v7jv iraj^eiav
cpipovTo?, oXcp T(p jiuxTTjpt ^(p^Tat , xaddEirep o Stpoü&fa? IfiirepiTuaTcov xcp Bfavxi
xal xaTOp)(ou{xevo; t% avata&Y]o(a<; aoTOu tot? iTuafvot?' »AXeEcfv8poü nXiov too
ßaaiXiox; iriTrcoxai;« (Menand. fr. 285) xal (Men. fr. 286). toü^ hk xofi^oTipoo?
opcÜv dvtaofta fxaXicrra irpooij^ovxa? aotoTc xal cpuXaTTojjivous to x*"P^^^ tooto
xal Tov T01COV oox alt' eodsCag iirayst tov siraivov, aXX' aitaYaiföiv iropp«) xoxXoo-
tai xtX.
i) Seneca nat. qu. lY praef. 5 : ' alius adulatione clam uletur, parce, alius
ex aperto, palam, rusticitate simulata, quasi siraplicitas illa ars non sit. Plancus,
artifex ante Yilleium maximus, aiebat non esse occulte nee ex dissimulato blandi-
endum, Perit, inquit, procari, si latet'.
5) Vgl. Lukian für die Bilder 20 p. 504 : Kuvaidoc o AYjfiTjTpCoo
too IIoXiopxYjTOü xoXa£ aicavicov aux^ täv itpo? n^v xoXaxe{av .xatavaX«)-
pivCDV ilClQVSl IWCO ßTfJX^C ävOJ^XoOjJLSVOV TOV A7][X-)^TpiOV OTl i[i|XsXtt>( ^XP^H'"'
icT£TO. luvenal III 4 06: Maudare paratuS; Si bene ructavit, si rectum minxit
amicus, Si truUa inverso crepitum dedit aurea fundo'. Athenaeus VI p. 249 F.
46 RiBBEGK,
Der x6XaS ist bereit, Thersites für den schönsten, Nestor für den
jüngsten aller Griechen vor Troja zu erklären, den taubstummen
Sohn des Krösus für feinhöriger als Melampus, den Phineus für
scharfsichtiger als Lynkeus^).
Die meisten Könige, sagt Plutarch^), heissen Apollon, wenn sie
nur durch die Nase singen, Dionysos, wenn sie betrunken sind,
Herakles, wenn sie ringen. Die x6Xaxe(; sind durch ihre Lobreden
Schuld, dass Ptolemaios öffentlich als Flötenbläser und Nero als tra-
gischer Schauspieler aufgetreten ist: ^ nihil est quod credere de se
Non possit, cum laudatur dis aequa potestas'^). Den Zorn des jün-
geren Dionysios beschwichtigte sein x6Xa^ Demokies, den seine Mit-
gesandten des Verrathes bei dem Tyrannen angeschuldigt hatten,
durch das Vorgeben, er habe sich nur mit seinen Genossen entzweit,
weil jene nach Tische immer Lieder des Phrynichos, Stesichoros,
Pindar hätten singen wollen, er hingegen die des Dionysios; und
dessen zum Beweise erklärte er sich bereit, sie alle der Reihe nach
vorzusingen, während jene nicht einmal die Zahl wüssten. Dann
bat er um die Gnade, der Herrscher möge ihn doch seinen neuesten
Päan auf den Asklepios, von dem er gehört habe, durch einen Kun-
digen lehren lassen^).
Jeden physischen oder moralischen Fehler des Gönners be-
schönigt der x6Xa5 mit dem Namen des begriffsverwandten Vorzuges,
wie der verblendete oder gleichfalls schmeichlerische Liebhaber alle
Mängel im Bilde seiner oder seines Geliebten euphemistisch in Reize
umwandelt^). So nennt jener Lüderlichkeit (dafoxCa) seines Herrn
von den AtovuooxoXaxe^ : aicoirruovro^ hk tou Aiovu3(ou iroXXaxi^ izapziy^oy xa
irpQocüTca xaTairruea&at • xal airoXet^ovrec tov o(aXov In 84 tov Ijastov aoTou
{liXiToc IXsYov elvai ^Xüxurspov.
1) Lukian für die Bilder 89 p. 499.
%) Plutarch a. 0. p. 56 f.
3) luvenal IV 70 f. Die Vergötterung der Fürsten.
4) Timaeus bei Athenaeus VI p. 250.
5] Piaton Staat V 19 p. ilie (ausgeschrieben von Aristainetos epist I 18,
citirt von Plutarch a. 0. p. 56 D): o [jiv, ort oijjlos, iTcf^aptc xXTjftsU dicaive-
{hjoexai 09' üjJLoiv, too SstoYpoirov ßaoiXixov ^ate elvat. tov 8ä 61^ 8ia
{jiiaou tootcdv l{j.{jL8TpoTaTa Ix^^^' p.iXavac 8i av8ptxou^ {8etV9 Xeuxou^ 8s
&ecov 7rat8ag eivai* (leXi^Xcopoo^ 88 xal Toovopia oiei tivoc aXXou elvai
iroCr^fta elvai r Ipaoroo oiioxopiCofiivoo ts xal eu/spcoc (pipovTO? ti^v cojfpo'njTa,
KoLAX. 47
Genialität (eXeoOepiöry]^), Feigheit Vorsicht (dacpdXeta), unbesonnenes
Dreinfahren (IfiicXirjSfa) Raschheit (65öt7]<;), Knauserei (ixixpoXoffa)
Maassbaltung (ooicppoouvY]) ; wenn Einer verbuhlt ist (epcoxixdc), hat er
iay iizl u>pcf -J; Bei Theokrit X 87 singt der Schnitter: Bo|jLßuxa j^apfsooa, Supav
xoiX&vt( To iravxe?, {a](vav aXioxaoatov, 1^*"* ^^ H'^^^^-H'®X(jfX«)pov. VI 48:
72 ifap IpcoTi IloXXaxic, m noXu<pa(jL£, Ta (i.i!] xaXa xaXa Tricpavrai. Lucretius
IV H60ff.:
nigra melichrus est, inmunda et fetida a cos mos,
caesia Palladium, nervosa et lignea d o r c a s ,
parvula, pumilio chariton mia, tota merum sal,
magna atque immanis cataplexis plenaque honoris,
balba loqui non quit, traulizi; muta pudecis est;
at flagrans odiosa loquacula Lampadium fit;
ischnon eromenion tum ßt, cum vivere non quit
prae macie; rhadine verost iam mortua tussi.
at tumida et mammosa Ceres est ipsa ab laccho,
simula Silena ac satnrast, labeosa philema.
Ovid a. a. II 657(1. : ^nominibus moUire licet mala, fusca vocetur, Nigrior Illyrica
cui pice sanguis erit; Si straba, sit Veneris similis; si rava, Minervae;
Sitgracilis, macie quae male viva sua est. Die habilem quaecumque brevis,
quaeturgida, plenam, Et lateat Vitium proximitate boni*. Anders ist das Thema
bei Horaz sat. 13, 43 gewendet (vermuthlich nach einer griechischen Quelle
Tzepl fiXia^):
at pater ut gnati, sie nos debemus, amici
si quod Sit Vitium, non fastidire: strabonem
adpellat pactum pater, et pull um, male parvus
sicui filius est, ut abortivus fuit ollm
Sisyphus; hunc varum distortis crinibus, illum
balbutit Scaurum pravis fultum male talis.
parcius hie vivit, frugi dicatur. ineptus
et iactantior hie paullost, concinnus amicis
postulet ut videatur. at est truculentior atque
plus aequo liber, Simplex fortisque habeatur.
caldior est, acres inter numeretur. opinor,
haec res et iungit iunctos et servat amicos.
luvenal III 86: 'quid quod adulandi gens prudentissima laudat Sermonem indocti,
faciem deformis amici. Et longum invalid! coUum cervicibus aequat Herculis
Antaeum procul a tellure tenentis, Miratur vocem angustam' u. s. w. Plumper ist
die Umwandlung eines Gebrechens in das grade Gegentheil, wovon luvenal VIII
32: 'nanum cuiusdam Atlanta vocamus, Aethiopem Cycnum, pravam extortamque
puellam Europen, canibus pigris scabieque vetusta Levibus et siccae lambentibus
ora lucemae Nomen erit tigris pardus leo, si quid adhuc est Quod fremat in terris
violentius' u. s. w.
48 RiBBEGK,
ein warmes Herz und liebt Geselligkeit {^ikooTop-^o^ und ^iXoaüvVjdT]^),
der Zornige und Hochmüthige heisst männlich (dvSpeibc), der Würde-
lose (eüxeXijc xai Ta'jceiv6(;) menschenfreundlich (cpiXavdpcoiroc). So
nannten die x6Xaxe<; die Grausamkeit eines Dionysios von Sicilien
und eines Phalaris Strenge (ixtaoicovYjpfa), die Orgien des Ptolemaios
Frömmigkeit, die zügellosen Ausschweifungen des Antonius heitere
Feste ^). Vorzüge oder Interessen, welche dem xpecpcov fehlen, wer-
den herabgesetzt, verspottet, in Fehler oder Thorheiten umgewandelt,
so dass 'gerade das Gegentheil davon lobenswürdig erscheint. Sitten-
losen Menschen gegenüber wird acocppooüVTj als Philisterei (dYpoix(a)
verhöhnt, vor Gewaltthätigen gilt Gerechtigkeit und Bescheidenheit
für Verzagtheit und Mangel an Energie (dToX|jL(a und dppuioxia irpb;
xb Tcpaxxetv). Verkehrt der x6Xa5 mit Leuten, die kein Interesse am
öffentlichen Leben haben, denen es an Gemeinsinn fehlt, so nennen
sie Betheiligung an Staatsgeschäften (iroXixeCa) Sichbefassen mit
fremden Angelegenheiten (dXXoxpioirpaYia eicCirovo^), erklären berech-
tigtes Streben sich hervorzuthun ((piXoxt|iia) für hohles Streberthum
(xevo8oS(a axapTco^). Bei unzüchtigen Weibern macht man sich beliebt,
wenn man die ehrbaren Ehefrauen unliebenswürdig (dvacppoSixouc)
und unmanierlich (dYpo(xoo(;) schilt 2).
Ist der x6XaE ein Maler und hat ein Porträt anzufertigen, so
macht er es ganz wie der Besteller es haben will: er verkleinert
die Nase, macht die Augen schwärzer und was sonst beliebt wird^j.
Als Beschauer findet er ein so verschönertes Bild natürlich ähnlich^).
Als Dichter steht er nicht an, eine Frau von kleiner Figur mit einer
4) Plularch über d. Unterschied zw. cp(Xo(; und xoXaS p. 66Bfr. Vgl. Mor.
p. 483. 504. Ix T^? dmoToX^? irspl cpiXfa? .bei Stobaeus floril. II 35: xax(ai;
ttüTCüv 7rXaaoovTa( Tive<; ^YjfiaTCüV soTtp£ire(c|L, to ji.8V (piXoax(i>p.[xaTov airXoov, to 8e
cpiXapYupov irpo[jL7]ö^^ airoxaXoup^voi. Seneca epist. 45, 7: 'venit ad me pro
inimico blandus inimicus. vitia nobis sub virtutum nomine obrepunt. temeritas
sub titulo fortitudinis latet; moderatio vocatur ignavia; pro cauto timi-
dus accipitur*. Aristoteles rhet. I 9 p. 34, 34 — 32, 44 Bk. Vgl. Thucyd. III
82. Sallust Gatil. 62, 4 4. Tacitus Agr. 30 extr. Hierher gehört auch von den
Anweisungen des Komikers Nikolaos (IV 579 M.) V. 33 : oltzo Toiv Itcöv xXiirrsl
Ti? ri xal ßairreTai, ö^Xcuv xaXoc eivai, xal irap' -^Xixfav vooei* lere«) ravoji-Tf^Sr^c
ouTo^ aTco&eoupievo«;.
2) Plutarch a. 0. p. 57C. Vgl. Horaz sat. I 3, 66 ff.
3) Lukian für die ßilder 6, 487.
4) Theophrast 2 p. 4 24, 4 8P.
KoLAx. 49
Pappel zu vergleichen, ein Lobgedicht auf das Haar der Stratonike, der
Gemahlin des Seleukos, zu machen, welche dasselbe durch Krankheit
verloren hat, die Hyakinthosfarbe ihrer krausen Locken zu besingen
und so fort*).
Weiter ist ein Hauptgesetz für den xoXaS, durchweg so zu sagen
die zweite Stimme zu spielen: xa SeuTspa Xs^stv xal itpaiTstv,
wie jener scurra bei Horaz (epist. I 18, 12 ff.): 'sie nutum divitis
horret, Sic iterat voces et verba cadentia toUit, Vt puerum saevo
credas dictata magistro Reddere vel partes mimum tractare secundas'^);
und diese zweite Rolle ist eben, wie oben angegeben, im Mimus
regelmässig die des Parasiten gewesen. Als echter eipcov macht er
sich selbst schlecht, um den Anderen desto lauter zu preisen : wie die
Ringer sich bücken, um den Gegner niederzuwerfen, sagt Plutarch^).
»Ich bin nur ein feiger Kerl auf dem Meer«, wirft er hin, »kann keine
Strapazen ertragen; spricht man schlecht von mir, so gerathe ich
ausser mir vor Zorn: aber für den da giebts keine Gefahr, keine
Anstrengung; Alles trögt er sanftmüthig, Alles mit Heiterkeit, — ein
seltner Mensch !« Oder wenn er eigene Gaben nicht ganz verleugnen
kann, heisst es: »ich laufe schnell, aber der da fliegt; ich reite
passabel, aber was will das sagen gegen diesen Hippokentauren? ich
mache einen leidlichen Vers, donnern aber ist nicht meine Sache,
sondern des Zeus« *) . Beim Ringen lässt sich der xoXa^ von seinem
Herrn zu Boden werfen, beim Wettlauf überholen, wie Krisen der
Hiraeräer von Alexandres, der es aber merkte und darüber böse
wurde. Wie die Stoiker den Weisen, so erklärt der xoXaS seinen
Herrn für Alles was er will, für einen Redner und Dichter, einen
Maler, Flötenspieler, Schnellläufer, Athleten^). Wie der xoXaS auf
Kypros, so ahmen alle höfischen x6Xaxe<; den Herrscher nach in
4] Lukian a. 0. 4, 486 (T. (nach dem Vorbild der xo^tj ßspsvtxT]; des Kalli-
machos] . •
31) Vgl. Bentley's Anm. zu V. H.
3] Plutarch a. 0. p. 57 E. Ein arabischer xoXa^ geht mit einem hohen
Herrn spazieren. Dieser fragt: bist du nicht grosser als ich? Jener erwidert:
euer Gnaden sind grösser als ich, nur bin ich der Natur nach etwas entwickelter.
(A. V. Kramer Culturgesch. d. Orients II 246).
4' Plutarch a. 0. p. 54 1): vgl. Kallimachos fr. 490.
5) Plutarch a. 0. 4 6 p. 58 E.
Abhandl. d. K. 3. Gesellsch. d. Wissen seh. XXI. 4
50 Ribbeck,
Stimme, Geberde u. s. w^). Auf alle Stimoiungen und Neigungen
des Herrn geht er ein, aber mit Ostentation und Uebertreibung.
Ist derselbe verdriesslich , so stellt er sich schwermüthig; ist jener
abergUUibisch , so spielt er den Schwärmer (deo^^6pYjTo;) ; ist jener
verliebt, so macht er den Vernarrten; lacht der Andere, so will er
vor Lachen bersten; friert jener, so zieht er einen Wintermantel an;
findet jener es schwül, so schwitzt er 2). Mit dem Einen singt und
tanzt er, mit dem Anderen treibt er Gymnastik, mit einem Dritten
theilt er die Passion für die Jagd. Kommt ihm ein Gelehrter in den
Wurf, so wird er ein Bücherwurm, lässt den Vollbart lang hängen,
trägt den Philosophenrock, führt die Zahlen und Dreiecke Piatons im
Munde. Stösst er dann wieder auf einen reichen Lebemann, der
gern zecht, so wirft er den xpißcov weg, lässt sich rasiren, und weiss
nur von Trinkschalen und Weinkühlern, Gelächter auf Spazierwegen,
Spöttereien über die Philosophen. So die Dionysokolakes in Syrakus.
Während der Anwesenheit Piatons, so lange Dionysios für Philosophie
schwärmte, war der Königspallast mit Staub angefüllt, weil so viele
Geometrie trieben und Figuren in den Sand zeichneten: sobald aber
Piaton in Ungnade gefallen war und der Tyrann die Philosophie auf-
gegeben hatte, gab man sich wieder den Trinkgelagen und Dirnen,
den Possen und der Lüderlichkeit hin^).
Selbst Krankheiten, Gebrechen und zufällige Eigenheiten des
Gönners und Meisters ahmen sie nach: hielten sie sich frei davon,
so könnte dieser ja einen versteckten Tadel darin finden. Die An-
hänger Piatons gingen wie dieser in gekrümmter Haltung, die des
Aristoteles lispelten, die des makedonischen Alexandros neigten den
Hals zur Seite und nahmen den rauhen Ton seiner Stimme im Ge-
spräch an^). Die x6Xaxe<; des Dionysios, der vom vielen Trinken
\) Plutarch a. 0. <0 p. 54 C.
2) luvenal III 4 00: 'rides, maiore cachinno Concutitur ; flet, si lacrimas con-
spexit aQiici^ Nee dolel; igniculum brumae si tempore poscas, Accipit endromidem;
si dixeris aestuo, sudat'. Vgl. die xoXaxsufjLata des Liebhabers bei Ovid a. a.
II 4 96—208.
3) Plutarch a. 0. 7 p. 52 B (DioQ U), der p. 52 E als Virtuosen in dieser
Art von xoXaxs{a den Alkibiades nennt; vgl. Satyros bei Athen. XII p. 535.
Plutarch Alcib. 23.
4] Plutarch a. 0. 9 p. 53C Lehren f. d. Staatsmann 3, 13 p. 800 A: 01
piv oüv aoXixot xoXaxe; wizsp opvi{>o&7jpai p.i)jLOUfX£voi T(l ?">vYi xtX.
KOLAX. 51
augenkrank geworden war, stellten sich blind, Hessen sich vom
Tyrannen an der Hand führen, stiessen aufeinander, thaten bei Tisch
als könnten sie die Speisen und Becher nicht sehen, griffen daneben,
bis ihnen jener die Hände führte, warfen die Schüsseln herunter^).
Als dem makedonischen Philippos bei der Belagerung von Methone
ein Auge ausgeschlagen war, erschien Kleisophos in seiner Gesell-
schaft gleichfalls mit einem Verband am rechten Auge; als jener am
Bein verwundet war, hinkte er, wenn er mit dem Herrscher aus-
ging; nahm derselbe eine bittere Speise zu sich, so schnitt der x6XaS
eine Grimasse, als ob er mit davon ässe^). Dass dergleichen orien-
talische Hofsitte war, wird durch die arabische Sitte bestätigt, dass,
wenn der König ein Leiden hatte, die Unterthanen sich stellen muss-
ten, als hätten sie das gleiche^). Bei Worten liess es Nikesias, der
xoXaS Alexanders, bewenden, der, als der König in Krämpfen lag,
bemerkte: »was sollen wir anderen anfangen, wenn ihr Götter so
leiden müsst!«^)
Auch innere Seelenleiden machen Manche mit. Merken sie, dass
der Herr in der Ehe unglücklich ist oder gegen seine Söhne oder
Freunde Misstrauen hegt, so klagen sie über ihre eigene Frau, ihre
Kinder, Verwandte, Freunde, und bringen abscheuliche Beschuldigungen
gegen sie vor. Einer soll sogar seine Gattin Verstössen haben, nach-
dem der Gönner sich von der seinigen getrennt hatte, wurde aber
ertappt, als er heimlich zu ihr ging: die Frau des letzteren hatte es
gemerkt ^) .
Bei Berathungen hält sich der x6Xa^ so lange zurück, wie der
Herr die Augenbrauen zusammenziehend und den Kopf wiegend, bis
dieser seine Meinung gesagt hat ; dann bricht er los : »beim Herakles,
du nimmst mir das Wort aus dem Munde, das wollt' ich eben sagen^)«;
und um ja nicht lau zu erscheinen, feuert er ihn dringend zur Aus-
4) Theophrast (ir. xoXax£(a(;?) bei Athenaeus X 47 p. 435 e, den Plutarch
a. 0. p. 53 P benutzt hat; ferner Athen. VI p. 249 f. Dasselbe Hegesandros bei
Athen. VI 57 p. 250e über die xoXaxec des Hieron.
i) Satyros im Leben des Phiiippos bei Athenaeus VI 54 und Aelian de nat.
anim. 9, 7.
3) Athenaeus VI p. 249 a.
4) Athenaeus VI p. 254 c.
5) Plutarch a. 0. p. 54 A.
6) Plutarch a. 0. p. 63 B.
4*
5Ü RjBBETK.
führoDg an' . Aber ohne Zaudern macht er jede Sinnesänderang,
jede Wandlung in deinen Sympalhieen und Antipathieen mif und be-
stärkt dich in jeder Laune. Sprichst du den Vorsatz aus, deine
l>5bensweise zu ändern, z. B. dich aus der Politik in das Privatleben
zurückzuziehen, so sagt er : »wir hätten uns längst von allen den Un-
ruhen und Anfeindungen losmachen sollen«. Fällt es dir dann wie-
der ein, zu den öffentlichen Geschäften zurückzukehren, so stimmt
er zu: »das ist eine Denkungsart, deiner würdig; die Unlhätigkeit ist
zwar angenehm, aber ruhmlos und niedrig««-^. Wenn du einen deiner
bisherigen Freunde ihm gegenüber tadelst, so spricht er: »es bat lange
gedauert, ehe du dem Menschen auf die Sprünge gekommen bist;
mir hat er schon früher nicht gefallen«. Aenderst du wieder deine
Meinung und lobst ihn, so wird er versichern, dass er sich mit dir
freue, dir in seinem Namen danke und ihm Vertrauen schenke^).
Die feineren Formen der xoXaxeia. Statt eigener Lobes-
erhebungen macht der xoXa^ den Berichterstatter über das, was
andere Leute Rühmliches über dich gesprochen haben: er habe sich
gefreut, Fremde oder ältere Personen auf dem Markt zu treffen, die
viel Gutes von dir gesagt haben und dich sehr bewunderten^).
'»Gestern erklang dein Ruhm in der Stoa: mehr als 30 Menschen
Sassen da beisammen, und wie die Rede darauf kam, wer der beste
sei, da fingen sie alle von dir an und kamen auf deinen Namen
zurück«'). Ais Begleiter auf der Strasse, natürlich comes exlerior^)^
macht er dich aufmerksam, wie die Menschen dich ansehen: das
<y IMutarch <p(Xo; und xokal p. 62 F.
2; Plularch a. 0. p. 53 B.
3; Plularch a. 0. p. 53 A: toioüto; "(ap oio? e? ^^y^i? nva täv ^(Xcöv
TTpo; auTov efeelv * * ^Spaosco; ^scpcopaxa^ tov av&pcuirov " Ifiol (jiev ^ap oü64 irpo-
Tspov -/jpsaxev*. av 8' ao iraXtv iwaiv^; fjLSta^^aXXop^voc, vr^ Aia rprjosi auvr^Bsaftai
xal xaptv exeivaoTo; üirep toS avöpawcoo xal iriaTeiisiv. Dies und p. 63 B viel-
IfMclit nach Tlieophrast.
4) Plularch a. 0. U p. 57 B.
6) Theophrasl 2 p. 123, \0V: TjüSoxijxsi; yßk(; iv t^ oto^ ' tcXsiovcov ^dp r^
Tptaxovia avDpakwv xathjfjivwv xal iixreadvTo? Xo^ou, t(; sitj ßiXTioTO?, air'
ctUToO apSafiivoo; Travia; itrl to ovojAa aoToo xaTevex^r^vai. Vgl. mil. gl. 58 — 71.
6) lloraz sat. II 5, 17 f. luvenal III 131: * divitis hie servi claudit latus
ingenuorum Kilius\
KoLAX. 53
geschehe in der ganzen Stadt keinem ausser dir^). Oder er denkt
sich falsche Beschuldigungen gegen dich aus, thut als habe er sie von
anderen gehört und kommt voll Eifer mit der Frage, wo du dies und
jenes gesagt oder gethan habest. Wenn du, wie selbstverständlich,
es in Abrede stellst, so ergreift er den x\nlass in Lobreden überzugehn :
Dich wunderte mich auch, dass du von einem deiner Freunde schlecht
gesprochen hättest, der du es nicht einmal von deinen Feinden ver-
magst; oder dass dil fremdes Gut angriffst, der du so freigebig mit
deinem eignen bist«^).
Auch in die Form ironischer Neckereien, von denen das Gegen-
theil zu verstehen, kleidet sich die xoXaxeia: wenn einer den Stein-
reichen mit Gläubigern, den grossen Redner und Staatsmann mit
einer Anklage bedroht, den Freigebigen einen Knicker nennt, wenn
ein Parasit zu Philippos sagt: »bin ich nicht dein Brodherr?«'*).
Erheuchelte Freimüthigkeit in der Form leichten Tadels ist
eine Würze der xoXaxe(a^). Um sich gleichsam den Boden zu be-
reiten , aflFectiren sie gegen Sclaven und Angehörige unerbittliche
Strenge und rauhe Biederkeit, damit man glauben soll, sie können
nicht anders als ihre Meinung frei heraussagen^). Auch dem Gönner
widerspricht der xoXa^ wohl einmal zum Schein, um sich von jenem
widerlegen zu lassen und ihm die Befriedigung der Ueberlegenheit
zu gewähren^). Während er über wirkliche Fehler und Vergehen
hinwegsieht, rügt er desto aufmerksamer etwa die Vernachlässigung
eines Hausgeräthes, eines Hundes oder Pferdes, wenn der Freund
schlecht wohnt, wenn er sich im Aeusseren, in Kleidung, Haar, Bart
\] Theophrast char. 2 p. 4 23, 8 — 10.
t) Plutarch a. 0. 1 3 p. 57 C.
3) Plutarch Symposiaca li \, 5 : oux i^ii ae Tpscpu) ; Nach Lynkeus von
Samos in seinen aico[iV7jtJLOveu(i.aTa (bei Athen. VI p. 2i8d) war es Kleisophos :
oxcwrcovTo; 8* auTov toS OtX(7nroo xal eoTjfxepouvTo; , eit' oux iya) oe, Icpr),
4] Plutarch über die Bosheit des Herodot 9.
5) Plutarch über d. Unterschied zwischen (p(Xo^ u. xoXa^ il p. 59 D; vgl.
5 p. 51 G.
6] Cicero de amic. 26, 99: ' etiam graviores constantiorcsquc admonendi sunt,
ut animadvertant ne callida adsentatione capiantur. aperte enim adulantcm nemo
non videt, nisi qui admodum est excors : callidus ille et occultus ne se insinuet
studiose cavendum est. nee enim facillime agnoscitur, quippe qui etiam adversando
54 RiBBErK,
vernachlässigt ^). Er zupft ein Fäserchen von deinem Rock, und wenn
der Wind dir ein Kömchen in das Haupthaar geweht hat, liest er
es ab und sagt dabei mit Lächeln: »siehst du? zwei Tage bin ich
dir nicht begegnet, da hast du den Bart voll grauer Haare, obwohl
du in Ansehung deiner Jahre es noch mit Jedem in der Schwärze
des Haars aufnehmen kannst«^). Das ist der sprüch wörtliche xpo-
xüXeyjio;»^. Unleugbare Schwächen des Gönners werden verwischt
durch Hervorhebung unwesentlicher Mängel, als ob diese an dem
Missfallen, welches jene hervorrufen, Schuld seien. An einem schlech-
ten Redner z. B. tadelt der x6XaS nicht die Rede, sondern er be-
schuldigt das Organ und wirft ihm vor, dass er es durch Kaltwasser-
trinken verderbe. Soll er eine schlechte Abhandlung beurtheilen,
so tadelt er nur den groben Papyrus und die Nachlässigkeit des Ab-
schreibers. So stritten sich die x^Xaxec mit Ptolemaios, der mit
saepe adsentetur et litigare se simulans blandiatur atquc ad exlreinura det manus
vincique se patiatur, ul is, qui illiisus sit, plus vidisse videatur'.
i) Plutarch über den Unterschied zwischen <p(Xo<; und xoXa£ M p. 59 E.
t) Theophrast char. 2 p. \%3, 14: xal aXXa Toiauta XeYü>v airo to5 Ip-ariou
acpeXstv xpoxtioa • xal lav ti irpo; xo xply wiia Tf|? xecpaATj«; oiro TrveofjLaTo;
Tcpoaevex&iQ ayypoy, xap^poXoYr^aai, xal liriYsXaaa? 8s sfireiv * opä; ; on 8uoiv ooi
Tjfxepiov oüx ivTSTüjrr^xa , iroXiaiv eo^rr^xa? tov ircoYcova fxaarov, xaticsp, ein? xal
akko^, eyeic irpo; xa Ixt] |tiXaivav xr^v xp^^a. Schon Aristo phanes hat diesen
Zug. In den Iloikades wurde von Kleon oder einem andern xoXa^ des Demos
gesagt, fr. 410 K: aSaj^eT ^ap auxoo xov a/op' IxXsYei x' asl 'Ex xo5 -yeveioü ra?
TcoXia?. In den Rittern 908 verspricht Kleon dem Demos: iyco 8i xa? iroXia?
"(i aoüxXi-ywv veov TroiTjOm. Ein andrer Vers aus unbekanntem Stück (fr. 657)
lautet: ei xt? xoXaxeoei fTtaptüv (Tuapaxopujv Kock) xal xa? xpoxu8a? acpaipmv, an
einer anderen Stelle (fr. 7U) kam a^paipei xp(;ra? in demselben Sinne vor: iizi
xivo? xoXaxeusiv iTctj^eipoovxo?. Valeria erregte so zuerst die Aufmerksamkeit
SuUa's im Theater: irapa xov ioXXav l£o7ria&ev napaTcopeuoixivT] xtjv xs X^^P*
Ttpo? auxov aitTjpstaaxo xal xpoxü8a xou Ijiaxfoo airaaaaa itap^Xftsv hzi xr^v iaoxr^?
Xoipav (Plutarch Sulla 35).
3) Hesychius: xpoxuXeYjxo?* xo xoXaxeuxixco? xa? xpoxuSa? aicoX^eiv
xÄv ((xaxCcDV. Bekker anecd. 4, 27: a^patpetv xpoxu8a?' X(av Tjxxtxioxai . . .
iTtl xwv TOVxa TToioüvxwv 8ta xoXaxeiav, cSaxe xal itapsTrofiivou? a^aipeiv xpoxu8a?
x^? iofr^xo? Y) xapcpo? XI x^? xecpaX^? t] xou ^evefou. Suidas: a^paipstv xpoxuSa?'
iitl xÄv Ttavxa ttoiouvxwv oia xoXaxsta?. aXXoi xe xp^ovxat xal ^Aptoxocpavr^? (ine.
fab. 657) xal acpaipei (oxo? ri ^ivo?- axxixo)? tj auvxaSi?. Appendix proverb.
Cent. I 42: a^aipetv xpoxu8a?' ittl xwv Ttavxa ttoioovxwv Svexev xoXaxsCa? *
T) Oüxo? acpatpsixai xal xpoxu8a? im xcov 8ia xoXaxe(a? p.eXP^ ''•^^ '^^
9[iixpoxax(uv xaxaYivofjtivcüv aJxelv.
KoLAx. 55
Bildung koketlirle, halbe Nächte lang über einen Ausdruck, eine Zeile,
wilhrend sich gegen seine Grausamkeit und seine Hybris keiner von
ihnen erhob ^).
Am schlimmsten sind jene, welche die Laster ihres Pflegers nicht
nur übersehen, sondern ihn sogar darin bestärken, indem sie ihn mit
scheinbarer Freimüthigkeit des gegentheiligen Fehlers bezichtigen.
Uimerios schalt einen höchst filzigen Nabob einen leichtsinnigen Ver-
schwender, der mit seinen Kindern noch einmal werde hungern
müssen. T. Petronius warf umgekehrt dem Nero kleinliche Sparsam-
keit vor. Wenn Einer roh und grausam mit seinen Untergebenen
umgeht, fordert ihn der xoXa^ auf, die gar zu grosse Gutmüthigkeit
und das unzeitige Mitleiden abzulegen. Vor einem Dummkopf stellt
er sich, als fürchte er seine überlegene Schlauheit. Ein Lästermaul
sieht sich einmal veranlasst einen Angesehenen zu loben; der x6Xa6
widerspricht: das sei eine Krankheit des Freundes, Leute zu loben,
die es nicht verdienen. Wenn Einer mit seinem Bruder zerfallen ist,
seine Eltern verachtet, seine Frau schlecht behandelt, so sagt der
xokaZ: »du bist an Allem Schuld, du machst ihnen viel zu sehr den
Hof«. Ist ein Zerwürfniss mit einer Hetäre oder einer Ehebrecherin
eingetreten, so trägt er Feuer zu Feuer, wirft dem Liebhaber vor,
wie lieblos und hart er gegen die Geliebte sei. So die Freunde des
Antonius in seinem Verhältniss zur Kleopatra: sie beredeten ihn, dass
er von ihr gehebt werde, schalten ihn unempfindlich und hochmüthig.
»Sie hat ihr Königreich und ihre heimathliche Behaglichkeit verlassen,
theilt mit dir das Kriegsleben wie ein Kebsweib und du lässt sie
schmachten«. Das hörte Antonius gern, lieber als Lob. Solche
7üappY]aia ist wie die Bisse leidenschaftlicher Frauen, durch schein-
baren Schmerz die Wollust reizend^).
Immer führt der x6Xa^ den unvernünftigen, leidenschaftlichen,
lasterhaften Trieben des Freundes das Wort und wird so zu seinem
bösen Genius. Im Zweifelsfalle legt er stets sein Gewicht in die
Wagschale der niederen Regungen. Hat z. B. der Freund einem
f) Plutarch über d. Unlcrschied zwischen «piXo; und xoXaS 17 p. 59 F, nach
Theophrast? (toioSto? y^P ^ xoXa? oio? ^r^ropo; cpauXou xtX.) Anekdoten über
xoXaxeia unter der Maske der irappirjata : Agis von Argos gegen Alexandros d. Gr.,
der Senator gegen Tiberius ebenda 18.
2i Plutarch a. 0. 19 p. 60 D. Vgl. Leben des Antonius 53.
56 RlBBEC.K.
Angehörigen versprochen Geld zu leihen, bereut es aber und schämt
sich doch sein Wort zu brechen, so schlägt der x6Xa8 dieses Ehr-
gefühl nieder mit der Bemerkung: »du giebst ohnehin so viel aus,
hast so vielen zu helfen, musst sparen«; und so siegt die Rücksicht
auf den Geldbeutel. Hat sich der~ Freund den Magen überladen und
zweifelt ob er baden und essen soll, so wird der xoXa^, statt zur
Vorsicht zu mahnen, ihn in das Badelocal schleppen und ihn auf-
fordern von frischem auftragen zu lassen, den Leib nicht durch Fasten
zu schwächen. Ist jener aus Weichlichkeit unlustig zu einem Wege,
einer Seefahrt, einem Geschäft, so wird der xoXaS sagen: »es drängt
ja auch gar nicht, es ist eben so gut, wenn du es aufschiebst oder
einen anderen schickst«*).
Schroffe, eigenwillige, auf sich beruhende Naturen, denen mit
directem Lob und gewöhnlichen Schmeichelkünsten nicht beizukoftimen
ist, gewinnt der geschmeidige Kathgeber dadurch, dass er sich selbst
des Käthes bedürftig zeigt. Er kommt zu dir, um dich als einen
äusserst klugen Manu über seine Privatangelegenheiten um Rath zu
fragen; zwar habe er nähere Freunde, aber er könne nicht umhin
dich zu belästigen: irot ^o^p xaiacpü^tofiev oi y^c6(iyj(; Seofievot; xCvi 8s
moteüacDfjiev ; Nachdem er dann irgend ein Wort von dir vernommen,
versichert er, ein Orakel, keine Ansicht gehört zu haben, und ver-
abschiedet sich. Sieht er, dass einer Anspruch auf stilistische Kenner-
schaft macht, so giebt er ihm etwas von seinem Geschriebenen, bittet
ihn es zu lesen und zu verbessern. Dem König Mithridates, der gern
den Arzt spielte, gaben sich einige seiner Hausfreunde zu Operationen,
zum Schneiden und Brennen her^).
KoXaxe(a in Handlungen. Unerschöpflich natürlich sind die
thatsächlichen Beweise der Ergebenheit und Unterwürfigkeit, deren der
x6XaS sich befleissigt, denn eben in der Erfindung immer neuer Hul-
digungen bewährt sich sein Genie. Uns kommt es auch hier nur
darauf an die Züge zu sammeln, die gerade durch ausdrückliche
Zeugnisse nachweisbar sind. Von den passiven Leistungen auf diesem
Gebiet ist schon oben die Rede gewesen.
Als treuer Begleiter seines Gönners spielt er seine Rolle vor
Allem im unmittelbaren persönlichen Verkehr. Auf der Strasse läuft
\) Plutarch über den ünlerschied zwischen cpiXo? und xoXaS 20.
2) Plularch a. 0. U p. 57 F.
KoLAx. 57
*
er dir entweder entgegen oder nach, grüsst dich mit lächelnder Miene
von weitem, streckt dir die Rechte entgegen, entschuldigt sich unter
Betheuerungen und Schwüren, wenn du ihn früher gesehen und an-
geredet hast^). Namenlose Emporkömmlinge gewinnt die vornehmere
Ansprache mit dem Vornamen^). Unterwegs leistet er dir die Dienste
eines anteambulo^). Die Begegnenden fordert er auf still zu stehen,
bis du vorübergegangen bist^). Aus dem Gedränge befreit er dich
durch Entgegenstemmen seiner Schultern*) Bist du auf dem Wege
zu einem deiner Freunde, so läuft er voran und meldet dich bei
demselben, kehrt dann wieder um und berichtet, dass er dich ange-
meldet hat^). Thust du in Gesellschaft eine Aeusserung, so fordert
er die übrigen auf zu schweigen^). Bei Berathungen in Volksver-
sammlungen oder im Rath ergreift er mit Absicht kurz vor deiner
Ankunft das Wort. Trittst du dann ein, während er noch spricht,
so hört er mitten in seiner eigenen Rede auf, tritt Rednerbühne und
Wort an dich ab, stimmt ohne weiteres deiner ganz entgegengesetzten
Ansicht zu, und giebt hierdurch mehr als durch lautes Lob zu er-
kennen, wie sehr er sich deiner Einsicht unterordne^). Im Theater
und bei öffentlichen Vorträgen kommt er vorher, um die besten
Plätze einzunehmen und sie dann dem Gönner zu überlassen ''^). Er
nimmt dem Diener die Kissen ab und breitet sie dir selbst unter ^^);
fragt dich, ob du auch nicht frierst, ob du eine Decke oder einen
Überwurf haben willst; ermahnt dich, wenn ein Luftzug geht, dein
theures Haupt zu bedecken ^'). Dabei neigt er sich zu dir und flüstert
\] Plutarch (pt'Xo^ und xoXa£ p. 62 D. Dazu Maximus Tyrius 20, 1 : aear^pox;,
opi^cüv SsEiav TcapaxaXsiTQ) tov avSpa iizeiWoLi aorm, iiraivcov, xuoaivcov xat
avTi^oXaiv xal Seofxevo? xat 8ir|YOüjievoc dxxoiroü? xivoii; f^Sova?, ji Xaßwv auTov
afei xxX.
2) Horaz serm. II 5, 32: 'gaudent praenomine nioUes Auriculuc'.
3) Vgl. Marquardt Privatleben der Römer S. H5.
4] Theophrast char. 2 p. 4 23, 24 f.
5j Horaz serm. II 5, 94: 'extrahe turba Oppositis umeris*.
6) Theophrast a. 0. p. 4 24, 5 ff.
7) Theophrast p. 4 23, 20.
8) Plutarch cpiXog und xoXag 4 5 p. 58 B.
9) Plutarch a. 0. p. 58 C.
10) Theophrast p. 4 24, 4 5. Vgl. Aristoph. eq. 784 f. Aeschines gegen Ktesi-
phon 76. Ovid a. a. 159fr. (schon von 4 45 an: xoXaxsufxaTa des Liebhabers).
1 1] Horaz serm. II 5, 93 : *mone, si increbruit aura, Cautus uti velet carum caput\
I
58 RiRBECK,
dir ins Ohr. Auch wenn er mit anderen spricht, hat er doch immer
den Bück auf dich gerichtet*).
Von den mannigfachen offiziellen xoXaxeüfxaTa, welche zu Ehren
eines Machthabers oder Mitbürgers auf Grund von Anträgen Einzelner
und danach gefasster Volksbeschlüsse erfolgt sind, kann hier nur an-
deutungsweise die Rede sein 2). Mit Demonstrationen solcher Art hat
es im Privatleben eine gewisse Verwandtschaft, wenn der x6XaS seinem
neugeborenen Kinde den Namen des Gönners giebt^), das Bild des
letzteren im Siegelringe trägt ^), ihn als Gast vor allen durch einen
goldenen Kranz auszeichnet^).
Unermüdlich ist er in praktischen Diensten aller Art, keinem
anderen neben sich ISisst er Raum und Gelegenheit dazu, verlangt
Aufträge über Aufträge und ist gekränkt, ja ausser sich, wenn er
keinen erhält; seine Versprechungen sind unbedingt, überschwäng-
lich^). Er ist der Mann, rastlos, ohne Athem zu schöpfen, auf dem
Weibermarkt Commissionen zu besorgen und unzählige Bedürfnisse
für das Hauswesen des Gönners von da einzuholen'). Am wenig-
sten lässt sich der Parasit das Geschäft nehmen, für die Küche ein-
zukaufen^).
\) Theophrast p. 12i, H — «5.
t) Vgl. z. B. Plutarch Demelr. 4 Off.
3) Aristomenes als xoXaE des Agalhokles nannte seine Tochter Agathokleia:
Polybios XV 34, 8. Lukian Timon 168. Wenn Kallikrates, xoXaS des dritten Ptole-
maios, das Bild des Odysseus in seinem Siegelring trug und seine Kinder Telegonos
und Antikleia nannte (Athen. VI p. 251 D), so niuss eben jener König seinen Stamm-
baum auf diese Ahnen zurückgeführt haben. Ein mythischer König Telegonos von
Aegypten ist ja z. B. aus der Geschichte der lo bei ApoUodor II 1, 3, 8 (vgl.
schol. Gurip. Or. 932) bekannt. Vgl. Meineke anal. crit. ad Athen, p. 109.
4 Polybios a. 0.
5; Polybios a. 0.
6j Plutarch a. 0. p. 62 D.
1] Theophrast p. 124, 7 f. mit der Anm. von Casaubonus. lieber die Yovaixeia
ayopa oder den xoxXo?, wo alles mögliche Hausger'äth zu kaufen war, s. Pollux
X 18. Becker Charikl. IP 151 f. Büchsenschütz Besitz und Erwerb 471. Wachsmuth
Stadt Athen I 201.
8) Plautus Capt. 473. Der Parasit klagt über die gegenwärtige Generation:
Mpsi obsonant, quae parasitorum ante erat provincia'. mil. gl. 666 (in einer inter-
polirten Partie): 'vel hilarissumum convivam hinc indidem expromam tibi Vel pri-
marium parasitum atque obsonatorem optumum'. Gnatho im Eunuchus 255 ff.
erzählt , wie ihn beim macellum das ganze Volk der cuppedinarii begrüsst : ' con-
KoLAx. 59
•
Dafür weiss er aber auch sein Verdienst in gehöriges Licht zu
setzen. Mit schreienden Farben und breitem Pinsel entwirft er ein
Bild seiner Anstrengungen, was für Wege er gemacht, welche Sorgen
er gehabt, welche Nöthe er durchgemacht, welche Feindschaften er
sich zugezogen hat. In Schweiss, Geschrei, Atheralosigkeit, geschäf-
tigem Laufen, wichtigthuenden Gebärden und Mienen nimmt er es
mit jedem servus currens auf*).
Während er ftkr wirklich mühsame, gefährliche Dienste zu an-
ständigen, offenen Zwecken versagt, ist er stets bereit, dem Freunde
bei leichtfertigen, niedrigen, unsittlichen, heimlichen Unternehmungen
an die Hand zu gehen^). Vornehmlich ist er ein bereitwilliger
und geschickter Gehilfe in Liebesangelegenheiten, auch hierin mit
dem listigen, intriguanten Sclaven wetteifernd^). Darum macht
er sich mit Vorliebe an reiche junge Männer und steht mit den
gestrengen Vätern auf Kriegsfuss. Alle seine Rathschläge laufen
den Ermahnungen des Vaters geradezu entgegen; der unentrinnbare
Köder ist die -ijSovTfj. Der Vater ermahnt zur Nüchternheit, der xoXaS
zum Trinken ; jener zur Ehrbarkeit, dieser zum Ausschweifen ; jener
zum Sparen, dieser zum Verschwenden; jener zur Thätigkeit, dieser
zum Müssiggang. So spricht er: »das Leben ist ja doch nur ein
Punkt in der Zeit; man muss es gemessen; der Alle ist ein ver-
schimmelter Philister und reif für den Tod, hoffentlich werden wir
recht bald seine Leiche zum Hause hinaustragen«*). Er plündert den
Beutel des Alten, verhilft dem Jungen zu seiner Dirne ^) oder ver-
kuppelt ihm eine Ehefrau^); setzt dem einfältigen Liebhaber den
currunt laeti mi obviam cuppedinarii oiiines: Cetarii ianii coqui fartores piscatores^
Quibus et re salva et perdita profueram et prosum saepe: Salutant, ad cenam
vocant, adventum gratulantur'. Die Anekdote aus den XpsTai des Komikers iMachon
über Chairephon bei Athenaeus VI p. 243 F.
<) Plutarch cpiXo; und xoXa£ p. 63 F. Vgl. Curculio II 3, Ergasilus in den
Captivi IV %,
t) Plautus Amphitruo 993: 'amanti supparasitor' : vgl. 515 mil. 348.
parasitatio: Amph. 521.
3) Plutarch a. 0. p. 64 D.
4' Vgl. die vereitelten HoOnungen des Parasiten bei Alkiphron 121.
5) Alkiphron III 8 : ein Parasit will im Bunde mit einem Collegen seinem
Gönner, einem vsoitXoutoc, eine spröde Hetäre mit List oder Gewalt zuführen.
6) Plutarch über Kindererziehung 17 p. 1 3 A.
^•i^
60 Ribbeck,
Contract mit der Hetäre und der Kupplerin auf^, übernimmt Sen-
dungen ins Ausland, um das nöthige Geld für Liebeshändel aufzu-
treiben und spielt dabei (im Interesse seines Auftraggebers) den ver-
schmitzten Gauner 2); giebt seine eigene hübsche, unschuldige Tochter
einer fremden Liebesintrigue und seinem Hunger zu Gefallen zu einem
Scheinverkauf an den Kuppler hcr^); führt als geriebener Sykophant
Processe, um dem Sohn hinter dem Rücken des Vaters zu seiner
Geliebten zu verhelfen^); unterstützt auch den ungetreuen Ehemann
in seinen Abenteuern^), oder wenn es gilt die Frau wegzujagen und
den Verwandten Trotz zu bieten^); denuntiirt denselben bei der
Gattin aus boshafter Rache'), oder um den jungen Herrn von der
Nebenbuhlerschaft des alten zu befreien und jenem zu seinem Liebes-
glück zu verhelfen^), oder um den Widerstand des Alten durch
demüthigende Erinnerung an eigene Jugendsünden zu brechen^).
Wenn er gereizt wird, besinnt er sich auf seine Pflicht als getreuer
Haushund die Ehre seines xpscpcDV zu bewachen, und zeigt den ehe-
brecherischen Verkehr der Frau mit dem (Aot/oc; an^^) oder enthüllt
Heimlichkeiten aus vorehelicher Zeit'*).
Als Erbschleicher vollends scheut der x6Xa$ weder Kosten noch
iMühe. Er füllt dem orbus Küche und Vorrathskammer mit Braten, mit
den besten Erzeugnissen seines Gartens, er vertheidigt ihn vor Gericht,
leiht ihm seine eigene Penelope, wenn denselben danach gelüstet*^).
\) Plaulus Asinaria 746 0*. Bei Alkipbron III 64 ist der junge Herr in eine
Hetäre verliebt, welche ihre Gunst vielmehr dem Parasiten zuwendet. Ein ver-
liebter Parasit: 67.
2) Plautus Curculio 67 f. 143 f. 206 f. 225 f. 275. 329 ff.
3) Saturio im Persa des Plautus.
4) Phormio des Terenz.
5) Alkipbron III 72 : die eifersüchtige Frau hat den Parasiten als vermuth-
lichen ^jelegenbeitsmacber zur Verantwortung gezogen ; durch einen Glücksfall
kommt er mit einem blauen Auge davon.
6) Plutarch cp(Xo; und xoXa£ p. 64 F.
7) Peniculus in den Menaechmi des Plautus V \ .
8] Plautus Asinaria V 2.
9) Terenz Phormio V 9.
\0) Alkipbron III 62. Die Frau bat sich durch einen Eid gereinigt und der
blamirte Denuntiant verwünscht seine Zunge: 69.
W) Alkipbron III 63.
12) Aelter als alle die Schilderungen und Züge bei Horaz (besonders sat. II 5)
Ovid Martial luvenal u. a., welche Friedländer Sittengesch. P S. 367 ff. zusammen-
KOLAX. 61
Erkrankt der Reiche, so geloben die x^Xaxe«; Opfer für seine Genesung,
und fühlen sich dann freilich sehr enttäuscht, wenn diese eintritt').
Nicht weniger erfreuen sich reiche alte Frauen solcher Huldigungen^).
Beruf und Zwecke des x6Xa^ bringen es mit sich, dass er gegen
Rivalen eifersüchtig und neidisch ist, mögen dieselben nun wahre
Freunde oder nur seines Gleichen sein. Gelingt es ihm nicht sie
offen aus dem Felde zu schlagen, so macht er ihnen öffentlich den
Hof und kriecht vor ihnen, verläumdet sie aber im Stillen, denn er
weiss, dass von seinen heimlichen Bissen, so geschützt das Opfer
auch sein mag, doch immer Narben zurückbleiben^). Denn die
xoXaxeta ist eine Schwester der StaßoXi^^), zumal bei Hofe. Unter
der Schaar der auXixol x6Xaxe(; ist ein beständiger Kampf: jeder will
der erste sein, stösst den Nebenmann mit dem Ellenbogen bei Seite
und stellt dem Vordermann, wenn er kann, ein Bein; alle passen
einander auf, um gegenseitig Blossen zu erlauschen^).
Lob und Tadel des x6XaS. Seit Epicharm^) und Eupolis') sind
die Parasiten und x6Xaxe(; der Komödie geneigt gewesen über die
Vorzüge ihres Charakters und Berufes, über ihre grossen Vorgänger,
über die Regeln ihrer Kunst, seltener über die Plagen und Leiden
ihres Standes sich auszusprechen, häufig in Monologen (namentlich
Prologen). Darin haben sie eine gewisse Wahlverwandtschaft mit
den Köchen. Der Parasit, sagt der in den A(8o[iot des Antiphanes^),
ist ein theilnehmender Freund : er nimmt Antheil an Glück und Leben
(Lebensunterhalt) seiner Freunde. Kein Parasit wünscht denselben
Unglück, im Gegentheil beständiges Wohlergehen. Lässt Einer viel
draufgehen: er beneidet ihn nicht, sondern wünscht nur als Gesell-
stellt (vgl. auch Petron c. H6 über Groton, und 4 24 zu Ende], ist was der lebens-
lustige Hagestolz im milcs glor. 70611. R. vorträgt.
\) Lukian Todtengesprache 5.
t) Athen. VI p. 246 B.
3) Plutarch <flko^ und xoXa^ p. 65 0: Apophthegma des Medios.
4] Lukian calumniae u. s. w. 20, iö\ '\o\. III p. 162 Bckk.]. Vgl. Alkiphron
111 58.
5) Lukian a. 0. 10, 139.
6 'EXttk T| nXouTO?.
7; KoXaxec fr. 159.
8i fr. 81.
62 RlßBECK,
schafter Theil daran zu haben. Er ist ein treuer und zuverlässiger
Freund, nicht streitsüchtig, nicht heftig, nicht giftig. Er lässt sich
Zornausbrücbe gefallen, lacht, wenn du ihn verspottest, versteht sich
auf Liebe (epcotixoc), macht Spass, ist heiter, dann wieder ein stram-
mer Krieger, wenn er als Löhnung eine gute Mahlzeit erhält. »Giebt
es wohl«, fragt ein anderer in den Ai^iivtai*), »einen angenehmeren
Beruf als xoXaxe6eiv? Alle anderen haben Mühe und Sorge: uns ver-
geht das Leben unter Lachen und Schwelgen. Wo die Hauptaufgabe
Scherz, herzliches Gelächter, Neckerei, Zechen ist, ist das nicht an-
genehm? Für mich kommt es gleich nach dem Reichsein«.
»Du kennst meinen Charakter«, sagt jener in den Hpi^ovoi des-
selben Dichters*^), »dass ich nicht von Hochmuth besessen bin, sondern
meinen Freunden diene mich schlagen zu lassen als glühendes Eisen,
zu schlagen als Donnerkeil, einen zu blenden als Blitz, einen zu ent-
führen als Wind, zu erwürgen als Schlinge, Thüren aufzubrechen als
Erdbeben, hineinzuspringen als Heuschrecke, ungeladen zu schmausen
als Fliege^), zu erdrosseln, zu tödten, Zeugniss abzulegen über was
man will. Alles unbedenklich zu thun. Um dessentwillen nennen mich
die jungen Leute Ungewitter (oxYj7rr6<;), aber ich mache mir nichts
aus den Spöttereien, denn als Freund meiner Freunde gründe ich
mein Verdienst auf Thaten, nicht auf Worte« ^).
Nachgebildet und variirt ist die Stelle im 'laxp^c des Aristo-
phon^): »giebt Einer einen Schmaus, so bin ich zuerst da, so dass
ich schon lange Suppe (Cw^toc) heisse. Gilt es Einen, der sich beim
Wein ungebührlich beträgt, vor die Thür zu setzen, so darfst du in
mir einen argivischen Ringer sehen; gilt es an ein Haus anzurennen,
so bin ich ein Sturmbock, eine Leiter heranzuklimmen, ein Kapaneus,
Schläge zu ertragen, ein Ambos, Ohrfeigen auszutheilen, ein Telamon^),
4) fr. Mi,
2) fr. 194.
3) Die demnächst folgenden Worte [xr/5sXÖeTv (ppeap scheinen verdorben zu
sein: der Fehler muss im Verbum stecken. Man erwartet etwas wie ^poyßH^ziy,
l^xaTTTsiv, i-^yalvEiv,
4j Aus anderen Lobreden auf das Parasitenthum stammt von Antiphanes ine.
fab. fr. 230. 248 f.
5) fr. 3 (III 357M.). Vgl. auch die Charakteristik des Pythagoristen fr. 9.
6) TsAa[jL<i)vioi xovSüXoi sprüchwörtlich (Hesychius) wegen Apollodor IIl M,
6. H.
KoLAx. 63
Schöne zu versuchen, Rauch«^). Das cf tXsxaipov der Parasiten preist
ein solcher im z^paxovxiov des Timokles^): »liebst du, so theilt er
deine Gefühle ohne Umstände; hast du ein Geschäft, so ist er mit
dabei und thut was irgend nöthig ist, indem er dasselbe für Recht
hält als sein Pfleger, ein Lober und Bewunderer desselben durch
dick und dünn. Es ist wahr, die Parasiten haben Gefallen an un-
entgeltlichen Tafelfreuden: aber welcher Sterbliche nicht? welcher
Heros oder Gott verschmäht eine solche Unterhaltung? Ein Haupt-
beweis wie man sie ehrt, dass man ihnen dasselbe gewährt wie den
olympischen Siegern: Speisung; denn irpoxaveta werden alle Mahl-
zeiten ohne Beitrag genannt«.
Wie vornehm und nur durch unwürdige Stümper in Verruf ge-
bracht der Parasitenberuf sei, führt ein selbstbewusster Vertreter in
der ' EiuCxXyjpoc des Diodorps fr. 2 (III 543 f. M.) aus. Hat ihn doch
kein geringerer als Zeus ^(Xio^ erfunden. Dieser tritt in die Häuser
ein, gleichviel ob arm oder reich, und wo er ein hübsch überdecktes
Lager sieht und einen Tisch mit gehörigem Zubehör dabei, da lässt
er sich fein nieder, und nachdem er sich mit Speise und Trank
gehörig gütlich gethan, geht er wieder nach Hause, ou xaxaßaXuiv
aufißoXdc. »Ganz eben so mach' ich es: seh' ich gedeckte Lager
und gerüstete Tische und die Thür offen, so trete ich still ein,
ordne meinen Anzug, um den Genossen nicht zu belästigen, greife
tapfer bei allen Schüsseln zu, trinke und gehe dann wie Zeus cpCXio;
heim«. Auch auf die ehrwürdige Genossenschaft der 12 Parasiten
des Herakles beruft er sich, wofür mit Sorgfalt begüterte und wohl-
beleumdete Abkömmlinge von Dynasten^) aus der Bürgerschaft aus-
gelesen werden. Dem Beispiel des Herakles folgend haben dann
später wohlhabende Leute Parasiten an ihren Tisch berufen, leider
nicht xoü<; ^(apteoxdxoüc , sondern xou^ xoXaxeüeiv Süvajisvou^, Leute
die ganz wie die x6Xax6(; des Eupolis sich zu den elendesten Schmeiche-
leien erniedrigen^). Diese Leute sind Schuld daran, dass der sonst
so ehrenvolle und rühmliche Beruf jetzt verachtet ist.
Es ist eben eine Kunst, die gelernt und geübt sein will, und
\) Vgl. Schweighäuser zu Athen. VI p. 238 B.
2) fr. 8 (III 594 f. M.).
3) nämlich voOoi.
4 V. 35-40: s. oben S- 45.
64 Ribbeck,
7A\ar von klein auf. Im IlpcoToppoi; des Antidotos^) erzählt ein
erfahrener Meister einer Schar von Adepten, wie er schon als Knabe
die Ohren gespitzt habe, wenn die Rede auf diesen feinen Beruf
(teptov) gekommen sei^). Ein anderer bei Axionikos im XaXxi8ix<S(;
fr. 6 (in 534 M.) erzählt von den Ohrfeigen und den Wunden, die
ihm an den Kopf geworfene Geschirre und Knochen in seiner Jugend
verursacht haben. Aber diese Lehrzeit ist zu seinem Heil gewesen :
jetzt weiss er den Streitsüchtigen durch bereitwillige Zustimmung zu
pariren, erwirbt sich Gunst, indem er dem Schurken, der ein braver
Mann zu sein behauptet, Lob spendet, und nimmt auch mit halbver-
dorbenen Speisen gelegentlich vorlieb. Eine Schule der ars parasitica,
deren Jünger nach ihm selbst Gnathonici heissen sollen, will Gnathon
im Eunuchus des Terenz (260 ff.) stiften.
Am ausgiebigsten ist die Belehrung eines gewiegten Altmeisters
bei Nikolaos (IV 579 M.). Nach ihm ist Tantalos ^) der Urahn des
Parasitengeschlechtes, aber er verstand sich schlecht auf seine Kunst:
er hatte eine zügellose Zunge, wurde vom Tisch (des Zeus) gejagt
und bekam einen Schlag: mitten auf den Bauch, dass ihm die Sinne
vergingen, — ganz mit Recht: denn er war ein dummer Phryger, der
die Offenheit seines Brotherrn nicht ertragen konnte. Auch jetzt ist
vor dem Leichtsinn, mit dem man den gepriesenen Beruf des doufi-
ß6Xu)(; xdXXotpia Setirvetv ohne alle Vorbereitung ergreift, zu warnen.
»Wie kommst du denn eigentlich dazu, Mensch? was verstehst du?
wessen Schüler bist du? welcher Secte hast du dich angeschlossen?
von welchen Grundsätzen gehst du aus? Mit Mühe gelingt es uns,
die wir ein ganzes Leben darauf verwendet haben, eine offene Thür
zu entdecken, weil es so viele unverschämte Concurrenten giebt.
Nicht jeden führt die Fahrt zur Tafel glückhch hin. Erstens muss
man eine gute Lunge haben, dann eine kecke Stirn, eine Gesichts-
farbe, die nicht wechselt, unermüdliche Backen, die einen Puff aus-
halten können. Das sind die ersten Elemente der Kunst. Dann muss
\) III 52 8 M., später als die gleichnamige Komödie des Alexis.
2j Der Sprecher wird bei Athenaeus VI p. 24 0b mit den Gelehrten in dem
von Claudius Caesar in Alexandria als Annex des Museums gestifteten Claudianum
(Sueton. Claud. it] verglichen^ cov ouBs [jLS[i.v7ja&ai xaXov : also etwa ein Haus-
gelehrter, wie ihn Lukian beschreibt?
3) Ixion als Parasit des Zeus: Lukian Kronosbriefe 1, 38 p. 447.
KOLAX. 63
man verstehen, wenn man verspottet wird, sich selbst auszulachen;
dem Brotherrn zu dessen Verderben zu Gefallen zu sein (irpb; )^dpt>i
6|jLtXei To5 tpecpovTo^ iiz* iXeöpcp). Der alte eitle Geck, der sich
schminkt, sei dir ein Ganymedes ; dem prahlerischen Krieger, der bei
Tische Schlachten liefert und Leichenhaufen thürmt (in seinen Er-
zählungen), höre geduldig zu, deinen Spott verbergend, und lass deinen
Aerger an den Speisen aus«. So übertrifft die Tspyj irapaoiTixig alle
übrigen Künste, selbst die dXaCove(a^).
Eine Ergänzung^) dieser Bruchstücke bietet Lukians Dialog über
den Parasiten, eine Lobschrift auf denselben, welche den Beweis
fuhrt, dass sein Beruf eine Kunst ist (Sit xepY] -Jj irapaotiixT^) . Es
ist nach dem Obigen wohl anzunehmen, dass der Sophist einen Theil
seiner Argumente und Beispiele der Komödie und anderen älteren
Quellen verdankt.
Der Parasit Simon ist auf die Kunst, als deren Meister er sich
rühmt, nicht weniger stolz als Pheidias auf seinen Zeus und schämt
sich des Namens Tcapdaixo^ durchaus nicht. Die erste Aufgabe des
Parasiten ist, zu prüfen und zu entscheiden, wer geeignet ist ihn zu
verpflegen, wem er zum Zweck des irapaaiTeiv sich anschliessen soll,
ohne es später bereuen zu müssen. Dazu gehört eben so viel Unter-
scheidungsgabe wie für den Münzkenner, der echte und falsche
Münzen zu scheiden hat, ja die Aufgabe des Parasiten ist schwieriger,
da er keine äusseren Kennzeichen hat : er muss eine Art Mantik aus-
üben. Welcher Geist und wieviel Übung gehört ferner dazu, immer
durch angemessene Worte und Handlungen dem Gönner seine Zu-
neigung zu zeigen und sich in seinen vertraulichen Verkehr einzu-
nisten! Dann erfordert es Geschick, an der Tafel des Freundes so
i) Anaxandrides im 4>ap[j.axop.avTti; fr. 49 (III 193M.j:
oTi etp.' aXaCwv, toüt' iiriTifi.«?; aXXa t(;
vtx^ -yttp aüTT) TCL^ T&yya^ Traaa? iroXo
\Lsxa DQV xoXaxsfav * Tj8s [iA^^ y^P öiacpspei.
%) Eine satirische Anweisung für die Jünger des Parasitenthums in Bagdad
zur Zeit der Chalifen theilt aus dem Arabischen mit Alfred v. Kremer Cullurge-
schichte des Orients unter den Chalifen II SOI ff. Unter Anderem wird auch hier
empfohlen: »vorzüglich nehmt auf Hochzeitsschm'äuse Bedacht , oder die Häuser, ,
wo man eine Erbschaft gemacht« u. s. w. Dann bekennt der Altmeister: »o ^wie
oft habe ich gestritten und gelitten, Hiebe gegeben und bekommen, Tritte ver-
theilt und genommen!« u. s. w.
Abbandl. d. K. S. Gesellsch. d. Wissensch. XXI. 5
66 RiBRRCK.
viel wie möglich zu essen. Der Parasit muss ein Kenner sein und
wissen was gut schmeckt, und er muss diese Kennerschaft beständig
pflegen, um sie nicht zu verlieren.
Die TcapaaiTixT^ ist in der That eine Tepyj ttotIcov xai
ßp(üT£(üv xal Tu)v 8id laöia Xexxetüv, ihr xsXoc ist das :?]8ü, und
schon Homer, in dessen Zeit die Parasiten 8atTüfi.6ve^ hiessen, stellt
durch den Mund des Odysseus, des weisesten der Hellenen, die
Tafelfreuden als das schönste Ideal hin. Epikur hat der irapaoiTixi^
ihr TsXo<; entwendet für seine 6ü8at[JLov(a , aber bei ihm kommt es
nicht zur Geltung über der Unruhe wissenschaftlicher Forschung^).
Der Parasit als Optimist zerbricht sich nicht den Kopf über die Welt-
schöpfung: in grösster Behaglichkeit und Seelenruhe isst er, liegt
rücklings, Füsse und Hände ausgestreckt wie Odysseus, als er von
Scheria nach Hause abfuhr. Der Epikureer, auch wenn er reich ist,
hat viel Sorgen und Verdriesslichkeilen in seinem Hauswesen, die
ihm das ifio verkümmern können. Der Parasit hat weder einen Koch,
dei" ihn ärgert, noch Feld noch Hausverwalter noch Silbergeschirr,
dessen Verlust ihm Verdruss bereiten könnte.
Alle anderen tej^vai erlernt man mit Mühe, die Parasitenkunst
allein ohne alle Mühe. Wen hat man vom Schmause weinend weg-
gehen sehen: wie viele aus der Schule? wer geht mit finsterem
Gesicht zum Schmause, wie die welche in die Schule gehen? Was
Väter und Mütter ihren Kindern zur Belohnung ftlr Fortschritte im
Lernen geben, das hat der Parasit alle Tage. Täglich feiert er Feste,
alle Tage sind für ihn heilige. Die Ausübung dieser Kunst bedarf
keiner Werkzeuge, sie braucht überhaupt nicht gelernt zu werden,
sie stellt sich durch göttliche Eingebung (detqt [lotpqL) ein wie die Dicht-
kunst. Man kann sie ausüben zu Lande und zu Wasser, daheim
und unterwegs. Ihre Voraussetzung (apx^^) ist die edelste, nämlich
Freundschaft (cpiX(a). Nur den Freund lässt man Theil nehmen am
Tisch und den Mysterien dieser Kunst. Dass dieselbe eine könig-
liche ist, sieht man daran, dass der Parasit sie im Liegen ausübt,
nicht sitzend oder stehend, nicht im Schweiss seines Angesichts wie ein
Sciave. Er pflanzt und pflügt nicht. Alles wächst ihm von selbst zu.
Die Parasitik hat allein einen festen Begriff, während es über
\) Vgl. Hegesippos fr. 9 oben S. 34.
KoLAx. 67
das Wesen der Rhetorik, der Philosophie die verschiedensten An-
sichten giebt. Sie ist dieselbe bei Hellenen und Barbaren, es giebt
keine Verschiedenheit der Dogmen in ihr.
Kein Parasit trägt nach der Philosophie Verlangen, aber viel
Philosophen nach der Parasitik. So ist der Sokratiker Aeschines in
Sicilien Parasit bei Dionysios geworden, ebenso Aristipp, der es zu
grossem Ansehen in diesem Beruf gebracht hat. Plato dagegen hat
ihn nach zweimaligem kurzem Versuch wegen Ungeschick aufgeben
müssen. Aristoxenos war Parasit des Neleus, Euripides bei Archelaos,
Anaxarchos bei Alexander. Aristoteles ist in der Parasitik nur ein
Anfänger gewesen wie auch in anderen Künsten. Wenn es zur
Gluckseligkeit gehört nicht zu hungern, zu dürsten, zu frieren, so
trifft das vor allem bei dem Parasiten zu. Philosophen, die frieren
und hungern, sieht man genug, aber keinen Parasiten ; denn wer dies
leidet, ist eben kein Parasit, sondern ein Bettler oder ein Philosoph.
Wenn ein Krieg bevorstände und eine Musterung der waffen-
fähigen Mannschaft stattfände, so würden die Parasiten sich als die
tauglichsten herausstellen. Philosophen und Rhetoren sind mager
und blass, der Parasit ist wohlgenährt, von angenehmer Hautfarbe,
weder schwarz wie ein Sclave, noch weiss wie ein Frauenzimmer,
lebhaft, mit kühnem feurigem BHck. Die besten Helden bei Homer
sind Parasiten: Nestor war Parasit des Königs, der ihn höher stellte
als den Achill, den Diomedes und den Aias. Auch Idomeneus war
Parasit des Agamemnon, Patroklos des Achill. Um ihn zu tödten
bedurfte es eines Gottes und zweier Menschen, und wie nobel ist
er gestorben! Dass er aber Parasit war, beweisen seine eigenen
Worte bei Homer, denn er nennt sich nicht cpiXo;, sondern OspaTccov
des Achill, was nur Parasit bedeuten kann, da er ja kein Sclave
war*). Ebenso ist Meriones Parasit des Idomeneus gewesen, endlich
(nach Thukydides) Aristogeiton , der Befreier Athens, Parasit des
Harmodios, denn er war arm und dessen Ipaor^^, und natürlich sind
doch die Parasiten ipaoxai ihrer xpscpovxs«;. Wie benimmt sich nun
der Parasit im Kriege? Zuvörderst geht er nie in die Schlacht, ohne
vorher gefrühstückt zu haben, wie auch Odysseus vorschreibt. Wah-
rend andere mit ihrer Rüstung zu schaffen haben und vor Furcht
1] Vgl. Demelrios von Skepsis oben. S. 7. 32.
5*
68 Ribbeck,
zittern, sitzt er mit heiterer Miene bei Tisch. Nachher kämpft er
in der vordersten Reihe, deckt mit seinem Schilde seinen xpecpcov,
dessen Leben ihm ja theurer ist als sein eigenes. Fällt er, so bietet
er noch als Leiche einen stattlichen Anblick, als ob er bei einem
Symposion läge.
Im Frieden überlässt er Markt und Gerichte den Sykophanten,
besucht Gymnasien Palästren Symposien, deren Zierde er ist. Er
weiss mit den wilden Thieren umzugehen: weder vor einem Hirsch
noch vor einem Wildschwein erzittert er bei Tisch, er weist ihnen
die Zähne. Auf Hasen macht er besser Jagd als die Hunde. Wer
nimmt es beim Symposion mit ihm auf in Spässen und Essen, mit
Singen und Scherzen?
Was nun seinen übrigen Lebenswandel betrifft, so verachtet er
den Ruf: es jst ihm gleichgültig, was die Leute von ihm denken.
Er schätzt das Geld so gering wie die Steine am Strand. Er ist
nicht zornig, oder wenn er einmal erzürnt ist, so erheitert er viel-
mehr damit seine Gesellschaft^). Es giebt nichts was ihm Verdruss
bereiten kann, da er weder Geld noch Haus noch Diener noch Weib
noch Kinder hat. Wenn er Nahrungssorgen hat, so ist er eben kein
Parasit mehr. Er wird auch nicht von Furcht geplagt. Seine Thüre
legt er des Nachts nur leicht an, damit sie nicht vom Wind geöffnet
wird ; kein Geräusch in der Nacht erschreckt ihn ; an einsamen Orten
geht er unbewaffnet. Den Parasiten kann niemand wegen Buhlerei
oder Gewalt oder Raub anklagen 2). Sobald er eins dieser Vergehen
begeht, hört er auf Parasit zu sein. Es giebt keine Apologie eines
Parasiten und nie ist ein Process gegen einen Parasiten erhoben
worden. Er stirbt den glücklichsten Tod, essend und trinkend:
höchstens stirbt er an mangelhafter Verdauung^).
Ein Reicher ohne Parasit, der allein isst, erscheint als ein Bettler,
armselig und elend, wie ein Krieger ohne Waffen, ein Kleid ohne
Purpursaum, ein Pferd ohne cpdXapa. Der Parasit ist sein Schmuck
und sein Schutz.
Selten wird in der Komödie, desto häufiger aber in moralischen
und satirischen Betrachtungen die Schattenseite des Charakters
i) Vgl. Diphilos Süvcüpi;.
%] Vgl. Alkiphron HT 52.
3; Vgl (lial. inorl. 7.
KoLAx. 69
direct herausgekehrt. Nur aus dem Tdifioc des Diphilos haben wir
eine in grösserem Stil gehaltene Auslassung über das Unheil, welches
der xoXaS anrichtet, fr. 23:
6 Y^P x6Xa5
xal oTpaTTjY^v xal 8ovdaT7]v xai cpCXooc xal xac itoXetc;
dvaipeTcei X6"|ftt) xaxoupYO) |xtxpbv iljSüva; jjpovov.
vöv OS xai xa)(eS(a ti<; üTco8e8üxe toü(; Sj^Xoü^;"
ai xp(oeic 8'if)|n5v vooouoi, xal to icpö^ X^P^"^ tcoXu.
Auch im Veu87]paxX^^ des Menandros fr. 505 beklagte (vielleicht
ein treuer Diener) das Unheil, welches der Parasit mit seinem Ge-
folge im Familienleben anrichte, wenn er zur Frauenwohnung und
zur Vorrathskammer Zutritt habe. Hieran schliessen sich die Verse des
Komikers Anaxilas fr. 33 (III 353 M.): die x6Xaxe(; sind Würmer
in der Habe der Besitzenden. Sie nisten sich bei einem Arglosen
ein und essen, bis das Futter alle ist: nachher ist dieser eine leere
Schale, sie aber nagen einen anderen an').
Wie man sonst über den x6XaE dachte, mag eine kleine Samm-
lung von Vergleichen lehren, durch die man ihn charakterisirt hat.
Der x6XaE hat die Natur des Polypen, der die Farbe des Felsens
annimmt, an dem er gerade haftet, und sie mit dem Ort wechselt;
er ist also ein echter Hellene, der nach der alten Regel lebt, die in
populärer Spruchweisheit schon dem Kinde eingeprägt wurde ^). In
demselben Sinne gleicht er dem Chamäleon: wie dieses alle Farben
annimmt, ausgenommen die weisse, so vermag er sich Allem anzu-
passen, nur nicht dem Ernsthaften und Guten ^). Er ist wie ein
Spiegel, der die Bilder fremder Bewegungen und AflFecte wieder-
giebt^), wie der Schatten des Menschen, der mit ihm geht und
steht*), wie jene Eulenart (coxo^), die dich umschwirrt und alle
deine Bewegungen mitmacht®), wie der Vogelsteller, der die Stimme
\) Vgl. Plutarch <fiko(; und xoXaE 4 9 p. 61 D.
2) Plutarch cp(Xo<; und xoXa£ 8 p. 52 F. Vgl. Allienaeus VII 4 00 p. 31 6 ff.
Zenobius 1 24 mit d. Erkl. J. Bemays über d. Phokylideische Gedicht S. XI f.
3] Plutarch a. 0. p. 53 D.
4) PluUrch a. 0. p. 53 A.
5) Plutarch a. 0. p. 53 B.
6) Plutarch a. 0. p. 52 B. Wyttenbach vergleicht Aristoteles hisl. an. VIII 42:
<öTo<; . . . loTt 6i xoßoXo; xal ji.t|jLTjTr|(;, xal avTop/oüjievo; aXtoxeTai, icepieXOovTo;
Uatipoo TcüV ö>]p6üTÄv, xaÖairsp y^oiüE. Plutarch de anim. solert. p. 964 E.
70 RWBCCK.
der VOicel Dachabiut* : wie ein schlechter )laler, der wirkliche
Schönheit nicht zu erreichen vermag, sondern die Ähnlichkeit in
Kunzein, Narlicn. Hautflecken sucht ^^: wie Wasser, das sich aus
einem Geßbs ins andere i^iessen lässt^. Wie den Stieren die Bremse,
den Hunden die l^us im Ohr sitzt, wie der Holzwurm sich gerade
in weiches und süsses Holz am liebsten einbohrt, so klammert sich
der zo'/.a; am liebsten an Eitle und Ehrgeizige ^]. Er ist der schlimmste
Bekampfer der Selbslerkenntniss, ein Feind des Pythischen Apollon
und, sofern die Wahrheit etwas Göttliches ist, ein Gottverhasster^).
Wie unechtes Gold nur den Glanz des echten ausstrahlt, so giebt
der xoXa; nur die heitere und freundliche Seite des wirklichen Freun-
des wieder''^. Er ist nur für frivole Zwecke zu brauchen, wie der
Affe als Hauslhier nur zu Possen und Scherz dient'}, diebisch und
rüuberisch wie der Rabe**} und Geier^, zudringlich wie die Fliege"^.
Er wedelt, kriecht, grinst wie der Hund.
V.
Die Charakteristik des xoXa5-irapdaiTo; wird weiter vervollständigt
durch die Spitznamen, welche Einzelnen oder besonderen Kate-
gorien beigelegt sind. Ein Theii derselben ist schon zur Erwähnung
gekommen.
Zu>(io;. Anaxandrides fr. 34, 5: XiTcapi; TrepiTcaTei Ar^iioxXij;, C^fib;
y.aTa>v6{iaaTai (über Demokies S. 83). Aristopbon fr. 3: av tk;
Eoxt^, 7cdp8t|xt TcpcBxoj;, wot' i^Stj TtdXat . . . Cu>{Jio^ xaXoG|iai.
Kdpxapoc, der scharfgezalmte = Thrason, Parasit des syrakusischen
Tyrannen Uieronymos : Athen. VI p. 251 E.
I) PJutarch praec. rei p. g. 3, 13.
t) Piutarch cpiXo? und xoXaS p. 53 D.
3} Ebenda p. 52 B.
4; Ebenda p. 55 E. 49 D.
5j Ebenda p. 49 ß.
6) Ebenda p. 50 A.
7j Ebenda p. 6 iE. Lukian Fischer 34 p. 603: xoXaxeuTixwrepoi 64 tcuv
?rilh)Xtt>v. 46 p. 613: heuchlerische Philosophen sollen gebrandmarkt werden mit
dein Stempel des Fuchses oder des Affen.
8 Ari.stophanes Wespen 45 0*. Diogenes bei Athenaeus VI p. ?54C.
9 Vgl. Lukian Timon 45, 159: Y^^^J^v airavTuiv ßopcüTate.
10 Antiphanes fr. 194, 7: Bsiiwetv axXrjXO? [xula. Vgl. 230, 6.
KOLAX. 71
K6aTpGü<;, ein Seeßsch, der kein Fleisch, auch nicht von Fischen
frisst (vYjaxeüei). So heissen hungrige Parasiten. Schon Aristo-
phanes im Gerytades fr. 156 K. nannte ehrliche Hungerleider
av8pa(; x€axpei<;. Alexis im OpuS fr. 251 : e^ui S^ x6aTpe6<; v^otk;
ofxaS' diüoTpe^ü) (vergeblich hat er auf dem Markt eine Einladung
erwartet). Diphilos in den Ai^ptai fr. 52: oöiot BeSencviQxaoiv
6 Se xdXac i'^io | xsaxpeu^ av 6?y]v evsxa vY]OTe(a<; ofxpa^. Euphron
in der Aioxpa fr. 2 (IV 489 M.): M{8a; 8s xeorpeu^ eoxf v^oxtc
TcepiTcaxsi. Anaxandrides im '08uaae6^ fr. 34, 8 (III 177 AI.): xd
Tc6\\' dSeticvoc icepncaxei, xeoxpivöc eoxi v^oxi^. Eubulos in der
Nausikaa fr. 68 (III 238 M.): 8<; vöv xexdpxYjv iJjiiepav ßaTcx^Cexai, |
v^axiv TuovYjpoü xeoxpsu)^ xptß(i>v ß(ov. Bei Ameipsias in den
^AicoxoxxaßCCovxe; fr, 1 (II 701 M.) ein Gespräch zwischen einem
Parasiten und dessen ungastlichem Gönner. »Ich will auf den
Markt gehen«, sagt der erstere unmuthig, da er die Hofinung
aufgegeben hat bei diesem zu speisen, »und will sehen, ob ich
Arbeit (d. h. eine Einladung) kriege«. Darauf der andere : »recht
gut, dann bin ich dich los«, ^xxov fdp oijv | v>]axi^ xa&dTuep
xeoxpeo^ dxoXoüdT^oei; 6[xo(. Vgl. Athenaeus VII c. 77 — 79.
Zenobius IV 52. Diogenianus V 53. Hesychius s. v. xsoxpeic;.
Vgl. oben S. 23. 25.
K6p|ioc (xopfAÖc Stumpf, Rumpf): Timokles fr. 9. Vielleicht nur ein
X(ü7co8üxr^<;.
Kopu8oc, Lerche = Eukrates (vom Lachen und seiner hellen
Stimme?). Athenaeus VI c. 39 ff. 47. Kratinos iun. fr. 8. Alexis
fr. 45. 166. 178. 222. Timokles fr. 9, 11. Euphron fr. 8.
Kpißavoc apxcov, Backofen: Ephippos fr. 1?
Kup7]ßi(uv, Kleie = Epikrates, Schwager des Redners Aeschines:
Demosthenes de f. 1. 287 Harpokration s. vv. 'EirtxpdxYj; und
KupY]ß(u)v. Athenaeus VI p. 242 D. Alexis fr. 466.
Ktt)ߣ(üv, Gründling: Alexis fr. 166 (vgl. 97).
Aa-^üvCcov, Flaschner = Demokies: Athenaeus XIII c. 48.
Ae|ißo^. Anaxandrides fr. 34, 7: 67cioöev dxoXouOei x6Xa$ xto, Xe(xßo<;
^TCixexXYjxai.
Miccotrogus = Gelasimus im Stichus des Plautus 242: 'nunc Micco-
trogus nomine e vero vocor'.
72 Ribbeck,
Peoiculus in Plautus' Menaechmi 77: 'iuventus nomeD fecit Peni-
culo mihi Ideo quia mensam, quando edo, detergeo'.
IlxspvoxoTüU» Schinkenschlächter = Philoxenos Athen. VI c. 40.
48 Axionikos fr. 6. Menandros fr. 269. Vgl. FIxepvoYXü^o;,
riicpvoTpcoxTYj^ Batrachom. 222. 29.
Scortum = Ergasilus in Plautus' Captivi 69: ^iuventus noiuen indidii
Scorto mihi Eo quia invocatus soleo esse in convivio'.
S6(JitoaXt(;, Weizenmehl: Alexis fr. 166. 97.
SeöiXov, Mangold = Eukleides: Athen. VI p. 250 E. Die Form
gsutXov für das attische xeSiXov klang dem Athener affectirt
(Meineke com. Gr. III 448).
SxYjTCioc, Gewitter: Antiphanes fr. 194, 10 f.
2x6(X|3po<;, Makrele: Alexis fr. 166 (vgl. fr. 76. Timokles fr. 14).
Hier reihen sich die Parasitcnn amen der Dichtung an:*) I
'AxpaToXü|xa<; A III 53 (vgl. Athenaeus VI p. 251 E über Thrason).
'AXoxüiiivoc A III 58.
'A(xdaYjTO(; A III 59 (A\La<sTo<i Meineke: vgl. Suidas ajjiaaTo;' 6
afxaoTjToc;).
'AptoToxopa^ A III 68.
'ApioT6(xaxo^ A III 49.
'ApTeTü(&ü(xog A III 6. Vgl. 'ApTeirCßoüXo^ Batrachom. 258. 'Apio-
cpci^o; Batrachom. 211.
'A pxoTTüxTTjc; A III 50.
Artotrogus: Plautus' miles glor. Vgl. TpcoSdpxr^c Balrachom. 28.
105. 110. 247.
AüxöxXyjxo; A III 55.
Bopßop6C(ü|xo(; A III 74.
Bouxicov A III 43, verwandt mit ßoüxxCCstv = ieientare? (anders
Meineke zu A III 60, der diesen und andere Namen von ßöxo;,
einer Weinsorte bei Alexandria, herleitet. Mit bucca stellt Knorr
den Namen zusammen).
BoüxoTTvtxxT]«; A III 50.
rdaxpcov in gleichnamiger Komödie des Antiphanes.
Gelasimus im Stichus des Plautus.
\] Die Namen des Alkiphron stellte von A — E zusammen Knorr in d. Progr.
S. I2ir. Ich bezeichne mit A die Briefe des Alkiphron.
KoLAX. 73
FeiJieXXot; A I 22, vielmehr wohl ein ä^P^ixo«;: vgl. I 27 f.
Fvadcov A III 34. 44, im Eunuchus des Terenz. Vgl. Longos IV
10 f. Hesychios.
I\adtovt8Y]; Lukian Timon 45, 159; Fugitivi 19, 375.
FpovÄtov (= dva^üOYjoi^ ; Hesych.) A III 52 ("ifipOwv Veo. Ypf^«>'^
Par. Ven. mg. TevOCcov Hercher).
rpüXXitov A III 10, 2. 44, 1. Axionikos fr. 2, vgl. Athen. VI p. 244F.
245 A. XIII 591 D (s. die Liste der historischen Parasiten S. 81).
Curculio des Plautus.
Yrojxvoj^aCptov A III 66 (AenTvo^^afpcov oder rafxoj^atpwv Herel.
'A|ivo5(atp(üv verm. früher Hercher. I'apoj^aipcov Knorr. Tupo-
5^dpü)v? Dass die zweite Hälfte -/(ipwv lautete, bemerkt Hercher).
Ai'jjavaicauoiXüTuo^ A III 67.
*ExTo8i<6xT7]^ (= rJjv exDQv 8i(6xtt)v: vgl. III 4) A III 5. ('ETvo8t(6xxT]<;
Seiler).
Ergasilus in den Gaptivi des Plautus (vgl. Ip-fov Xaßeiv). Nach
König de nom. propr. 19f. = Scortum (vgl. Artemidorus I 78).
'EpsßivOoXsiov, Erbsenwürger A I 23: Hercher Philol. IX 42.
( E peßivOoXeTciüv Meineke) .
'ExotjJidptOToc; A III 55.
'Exotfi6xoooo(;, Dachtelmeier A III 7.
EößoüXo^ A I 22 (ob Parasit?)
Euxvioot; A III 52.
E(paXXoxüOpif]<; A III 64 (xuOpr] ionisch = x^^P^)-
ZYjvöyavTot; Lukian Todtengespr . 7 .
Z(i>{jiex7uv6tt>v A III 7.
'H8ü8si7cvo; A III 68.
jHaiL^o^d-fo^ A III 56 (Wüixßpocpd-yoi; Bergler. ' laii-ßocpapc iMeineke.
BajjLß6cpaYpo<; Hercher: cpa^pot; ein gefrässiger Fisch).
HiQpcüv bei Menandros fr. 854.
HpaooxüSoijjLoc A III 70, wohl eher ein Krieger?
lox^oXifio^ A I 21.
Ivaicvoo'f pdvT>](;AIII 49: vgl. Eustathiusp. 171 8,60 (com. anon.fr. 1 19;.
Kaicüpoo'fpdvTTjc? A III 62 (Kair/oo9pdivnf](; Reiske. KaTCpoocppdvTYj(;
Seiler).
KecpaXoYXü7CT7](; A III 48 (nach Seiler. KecpeXo^Xüirnfj; Ven. 'E<peXo-
^Xüirtr^; die übrigen Hdschr. Vgl. Anm. 2 zu S. 58).
t IT^
74 Ribbeck,
Kvio6Cü>(xo^ A III 6.
KooooTpd7üeCo<; A III 69 (KvcoacoTpaiceCo; Hercher. rXoioooipdTcsCoi
KnoiT !)
KoTüXoßpoxOioo; A lil 8.
KpeoXwßyj^ A III 51.
Küvaiöoc A III 43 (s. unten S. 87).
KüTreXXioT/j^ A III 56.
Kü>va>TCoocppavTY](; A I 21 (KaTrvoocppcivTy]^?)
K(i)7ca8t(ov (Liebhaber von Aalen aus dem Kopaissee) A III 52
(nach Hercher Herrn. I 280 : KoTiaSfcov die Handschr. AoicaStcov
Schäfer).
Aai[ioxüxX(o^ A III 51 (s. unlen KüxXwtcsi;).
Aaj^avoiJaüfJtaooc A III 47.
Asi/oTTivaS A III 44 (vgl. Aet/oTuivaS Batrachom. 100. 227. A6tp(x6XT]
Batrachoni. 29. Aet^iQ^^top 202).
AijjievTepo^ A III 59.
AtjxoTCüxTYj; A III 70 (nach iMeineke; AijjLoTcucjTr^i; die Handschr.
AifxoYeuaxrjQ Seiler).
Ao7i:aosx{}a[xßo(; A III 4 (nach Reinesius, Xo7rao£)ri)ajj.ß(i> die Handschr.).
MavSaXoxoXdTüTTjc;? Ricgelfeiler, Thiireinbrecher? A III 5 (Mav-
ooXoxoXaicTT] 6 MavSüXtxoXaTrqj Ven. Ma>^8iXoxoXd7mg die Übrigen
Hdschr. MavotXoxXsirnrj Reiske KavSoXoxoXiTuxY] Seiler Ma^SaXio-
xoTUTig Hercher).
MaiTüacpd^too; A III 48 (nach Hercher Herrn. I 280: [i.aTTacpav(oott)
H Mairacpavfoü) Ven. Mainracpaatü) die übrigen Hdschr. MaTcira-
cpavioü) Seiler).
Mepi6a(; A III 61 (s. Meineke) = i&v dptoicov aTrocpspofJtevo«; fispi8a(;?
vgl. 56, 1. MepiSapTrag Batrachom. 257. 270).
Movo-yvcOo^ A fr. I (Movo-f^dOo) Hercher. Movo^vaiKcp die Hdschr.
Meineke nimmt den Nom. Movo^viOiov an).
Multivorus: lex convivalis.
Oiv6XaXo^ A III 57 (0{v6Xao; Ven.).
OtvoTTvtxTYj^ A III 8 (nach Ven. O^votctqxtyjc; die übrigen Handschr.
Oivoiri7rY;(; Seiler).
Ofvo/apcüv A III 72 (mit Hercher, OJvoj^aiptov die Handschr.)
riavXdj^avo^ A fr. I (vgl. Hesychius FlaXXaj^avov) .
KoLAX. 75
riaTttixtcüv A III 10, 2. 42, 1. Über die Phönikischen Zwergidole,
naxatxoC, Herodot III 37. Vgl. com. anon. fr. 443.
riaTeXXo^apcov A Hl 54 (lloteXXojjapovTt die Hdschr. ITaTeXXoj^dpcüvi
Hercher) .
Hr^Zd-^xiD^ A HI 65 (nach Hercher. nr^SotYJtcofio^ Par., nffid-^tty^ot^
Ven., von Meineke verlheidigt. Ilr^WYVjcpvoi; die übrigen Hdschr.).
ritvaxooTrÖYYto^ A HI 63 (ritvaxooicoYYtov Meineke p. 164. riivaxo-
oTzo-^-^iGw Hercher. Vgl. Peniculus S. 72).
nXaxouvTo|Xü(i)v A HI 67. Ein solcher ist I 22 geschildert.
nXaTuXai|jLo^ A I 23.
rionrjpio^f Xüapoc A III 57 (nach Bergler. rioTTfjpo^Xüapa) die Hdschr.).
Properocius: lex convivalis.
'Pa^ooTpaiYtoo^, Beerenpresser, A HI 42.
*Pacpavo5f6pTaoo(; A HI 72.
'PlvöjjLaxo; A III 65 (vgl. Menandros fr. 854: £"|f«>"|f' eirtotafiai ^iväv.
* Pilf ofid)^o> Meineke. * Puxo (xd/cp Hercher).
ZapSavditaXXoc A IH 52, 1.
Saturio im Persa des Plautus.
2xop8oX£TCLao<; A HI 62 (s. Meineke. SxoSpoXeTctooc Ven. 2xopo8o-
Xe7cioo<; Hercher).
STe|i.9uXooai{Jiü)v A Hl 42 (^tacpuXodaifjiovi Vat.).
SxeiKpoXo/dpoDv A III 46 (mit Hercher. i^teficpoXoj^afpcov die Hdschr.).
SxpdTto«; Alexis im Flüpauvo«; fr. 196.
STpoüd(a<; Menandros fr. 285. Vgl. Lukian Fugilivi 19, 375.
^Tpoü»(ü)v A HI 43 (2Tpoü&(a^ Ven.) I 9.
Ti^Xecpo^: Alexis OopdoiToc.
Toüp8ooüvaY0<; A IH 64 (ToupBoxü^aYoc verm. Meineke. ToupSooujji-
(pd^oc; Seiler).
TpaireCoXefxTY]^ A III 45 (nach Ven. und 6. TpaTceCoXefj^cov die
übrigen Hdschr.)
TpexeoetTtvo^ A III 4.
TpixXtvoodS, pulvinar farciens, A III 69 (nach Ven. TptxXivoodpa^
die übrigen Hdschr.).
*Y8>^oo9pdvT7](;, Trüffelriecher, A III 61 (nach Hercher. üSpoocppdvTYj^
die Hdschr. ausser Ven., der SxopSootppdvxirji; hat). Als seinen
eigentlichen Namen giebt er üoXußio; an.
76 KlBBECK,
'YTcvoipaTüsCo; A HI 60 (' FTuvoipaireCo; Seiler).
Oaxio^dpSaTTTo^ A Ili 66 (nach Hercher. OaYoöapödpxu) Ven.
Oa^oSafTT] die übrigen Udschr. ^baYocapodirra) Meineke).
<I>tXd7ropo<; A III 71 (s. Meineke).
<l)iXidor^;: Lukian Timon 47 f.
^iXo^apeXaStot; A III 58 (^iXo^apeXototov Meineke p. 164).
<I>iXo(jidYeLpo(; A III 63.
Phormiü des Terenz (Donat praef. p. 14, 4ir. R.: 'quamobrem
nulla dubitatio est hanc solam esse, cui nomeu poela mutaverit, et
errare eos, qui in hac Phonnionem parasituin putant a formula litis
quam intenderit nominatuin, cum Graeca lingua (iscus spart«us et
slramen nauticum sie dicatur: a cuius rei vel capacitate vel vilitate
etiam ab Apollodoro parasitus Phormionis nomine nuncupatur').
<|)piY05«o(XY](;, Schmerbauch? A III 74 ((I)püYoxotXTj(; Ven. ^tpi^oxot^Tj;
und Opi^oxeCXT]^ andere Hdschr. OpixoxoCXiQ^ Bast. OpixoxoiTT};
oder *PiY05cotTY](; verm. Meineke).
XaoxoßoüXY)(; A III 60 (Boüxoj^doxYj^ verm. Seiler und Meineke).
XüxpoXe(xTTj<; A III 54. Vgl. ' Kfißaat'x^Tpoc Batrachom. 137. 224.
XcovoxpdxYjc, Tiegelbeherrscher, A III 53 (nach Seiler. Xtovoxpdxtü
und Xovoxpdxo) die Hdschr.).
Vij^oStaXexxYj;, Krümelnascher, A III 45 (f'ixo8taXe£xxTQc Seiler).
Derselbe wird angeredet Wi^tcov. Vgl. S^t^apiraS Batrachom. 24.
106. 141. 231.
S^tX^'^^^^^'^l^j KrUmelbeweiner, A III 43 i^üxoxXauoxYj(; Ven.).
Wiirjliaio<^ A III 71.
*QpoX6Yio(;, der nach der Uhr sieht, A III 47.
VI.
An diese Namenliste, welche den Parasiten hauptsächlich als
gierigen Tischgast charakterisirt , fügen wir zunächst einige Bilder
hervorragender historischer Persönlichkeiten dieser Gattung,
welche in der Komödie vorkommen.
Vor allen ist zu nennen Xatpecpdiv^). Er hat die Kunst er-
funden sich xa SetW daüfißoXa zu verschaffen. Er geht früh auf den
Topfmarkt, wo Kochtöpfe an Köche vermiethet werden. Sieht er,
\) Athenaeus IV 58 p. 1G4F. VI 42 p. 243 0*.
KoLAX. 77
dass ein Koch einen solchen für einen Schmaus miethet, so fragt er
ihn nach dem Namen des Gastgebers, und sobald er bemerkt, dass
sich die Thür desselben öflFnet, so tritt er allen voran hinein^). Ein
feineres Stralegem war folgendes. Am 24. Gamelion war der {spoc
7a|jLo<; des Zeus und der Hera, ein Fest, welches zugleich mit den
Gamelien der Phratrien durch Privatschmäuse, zu denen man die Ge-
nossen der Phratrie einlud, begangen wurde. Um sich für eine solche
Einladung frei zu halten, erklärte Chairephon, er werde den tep^c
'Yd(io(; am 22. bei sich zu Hause feiern, einem Unglückstage, an dem
voraussichtlich kein Gast zu erwarten war^). Man musste immer
darauf gefasst sein, ihn neben den eingeladenen Gästen als TuapaßaGTo;
auftauchen zu sehen ^). »Ich lade Ares und Nike ein bei meinem
Abzüge«, sagt ein ins Feld rückender Krieger; »ich lade auch den
Chairephon, denn wenn ich ihn auch nicht lade, so wird er doch
axXr^Toc kommen«*). Bei einem Hochzeitsschmause liegt er einst
wieder ungeladen zu unterst am Tisch. Da kommen die Yüvatxov6jiot,
welche nach einem Gesetz des Demetrios Phalereus zu inspiciren
haben, ob die Anzahl der Theilnehmer auch nicht das gesetzHche
Maass (30) überschreite. Es ergiebt sich, dass Chairephon überzählig
ist, und er wird fortgewiesen. Er aber sagt zu den Beamten: zählt
doch noch einmal, fangt aber bei mir an^). Wie zu Hause war er
\] Alexis fr. 252.
2) Menander fr. 309:
i\u -yolp 8UTpn];sv" 0
xofjLtJ^oTaTo? avopcov Xaipscpaw, Upov Yttfiov
cpdcoxcuv iron]osiv Ssuiipcf [xst eixaSa
xaÖ' aoTov, tva t^ TsipaSi Ssmtv^ irap^ itspoi;-
xa T^€ &so5 Yttp iraviaxo)? Ij^siv xaXco;.
3) Timolheos fr. ,2 p. 798 M.
4) Apollodoros v. Karystos fr. 25. Vgl. das Apophthegma der Gnathaina bei
AUienaeus XIII p. 584 E = Wiener Apophlhegmensammlung n. 188 (Wachsniuth
Heidelberger Festschrift zur Begrüssung der 36. Philol. Vers. <882 S. 32). Es
ist ein Zug des imepi^cpavoc , beim Gastmahl zu spät zu kommen : Chairephon
ooSs xoXoofievo^ Ip^^siai, sondern axXr^xo;.
5) Athenaeus VI p. 245 A. Das von Philochoros im 7. Buch seiner Atthis
: ebenda p. 245c) erwähnte Gesetz war neu, als Timokles seinen <l)tXo8ixa<mj(;
aufführte (fr. 32), wo ein aowToc spricht. Im Rückblick auf jene Zeit, wo die
neue Verordnung manchen Conflict zwischen den Betheiligten hervorrufen mochte,
erzählte einer im KexpucpaXo? des Menander (fr. 265) eine Anekdote, vielleicht von
Chairephon, der ja in diesem Stück erwähnt war (fr. 270). Durch diese Auf-
78 RiBBEGK,
als ständiger irapajiaoi^Trj^ bei dem Verschwender Demotion*). Einst
war er wirklich zu einem Schmause geladen. In der Nacht wacht
er auf, sieht den Schatten des Mondes, glaubt, es sei die untergehende
Sonne, stürzt fort in Angst zu spät zu kommen , und ist bei Tages-
anbruch zur Stelle^). Selbst über das Meer nach Korinth ist er un-
geladen zu Gast gegangen, so viel Freude machte es ihm, an fremdem
Tisch zu essend). In einer Komödie des Nikostratos kam er selbst
unter den Personen als Zechgenosse vor^). Mit einer hungrigen See-
möve (wie einst Aristophanes den Kleon) verglich ihn der Parode
Matron*) in seiner Schilderung des Schmauses, welchen der Redner
Xenokles*) in Athen gegeben hatte. Er Hess denselben wie den .Feld-
herrn auf dem Schlachtfelde die Reihen seiner Gäste durchschreiten :
8 ox^ 8 cfp' iiz oüSbv t(6v, o^eS^öev 8e oi f^^ '7üapdatTo<;
Xaipecpocov, Tceivcovxt Xapu> äpviöt') soix(u(;
vi^OTYjc;, dXXotpiu>v eu ei8ü)^ SeiTuvooüvdcov.
T(p oe [idifetpoi [jlsv cpopeov TtX-^oav xe xpaTceCa«;,
oT^ eTrtTexpaTCTat [ti-^ac, oupavö^ iTcravtdaiv,
T^fjLSv sTütoTcsGaai Setirvoo X9^^^^^^ 'h^ dvafieivat.
fassung, die auch durch dea Ausdruck xaToi vofjLOV xaivov Tiva bestätigt wird,
sind die von Meineke anal. crit. (Athen, vol. IV p. 4 07) geäusserten Bedenken
gehoben. Zu Menanders Zeit scheint das Gesetz schon nicht mehr gegolten zu
haben. Vgl. Boeckh Ges. kl. Sehr. V 423 f.
\) Timokles fr. 4 0.
%) Menander fr. 353. Ähnliches von Philokrates erzählt bei Eubulos fr. 118:
s. oben S. 35.
3) Alexis fr. 206. Vgl. Alkiphron III 54. 60. Dass er auch [jLsjjLaJhixe
xcojiaCetv aSenrvo?, ohne Fackel und Kränze, wird bei Anliphanes fr. 4 99 berührt.
4) Im ToxioTTj; (fr. 25), einem Stück, das in Ägypten spielte (Athen. XV
p. 685 E). Ein ägyptischer Banquter spricht von verführerischen Vorbereitungen
zu einem oujjluooiov , worauf ein Genosse zu Chairephon : etsv * xaXo; b xaipoc^
Xaipscpcov. Es war also, wie es scheint, ai^enommen, dass derselbe auch Ägypten,
vielleicht Alexandria, besucht hatte; es wäre denkbar, dass Machon, der in
Afexandria lebte und seine Komödien aufführte, ihn dort kennen gelernt und aus
seiner Bekanntschaft Stoff für seine Anekdoten gewonnen hätte. Bei Menander war
Chairephon noch erwähnt im 'AvSpoYovoc (fr. 53) und im KsxpücpaXo? (fr. 270).
5) Athenaeus IV 4 3 p. 4 34D: vgl. Meineke anal. crit.
6) Vgl. scliol. Aristoph. Frösche 86, Meineke bist. crit. 54 6adn.
7) Vgl. Aristoph. Ritter 956: Xapo; xe^^jVOK sirl Tritpai; 8r^|x>iYop<üV. Wolken
594 : KXecova tov Xexpov. Derselbe Vogel als ^ourfi'^o^ wird dem Herakles, dem
Pjtron der aBirjcpaYOi und Parasiten, zugetheilt in den Vögeln 567 (s. dazu Kock),
Athen. X p. 414 G.
KoLAX. 79
Und weiter unten, in der Hitze des Gefechtes, p. 1 36 e V. 106:
Xaipecpocov S* evoTjoev äfia irpoaoo) xal 6ictaoü)
8()viOa<; yvcSvai xal evaiatfJLGt otTiCea^ai . . .
"jjoöie 8' (oore Xscov, icaXdffiTj 8' Ij^e tö axsXo^ aoToG ,
5cppa o{ oixaS' {6vti TraXiviroxiSopTUtov eiYj.
Er selbst hat ein AeiTuvov geschrieben und seinem Berufsgenossen Kyre-
bion gewidmet, ein Büchlein von 375 Zeilen, welches von Kallimachos
mit den Anfangsworten in seinen Katalog eingetragen war^).
Anekdoten über Chairephon hat in iambischen Trimetern der Ko-
miker Machon, ein Zeitgenosse des Apollodoros von Karystos, in
seinen XpsTat erzählt^). Damals wird der vielgenannte, dessen Lauf-
bahn seit den Zeiten des Alexis und Antiphanes sich verfolgen Hess,
nicht mehr am Leben gewesen sein. So ist wohl auch die 'Ispeia
des Apollodoros (fr. 23) erst nach dem Tode des Parasiten aufgeführt,
da in diesem Stück das Auftreten eines »neuen Chairephon« gefeiert
wird, der in der Erfindsamkeit, zu einem Hochzeitsmahl zu gelangen,
ein würdiger Nachfolger des grossen Meisters gewesen ist. Er hat
einen Korb genommen, einen Kranz aufgesetzt und sich in dunkler
Abendstunde als einen Abgesandten der Braut ausgegeben, der die
Vögel (welche zu den symbolischen Höchzeitsgaben gehört haben
mögen) bringe. So ist er hineingekommen und hat mitgeschmaust.
Tithymallos^), der bei Alexis^) mehrfach vorkam, w^ar ein
armer Schlucker, freilich zu den Unsterblichen gerechnet, weil
der Tod den Armen aus dem Wege gehe •'•) , ein Typus des Hun-
4j Athenaeus VI p. 244 A.
2) Athenaeus VI p. 244 F. ApoplUhegmen des Parasiten Korydos über Chaire-
phon ebenda p. 2 45 F.
3) Athenaeus VI 38 p. 240 C.
4) Mi^oia (fr. 4 48), XJSüaoso? ocpaivcov (fr. 153), 'ÜXi>v&(a (fr. 4 56).
5) \)Xuv&ia fr. 4 56: b oe oo? ttevt)? sat', cü y^^xsI«. touto ok Aiooiy^ o
davaTo? t6 y^voc, «S? cpaoiv, {jlovov. *^Ü youv Ti&u[i.aXXo? a&avaTo; Tuspiepj^sxai.
Ein Liebhaber scheint zu der Tochter des armen Mannes zu sprechen, über dessen
Familie und Lebensweise die bejahrte Gattin in den Anapästen fr. 4 55 Auskunft
giebt. Antiphanes im Tuppr^vo? fr. 24 0:
apSDQ TO TTpoTxa ToT? Cp(Xoi; UTCYjpSTsTv.
B. XsYet? easoi^ai tov TtDüaaXXov ttXoucjiov •
eicnrpaSsTat ^ap jiia&ov Ix tou 30u X070U
Tcap Ol? dSsfirvst irpoTxa ouX.Xe5tv 3uj(vr]v.
80 Ribbeck,
gers^), des gewaltigen Appetits^), des classischen Parasiten^). Seine
rothe Gesichtsfarbe wird der Scham darüber zugeschrieben, dass er
bestandig daü(i.ßoXo(; bei Tisch sitze*).
Philoxenos'*) , mit dem Spitznamen IlTepvoxoTCi;, geschätzt und
geliebt wegen seines anmuthigen Witzes^) , der älteren Generation
angehörig ^ .
E u k 1 e i d e s , Sohn des Smikrinos ^) , genannt SeöxXov ^) , weniger
beliebt als Philoxenos. Seine Witze galten für unartig und frostig^").
Eukrates^^), mit dem Spitznamen Korydos, in der Zeit des
Alexis ^^) einer der witzigsten Parasiten, dessen Memoiren Lynkeus
\) Bei Aristophon fr. 9 wird ein [l\jba'(opiovf^^ charakterisirl :
TTpoc (xsv To irsivTjv, ia&isiv Ss \Lrfik £v
vojAiC opäv Ti&t>p.aXXov r^ OiXi7nrt5T^v.
Vgl. Timokles Kauvioi fr. 4 8.
2) Timokles 'KirtoxoXai fr. 9: TiOüfiaXXo? oüoSTroiiroT' i^pao&T| cpaYelv | outo)
acpoSpa.
3) Timokles KevTaopo^ fr. 19: Ti&ü|xaX.Xov auTov xal itapaoiTov airoxaXcov.
i) Dromon ^aXTpia fr. \ :
OTrepTBCTj^üVojiTiV
fjiXXwv aoufißoXo; TtaXiv SewrveTv Tuavu
aJajfpov Y^p. B. ap-iXsi* tov TtOojjLaXXov -^ohy ael
IpuOpoxepov xoxxoo irepficaTsTv laö' bpäv"
oüToj; ipüftpi^ 3U[i.ßoXa^ 00 xataTiösC?.
5) Athenaeus VI 40 p. «44 E.
6) Lynkeus der Samier (über den s. Meineke Menandri et Philemonis rel.
p. XXXIII) im zweiten Buch irepl MevavSpoo bei Athen. VI p. 242 C charakterisirl
ihn. Proben davon nach Lynkeus ebenda 48 p. 246 A.
7) Axionikos im XaXxiSixog fr. 6. Ein Parasit spricht von seiner Jugend:
OTS Tou irapaoiTsTv icpoyrov i^pao&r^v jxeTa
<I)iXo5£voo T^g nT8pvoxoir{8oc vio; ex' wv xtX.
Menander halte ihn im KexpocpaXo«; erwähnt (fr. 269), auch Machon (Athen. VI
p. 244 F.).
8) Athenaeus VI p. 242 B.
9) Athenaeus VI p. 250 E. S. oben S. 72.
4 0) Lynkeus der Samier hat ihn im zweiten Buch irspl MsvavSpou mit Philo-
xenos verglichen: Athen. VI p. 242 B. Hegesandros in seinen oiro[j.VT]fi.aTa Iheilte
Witze von ihm mit: daraus Athen. VIII p. 250 E.
4 4) Athenaeus VI 39, vgl. oben S. 74.
4 2) rioiYjTaf fr. 4 78 : irotvo Ti ßGoXop-ai | oüt«) ^eXätaftai xal ysXoT' asi Xiyeiv i
jisTa TOV KopuSov p-aXior' 'A{b)va(a>v tcoXu. Tit&yj fr. 222 : b KopoSo? oütoc, b
tÄ y^XoT' siftiaji-ivo? | X^yeiv BXsiralo; ßouXsx' stvai xtX. (Blepaios wahrschein-
lich ein reicher StJaxoXoc).
KOLAX. 81
von Samos geschrieben hat^). Er gehörte nicht zu denen, die auch
ungeladen sich an fremdem Tisch einen Platz zu erobern wussten*^).
Desto grössere Verheerungen richtete er an, wenn er einmal Posto
gefasst hatte. Der jüngere Kratinos in den Fi^favTe; stellt ihn in
Orakelversen selbst als einen furchtbaren Giganten dar mit eherner,
unermüdlicher Faust, der verzehrender als das Feuer keinem Tisch-
genossen etwas übrig liess^). Auch an der Tafel des Ptolemaios hat
er gespeist, ist aber nicht satt geworden^).
In die Zeit des Alexis fällt ferner Mo seh ion, genannt 6 irapa-
fiaoT^TT^«; ^) . Zu den xEOTpsf; gehörte M i d a s ^) . Dagegen ist Arche-
phon von Athen nach Ägypten gereist, wo er an der Tafel des
Königs Ptolemaios gespeist hat^. Auch Dromeas hat sich in der
Welt umgesehen, so dass er über die oenrva in Chalkis und deren
Verhältniss zu den athenischen auf Befragen ein sachverständiges
Gutachten abgeben konnte^). Areopagit und wohlbestallter Parasit
des Satrapen von Lydien, iMenandros, und der Heliire Phryne war
Gryllion^). Er war nicht mehr unter den Lebenden, als Axionikos
\) Athen, p. 244 D: avaYpa^ei 8' auTou ra a7rop.vY]fjLov£up.aTa Au^xeo? o
£a(jLit>;, EuxpaTTjV aoTov xaXsTadai xupiux; cpaoxcov. Hierauf eine hübsche Probe
seiner Witze; mehr aus derselben Quelle c. 47.
2) Alexis im ATjfiTQTpto^ fr. 45: aXV aiaj^uvojjLai | tov Kopuoov, ei ooEm
aüvaptordv xiaiv | oütcd irpo^sipo); * oiix aTcapvoujiai ö' o.ao)^ • | ouos -yotp ixelvoc,
äv xotA-j Tt<;. Korydos auf dein Fischmarkt für den eigenen Tisch einkaufend, da
er nirgends geladen ist, bei Timokles im 'Eirt^^aipsxaxo^ fr. H .
3) Kopuoov TOV j(a>:xoTü7rov TrscpoXaSo, | si jjliq oot vojit£T<; auTov jitjSsv xata-
A£i«^stv • I jJLr|8' o^j/ov xoiv^ jisra toutou itcüitots Saio-o | toi KopuSou, TcpoXe^o) oot *
iyei YOip X^^P* xpaxatav, | x^Xx^jv, ÄxocfiaTov , iroXu xpsirru) tou Trupoc auToü.
V. 2: wenn du nicht schon darauf gefasst bist, dass er dir nichts übrig lassen
wird. Vgl. Timokles fr. 9, 4. Alexis fr. 4 66, 2. Euphron fr. 8, 6.
4) Lynkeus bei Athen. VI p. 245F. Verse des Machon ebenda p. 242 B.
5) Alexis im Tpo^pwvio? fr. 232 : slft' o Moa/iwv | o irapafi.aoif^'ni? ev ßpoToTc
au6cu{ievo(. Dass dieser identisch gewesen sei mit dem bei Athen. II p. 44 D er-
wähnten uSpoTcoTTi^, von dem Machon (ebenda VI p. 246 B) einen Witz erzählt hat,
ist nicht erweislich. Ebensowenig lässt sich sagen, ob der unter den erwarteten
Gästen aufgezählte Moschion bei Straton im Phoinikides V. \3 der unsrige sei.
6) Euphron fr. 2.
7) Anekdote darüber bei Machon: Athen. VI 44. Erwähnt wird er von
Kratinos d. j. fr. 14.
8j Hegesandros bei Athen. IV p. 132G.
9) Athenaeus VI p. 244 F. XIII p. 591 D. Der Samier Lynkeus hat in den
* Airo'^&fiYH'^^'^* ^^" ^^™ erzählt.
Abhandl. d. K. S. GeselUch. d. Wissensch. XXI. g
82 Ribbeck,
seine Komödie Toppyjvoc (fr. 2) schrieb. Nichts Näheres wissen wir
von dem obenerwähnten Himerios in Athen ^). Unbekannt ist auch
der Wirkungskreis des Spartiaten Hairesippos, der geschildert wird
als avOpcoTCoi; oü (xexpiax; cpaöXoc; ouSe 8ox(5v j^pTjatJx; efvat, irtftavbv o
ejfcDv SV xoXaxeia Xo^ov, xal depaTceöaai touc eüTcöpouc [le^pi
Kein Parasit, sondern ein berühmter xpej^sSeixvot; und d'^^o^pdf^;
war der Staatsmann der demosthenischen Zeit K a 1 1 i m e d o n , ge-
nannt h xapaßoc (Krabbe) , weil er schielte und die Fische liebt« ^).
Seit Alexis und Antiphanes ausserordentlich häufig in der Komödie^)
erwähnt, ist er ein hervorragendes Mitglied des Sechzigerklubs ge-
wesen, der in dem Heraklesheiligthum des Demos Diomeis seine
lustigen Zusammenkünfte hielt und dessen Witze dem makedonischen
Philipp so viel Vergnügen machten^). In diese Reihe der tpexe-
SetTcvot*^) gehören: Philokrates, der bekannte Zeitgenosse des De-
mosthenes') ; Phoinikides^); Taureas^); Chairippos*^).
Die grosse Masse höfischer x6Xaxe<;") vollständig aufzuzählen
kann nicht in unsrer Absicht liegen, zumal da dieser Begriff je nach
der Auffassung des Berichterstatters ein sehr schwankender ist. Neben
Parvenüs und niedrigen Subjecten werden gelegentlich selbst hohe
Offiziere und Beamte, Diplomaten und Gelehrte mit diesem Namen
gebrandmarkt, der ursprünglichen Bedeutung desselben nicht unan-
gemessen, wie denn auch die comiles der cohors praeloria^ welche
den römischen Statthalter in seine Provinz begleiteten ^2^, ebenso v^rie
\) Plutarch über cpiXog und xoXaE p. 60 D. Oben S. 55.
t] Agatharchides von Knidos im 30. B. s. broptai (III p. 194 fr. 8 M.) bei
Athen. VI p. 254 F.
3) Alhenaeus III c. 57. 64. VIII c. 24.
4) Alexis fr. Ut, 440. 4 66. 4 88. Eubulos 9. Timokles tl. Theophilos 4.
Euphron 9. Philemon 44. 5) Athen. XIV p. 64 4 D.
6) Aufgezählt von Alexis fr. 4 66 bei Athen. VI p. 242 D.
7) Athen. VIII p. 343 E. Eubulos fr. 4 48 erzählt boshaft eine Geschichte
von ihm, die nach Menander ähnlich dem Chairephon passirt war.
8) Antiphanes fr. 48. 4 89. Euphron 8.
9) Antiphanes fr. 48. 4 89. Philetairos fr. 3.
4 0) Menander fr. 480. Phoinikides fr. 3.
44] Maximus Tyrius 20, 7: Tupavv(f> ouSelc cpiXo^, ßaaiXei 6e ouSeU x6Xa£.
4 2) Spöttisch rühmt Catull c. 4 4 die Hungerleider Furius und Aurelius als
anhängliche comites seiner Cohorte.
KoLAx. 83
die romanischen comtes und conti Nachkommen und Spielarten der
alten xoXaxe^ sind.
Berüchtigt vor andren sind die sikilischen. Schon der
ältere Dionysios hatte seine x6Xaxe<;, verkehrte aber mit ihnen
auf jovialem Fuss und nahm selbst gelegentliche Neckereien nicht
übeP). Von den niedrigen Schmeicheleien, zu welchen sich die Um-
gebung des jüngeren Tyrannen dieses Namens herbeiliess, hat Theo-
phrast in seiner Schrift icepi xoXaxeCac berichtet^). Spöttisch sind die
dionysischen Künstler (AtovuooTe^^vrxai) , welche an diesem Hof ver-
kehrten , demnächst wohl auch die übrigen ^iXoi und eiaipoi des
Fürsten AiovuaoxoXaxec genannt worden^).
lieber einzelne dieser sikilischen x6Xaxe(; hat Timaios im
22. Buch seiner bxoptat Mittheilungen gemacht^). Bei beiden Ty-
rannen stand Satyros in Gnaden^). Unter dem jüngeren Dionysios
waren namhaft Demokies mit dem Beinamen Aa^ovitov *) , der so-
gar als Gesandter in Staatsangelegenheiten verwandt wurde ^); und
Cheirisophos, von dem Hegesandros aus Delphi in seinen uiuo-
fivi^p.axa erzählte^).
4) Eubulos in der Komödie Aiovuaioc, welche das Treiben am Hof des
Tyrannen, seinen poetischen Dilettantismus, seine Reliquienj'agerei u. s. w. ver*
spottete, fr. 25 : iXX' lort toT? aep-voT? [liv addaSiotepog ^ | xal toT; [toTc 8' au
Mein.] xoXa^i Traai toT^ oxcoirroüoi te | ^auTov euopYTjToc* fj^siTai 5s or^ | toutou^
piovou; eXeu&epoug, xav SouXo^ iq. Einer dieser xoXaxeg scheint zu sprechen.
2} Hieraus Athenaeus X p. 135 E VI p. 249 F.
3) Aristoteles rhet. III 2 p. 4 405, 23: xal o [jiv AiovoaoxoXaxa;: , aotoi 6'
auTOü? xej^viTac xaX.oüatv. Diesen Spottnamen übertrug Epikur auf die Schüler
Piatons bei Laertius Diogenes X 8 : tooc ts irepl IlXarmva AiovuaoxoXaxag (ixaXsi)
xal auTOV flXatcova }(puaouv. Hatten doch auch jene syraicusischen Höflinge in
der That Interesse für Platonische Philosophie geheuchelt^ so lange sie bei dem
Tyrannen in Gnaden stand. Der rachsüchtige Parasit bei Alkiphron III 48 stellt
den tragischen Schauspieler Likymnios zum Chor der AiovuaoxoXaxeg, Theopompos
'fr. 297 M.) bei Athenaeus VI p. 254 B gab Athen Schuld, dass es voll sei
AiovoaoxoXaxcov xal vaotfuv xal Xu>7roSuT<ov xtX. Mit Unrecht will Meineke anal,
crit. zu Athen. X p. 435 E Aiovu3iox6Xaxe^ schreiben.
4] Bei Athenaeus VI p. 250.
5) Athen. VI p. 250 D: xal Satopov 6s Tiva avaYpa<pst o TijjLaio; xoXaxa
a^OT^pcOV TCOV AlOVUGlCOV.
6) Athen. XIII 48 (nach Lynkeus?]. Oben S. 74.
7) Athen. VT p. 250 A.
8) fr. 6 M. bei Athen. VI p. 249 E.
6*
84 Ribbeck,
Dem Tyrannen Hieronymos war ergeben Thrason'), genannt
6 xdpj^apo;, ein Säufer, gestürzt durch Sosis^).
Am reichlichsten fliessen die Nachrichten über die xoXaxec; des
makedonischen Hofes und der Diadochen. Besonders hat
Theopomp mit grellen, gehässigen Farben die Rohheit und Zügel-
losigkeit der sTaipot des Philippos, Sohnes des Amynlas, geschil-
dert, als wüster Abenteurer und Glücksritter, die (etwa 800 an der
Zahl) aus allen Orten und Gegenden der Welt zusammengelaufen
seien ^). So bezeichnet er als x6Xaxa ixe^toTov z. B. auch den Thra-
sydaios. den thessalischen Tetrarchen *) ; ferner den Penesten Aga-
thokles, der bei den Symposien des Königs getanzt und Spass ge-
macht habe, von diesem aber als Statthalter über die Perrhaber
gesetzt sei^). Der eigentliche Hofparasit war Kleisophos, ein
Athener von Geburt, der seine iMeisterschaft in der xoXaxeia gründ-
lich zu verwerthen verstand®).
'AXeSavopox6Xaxe(; hiessen nach Analogie der Aiovuaox^Xaxe;
die dionysischen xe^^vtrat, welche die grosse Hochzeitsfeier des ma-
kedonischen Alexandros nach dem Siege über Dareios durch ihre
musikalisch-mimischen Leistungen verherrlichten und dafür königlich
belohnt wurden'). Von den übrigen in seiner Umgebung werden
u. A. folgende als xoXaxec; bezeichnet.
Agesias^), sonst unbekannt.
Agis aus Argos, .epischer Dichter (sttotcoio^) ^) , dem aus Neid
\) Baton von Sinope Tiepl t^? toü ^ IspwvujjLOU Tüpavv(8o; (Gr. hist. fr. IV
p 349 M.) bei Athenaeus VI p. 254 E. Vgl. Polybios VII 2. Oben S. 70. Sosis:
LiviusXXIV 24. XXV 25.
2) Polybios XV 34, 7.
3) Theopomp im 49. Buch seiner bropiai (fr. 249 M.) bei Athen. IV 62.
VI 77 (auch p. 260 A) und Polybios VIII H.
4j Bei Athen. VI p. 249 C: vgl. Schäfer Demosth. II 402 f.
5) Theopomp fr. 4 36 M. bei Athenaeus VI 76.
6) Anekdoten über ihn lieferten Satyros im Leben des Philippos (fr. 3 M.],
Lynkeus in den d770[i.v7^(xovsüfj.aTa, und Hegesandros in den uirofivrjfjLaTa (fr. 4 M.)
bei Athenaeus VI 53 F.
7) Chares im 4 0. Buch seiner laxopiai irspt 'AXe^avopov bei Athenaeus XII
p. 538 F: xat sxTore ol irpotepov xaXoofjLSvoi BiovosoxoXaxe^ dXsEavSpoxoXaxs;
exXY]Örjoav 8ta xa; täv Saipmv oTuspßoXa^, Icp' ol; xal fja&r| o *AX66avSpo<;.
8) Plutarch <p(Xo<; und xoXaE p. 65 C.
9; Arrian anab. IV 9, 9. Curtius VIII 5, 8.
RoLAX. 85
und Eifersucht wohl einmal ein freiuiüthiges Wort entschlüpfle, wel-
ches er durch schmeichlerische Interpretation wieder gut zu machen
wussle*).
Agnon von Teos^), Befehlshaber^), berühmt durch seine gol-
denen Schuhnägel ^).
Anaxarchos aus Abdura, der Philosoph^), dessen Schmeiche-
leien denn doch mehr den Charakter ironischer Neckereien eines
menschenverachtenden Weltmannes gehabt haben und nicht anders
von Alexandres aufgefasst sein werden^).
Bagoas, der Eunuch und Buhle Alexanders^), der den Satra-
pen Orsines durch seine Verleumdungen aus Rache stürzte^).
Demades, der berüchtigte Demagog, der den Antrag in Athen
stellte, Alexander für einen Gott zu erklären^).
Demetrios, Sohn des Pythonax, einer der siatpoi, der die Hof-
etikette, die Beobachtung der irpooxüVTjat; , so streng überwachte***).
Dioxippos von Athen, der Pankratiast *^) , der das Blut Ale-
xanders i^cop nannte; Epikrates von Athen, Schwager des Redners
Aeschines, mit dem Beinamen Küpvjßtcov (S. 71), der vorschlug jähr-
lich statt der 9 Archonten vielmehr 9 Gesandte an den König zu
1j Plutarch cpiXo; und xoXaE 4 8 p. 60 B. Vgl. Lobeck Aglaoph. 1303.
2) Plutarch a. 0. p. 65 D.
3] Plinius n. h. XXXIII 3, 14, 50: ^Alexaadri Magni praefeclum*. Als
ixalpo^ bezeichnet bei Athen. XII p. 539 C.
4) Phylarchos im 23. Buch seiner taropiai und Agatharchides im 10. Trspt
x\3ta^ bei Athen, a. 0., Plinius a. 0. Silberne Nägel giebt ihm Plutarch Alex. 40.
5) L'ber ihn Laertius Diogenes IX 10; das übrige Material bei Zeller Pbilos.
der Griechen III 1 S. 438 f.
6) Vgl. die Geschichten bei Athen. VI p. 250 F (nach Satyros), Plutarch
Sympos. IX 1, t, 5, Aelian var. hist. IX 37. Dass er nach der Ermordung des
Kleitos den jammernden König an die Majestät seiner Würde erinnerte und ihm
eine Maxime einschärfte, ohne welche Alleinherrscher nicht regieren können^
(Arrian Anab. IV 9, 7, Plutarch Alex. 52, Mor. p. 781 A) ist charakteristisch für
seine kühle Betrachtungsweise menschlicher Verhältnisse, kein Beweis niedriger
xoXaxsia.
7) Dikaiarchos tt. ttjC h 'IX(((> &u9{a(; bei Athen. XIII p. 603 B, Plutarch
Alex. 67, über (p(Xo; und xoXaE p. 65G.
8) Gurtius X 1, 4 f.
9) Athenaeus VI p. 251 B: vgl. A. Schäfer Demosthenes u. s. Zeit III 19 fr. i90.
10) Arrian IV 12 = Plutarch Alex. 54. Vgl. Plut. cpiXo(; und xoXa? p. 65 C.
11) Aristobulos o KaaavSpeu; bei Athen. VI p. 251 A erzählt, Dioxippos habe,
86 Ribbeck,
wählen \; Gcrgithios von Gergitha auf Kypros, nach dem Klearchos
sein Buch über den Ursprung -des Wortes xoXaS benannt hal^) ; Me-
dios aus Larissa, der Trierarch, einer der Vertrautesten^), der durch
freche Verleumdung Nebenbuhler zu beseitigen wusste*) ; Nikesias,
der den Fliegen, die von Alexanders Blul gekostet hatten, grössere
Kraft verhiess') und die Gottheit des Herrschers betonte, auch als
dieser in Krämpfen lag^).
Demetrios Polio rketes war cpiXo^eXüx;') und fand an der
Gesellschaft seiner xiXaxec; Gefallen. Bei seinen Symposien sah er
gern, wenn die Gäste bei Trinkspenden ihn allein als König bezeich-
neten, die übrigen Grossen des Reichs zu deren Arger nach Ämtern
und Commando's, die sie bekleideten, z. B. den Ptolemaios nur als
Nauarchen, Lysimachos als Schatzmeister, Seleukos als Elephanten-
Befehlshaber, Agathokles als Gouverneur der Inseln'*). In unwürdig-
ster xoXaxeCa ihm gegenüber wetteiferten auf den Antrag ihrer De-
magogen Athener und Thebaner, zum Überdruss des Gefeierten
selbst: jene, oi täv xoXdxcov x^Xaxe;, durch Errichtung von Heilig-
thümern für seine Hetären, eine Leaina- und eine Lamia-Aphrodite,
von Altären und Heroa und Spenden für seine xöXaxec, einen Adei-
mantos, Burichos, Oxythemis, durch Absingung von Päanen auf die-
selben, durch jenen Empfang des einziehenden Herrschers, der unter
Prosodien und Chören als der einzige wahre Gott begrüsst**^) und im
wie Alexander einmal verwundet worden und sein Blut geflossen sei, den homeri-
schen Vers citirt : i/cop otooirep re ^iet [laxotpeaai tfsoToiv , während Anaxarchos
(nach Laertios Diogenes IX 10, 60) bei gleichem Anlass gesagt haben soll: route
{xev aiixa xal oux lytip xtX.
1) Hegesandros bei Athen. VI p. 251 A. Mehr bei A. Schäfer a. 0. I 207.
t) Athen. VI p. 265 C.
3) Arrian VII 24: Mi^Stov .... t«üv iTatpcov iv X(\y rote tov iri{>av(üTaTov :
vgl. iö. 27. Plut. Mor. p. 338 D. 472 D. Leben Alex. 75 f.
4) Plutarch cptXo; und xoXaS 24 p. 65 C: r^v 8' o MijSto? toü Ttepi tov
AXi£av8pov jf^poo tuw xoXaxmv otov l£ap5^o? xal oocpian^? xopucpalo^ iizl toü;
dpfoTou; auvTeraYfiivo; u. s. w. Sein Apophthegma s. oben S. 6i.
5) Hegesandros (fr. 6 M.) bei Athenaeus VI p. 249 E.
6) Phylarchos im 6. Buch seiner tatoptai (fr. 8 M.) bei Athen. VI p. 251 C.
7) Phylarchos im ^0. Buch seiner iatopiai (fr. 20: vgl. 6) bei Athenaeus
VI p. 261 B.
8) Phylarchos im 14. Buch (fr. 29 M.i bei Athenaeus a. 0. Plutarch Demetr.
25, rei publ. ger. praecepta 31, 11.
9) Demochares im 20. Buch seiner latopfai (fr. 3 M.) bei Athenaeus VI 62.
KoLAX. 87
Liede ^) gefeiert wurde ; die Thebaner durch Erhebung seiner Hetäre
Lamia zur Aphrodite^). Im Einzelnen werden als x6Xaxe(; des De-
metrios folgende bezeichnet. .
Adeiraantos aus Lampsakos. Auf seinen Betrieb wurde im
Demos Thria der trefllichen Gemahlin des Demetrios, der Phila, als
Aphrodite Tempel und BildsSiule errichtet und der Ort nach ihr cDiXaio^i
genannt ^) .
Aristodemos von Milet, General des Demetrios und geschickter
Unterhändler, Siegesbole von ihm an den Vater Antigonos nach der
Schlacht bei Salamis Ol. 118, Sl , dessen Bemühung , seiner Meldung
durch Spannung der Gemüther eine desto grössere Wirkung zu sichern,
Manchen an die Kunstgriffe eines Parasiten oder Sclaven in der Ko-
mödie erinnert haben mag^).
B u r i c h o s , Geschwadercommandant ^).
Dromokleides der Sphettier, athenischer Redner, beantragt in
der Volksversammlung Huldigungen für Demetrios, den Scon^p^).
Euagoras, der bucklige (6 xoptoc) ").
Kynaithos und sein xoXdxeo[xa ist oben erwähnt worden*).
Oxy themis, Sohn des Hippostratos, von den Athenern mit dem
Bürgerrecht beschenkt '^).
i) Mitgetheilt von Duris im 22. Buch seiner tsropiai (fr. 30 M.) bei Athenaeus
VI 63.
2) Polemon ir. tt^«; icoixiXtj? atoa; Tr,<; iv ^ixaa>vi bei Athen VI p. 253 B.
Vgl. Droysen Hellenismus II 2, H9fr.
3) Dionysios, Sohn des Tryphon im 4 0. Buch s. Werks irept ovofiaTmv bei
Athenaeus VI p. 255 C (vgl. 62 p. 253 A). Vgl. ßursiau Geogr. v. Griechenland
I 327 A. 2.
4) Plutarch Demetr. 47, der den Aristodemos nennt TüpcoTSOovTa xoXaxsiqL
TÄv aoXixwv airavTcüv xal tots Trapeaxeuaoiiivov , «k eotxe, täv xoXax&ufJLaTcov
To jiiYt<JTOV direve^xeiv xol; irpaYjiaaiv. Vgl. Diodor XVIII 47. XIX 57. 60. 66.
Droysen Hellenismus II 2, 135(r.
5) Diodor XX 52. Demochares bei Athen. VI p. 253 A.
6) Plutarch Demetr. 43. 34. Droysen a. 0. II 2, 424. 255.
7) Aristodemos im zvsreiten Buch seiner Y^XoTa airo[i.vrj(i.oveu[j.aTa bei Athenaeus
VI p. 244 f.: vgl. Müller bist. Gr. fr. HI p. 34 0 (fr. 4 0).
•8) S. 45. 74. Lukian wrep eCxovwv 20, 504. Vgl. oben Alliiphron III 43.
9) CIA II n. 243. Vgl. Phylarchos im 6. (4 0.?) Buch seiner loropiat bei
Athenaeus XIV p. 64 4 F. (Demochares bei Athen. VI p. 253 A) Herakleides o Xifißc?
im 36. B. seiner toTopiai (fr. 4M.) bei Athen. XUI p. 578 A. Diodor XXI 27 f.
88 RiBBECE,
L'nU^r allen athenischcD Staalsmäonern zeigte sich gegen Deme-
Irios am servilsten Strato kl es, der Kleon seiner Zeit, dessen
schmeichlerische Psephismen Plularch verzeichnet*;. Mit Recht hat
ihn der Komiker Philippides als den bösen Genius Athens gebrand-
markt^;.
Kallikrates, xoXa^ des dritten '\ Ptolemaios ^Euergetes) , Nau-
arch des zweiten "^(Miiladelphos . welcher der Arsinoe als der Aphro-
dite Zephyritis einen Tempel auf dem Vorgebirge Zephyrion weihte^},
schwerlich derselbe, durch welchen ^310 v. Chr.) der erste (Sot«r)
den Fürsten Nikokles von Paphos stürzte'^).
Aristomenes, der Akarnane, einer der Leibwächter des Aga-
thokles, des Freundes Ptolemaios' IV Philopator; nachdem jener sich
der Gewalt bemächtigt hatte, dessen rechte Hand. Er zeichnete den
Machthaber, als er bei ihm speiste, durch einen goldnen Kranz aus,
trug zuerst sein Bildniss im Siegelring und nannte seine Tochter nach
ihm und dessen Schwester Agathokleia'^).
i ) Demetr. 4 \ : oüto; ^ap r^v o tcov 90<pa>v toütüjv xal irepirrÄv xatvoupYO?
apsaxeofiaTwv r^v 8e xat -cikXa TcapaToXfjLO^ b StparoxX^; xal ߣßi<oxco<;
aaeXY">» "^^^ 'ffi "^^^ i^Oikaioh KXecovo;: a7rojjLi|A£la&ai 8oxa>v ßcojjLoXoj^ta xal ßosXupia
irpoc Tov 07){JAV £u)r^psiav. 34 extr. 26. Vgl. RubiikeD zu Rutilius Lupus p. 34.
DroyKen Hellen. II t, 4 76. 183. 4 94.
t] fr. ex ine. fab. 25 f. Vielleicht in der Komödie 'AvavewaK;, welche ironisch
die Verjüngung, die Neugeburt Athens durch die Reformen und Neuerungen von
Staatsmännern wie Stratokies, wohl nach dessen Tode, behandelt haben mag. Zu
solchem Thema passt fr. 25, Stratokies konnte mit fr. 8 gemeint sein: rf/tt)p,oxoXa-
xea(i)V xal Tcapeiaiwv aei. Vgl. übrigens Meineke bist. crit. 470 ff.
3] Euphantos im 4. Buch der ((rrop(at (fr. bist. Gr. III p. 4 9] bei Athenaeus
VI p. 254 D. Über das hier berichtete xo^axeofia s. oben S. 58 ; was zur Rettung
des Euphantos in den Greifswalder Philol. Untersuchungen IV 88 vorgetragen wird,
giebt den Bericht des Athenaeus preis, ohne auch nur eine Erklärung zu ver-
suchen.
4] Athenaeus VII p. 3I8D. Epigramm des Poseidippos (Blass Rhein. Mus.
XXXV 94) und Basis von Delos (HomoUe Bull, de corr. Hellen. IV 325 f.)
5; Diodor XX 24.
6) Polybios XV 34, 7: xaA.Xi9Ta xal aefAVOTata SoxsT icpoor^vai too t8 ßaoi-
Xiw; xal rr^g |3aoiXs(a;, xaia ToaooTov xexoXeoxivai tr^v 'ÄYa&oxXeooc euxaiptav.
icparro; |i4v ^ap «o; iauiov iizl 8eticvov xaXiaa^ tov 'Ay. X9^^^^^ aticpavov aireSwxs
|jiov(p T(iv irapovTwv irpÄro; 84 ttjV e?xova toü 7rpo6tp7){ievou cpipetv droXp-Yjaev
4v Tcp 8axTuX(({) • Y^^^P^^^i^ 84 Oü^atpo; auTtJi laorr^v 'AYaOdxXsiav irpoarjYOpeoaev
(S. 58). Die xoXaxe; des jungen Ptolemaios V Epiphanes, dessen Vormund er war,
stürzten ihn: Diodor XXVIII 4 5. Plutarch über <p(Xo; und x6Xa5 p. 74 C.
KoLAX. 89
Philon, ein andrer &in]p&'nj^ und xoXaS des AgathokIes% ist im
Stadion zu Alexandria unmittelbar vor diesem von der erbitterten
Menge ermordet worden^).
Hierax von Antiochia, früher Flötenspieler, der das Spiel von
Pantomimen (Xoaicpooi) begleitete, allmächtige Stütze des Reichs unter
dem elenden Ptolemaios YIl Euergetes mit dem Beinamen
Physkon, als dessen Strateg und leitender Staatsmann. Als die
Armee zu Galaistes abfallen wollte, weil ihr der Sold nicht gezahlt
wurde, hat er aus eignen Mitteln das Geld geschafft und so dem
drohenden Umsturz vorgebeugt^). Dennoch nennt ihn Poseidonios
von Apamea xoXaxa oetvov*).
Parasit des Königs Lysi machos war Bithys, Kleon's Sohn,
von Lysimacheia, der dem knauserigen Herrn mit gutem Humor zu
begegnen wusste^); ferner Paris^).
Phormion war Parasit des Seleukos').
Herakleides von Tarent , aus dem Handwerkerstande hervor-
gegangen, rechte Hand des Philippos, Sohnes des Demetrios und
Vaters des Perseus, verschlagen und intriguant, nach unten herrisch,
nach oben unterwürflg (icpoc [isv toö<; xaireivoTspooc xaTa7rXT^xTix(6iaTO(;
xal ToXfJLTjp'ixaTo;, icpoc Se xou^ uirepej^ovia^ xoXaxixcixaTo^) , ein ge borner
Überläufer und Verräther, aus seiner Heimathstadt verjagt, weil er im
Verdacht stand, dass er sie den Römern ausliefern wolle, von Rom aus
mit den Tarentinern und Hannibal verrätherische Ränke spinnend, von da
zu Philipp geflohen, luap' co xotaüXYjv TcepteTuoii^oaxo Tubxtv xal 8üva[iiv, (8oxe
xoG xaxaaxpacp^vat xyjv xTjXtxauxYjv ßaotXe(av o/s86v atxitoxaxoc iftifo^ii^ai'').
i) Polybios XIV (c. \\) bei Athenaeus VI p. 25 E.
t) Polybios XV 33.
3) Diodor XXXIII 26.
4} Im vierten Buch seiner ioxop(ai (fr. bist. Gr. III p. 254 M.j bei Athenaeus
VI p. 262 F.
5] Aristodemos (fr. HM.) bei Athen. VI p. 246 D: Lysimachos wirft dem
Bithys einen hölzernen Skorpion in den Rock, dieser springt erschreckt auf ; nach-
dem er die Täuschung erkannt hat , ruft er dem König zu : »ich will dich auch
erschrecken; gieb mir ein Talent«. CIA I n. 320 Ehrendecret der Athener.
6) Scherz des Demetrios Poliorketes über den Hof des Lysimachos , an dem
wie auf der komischen Bühne lauter zweisylbige Personen auftreten : Phylarchos
im 6. Buch der loropfai bei Athen. XIV p. 6 14 F.
7) Aristodemos a. 0. bei Athen. VI p. 244 F.
8) Polybios XIII 4, citirt bei Athenaeus VI p. 251 E.
90 Ribbeck,
Als Parasit des Königs Antiochos I von Syrien hat Aristode-
mos in dem angeführten Buch den Sostratos von Priene ver-
zeichnet % Flötenspieler 2) und Tänzer^) des Königs, von niedrer Her-
kunft^). Was von seinen Aussprüchen bekannt ist, macht ihm keine
Schande und zeigt eher Freimüthigkeit als kriechende Gesinnung.
Bei dem zweiten Antiochos standen Archelaos, der Tanzer,
und Herodotos, der Xo^oiitjAoc;, in hoher Gunst ^). Bei Antiochos
dem achten mit dem Beinamen ^p^^o; (Habichtsnase) war Apollo-
nios Parasit^*).
Den Rest ordnen wir alphabetisch.
Andromachos von Karrai, vertrauter xoXaS des Licinius Crassus,
den er an die Parther verrathen hat').
Anthemokritos, der Pankratiast, Parasit des argivischen Tyrannen
Aristomachos**), ob des älteren oder des jüngeren, ist uo-
bekannt.
Ariston von Chios**), dem Philosophen, sagte Timon im dritten Buch
seiner Sillen^'*) nach, er sei xoXaS des Stoikers Persaios gewor-
den**), weil dieser exaipoi; des Königs Anligonos war,
Athenaios von Eretria, xoXa^ und 6TCyjp£TY](; des Sisyphos von
Pharsalos *2).
Escharos, Iros, Ortyges hiessen die 3 vornehmen Verschwörer,
durch welche Knopos der Kodride, König von Erythrai, um-
\] Bei Athenaeus VI p. 244 F (fr. 7 M.) .
2) Hegesandros bei Athen. I p. \9C (fr. 13).
3) Sextus Empiricus adv. mathem. p. t%\ Fabr.
4) Stobaeus floril. 86, 14.
5) Hegesandros bei Athen. I p. 19 0 (\Lakiaxa iTifJbwvxo twv <piX(uv) .
6) Poseidonios von Apamea iui 34. ßuch seiner laTopiai (fr. 33 M.) bei
Athenaeus VI p. 246 D.
7) Nikolaos von Damascus im H4. Buch seiner ioTOpiai (fr. bist. Gr. III
p. 418 M.) bei Athenaeus VI p. 252 D. Plutarch im Leben des Grassus 29.
8) Agatharchides von Rnidos im 22. Buch seiner Eopcoiciaxa [fr. 5 M.j bei
Athenaeus VI p. 246 £.
9) Über ihn Zeller Philos. d. Gr. III t, 32. Vgl. Ritschi opusc. I 554 ff.
10) Bei Athenaeus VI p. 251 B (fr. LXlIII W.).
11) Über ihn Zeller Philos. d. Gr. III 1, 34.
12) Theopomp im 9. Buch der *EXX7]Vixa (fr. bist. Gr. I p, 280 M.) bei
Athen. VI p. 262 F.
KOLAX. 9 1
gebracht ist: oi exaXouvxo §ia xo Tuepl xäg depaustac; sivat xcov
eictcpavAv 7cp6axüvec xal xiXaxec^).
Herakleides von Maroneia, oc6Xa£2) und vertrauter Rathgeber des
Thrakerkönigs Seuthes, in dessen Interesse er an der Tafel
desselben seine Gäste, die griechischen Offiziere bearbeitete^).
Er verleumdet den Xenophon beim König aus Furcht von ihm
aus der Gunst desselben verdrängt zu werden^), ist überhaupt
Intriguant und Diplomat^).
Kleonymos, Choreut und x6Xa$ in Argos, von Myrtis, dem Ftihrer
der makedonisirenden Partei, am Ohr aus der Gerichtsversamm-
lung herausgeführt mit den Worten: oo ^opeuasK; IvOdSe ou8'
a|xu)v dxoöoig®).
Lysimachos, xoXa^ und Lehrer des Königs Atta los, über dessen
Bildung (icept x^<; 'AxidXou icatSeiai;) er ßißXoü^ luaaav xoXaxeiav
ä[X9aivoüaa(; geschrieben haben soll').
Melanthios, Parasit des Alexandres von Pherae, hat die Er-
mordung seines wilden und wüsten Brodherren mit aufrichtigem
Kummer als einen Stoss in seinen eignen Leib empfunden^).
Nrko Stratos, Söldnerhauptmann der Argiver, von gewaltiger Körper-
kraft, ein Herakles, den er auch durch seine Tracht, Löwenfell
und Keule, in den Schlachten darzustellen suchte, in hoher Gunst
4) Hippias von Erythrai im 21. Buch Tuept rf^c iraxpfBo; loxoptcov (fr. bist.
Gr. IV p. 431 M.) bei Atben. VI c. 74 f.
t) Nach Atheoaeus VI p. 251 F [aus Theophrast tt. xoXaxsta^?). Xenophon
braucht den Ausdruck nicht.
3) Xenophon Anab. VII 3^ 15.
4) Xenophon a. 0. VII 5, 6.
5) Xenophon a. 0. VII 6.
6] Theophrast Tu&pi xoXaxe(a<; bei Athenaeus VI p. 254 D. Er ciiarakterisirt
den Kleonymos als irpoaxaötCovxa iroXXaxi^ auttp (dem Myrtis) xal toT<; aovStxa-
Coooi, ßooXojjLSVov 8s xal jieTa täv xata rr^v ttoXiv ivSo^cov opaaBai. Über Myrtis,
den Theopompos im 51. Buch (I p. 322 fr. 257 M.) Amyrtaios nannte (Harpocr.),
s. auch Demosthenes de cor. 295.
7) Athenaeus VI p. 252 C (fr. bist. Gr. III 2 M.). Kallimachos hat das Werk
des Lysimachos in seine iü(vaxec eingetragen und den Verfasser als BsoBmpsioc,
d. h. als Anhänger der Secte des Atheisten Theodoros (Laert. Diog. II 8, 7. 11.
Callimachea ed. 0. Schneider II p. 318 n. 12). Hermippos dagegen (fr. bist. Gr.
HI p. 46 M.) zählte ihn unter die Schüler des Theophrast.
8) Plutarch <p(Xoc und xoXaS 3 p. 50 D.
92 RiRBECK,
bei Artaxerxes Ochos, der ihn für das Commando gegen
Ägypten vorgeschlagen hat'). Theopomp^) sagt ihm nach, dass
er, obwohl TcpoaidiYjc seiner Heimath, von edler Abkunft und
grossem Reichthum, dem Perserkönig gegenüber aicaviac uirepe-
ßdXexo T']g xoXaxeict xai xa^ depaiceiaK; ou jxövov zob^ xixe oxpa-
xeiac [xexaa5^6vxa(; aXkä xai xoöc Ijjwcpoo&ev YeY^vTjjjisvoo«;. Um dem
König zu gefallen und sein Vertrauen zu gewinnen, habe er
seinen Sohn zu ihm gebracht. Täglich bei der Mahlzeit habe
er einen besondern, mit Speisen besetzten Tisch aufstellen lassen
für den Dämon des Königs, weil er in Erfahrung gebracht, dass
die persischen Höflinge dies thäten. Er habe gehofft, für solche
Huldigungen desto mehr von dem Könige zu profitiren, denn er
sei aiajjpoxepSi^^ gewesen und ^fpyjfidxtüv ox; otix oi8 ei xt^ Ixe-
poc; Y^xxcüv.
Sosipatros, ein 767)^, war xoXaS des Mithridates^).
Sostratos, der Chalkedonier, x6XaS des Kauaros, Königs der thra-
kischen Galater, dessen gute Natur er nach Polybios*) verdarb.
Ohne Namen werden xoXaxec erwähnt der Fürsten
Nikokles von Kypros (Max. Tyr. 20, 7. Vgl. Anaximenes ßaoiXscüv
(jiexaXXaYai bei Athen. XII c. 41);
Sardanapallos (Max. Tyr. 20, 2) ;
Straton von Sidon (ebenda: vgl. Theopomp im 15. Buch s. OtXnr-
Tzimi bxopiat fr. hist. Gr. I p. 299 fr. 126 M. bei Athen. XII 41) ;
Telos von Sybaris (Max. Tyr. a. 0. : h Si)ßap(xY](; ex£tvo<;. Vgl. Herod.
V 44. 47, Diodor XII 9, Heraklides Pontikos irepl 8ixatoa6vr^<; bei
Athenaeus XII 21).
Aus den Satiren des Lucilius stammt vielleicht die Redensart
tongiliatim (d. h. pravis verbis) loqui, von einem alten ^]rklärer
auf einen Parasiten Tongilius zurückgeführt, 'qui hoc invenerat risus
aucupium, ut salutatus convicio responderet et male dicentem salu-
taret blandissime'^).
\) Diodor XVI 44.
2) Im 18. Buch seiner iaToptat (I p. 301 fr. 135 M.) bei AtheDaeus VI 60
252 A.
3) Nikolaos der Peripaletiker bei Athenaeus VI p. 252 F.
4) Im 8. Buch bei Athen. VI p. 252 C.
5) Isidori glossae: Löwe Prodromus S. 334, vgl. 53.
KoLAX. 93
VII.
Zur Synonymik.
Die Synonymik variirt den Begriff durch Hervorhebung einzelner
Seiten und Züge. Sie bezeichnet das schmeichlerische Wesen des
x6Xa8 durch :f]ooXta(x6<; /apiTOYXtüaaeiv xop(Cea8ai, vergleicht es mit
der Freundlichkeit des Hundes: aixaXo;, aafvstv, uTciXXetv aiöfia, mit
Liebkosungen, die man etwa dem Pferde zuwendet: dcoTnetv xaia-
cj^TQX^iv TcoTTTCüCetv, sciue Art zu grUssen mit dem Flügelschlag des
Hahnes : TrapaiurepüYiCetv ; die Vertraulichkeit kehrt sie hervor in dSsX-
<p(Ceiv; die Zudringlichkeit in staofitXeiv ; die Geselligkeit in oüfxßtwTo^;
den Diensteifer in Ospacp, xpoxuXeYfAoc ; die Zungengewandtheit in xc6-
TtXo^; die Schalksnatur in ecptov xspxco'^p xoßaXoc mdYjxia(i6<; Ti&aoeüXT^c;
die stille Verachtung in ep^^jitoxoc; smKoddCetv ^tväv TrpoTTYjXaxiCetv ;
das Betrügerische in a{(i6Xo<; aTraTscov y^>]<; vodeustv uTieXaüvetv u. dgl.
Den Weltmännischen bezeichnet xoti^ipoc;, den Würdelosen xopSaxt'Ctov,
den Bettel- und Possenhaften ßwfxoXoj^o^ f^^^'^^'^^^^^-
Dem xoXaS des Demos, 57j[xox6Xa6, sind Composita gewidmet,
welche seine Unehrlichkeit und Gunstbuhlerei kennzeichnen: Sr^fxo-
TciÖTjXOi; Sr^fio^^aptoxV];, Cicero nennt den adsenlator der Menge schlecht-
weg popularis^).
Beim Parasiten wird vor Allem betont die Theilnahme an frem-
dem Tisch ohne Einladung und Beitrag : xpaTceCeu«; TrapafiaoüvxTfjc; Tuapd-
ßüoTo^ u. dgl., dxXTjTo; dveTCd-jfYsXio^; dou(jLßoXo<; u. s. w.; demnächst der
Appetit: XtfxoxoXaS c[i(i>(iox6Xa| Xdpu^S und Composita, irovxo^dpüYS u.
dgl.; der Bauch: öXpio^daTcDp •(<3ioTpo)^dpüß8t<; xoiXio8ai|X(ov ; die Lüstern-
heit: xaTCvoTTjpTjn^; TaYTjvoxviaodigpac; u. a. ; ferner die Armuth in aoto-
Xfjxudo^, die Gemeinheit in di^^ cpa)|xox6Xa9o^.
L KoXaS xoXaxe(a xoXdxei)[jta. Vgl: Pol lux VI 122 (kretisch
xoXaxxTjc? Hesych.). Im Lateinischen schliesst sich am nächsten an:
adsecula, irapdatTo«; und bucellarius in Glossaren erklärt.
4) De amic. 25, 95: *contio, quae ex imperitissumis constat, tarnen iudicare
solet, quid intersit inier populärem, id est adsentatoreni et levem civein, et inier
Consta nlem et severum et gravem.
94 Ribbeck,
atxaXo^: Hesychius. Aristophanes eq. 48: h ßupooTra'^XaYwv bizoizt-
oü>v Tov BsoTTÖTT^v | YjxaXX sdcoTceu' exoXdxei)' i^^Tzdia xxX. schoi.
Ven. : atxdXXeiv eaxl zh x^v x6va toi»; (ial xai rg oopa aatvetv touc
T^ddSa^;. anecd. Bekk. 21 : aixdXXovtec; ovjfiaivet xö oaivovxec;, ^Tcep
oi xüvec Trotouar> xxX.
ai(iuXo(;. Suidas: x6XaS, diraxeciv. anecd. Bekk. 363. 1 (vgl. 356, 22.
362, 31): 6 IfjLTceipo^ 'S) if]8ü^ ev xo) diraxäv xal x6Xa£ xxX. Schol.
Plat. p. 314 B. Hesiod OD. 374 u. s. w.
diraxecüv u. ähnl. Pollux a. 0.
dpeaxoc;: s. oben S. 17 f. Vgl. Cyrillus: placivus, dpeaxo^ (dpeaxoc?)
placor, dpsaxeia.
ßwjjLoXojfo^;. Harpokralion (s. oben S. 15) etym. m. 217, 55: xopCox;
eXsYovxo o{ iizl x&v duaifiv sttI xoii; ßa)|xor<; Xoj^Ävxe(; xal jJLexd xoXa-
xeia<; lupoaaixoovxe^ . . . xivs^ oe jxexd xtvoc; euxpaTceXta^ xoXaxa
xxX. schol. Aristoph. nub. 910. Vgl. schol. Plal. p. 421 B.
ßtt>(ioXo^ia. Hesychius: ^evo^ xoXaxsia(; <j)opxtxov xai i[eXu)xo7rot6v .
YsXcDxoTcotoc;. Pollux, s. oben S. 15. 36.
TfOYji;. Pollux, Hesychius. Moeris: ifOY]«; *Axxixoi, x6Xa£ * EXXtjvixöv xal
xotvov. roTjxec Kom. des Aristomenes.
27]|xox6Xa^ (Hyperides) Lukian Demosth. encom. 31.
8y] jjlottiOyjxoc Aristophanes ran. 1084: if] icoXic iJjiaäv | bizo-^pamia-
X£U)v dve(ieaxtt)ÖTj | xal ßtojxoXoj^cDV St^|xotci8t^x(üv, eSairaxolivxcüv x6v
S^[jtov dsi. schol. : Syjixotciöt^xoüi; 8s xoix; Tcavoup^oo; Trspl xöv 8"^-
|xov . . . "JJ xoö(; x6v 8^[jlov xoXaxeüovxac xal Tretftovxa«;. Vgl. anecd.
Bekk. 34, 18.
8T^(jiojfaptaxT^(;: Euripides Hec. 133.
sipcüv: Pollux. Schol. Plat. p. 384 B: stp(ove(a ih Tcpo^^etpo); xal jxexd
xoü Tzphc, x^^pt'^ 8taXg'][ea&at, xoXaxeia, 'jieü8oXo"fta.
epf 6|xa>xo^. Philoxenus: 6pi[6|Xtt>xo;, adulator u. s. vv. gloss. bei Sal-
masius zu bist. Aug. t. II p. 361 : adulator, ambitiosus, adsen-
tatores, epfoiiuixot. Hesychius: epy., sfiicaiCcov. Lobeck Agiaoph.
1318.
if)8üX6YO(;. Eurip. Hec. 133: 6 iroixiXocppcüv | xoiric ifj8oX6YO(; 8r^|xoxa-
ptoxf^; I AaspxtdoT^i;. if]8üXia(i6;: Eustathius 1 417, 21 . Menander
fr. 30.
Hspa']; (kretisch: anecd. Bekk. p. 1096, 1) Pollux a. 0. vgl. Hesy-
chius, Suidas &epdTCtüv Lukian de paras. 31.
KoLAX. 95
dc6^. Hesychius: xoXaS, & (xeTot daü{iao(i.oG 6Y>^ü)jxtaoTiQ(;. d(57ce<;' x6Xa-
xe<;, eip(ove<;. Ocoirixoc' xoXaxeüxtxoc. etym. m. = Timaeus lex.
Plat. : dd)7üe(;' ol (lexa c};sti8oüc xal Oaü(xao|io5 icpooiovtec; sici xoXaxeia,
Trapd To dü)'i, Sicep ioxi dTjpiov diraTTjXöv. (Herodiaaus I p. 404, i 9 L.
dc6']^* 6 TcXdvo^.) Antiphon tt. 6{iovota(; bei Suidas s. v. dcoireia*
icoXXoi 8' l^ovTEc; cptXooc oö i^ tv(6oxoüatv , dXX' 6Ta(poü<; Trotoöviat
dcoTca; TcXoüxoü xal Ttij^vjc x6Xaxac. — ftcoireCa: Euripides Orest.
670 Xenophon tc. iirrc. 3, 12. Was für ein Thier eigentlich bdi^
ursprünglich bedeutet, weiss ich nicht; dcoirietv aber und Oco-
Tueueiv bezeichnet eine sanfte, schmeichelnde Liebkosung, ur-
sprünglich mit der Hand, wie man Pferde streichelt und klopft:
Xenophon tt. Jincix^c 3, 12. Ein C<i)ov daiiceütixov ist der Hund
(Aristoteles Naturgesch. p. 488b, 21, Physiogn. 6. p. 811b, 38).
Femer sind Frauen, Mädchen, Töchter zu dwireüjjiaTa, Liebkosun-
gen und Liebeserweisungen geschickt, (Aristoph. Wesp. 61 0 Lys.
1037 Eurip. Suppl. 1103 Aesch. Prom. 936 Soph. EL 397),
auch in Worten (dwicec X6Yot), die zunächst nur den Zweck der
Liebkosung, der schonenden Höflichkeit (Herod. I, 30) haben,
dann auch andre praktische Ziele verfolgen, zunächst dem Stär-
keren, Überlegenen gegenüber, den man sich dadurch geneigt
macht (Soph. Oc. 1003. 1336 Eurip. Orestes 670 Aristoph. Wesp.
563). So entsteht der Begriff des bewussten, absichtlichen
Schmeicheins (Aristoph. Ach. 640. 657 Ritter 48. 788) zum
Zweck eine Person zu erweichen, zu gewinnen, zu betrü-
gen. Das Wort kommt bei Homer Hesiod Theognis Pindar
nicht vor: Herodot ist der erste, bei dem es sich nach-
weisen lässt (HI 80). Im Lateinischen entspricht begrifflich
am meisten palpo (Onomasticon : palpo, bi&^. pal p um, dco-
Tueia); pdpo percutere Plaut. Amph. 526 Merc. 153, palpari
alicui Amph. 507, Hör. sat. II, 1, 20. Lucilius 29, 96 von
einem Schmeichler: 'hic ubi me vidöt, palpatur, cäput scabit,
ped6s legit'. Im Rudens 126 wird der leno als palpalor be-
schrieben. Lautlich steht vielleicht fovere am nächsten. Philo-
xenus: focilai^ ÄcDTceuet. Vgl. Varro bei Nonius p. 481, 14: 'suum
quisque diversi commodum focilatur'.
x8px(o(|;. Plutarch über cp(Xo<; und x6X(z$ 18 p. 60 b: vgl. Lobeck Agl.
1296 — 1308. Komödien mit dem Titel K£px(i>7ue; schrieben Her-
96 Ribbeck,
mippos ffr. 38 KoXaxo^copoxXstor;;', Piaton, Eubulos (fr. 53 f. scheint
ein Parasit zu sprechen). Vgl. auch Kratinos fr. 12.
xopaxTpa. Hesychius: xoXaxeiijxaTa, TravoopYT^jj-aTa. Lobeck Agl. 1322.
xoßaXo^. anecd. Bekk. 272, 21 : Tj Tuapa Trovr^poö dv&pwirou xoXaxeia.
Vgl. Lobeck Agl. 1308—1329. xo^SaXeia anecd. Bekk. 272, 21.
xojx'j^o^. Pollux a. O. Eupolis fr. 159, 2 K.
xopoaxt'Cwv. Pollux a. 0. (Hesychius: xopoaxtafxot • xä täv |j.i{1(ov
-feXoia xal iraipta. So führt Pollux unter den Synonymen des
xoXaS u. a. auch uTuoxptn^^, irotTjr/j^ -^^Xoiiü'')^ jxifio;; Y^Xotcov, ttoit,-
TYj^ ato^^pcov aafJidTCDv, aiaj^poXofo;;, |x6öcov, T(ü&aoTTQ^ auf.)
xpox»jXeYH''^<i* s. oben S. 54.
x6a)v irpooaatvcov, TCpoaoeoTjpcij;. Pollux a. 0.
xoixtXo«;, eigentlich XdiXo; wie die Schwalbe (Anakreon fr. 154: vgl.
Simonides fr. 243. 73), demnächst Xo^ou dTuaxcov, xoXaxsucov.
otym. m. , Hesychius, Photius, Suidas. Vgl. Hesiod OD. 374
Thaies in Bergk's lyr. Gr. HP 200 Theognis 852 Soph. fr. 606.
TCtftyjxtaixot. Aristoph. Ritt. 887 u. schol.
uoTTTTüofiaTa. Hesychius, Photius: xoXaxeidi £i(; toüc dSafidaTouc Ttc-
TToü^. Eustalhius p. 565, 19.
ao-fxaxaveüaicpaYoc. Krates, der Komiker, in einer Elegie (Bergk
lyr. Gr.^ H, p. 372). Stobaeus flor. XIV 16: KpdTY]; xou; xoXa-
xd(; cpTjot oüifxaxaveüaicpdYoix;^).
xtöaoeüXTQ;. Aristophanes Wespen 702, dazu schol. xtdaaeüsiv:
Demosthenes Olynth. HI 31 ; vgl. Hermogenes it. eüpeosu)^ IV 10
V e r b a :
dosXcptCsLv. Apollophanes 4 p. 798 K.
atxdXXeiv. Soph. fr. 728 anecd. Bekk.^)
dpeaxeiv. Anaxandrides 42.
\) Derselbe, dessen Blüthe Laerlius Diog. VI 5 um Ol. \\3 setzt, führte in
seiner 'Ecpr^jispt; als aus dem Rechnungsbuch eines jungen Lebemannes folgende
Posten auf (Bergk lyr. Gr. 11^ p. 370 fr. <5):
tfOei |j.aY£tp(j) jjLva^ oex', tarpcp öpaXP-^W?
xoXaxi TaXavTtt Trevre, aup.ßouXc[) xairvov,
TTopVTQ rdXavTOV, <ptXoaofpü> TpiüißoXov.
Vgl. unten das Apophthegma.
t) asXXsI • cptXsI. xoXaxeust Hesychius, entweder aus atxaXXsi oder aus aioXsI
verdorben.
KoLAX. 97
a^otipeiv xpoxüBac anecd. Bekk. s. oben S. 54.
£tao|j.iX&rv. Hesychius : e{aa>|xiXei, exoXdxsuev .
ijSü^tCeiv. Philemon 30, Menandros 30.
ifjooXo-yeiv. Phrynichos fr. 3 K.
dcöTceüetv und dtiicxeiv: s. oben S. 45.
xaTa'];T^5(eiv. Hesychius: ^au^^ xpfßsiv, wie man ein Pferd streichelt.
Vgl. Aristophanes fr. 42 K.
xepxcoTcCCeiv iid täv xoXaxsoovxcov xtX. Diogenian II 100. EuvSta-
thius zu Hom. Od. x 552.
xo{i<p£ueaOat. Hesychius.
xopfCsoOat, liebkosen, von Kindern. Aristophanes Wolken 68, schol.
anecd. Bekk. 47, 31. öiroxopfCeoftai : schol. Plat. p. 401 B., Hesy-
chius, Suidas und Photius.
xü>T(XX6tv, beschwatzen, betrügen: S. 96. Theognis 363. Soph.
Antig. 756.
XiTcapet'^. Hesychius: SetaOai, xoXaxsoeiv xxX. Aesch. Prom. 1004
und sonst.
vo&e6etv. Hesychius: diraXXoxpioi, dirax^, xoXaxeoei; spät.
TüapaTTxepufCCet'^. Photius: xoXaxe6etv, diA xäv dXexxpo6va)v.
TuoTCTCüCet'^. Schol. Plat. p. 465 B: iroincoadeiT] • xoXaxeü&e(7], ex [lexa-
cpopac; xuiv eirl xoic nrjcoi<; icoTnroofidxwv sv xo) SafJtdCeadai. Timo-
kles fr. 21, 7.
iupo7r7]Xax(Csiv, grob schmeicheln. Hesychius: epeSfCet, xoXaxeuet.
f)ivav. Menandros ine. fab. fr. 854. Vgl. Lobeck Agl. 1305'.
oaCveiv, Trpooaafvetv, icepioaivetv. Hesychius , Photius, Tragiker. Der
metaphorische Gebrauch von adulari scheint vor Cicero kaum
nachweisbar, tritt massenhaft erst im Zeitalter des Tacitus auf, der
ihn mit Vorliebe anwendet. Auch deshalb also ist es nicht räthlich
das Citat bei Priscian p. 791 P. 'Cassius similiter: adulatique erant
ab amicis atque adhortati' dem Cassius Hemina zuzuschreiben. (Vgl.
Peter vett. bist. Rom. rel. p. CLXXVI A. 2). Ob die Worte aus
der Rede des Prometheus ' nostrum adulat sanguinem ' (vom blut-
leckenden Adler gesagt) von Accius (V. 390^) oder von Cicero
herrühren, bleibt zweifelhaft. Der Sprache des Plautus und
Terenz ist adseniator und blandus und was desselben
Abhandl. d. 1c. 8. 0«8ellBcb. d. Wisflenscli. XXI. 7
98 RlBBETE,»
Stammes ist geläufig. Cyrillus: blandor ^or^^, xoXa;. blandus^
XWTtXo^ Oco'j; u. s. \v.
bekannt, ''schol. Aeschin. III H6: inroTreirrioxoTsc ' oiovel xoXa-
xe6ovT8^) .
OxtXXstv 0x6 {la. Sophokles Antig. 509.
yaptTOYXcoooetv. Aeschvlus Prom. 294. Athenaeus IV p. 165C.
II. zapaoiToc. parasitulus: Löwe Prodroniiis 419. parasitaster
Ter. adelph. 779.
axXr^Toc;. Antiphanes ine. fr. 230.
dv£7raY']feXT0(;. Kratinos fr. 44.
do6jt(5oXo(;. Anaxandrides fr. 10. Diphilos 71. asumbotum venire:
Terentius Phorm. III 1. 25.
autoXr^xodoc;. Plutarch Mor. p. 50C (I p. 115H).
ßoeXXoXdpüYS, Blulegelschlund, Kratinos fr. 44.
buccellarius: vgl. Salmasius zu Script, bist. Aug. vol. I p. 877.
1031. II 614 (ed. Lugd. Bat. 1671). gloss. Hildebr. p. 232.
buccellatarius: vgl. Löwe Prodr. 419. buccones, irapd-
oiTot ßooxxCcovec : Philoxenus.
-|faoTpo)rdpüßoi<;. Kratinos fr. 397.
TfXcüTTOYdaTCDp. Amphis fr. 482. PolluxII108: Y^«>'^'^oYdaTope; irapa
ioi<^ x(D|xixor(; oi dm t^(; iXcottTjC ßtoövTS^.
oaiTO|xc6v. Homer: Lukian über den Parasiten 10 p. 848.
sTTtoftto^, eigentlich Tagelöhner (Athenaeus VI p.247),Timokles fr. 29.
STTttpaTüeCfoto;. Hesychius.
O*^;. Hesychius (ooGXo;, ixto&wxo;, irapdatxo;) . Vgl. Aristoteles eth.
Nicom. IV 9: Trdvxe<; oi xoXaxec; ftr^xtxot. Lobeck Aglaoph. 1319.
xairvoxYjpTjxT^c;. Eustathius zu Homer p. 1718, 60.
xvtaox6Xa$. Asios fr. XIV M.
xvtaoXot;(6(;. Antiphanes fr. 63. Amphis fr. 10. Sosibios 6. So-
philos 5. 7.
XV 100X7] p7]XT^<;. anecd. Bekk. 49, 13 (com. anon. 294).
xotXto8a(}Xü)v. Eupolis fr. 172K.
Xdpü^^. Eubulos ine. fab. 134.
Xi[jLox/iXa6. com. anon. 295.
XtxvoxsvÖTjc;, Leckermaul. Pollux VI 122.
KoLAX. 99
fxaauvTTjc. Hesychius.
jjLoXoßpoc;. Homer Odyss. p 219. Hesychius (vgl. schol.): [JtoXCaxcov
sttI t^v ßopdv, ToüxsaTt irapaoiToc, Yo^oxpifiapYo;, 6ica(T7](; xtX.
oXßtoYoicjKop. Alexis fr. 10.
ovoo Y'^Qtdoc;. Eupolis fr. 434 K. (Hesychius: TcatCet eic iroXo^a-ffav.
Vgl. Tvadcüv).
TcapaßüGToi;. Timotheos fr. 1.
irapaSeSeiTuvYjixsvoQ. Amphis fr. 31 M.
TCapaSeiirvL^. Eubulos ine. 134. (Lobeck Phryn. p. 326.)
7capa|iaai^T7](;. Alexis fr. 232. Tiraokles 10.
TCapap.aaüvT7](;. Ephippos fr. 8. Alexis 217, 8.
TcovTocpdipüS com. anon. 304.
aoji.ß(ü)To<;. Eupolis fr. 448 K.
xaYTQvoxvioodiQpat;. Eupoh's fr. 173.
toluberna, adsecula Trapdatxo^ euxpaTceXoc; : Philoxenus. (c o t u b e r n a
oder cotubernalis? vgl. Lobeck Agiaoph. 1318™.)
xpaiceCeöc;. Plutarch Mor. p. 50 C (I p. 115H), Hesychius (xpaireC'^e;
heissen bei Homer X 69 Vi 73 p 309 Hunde, die bei Tisch
gefüttert werden).
TpaTceCoXoi5(6(;. Eustathius p. 1837, 39.
xpißaXXoC. Hesychius: ooxocfavxai. o{ 8s xoöc dcoTueüxtxouc; h xoic
ßaXavsioi^ 8taxp(ßovxac; xal iizl xd oeiicva iauxoö«; xaXoövxac;. Vgl.
Lobeck Agl. 1037. 1325.
xpex£8et7cvo(;. Athenaeus VI p. 242C u. s. w. S. 75.
'];u>(jiox6Xa8. Aristophanes fr. 167, Sannyrion fr. 10, Philemon 8, Phi-
lippides 8. Vgl. bucellarius oben S. 98.
({^u)|xox6Xacpoc. Diphilos fr. 48.
Verba:
xdXX6xpia 86tTC>>etv. Antiphanes fr. 248 f. Eubulos fr. 72. Theo-
pompos fr. 34.
diüoxTj-jfavtCetv dveu aufißoXaiv. Phrynichos fr. 57.
IpTfov Xaßeiv. Ameipsias fr. 1 K. Alexis 190 (vgl. epYoXaßeFv, ep^o-
Xaß(a).
TcpoTxa SeiTCvetv. Antiphanes fr. 210.
7*
100 Ribbeck,
IIL Der Brodherr des xoXaS heisst: ßaatXsü;, rex, dominus,
genius (Plaulus Capt. 879, Cure. 301, Men. 137 f. HO) tpe^cov (irapa-
ips'fetv: Timokles fr. 10, 2), '^ divT] (Menander bei Aelian t. Qdxa^ FX
7 = ine. fab. 854), praesaepis (Plautus Cure. 228).
Der Ungastliche heisst {lovo^f difO(; Ameipsias fr. 23 ine. fab. 24.
Es wird von ihm gesagt: Xadpo^fa-yeiv Metagenes fr. 15, [lovo-
atieiv Alexis ine. fab. 266, \LO'iorpa^Qi^} Antiphanes ine. fab. 250.
vin.
Populäre Ausdrücke, Sprtlchwörter, Gnomen und
Apophthegmen.
1. SGxov atTsii;. Zenobius V 91 : aoTY] Xe^exat xaxa xfiv xoXa-
xsDovTtov. Ol -yap 'A&Yjvatoi exoXdxeoov xooc Y^cop^oCx; ßouXofievoi irap
auxcBv Xa[xßdvetv xa TTpaitfia oöxa* oiwviCovxo ^^p otixot(; xai rdiXiv sXösrv
et; vswxa. Vgl. Diogenianus VIII 9, Apostolius XV 69, Suidas und
Photius s. V. Hesychius: aGxov aixctv xoXaxsüstv. Schol. Aristoph.
Wesp. 361 : ooxa |x atxer^* xooxeoxt xpucpäv ßoüXsi, oxi xpucpav (paaix^
doi)t£tv la^^dSa;. Der Grundbegriff ist also wohl: betteln.
2. Eireode V'T^Tp\ jrotpot. Aristophanes Plut. 315: au 8' Api-
axuXXo*; oTroj^doxcov iptic^ • | eTieofts [JtTjxpl jjorpoi. schol. : xoöxo 8s irapoi-
[jtt&Ss; eivaf cpaotv • ot ^dp 7raiO£(; otüxo etciftaat Xs^etv , eTceoOs |x. j^. irapot-
[jLiax^jv oüv eoxl xal iizl xtov d-ai8eüxa>v cpaoi Xs-ysaSat. Macarius IV 6
= appendix proverb. U 79 : iizl xäv xoXaxsüxtxto; xiotv £7üo(x6va)^> xpo<p>](;
evexa.
3. Aüxojxaxot 8' aYQi&ot 0£iXa)v stci Sa^xa«; taatv*).
Nach alter Erklärung^) soll Herakles sich mit dem Spruch aoxo-
1) Das Material und die Lilteratur über diesen Spruch hat zuletzt zusammen-
gestellt Arnold Hug in seiner Ausgabe des Platonischen Symposion S. 4 2 f. 204 ff.
Doch vermag ich den Schlüssen, die er zieht, nicht zu folgen.
2) Zenobius IM 9: aoxoyxaTot . . . isvrat. oSt(0(; 'HpaxXsixoc ijfpTjaaxo t^
7:apoi|i(a, eo? 'HpaxXsoo; eirtcpotTTJaavTo; izl ttjV oixfav Kr^öxo; xoo Tpajftvtoo xai
ooTox; e?7tdvT0(;. 'HpaxXsiro;] ' HaioSo; Schneidevvin o Rax^oXior^; cod. Alhous
bei Miller Mise. 350. Der ursprüngliche Text ist eben zusammengezogen , der
Archetypus wird beide Citate, aus Hesiod und ßakchylides, enthalten haben. Schol.
zu Plalo sympos. p. HiB: rauTTjV 6s X^Youaiv dprpWai iizl 'HpaxXsT, oc ots sioti-
oiVTo TCO Kr^üxi Sivoi eTrear/j.
KOLAX. 101
(laxoi . . . ivnai als ungebetener Gast bei dem Hochzeitsmahl des Keyx
eingeführt haben. Es gab aber neben jener Fassung eine andre,
welche d-yaöÄv an Stelle von SeiXcov setzte: welche von beiden die
ursprüngliche sei, ist Gegenstand der Controverse. Der zweiten ge-
genüber hat ausdrücklich Eupolis im Xpuaoov -^i^oc^ die erstere als
die authentische betont ^) : ob er damit die Wahrheit sagte oder von
deai Recht des komischen Dichters zu bestimmtem Zwecke Gebrauch
machte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Jedenfalls passt dieselbe zu
der von der Legende vorausgesetzten Situation. Da Keyx, Sohn des
Elektryon, ein NeflFe des Amphitryon war, konnte sein Vetter, der
Zeussohn, wohl mit einer gewissen Herablassung als ein Wohlgebor-
ner (d-|fad6(;) dem wenn auch königlichen Sohn des Sterblichen und
den anwesenden ^svoi als Plebeiern (6eiXoi im alterthümlichen Sinn
wie bei Theognis) durch freiwillige Theilnahme an deren Fest eine
Ehre anzuthun vermeinen oder versichern. In dem alten erzählenden
Gedicht ^dfio^ Ktqüxo<;, welches ']fpa|xfjiaTtxü)v icaiSe^ dem Hesiod ab-
sprachen*^), mag jene Wendung des esslustigen Heros, die einen leise
scherzhaften Anilug hat, vorgekommen sein. Dem herben Spruch hat
in lyrischer Darstellung derselben Scene Bakchylides^) nach bekannter
Freiheit zu nicht mehr erkennbarem Zweck eine urbanere Form ge-
geben: laxa 8 iid Xdtvov oü66v, toi Se doiva^ Ivtüov, ü>86t' Icpa* | atixo-
(jiaTot 8' d^aöÄv SaPuac eoöj^doüc STcsp^^ovxai 8txatoi | ^Atbc,. Ebenso
musste natürlich Kratinos^) in der Parabase, wenn er jenen alten
Satz verwenden wollte, um seinen Chor als Gast den Zuschauern zu
empfehlen, demselben eine verbindliche Wendung geben: oi 8' a5ö'
ifllieic;, cix; 6 Tzakaih^ \ Xopc;, aoiofidTOüc diaöoöc isvai | xo[jl4'<5v eirl
oaixa deaxcov. Das Yerhältniss zwischen Dichter und Publicum ist geist-
reich umgekehrt: Genuss und Beifall feinsinniger Zuschauer ist das Gastr-
1) fr. SI89K. bei Zenobius: EuttoXi? . . . k-üiptsx; ^tjoIv l^etv ttjV itapot-
jxtov xtX.
t) Athenaeus II p. 49 B: ort 'Haioooi; ev Ktjuxo^; ^ol\u^ (xav ^ap yP^H'K'^"
Ttxttjv Tcatoe? airoEevwoi tou ttoitjToi) tol sth] raora , dXX' i\ioi 8oxet apjjaTa elvat)
TpiitoSa? Tag TpaTieCai; cp7ja(. Plutarch Sympos. VIII 8 , 4 : cüi; b tov Kt^uxo;
^ap-ov sU Ta*H(3i68oü Traps^ißaAcuv sipTjXev. Vgl. 0. Müller Dorer II iS\ , Mark-
scheiTel Hesiodi . . . fragmenta p. 4 54.
3) iDC. fr. 33 B.
4) fr. 169 K. in schol. Plat. a. 0.: KpaTivo; 6e iv lluXaicf [xeTaXXa^a;
auDQV Ypd^st ouTcog xtX.
1 02 Ribbeck ,
•
mahl, an dem jener mit Selbstbewusstsein als ein wenigstens ebenbür-
tiger sich betheiligen wilP).
Der Scherz des Sokrates im Symposion Piatons p. 1 74 B endlich
setzt die durch Bakchylides in Aufnahme gebrachte Fassung [arfa-
d(5v — 'AYddcüv) voraus, doch zeigt der gleich folgende neckische
Vorwurf gegen Homer, dass dieser jenes Sprüchwort nicht nur cor-
rumpirt, sondern schmählich vergewaltigt habe (oo [jl6vov oiacp&etpat
ak\ä xal b^piaai e{<; xaüxyjv tiJjv irapoiiifav) , indem er Menelaos, den
schlechteren Mann, ungeladen zum Schmause des Agamemnon, des
besseren kommen lasse (/efpco ovxa iizl ttjv toG d|xe(vovo(;), dass dem
Verfasser hier die Lesart SeiXäv vorschwebte. Natürlich, dass die
bakchylideische Interpolation im geselligen Verkehr und Gebrauch den
Vorzug erhielt und in dem Maasse, dass die ursprüngliche Lesart da-
rüber fast in Vergessenheit gerieth^). Vollends natürlich, dass die
Parasiten die höfliche Form adoptirten und sie gern ihrem heroischen
Patron und Vorgänger^) in den Mund legten.
4. 'AxXtjxI xu>|xdCouaiv !(; cpCXcov (ptXot. Zenobius II 46 u. s. w.
Gnomen und Apophthegmen bestimmter Autoren.
Metagenes:
5. ET(; oi(üvo(; apiaxoc djxüvsa&ei Tcspi Ssittvoü. (fr. i 8 K.) bei Athe-
naeus VI p. 271 A.
Menandros:
6. 'E(xe 8' d§ixeix(o TrXoüoto^ xai (itj tovtjq'
^^ov cpepeiv ^dp xpeixxovtov xopawiSa.
ine. fab. fr. 586.
7. Kaipu) xbv eüXü)(Oüvxa xoXaxeücov cpiXo(;
xatpoö cpiXoc TOcpüxev, oojl xo5 cptXoi).
fr. 664.
\) Wie kann man aus dem Citat u)^ o iraXaio^ Xo^o^ einen Schluss auf die
echte Fassung ziehen , da doch im Folgenden die willkürliche Änderung auf der
Hand liegt!
t) Ganz unbekannt ist der Verfasser der bei Atbenaeus I p. 8A in abgeris-
senem Excerpt erhaltenen Worte : ayaOo? irpo? aYaöoü? avopa? Soxtaaofxevo? ^xov •
xoiva Y^p "^^ "^^"^ cpiXwv , welche Meineke vol. lY p. 5 metrisch zu constituiren
sucht: vgl. Bergk poet. lyr. Gr. 11* p. 405.
3) Vgl. Plautus' Curculio 358.
. KOLAX. 103
Pseudophokylides 91 ff.:
8. My]8s TpaueCoxopoüc xöXaxac; Troietadat £Tatpoü(;'
TToXXol ifotp 7r6atO(; xal ßptoatöc eiotv exaipot,
xaipbv dcoTceuovTs«;, eirrjv xopeaaadai Ij^coatv,
d5^d6p.£Voi 8' oXi^oi^ xai tcoXXolc; TroEvTe^ aicXijaTot.
Bergk II» p. 93 f.
Zenon:
9. 'EXe-f)^e oaoxbv Sotk; ef, jii] icpb^ X^P^^
axoü', dcpaipoö 8s xoXdx(i>v TuappYjaiav.
Stobaeus floril. XIV 4 Zt^vwvo^. Vgl. Meineke bist. er. com. Graec.
praef. p. X.
Antistbenes:
10. "QaTcep Tä<^ kzaipa<^ xdiiabä icavta eöj^eodat xoic epaaxai^ icap-
eivat ttXyjv vo5 xal cppovi^oeco^, oSxü> xal xoüc xoXaxa^ oXc, oüveioi. Sto-
baeus floril. XIV 19 'AvxiodevTf]«;: Xe^et xxX. Vgl. 12.
Aristonymos:
1 1 . Td jJLsv SüXa xh icup aöSovxa ütu auxoö xaxavaXtaxexai, 6 6s tcXoGxo(;
6xxps<fü)v xoüc xoXaxac; ütt' auxÄv xoüxcov 8iacpdsipexat. Stobaeus floril.
X 9: sx xÄv 'Aptaxtt)Vü|JLou xo(xap(ü)v. Vgl. Meineke bist. er. p. 197 f.
Diogenes:
12. rioXü xpetxxov sc, x6paxa^ direXöeiv ^ sc; xoXaxa^. Atbenaeus
VI p. 254 C. Stobaeus flor. XIV 17: 'AvxtaOsvYjc afpexcoxepov cpr]-
aiv sie; xopaxa^ Ijureaeiv 'JJ ei^ xoXaxac * ol jJtsv ^o^P diroöavovxo«; xb
aü)|ia, ol 8s C<3vxo(; xtjv ^^üj^^jv Xüfjiaivovxat. Vgl. 15. antbol. Pal. XI 323:
^P<5 xal Ad|iß8a |i6vov x6paxa(; xoXdxcov 8topiCei*
XoiTcbv xaoxb xopaS ß(0[AoX6}^o<; xs x6Xa5.
xoövexd |xoi, ßsXxioxe, x68s C«5ov irecpöXa^o,
ei8ü)(; xai C^ovxwv xoix; xoXaxac xopaxag.
13. 'Eitl x^c xoXaxefa(; cocncsp stcI (ivT^(xaxo(; aoxb (xovov xb ovofia
x^(; cptXtac sTuiYsifpaxrat. Stobaeus floril. XIV 14.
Epiktetos:
1 4. "öoTTSp X6xo<; 6jtoto>* xovi, ooxo) xal xoXaS xal [Jioi5^b(; xal ua-
pdaixo<; S(jloio(; cpiXu) xxX. fr. 48 bei Stobaeus flor. V 114.
15. Ol jxsv x6paxe<; x<üv xexeXsox7]x6xü)v xou^ ocp&aXfioix; Xo|jLa(-
vovxat, ßxav oü8sv aoxcov soxt XP®^^' ^^ ^^ x6Xaxe^ xäv C<ä^xü>v xd^
^oyia<^ 8ta9deipoüot xal xaüXTjc; &[i.(iaxa xü'^Xcoxxoügiv. fr. 103 bei Ma-
xioius Tyrius XIII p. 54. Vgl. 12.
104 Ribbeck ,
16. riiÖTQxouopY'yjv xal x6Xaxo(;d7ceiXYjv ev lacodexeov. fr. 104 ebenda.
Favorinus:
17. ''Qoirep & 'Axxaicov bizh täv xpe^ofievcov ütc aüxoö xuvoiv diue-
davev, outüx; oi xöXaxec toü^ Tps<povTa<; xaTeaöioüoiv. Stobaeus floril.
XIV 12 (vgl. 11). Zeller Philos. d. Gr. V 51.
Klearchos:
1 8. KoXaS [Asv oüBsU Siapxei Tzphc, (piXiav • xaxavaXioxei -^äp 6 5(p6-
vo<; xb xo5 icpooiron^fjtaxoi; aoxÄv cpeöSo^;. 6 8 epaax^^ xoXa^ eoxi cpi-
X(ac 8i' <Spav ^ xdXXo<;. Aus dem ersten Buch der 'Epwxixd bei Athe-
naeus VI p. 255 B.
Pythagoras:
19. Xatpe xoic; eXe^X^^^^ ^* [laXXov tJ xoi^; xoXaxeüouatv rix; 8'
e^öpcäv x^Cpovac exxpsTToo xooc xoXaxeuovxaQ. Stobaeus flor. XIV 18.
xaxavsüooatv verm. Meineke.
Sokrates:
20. 'H x<Sv xoXdxcüV eövoia xaSduep sx xpoir^^ cpeü^et xd^ dxü^ia^;-
21. ÖYjpeüooat xot^ fiev xaai xoix; Xaif«>oü^ oi xuvTfjioi, toic, 8' STcai-
vot<; xoü<; dvoi^xoü^ ol xöXaxec.
22. Oi (xev Xöxot xot(; xuoiv, o( 8e xiXaxec; xoii; cptXoK; Svxec; o[jloioi
dvo|xo(a>v iTctdüfiouatv.
23. ''Eoixev ii xoXaxeia ipaircij] iravoTcXC^. 8tb xspcpiv [xsv l^et, jjp^ia^i
86 oü8e|x(av uapsxetat. 20—23 Stobaeus floril. XIV 21—24.
SotioD :
24. Ot 8eXcprvec V-^XP^ '^^^ xXü8a)vo(; 0üv8iavT^x^vxai xor(; xoXu(i-
ßu>ai, 'irpo; 88 x6 ^Yjp&v oux e^oxeXXouaiv ooxu)^ oi x6Xax£c 3v eu8ia
irapafievoüotv, rix; xal oi xo6<; cptXoot; ei<; dTCo8Y][jL(av icpoirejxirovxe^ f^^XP^
x*^^ Xeta*; aufiTrapaxoXoudoöoiv, 6TCet8dv 8e eic xpaxeiav IXöcoaiv, dirCaatv.
Stobaeus floril. XIV 1 0 : 2a)x(a)vo<; sx xo5 luepl op']f^(;. Vgl. Zeller Phi-
los. d. Gr. IV 605 A. 3.
Bias:
25. *0 Bfac direxptvaxo . . xi irüöo|X£v«> xi xäv C^v -^lakeTzm-
xax6v eoxtv ... 8xt x(5v (xev d-jfpicov o xüpavvoc, xäv 8' if][Jteptt>v 6 x6-
XaS. Plutarch cp(Xo(; und xoXaS p. 61 C. Als Scherzwort des Pitta-
kos zu Myrsilos im Gastmahl der 7 Weisen p. 147B bezeichnet. In
etwas veränderter Fassung dem Diogenes beigelegt von Laertius
Diogenes VI 2, 51 : epwxrjöeU x( x«5v ÖTjpicov xdxiaxa 8dxvei, ecpTj, xäv
(xev d'ipCwv auxocpdvxT]^, x&v 8s 'j^fispcov xoXa^.
KOLAX. 105
Krates:
26. Kpdry]^ 7cpb<; veov icXo6aiov tuoXXou<; x6Xaxa<; eicioupofxevov ''vea-
vioxe" eiTcev, ''eXeco aou -rij^ epYjfiiav". Stobaeus flor. XIV 20. Der
Kyniker ist gemeint.
Lykurgos:
27. Kai ih jxev [lopov e&QXaae^ . . . rJjv 8s ßacptx^jv w^ xoXaxeia^
atoOi^osax;. Plutarch apophth. Lacon. Lyc. 18 p. 228 B.
IX.
Die Uebertragungen des Begriffs der xoXaxe(a auf andere
Lebensverhältnisse gehen aus von der Platonischen Auflassung, welche
jedes auf Bewirkung von XQ^pt<; und iJjSovtq gerichtete Streben (Rhetorik
und Sophistik, Koch- und Toilettenkunst) als xoXaxs(a bezeichnet^).
Für die Komödie kommt neben der geheuchelten Freundschaft vor
iVlIem die Liebe in Betracht: die verführerischen Lockungen der
Hetäre, die gleissnerische Beflissenheit, die lenocinia^) des Kupplers
(der imRudens 126 als pa/pator charakterisirt wird) und der Kupplerin,
selbst die Huldigungen des Liebhabers dem Mädchen gegenüber
erinnern an die Künste des xoXaS. ^Blanditiis vult esse locum Venus
ipsa' versichert Tibull I 4, 71 ; ^blanditia, non imperio fit dulcis Ve-
nus' heisst es in den Sprüchen des Syrus (56); Blanditiae be-
gleiten (nach Ovid amor. 1 2, 35) den Triumphwagen des Amor. Das
duMcixov, welches Weibern von Natur eigen ist^), wird bei der Buhlerin
von selbst zum xoXaxsuxixov. So schildert sie Ephippos in der
'EfJLTCoXi^ fr. 6:
lireitd Y eiotovx', sdv XuTCOüfjievo^;
Tüj^TQ Tt^ ifjficJSv, sxoXdxeuasv ifjSsux;,
scpCXYjaev ooj^l oü(x7cieaaaa zh oxofia
(oairep 7uoXe|xiov, dXXd loiai axpoüdioK;
j^avooa 6[jtoi(o^, -^oe, irapeiiüdi^oaTo,
STTotTjoe ö' iXapbv eu&ecoc t' dcpetXe irdv
aoToG TÖ XoTTOüv xaTceSeiSev tXetov.
1 ) Gorgias c. 4 8 ff.
t) Der grade Stab, welchen der iropvoßoaxo? auf der komischen Bühne trug,
hiess apsaxo«; : Pollux IV \%0 Hesychius s. v.
3) Vgl. mit dem Folgenden was Philokieon in den Wespen 605 IL von Frau
und Tochter rühn^t.
1 01) Ribbeck ,
Die Überlegenheit der Hetäre in diesem Punkt gegenüber dem ehr-
baren Mädchen betont Menandros ine. fab. fr. 554:
j^aXeirov, OdficpiXe,
eXsudspa Y^vaixl irpoc TTopvYjv [xa^^.
irXetova xaxoopYsi, uXeiov otS , aiaj^uvetat
ouSsv, xoXaxeuEi [jtäXXov.
Die schmeichelnden Locktöne der beiden Buhlschwestern in der
ersten erhaltenen Scene der Bacchides sind nicht weniger in dem
flüssigen Rhythmus wie in liebkosenden Worten (V. 27: 'cor meum,
spes mea, Mel meum, suavitudo cibus gaudium') ausgeprägt, z. B.
V. 82ff.:
locus hie apud nos, quamvis subito venias, semper liber est.
übi voles tu tibi esse lepide, mea rosa, mihi dicito:
da tu qui bene sit, ego ubi sit tibi locum lepidum dabo.
Milphidippa und Acroteleutium vereinigen sich mit Palaestrio (mil.
gl. IV 2. 5) zu einem wahren Concert der xoXaxeCa dem miles gegen-
über. Auch die Magd Astaphium im Truculentus versteht sich auf
'blandimenta meretricia' (318). Der Liebhaber ist eine feindliche
Stadt, die erobert werden muss (Truc. 169); man gewinnt ihn, wie
man Fische fängt ^) und Vögel stellt 2); er beisst an^), geht ins Netz^),
geht auf den Leim^). So lange er frisch, schmackhaft, bemittelt ist,
wird er umschmeichelt ; ist er ausgebeutelt, so wird er zu den Todten
geworfen :
äliam nunc mi orationem despoliato praedicas,
äliam atque olim, quom inliciebas me ad te blande ac benedice.
tum mi aedes quoque adridebant, quom ad te veniebam, tuae.
me ünice unum ex omnibus te atque illam amare aibas mihi,
übi quid dederam, quasi columbae pulli in ore ambae meo
lisque eratis: meo de studio studia erant vostra omnia.
\) Bacch. 102: ^quia piscatus meo quidem animo hie tibi hodie evenit
bonus*. Ausgeführt in Trucul. 35 ff., in andrer Wendung Asin. 178 ff.
t) Vergleich mit aucupium, ausgeführt von der lena in Asinaria 24 5 ff.
3) hamura vorat: Truc. 42.
4) si inierit rete piscis: Truc. 37.
5) Bacch. 50: viscus merus vostrast bianditia. H58: lactus sum vehemen-
ter visco.
KOLAX. 1 07
üsque adhaerebatis : quod ego iusseram, quod voluerani
fäciebatis: quod noiebam ac volueram, de industria
fügiebatis neque conari id facere audebatis prius.
Düne neque quid velim neque noiim facitis magni, pessumae*).
Es sind die wohlbekannten Züge der xoXaxe(a.
Auch der Liebhaber muss sich auf diese Künste verstehen:
ETceixa cpoiTÄv xal xoXaxeucov (sfjie xe xat) Tyjv [jiTjTsp' l^vco [Jie, erzählt
eine Schöne bei Menandros ine. fab. 550. Warnend sagt die alte
Syra in der Hecyra 68 zur Philotis: ^nam nömo illorum quisquam,
scito, ad te venit, Quin (ta paret sese, abs te ut blanditiis suis Quam
minimo pretio suam voluptateni expleat'. Eingehender schildert die
Kupplerin in der Asinaria V. 181 die Beflissenheit des werbenden
Galans :
IS dare volt, is se aliquid posei: nam ibi de pleno proniitur,
n^que ille seit quid det, quid damni faciat: illi rei studet:
völt placere sese amieae, volt mihi, volt pedisequae,
völt famulis, volt etiam aneillis, id quoque iam, eatulo meo
sübblanditur novos amator, se ut quom videat gaudeat.
Am vollständigsten sind die Weisungen, welche Ovid^) seinem Schüler
in der Liebeskunst ertheilt: wie er als Zuschauer im Circus sieh für
die Partei erklaren soll, welcher die schöne Nachbarin günstig ist
(I 146), und beim Aufzug der Epheben der Venus Beifall Watschen
soll (147 f.). Es werden ihm die nämlichen kleinen ofßeia einge-
schärft, durch welche, wie wir sahen, der xoXaS auch seinem Brod-
herrn sich als dessen epaon^^ darzustellen sucht:
utque fit, in gremium pulvis si forte puellae
deeiderit, digitis exeutiendus erit;
et si nullus erit pulvis, tarnen excute nullum:
quaelibet officio causa sit apta tuo.
\) Argyrippus zur lena in Asinaria 204 ff. Vgl. Trucul. \6\ ff., dort Astaphium
4 63: *dum vivil hominem noveris; ubi mortuost, quiescat: Te dum vivebas, noveram',
and dann 175 ff. der veränderte Ton, da Diniarchus erkrart : 'sunt mi etiam fundi
et aedis'. Vgl. auch Trabea fr. I. Plutarch Mor. p. 821 F: af 5' diro Oearpoiv
. . . iJ/suO(ovu{xoi Tip.al xal ^suSofiaptops; itaipixau io(xaai xoXaxstat^ o^Xcov ael
T(j> SiSovti xal )^apiCofjiv({> TcpoaiieiSicovTcüv IcprjfjLspov tiva xal aßsßaiov oo^av.
2) Ihm ging Tibull mit 'Veneris praecepta' für Knabenliebhaber voraus: I 4.
108 Ribbeck,
pallia si terra nimium demissa iacebunt,
coUige et inmunda sedulus effer huino.
1 59 parva levis capiunl animos. fuit utile multis
pulvinum facili composuisse manu,
profuit et tenui ventos movisse tabella
et Cava sub tenerum scamDa dedisse pedem^).
Wenn dann der Triumphzug kommt, soll er dem Mädchen auf alle
ihre Fragen nach deir Namen der Könige, der Gegenden, Berge und
Flüsse prompten Bescheid geben (221 f.) : 'omnia responde, nee tantuni
si qua rogabit: Et quae nescieris, ut bene nota refer'. Ferner die
Anweisungen über das Verhalten beim Trinkgelage (569 ff.) nach der
Methode des Ssüiepa Xe-ystv xal Tcoietv, 583: 'sive erit inferior seu
par, prior omnia sumat, Nee dubites illi verba secunda loqui'.
Um aber die erworbene Gunst zu behaupten, selbst die Spröde
geschmeidig zu machen, ist für den unbemittelten Liebhaber, der
nicht immer schenken kann, erste Bedingung obsequium^):
<97 cede repugnanti: cedendo victor abibis.
fac modo quas partis illa iubebit agas.
arguet, arguito. quidquid probat illa, probate.
200 quod dicet, dicas. quod negat illa, neges.
riserit, adride. si tlebit, tlere memento.
inponat leges vultibus illa tuis.
seu ludet numerosque manu iactabit eburnos,
tu male iactato, tu male iacta dato u. s. w.
209 ipse tene distenta suis umbracula virgis,
ipse fac in turba, qua venit illa, locum.
nee dubita tereti scamnum producere lecto
et tenero soleam deme vel adde pedi u. s. w.
223 iussus adesse foro iussa maturius hora
fac semper venias, nee nisi serus abi.
\) S. oben S. 57. Die praktische AusführuDg dieser Weisungen war bereits
in den Aniores III 2 vorausgenommen.
2) II 4 77 ff, 4 97 ff. Tibull I 4, 39: *tu puero quodcumque tuo temptare
iibebit, Gedas: obsequio plurima vincit amor. Neu comes ire neges'
u. s. w. Vgl. oben S. 50.
KOLAX. 1 09
'occurras aliquo' tibi dixerit, omnia diflFer:
curre, nee inceptum turba raoretur iter u. s. w.
254 nee pudor aneillas, ut quaeque erit ordine prinaa,
nee tibi sit servos demeruisse pudor.
nomine quemque suo (nullast iaetura) saluta,
iunge tuis humiies, ambitiöse, manus u. s. w.
Auch kleine Gesehenke, Erstlinge des Gartens u. a. sind wohl
angebracht (261 ff.). Vor Allem natürlich muss der Liebhaber nicht
ermüden die Schönheit und die Gaben seiner Erwählten zu bewun-
dern (295 ff.) :
297 sive erit in Tyriis, Tyrios laudabis amietus,
sive erit in Cois, Coa deeere puta u. s. w.
305 braechia saltantis, vocem mirare canentis,
et quod desierit verba querentis habe^) u. s. w.
Nur darf sein Lob nicht gemacht und geheuchelt erscheinen:
344 tantum ne pateas verbis Simulator in illis
effice nee vultu destrue dicta tuo.
si latet ars, prodest u. s. w.
Schmähungen und selbst Schläge soll er geduldig ertragen:
533 nee maledicta puta nee verbera ferre puellae
turpe nee ad teneros oseula ferre pedes u. s. w.
Nimmermehr halte er dem Mädchen körperliche Fehler vor (641 If.),
vielmehr beschönige er sie durch wohlklingende Euphemismen ^)
u. s. w.
4) Vgl. oben S. 43.
2) 657 (T. Vgl. oben S. 46 f. Grade das Gegentheil solcher xoXaxe(a, frei-
lich hinter dera Kücken der Geliebten zu begehen, empfiehlt Ovid in den reraedia
amoris solchen, die sich von der Krankheit der Liebe befreien wollen, 34 5 (T. :
profuit adsidue vitiis insistere amicae^
idque mihi factum saepe salubre fuit.
'quam mala* dicebam 'nostrae sunt crura puellae ! '
nee tarnen, ut vere confiteamur, erant.
'braechia quam non sunt nostrae formosa puellae!'
et tamen, ut vere confiteamur, erant.
*quara brevis est ! ' nee erat. *quam multum poscil amanlem 1 '
haec odio venit maxima causa meo.
et mala sunt vicina bonis. errore sub illo
pro vitio virtus crimina saepe tulit.
110 Ribbeck ,
Vom TL^äkaü unterscheidet sich der apeoxoc wesentlich durch die
Uneigennützigkeil seines Charakters^). Alles lobend, jeden Gegensatz
und alles Unangenehme im Verkehr mit Menschen vermeidend ^), aller
Welt Freund ist er mit keinem Einzigen wahrhaft befreundet^). Sein
Gegenpol ist nach Aristoteles^) der Grobian (860x0X0^), nach Eude-
mos^j der Arrogante (au&doYj(;) : in Verbindung mit diesen Charak-
teren wird er näher zu behandeln sein. Verwandt mit ihm ist der
römische scurra, doch ist dessen eigentlicher Antipode der Bauer
(d-ypoixo^, rusticus): auch dieser Typus bleibt daher einer späteren
Betrachtung vorbehalten.
X,
Theophrasti characterum caput !I.
xoXaxeCai;^).
T'Jjv oe xoXaxeiav üTToXdßoi av Tic; 6(AiX(av atojfpdv efvai, oü(jl'^s-
pooaav 8s t(o xoXaxsuovxt, xöv Se xoXaxa toioutov xiva, cSoxe a^a tco-
qua potcs, in peius dotes deflectc puellae
iudiciumque brevi limite falle tuura.
lurgida, si plenasl, si fuscast, nigra vocetur;
in gracili macies crimen habere polest,
et poterit dici petulans, quae rustica non est;
et poterit dici rastica, siqua probast.
Die praktische Anwendung der hier empfohlenen Heilmethode ist von Catull anti-
cipirt in den Spottversen auf die Man tu a na (?Ameana die Hdschr.) puella
c. 4^ 43; vgl. auch c. 86; Horaz carm. IV 13. epod. 8.
\) Aristoteles eth. Nicom. II 7 p. H08A: irspl hk to Xoitcov tjSü to Iv tcu
ß(c|> . . . b Ss oirepßaXXcov (im 7)80], s{ ]ik^ ouSevoc fv£xa, apsoxo^. IV Kt
p. H27A: b [jiv toü yj8üc elvai oTOX^Cop^vo? jir^ 8t' aXXo xt apsoxo?.
t) Aristoteles eth. Nicom. IV \% p. 4126B: iv 8ä xoi; bp.iX(ai{ xal xq ou-
Cr^v xal Xo^cov xal irpaYJWtxcov xoivtovelv ol piv apeoxot 8oxo5aiv eivai ol iravxa
irpo; y;8ovi^v iwaivoovxe; xal ou8Jv avxixsfvovxs; , aXX' o{op£Voi Setv aXüicot xoTc
ivxuYXoivoüaiv elvai.
3) Aristoteles a. 0. IX 4 0 p. H71A: ol 8^ iroXo(piXot xal Traaiv oJxeto»^
ävxüYj^avovxec oü8svI 8oxouotv eivat (ptXot , tcXtqv icoXixixuk , oo? xal xaXouaiv
apioxouc.
4) Eth. Nicom. II 7 (oben S. 17). 6) Eth. Eudem. III 7.
6) Usus sum libris manuscriptis hisce : Parisinis n. 2977 saeculi X vel XI
= A, n. 4 983 saec. X = B; Laurentianis saec. XV plut. 60, 48 = F,
plut. 60, 25 = f, plut. 86, 3 = cp; Marciano 543 saec. XV = M; Rhe-
digerano t% saec. XV = R. Consensum librorum siglo signavi 0. Ex his
KOLAX. 111
psuofievov eticetv „svdoix-g, (b^ dicoßXsiroooi Tzph^ as oi avOpcüTroi;
TooTo oü8evi täv sv xig 7ü6Xsi Y^^sTat tcX-Jjv oot* 7]uSox([ist^ j^Ss«; ev
r^ oToa*" TcXefJvcDV y^P >1 Tptdxovxo dvdpc&Tccov xaÖTjfxevcov xal eji- 5
TTsaivToc Xo-yoü, ti(; e?Yj ßsXTtoxo^, die' aüxoG dpSafievoo^ TrdvTa(; eirl
T?> 8vo|Jia aoToö xaTsve^^d^vat ' xal a|xa ToiaSta Xe^cov dm toG fjia-
Tioo d^eXetv xpoxöSa* xal Idv xt izph^ ih xpf^^cojxa x^c xe^^aXi]^ ötto
TT^eujxaxoi; icpooevej^d^ djfupov , xap<poXoY^aai • xal STctYeXdoac 8e etTCsFv
„ipa^; 5x1 8üotv aoi ifj^iepcov oiix svxexöjjTjxa , tcoXiäv lox"3Qxa^ x?)v 10
iro&Ycüva [xeoxiv, xaiicep, efxt; xal aXXo<;, 6/ei(; Tupo<; xd Ixyj fisXaivav
x^v xpij^a" • xal Xsyovxo^ Ss aoxoG xt xoix; dXXouc atü)TCav xeXeGaai,
xal kizaivioai hk q[8ovxoc, xal eTCtOYjfJLT^vaadat 8s, ei Tcauoexai, „ipdfic;" •
xal ox(6c|^avxt ^o^pfi^ eictYsXdoai, x6 xe Ifxdxiov oioat eU t6 ox6[JLa
cbc 8-}] 00 Süvdfxevoi; xaxaoj^eiv x?)v -ysXcüxa* xal xou^ dicavxüivxa^ etci- 15
or^vai xeXeuaat, eco^ äv aüx^x; TcapeXdrj • xal xoii; irai8(oi^ [xi]Xa xal
dicfoü^ 7rpid|xevo(; etasve^xac; 8o5vai ipfivxoc aGxoü, xal ^piXi^oac 8e
contuli ipse Parisinos anno 1876, Laurentianos a. 4 88S; Marciani et Rhedigerani
lectiones accuratius quam antea enotatas ex Herraanni Diels Theophrasteis Berolini
1883 editis sumpsi, atque eiusdem viri doctissimi de Parisinis testimonia quaedam
altuli, quae in meis schedis non repperissem.
3 diroßXiirooaiv eU as MR<p: cf. Diels Theophrastea p. 12. ol om. MR
oo&evl FMRfcp (p.7;&ev B p. 434, 10 P. : ceterum ^7]8&v( p. 126, 41 (j.Y]8iv
p. 127, 25 oüSiva p. 138, 11 AB 4 uXr^v 73 00t A(p 75 001 (om. nXr^v) F 5 rj
o' 73 M 7 Sjxa Needhamus aXXa 0 Xs^etv ABFfcp. £xpectes ki^ovra ul
supra V. 4 nopeoofisvov , sed nominativi etiam infra secuntur licentia structurae,
quae in ceteris capitibus numquam admittitur, cuius nescio quae turbae textus pos-
sunt in causa fuisse. 8 xpoxföa FMRff , item cpit. v. 5. Tiva 9 utto
Aubems diro 0 9 vsü|i.aTo? M Trpoaevsj^O^ Ff TrpooTjvijfÖTQ R Trpoarjvi/ÖTj
ABMcp 10 8oeTv Af loj^Yjxac] eaj^' A s/sic <p 1 1 et xic
äXXo? MR e/8t Tcpo; xa Itt) MR irpo« xa Ixt) Ixet? A<p [liXaiva M
12 a'xooxt] aüxo, suprascr. m. ead. xt, f 13 (^Sovxoc Reiskius: cf. mus.
Rhen. XXV 130 axovxo? FMRf^ dxovxo; A dxoüovxoc (sie scriptum: dxxo) B
axo'jov, i. e. axoiiovxo? aut dxooovxa, epit. v. 7 el iraooTjxai (73 m. 2 corr.
in e) <p ei Trauoatxo Reiskius 73 v TraooTjxai Astius i^av 7:aüa7]xat Fossius Verba
xal l7ria7](X7]vaa&ai . . . opOo)? melius post xsXsuaai v. 12 sequi monui mus.
Rhen. 1. 1. 14 oxco^avxi Cratandrea axvi^a^ x( A axco^ac xi (sie scr. : otl^xI)
B (axcüij*av x( AB testatur Diels.) oxui^ac x( <p oxcu^ac xl Ff oxm^ac xt M R
icixpÄc R iTTiYsXaaai F coae A teste Dielsio 1 5 h-q] 8st B teste Dielsio.
jii^ Acp TOü? a7ravxa<; <p 16 jitxpov iirtoxf^vai MR irat8(ot?] TceStoi? A
teste Dielsio. iraial M 17 aTTtSia <p 8s om. B teste Diefsio
112 ßlBBECK,
etireiv „jjpTjaToö Tzaiph^ veoma"* xal oüva)vo6[i.evoc xpYjTciBa^ t?)v 7c6oa
^-^oai eivai eupoftfJL'^Tepov loo Ö7Co57]|xaToc' xal Tropeüofxsvoü icpo^ xiva
20 Tttiv cp(Xcov 7rpo8pa[i.ü)v eiiretv oxi „up^c as Ipj^exai" xal dvaoTpe'|»a(;
5x1 „irpooT^YT^^^^''- ^K*^^^^ ^^ ^^^ "^^ ^^ y^^^^'^^'^*^ d^opäc Swxovijoat
Sovaxic dir^eooxC" xal xäv saxuo[i.£V(JDV Tcpwxo^ eicaiveaai xov otvov"
xal icapa(xevü)v eiTreiv „(b<; (xaXaxu)^ eadfei^". xal apa^ xt xäv dm
X7\<^ xpaTOCi^<; cp"^oai „xooxl apa ax; j^pTjoxiv eaxi". xal epcox^oai,
25 V'^ ^tTQ^ 3(al sf eirißdXXeoöai ßouXexai, xal et xt icepioxeiXTg auxov
xal p.'Jiv xaoxa Xe-ycov irpi; xi o5^ TcpooiciTcxtov StacptdoptCsiv xal
efc exsivov diroßXeTCcov xoic aXXoic XaXeiv. xai xo5 7cai8ic ev t<5
ftedxpo) dcpeX6(ievo^ xot irpoaxecpdXaia auxic ÖTCooxpuiaai • xal x9]v oix(av
cp-^oat eu T^pjfixexxov-^aOai xal xiv d^p^^v eu icecpoxeoodai xal x^jv etxova
30 6|xoiav eivai. xal x?) xecpdXatov x?)v xoXaxa laxt Oedoaaftat Tcdvxa xal
Xs^ovxa xal icpdxxovxa (ji j^apieradat ÖTCoXajxßdvei.
Epitomc Monacensis descripia a Dielsio p. 26.
*H 8s xoXax&(a oofi^^spsi [jlsv xw x6Xaxi. dXX' o[j.co^ aia^pd saxtv
6p.iX{a. 6 8s x6Xa$ xotoGx6c xtc; oToc Xs^eiv, ox; doxeioc ti xal irept-
4 8 veoTTia BF veoxia f eirixpr^irTSa? A eitl xpTjTuTSa? B iv:\ xpr^Ttioac
FMRfcp iirl xpr|TrT8a<; äX&civ Possius 4 9 fpfjoai etvai] eivai cp"^aai A exi
eipoöfioTspov Petersenus iropeoojjLevo? M 20 TtpoaSpafAwv (A sine acc. teste Diel-
sio) (f ep)(0[iai cp t\ oTi] sItusIv oti R irpoar^YT^Xxac (AB teste Dielsio p. \t) ff
(fuit: TTpooT^YY^Xxa oe) 8e om. A^ 22 Suvaroi;] ixavu)«; M 23 irapajjivmv]
fortassc ut familiaris manere putandus est, postquam abierunt ceteri convivae.
irapaxslfiivcov MR: quadrat ad proxima, ubi post Toiv inseri possit. cf. quae Dielsius
disputavit p. 4 2. a{aÖ(ei<; B m. 4 xl Bf xl F 2B imßaXioftai F im-
Xaßio&ai f ei xi] exl B In FMRfcp 7rspiaxe(XTB Kayserus irspioxeCXt] AB
irspioxs(Xei M icepiaxeTXai FRF (ireptoxeiXai voluerunt) ireptoxeCXa; 9 26 jii^v]
jiTQ AB<p Xif=, h. e. Xi^cüv et Xiystv m. eadem, A irpooirfirrtüv BFMRf^
StairiTTTcüv , m. eadem irpoc suprascr., A TrpoaxuTrroiv Valckenaer Sia^tdupfCetv
solus A ^i&üp(Ceiv ceteri : de librorura A et B discrepantia disputavit Dielsius p. 8
27 eh] ^K ? 7rat8o?] SouXou R, supra iratSo; suprascr. M 28 a^sXojiÄVo;
äv xa {hrpoaxecpaXaia cp : volebat librarius iv xo> &£axp(p repetere, sed agnovit er-
rorem. 29 apxtxexxov^o&ai F r^pxeixexoxxov^oftai (super prius x scr. y) M
apxeoÖai xexxoveToOai R 30 iravxa Xiyovxa f 34 cp ut in Byzantino feren-
dum esse dicit Diels p. 4 2. o> B oig Ffcp ä MR: scribi possit 81' cSv, vide epit.
V. 4 4. uiroXap.|3avtt> (jjl ex corr.) M.
Cohaerebant olim v. 24 — 2i ajiiXet .... j(p7]oxov loxt cum v. 28 — 30 xat
XT^v o?x(av . . . etvai; praeterea sie illa ordinanda : v. 27 sq. xal xoo TratSo^ . .
KOLAX. 113
ßXsTUTo^ xal aicXciSc efTceiv Tcavxcov C>]X«itoTaTo^ xat ßaa Toiaöxa. Ip^a
Ss T^ dcpeXetv dizh xoG {(laxioo xpox68a* xal oTov xopcpoXo^etv t?>
exeivou Tp()^(o|jia' Ixt 6iro[i.£iSi(i5vxa etTustv ox; eva^x^^ 6cp&e(; [lot 5
daxeibi; vöv Soxel; jxoi iroXii^; x'Jjv xpC^a ' xal oKoirav evxeXXeo&ai xqü;;
Xotiroö^ xou xoXaxeüOfxevoo Xe^ovxo^ xal eTcaivetv dxouovxo^' xal xou^
d'icavxÄvxa(; eicexei'^ ' xal xot^; exetvoo itaiSfon; xpa'yT^IJiaxa Tcpoocpspeiv*
xal (JiaxaptCeiv x6v ys'^'^'J^oavxa * xal irpoSpaiietv difYsXXovxa xijv exefvou
Tcapoüotav xal audti; STcavaxaTrxeiv • xal eösXetv oiroop^erv sTuexovxa xoü^ lo
exeCvoü ooüXoüi;" xal dirXÄc xoaaGxa xal Xe^etv xal irpdxxeiv 81' ßocov
vo(xiCei xaptsroOat.
uTTooTpcbaa^ v. 24 — 27 xal epuix^aat . . . XaXeTv. tum v. 4 5 sq. xal xou; . . .
irapeX&TQ, 4 9 — f\ xal iropeuopivou . . . itpoaT|YYsXxa. Geteruin v. 4 6 — 4 8 xat
xoi^ irai5(oi(; . . . vsoma plane ex apeoxou moribus depicta sunt (vide p. 4 27^
4 3 sqq. P.), nee ab eodem aliena v. 22 — 24 xal xtuv iaTitopivcov . . . y[fir^rc6^
iaxi el V. 28 — 30 xat ttjV ofxtav . . . opiofav stvat, qnainquain 7-80X0700 om-
nia sunt.
Abhand). d. K. S. UosellRch. d. Wisflensch. XXI.
Nachtrag.
In dem KomÖdienverzeichniss S. 30 ist der Ilixucovio^ des Menandros aus-
gefallen. Pollux IV H9: xal iropcpopa 8' iobr^Ti 4j(pu)VT0 ol v£av(axoi, ot 8s ira-
paaiToi [xsXa(vio ri cpai^, ttXt^v iv lltxüa)v(c|) Xeux^, on [isXXsi ^aj^sTv o Trapaairoc. i
Vgl. oben S. «3. 44 f.
VERSUCH EINER THEORIE
DER
FINANZ-REGALIEN
VüN
WILHELM RÖSCHER,
MITGLIED DER KONIÖL. SACHS. OESELLSCHAFT DER WlSSENSCHAFrEN.
▲bhandl. d. K. S. GeMllsch. d. Wissensch. XXI.
1.
Das Wort Regalien ist ein ungemein vieldeutiges J) Die sog.
Regalia majora, wesentliche Hoheitsrechle, sind gar keine Rechte des
Staates, sondern nur Seiten der Staatsgewalt selbst. Als Regalia mi-
nora, zufällige, nutzbare oder Finanzregalien sollte man, streng-
genommen, bloss solche Rechte von eigentlich privatrechtlichem Cha-
rakter verstehen, deren Erwerbung der freien Willkür der Personen
entzogen und vom Staate allein in Anspruch genommen winP).
Domünen sind grundherrliche, Regalien alsdann staatsherrschaflliche
Ginkommensquellen: jene von der Art, dass jeder Privatmann
Ähnliches haben kann, diese von der Art, dass kein Privatmann
sie ohne besondere Erlaubniss nachahmen darf. Auch insofern
stehen die Regalien zwischen Domlinen und Steuern in der Mitte.
In der Praxis freilich hat man den Namen der Regalien viel weiter
\) Sehr berühmt ist die Aufzählung der Regalien in Friedrich Barbiirossa's
Conslitutio de regalibus, die H58 auf dem Roncalischen lloftage beschlossen wurde
(Pertz Leges II, 4H); dann auch in II. Feud. 56 übergegangen. Jedenfalls be-
zog sicli dies Weislhum nur auf Italien. Es stellt zusammen: armandiae; viae
publicae, flumina navigabilia et ex quihus fiunl navigabilia; porttts , ripaticdy
vectigalia , quae vulgo dicuntur telonia ; moneta ; mulctarum poenarumque com-
pendia; bona vacantia et quae^ ut ab indignis, legibus auferuntur, nisi (juae spe-
cialUer quibiMdam conceduntur : bona contrahentium incestas nuptias , condemnato-
rum et proscriptorum . . . ; angariarum , parangariarum et plaustrorum et navium
praestaliones et extraordinaria collatio ad felicissimam regalis numinis expedilionem ;
potestas constituendorum magistratuum ad justitiam erpediendam ; argentariae et pa-
latia in civitatibus consuetis; piscationum reditus et salinarum et bona committen-
tium crimen majestatis; dimidium thesauri in loco Caesaris inventi, non data opera
vel loco religioso : si data opera, totum ad eum pertineat. Über die weitere Ent-
wicklung in Deutschland s. Eichhorn, D. St. und R. Gesch. II. §. 362. IV,
§. 548.
2) V. Gerber, Grundznge des deutschen Staatsrechts, §. 9. System des
deutschen Frivatrechts, §. 67.
9»
118 Wilhelm Röscher, [^
ausgedehnt. Ihn leitet K. S. Zachariä daher, dass sie, auch wo sie
gegen die Freiheit der Unterlhanen verstiessen, doch keiner ständi-
schen etc. Bewilligung bedurften. (Vierzig Bücher vom Staate VII, 1 25.)
Jedenfalls pflegt das Vorwiegen der Regal wirlhschaft im Finanz-
wesen der Zeit nach die Uebergangsslufe zu bilden zwischen dem
mittelalterlichen Vorwiegen der Domlinenwirthschafl und dem Vor-
wiegen des Steuerwesens bei jedem hochkultivirten Volke. Nichl
mehr genug Domünen, aber noch nicht genug Steuern! Die chao-
tische, in manchen Ländern fast unübersehliche Masse der Finanz-
regalien "^j verdankt ihre scheinbare Systemlosigkeit vornehmlich der
Thatsache, dass bei ihrer Begründung die principiell so verschiede-
nen Rechte eines mittelalterlichen Grundherrn und eines neuern Staats-
oberhauptes gleichsam in einander fliessen^). Doch kann das Auge des
Historikers das Chaos ebenso einfach erklären, wie ordnen. Es lassen
sich nämlich bei den wichtigsten neueren Völkern zwei Hälften ihrer
Periode des Regalismus unterscheiden. Von diesen schliesst sich die
erste ebenso an das sinkende Domänenthum an, wie die zweite das
herannahende Vorherrschen der Steuern gleichsam einleitet. Was
den politischen (Charakter betriflt, so ist die erste Hälfte ebenso feu-
dalistisch, wie die zweite absolutistisch'')^'). Übrigens hat sich in
Deutschland die Regalienvvirthschaft, ähnlich wie die absolute Mo-
narchie, im Ganzen viel später und weniger vollslündig ausgebildet,
3) Regalia quae sint, vix definiri potest. (Klock De aerario, p. 83.) Mat-
thäus de Afllictis nimmt 125 verschiedene R. an, Chassaneus SI08 , Petrus Anto-
nius de Petra sogar i13, Klock selbst iOO.
i) Wie viele Regalien aus einer Übertragung der grundherrlichen Ansprüche
auf die Landesherren entstanden sind, s. Maurer, Gesch. der Frohnhöfe III, 192. 338.
G. C. Diener, De natura et indole dominii in terriloriis Germaniae I, § 10 ff. lei-
tete sie desshalb von einem vermeintlich ursprünglichen Privateigenthum der lindes-
herren am Boden ihres ganzen Territoriums her. S. dagegen Posse, Ober das
Staatseigenthum in den deutschen Reichslanden (1794), 10 ff.
5) Je länger sich in einer Gegend die gemeine Freiheit erhielt, wie z. B.
in Friesland^ um so weniger konnte sich daneben der Regalismiis entwickeln. Das
entgegengesetzte Extrem fmden wir da, wo nur aus einem Stammschlosse mit Fa-
milienbesitzungen eine Herrschaft hervorgegangen. (PüUer, Beitr. z. deutschen
Staats- und Fürstenrecht I, 129. 172).
6) Bei den meisten neueren Völkern bemorken wir nach einander Patriarcha-
ltsmus, Feudalismus, Fiscalismus, Kapitalismus und Individualismus, (Schaffte: der
alsdann für eine spätere Zeil noch Socialismus erwartet )
^] Vebsugh einer Theorie der Finanz-Regalien. 1 1 9
als im weslliohen Europa. Das Kaiserlhiim wurde schon früh zu
schwach, um eine solche Entwicklung durchzusetzen. Für die meisten
Landesherren aber hat dieselbe Mittelstellung zwischen grossen Reichs-
unterthanen und souveränen StaatsoberhSiuptern , welche die Macht
ihrer Landstände bis zum dreissigjährigen Kriege und länger leben-
dig erhielt, nicht bloss der Verschleuderung ihres Domaniums vor-
gebeugt, sondern auch den vollen Regalismus verhütet. ^)
Erstes Kapitel.
Ältere Regalwirthschaft.
2.
Je mehr gerade auf dem Wege der Belehnung das Domanium
zusammenschmolz, um so eifriger waren die kraftvollen Herrscher des
spätem Mittelalters bemühet, durch Ausbeutung der Lehnsgefälle
den Schaden wieder einzubringen.
Hierher gehören die Abgaben bei Gelegenheit der drei grossen
Lehnscasus : Kriegsgefangenschaft des Lehnsherrn, Ritterschlag seines
Sohnes, Aussteuer seiner Tochter. ^)^) In England beruhete dies
7) 'Theoretisch war der erste bedeutende Vertreter des Regalismus iu Deutsch-
land G. 0 brecht (1547 — 16t 2), dessen Secreta politica zu Sirassburg 1617
herauskamen. Wie er sich überhaupt an die französische Literatur anlehnt, so
namentlich in Onanzieller Hinsicht. Vgl. Koscher in den Abhh. der K. sächs.
Gesellsch. IV, (t865) 277 (T. und Gesch. der N. Ö. in Deutschland I, tSl ff.
Die Eigcnthümlichkeit Obrechts wird besonders klar, wenn man ihn mit dem sehr
gemässigten Regalismus seines jungem Zeitgenossen Besold vergleicht. (Röscher,
Gesch. der N. ö. I, 204). Dagegen ist Gleich mann's Kurtzcr Begriff von einer
unbetrüglichen fürstlichen Machtkunst (1740) beinahe als ein Obrecht redivivus zu
betrachten. In der Praxis entspricht dem besonders früh der Erzbischof von Salz-
burg seit 1587 (vgl. Ranke Päpste II, 133); einigermassen auch Württemberg, wo
das frühzeitige Ausscheiden des Adels aus dem Landesverbände die Regalisirung
erleichterte, und es sogar seit dem 4 6. Jahrb. zu einem allgemeinen Schäferei-
regale kam.
t) In dem kreuzzugseifrigen Burgund auch, wenn der Lehnsherr nach Je-
rusalem zog ; bei geistlichen Fürsten, wenn sie zum Concil reisten, oder bei ihrer
Consecration. Ein deutscher Reichsgraf erhob, als er ein Bein gebrochen hatte,
lange Zeit eine Beinbruchsteuer. (Pütter, Histor. Entwicklung II, 276). Wie in
Deutschland die Hintersassen beim Eintritt der Lehnscasus Bede zahlen mussten,
s. Eichhorn, D. St. und R. Gesch. II, §. 306.
2) Die alte Fräuleinsteuer, wenn eine Prinzessin sich vermählte^ haben die
120 Wilhelm Röscher, [6
»ratiouabile auxilium«, als das Reichskatasler in Verfall -gerathen war,
auf einer Selbstdeclaralion der Vasallen über den Stand ihres
Lehens. Namentlich hat das Lösegeld kriegsgefangener Herr-
scher activ und passiv eine gewaltige Bedeutung für- die Finanzen
des spätem Mittelalters.^) In England, wo fast aller Grundbesitz für
Lehen galt, war jeder grössere Landeigenthümer *) als Vasall zu Kriegs-
und Paradedienst verpflichtet, oder musste sich durch ein scutagium
(escuage) davon loskaufen. Auch in Deutschland spielt die heresture
anstatt des wirklichen Kriegsdienstes eine bedeutsame Rolle. ^) Solche
Abgaben wurden um so wichtiger, je öfter es vorkam, dess Ril-
terlehen in eine nichtritterliche Hand geriethen. ^) Ebenfalls einträg-
lich waren die Abgaben von den Turnieren, sowie vom Ritter-
preussischen Könige seit Friedrich Wilhelm I. nicht mehr gefordert, »weil die
Unterthanen so schon genug steuern müssten. « [Preuss. Gesch. Friedrichs M.
IV, 429).
3) Richards I. Lösegeld betrug 150,000 cöln. Mark Silbers ; das Ludwigs IX.
800,000 Byzantiner. (Joinviile : nach Lcblanc = 3879000 Livres.) K. Enzio
erbot sich, zu seiner Ranzion einen silbernen Ring zu geben, der ganz Bologna
umfasste. [Petr. de Vineis Epist. III, 47J. Ahnlich berühmt sind die Lösegeldcr
für die Könige von Schottland und Frankreich, die Eduard III. gefangen hatte.
Nach Leber Essai sur Tappreciation etc., Append. wäre die Ranzlon St. Ludwigs
in unseren Tagen 33 Mill. Fr. werlh gewesen, die K. Johanns tM^/2 TWilL, die
Franz I. nach Pavia 84^2 Mill. Der Aufstand der s. g. Jacquerie grossentheils
eine Folge der Lösegelder des bei Poiticrs gefangenen französischen Adels, die 25,
ja 50 Proc. des Güterwerthes betrugen und nun von den Bauern erpresst werden
sollten. (Sismondi, Hist. des Fr. X, 486). Sehr charakteristisch, dass Berlrand
du Guesclin sein Lösegeld selbst hoch ansetzte, in der sichern Hoffnung, alle fran-
zösischen Damen und Ritter würden beisteuern. Selbst die Königin von England
that dies. (St. Palaye Ritterwesen übers, von Klüber I. 3<0).
4) Unter Heinrich II. jeder Besitzer eines Landgutes, das für den Unterhalt
eines Reisigen gross genug war. Der Klerus entzog sich gern zugleich der Dienst-
pflicht und dem Ersatzgelde. (A. Thierry Hist. de la conqucte, Livre IX. pr.)
5j Unter Konrad II. ein Drittel der einjährigen Einkünfte ; nach Friedrich L,
dem Österreichischen Landrecht , dem cölner Dienstrecht die Hälfte ; für gewisse
Fälle im sächsischen Lehnrecht nur \0 Proc. (Homeyer, Sachsenspiegel II, 2, 381.)
In seinem Kriege mit Frankreich miethete Heinrich II. H59 für das scutagium
brabantische Söldner. (Wachsmuth, Sittengesch. III, 2, K18).
6) Die nichtritterlichen Erwerber eines Lehngutes mussten dasselbe zu fmnc-
fief loskaufen. In Frankreich eine Taxe darüber von Philipp III. 4 275; Philipp
IV. setzte 1291 den dreifachen Jahresertrag fest; wenn gar kein Kriegsdienst ge-
leistet wurde, sogar den vierfachen. (Warnkönig-Stein, Franz. St. und R. Gesch.
I, 354 pg. 629 ff.).
'7] Versuch einkr Theorie der Finanz-Regalien. 121
schlage, wozu jeder bedeutende Vasall genöthigl werden konnte.')
Beim Tode eines Vasallen pflegte der Nachfolger, weil die Lehen
ursprünglich nicht erblich gewesen waren, den einjährigen Ertrag
seines Gutes als relief abgeben zu müssen.^)
Über minderjährige Kinder eines verstorbenen Vasallen hatte
der König die tutela fructuaria, so dass er den Überschuss ihres
Einkoimnens über ihren standesmässigen Unterhalt für sich nehmen,
auch die weiblichen Mündel beliebig verheirathen konnte, was dann
wieder zu einer Menge von Erpressungen führte. Frankreich scheint
dieses Recht der guardia (in Bretagne bail) nur in der Normandie
und Bretagne gekannt zu haben; auch da wurde es seit 1275
mit einem relevium abgelöst. (Warnkönig-Stein II, 268 If.). In
Deutschland (vgl. Auetor vetus de benef. I, 67) ist es selten ge-
handbabt worden (Waitz, D. Verf. Gesch. VI, 67). Dagegen wur-
den in England auf die wardship förmlich Gehalte fundirt: so bezog
der Protector Heinrichs VI. jährlich 4000 Mark von den Lan-
casterschen Einkünften, 1700 aus dem königlichen Schatze, 2300
von zwei minderjährigen Lords. Noch Elisabeth hat wohl Günst-
linge durch Zuweisung reicher Mündel belohnt. (Hume Bist, of Eng-
land, Ch. 44, App. 3). Erst 1648 musste die Krone definitiv dar-
auf verzichten. In England hatte die Mündel, wenn sie die Heirath ab-
lehnte, so viel zu zahlen, wie der Freier bona fide zu zahlen bereit ge-
wesen war. (Blackstone Comment. II, p. 70: vgl. 20 Henry HI , c. 6.)
Philipp der Gute zwang reiche Wittwen oder Erbtöchter zur Heirath
mit seinen Dienern; wesshalb es wohl vorkam, dass Wittwen aus
Furcht hiervor nach eigener Wahl heiratheten, bevor noch ihr erster
7) Heiorich III. und Eduard I. führten es ein , dass jeder Vasall von ^0
oder mehr £ St. Einkommen zum Ritterschlag konnte angehalten werden. Elisa-
beth machte davon einmal Gebrauch. Obscbon die Stuarts die Gr'änze auf 40 J^
St. erhöht hatten, wurde wegen der Geldentwerthung dies Regal doch immer
drückender. (Hallam Constitut. History of England II, Gh. 8.)
8) Frankreich erhob das relevium in allen den Fällen, wo das Lehen nicht
in gerader Linie vererbte; auch hier meist im Fruchtgenusse eines Jahres beste-
hend. So bei Beaumanoir und in den Etablissements de St. Louis. In Deutsch-
tand gab noch Heinrich II. die Erblichkeit der Lehen nicht formell zu, überliess
sie jedoch factisch in der Regel den Söhnen der früheren Vasallen , wofür aber
z. B. der Markgraf der Nordmark SIOO Pfd. Silbers zahlen musste. (Giesebrecht,
D. Kaiser Gesch. II, 65.)
122 Wilhelm Röscher, [^
Mann begraben war. (Sismondi Hisl. des Fr. Xlll, 601). Iq Öster-
reich wurde ein ähnliches Regal zwar 1212 abgeschafft, aber fac-
tisch doch lange nachher noch als »Fürbitte« des Landesherrn ge-
übt. Maximilian 1. wollte es sogar in den Reichsstädten geltend
machen.
Die Erlaubniss, ein Lehngut zu veräussern, mussle Iheuer
bezahlt werden: in England mit 33 Va bis iOO Proc. des jährlichen
Ertrages, in Frankreich (quint et requint) gewöhnlich mit 24 Proc.
des Kaufschillings '^). Dazu das Ueimfallsrecht beim Aussterben
der Yasallenfamilie: in Zeiten, wo der Ritterdienst noch eine Wahr-
heit und Weiberlehen schon darum selten waren, gewiss eine be-
deutende Einnahmequelle. ^")
Das Recht des Herrschers, die für den Bedarf seiner Hofhal-
tung nOthigen Lebensmittel auf Reisen und in der Umgegend seiner
Residenz entweder ganz unentgeltlich oder für einen selbst gesetz-
ten Preis zu requiriren, (droit de prise, purveyance and preem-
tion) , fand seine Stütze in dem Lehnsgedanken , wonach die
meisten Landgüter eigentlich Domanialboden waren, der nur unter
Vorbehalt gewisser Rechte ausgethan worden. Freilich ein Recht,
das mit dem Aufkommen der Geldwirthschaft ebenso unnöthig, wie
mit dem Aufkommen ständiger Residenzen unerträglich werden
musste **).
9) Französisches Beispiel solcher Lods et venles schon 1077. Der Name
favor, aucloritas etc. bedeutet die, eben mittelst der Abgabe erkaufte Genehmi-
gung des Lehnsherrn. (Warnkönig-Stcin II, 366 if.).
1 0) Perraro accidere solet ut non inlra centum annorum curriculuni feuda ad
dominum revertantur. (Latherus De ccnsu III, {.), L. starb 1640. Hierauf be-
ruhet die Abgabe, welche von Kirchen etc., überhaupt von der todten Hand ge-
zahlt werden musste, wenn dieselbe ein iehnsptlichtiges Gut erwerben wollte.
Nur der König konnte amortir souverainemcnt , und Hess sich für die nun weg-
fallenden reliefs, ventes etc. entschädigen (Stein- Warnkönig I, 239).
H) Über den Zustand der purveyance unter den Eduards s Lingard Hist.
of England IV, 150 fr., Eduard HI. beschränkte dies Regal 1362 auf König und Kö-
nigin, befühl auch, dass immer die Marktpreise gezahlt werden sollten. Nach
Anderson 0. of Commerce s. a. ohne Erfolg. Gleichwohl vertheidigte das Re-
gal noch in der Stuarlischen Zeit Fab. Phillips The antiquity, legality, reason, duty
and neccssity of purveyance and preemtion for the king, the small Charge and
burthcn thereof to the peoplc etc. In Frankreich wurde das Requisitionsrecht
selbst für manche hohe Beamte und zwar auch für Mobilien, Bettwäsche etc. aus-
d] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 123
Vergleicht man die Gesammtheit dieser Lehnseinkünfte, die na-
türlich mit dem Lehnvveseii selbst hinschwinden mussteu (s. mein
System der Volkswirthschaft Bd. II, §. 90. 96), mit einem heutigen
Steuersysteme, so zeigt sich ein ähnlicher Unterschied, wie der zwi-
schen Laudemien, Mortuarien etc. und den heutigen Pachtschiliingen.
(Vgl. mein System Bd. II, §. 115). Dort die grösste Unregelmässigkeit.
ZufUllige Standes-, Altersverschiedenheiten, zufällige Conflicte mit der
Staatsgewalt statt der wirkliehen SteuerPahigkeit als Norm betrachtet.
Nicht selten Umlage nach dem Rechte des Stärkern : derjenige be-
steuert, der sich nicht dagegen wehren kann. Gleichwohl schon hier
in den Schutzverbindungen der Vasallen der erste Keim parlamen-
tarischen Lebens. ^*^)
3.
Eine zweite Gruppe von iMassregeln, um das geschmälerte Do-
manialeinkommen zu ersetzen, bestand darin, dass alle herren lo-
geübt, mitunter selbst Handel mit den requirirten Gütern getrieben. (Sismondi
XII, 225. 268). Wegen solcher Missbräuche 1355 Widerstand erlaubt (Ordon-
nances III, 28 tr.); 1407 jede prise auf 4 Jahre verboten. (Ordonn. IX, 250).
Gleichwohl hat ein Überrest 1 0 Lieues um die Residenz herum bis zur Revolution
fortgedauert. (Journ. des Econ. , Nov. 1864, 2520*.). In Deutschland erregte
Heinrich IV. durch solche Requisition in Sachsen grossen Unwillen. Von späteren
Überresten s. v. SeckendorlFs D. Fürstenstaat III , 2. K. Hans von Dänemark
(t 1513) Hess sich für die Naturalbewirthung auf seinen Reisen gern mit 100
Mk. pro Nacht abfinden. (Dahlmann Dänische Gesch. III, 310). Die spanische
Insurrection von 1521 forderte namentlich auch die AbschaU'ung dieses Regals, [del
yantar) . Übrigens ündet sich Ähnliches in vielen orientalischen Despotien : so im
alten Persien (Herodot, YII, 118(1. Plutarch. Artax. 4 tf.), im mongolischen Reiche
Id'Ohsson Hist. des Mongols lY, 405 ff.): überall mit argen Missbräuchen.
1 2) In der Magna Charta Johanns wurde z. B. gegen die Missbräuche der
wardship versprochen : dass sie nur bei Ritterlehen staltfinden , der Vormund für
gute Verwaltung verantwortlich sein, die Erben nur standesgcmäss und nach Billi-
gung der nächsten Angehörigen vermählt werden sollten. Aber schon Heinrich I.
hatte Ähnliches versprochen! Übrigens wurde noch 17. Edw, II. durch ausdrück-
liches Gesetz die wardship , das Vcrmählungsrccht der Mündel j der erstjährige
Fruchtgenuss beim Tode des Vasallen, das Verbot der Lehenveräusserung ohne
k. Conscns etc. anerkannt. In der halbabsolutistischen Zeit der Tudors sind dann
viele zuvor eingeschlafene Lehnsgefälle energisch wieder aufgeweckt worden. Vgl.
Lingard V, 456 ff. Sehr reiches Material über die Zeit von Wilhelm I. bis Eduard
III. in Madox Uislory and antiquities of the Exchequer (1711) p. 150 — 475.
124 Wilhelm Röscher^ l^O
sen Guter für Krongut erklärt wurden: also im Kleinen gleich-
sam die Wiederholung des Actes, welcher im Grossen früher auf
erobertem oder neubesiedeltem Gebiete das Domanium geschaffen
hatte. Dahin gehören die Ansprüche der Krone auf alles nicht ent-
schieden, etwa durch Urbarung, ins Privateigenthum übergegangene
LandJ) Spätere Juristen haben wohl gelehrt, dass nur die Ober-
fläche des Landes Privateigenthum geworden sei, das s. g. Luft- und
Landrevier (Luftsäule und Untergrund) dem Staate gehören^):
woraus man nicht bloss ein Jagd- und Berg-, sondern auch ein Wind-
muhlenregal folgerte. Hauptsächlich wurden alle grösseren Flüsse als
regal betrachtet: nicht allein hinsichtlich der Fischerei und Wasser-
mühlen, sondern auch in ihrer Eigenschaft als Wasserstrassen, (Flös-
sereiregal) .
Wie man im Anfange der neuern Zeit über die Stromzölle
dachte, zeigt am deutlichsten das französische Edict von 1616, wel-
ches ihre Verdoppelung anbefahl, pour soulager le peuple, ^) In Wahr-
heit freilich ist ein Staat, der seine finanziellen Bedürfnisse durch
erschwerte Benutzung seiner natürlichen Wasserstrassen deckt, einem
Fuhrmann zu vergleichen, welcher die Last seinen Pferden an die
Beine bindet. Weil diese Einnahme jedenfalls dem Verkehre mehr
schadet, als sie dem Fiscus nützt^), so ist sie volkswirthschaftlich
\) In Polen gehörte während der zweiten Hälfte des 4 2. Jahrh. alles Land^
das nicht im Privatbesitze war^ ebenso die Jagd und Fischerei dem Könige. Nur
er durfte Mühlen, ja selbst Burgen und Städte anlegen, was erst im 4 3. Jahrh.
mittelst besondern Consenses auch dem Adel erlaubt wurde. (RÖpell Gesch. von
Polen I, 3200*.). In Schweden verlangte Gustav Wasa die sämmtlichen Alraen-
den, bisher Gemeindeland , für die Krone : alles unbebaute Land , alle Wälder,
Flüsse mit Fischereien und Mühlenwerken, Seen etc. Lauter Ansprüche, die wohl
schon früher einmal anklingen, (in dem angeblichen Gesetze von Helyandsholm,
1282), aber doch nun erst recht deutlich und systematisch ausgeführt werden.
Gustav meinte sogar, dass alle steuerbaren Höfe eigentlich auf Kronland errichtet
wären und ihren Bauern wegen schlechter Wirthschaft etc. genommen werden
könnten. (Geijer Schwed. Gesch. H, 4 04 If. SIStT.). Welche Handhabe für
Grundsteuern und Wirthschaftspolizei !
2) Biener De natura et indole dominii, §. 20. 25. Fischer Kameral- und
Polizeirecht II, 388 ff. 877.
3) Forbonnais F. de Fr. I, 4 54.
4) Der Zoll von Yienne, dem alle Waaren, die aus den Provinzen nördlich
von Lyon nach den südlichen und umgekehrt gelangten, unterworfen waren,
hemmte den Verkehr dermassen, dass ein Pächter der cinq grosses fermes 4 64 4
^4] Versuch einer Theorie der Finanz- Regalien. 125
zweckmässig nur insofern, als sie von Ausländern erhoben wird.
Namenilich haben Staaten, welche die Mündung eines Stromes be-
herrschen, nicht selten versucht, dem ganzen obern Stromgebiete
einen Zolltribut aufzulegen: wie überhaupt der Lauf eines Stromes
um so wichtiger zu werden pflegt, je mehr er sich der MUndung
nähert.
Der grösste Krieg der Bologneser wurde 1270 — 73 geführt,
um sich des venetianischen Zolles an der Pomündung zu erwehren
(Sismondi Gesch. der ilal. Republiken IV, 31). Wie sich schon Gu-
stav Adolf des Zolles in Pillau bemächtigt hatte, der 1629 an 500000
Thir. eintrug (Geijer Schwed. Gesch. III, 152), so nahmen die Schwe-
den 1632 auch die Zölle zu Wismar und Warnemünde in Besitz,
schon 1631 die pommerschen Küstenzölle (Erdmannsdörfer Urkunden
z. Gesch. des grossen Kurfürsten I, 1011*. IV, 840 fr.) und beherrschten
von 1648 bis 1719 die Elbe und Wesermündung. Auch Dänemark
hat eine Zeitlang durch den Sundzoll, sowie die Zölle von Elsfleth
und Giückstadt eigentlich alle deutschen Nordküsten besteuert. Von
einer andern Seite her beleuchtet es ähnliche Verhältnisse, wenn Jo-
seph II. sich die Fortdauer der Scheidesperrung für eine Zahlung von
9V2 Mill. Fl. aus Holland und Frankreich gefallen lässt. (K. Ad. Men-
zel N. Deutsche Gesch. XII a, 223.) Lange Fortdauer des Brunshäuser
Zolles, der nach der ElbschifiTahrtsacte den Deutschen als Seezoll,
den Engländern als Stromzoll dargestellt wurde. (Edinb. Rev. 1842,
January). Hollands Anspruch, auf der idealen Linie, wo der »freie«
Rhein sich mit dem Meere verbindet, ganz beliebige Verkehrshinder-
nisse errichten zu dürfen, der freilich •dem Wortlaute des Pariser
Friedens Gewalt anthut, (Art. 5: La navigation sur le Rhin, du point
oü ü dement navigable jusqu'ä la mer et reciproquemenl^ sera librc^
de leite sorte^ qu'elle ne puisse etre interdile ä j)ersonne... de la
maniere la plus egale ei la plus favorable au commerce de loutes
einen bedeutend hohem PachtschilHng bot, falls dieser Stromzoll abgeschatft
würde. (Forbonnais F. de Fr. I, 40 ff.) Der Zoll von Valence nebst der fisca-
lischen Erweiterung der Douane von Lyon drückte die Fabriken von Lyon und
Tours so sehr, dass sie nur ein Drittel der früheren Arbeiter beschäftigen und
des frühem Rohstoffes verbrauchen konnten. Daher die betheiligten Provinzen
dringend eine Yertauschung dieses Zolles mit anderen Zahlungen wünschten. (For-
bonnais I, 4 63 ff. 4 67).
126 Wilhelm Röscher, [12
les naiions)^ ist doch wegeu der Uneinigkeit der oberen Uler-
staaten erst nach der Spaltung des Hhein-Maas-Schelde-Mündungs-
landes in zwei nebenbuhlerische Staaten aufgegeben worden. Sehr
natürUch also, dass im Mittelalter die Stromzölle mit dem Wach-
sen der Landeshoheit, welches den Begriff des Auslandes erwei-
terte, zugenommen, neuerdings aber mit den Mediatisirungen und der
Ausbildung von Nationalstaaten wieder abgenommen haben.
Im Zollwesen des Mittelalters stehen reichsrechtlich zwei Grund-
sätze fest: A. Dass nur die Krone berechtigt ist, Zölle zu erheben,
zu verleihen, Befreiung davon zu verfügen etc. So in Karls M. Capi-
tularien von 779, 781, 803, 805, 809. Noch 1157 von Friedrich
Barbarossa kräftig in Erinnerung gebracht (Pertz, Mon. IV, 104), von
Friedrich II. ISSIO doch nur insofern geändert, als künftig die könig-
liche Zollgesetzgebung an den Rath und Willen der Fürsten gebunden
sein sollte. (Pertz, Mon. IV, 228). B. Dass Zölle nur als Entgelt für
einen dem Zahler geleisteten Dienst erhoben werden sollten. Wenn
z. B. ein Schifi' per mediam aquam aul suh pontem ierit. also ohne
anzulanden oder eine Brücke aufziehen zu lassen, leloneum non de-
tur (Cap. Ludov. Pii von 817). Ganz ähnlich in einem Capitular
Karls des Kahlen. Diese beiden Grundsätze, wenn sie streng fest-
gehalten wären, hätten eine bedeutende Ausbildung der Stromzölle
verhüten müssen. Da indessen . selbst Karl M. im Capitular von 805
gegen Zölle einschreiten musste , wo Seile über den Fluss gespannt
und den Reisenden gar keine Hülfe geleistet war; im Capitular von
809 gegen Brücken über trockenes Land: so begreift man, wie in
der Zeit des aristokratischen Wahlreiches nach und nach gerade die
Stromzölle besonders zunahmen und durch Finanznoth der Krone,
Erkaufung von Wahlstimmen, auch reine Usurpation mehr und mehr
in die Hand der Landesherren, Städte, ja nicht selten blosser Privat-
leute geriethen. Lange Zeit war diese Abgabe den Regierungen
um so willkommener, als sie nicht bloss der Krone Gelegenheit bot,
ohne eigene Unkosten Geschenke zu machen, sondern auch bei vor-
herrschender Naturalwirthschaft nicht selten die einzige Quelle war,
aus der sofort eine Geldeinnahme bezogen werden konnte. (Bod-
mann Rheing. Alterth., 746.) Sehr charakteristisch sind die That-
sachen, dass 1579 ein Pfalzgraf die Erlaubniss einer Zollerhöhuog
mit der Drohung zu erpressen suchte, widrigenfalls sein Land einer
<3] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 127
auswärtigen Macht abzutreten (Falke. Gesch. des deutschen Zoll-
wesens, 172); und dass Kursachsen lange Zeit das einzige Dorf, das
ihm an der Oder gehörte, zu einer Bezollung des Stromes benutzte,
die zwar nach dem Hubertsburger Frieden aufhören sollte, aber doch
erst mit Abtretung der Niederlausitz völlig aufgehört hat. Weser-
zölle gab es gegen Schluss des 16. Jahrh. oberhalb Bremen auf 23
Meilen Länge 22; Elbzölle vom Einflüsse der Moldau bis Hamburg 47
(Falke, 170. 221.), nach v. Keyssler Reisen, 1740, H, 1069 zwischen
Pirna und Hamburg 32. übrigens war auch in Frankreich, trotz der
Reform versuche Colberts (Lettres, Instructions et memoires de C. 6d.
Clement, 11, 426 fg.), z. B. die Loire noch um die Mitte des 18. Jahrh.
mit 28 Zöllen beschwert, so dass man die Waaren von Paris nach
Nantes oft lieber zu Lande gehen liess. (Forbonnais F. de Fr. l, 306.)
Sehr gut kritisirt durch das Arrßt du Conseil vom 15. August 1779
(bei Parieu Tr, des Impots III, 443 fg.), obwohl erst die Revolution
1790 und 92 die Aufhebung dieser Zölle durchsetzte. Diese mon-
ströse Folge zu hoher Stromzölle, den schönsten Strom unbrauchbar
zu machen, worauf schon J. J. Becher, Polit. Discurs (1668) 11,
1538 der Zinkeschen Ausg. hindeutet, war auch den Alten nicht un-
bekannt: s. vom Euphrat Slrabo XVI, 748.
Für Deutschland macht in dieser Hinsicht Epoche die Aufhebung
der Oder-, Netze- und WarthezöUe durch Friedrich M. (1750): sowie
auch im 19. Jahrh. Preussen mit dem guten Beispiele vorangegangen
ist, nicht bloss seinen eigenen Unterthanen die Stromzöllc zu erlas-
sen, sondern auch 1 828 mit Anhalt die wechselseitige Erlassung der
Elbzölle zu verabreden. Inzwischen hatte der Wiener Congress (Acte
final Art. 108 — 118) und die deutsche Bundesacte (Art. 19) für die-
jenigen Ströme, die mehrere Staaten durchziehen oder scheiden, er-
trägliche Grundsätze festgestellt: die HandelsschiiTahrt durchaus frei;
die Schiffahrtspolizei für Alle gleich und dem Handel so günstig wie
möglich; das Abgaben- und Polizeisystem für den ganzen Strom so-
viel wie möglich dasselbe; die Stromzölle scharf getrennt von den
Einfuhrzöllen der Uferstaaten, möglichst unabhängig von der verschie-
denen Beschaffenheit der Waaren, damit genauere Untersuchung der
Schiffsladungen vermieden werden kann, und nur durc^h gemeinsamen
Beschluss der Uferstaalen zu erhöhen; die Erhebungsstellen, deren
möglichst wenige sein sollen, nur durch gemeinsamen Beschluss zu
128 Wilhelm Röscher, [<4
vermehren. In den hierauf basirten Stromschiffahrtsacten wurde
nachmals ein Maximum des Zolles für die ganze Stromlänge verab-
redet, welches zwischen den einzelnen Staaten je nach der Länge
ihres Ufers getheilt werden sollte.-^) Endlich erreicht ist das wün-
schenswerthe Ziel durch Art. 54 der deutschen Reichsverfassung, wo-
nach auf allen natürlichen Wasserstrassen Abgaben nur für die Benutzung
besonderer Anstalten zur Erleichterung des Verkehrs erhoben werden
und deren Kostenbetrag nicht übersteigen dürfen.
Derselbe Regalismus, wie auf die Ströme, hat sich auch auf
einzelne leicht beherrschbare Theile des Meeres {mare clafisum) aus-
gedehnt^), und zwar ist die Zollerhebung dort wie hier nicht bloss
auf den Gedanken des Staatseigenthums, sondern auch der Sorge für
die nöthigen Wasserbauten, Leuchtthürme etc., mehr noch der Schutz-
gewiihrung (§. 4), oder wenigstens der unterlassenen Beraubung^
(Barbaresken !) gestützt worden. Der Sund zoll, aus der Zeit her-
5) ElbschifTahrtsacte von 4 824, WeatrschifTabrtsacte von 1823. Förden
Rhein, wo schon der Lüneviller Friede von 4 80 4 , der Reichsdeputations-Haupl-
schhiss von 4 803 und die Octroiconvention von 4 804 vorbereitet hatten, (auf
dem Rastadter Congresse hatte Frankreich sogar für alle Deutschen und Franzosen
ganz freie Rheinfahrt gefordert und für die übrigen deutschen Ströme dasselbe
empfohlen!)^ ist besonders wichtig der Vertrag vom 34. März 4 834. Es ist hier-
durch an der Elbe die Zahl der Zolistätten von 35 auf 4 4 vermindert worden,
an der Weser von 24 auf 4 4. Am Rhein blieben von Breisach bis Gorkum 45;
(vor 4 803 allein bis zur holländischen Gränze 32, mit einem jährlichen Ertrage
von 2 Mill. Fl.). Die Weserzölle sollten pro Schiflspfund höchstens 34 5 Pfennig
betragen: davon 59 für Preussen, 4 26 für Hannover, 44 für Hessen, 4 6 für Braun-
schweig, 4 3 für Lippe, 60 für Bremen. Vgl. Eichholf Pragmatisch-geschichtliche
Darstellung der Verhandlungen und Beschlüsse des Gongress-Comites für die Freiheil
der Flüsse. (4849). Klüber öff. Recht des teutschen Bundes, §. 563 ff. und Acten
des Wiener Congresses, Bd. HI. Wheaton Hist. des progrös du droit des gens,
p. 4 05 ff. G. Schirges Der Rheinstrom. (4 857). Die Elbzölle, Actenstücke und
Nachweise. (Leipzig 4 860).
6) So nahm Venedig das adriatische Meer in Anspruch, Genua das ligu-
rische, die Türkei das ägeische und schwarze, Spanien und Portugal die von ihnen
»entdecktentt Meere, Grossbritannien die vier narrow-seas. Vgl. H. Grotius Mare
liberum (4 609) und J. Borough Imperium maris Brilannici (4 686).
7) Dänemark stützte den Glückstädter Zoll namentlich darauf, dass es den
Eibstrom gegen fremde Mächte schützen wollte, wozu Hamburg etc. nicht »ba-
slant« seien (Falke, Gesch. des deutschen Zollw., 225). Im Sunde hat wohV K.
Christoph 4 447, um seiner Geldnoth abzuhelfen, eine Menge friedlicher Schiffe
aufbringen und ihre Ladung verkaufen lassen (Geijer, Schwed. Gesch. I, 24 4).
45] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 129
rührend, wo Dänemark beide Küsten besass, schon im 10. Jahr-
hundert in Anspruch genommen, von der Hanse 1363 anerkannt
(Sartorius, Urkundenbuch , 517. Dahhnann, Danische Geschichte
III, 135), wurde von Dänemark als seine Goldgrube (gegen Karl V.),
seinen Weinberg (Suhm), das schönste Kronjuwel (gegen Fried-
rich Wilhelm III.) bezeichnet, und musste wirklich mit jedem Aur-
blühen der Ostseeländer einträglicher werden. Zu Anfang des 18.
Jahrhunderts passirten nur 3435 Schiffe den Sund, 1779 = 8272,
1805 = 10950, 1821 = 11309, 1830 = 12946, 1844 = 17332,
1853 = 21512. Nattlrlich wurde dieser Zoll von allen fremden
Völkern um so mehr gehasst, zumal ihn Dänemark durch vertrags-
widrige Erhöhungen und mancherlei Erhebungschicane noch ver-
schlimmerte. Schon 1628 bezeichnete der Kaiser ihn gegen die
Hansestädte als »einen schädlichen und schändlichen Tribut von ganz
Germanien«. (Mailath, Osterreich. Gesch. III, 152.) Das Räthsel,
wie ein so kleiner Staat solchen Tribut aller Welt gegenüber so lange
behaupten konnte, löset sich zum Theil durch die gegenseitige Eifer-
sucht der anderen Mächte, für welche der Sund am Ende nur Neben-
sache war, während ihn Dänemark immer als eine Lebensfrage be-
trachtete, die man durch Verbindung mit der Privatkasse des Königs
(Justi, Staatswirthschaft II, 561.), selbst in der oligarchischen Zeit
ohne Einfluss der Stände (Geijer, Scbwed. Gesch. III, 338 ff.), für
die höchste Instanz niemals in Vergessenheit gerathen liess. Indess
haben die Dänen sicher in ihrem wahren Interesse gehandelt, als sie
1857 den Zoll, (der 1853 über 2556000 Rbthlr. eingebracht), gegen
eine den fremden Staaten je nach Verhältniss ihrer Sundpassage auf-
erlegte Kapitalzahlung von 30903000 Rbthlr. ablösen Hessen. Vgl.
H. Scherer, Der Sundzoll, seine Geschichte etc. (1845.) Die ältere
Literatur bei v. Kamptz, N. Literatur des Völkerrechts, § 176.^)®)
Zu diesem Regal der herrenlosen Güter zählen wir auch die
Ansprüche des Staates auf die Erbschaft ausgestorbener Fa-
8) Der in mancher Hinsicht verwandte Brunshäuser Zoll wurde 1861 mit
einem Kapital von 298H34 Tbir. abgelöst, wovon auf Hannover selbst 4 23796
Tbir. kamen. Er hatte 4 855—60 durchschnittlich 220000 Thlr. rein gewährt.
Vgl. die Hamburger Broschüre: Freiheit der ElbschilTahrt (4 880). Ablösung des
Scheldezolls mit 4 74 4 4 640 Fl. am 4 6. Juli 4 863.
9) Im Alterthum vergleicht sich hiermit der BosporoszoU. Wie die Byzan-
130 Wilhelm Rosr.nRB. i^ß
milien: in jener Zeit der Fehden und Seuchen finanziell weit
bedeutender, als heute, zumal auch das jus albinagii den König als
Patron der Fremden zum Erben ihres Nachlasses machte.^®) Das
Recht des Staates auf gefundene Sachen, zu denen kein EigenthUmer
nachweislich war, in barbarischster Weise beim Strand rocht; auf
Schatze: damals wiederum finanziell sehr bedeutend, weil die herr-
schende Unsicherheit so häufig Schatze vergraben Hess. (Vgl. mein
System Bd. III, § 19. Bd. I, §. 220). Wo ein Land werthvolle Nalur-
producte besitzt, die auf rein occupatorischem Wege zu gewinnen sind,
da liegt die Regalisirung derselben um so nüher, je mehr sonst zu
fürchten wäre, dass die freie Concurrenz ihre vorzeitige Erschöpfung,
vielleicht auch inzwischen durch ÜberfUllung des Marktes ihre Entwer-
thung bewirken möchte. ^^) Von der frühern, nicht bloss finanziellen, son-
dern auch wirthschaftspolizeilichen, ja politischen Bedeutung des Jagd-
regal s und seiner spatern Abstellung s. mein System Bd. II, §. 174 ; des
Bergregals Bd. III, §. 1 80 ff. Die neueste Entwicklung des Privatgrund-
eigenthums und der Gewerbefreiheit haben diese Regalien mehr und
mehr eingeschränkt, schliesslich ganz beseitigt. Ihr Ertrag für die
tiner diesen aus Geldnoth ansehnlich gesteigert hatten , schriUen die beiheiligten
Seemächte, namentlich Rhodos, zum Kriege dagegen. (Polyb. FFT, 2. IV, 38 ff.
Dio Chrysost. Grat. 3^. Vgl. noch Ilerodian. FII, <).
\ O) Droit de desherence in Frankreich ; daneben noch droit de bätardise. Rocht
auf den Nachlass solcher Bastarde, die ohne eheliche Nachkommen starben (Warn-
kÖnig-Stein I, 460 (T.) Das ältere deutsche Erbrecht schränkt die Intestaterbfolge
auf einen viel engern Kreis von Blutsverwandten ein, als das heutige (Beseler. D.
Privatrecht, §. \ .50). Wie alle jene Rechte oft zwischen Krone und Landesherren strei-
tig waren, so der Anspruch auf den Nachlass eines Bischofs und auf die bischöflichen
Einkünfte während einer Sedisvacanz zwischen Krone und Papst: vgl. Planck Gesch.
der Christi, kirchl. Verf. IV, 2, 95 IT. v. Raumer Hohensfaufen VI, r54ff.
H) Das droit d'aubainc stützt sich auf das Rechtssprüchwort : der Fremde
lebt als Freier und stirbt als Unfreier. Bei irgend höherer Ausbildung des inter-
nationalen Verkehrs wird dies Recht offenbar unerträglich : daher schon Fried-
rich II. es 1220 auHiob. (Pertz Monum. Germ. IV, 244). In Frankreich seit
dem 14. Jahrb. manche Khissen der Fremden befreiet: so die Studierenden, die
castilianischen Kaufleute. In Languedoc wurde 1475 das ganze Recht auf Wunsch
der Stände aufgehoben. Überhaupt 1498 die Schweizer, 1518 die Schotten davon
eximirt. Seit 1765 eine Menge von Staatsverträgen zu wechselseitiger Aufhebung.
(Warnkönig-Stein I, 460 ff. 631). Dagegen brachte die Confiscafion des Fremden-
nachlasses Mehemet Ali 1814 über 10 Mill. Piaster ein; er soll desswegen Pesten
gern gesehen und Quarantänen versäumt haben. (KiUer Erdkunde XIII, 319).
^"^1 Versuch einer Theorie der Finanz-Regauen. 4 31
Staatskasse war auch vor ihrem ganzlichen Aufhören nur gering:
zumal wenn man die Jagd in Staatswäldern ^^) und den Bergbau in
den eigenen Gruben des Staates als Privaterwerb der Regierung aus-
scheidet. ^^) Jedenfalls hat das im Mittelalter so wichtige Regal der
12) Vgl. V. Schlözer, Anfangsgründe II, 150. Schon früher J. G.
Fichte Naturreoht (Werke lU, 22 HF.) Fulda's Theorie, wonach bloss das re-
galisirt werden soll , was » nicht wohl an sich oder nicht ohne fortdauernde Auf-
sicht und Mitwirkung des Staates Privateigenthum sein und als solches gehörig
benutzt werden könnte« (Finanzwissenschaft, 8i), würde sich heute mehr auf
Eisenbahnen etc., in früherer Zeit auf Bergwerke beziehen. — Hierher gehört das Re-
gal des Bernsteins in Preussen (seit Kaiser Friedrich II. dem Orden verliehen und
im ii, Jahrh. wohl aus Brügge allein bis 3000 Mk. Silber einbringend : J. Voigt,
Preuss. Gesch. VI, 629 ff.), des.sen Ertrag 1871 zu 62253 Thlr. veranschlagt wurde;
das Regal der Perlenfischerei im sächsischen Vogtlande (seit 4 620i der Diaman-
ten In Brasilien und Ostindien (K. Ritter Erdkunde VI, 356), der Rubine in Ba-
dakschan, wo es schon M. Polo kennt (Ritter VII, 789), der Jaspise in Khotan
(VII, 380), der Türkise in Khorossan (VIII, 330)^ des balsamischen Erdöls in
Persien (VIII, 762), der Vögel, welche die schönsten Federbüsche liefern, in
Kaschmir (III, 4 4 60), der Sandelholzwälder und Elephantenjagd in Ostindien (V,
84 8. 924), des Ginsengs in der Mandschurei (II, 95); das R. des Schnees in
vielen warmen Ländern: Kirchenstaat (Niebuhr Revolutionsgesch. II, 374), Sici-
lien (Brydone Letters, 8), Portugal (Link Reise III, 4 23)', Mexico (Humboldt
Neuspanien V, 2), Kalifat. (Stüwe Handelszüge der Araber, 4 64). Sehr zweck-
mässig das Guanoregal in Peru, das 4 875|6 fast ^/^ der Staatseinnahme trug:
= 93800000 Fr. (Leroy-Beaulieu Sc. des F. I, 23). Als man freilich in Sach-
sen von 4 620 — 4 836 die Vorschrift hatte, dass alle Serpentinblöcke von einer
gewi.ssen Grösse unentgelllich an den Stiat geliefert werden sollten, bewirkte dies
Regal , dass nun die Brecher fast alle grösseren Stücke zerschlugen ! Ähnlicher
Einfluss des frühern französischen Maslbaumregals : mein System Bd. H, §. 4 94.
4 3) In Baden trug die Jagd dem SUate ein 4 830 = 4376 Fl. 4 834 =
4 9297 Fl., seit 4 837 durchschnittlich 32000 Fl. Die Zunahme rührte her aus
der immer mehr vorherrschenden Verpachtung. (Rau F.-W. II, §. 4 94). Das
letzte k. sächsische Budget vor 4 848 schlug den Ertrag zu 8800 Thlr. an. In
Russland wurde die Fischerei von Astrachan, früher regal, 4 763 der Kaufmann-
schaft gegen eine Abgabe von jedem Pud Caviar und Hausenblase überlassen, 4 802
aber Jedermann freigegeben. (Storch Russland unter Alexander I., Hft. X, 24 ff.).
4 4) In Preussen ertrugen 4 883/4 die Staats - Berg - , Salz- und Hütten-
werke roh 96470000 Mk., rein 4 54 92000: das letztere 2,8 Proc. vom Reinein-
kommen des Staates überhaupt. Im K. Sachsen die Bergwerke 855060, die Koh-
lenwerke des Staates 54^2500, zusammen 2,06 Proc. des reinen StaaUseinkommens.
In Bayern die Salz- und Bergwerke rein 794 000 (0,28 Proc), in Württemberg
die Berg- und Hüttenwerke 450000 Mk. , (0,28 Proc), in Russland die Berg-
und Hüttenwerke nach dem Voranschlage für 4 883 = 6487000 Rubel, das Berg-
regal = 2589000 (4,29 Proc). Ob der Staat besser thut , seine Berg- und
Abluiodl. d. k. S. üesellseh. d. Wissenscb. XXI. 10
132 Wilhelm Röscher, I^^
herrenlosen *^) Güter in den neueren hochkultivirten Staaten seine
fiscalischo Bedeutung fast gänzlich verloren. *^)
4-
Wie schon bei der zweiten Gruppe die rein fiscalischen Zwecke
wesentlich controlirt und gefördert wurden durch wirthschaftspoli-
zeiliche Gedanken, so beruhet eine dritte Gruppe von Regalien darauf,
dass sich die Regierung für ihre eigentlich politische
ThUtigkeit von denjenigen bezahlen lässt, welche zu-
nächst damit in Berührung kommen. Am Schlüsse des Mittel-
alters um so natürlicher, als gerade jetzt die Ansprüche des Volkes
an den Staat, mithin die Kostspieligkeit des Staatsdienstes immerfort
HüUenwerke zu behalten, oder in Privathände zu ver'aussern , ist eine nach den
Grundsätzen von Kapitel III. relativ zu beantwortende Frage. (Sehr gründlich erörtert
von Wagner F. W. I, §. t941T.). hn Ganzen wird, je intensiver der Bergbau
werden muss, der Privatbetrieb um so mehr angezeigt sein. Also der abneh-
mende Naturreichthum der Gruben und die wachsende Concurrenz von Aussen
durch Verbesserung der Transportmittel müssen den Staatsbetrieb immer mehr zur
Ausnahme machen, während der erste Anbau z. B. sehr reicher Edelminen häu-
fig vom Staate selbst unternommen ist. (KrÖsos in Lydien, K. Philipp I. in Thra-
kien, das cäsarisch gestellte Haus der Barkid en in Spanien ; ähnlich in den An-
fängen des deutschen Edelbergbaues). In Salz- und Kohlengruben wird sich der
Staatsbetrieb aus geognostischen Gründen am längsten behaupten. Ein Mittelweg
könnte in der Verpachtung der Staatsbergwerke bestehen^ wie z. B. die attischen
Silbergruben vererbpachtet waren (Böckh Staatsh. der Ath. I, 420 flf.), die Berg-
werke der römischen Provinzen, die Quecksilbergruben von Almaden verzeitpach-
let. In der Regel ist aber die schwierige Abschätzbarkeit der Bergwerke ein
grosses Hinderniss der Verpachtung. — Über die besonderen (also neben den
gewöhnlichen Einkommen-. Gewerbesteuern etc. bestehenden] Abgaben vom Pri-
vatbergbau, die z. B. für <884 in Frankreich auf 2700000 Fr. veranschlagt sind,
in Belgien 1883 = 400000 Fr. betrugen, s. Arndt in Conrads Jahrbb. N. F. II,
4 75 ff. 630 ff. Wo sie, wie meistens, nur von den durch den Staat verliehenen,
dem Verfügungsrechte der Grundeigenthümer entzogenen Mineralien erhoben wer-
den, charakterisiren sie sich als Ausläufer des Bergregals.
\ 5) Im preussischen Ordenslande R. der Bienenzucht, das im M. -Alter wegen
der Seltenheil des Zuckers und wegen des starken Meth- und Wachsverbrauches
sehr einträglich war. (J. Voigt VI, 641 ff.). In Neapel früher R. der Gewinnung
des Lakritzensaftes, (Schubert Handb. der Staatskunde IV, 63}.
\ 6] Dem französischen Staate brachte die Einziehung der herrenlosen Güter
1859 gegen 700000 Fr. ein, dem belgischen 1853|7 durchschnittlich 64219 Fr.
(Hau F.-W. I, §. 84).
^^1 Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 133
wuchsen, und die privalrechtliche Auffassung des Staates selbst gerne
die Steuern als Äquivalent bestimmter Vortheile erscheinen Hess.
Hierher gehört schon der Antheil des Herrschers an der Kriegs-
beute, d. h. also die fiscalische Nutzung der Kriegshoheit. Auch
die lucrative Vermiethung von Truppen an fremde Mächte lässt sich
hierher zählen: wie z.B. 12608 Hessen und 4300 Braunschweiger
zum Kriege Englands gegen die nordamerikanischen Kolonien ver-
miethet wurden. (Menzel, N. deutsche Gesch. XII a, 125.) Freilich
ein Geschäft, das Justi (System des Finanzwesens, 523) »ein nieder-
trächtiges Gewerbe von Landverderbern« nennt, und das Friedrich M.
mit einem Yiehzoll belegen wollte! Eine ähnliche Bedeutung haben
früher in den schweizerischen Aristokratien die vielen Pensionen etc.
auswärtiger Mächte für die Gestaltung der Reisläuferei gehabt: pro
more gentis impudeniissimae ^ wie der Abt von St. Gallen die Zahlungen
an die V Orte seit 1701 charakterisirte. (Meyer-Knonau, Schweiz.
Gesch. n, 1 61 .) Aus Frankreich empfing um die Mitte des 1 8. Jahrh. je-
der katholische Canton 3000 ^ Friedensgelder, noch mehr Jahrgelder,
woneben der Botschafter noch 8 — 12000 ^ an einzelne Personen in
jedem derselben vertheilen konnte. (Meyer-Knonau, 11, 451.)
Weiterhin der Verkauf von Privilegien,^) Titeln und Äm-
tern. Jacob I. verkaufte den Titel Baron für 10000 £ St., Vis-
count für 15000, Earl für 20000, Baronet für 1100. In Frankreich
wurden viele Adelsbriefe nur desshalb erkauft, um dadurch Steuer-
freiheit zu erlangen: also eine Art von Staatsanlehen, das Golbert 1664
durch Rückkauf der Adelsbriefe tilgte. (Forbonnais F. de Fr. I, 396.)
Die titelsüchtigen Creolen Mexicos, deren Kaufleute selbst in den ab-
gelegensten Bergstädten Milizobersten etc. heissen wollten, brachten
dem Vicekönige viel ein. (Humboldt, Neuspanien V, 38.) Nach der
Reichshofrathsordnung von 1672 kostete der Titel Fürst 12000 Fl.,
Marchese 6000, Graf 4000, Freiherr 2000, Patricier 1000, Hoch-
und Wohlgeboren 400, Wohlgeboren 200, Doctor 100, poeta laureatus
50 Fl. Eine andere Reichskanzleilaxe für Standeserhöhungen von 1784
I) Sehr üblich schon im Lehnslaate. Richard I. erkUirte vor seinem Kreuz-
zuge, das grosse Staatssiegel sei verloren gegangen ; daher müsse Jedermann seine
Privilegien etc. sich für Geld neu besiegein lassen. In ritterlicher Weise musste
auch für königliche Gnaden noch ein aurum reginae gezahlt werden. (Madox Hist.
of the Exchequer, 240 fg.).
40»
134 Wilhelm Röscher, [20
s. Schlüzers St. Anzeigen VI, 482. Die Slandeserhöhungen nach Maria
Theresias Niederkunft 1754 brachten 229000 Fl. ein. Die ganze jähr-
liche Einnahme aus solchen Quellen schätzte v. Fürst auf 400000 Fl.
Ein Graf Clary zahlte für die Excellenz 60000 Fl. Ein Geh. Rath
kostete 4000, ein Marschall 2000, ein General 1000 Fl. (Ranke,
Ilistor. polit. Ztschr. II, 707.) Ein neueres österreichisches Taxsystem
bei Tegoborski, Finanzen ü.s II, 250: wonach z. B. der nicht dem
Amte anklebende Titel eines Rathes 100 Fl. kosten soll, Regierungs-
rathes 300, Hofrathes 600, Kammerherrn 1000, Geh. Rathes 6000.
In England, wo schon Richard I. vor seinem Kreuzzuge einzelne
Amter verkauft hatte, wurde durch 5./6. Edw. VI., C. 16 jeder Amter-
kauf nnt wenig Ausnahmen streng verboten. — In Frankreich erregten
die ersten Amter verkaufe Franz I. in Languedoc (1519) allgemeinen
Unwillen und Widerspruch der Stände. Gesetze von 1493 und 1498,
jedes neue Parlaraentsglied sollte eidlich versichern, für sein Amt
weder etwas gezahlt, noch versprochen zu haben. Seit 1508 jedoch
wiederholte Versuclie der Krone, selbst Richterstellen zu verkaufen,
wogegen aber Parlamente und Reichstag sich widersetzten. So 1519.
(Sismondi, Hist. des Fr. XVI, 109. 143.) Um mehr Ämter verkaufen
ZU können, 1554 das Pariser Parlament zum semeslrier gemacht.
(Sismondi XVII, 519.) Späterhin durften die Inhaber ihre Stelle sogar
verkaufen, seit 1604 auch ihre Erben, sofern die s. g. Paulette ge-
zahlt w^ar (Forbonnais I, 84.): doch nur an einen persönlich für das
Amt Befähigten. (Warnkönig-Stein I, 592 fg.) Auf dem Reichstage
von 1614 ward gegen den Ämterkauf, der nach Sully's Rücktritt sehr
zugenommen hatte, vornehmlich angeführt, dass eine Art von Domänen-
veräusserung darin liege; dafür aber, dass die Reicheren meist auch
eine bessere Erziehung haben, dass der hohe Preis ihrer Amter sie
mehr für die öllentliche Ruhe etc. interessirt, dass man Unterschleife
etc. auch gegen die Kaufiämter bestrafen könne. Klerus und Adel
waren für Abschaffung des Systems, »um unenlgeltlich begünstigt zu
werden« (Sismondi XXII, 302); der dritte Stand für die Fortdauer.
Richelieu, der bei seiner Reform des Civildienstes 3000 Finanzbeamte
ihrer erblich gekauften Stellen fast ohne Entschädigung beraubte
(Sismondi XXIII, 305. Forbonnais I, 222), meinte doch im Ganzen,
dass nach Abschaffung des Amterkaufes Gunst und Ränke entscheiden
würden. Auch sei der Kaufpreis eine Art von Caution und schütze
^1] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 135
gegen allzu grossen Andrang der niederen Klassen (Testament poli-
tique I, 198, 209.) Forbonnais hält die Gegengründe für blosses
Voriirtheil, zumal bei Richterstellen; die Einnahme des Staates von
dieser Quelle drücke das Volk gar nicht und vermindere die unpro-
ductive Überfüllung der Beamtenlaufbahn. (F. de Fr. I, 1 40 flF.) Doch
hat Colbert die Zahl der Kaufömter von 45000 auf 25000 vermindert
(Warnkönig-Stein I, 606.), und erst in der schlimmen Zeit Lud-
wigs XIV. sind sie wieder sehr vermehrt worden: 1691 — 1709 über
40000 neue creirt, namentlich um den Gewerbfleiss zu beaufsichtigen
und Sportein dafür zu beziehen. (Chaptal Industr. Fr. II, 332.) —
Das Papstthum hat den Amterverkauf nicht bloss auf weltlichem Ge-
biete, sondern auch auf geistlichem ausgebildet, womit ihm freilich
die sächsischen und salischen Kaiser vorangegangen waren. (Für das
Erzstift Mailand 1000 Pfd. Silber, Trier 1100 Mk. Silber, das Stift
Lültich 7000 Pfd.: Waitz, D. Verf. Gesch. VII, 407 flF.) In Luthers
Zeit kostete das Mainzer Pallium in Rom 24 — 25000 Goldfl. und war
diese Summe in einem Menschenleben siebenmal entrichtet worden.
Die Augustiner mussten 30000 Fl. zahlen, als ihr General den Purpur
empfing. (Luthers Werke ed. Walch, XV, 552. 371.) In Spanien zog der
Papst bis zum Concordate von 1 753 mittelst der s. g. cedulas bancarias
für die geisthchen Anstellungen fast 20 Proc. vom Einkommen der Pfrün-
den. (Bourgoing, Tableau de l'Espagne I, 329 AT.) Als Extrem können
die Cardinalspromotionen Alexanders VI. gelten, die 10 bis 30000 Fl.
eintrugen und mitunter sogar zur Vergiftung der Pfründeninhaber ge-
reizt haben sollen. (Sismondi, Gesch. der ital. Republ. im M.-A. XIII,
265.) — In Deutschland hat dies Regal verhältnissmässig weniger An-
klang gefunden. Aus der Marinekasse von 1686, in die alle preussi-
schen Beamten die Hälfte ihrer erstjuhrigen Besoldung zahlen sollten,
und in die seit Friedrich I. noch manche andere regalistische Gebühren
für Titelverleihung, Judenschutz, Ehendispens in verbotenen Graden,
Succumbenzgelder von Appellanten etc. einbezogen wurden (Riedel,
Brandenb. preuss. Staatshaushalt, 44. 66), machte Friedrich Wilhelm
I. 1721 eine Recrutenkasse für sein Leibregiment, für welche sodann
alle Bewerber um ein Amt ein Gebot thun mussten. Dies artete
factisch zu einer Versteigerung aus, neben welcher die Examina
wenig bedeuten wollten. (Preuss Gesch. Friedrichs M. II, 323.) Für
die Stelle eines Regierungsrathes mit 200 Thlr. Gehalt wurden wohl
136 Wilhelm Röscher, [25
1000 Thlr. Recrutenjura bezahlt. (Oeuvres de Fröderic IL, XXVII, 3,
p. 63.) Friedrich M., welcher den Diensthandel für infamirend hielt
(Oeuvres Posth. VI, 56), verordnete schon 1740, dass alle Beamten
nait wirklicher Vorbereitung hiervon befreit sein sollten, und verwan-
delte in der Instruction für das General-Di rectori um (1748) das Ganze
in eine massige Besoldungssteuer. Kurz vorher hatte ihm Cocceji
geschrieben, dass sich »die Bürgerlichen durch den Einkauf in ihre
Chargen nicht mehr auf solide Wissenschaften gelegt.« (Preuss, I, 322.)
Von bayerischen Amterkäufen unter Karl Theodor s. Perthes, Deutsch-
land zur Zeit der französ. Herrschaft, 441 ; von württembergischen
unter dem Juden Süss: Menzel, N. Deutsche Gesch. X, 221; von
Österreichs Verkauf selbst höherer Offizierstellen (Oberst = 30000 Fl.,
Hauptmann = 8000) zu Anfang des 18. Jahrb.: Foscarini, Hist.
arcania, 113, der subalternen Offizierstellen 1804: Mailath, Ost. Gesch.
V, 363. Der mecklenburgische Absolutist Karl Leopold verkaufte seit
1742 namentlich Pfarren, selbst an Frauen, die sich dann mit einem
Candidaten vermählten. (Boll, Mecklenburg. Gesch. II, 425.) Vgl.
überhaupt F. C. Moser, Über den Diensthandel deutscher Fürsten (1786),
wo der Titelverkauf als eine harmlose Lächerlichkeit erscheint, der
französische Amterverkauf wegen seiner Öffentlichkeit als minder be-
denklich, um so schlimmer der jetzt in Deutschland so furchtbar
grassirende geheime Diensthandel. Schon Leibniz hatte die simonia
politica gemissbilligt (Opp. ed. Dutens IV, 2, 580.)
Der Ämterverkauf war also namentlich im 16. und 17. Jahrb. auf-
gekommen, als die gänzlich veralteten Lehnsämter durch die Anfänge
des neuern Beamtenwesens ersetzt wurden. In Frankreich schätzte man
den Gesammtwerth der verkauften Ämter 1 61 4 auf 200 Mill. Livres,
1664 auf beinahe 800 Mill.; und die Nationalversammlung berechnete
bei Aufhebung des ganzen Instituts allein die gerichtlichen Stellen zu
2) Forbonnais F. de Fr. I, UOff. 329. v. Sybel Gesch. des Revolutions-
zeitallers I, 4 98. Im Edicte von 1665 wurde der Preis des ersten Präsidenten
der Rechnungskammer zu 400000 Livres tarifirt, die presidents ä mortier im Pa-
riser Parlament zu 350000 (Daire Economistes financiers, p. 245). Fouquet hätte
sein Amt als Generalprocurator des Parlaments für 3^2 Mill. fr. verkaufen kön-
nen. (Voltaire Siecle de Louis XIV., Gh. 25). Um 4 576 rechnete man für je
3000 £ Besoldung 20000 £ Kaufpreis, (v. WoHI* Staats - Rentenschuld in Frank-
reich I, 49). So vor Einführung der Vererblichkeit. Justi System des Finanzw.
(1766), 528 unterscheidet zwei Arten des Ämterverkaufs : entweder so hoch, dass
23] Verslch einer Theorie der Finanz-Regalien. 137
800 Millionen.^ Im Zeitalter des confessionellen, mehr noch des höfi-
schen Absolutismus hatte solches Kaufsystem das Gute, die willkür-
liche Absetzung der Beamten zu erschweren ; und zumal für Richter
ist die Unabhängigkeit doch ein noch grösseres Bedürfniss, als die aus-
gezeichnete Geschicklichkeit. Selbst die Verwaltung bekam dadurch
einigen Antheil an der Sicherheit der Justiz. ^) Daher Montesquieu in
»Monarchien« (zum Unterschiede von Despotien und Republiken) den
Amterkauf namentlich auch im Interesse der »Industrie« billigte. (E. des
L. V, Ch. 19.)*) Wie nachmals freilich dieser Empfehlungsgrund auf-
gehört hatte, blieben die grossen Schattenseiten des Diensthandels
ohne überwiegende Lichtseite: dass nun die Amter ein kastenähn-
liches Privilegium der Reichen, die Fähigkeitsprüfungen leicht illuso-
risch werden und mit der Käuflichkeit der Amtsgewalt sich eine
Bestechlichkeit der Amtsführung verbindet.'^)
die Besoldung nur den Zins des Kaufschillings bildcl, wo das Amt dann forterbt,
oder auch der Nachfolger den Erben Ersatz leisten muss ; oder so, wie in Hamburg,
wo das Amt nur lebenslänglich währt, aber auch der Kaufpreis nicht viel mehr
betragen kann, als 3 — 4 Jahre des Gehaltes.
3) Bei Tocqueville Ancien regime, Note 41 streitet ein Polizeidirector mit der
Rentkammer, wem die Erhaltung des Strassenpflasters obliege; und das Gericht
entscheidet, weil die Sache bei Kaufämtern als rein civil erschien.
4) Das britische System, bis zum Oberstlieutenant hinauf die meisten Offi-
zierstellen der Infanterie, Gavallerie und Garde im Wege des Kaufes zu besetzen,
(Kaufpreis 1855 nach amtlicher Angabe z. B. für den Oberstlieutenant der drei
Waffen 4300, 6475 und 7250 Pfd. St., für den Fähndrich 450, 840 und 1200
Pfd.), hatte keinen fiscalischen Zweck, sondern hing, wie so viele Eigenthümlich-
keiten des britischen Heerwesens, mit der Besorgniss zusammen, dass eine sehr
ausgebildete stehende Armee der Verfassung, d. h. einer nach Oben weise abge-
stuften, nach Unten weise geöffneten Gentlemenherrschafl, gefährlich sein würde.
Man suchte desshalb die Offizierstellen thatsächlich dem herrschenden Stande vor-
zubehalten. Die gewöhnlichen Folgen des Kaufsystems, geringe technische Bildung
der Offiziere, sowie deren kastenmässige Sonderung von den Unteroffizieren und
Soldaten, welches beides in der Regel erst nach längerer Übung im wirklich
grossen Kriege abgeschliffen wurde, (Marlborough , Wellington!), sind auch hier
nicht ausgeblieben ; jedoch bisher wegen der Insellage und Seeherrschaft Englands
noch nicht gefährlich geworden. Vgl. Gneist Gesch. der engl. Communal Verfas-
sung II, 44 0 ff.
5) Der römische Erfabrungssatz : necesse est , ut , qui emit , vendat (Seneca
De benef. I, 9. Lamprid. Alex. 49) hat sich auch in den früheren schweizeri-
schen Landvogteien bethätigt, die so vielfach an die römische Provinzialverwaltung
erinnern. Vgl. Röder-Tschamer Der C. Graubündten I, 58. 65. Franscini Der
138 Wilhelm Röscher, [24
Wir gedenken ferner der Abgaben, welche der Staat unmittel-
bar für den Schutz von Leben und Eigenthura forderte, nach Art
einer Versicherungsprämie. So die Geleits rechte zu Lande und
zu Wasser, aus denen sich durch zeitgemässe Umformung die neueren
Gränzzollsysteme herausgebildet haben ;^) die Marktzölle für Hand-
habung des Marktfriedens, dieser Hauptkeim der neueren Acciseein-
richtungen; die Judenschutzgelder für das Patronat dieses zu jener
Zeit heimathlosen Volkes.^)
Hierher gehörten schliesslich die zahllosen Einkünfte von der
Gerichtsbarkeit. So die Geldstrafen und Vermögensconfis-
C. Tessin, 25 ff. Pupikofer Der G. Thurgau, 155. Meyer-Knonau Schweiz. Gesch.
II, 27. 243. 459.
6) Unter den sächsischen und fränkischen Kaisern hatte das Geleitsrecht, be-
sonders früh in Lothringen ausgebildet^ viel mehr Ähnlichkeit mit unseren staats-
rechtlichen Zöllen ; so dass z. B. die Befreiung davon, die OUo II. den Venetia-
nern durchs ganze Reich verlieh, als ein Yortheil galt. (Pertz Leges II, 36).
Vgl. Waitz D. Verf. Gesch. Vm, 31 6 ff. Der Sachsenspiegel II, 28 erkennt au,
dass Niemand nÖthig habe, Geleit zu nehmen, wenn er sein Gut riskiren will.
Dass der Herr, welcher sich das Geleit hatte bezahlen lassen, im Fall nun doch
eine Beraubung des Kaufmanns eingetreten war, Entschädigung leisten musste, ver-
steht sich eigentlich von selbst. Vgl. Sachsensp. II, 27, Schwabensp. Landrecht,
194 (Lassb.), und noch den R.-A. von 1559, §. 34, sowie die von Maurer
Gesch. der Städteverf. I, 376 ff. angeführten Stellen. Es war eine arge Ausartung,
wenn von Albrecht III. von Österreich, Jacob von Baden (bei Aen. Sylvius) oder
Philipp von Hessen (Bommel Hess. Gesch. III, 167) besonders gerühmt wird,
dass sie ihre Geleitspflicht in diesem Sinne aufgefasst. Später ist das Geleitsrecht
dann zu einem Durchgangszolle geworden : so unter Kurfürst August von Sachsen,
welcher den Fuhrleuten strenge verbot, auf einer andern als der herkömmlichen
Strasse zu fahren (Cod. August. II, 116311.). Oft mit den zopfigsten Formalitä-
ten: Proben davon aus dem 18. Jahrh. bei Nicolai, Reise I, 196 und K. H.
Lang Histor. Entwicklung der deutschen Steuerverf., 150.
7) In England sollen von 50 Henry III. bis 2 Edw. I., also in 7 Jahren
1260000 Pfd. St. nach jetzigem Gelde von den Juden erpresst worden sein.
(Anderson 0. of C, a. 1290). Hieraus erklärt sich das Edictum Bavillense von
1392, dass Juden, welche sich taufen Hessen, zuvor ihr Vermögen an den Staat
abtreten sollten, »damit der Teufel nichts mehr an ihnen hätte«. Vgl. dagegen das
Laterancr Concil von 1179 (c. 5. X, V, 6) und die V.-O. Johanns XXII. von 1319.
(Extrav. comm. V, 2, 2). Noch im 18. Jahrh. zahlten die Wiener Juden pro
Kopf täglich 1 Fl. Toleranzgeld, repartirten dies jedoch unter einander nach dem
Vermögen. (Nicolai, R. III, 172). Auch die schweizerischen LandvÖgte zogen
aus der precären Lage der Juden, die höchstens periodisch geduldet werden soll-
ten, beträchtliche Einkünfte. (Bronner, Der C. Aargau I, 431).
25] Versich einer Theorie der Finanz-Regalien. 139
cationeD, ein DatUrlicher Übergang aus dem Busssysteme des Mittel-
alters in das neuere Strafsystem. Jede mächtige und dabei gesetzlich
wenig beschränkte, also willkürliche Regierung neigt hierzu, weil auf
diesem Wege zugleich ihre Habsucht und Herrschsucht befriedigt wer-
den.^) Hätte Karl I. von England seinen Anspruch verwirklicht,
durch Proclamation eigenmächtig Verordnungen zu erlassen und deren
Übertreter sodann vermittelst seiner Sternkammer beliebig an Gelde
zu strafen, so wäre das factisch einem ganz freien Besteuerungsrechte
gleich gekommen. Voinehmlich ist es die Zeit der absoluten Monar-
chie, überhaupt die Zeit zwischen Mittelalter und neuerer Geschichte,
worin die Geldstrafen auch finanziell die grösste Bedeutung haben,
zumal während heftiger Parteikämpfe. Für Dänemark hat am Schlüsse
des Mittelalters das Recht, in einem gewissen Sprengel die Straf-
gelder einzukassiren, das Hauptiiioment gebildet, woran sich das Auf-
kommen der Aristokratie und die völlige Unterdrückung der freien
Bauern knüpfte. In Schweden belief sich unter K. Johann das Staats-
einkommen aus den Geldstrafen beinah ebenso hoch, wie aus den
Steuern. (Geijer, Schwed. Gesch. II, 207.) Von den deutschen
Gelehrten während der ersten Hälfte des 17. Jahrh. nennt Klock die
Steuern, quae ad coercenda scelera imperanlur^ omnium jtistmhna^
ulUissima el sanctissima. (De aerario II, 101, 23.) Und der im Ganzen
dem Regalismus feindliche Latherus theilt doch alle Staatseinkünfte
in zwei grosse Gruppen : solche, die per justitiae adminislrationem^
und solche, die absque justiliac admiuistralione vermehrt werden. (De
censu, p. 271 ff.) In Böhmen ist zu Anfang des dreissigjährigen
Krieges der grösste Theil des Nationaladels durch Güterconfiscationen
(meist zu 40 Mill. Fl. geschätzt) ruinirt worden. Gegen Schluss des
1 5. Jahrh. war es eine Ilauptünanzquelle der Tyrannen in der Ro-
8) Schon unter den Merovingern bedeutende Staatseinnahme aus dieser
Quelle. (Waitz II, 535 tf.). Die »Fried losigkeit« regelmässig mit Vermögeiiscon-
Hscation verbunden. (Waitz, Das alte Recht, tO\. Deutsche Verf. Gesch. II, 5i0).
Auch unter den Karolingern sowohl des Königs wie des Grafen Einkommen grossen-
theils auf Geldstrafen beruhend. (Eichhorn, D. St. und R.-G. I, §. 164. 167).
Während aber hier die Busse des Königsbannes nicht über 60 Solidi ging, kom-
men unter Otto M. Strafen von 2 bis 4 000 Pfd. Silber oder tOO Pfd. Gold vor.
VVaitz, D. Verf.-G. VI, 462 ff.). Tyrannische Lehnskönige, wie der englische
Johann^ dictierten wohl ihren Gästen beliebige Geldstrafen pro (also diclo, pro
ntulto responso etc.
140 Wilhelm Röscher, [26
magna, viele Verbote zu erlassen, dann über deren Verletzung die
Augen zuzudrücken und nun plötzlich eine Menge aufgesummter
Strafen einzukassiren. (Machiavelli Discorsi III, 29.) Ein päpstlicher
Kämmerer entschuldigte solches mit dem Spotte : Deus non vull mortem
peccatoris^ sed ut vivat et solvat. (Sismondi XI, 354.) In England
haben während der Bürgerkriege des 17. Jahrh. beide Theile unge-
heuere Geldstrafen erpresst. Unter Karl I. wurden z. B. von Solchen,
die gegen ein Verbot Heinrichs VII. Äcker zu Weiden gemacht, über
30000 £ erhoben; Einer in 10000 ^ Strafe genommen, weil er im
Paläste einen königlichen Diener geschlagen. (Hume, Hist. of England,
Ch. 52.) Lord Strafford verhiess in Irland den Richtern 20 Proc. des
erstjährigon Ertrages von allen eingezogenen Gütern, während Ge-
schworne, die sich der Hülfsleistung weigerten, zu Geldbussen bis
4000 £ gezwungen wurden, (v. Raumer, Gesch. Europas seit dem
Ende des 15. Jahrh. V, 29. 53. 125. 150. 244. 320. 335.) Ein
besonders arger Fall, wo ein hohe Personen beleidigender Privatbrief
mit Absetzung, Ohrenverlust und 5000 £ Geldbusse, und auch der
Empfänger wegen versäumter Denunciation mit 8000 £ Geldbusse
geahndet wurde: v. Raumer IV, 350. Das lange Parlament verfuhr
ähnlich: 1643 sollten Alle, welche den Rpyalisten irgend beigestanden
hätten, 2 Jahre ihres Einkommens verlieren; 1656 allen Nonjurors
die Einziehung von Va ihres Vermögens angedrohet. Die Zeit von
1640 — 59 würde nach früherem Massstabe gegen 10 Mill. £ an
Steuern gekostet haben. Wirklich aber trieb das Parlament und die
Republik ein: 1305000 an Geldbussen der Royalisten, 6044000 an
Confiscationen , 1277000 durch Vergleich statt der Confiscation,
25380000 aus verkauften Domänen und Kirchengütern. (Lingard,
Hist. of England XI, 347.) Zur Zeit des Königsmordes soll in Eng-
land wenigstens die Hälfte aller Grundstücke und Renten von der
Revolution mit Beschlag belegt sein. (Hume, Ch. 59.) — Aber auch
demokratische Revolutionen, wenn sie zugleich einen socialistischen
Charakter haben, sind derselben Ausartung fähig. ^) In der franzö-
9) Von solchen Gr'äueln wohl zu unterscheiden ist die auch in gemässigten
Demokratieen grosse Verbreitung massiger Geldstrafen, die hier mit der Unmög-
lichkeit einer geregelten Amtshierarchie zusammenhängt. Wo alle Beamten dem
Souverän , hier also dem Volke , gleich nahe stehen , da müssen sie eben auch
vom Souverän selbst beaufsichtigt werden; und das geschieht am wirksamsten
S7] Versuch einer Theorie der Finanz- Bkgalien. 141
sischen Schreckenszeit »licrerte die Guillotine mehr Geld, als der Assigna-
tenstock«. (Cambon.) So z. B. sollten die Altern jedes Ausreissers ver-
härtet und ihr Vermögen confiscirt, auch die Beamten seiner Heimathsge-
meinde mit Haft und 4000 Fr. Geldstrafe belegt werden, (v. Sybel III, 1 0.)
Am 26. Januar 1794 beschloss der Convent, die Güter aller Verdächti-
gen, damals gegen 200000 Personen, einzuziehen! (v. Sybel II, 563.)
Bei hochkultivirlen und wirklich freien Völkern ist die Vermö-
gensconfiscalion meist völlig abgeschafft: nicht bloss, weil diese
Strafart so gefährlich zu ungerechten Verurtheilungen ^®) reizt; son-
dern auch, weil dabei regelmässig ausser dem Verbrecher selbst
noch dessen schuldlose Familie mitbestrafl wird. Das Mittelalter,
dessen aristokratischer Sinn Tugend wie Sünde für erblich hält, fin-
det bei solcher Mitbestrafung der Verwandten nichts Anstössiges.
Auch in diesem Stücke athmet die Gesetzgebung Friedrichs II. einen
wesentlich modernen Geist (Constitutt. R. Siciliarum II, 3. 6. 8 fg.)
Neuerdings hat man die Vermögensconfiscation fast nur noch bei
ausgetretenen Militärpflichtigen beibehalten, deren Person ja geflüchtet
ist, und die in der Regel noch keine Kinder besitzen. Nur sollte
man die neuere, etwa verfassungsmässige Abschaffung der Vermögens-
confiscation nicht dadurch illusorisch machen, dass man nach poli-
durch die Argusaugen der ÖfTentlichen Meinung, welche mittelst Denunciantenge-
bühren wach erhalten werden; sowie auch, bei der ohnehin kurzen Dauer des
Amtes, Geldstrafen, das natürlichste Mittel scheinen , den Beamten zu seiner Pflicht
anzuhalten. Daher die grosse Menge von Geldstrafen in Nordamerika (M. Che-
valier, Leltres sur rAmörique du Nord II, 136 ff.); früher auch in der Schweiz.
iMathy in Bau's Archiv IV, 4 51). Vielleicht ist derselbe Grund auch die Erklä-
rung für die vielen Geldstrafen der Athener (BÖckh, Staatshaush. I, 494 ff.),
wahrend die zahlreichen Vermögensconfiscationen mehr der spätesten, ausgearte-
ten Demokratie angehören. Vgl. Meier, De bonis damnatorum. (1819). Ari-
stoteles räth im wahren Interesse der Demokratie, den Erlös nicht unters Volk
zu vertheilen, sondern lieber den Göttern zu weihen (Polit. Vl^ 3. Sehn.).
10) »Erst confiscirt man um zu strafen, dann straft man um zu confisciren«.
(Royer Collard: Moniteur de 1816, p. 12). Nach Voltaire rien n'est plus hor-
rible qu'un droit j qui donne ä un souverain la tentation continuelle de n'etrc qu*un
voleur homicide. (Esprit des Nations, Gh. 159). Darum begreift es sich, wenn die
Russen nach dem Verfalle der Iwauischen Despotie im KrÖuungseide von 1606
der Confiscation entsagen Hessen. Es war eine weise Vorschrift der späteren rö-
mischen Kaiser, dass zwar schon die niederen Provinzialstatthalter Todesstrafen
verhängen durften, aber hohe Geldbussen dem allerhöchsten Gerichte vorbehalten
blieben (L. 4. 6 lust. Cod. I, 54). Gut erklärt von Gibbon, Ch. 17.
i 42 Wilhelm Koscher, [28
tischen Unruhen die reichen Mitglieder der besiegten Partei für die
Kosten des Sieges solidarisch haften lässt. Massige Geldstrafen em-
pfehlen sich namentlich da, wo ein Vergehen aus Habgier entsprun-
gen ist.**)
Ein charakteristisches Mittelglied zwischen den Regalien der
Geldstrafen und des Ämterverkaufes sind die französischen chambres
ardentes: ausserordentliche Commissionen, um die Verbrechen der
Finanzbeamten zu untersuchen und sehr willkürlich mit Geldstrafe
zu belegen. Solche chambres ardentes^ (ein bewaffneter Bankerott
nach Levasseur), sind zuerst 1581, zuletzt 1717 gehalten worden.*'^)
Sully, der sie 1597 selbst empfahl (Forbonnais F. de Fr. I, 32), war
doch eigentlich kein Freund davon, weil die grössten Sünder am
leichtesten durchkämen und die Hofleute sich bereicherten. (Econo-
mies royales, L. XIX. Forbonnais I, 54.) Auch Richelieu, der 1624
eine eh. a. für alle Unterschleife seit 1607 niedersetzte und damit
10800000 £. erpresste (Forbonnais I, 174 ff.), scheint doch gemeint
zu haben, dass die hierbei übliche Willkür der Finanzbeamten eine
Art Recht des Unterschieifes begründe. (Testament polit. I, 222,
II, 143 ff.) Colbert wusste auf diesem Wege 1662/5 den s. g. Par-
tisans über 70 Mill. ^ abzupressen. Man soll damals für mehr als
384 Mill. falsche Ordonnanzen gefunden haben. (Forbonnais I, 308.
384.) — Man hat dies Verfahren mit dem türkischen verglichen, die
Paschas erst sich vollsaugen zu lassen und dann in den grossherr-
lichen Schatz auszudrücken: ein System, das Montesquieu in Sultans-
herrschaften ganz natürlich findet (E. des L. V, Ch. 15.), das aber
H) Filangieri Delle leggi politiche ed economichc III, 32. £r rälh, solche
Strafen immer in einer Vermögensquote des Scliuldigen anzusetzen. Die Straf-
justiz als Finanzquelle zu behandeln, tadelt schon U. Zasius Opp. I, 178 sehr
entschieden. Später meinte Sonncnfels Grundsätze III, 109: den Geldstrafen
liege der heimliche Wunsch zu Grunde , es möchten die Gesetze recht oft über-
treten werden.
1 2) Ähnliche Acte, in noch minder regelmässiger Form, sind jedoch sowohl
früher als später vorgekonmien. So in England die Gewaltthat Richards I. gegen
den Schatzmeister seines Vaters (Thierry, Ilist. de la conqut^te L. XI, a. H89).
Die 6 ersten Surintendants des finances wurden zwischen 1315 und 1426 hinge-
richtet, Jaques Coeur 1453 mit hohen Geldbussen gestraft; einer sass 1455 — 66
in der Bastille (Bresson Ilist. fmanciere de la Fr. I, 100 — 148). Neuerdings noch
die Ermordung Foulons und Berthiers.
^^] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 143
CoDring selbst für Frankreich laudabile^ justtim et salutate nennt.
{De aerario hont principis^ C. 90.) *^)
Wie eng alle diese Regalien mit der Uniimschränktheit der vor-
zugsweise s. g. absoluten Monarchie zusanamenhängen , erhellt aus
den zahlreichen Analogien, welche nicht bloss der morgenländische
Sultanisraus ^*), sondern auch die griechische Tyrannis ^'^j, das römische
CHsarenthum^^*) und noch die eigenthümliche Finanzwirthschafl Napo-
leons I. ^') hierzu darbieten.
* 13) Eine ähnliche Bedeutung hat der orientalische Brauch , dass hohe Be-
amte den König zum Erben einsetzen. Zu Ker Porters Zeit hinteriiess der erste
persische Minister dem Schah 200000 Pfd. St. (Ritter Asien IX, 891).
14) Über den furchtbar entwickelten Dicnsthcindcl der Türkei, wobei früher
in Europa die Fanarioten , in Asien die Armenier als Mittler fungirten , s. Ranke
Serbische Revolution, 3. Rilter Asien X, 755. Von der grossen Bedeutung der
Geldstrafen (Arnos II, 8. Spr. Salom. XYII , 26) und Staatsmonopolc unter den
späteren israelitischen Königen: Ewald, Gesch. v. Israel II. 2, 141. III, 75.
15) Die finanziellen Kunstgrilfe sowohl des Hippias wie des Dionysios, die
im II. Buche der Aristotelischen (?) Ökonomik erwähnt sind, (C. 5. 21) haben
einen wesentlich regalistischen Charakter.
16) Unter den Imperatoren gab es 29 Verbrechen, welclie Vermögenscon-
ßscation nach sich zogen, darunter das unendlich weite der laesa majestas. (Nau-
det, Des changements dans Tadministration .. sous.DiocIetien I, 195). Die vie-
len Selbstmorde jener Zeit hängen damit zusammen, dass ein majestatis reus auf
diesem Wege der Confiscation zuvorkam. Von einem erfolgreichen Aufstande, welcher
durch reiche Provinzialen veranla.sst war, um der Confiscation zu entgehen, s. He-
rodian. VII, 4. Commodus liess zahllose Senatoren etc. hinricliten, um ihr Ver-
mögen einzuziehen; daneben Schuldige für Geld freigesprochen; viele Reiche ge-
zwungen, sich den Rang eines Consuls, Senators etc. zu kaufen. Auch ein Korn-
monopol, das Pertinax auflioh (Lamprid. V. Comm. 6. Ilerod. I, 12). Eine Art
von chambre ardentc wird Öfters gehalten: so von Galba (Tacit. Hisl. I, 20),
von Pertinax (Capitolin. V. Pert. 8).
17) Napoleon führte das droit d'aubaine und den Abschoss wieder ein. Die
Strafe der Vermögensconfiscation hielt er so fest, dass er sie auch in seinem Acte
addiiionel von 1815 nicht aufgeben wollte. Bei Creirung des neuen Majorats-
adels ward eine Siegelgebühr von 20 Proc. der einjährigen Einkünfte gefordert.
Wie Napoleon Cautionen für aller Art Ämter, selbst Gewerbe, deren Betrag er be-
liebig erhöhete, Zinsfuss herabsetzte*, dem alten Diensthandel entsprachen , so ist
sein Verfahren gegen den Lieferanten Ouvrard (Ouvrard, Memoires I, 61 IT. Bou-
rienne Memoires VII, 6); gegen Bourienne (Bourienne Mem. X, 213. Las Gases
II, 311) etc. ganz ein Wiederauffrischen der alten Chambres ardcntes. Eine Zeit
lang war auch die Ausbeutung der Kriegshoheit einträglich. Die Kriegscontribu-
tionen bildeten das s. g. domaine extraordinaire, das schon 1803 der Staatskasse
84 Mille Fr. vorgestreckt hatte. Die Zinsen meist zur Belohnung verdienter Krie-
144 Wilhelm Röscher, pO
Zweites Kapitel.
Gebühren.
5.
Aus don einzelnen Acten der politischen Slaatsthätigkeit ein be-
deutendes Einkommen zu beziehen, sie wohl gar hauptsächlich vom
finanziellen Standpunkte her zu betrachten, widerspricht dem Geiste
der höheren Kulturstufen um so schroffer, je mehr das Bewus^tsein
im Volke herrschend geworden ist, den Staat als ein organisches
Ganzes, eine wesentliche Seite des Volkslebens aufzufassen. Daraus
folgt dann z. B., dass eine gute Rechtspflege nicht bloss denen, die
Processe gewinnen, sondern Allen nützt, nicht am wenigsten auch
denen, welche in Folge der allgemeinen Rechtssicherheit das Glück
haben, niemals, weder als Klüger noch als Beklagte, mit der Justiz
in unmittelbare Berührung zu kommen. ^) In demselben Verhältnisse
nun, wie diese unzweifelhaft würdigere Ansicht vom Staate durch-
dringt, sind die fiscalischen Nutzungen von §. 4 zu blossen Gebühren
zusammengeschrumpft. Wir verstehen darunter Abgaben, die Tür
einzelne obrigkeitliche Handlungen von denen, welche die Handlung
ger verwandt. DarU; ein Meister der Contributionserpressung, berechnete Anfang
4 808 den Gesammtertrag des Krieges auf über 60i Mill. Aus Preussen allein wur-
den vom 1. Oct. 1806 bis 15. Oct. 1808 564 Mill. gezogen (Bignon Bist, de
France VII, 399). Nach Deckung aller Kriegskosten war der Gewinn aus den
occupirten Ländern während dieser Zeit 435 Mill. (Dumas Pröcis des evenements
militaires, Vol. XIX.). Das Budget von 18H enthielt etwa 30 Mill. recettes ex-
terieureSj aber 600 Mill. Ausgaben für Land- und Seemacht: jenes etwa 3 Proc.
der Einnahme, dieses fast 63 Proc. der Ausgabe des Staates überhaupt.
\) So Garnier, Traduclion d'Adam Smith V, 316. Hoff mann, Lehre
V. d. Steuern, 430. Gegen Eisdell, Principles of national economy and taxa-
tion (II, 1839), dass die Justizkosten ganz von denjenigen ersetzt werden sollen,
die Processe verlieren, bemerkt F. B. W. Hermann (Münch. G. A. XI, 551):
der Nutzen der Justiz , Streitigkeiten zu verhüten , komme nicht bloss dem gan-
zen Volk zu Gute, sondern sei auch viel wichtiger, als der, vorhandene Streitig-
keiten zu entscheiden , wobei man ja ohnehin gar nicht immer das Richtige treffe.
Sehr übertrieben meint J. Bentham A protest against law-taxes (1793), die Ge-
richtssporteln seien a tax upon distress : sie drückten gerade Solche , die sich
ohnedies in einer üblen Lage befänden, ihr Eigenthum durch einen Fremden
rechtswidrig verkürzt sähen u. dgl. m.
31] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 145
unmittelbar veranlasst haben, gezahlt werden. Und zwar beschränken
wir den Begriff der Gebühren, der sonst zwischen reinem Privat-
erwerbe des Staates und reiner Steuer in einer schwerlich genau
zu begränzenden Mitte stehen würde, einerseits auf solche Handlungen,
die mit wesentlichen Staatszwecken (Rechts- oder Machtzwecken)
zusammenhängen; andererseits auf solche Zahlungen, welche die
Selbstkosten des Staates mindestens nicht sehr übersteigen. 2) Was z. B.
2] Ähnlich bei Schall in SchÖnberg's Handbuch II, 79; früher schon sehr
tüchtig in Pfeiffer Staatseinnahmen I, 294(1. Die zahlreichen verschiedenen De-
finitionen des GehührenbegrifTes dürfen nicht befremden: weil nicht bloss das
Wort G. ein sehr allgemeines ist, sondern auch der Gegenstand selbst in scharfer
praktischer Trennung von den Steuern selten vorkommt. Die älteren deutschen
Nationalökonomen (die ausländischen haben von den Gebühren überhaupt wenig
Notiz genommen) betrachten die G. entweder als »zufällige Einkünfte des Staates«
(v. Sonnenfels, Grundsätze III, § H 1 (f. Fulda, Finanz wissensch., §. 432ff.),
oder als eine »besondere Besteuerung« im Gegensatze der »allgemeinen« (Jakob,
Staatsfinanzwissenschaft, §. 178 ff.), eine »Specialsteuer« (v. Priltwitz, Theorie der
Steuern und Zölle, 276), oder als eine Art von indirecten Steuern [Malchus,
Finanzwiss. I, §. 31. 62 ff.), von Steuern auf Handlungen (de Parieu, Traite
des imp6ts, Livre VI) : wobei namentlich der Umstand irreführte , dass man die
Stempelung nicht für eine besondere Erhebungsform sehr vieler veischiedener Ab-
gaben, sondern für eine besondere Steuerart ansah. So Hoffmann, Lehre von den
Steuern, S. 4nff. — Rau, Finanz -W. I, §. 86. 227 ff. definirt die G. sehr
gut: namentlich auch insofern, als sie nur »Regierungshandlungen begleiten sollen,
welche nicht weniger nothwendig wären, wenn auch keine besondere Vergütung
für sie gefordert würde «. Gleichwohl rechnete er die badische Kaufaccise, ja die
Erbschaftsteuer zu den G. ! Ein grosses Verdienst um diese Lehre hat sich
Umpfenbach, F.-W. I, §. 2 3 ff. erworben, der die G. auf das »Gränzgebiet«
einschränkt, »zwischen dem reinen Privatinteresse des Staatsangehörigen und seinem
reinen Staatsinteresse, wo seine Interessen ununterscheidbar mit denen aller Übri-
gen zusammenlaufen« . Er betont namentlich die »Kostenprovocation«, welche der
Staat im Interesse der Einzelnen erleidet. Wenn er dann freilich auch die Be-
Zahlung des Post-, Eisenbahndienstes etc. des Staates mit zu den Gebühren zählt,
so muss er consequenter Weise zu der Forderung kommen, dass der Staat von allen
diesen Anstalten nicht bloss keinen Gewinn ziehen, sondern nicht einmal die volle
Kostendeckung verlangen darf: eine Folgerung, der ich finanziell durchaus entge-
gentrete (System Bd. III, §§. 88 ff.). Stein, welcher die Ausscheidung der G. von
den Verkehrssteuern und das rechte Verständniss der Stempel wesentlich gefördert
hat, nennt die Gebühren, d. h. Abgaben an die Verwaltung, deren Leistungen
zum Vortheil eines Einzelnen von diesem bezahlt werden mögen, bloss dann ge-
rechtfertigt, wenn der Zahlende wirklich Vortheil von der Leistung hat. Ihre
Höhe kann aber weder nach dem Werthe für den Zahler, noch nach den Kosten
für den Staat bestimmt werden : beides unberechenbar I Da sie jedoch stets Lei-
146 Wilhelm Röscher, [32
der Staat von seinen Post-, Eisenbahn-, Telegraphendiensten bezieht,
wird besser in der Lehre von den Staals-Gewerbe- und Handels-
geschäften zu erörtern sein; wlihrend jeder bedeutende Reinertrag
aus den Justiz- und Polizeihandlungen, die ja fast niemals ganz frei-
willig von den Zahlenden begehrt werden, einen steuerartigen Cha-
rakter hat. So werden namentlich viele Steuern, die von der Über-
tragung gewisser Güter aus einem Eigenthume, überhaupt einem
Vermögen in das andere zu erheben sind (Verkehrsteuern, Erb-
steuern etc.) mit Gebühren verknüpft für die zum Zwecke der Rechts-
sicherheit vorgeschriebenen amtlichen Handlungen.'*) Je weniger die
Summe beider Abgaben zusammen nach der Grösse des übertragenen
Werthes differirt, um so mehr überwiegt die Gebührenseite, und um-
gekehrt: weil die Arbeit z. B. der Hypothekenbehörde bei der Eigen-
thumsumschreibung eines grossen Landgutes, Eintragung einer grossen
Pfandschuld etc. selten mehr Geschicklichkeit oder Anstrengung er-
fordert, als wenn kleine Landgüter und Forderungen behandelt werden.
Und es würde andererseits unerträglich sein, hohe Gebühren, welche
die Selbstkosten des Staates beträchtlich übersteigen, von der Übertra-
gung kleiner oder grosser Werthe gleichmässig zu fordern^). Wenn
stungen für den Verkehr voraussetzen, so dürfen sie nicht so hoch sein, um von
dem betrefFenden Verkehrsacle abzuschrecken. (F.-W. 24 6 fr.). Bei dieser Auf-
fassung ist es allerdings inconsequenl, wenn Stein die Einkünfte von der Post,
den Eisenbahnen etc. des Staates als »Kegallen« den Gebühren entgegensetzt.
Ad. Wagner hebt in seiner, sonst lief eindringenden, Lehre von den G. na-
mentlich hervor, dass sie specieller Entgelt eines von einer Zwangsgemeinwirth-
schaft Einzelnen geleisteten Dienstes sind und von der Staatsgewalt nach Hohe
und Modalität einseitig normirt werden. (F.-W. II, ö). Im französischen Enre-
gistrement haben die Gebühren- imd Steuerseite ganz wohl unterschieden: La-
ferriere, Droit public et administraUf II, 294. de Parieu Tr. des I. III, HSff.
3) Sehr viele Gebühren sind auf älinliche Art entstanden, wie das droit de
poids et de casse in Marseille, wo die Kaufleule zur Entscheidung von Streitigkeiten
eine Wage erriclitet hatten , für deren Benutzung Ausländer doppelt so viel zah-
len mussten, als Bürger. Das hatte eine Bequemlichkeit für den Handel sein sol-
len. Wie sich aber der Staat dieser Wage bemächtigte, wurde 1669 die Abgabe
um 100 Proc. erhöhet, bald auch für alle Packete über 36 Pfd., selbst wenn sie
des Wagens durchaus nicht bedurften , ein sehr lästig controlirler Wägezwang
eingeführt. (Forbonnais F. de Fr. I, 359). So hat der Gnmdsatz der Plus-
macherei, »Nimm, wo am leichtesten zu finden«, bewirkt, dass viele Gebühren
«eher auf den Namen Ungebühren Anspruch hätten«! (ümp fenb ach).
4) Wagner meint: da die richtige Maximalhöhe einer Gebühr immer etwas
33] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 1 47
desshalb manche Gesetze^) und Schriftsteller^) als Maximalgränze
der Gebühren den Vortheil bezeichnen, welcher dem Zahler aus der
betreffenden Handlung des Staates erweichst: so heisst das nach un-
serer Definition , das Reich der Gebühren verlassen und auf dasje-
nige der Steuern tibertreten.
Menschen, die, sei es durch eigene Schuld, oder zu eigenem
Vortheil, die Arbeit der Staatsbehörden viel stärker in Anspruch
nehmen, als ihre Mitbürger, können es nicht unbillig finden, wenn
ihnen dafür ein entsprechendes Abgabenpräcipuum auferlegt wird.')
So besonders, wenn etwa nur von den Reicheren zu erwarten steht,
dass sie die betreffenden höheren Ansprüche an die Staatsthätigkeit
machen werden; oder wenn aus anderen Gründen zu fürchten ist,
dass bei völlig unentgeltlicher Dienstleistung diese Ansprüche in
schädlichem Grade wachsen möchten. Kann z. B. eine unmässige
Höhe der Gerichtssporteln factisch zu einer Rechtsverweigerung für
alle Armeren ausschlagen, so würde volle Unentgeltlichkeit der Ju-
stiz den sehr verbreiteten schlimmen Neigungen der Rechthaberei
und Processucht bedenklich Vorschub leisten. Gerade die Ungerech-
testen würden am meisten Processe führen, bei denen sie ja nichts
einzubüssen hätten.^) Und selbst gutgläubige Processverlierer können
von subjectivem Ermessen abhängen wird, jedenfalls eine feste Zahlengr'änze fehlt, wo
die Gebühr in die Steuer übergeht, so müsse man sich in Thegrie und Praxis mit einer
ann'äherungsweisen Feststeilung der beiden heterogenen Bestandtheiie der Abgabe
begnügen. (F.-W. II, 26).
5) Wo das Gesetz für den Ansatz der Gebühr einen Spielraum l'ässt, ist in
Bayern dieselbe von der Behörde »unter Berücksichtigung des Umfangs und der
Schwierigkeit der Sache, der Bedeutung derselben für das bürgerliche Leben und der
Leistungsfähigkeit des Pflichtigen« zu bestimmen. (Gesetz vom \S. Aug. 4 879).
In Württemberg : » nach dem Grade der den Behörden verursachten Mühe ; nach
der Bedeutung des Gegenstandes, bezw. dem Nutzen, welcher dem Betheiligten
in Aussicht steht; nach den Vermögens- und Einkommensverh'ältnissen des Spor-
telpflichtigen« (Sportelgesetz von 188 4).
6) Vgl. besonders v. Stein a. a. 0.» 3H. v. Hock nimmt den Vortheil des
Pflichtigen oder den Kostenbetrag des Staates zum Massstabe. (Ütf. Abgaben, 16).
7) Die Motive des württembergischen Sportelgesetzes von 4 828 bezeichnen
darum als Zweck der Sportein »die Erleichterung der Masse der Steuerpflichtigen«.
(Schall a. a. 0. 82).
8) Über den holländischen Impost van ongefondeerde prozessen s. Boxhorn
Disquisitt. politt., 394 ff. Im Kirchenstaate soll die Vorschrift der Gerichtsordnung
von <834 (Art. 4 654), dass der Fiscus nie zu den Processkosten verurtheilt wer-
Abhandl. d. k. S. GeseUscli. d. Wissensch. XXI. i \
148 Wilhelm Roscueb, [34
doch in der Regel nicht verlangen, dass der Staat die Unkosten ihres
Rechtsirrthums trage. Ähnliches gilt von Dispensen. Muss das häufige
Vorkommen persönlicher Dispense von allgemeinen Geboten oder Verbo-
ten immer als ein trauriges Zeichen entweder despotischer Zuvielgesetze
oder anarchischer Zuweniggesetze angesehen werden : so ist doch si-
cher auch die beste Regierung bisweilen in der Lage, solche Ausnah-
men gestatten zu müssen, wenn nicht der Zweck der Regel selbst ver-
eitelt werden soll. Da fuhrt denn gleichfalls die nöthige causae cognitio
zu besonderer Beamtenarbeit im Interesse eines Einzelnen, und diese
mag billiger Weise bezahlt werden, schon um von leichtsinnigem
Queruliren abzuschrecken.
Der Missbrauch der Dispensirgewalt zu Geldzwecken ist
wohl am weitesten getrieben worden in England unter den Tudors
und früheren Stuarts, sowie in der römischen Kirche der Länder,
wo sie von dem heilsamen Einflüsse der Reformation ganz unbe-
rührt geblieben. Elisabeth soll von Dispensen zu Gunsten kirchen-
treuer Katholiken jährlich an 1 00000 Kronen bezogen haben (Vocke,
Gesch. der Steuern, 32). Lange Liste von Verboten, die 1639 nur
in der Absicht erlassen waren, für Geld davon zu dispensiren, bei
Anderson 0. of C, a. 1639.* — Die amtliche Lehre der römischen
Kirche vom Ablass s. bei Hirscher, Die kathohsche Lehre vom
Ablass (1829. 1855.). Der Ablasshandel ist vom Tridentiner Concil
(Sess. XV.) entschieden verworfen. Selbst Tetzel lehrte, dass die
Ablässe nicht die Sünde tilgen, sondern nur die ihr folgenden zeit-
lichen Strafen , und auch diese nur dann , wenn aufrichtig bereuet
und gebeichtet worden ist. (Gröne, Tetzel und Luther, 1853,
S. 81 (F.). Wie freilich die Praxis dem oft sehr wenig entsprochen
hat, zeigt nicht bloss die bekannte, höchstens übertriebene Schilde-
rung in Huttens Vadiscus, sondern auch der glänzende Ertrag, wel-
chen Staat und Kirche verbündet im spanischen Amerika vom Bullen-
verkaufe bezogen: 1) Bulle der Todten, um das Fegfeuer der
Verstorbenen abzukürzen; 2) gemeine Bulle der Lebenden, wodurch
man das Recht erlangte, für jede Sünde von jedem Priester absol-
virt zu werden, das Fastengebot zu übertreten etc.; 3) Milchbullen,
den konnte, dazu geführt haben, dass die Unterthanen bei sonnenklarem Recht
doch gegen fiscalische Erpressung aus Furcht vor den Processkosten oft still
schwiegen. (Ach. Gennarelli^ II governo pontificio e lo stato Romano: Prato 4 860].
35] Versuch eitler Theorie der Finanz-Regalien. 149
NYodurch Geistliche das Recht gewannen, in der Fastenzeit Milch
und Eier zu verzehren; 4) Compositionsbullen , die für bestimmte
Sunden Ablass gewährten, natürlich unter der Voraussetzung, dass
die Sünde bereuet werde, nicht in Aussicht auf den Ablass gesche-
hen, der EigenthUmer z. B. des gestohlenen Gutes nicht bekannt
sei u. dgl. m. Alle diese B. galten erst vom Augenblicke der Be-
zahlung an; ihr Preis richtete sich nach Rang und Vermögen des
Käufers, und wer dabei Unterschicif beging, dem half der Ablass
nichts. Vgl. Depons Voyage ä la Terreferme III, 34flF. Bourgoing
Tableau de TEspagne II, 19 ff. Ahnlich in Portugal: Ebeling Portu-
gal, 129 ff. Schäfer, Port. Gesch. V, 96ff.
Im Ganzen pflegen die Gebühren um so niedriger und zuletzt
vom Grundsatze der reinen Staatsausgabe verdrängt zu werden, je
mehr das öffentliche Interesse bei den betreffenden Staatshandlungen
das Privatinteresse überwiegt. Und auch vorher schon sollte bei
notorisch dürftigen Staatsangehörigen die Gebühr wegfallen, wenn
durch Nichterfüllung ihres Privatinteresses ein beigemischtes Staats-
interesse unbefriedigt bleiben würde. ^)
6.
Das System der Gebühren schliesst sich am besten dem
Systeme der verschiedenen Staalsthätigkeiten an, die mit Einzelnen
in Berührung kommen^). Hiernach unterscheiden wir
9] Umpfenbach I, 67. Weil der Staat bei allen seinen Anstalten gemein-
nützige Zwecke verfolgen muss, wird den Einzelnen, welche die Gebühr entrich-
ten, niemals die ganze Kostendeckung aufzulegen sein. Vielmehr »verlangt die Ge-
rechtigkeit die Tragung des Kostentheils durch die Gesammtheit, welchen die
Gesammtheit ununterscheidbar veranlasst hatu. (I, 65.) Vgl. Bier sack, Über
Besteuerung, 84.
\) Stein, F. W. , 228 theilt die G. in die der Verwaltung des Äussern,
des Heeres, der Finanzen, der Justiz und des Innern , also entsprechend der ge-
wöhnlichen Eintheilung der Fachministerien. Die Natürlichkeit dieses Gedankens
hat viel Anmuthendes. Nur ist dagegen einzuwenden, dass in verschiedenen Staa-
ten die einzelnen Ministerien sehr verschieden gegen einander abgegrUnzt sind.
Bau (F.-W. I, §. 230fr.) unterscheidet: in allen Zweigen der Staatsverwaltung
vorkommende G. und in einzelnen Zweigen ausschliesslich vorkommende ; die letz-
teren nach Bechtspflege, Schutzpolizei, Staatsvertheidigung, Yolkswirthschaftspflege
und Yolksbildungssorge eingetheilt.
150 Wilhelm Röscher, [36
A. Aligemeine Gebühren, die für jede privatliche Bemü-
hung einer Staatsbehörde gezahlt werden, ohne Rücksicht auf die
besondere Natur der dabei in Frage kommenden Zwecke. Solche
Gebühren, meist in der Form des Stempelpapiers erhoben, knüpfen
sich an die schriftlichen oder protocollirten Privateingaben bei der
Behörde, sowie an die von dieser gegebenen Bescheide an. Sie wer-
den gewöhnlich nach der Grösse des Schriftstückes oder Länge der
zum Protocolliren verwandten Zeit bemessen, und sind verhältniss-
mäs^g leicht zu controliren. Sie müssen aber wegen ihrer Allge-
meinheit sehr niedrig sein, um nicht unerträglich zu werden. 2) Hier-
her gehören auch die Beglaubigungen von Abschriften, Unterschriften
etc., welche die Staatsbehörden ohne viel materielle Verschiedenheit
wegen der allgemeinen publica fides des Staates vornehmen.
B. Verwaltungsgebühren. Sie betreffen 1) Angelegenhei-
ten des persönlichen Lebens (Civilstandsgebühren) : wie z. B.
die Eintragung der Geburten und TodesföUe in die amtlichen Regi-
ster, die Mitwirkung der Behörde bei Schliessung und Auflösung der
Ehe, bei Namensänderungen, Erwerb oder Verlust der Staats- oder
Gemeindezugehörigkeit; die Ausstellung von Zeugnissen über alle
diese Verhältnisse, sowie überhaupt von Legitiraationspapieren.^*).
2) In Preussen kostete (bis 1873) jede Eingabe an eine Staatsbehörde 5 Sgr.,
jeder Bescheid derselben 15 Sgr. Stempel, so lang sie übrigens sein mochten.
Dadurch wurden die peinlichen Vorschriften, wie viele Zeilen auf den Stempel-
bogen, wie viele Wörter auf die Zeile gehen sollen, unnöthig. In Baden Eingabe-
stempel öO c^ pro Bogen, 10 .^ pro Bogen für jede Beilage, Protocollgebuhr
pro Stunde (und weniger) \ Jt bei den Bezirksämtern^ % Jt bei den Mittel- und
Oberbehörden. Die Nothwendigkeit , Armuthszeugnisse , Steuernach lasse , Steuer-
quittungen, den Verkehr der Behörden unter einander, sowie den rein privatrecht-
lichen Verkehr derselben mit dem Publicum gebührenfrei zu lassen, ruft eine
Menge von Ausnahmen hervor, die zum Theil Anlass zu vielen Controversen ge-
ben. Übrigens haben gerade solche allgemeine Gebühren sehr häufig den An-
knüpfungspunkt für Verkehrsteuern gebildet.
3) Wenn nach dem deutschen Reichs-G. vom 6. Febr. 1875 die weltlichen
Civilstandsämter die Register und die darauf bezüglichen Verhandlungen koslen-
und stempelfrei führen, (dagegen für Vorlegung der Register 1 — \^kJt, für Aus-
züge daraus ^ji — 2 Jl), so geschah das wohl in der Absicht, den anfangs sehr
unpopulären Zwang zur bürgerlichen Trauung etc. leichler durchzusetzen. Die
Namensänderung kostet in Bayern 20 — 200 Jl, in Württemberg 6—50 UJf , Ba-
den tO — 20 Jl, Pässe in Preussen 1,50 Uff, Bayern 1 — 3 UJf, Österreich 16 Kr.
bis 1 Fl. Wenn früher in Russland ein Pass nach dem Auslande 60 Ruh.
37] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 151
— 2) Volks wirthschaftliche Angelegenheiten. Hierher gehören
die zahlreichen Fälle von PirUfungs- und Zeugnissgebuhren, wo selbst
unter Herrschaft der Gewerbefreiheit einzelne, leicht Gefahr bringende
Gewerbe nur von Solchen getrieben werden können, welche die erfor-
derliche Geschicklichkeit oder sittliche Zuverlässigkeit dem Staate nach-
gewiesen haben (Arzte, Lootsen, Seeschiffer — Schauspielunternehmer,
Schenkwirthe , Pfandleiher, Hausirer etc.: s. mein System, Bd. 111,
§. 1 46.) Ferner die ConcessionsgebUhren, wo gewisse Anstalten, deren
schlechte Einrichtung oder Errichtung auf einer unpassenden Stelle,
wohl gar schon deren Ubergrosse Anzahl gemeinschädlich sein würde^
einer Prüfung ihres Standortes, ihrer Statuten, wohl gar einer fortlau-
fenden obrigkeitlichen Aufsicht unterworfen werden. Im Zeitalter des
Concessionssystems, welches der Gewerbefreiheit voraufzugehen pflegt
(Bd. III, §. 144), war diese Kategorie eine sehr umfangreiche.^)
Hierher gehört die Beaufsichtigung der Fabriken (Bd. III, §. 149),
der Privatforsten (Bd. H, §. 193) und Bergwerke (Bd. HI, §. 180.
182) durch technische Staatsbeamte, um gegen Misshandlung der
Arbeiter, Raubbau etc. zu sichern; die Revision der Apotheken, die
obrigkeitliche Fleischschau etc.^); die Ausstellung von Jagdkarten
kostete, 4 854 — 56 sogar 250 Rub. halbjährlich, so mochte dies zum Theil als
Luxussteuer, zum Theil als Polizeimassregel zur Erschwerung des Ausreisens be-
trachtet werden ; die vielen theueren BauernpUsse als Gegenmittel gegen die Wan-
dersucht des russischen Volkes. In dem dritten Decennium unsers Jahrh. trugen
die Fasse noch über 4 Mill. Rub. ein; 4 879 auf 2630000 veranschlagt.
4) Hier muss ganz besonders vor einer allzu grossen Hohe der Gebühr ge-
warnt werden. Sobald dieselbe zu einer Gewerbesteuer wird, so ist das natür-
lich eine sehr üble Steuer, welche auf die, vorher ja noch ungewisse, wirkliche
Ergiebigkeit des Gewerbes keine Rücksicht nimmt und durch ihre Erhebung auf
einmal und für immer das Kapital des Unternehmers gerade in dem Augenblicke
schmälert, wo er dasselbe am nöthigsten braucht. Dies gilt auch gegen das fran-
zösische Actiengesetz von 4 850, das jeder neuen Actiengesellschaft eine Stempel-
steuer von 4 oder ^2 P^oc. ihres Kapitals auferlegt, je nachdem sie auf mehr
oder weniger als 4 0 Jahre berechnet ist.
5) Pfeiffer, Staatseinnahmen I, 34 4 meinte dass man die Kosten einer
Aufsicht, welche den Fabrikherm, Apotheker etc. geradezu beschränken soll,
allerdings im Interesse des Gemeinwohls, nicht dem Beschränkten selbst auflegen
dürfe. Offenbar eine atomistische Auffassung, die ganz verkennt, wie ja der
wahrhaft und nachhaltig gedeihliche Betrieb der Fabriken, Apotheken etc. nur in
Harmonie mit dem Gemeinwohle gesichert werden kann.
152 Wilhelm Röscher, ^38
(Bd. II, §. 174), durch deren böhern oder niedrigem Tarif der Staat
sehr wirksam auf Schonung oder Verminderung des Wildstandes
hinarbeiten kann. Ferner die Eichung der Masse (Bd. III, §. 98),
die Prüfung der Schiffe, Dampfmaschinen etc. in Betreff ihrer Sicher-
heit, die Punzirung der Edelmetallgeräthe®), vormals auch die amt-
liche Schau und Stempelung vieler anderen, im Kleinen hervorge-
brachten und im Grossen abzusetzenden Waaren (Bd. III, §. 147).
Auch die Gebühren für Benutzung der Landstrassen, Brücken, Häfen,
etc.: wenn der Staat den Bau und die Erhaltung dieser Verkehrs-
mittel als seine staatliche Pflicht betrachtet und desshalb in ihrer
Verwaltung den Grundsatz des privatwirthschaftlichen Reinertrages
schon aufgegeben, aber gleichwohl den der reinen Ausgabe noch
nicht eingeführt hat ^ (Bd. III, §. 88. 93). — 3) Bildungsanstal-
ten. Wenn der Staat diese für so noth wendig oder doch gemein-
nützlich hält, dass er die Kosten jedenfalls auf seine Kasse nimmt,
so müssen die Beiträge dazu, die etwa den wohlhabenderen Be-
nutzern abgefordert werden, (Schulgeld, Inscriptionsgeld, bei Museen
etc. Eintrittsgeld), als eine Art von Gebühr gelten. — 4) Ertheilung
von Privilegien oder Dispensen. In der ersten Beziehung sind
von besonderer Wichtigkeit die Patentgebühren (Bd. III, §. 167); in
der letzten die Gebühren für Erlassung der Militärpflicht. Sind diese
höher, als die Kosten der causae cognilio betragen, so können sie
entweder zur Steuer (Wehrsteuer) werden, oder auch den Gebüh-
rencharakter behalten, falls nämlich der Staat den Oberschuss zur
Anschaffung eines Militärstellvertreters anwendet. ^)
C. Justiz gebühren. Sie zerfallen nach den drei Hauptzweigen
6) In Frankreich wird für die Prüfung und Garantie der Gold- und Silber-
barren, ehe sie in den Handel kommen, 8,18 Fr. pro Kil. Gold und 2,4 Fr. pro
KU. Silber gezahlt, (de Parieu Tr. des Impots III, 425).
7) Mit Recht betont Pfeiffer (I, 317) den Unterschied, dass auf den Staats-
chausseen etc. die eigentliche Transportarbeit der Privatunternehmung überlassen
ist, während auf den Staatseisenbahnen der Staat selber sie besorgt. Jene sind
dah^r für den Fiscus nicht als gewerbliche Unternehmungen des Staates, sondern
nur im Gebühren wege zu nutzen.
8) In Sachsen musste man sich vor 4 866 durch Zahlung von 300 Thl. los-
kaufen, wenn man, durchs Loos bestimmt, doch nicht selber dienen wollte. In
Frankreich kostete unter Napoleon III. die Befreiung von der Militärpflicht eine jährlich
vom Kriegsminister festgestellte Summe, 1860 = 1800 Fr.; in Spanien 6000 Realen.
39] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 153
der Rechtspflege in 1) Civilprocess gebühren, wozu auch die Gebüh-
ren für das Verfahren im Concurse, bei den Zwangsvollstreckungen etc.
gehören. Dass sie für die höhere Instanz höher tarifirt sind, ist dem
Grundsatze der Kostenprovocation durchaus angemessen^). Dagegen
sollte sich die Abstufung nach der Werthgrösse des Gegenstandes, die
nur billig wäre, wenn die Kosten dem Processgewinner zur Last fielen,
nicht progressiv, sondern degressiv in sehr engen Schranken halten,
damit nicht die kleinen Streitigkeiten unerschwinglich hoch belastet
werden.^**) — 2) Gebühren der nichtstreitigeu Rechtspflege: so für
9) Das deutsche Gerichtskostengesetz von 1878 steigert die Gebührensätze
in der Berufungsinstanz um ein Viertel , in der Revisionsinstanz um die Hälfte.
(§. 49). Ältere französische Juristen hatten wohl die höheren Gebühren, welche
der unterliegende Appellant zahlen musste, als eine Strafe für die vexatio curiae
betrachtet.
4 0] In Athen legten beim Anfange des Privatprocesses beide Theile die irpu-
Tavsia nieder, für Streitgegenstände von 4 00 bis 4 000 Drachmen Werth = 3,
von 4 000 bis 4 0000 Dr. Werth = 30 Dr.: welche dem Sieger vom Processverlie-
rer w^ieder erstattet werden mussten. Wenn in Öffentlichen Processen der Kläger
nicht einmal ^/5 der Stimmen erhielt, so zahlte er 4 000 Dr. an den Staat. Von
den römischen Succumbenzgeldern schon zur Zeit der XII Tafeln, (beim Werthe
des Streitgegenstandes von 1000 As oder mehr = 500 As, bei geringeren Sa-
chen = 50 As), s. Festus v. Sacra mentum ; Varro De 1. 1. V, 4 40; Gajus IV,
4 4 ff. 95. Der englische Tarif für kleinere Sachen fast erdrückend. Nach dem
Berichte eines pari. Committee von 4 847 betrugen die Sportein für Einklagung
einer Summe von 4 00 £ im günstigsten Falle 7 £ 7V2 Sh. bis 4 0 — 4 6^2; für
eine erste Yormundsrechnung 4 4-47-4; für eine Wahnsinnserklärung, falls die
Yermögensrente unter 420 £ ist, 65-40-2 bis 423-2-6. Lord Brougham
sagte 4 854 im Oberhause, dass die Processkosten vor den Grafschaftsgerichten,
jährlich = 264 000 £, 47Y2 Proc. der eingeklagten, 30 Proc. der wirklich er-
langten Summe betrügen. (Vocke, Gesch. der Steuern, 209). Aber auch in
Frankreich waren 4 873 die Kosten eines gerichtlichen Verkaufes bei Gegenständen
von unter 500 Fr. Werth durchschnittlich 4 23,29 Proc. vom erzielten Preise;
bei Gegenständen von 500—4 000 Fr. = 50,76 Proc, von 4 004 — 2000 Fr. =
28,45, von 2004 — 5000 Fr. = 44,08, von 5004 — 40000 Fr. = 7,92, von
über 40000 Fr. == 2,24 Proc. (Leroy-Beaulieu Sc des F. I, 54 4). Die gewöhn-
liche Etnklagung einer Schuld von 4 0000 Fr. kostete 4 Proc, dagegen von 4 000
Fr. 4 0 Proc, von 4 00 Fr. 80 Proc, von 50 Fr. sogar 4 60 Proc (Journ. off.
40. Fevr., 4 874). Das deutsche Gerichtskosten-G., §. 8 setzt die »volle Gebühn<
für Werthe bis zu 20 Mk. auf 4 Mk. an; für Werthe von 200—300 auf 4 4,
von 900 — 4 200 auf 32, von 2 4 00 — 2700 auf 50, von 8200 — 4 0000 auf 90;
weiterhin für je 2000 Mk. mehr auf 4 0 Mk. mehr. Doch wird auch in Deutsch-
land sehr über zu grosse Hohe der Gerichtskosten geklagt; ebenso über die für
154 Wilhelm Röscher, [*0
die ReguliniDg eines Nachlasses, ^^) die Bestellung und Rechenschaft
eines Vormundes, die Einträge in das Handels- oder Genossen-
schaftsregister, das Autorenregister zur Sicherung des s. g. geistigen
Eigenthums, ebenso in die Grund- und Hypolhekenbücher. Ferner
die Gebühren von gewissen feierlichen Rechtsgeschäften, die zur
öJQfentlichen Kenntniss gebracht werden müssen, um nach gehöriger
SachprUfung gegen Ansprüche Dritter geschützt zu sein: wie z. B.
Adoptionen, Mortificirung von Schuldscheinen, Errichtung von Fami-
lienfideicommissen ^2) etc. Je mehr sich der Formalismus des Rechts
entwickelt, um so breiter pflegt das Gebiet dieser Gebühren zu wer-
den J^) Es sind aber andererseits auch eben sie, w^oran sich Ver-
kehrsteuern besonders häufig anschliessend*). — 3) Gebühren der
Strafrechtspflege: bei denen es gewiss nicht unbillig ist, wenn
die z. B. durch ein Verbrechen veranlassten Untersuchungskosten,
auch die Kosten, den Verbrecher im Untersuchungs- und Strafge-
Nichtjuristen so schwere Berechenbarkeit der Sätze. Fall^ wo beim Subhastations-
erlöse von 4 45,50 Mk. die Sportein des Gericlits Vollziehers 94,58 betrugen:
Dresdener H.-K.-Bericht 4 880, 7 ff.
\ 4 ) Wohl von Erbschaftsteuern zu unterscheiden ! Nach den preussischen G.
von 4 854 und 4 854 beträgt die Gebühr von Nachlassregulirungen bei Vermögen bis
zu 4 00 Thlr. von jedem Thlr. 4Y2 Sgr. (5 Proc.) , doch nicht unter 4 5 Sgr;
vom Mehrbetrage bis 200 Thlr. 31/3 Proc, bis 4 000 Thlr. 41/3 Proc, bis 5000
Thlr. Y3 Proc, weiterhin von je 500 Thlr. Mehrbetrag 2/^5 Proc Kommt eine
gerichtliche Erbtheilung hinzu, so werden diese Sätze um die Hälfte erhöhet.
4 2) Gebühr für Fideicommittirung eines Vermögens in Preussen 3 Proc. vom
Werthe ohne Abzug der Schulden; ebenso im K. Sachsen. In Bayern % Proc.
und die Hälfte der ordentlichen Gerichtsgebühren.
4 3) La loi sur Venregistrement est pour notis autreif legistes la plus noble,
ou pour mieux dire, la seule noble entre toutes les lots ßscales. Quand le fisc veut
percevoir un droit d'enregistrement, il faut presque qü'il se fasse docteur es loü,
afin de penetrer dans Vinftnie variete des actes de la vie civile. (Troplong Ga-
zette des Tribunaux 20. Juill. 4 839). A. Wagner schreibt es dem grossem
Rechtsformalismus in Frankreich und Österreich zu, wenn solche G. dort ein-
träglicher sind, als in England und Deutschland, während man nach der übrigen
volkswirthschaftlichen Entwicklung dieser Länder das Gegentheil erwarten sollte
(F.-W. II, 31). Ähnlich schon Besobrasoff Möm. de l'acad. de St. P^tersb,
4867, p. 34 ff.
4 4) Sind Privaturkunden bloss dann stempelpQichtig , wenn sie vor Gericht
producirt werden, so bleibt der Gebührencharakter gewahrt. Müssen sie aber
auch ohne irgendwelche Bemühung einer Staatsbehörde gestempelt werden, so tritt
der Steuercharakter ein.
441 Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 155
fäDgnisse zu erhalten, von dem Schuldigen vergütet werden. Frei-
lich wird die Ariuuth der meisten Sträflinge diesen Anspruch grossen-
theils illusorisch machen *^) ^^) .
7.
Die Verwendung der Gebühren hat regelmässig hinter
einander zwei Stufen durchgemacht. Auf der ersten, wo überhaupt
eine mehr privatrechtliche Färbung herrscht, fliessen sie dem Beamten,
welcher die bezahlte Staatshandlung verrichtet hat, als Theil seiner
Besoldung zu. ^) Dies vereinfacht das ganze Kassen- und Rechnungs-
wesen, scheint auch dem Verhältnisse zwischen Verdienst und Lohn
am genauesten zu entsprechen, am wirksamsten zur Thätigkeit an-
4 5) Das deutsche Gerichtskosten-Geselz fordert bei einer Freiheitsstrafe von
i — 4 0 Tagen 5 Mk. Gebühren, bei 4 — 6 Wochen 30 Mk., bei 4 — 2 Jahren 4 00
Mk., bei 3 — 4 0 Jahren 4 80 Mk., bei allen schwereren Strafen 300 Mk. (§. 62).
V. Reite ck, Lehrbuch des Vernunftrechts etc. IV, 284 halt mit Recht eine Sonde-
rung der vom Inquisiten verschuldeten und nichtverschuldeten Untersuchungskosten
für nothwendig.
4 6) In Preussen rechnete Hoffmann, Lehre von den Steuern, 430 fr., dass
4 838 die Justizverwaltung an Gebühren über 3 Mill. Thlr. bezog, (abgesehen
vom Stempelpapier) , dass aber der Staat zu ihren Kosten ausserdem noch
24 66000 Thlr. zuschoss. Um 4 868 soll die preussische Justiz 45V2 Mill. Thlr.
gekostet haben, wovon 4 2700000 durch eigene Einnahmen gedeckt wurden.
(Preuss. Jahrbb. Febr. 4 868, 244). In Bayern war 4 877 der Etat des Justiz-
ministeriums (ohne die Strafanstalten) 4 0,43 Mill. Mk. ; dagegen der Ertrag der
Justiz 4 876 (ohne die Pfalz) 4,30 Mill. von der streitigen, 9,48 Mill. von der
nichtstreitigen Rechtspflege, wobei aber freilich viel auf wirkliche Verkehrsteuern
kommt. In Württemberg Kosten der Justiz 3,44 Mill., Ertrag 4,084 Mill. (mit
einigen Verwaltungsgebühren = 24439 4). In Baden Kosten der Justiz (ausser
dem Ministerium) 3,35 Mill. Mk. ; Gerichtssporteln und Gebühren der Rechtspo-
lizei 2256000. Vgl. den Bericht der Stempelgesetz-Gommission des deutschen
Bundesrathes von 4 877. Die absolute und relative Hohe des Gebührenertrages
in verschiedenen Staaten mit einander zu vergleichen, ist darum bis jetzt nur
höchst unvollkommen möglich, weil die G. fast überall, jedoch in sehr verschie-
denem Grade, mit Verkehrsteuern verquickt sind. Was das Verhältniss der ein-
zelnen G. -Kategorien unter einander betrifft, so fielen im Dresdener Bezirke des
K. Sachsen 4 875 auf bürgerliche Streitigkeiten 41,4 Proc. , auf Goncurse 4,2,
auf Strafsachen 8,5, auf die freiwillige Gerichtsbarkeit 45,9 Proc. des Ertrages.
4 ) Neben dem Fredum, welches dem Könige oder der Gemeinde, überhaupt
dem Staate gezahlt wurde , (s. schon Tacit. Germ. 4 2) , kommen Gebühren für
die urtbeüenden Schöffen vor (Bodmann, Rh. Alterth. , 634. 662), ja z. B. in
der Lombardei Taxen derselben von 4 4 77. (Walter, Deutsche R.-G., §. 692).
156 Wilhelm Koscher, [42
zuspornen^). Freilich aber liegt darin auch eine grosse Versuchung,
die sportulirten Arbeiten unnützer, ja schädlicher Weise zu vermeh-
ren, was der Achtung vor der Behörden thätigkeit grossen Abbruch
thut. Eine klare Übersicht der wirthschaftlichen Verhältnisse seiner
Beamten ist dem Staate fast unmöglich, wodurch sich dann z. B. die
Beförderungen in der Amtshierarchie oft genöthigt sehen, im Dunkeln
zu tappen. ^) Auch wird jede Reform des Sportelwesens durch solche
Privatinteressen ungemein erschwert.^) Man hat desshalb in der
Regel mit der Ausbildung der Centralisation und Budgetwirthschaft
die Gebühren mehr und mehr zur Staatskasse gezogen und den
Beamten dafür einen festen Gehalt ausgeworfen. Zwischen diesen
Gegensätzen lag nicht selten die Übergangsstufe, dass die von sämmt-
liehen Mitgliedern einer Behörde verdienten Sportein in einen ge-
meinsamen Separatfiscus der Behörde flössen, woraus die Einzelnen
dann etwa nach ihrem Dienstalter, jedenfalls nicht nach ihren spe-
ciellen Leistungen Zuschüsse erhielten. ^)*^)
2) Noch Rehberg, Von der Slaalsverwallung deutscher Länder (4807i,
S. 1 60 hält eine Mischung von Gehalt und Sportein für das beste Mittel, die Be-
amten zur Thätigkeit anzuspornen. K. S. Zachariä ßndet die Sportein nament-
lich bei Untersuchungsrichtern nothwendig. (Vom Staate, VII, 252).
3) Wie übel z. B. , wenn der auf Sportein angewiesene Gerichtsvollzieher
sich wirthschafllich besser steht, als der Richter oder selbst Gerichtsdirector !
Vgl. Schall a. a. 0., 88.
4) In England hatte zu Bacons Zeit der Attorney-General etwa 6000 £ St.
jährlich einzunehmen , wovon bloss 81-6-8 unmittelbar vom Staate kamen;
der Lordkanzler 10 — 4 5000 £ St., worunter gar keine feste Besoldung. Die be-
rüchtigte Bestechungsgeschichte Bacons war ein Theil von der Übergangskrise aus
der Besoldung der Richter in fees zu der Besoldung in salary, (Athenaeum 28.
Jan. 1860). In Frankreich nahmen die unter Ludwig XII. aufkommenden epices,
trotz des Verbotes von Heinrich IL, (Bailly Hist. fmanci^re de la France I, 208 tf.)
dermassen zu, dass 1664 die etwa 45000 käuflichen Finanz- und Justizämter, die
nur 8346000 £ Gehalt bezogen, doch zu 44 9 Mill. Kapitalwerth geschätzt wur-
den. (Forbonnais F. de la Fr. I, 329). Von dänischen Richtern im 18. Jahrh.,
die nur 20 Thlr. feste Besoldung hatten, s. Schlosser, Gesch. des 18. Jahrh. III,
101. In Schweden gab es noch 1830 Richter mit 333 Thlr. Gehalt, aber 2700
Thlr. Sporteleinnahme. (Forseil, Statistik von Schw., 243). Sehr charakteri-
stisch ist die Thatsache, dass in Bayern, als man die Sportein zur Staatskasse ge-
zogen hatte, gleich beim nächsten Budget ihr GesaiDmtertrag um 300000 Fl. nied-
riger veranschlagt wurde, obschon keine Tarifänderung stattgefunden hatte.
5) Hoffmann (Lehre v. d. Steuern, 429) hält das hierdurch genährte
Standesinteresse zwar für besser, als das frühere persönliche, meint aber doch,
i3] Yebslch einer Theorie der Finanz-Regalien. 157
Was die Erhebungsform der Gebühren betrifft,') so können
dieselben A. entweder unmittelbar von der geschäftleitenden Be-
hörde selbst eingezogen werden, oder B. mittelbar durch eine dem
Pflichtigen vorgeschriebene Benutzung von gestempelten Papieren
oder Marken. Das erste Verfahren, das im Ganzen auch das ältere
ist,^) macht Umgehungen der Gebuhrenpflicht fast unmöglich, schützt
es liege auch dann noch immer eine für die Rechtspflege bedenkliche Pflichten-
collision vor.
6) Der neuzeitliche Sinn Friedrichs II. führte es ein, dass in SiciÜen die Spor-
teln nicht mehr unter die Richter vertheilt, sondern dem Hofe verrechnet wurden;
was dann am fixen Gehalte derselben fehlte, ward vom Schatze zugeschossen,
das etwanige Plus der Sportein dem Schatze abgeliefert. (Raumer Hohenstaufen III,
512). In Brandenburg wurde mit Errichtung des Kammergerichtes (1546) der
grosse Schritt gethan, dass der Kurfürst alle Strafgelder allein bezog, während
die Sportein freilich noch den Richtern verblieben. (Stenzel, Preuss. Gesch. I^
262). Dagegen war es 1746 in Gocceji's Reform ein Hauptpunkt, alle Sportein
in eine gemeinsame Kasse zu ziehen. (Stenzel IV, 320). Golbert verhiess im
August 1669, dahin wirken zu wollen, dass die Justiz bei höherer Besoldung der
Richter unentgeltlich verwallet werden sollte. Als die Reform von 4771 dies
theilweise vollzog, (Sismondi Hist. des Fr. XXIX, 433. 462), bedurfte der Staat
hierzu 34 Mill. Livres neuer Steuern (de Parieu Traite des Impots III, 253(1.).
Der » aufgeklärte tt Musterfürst Leopold von Toskana hob alle Beamtensporteln auf.
'Grome, Staatsverwaltung von Toscana I, 306). In der Schweiz wurden nach
dem Bauernkriege von 4 654 CT. die Sportein wenigstens in den städtischen Repu-
bliken ermässigt. (Meyer-Knonau, Schw. Gesch. U, 27). Doch sind sie z. B. in
Bern erst seit 4 831 dem Staate unmittelbar verrechnet worden. (Rau's Archiv
IV, 419). Aber selbst in Russlaud vertauschte Iwan IV. 455,6 die Gerichtsspor-
teln^ wegen der vielen Erpressungen, die sich daran geknüpft hatten, mit Steuern.
(Karamsin, Russ. Gesch. VII, 405). Man hat jedoch neuerdings gegen die Be-
stechlichkeit der russischen Beamten wohl gerathen, ihnen dasjenige, was sie bis-
her unrechtmässiger Weise durchschnittlich genommen hatten , als rechtmässige Ge-
bühr, aber mit streng festgehaltenem Tarif, zuzusprechen.
7; Grosses Verdienst um diese Lehre hat sich A. Wa gne r , F.-W. II, §. 320 fl*.
erworben: obwohl ich mit Schall a. a. 0. 88 übereinstimme, dass seine Herein-
ziehung der gewerblichen Staatsleistungen der Klarheit nicht förderlich gewe-
sen ist.
8) Die Erhebung durch Stempelpapier scheint zuerst in Holland 4 624 auf-
gekommen zu sein, als impost van bezegelde brieven, nachdem die Generalstaaten
Erfindung einer neuen Abgabe als Preisfrage ausgeschrieben hatten. Vgl. Boxhorn
Disquisitt. politt., p. 394 ff. , Varii tractatus politt. , p. 607. (Der Stempel von
Justinians Novelle 44 hat keinen finanziellen Charakter). Nachgeahmt zuerst, wie es
scheint, in den spanischen Reichen; von da in Frankreich durch Fouquet 4 654,
worauf 4 673 eine Erweiterung auf alle iranscictions erfolgte. (Forbonnais F. de
158 Wilhelm Röscher, [44
auch das Publicum vor den etwanigen schlimmen Rechtsfolgen eines
in der Wahl der Stempelmarke begangenen Irrthums : was namentlich
bei verwickelten Geschäften, unklar abstufenden Tarifen etc. von
Wichtigkeit sein kann. Freilich bürdet solche directe Erhebung den
Behörden grosse Arbeitslast auf, da streng genommen jede einzelne
Gebührenzahlung besonders gebucht werden müsste. Beim Verkaufe
der Stempelbogen oder Marken, der ja meist in grösseren Beträgen
erfolgt, sich auch der Privatkaufleute als Vermittler bedienen kann,
wird der grösste Theil dieser Arbeiten von den Pflichtigen selbst
besorgt. Eine Art Selfgovernment,^) freilich auch mit den Unbe-
quemlichkeiten des Selfgovernments, da hier eine genaue Controle
nöthig ist, und eine Menge von Specialvorschriften über Format und
Ausfüllung der stempelpflichtigen Papiere, Kassirung der Marken etc.,
sowie von Slrafdrohungen leicht der ganzen Anstalt eine vexatorische
Farbe geben. Am schlimmsten, wenn die Versäumniss des richtigen
Stempels wohl gar Ungültigkeit des ganzen Geschäftes nach sich
zieht: ein Rigorismus, der volksvvirthschaftlich gewiss mehr schadet,
als fiscalisch nützt. ^^) Jedenfalls lässt sich die Stempelform nur da
anbringen, wo sich die gebührenpflichtige Handlung in Urkunden
Fr. I, 266. Sismondi, Bist, des Fr. XXIV, 544. XXV, 3<0. Ranke, Franz.
Gesch. II, 157). In Dänemark 4 660 (Spittler, Gesch. der Revolution in D., 76j,
Schleswig-Holstein schon 4 657 (Wailz, Schi. -Holst. Gesch. H, 663 ff,), Preussen
und Kursachsen 4 682, Österreich 4 686, England 4 694 (Tüb. Ztschr. 4 884, 340),
Hannover 4 709; in Russland 4 699 (Vgl. Beckmann^ Beitr. z. Gesch. der Erfindd.
11, 300 ff.). Je mehr das Finanzwesen zur Kasseneinheit strebte, um so mehr
empfahl sich die Stempelform der Gebühren.
9) Dass übrigens für dünn bevölkerte Länder gerade Stempelpapier etwas
sehr Lästiges habe, ist von B. Franklin Febr. 4 766 vor dem Unterhause er-
Örlert worden.
4 0) In Holland genossen früher Schuld forder u ngen , die mit dem Stempel
des sog. 40-Pfennigs versehen waren, ein gewisses Vorzugsrecht: was dann oft
von betrügerischen Bankerottirern gemissbraucht wurde. (Richesse de Hollande
II, 355). Überhaupt würde, wenn die nichtgestempelten Urkunden für ungültig
erklärt sind, dies oft von zwei Contra henten , die ein Gesetz umgangen haben,
dem schlechtem eine sehr demoralisirende Prämie gewähren. Daher Leroy-
Beaulieu lieber für eine Geldbusse ist, falls eine stempelpflichtige, aber unge-
stempelte Urkunde vor Gericht erscheint. (Sc. des F. I, 489). Dass in England
solche Urkunden keine Rechtskraft haben, rühmt Vocke, Gesch. der St., 248
als die naturgemässe Strenge eines freien Volkes, das sich den Staat nicht äusser-
lich gegenüber denkt. Um so schlimmer freilich, dass man 4 0 Seh. Gebühr
4^] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 159
gleichsam fixirt: und sie wird hier um so mehr angezeigt sein, je
einfacher, schablonenhafter diese Handlungen ^^) sind; auch je nie-
driger der Gebtlhrensatz, weil nun die Controle minder scharf zu sein
braucht. Für alle verwickeiteren, mehr individualisirten Fülle von
Gebühren kann das System der unmittelbaren Berechnung und Er-
hebung sehr verbessert werden durch Pauschalirung: wie z. B. in
Preussen seit 1 822 die Gerichte erst am Schlüsse des Processes über
die während desselben aufgelaufenen Sportein erkennen. ^^) Im Ganzen
scheint übrigens heutzutage die unmittelbare Einziehung der Gebühren
mehr und mehr die Stempelform zu verdrängen:*^) ein Fortschritt
zahlen muss, wenn man sich beim Stempelamte erkundigt ^ welcher Stempel für
eine gewisse Urkunde vorgeschrieben sei! (Vocke, 213). Früher konnte selbst
das Stempelamt in dieser Hinsicht nicht mit Auctorität entscheiden, so dass man
wohl erst vor Gericht, wenn es zu spät war, von der Ungültigkeit der irrthüm-
lieh gestempelten Urkunde erfuhr. (MaccuUoch Taxation, 274 ff.). Und in Chitty
Treatise on the stamplaws [1844) waren 616 verschiedene Rubriken! Das heisst
doch geradezu den Verkehr unsicher machen, während man sonst wohl als Ne-
benvortheil der Stempel eine grössere Sicherheit rühmt : dass z. B. die vorge-
schriebene Schwere des Stempelpapiers gutes Urkundenmaterial sichert; die Ein-
stampfung alles in einem Jahre nicht verbrauchten Stempelpapiers durch Zusam-
menstimmung des Wasserzeichens und des Datums der Urkunde selbst manche
Fälschungen erschwert etc.
H) So hat bei der Post der einheitliche Portosatz die Briefmarken zum all-
gemeinen Bedürfnisse gemacht, während dem frühern Zonentarife die unmittelbare
Erhebung des Portos besser entsprach. (Wagner F. -W. II, 122). Das öster-
reichische Gebührengesetz von 1850 beschränkt die Stempelform auf Urkunden-
gebühren mit festem Betrage und auf die nach dem Werthe bemessenen Gebühren
von Urkunden, sofern der. Betrag nicht über 20 Fl. ist. (§. 4). Bei verwickehen
und hohen Gebührensätzen wäre ja doch eine genaue behördliche Nachrechnung,
ob die Pflichtigen den rechten Stempel gewählt haben, nothwendig.
4 2) Eigene Stempelfiscale hatten dann nachträglich zu prüfen, ob die Spor-
tein wirklich hoch genug angesetzt worden. Ein von Hoffmann (a. a. 0., 435 ff.)
sehr getadeltes Institut, wodurch, weil die Fiscale mit einer Tantieme des von
ihnen bewirkten Plus bezahlt wurden, die Sporteltaxe durch immer schärfere Aus-
legung thatsächlich immer höher stieg. Nach dem G. vom 10. Mai 1854 »hört
der Gebrauch des Stempelpapiers bei den Gerichten auf.«
4 3) So in Frankreich beim Enregistrement. In Württemberg war schon
1828 der Stempel nur für einige Verkehrsteuern beibehalten. Bayern hat ihn
für Gebühren durch das G. von 4 879 abgeschafft. Das deutsche Gerichtskosten-G.
von 4 878 lässt eine Erhebung von Stempeln neben den Gebühren nicht statt-
finden. Urkunden, welche im Process errichtet werden, bleiben den sonstigen
Vorschriften über Stempelerhebung nur insoweit unterworfen, als ihr Inhalt über
460 Wilhelm Röscher, [46
bergauf, der am besten gelingt, wenn man zwar den Ansatz der
Gebühren der Behörde UbertrSigt, welche die gebührenpflichtige Hand-
lung vorzunehmen hat, die Einziehung aber von einer Finanzstelle
besorgen lässt. ") ^'')
Drittes Kapitel.
Handels- und Industriegeschäfte des Staates.
8.
Die wegen ihrer finanziellen Einträglichkeit^) vom Staate be-
triebenen Handels- und Industriegeschäfte, mögen sie nun durch
Staatsbeamte unmittelbar, also in Regie betrieben, oder an Privat-
unternehmer verpachtet sein, lassen sich bei den meisten Völkern
auf folgende Ursprünge zurückführen. Manche Zweige von Staats-
handel wurden schon durch die Naluralwirthschaft der Domänen,
sowie durch die Naturalerhebung der Steuern dem spätem Mittelalter
nahe gelegt. Auch das droit de prise hat in Frankreich wie in Eng-
land oft zum Verkaufe der im Übermasse requirirten Waaren geführt :
vgl. Sismondi, Hist. des Frangais XII, 225. 268. Bacon, Speech against
purveyors: Works IV, 305 fg. Ein Grundherr, also auch das Doma-
nium, wird leicht daran denken, die auf seinem Boden zu treibenden
Gewerbe, sobald sie Gewinn versprechen, sich selbst oder seinen
Leuten vorzubehalten. Wo der Satz: Nulle terre sans seigneur ganz
den Gegenstand des Processes hinausgeht (§. 2). Dass diese Tendenz eine regel-
mässig heilsame ist, s. bei Schall a. a. 0., 90.
4 4j Baden hatte schon seit 4 834 die Gerichts- und YerwaltungssteÜen mit
dem Ansatz^ die FinnnzbehÖrden mit der Erhebung der Gebühren beauftragt.
Ähnlich in Österreich: Ges. vom 9. Febr. 1850, §. 42; während das französische
Enregistrement von denselben Einnehmern sowohl den Ansatz, wie die Einziehung
vornehmen lässt.
15j Vgl. über diese ganze Lehre die Abhandlung von B^sobrasoff, Im-
p6ts sur les actes in den Denkschriften der St. Petersburger Akademie 4 866.
4 867. Und die reichhaltige Zusammenstellung der neueren Gebührengesetze bei
Ad. Wagner F.-W. II, 32 ff.
4j Im Gegensatze der blossen Käufe des Staates und derjenigen Productio-
nen, welche nur für seinen eigenen Gebrauch und Verbrauch dienen sollen.
47] Yerscch einer Theorie der Finanz-Regalien. 161
oder annäherungsweise durchgeführt ist, wo also die Landwirthschalt
etc. nur auf Grund einer Art von Slaatsconcession getrieben werden
kann : da scheint es natürlich, dieselbe Abhängigkeit auf die Industrie-
gewerbe zu übertragen. Bei vielen Gewerben machte sich dies um
so leichter, als sie eben ganz neue Gewerbe waren, ihr Betrieb folg-
lich eine Art herrenloses Gut und ihre Regalisirung für kein vorhan-
denes Interesse verletzend schien. 2) Hierzu kamen polizeiliche Rück-
sichten, wie z. B. das Tabaksregal in vielen Staaten unmittelbar aus
den Luxusverboten hervorgegangen ist.^) Bei anderen Gewerben war
vormals das nöthige Zutrauen der fern wohnenden Käufer nur durch
Aufsicht, Stempelung etc., überhaupt Intervention des Staates mit
seiner publica fides zu erreichen. (Mein System Bd. III, §. 1 47.) Überall
herrschte gegen Schluss des Mittelalters und im Anfange der neuern
Zeit die Ansicht, dass obrigkeitliche Taxen nöthig wären, um das Publi-
cum vor Übertheuerung zu schützen. (Bd. I, §. 114.) Dazu kam
noch die ununterbrochene Schutzbedürfligkeit der Gewerbtreibenden in
einer Zeit, wo die corporative Selbsthülfe des Mittelalters nicht mehr
passte und gleichwohl die neuere Rechtssicherheit noch keineswegs
durchgebildet war. Hiermit hängt z. B. das vormals so häufige Vor-
kaufsrecht des Landesherrn an allen eingeführten Waaren zusammen.'^)
Es ist ein Hauptgedanke des s. g. Mercantilsystems, dass auch der
Staat allerlei Gewerbe treiben soll, und seine Industrialbehörden zu-
gleich polizeilich über den entsprechenden Privatbetrieb die Aufsicht
führen. (Bd. III, §. 34.)
9.
Nun können solche Handels- und Industriegeschäfte des Staates,
die alsdann, um wirksamer, zumal einträglicher zu werden, gerne
2) Dieser Umstand hat noch im 16. und 4 7. Jahrh. grossen Einfluss gehabt
bei der Entstehung des Post- uod Lolterieregals, des Regals der Zettelbanken^ bei
der Staatsmonopolisirung so vieler Handelszweige mit neu entdeckten Ländern,
dem italienischen Regale des Kornhandels im Grossen etc.
3) In Bayern war der Tabak noch 1656 wegen Feuersgefahr untersagt, 1670
das Verbot aufgehoben; 1675 der ganze Verkehr mit Rauch- und Schnupftabak,
sowie mit Pfeifen an Kaufleute verpachtet. (Zschocke, Bayerische Gesch. III, 376.)
4j So in Island (Dahlmann, Dänische Gesch. II, 186), in Russland zu An-
fang des 16. Jahrh. (Karamsin, Russ. Gesch. VII, 164.) Hierher gehört das
jus cambiij recambii und excambii in England. (Rymer, Foedera XIII, 216.)
162 Wilhelm Röscher, [48
den Monopolcharakler annehmen, unter den vorhin erörterten Ver-
hältnissen auch in einer Republik vorkommend) Ihre höchste Aus-
bildung jedoch haben sie im Zeitalter der absoluten Monarchie
erlangt. So wurde in Frankreich 1577 aller Handel für droit da-
manial erklärt; daher sich die Kaufleute in Gilden vereinigen und
ftlr die Erlaubniss, noch ferner zu handeln, bedeutend zahlen sollten.
Dieselbe Massregel 1 585 auf die Gewerbe ausgedehnt. In der Fronde-
zeit drängte das Pariser Parlament sehr eifrig auf Abschaffung aller
dieser regalistischen Erpressungen. Dagegen setzte selbst Colbert das
System von 1577/85 praktisch fort. So errichtete er z. B. 1673 ff.
zu Paris für 500000 Livres 24 Stellen von Wildpret-, Federvieh- und
Eierhändlern, die allein von ausserstädtischen Lieferanten kaufen und
dann 5 Proc. theuerer verkaufen sollten. (Forbonnais, Finances de
France I, 447.) Man begreift dergleichen, wenn Ludwig XIV. sich
für den absoluten Herrn alles Privateigenthums, der Geistlichen wie
der Weltlichen, hielt (M6moires historiques de Louis XIV. II, 121),
und in seiner Instruction für den Dauphin erklärte: les rais sofU
seigneurs ahsolus ei ont naturellemeni la disposiiion pleine et libre de
tous les biens^ qui sont possedes. Ähnlich Louvois politisches Testa-
ment: tous V08 sujets vous doivent leurs personnes^ leurs biens^ leur
sang^ sans avoir droit de rien pretendre. En vom sacrifiant tow/, ik
ne vom donnent rien^ puisqtie tout est ä vom. — Gleichzeitig^) hielt sich
Elisabeth von England befugt, jeden Handelszweig zum Staatsmonopol
zu erklären. Oft wurden alle bisherigen Betreiber dadurch ruinirt;
oft auch hatten sie nur durch eine Abgabe das Privilegium des Fort-
i) SchoD gegen Schluss des H. Jahrb. besass z. B. in Schlesien fast jede
Stadt einen Keller, worin das beliebte Schweidnitzer Bier monopolisch ausgeschenkt
wurde. Heftiger Streit, ob innerhalb der Bannmeile auch die Geisthchen Bier
ausschenken dürften. (Stenzel, Preuss. Gesch. I, 159.) In Zürich war bis zur
Revolution eine Haupteinnahme des Staates von den hohen Abgaben der Kaufleute,
nicht selten bis zu 10 und mehr Promille ihres Vermögens jährlich, wofür sie
dann ein Monopol des Grosshandels übten. (Meyer-Knonau , Schweiz. Gesch. H,
457.) In Tessin deckten selbst im Zeitalter sonstiger Gewerbefreiheit die sehr
unabhängigen Gemeinden ihren Bedarf am liebsten durch Verkauf von Back- und
Schlachtmonopolen, oder auch durch die zu bezahlende Erlaubniss, dass die Ein-
wohner gewisser Orte bis zu einer gewissen Stunde ausschliesslich Butter kaufen
dürften etc. (Franscini C. Tessin 3H.)
%) Seit 4 575. Übrigens waren namentlich Eduard IV. und Heinrich VII.
schon mit solchen Monopol ien vorangegangen.
^^1 Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 163
betriebes zu erkaufen. Viele solcher Monopolien wurden an Günst-
linge verschenkt und von diesen hernach an Fachleute verkauft,
unter dem Vorwand der Controle durften Privatpersonen die ärgsten
Eingriffe ins Innere der Häuser machen: so dass z. B. die Salpeter-
monopolisten förmliche Tribute erpressten, falls man von ihren Stall-
visitationen verschont bleiben wollte. Vgl. d'Ewes Journal of both houses
(1682), 644 ff. Bis 1601 waren Monopole creirt für Korinthen, Salz,
Eisen, Pulver, Karten, Kalbfelle, Segeltuch, Potasche, Weinessig,
Thran, Steinkohlen, Stahl, Branntwein, Bürsten, Flaschen, Töpfe,
Salpeter, Blei, Öl, Galmei, Papier, Spiegel, Stärke, Zinn, Schwefel,
Tuch, Sardellen, Bier, Kanonen, Hörn, Leder, spanische Wolle, irisches
Garn etc. Als diese Liste im Unterhause zur Sprache kam, äusserte
ein Mitglied, das Brot werde gewiss auch bald hineinkommen. Der
Salzpreis war durch die Monopolisirung von 1 6 Pence auf 1 4 — 1 5 Schill,
pro Bushel gestiegen. Im Unterhause ward geäussert, das Ende von
alle diesem werde beggary and bondage lo the subjects sein. (d'Ewes,
p. 619.)^) Hume vergleicht die Macht der Krone im damaligen Eng-
land mit der eines türkischen Sultans: »der Souverän konnte Alles
thun, ausser neue Steuern auflegen (c Factisch lief aber diese Mo-
nopolgewalt ziemlich auf dasselbe hinaus, wie ein unbeschränktes
Recht der indirecten Besteuerung, noch dazu in besonders lästigen
Formen.
Auch in Italien finden wir das Ende des Mittelalters und den
Anfang der neuern Zeit voller Staatsmonopolien, vielleicht am gross-
artigsten in Toscana, wo das Herrscherhaus selbst auf Grund eines
Bankiergeschäftes emporgekommen war.'*) Schon Friedrich II. hatte
3) Die Königin War so klug, auf denlüthiges Bitten des Unterhauses die
AbschafTung der gehässigsten Monopolien zu versprechen, was dann Jakob I. wirk-
lich ausführte. Nur ein grosser Theil des auswärtigen Handels, z. B. mit Ost-
indien, blieb der Monopolisirungsgewalt unterworfen. Um <624 erklärte das Par-
lament alle Monopolien, ausser bei neuen Erfindungen, für gesetzwidrig. Karl I.
stellte jedoch in seiner unparlamentarischen Zeit viele wieder her, allerdings in
der verbesserten Form, dass sie nicht einzelnen Günstlingen, sondern regulated
eompanies übertragen wurden ; auch vorsichtshalber oft mit der Clausel, das Privi-
legium sollte null sein, wenn das Recht oder Gemeinwohl dadurch verletzt würden.
Vgl. Lingard, History of England IX, 4<8.
4) In Toscana hob Leopold II. die Monopolien auf, so z. B. 4779 das M. der
Eisenfabrikation und des Eisenhandcls. (Crome, Slaalsverwaltung Toscanas I, 25«.)
Abhandl. d. K. S. Oeaelluch. d. Wifisensch. XXI. 4 2
464 Wilhelm Roschbr, [^0
in Neapel Staatsmonopole für Salz, Eisen, Slahl, Pech, vergoldetes
Leder eingeführt. (Bianchini, Storia delle finanze del regno di Na-
poli I, 245.) Noch vor der eigentlichen spanischen Herrschaft waren
so alle gemeinen Lebensbedürfnisse, wie Öl, Weizen, Wein, Schweine
etc. monopolisirt. (Commines, Memoires VII, Ch. 13.) Ahnlich im
Kirchenstaate unter Sixtus IV., der namentlich ein sehr druckendes
Kornmonopol errichtete. (Commines XI, 223 fg.) Clemens VII. stei-
gerte dadurch in Rom den Kornpreis auf das dreifache (Sismondi,
Gesch. der Italien. Freist. XV, 154); der spanische Vicekönig von Neapel
1 540 ff. so sehr, dass man in gesegneten Jahren schlechteres Brot hatte,
als zur Zeit des freien Handels die Armen während einer Theuerung.
(Stellen bei Sismondi XVI, 191.) Auch in Mailand führte Leyva ein
M. des Mahlens und Backens ein. (Besold, De aerario, 45.) Noch zu
Burnets Zeit kaufte der Papst mittelst der Annona von den Landwirthen
um 5 Thir., was er den Bäckern um 12 Thlr. verkaufte. Jenen blieb
er überdies lange schuldig; diesen nahm er, wenn sie nicht alles
Gekaufte absetzen konnten, den Rest nur wieder für 5 Thlr. ab.
(Itinerary, p. 15.) Von den Monopolien anderer italienischer Tyran-
nen, z. B. in Ferrara, s. Burckhardt, Renaissance, 38. Überhaupt
Machiavelli, Discorsi III, 29.^)
Aus der neuem Geschichte ist besonders merkwürdig die s. g.
Regie Friedrichs M., der sonst im Allgemeinen dem Regalismus wenig
5) Von den spanischen Staatsmonopolen für Tabak, Salz, Blei, Schiesspulver,
Schwefel, Siegellack, Quecksilber, Karten, Wachs, bis 4 746 auch für Branntwein:
Townsenü, Journey II, 231 fg. Bourgöing II, SU. Im spanischen Amerika: Hum-
boldt, Neuspanien Y^ 2 0*. 38. In Russland schildert ein Gesandtschaftsbericht an
Gustav Adolf als die Haupteinnahmsquellen des Czaren: das Münzregal, das Monopol
der geistigen Getränke, der Badstuben, der Zobelfelle, die • willkürliche Bestimmung
des Kornpreises und dass aller Handel nur im Auftrage des Czaren getrieben wurde.
(Geijer, Schwed. Gesch. III, 99.) Vgl. Karamstn IX, 284. Jeder besonders ge-
winnreiche Handelszweig wurde vom Staate an sich gerissen, den Privaten wohl
der Verkauf ihrer Waaren dann erst erlaubt, wenn der Gzar die seinigen abgesetzt
hatte. (Herrmann, Russ. Gesch. III, 724. 540.) Noch unter Peter M., der viele
Monopolien abgeschafll hatte (Herrmann IV, 410), dauerte der Staatshandel in
grosser Ausdehnung fort. (Brückner PossoschkofT III, 4 2 ff.) Auch in Gustav Adolfs
Finanzsysteme spielen die M. eine grosse Rolle: seit 4 64 4 für Kupfer, 4 628 für
Salz, 4 634 für Korn, welche letzteren beiden jedoch bald mit hohen Zöllen ver-
tauscht wurden; 4 624 eine General-Handelscompagnie für den äusseren ropäischen
Verkehr privilegirt. (Geijer III, 55(1.].
^4] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 165
geneigt war/) doch aber in der finanziell hochgespannten Zeit nach
dem siebenjährigen Kriege, wo alle Accisen auf Luxus- und Fremdwaaren
so gewaltig vermehrt und erhöhet wurden, die Kaffee- und Tabaksaccise
bald mit einem ebenso einträglichen wie drückenden Staatsinonopol ver-
tauschte. Der Tabak 4 765 zum Monopol erklärt, und dieses anfänglich
verpachtet. Aber schon 4 766 nahm der König es in Regie, und der
Reinertrag war 4785/6 über 4286000 Thir. Der Kaffee zuerst mit 4 Gr.
pro Pfd. besteuert, 4772 mit 6 Gr. 2 Pfg. Wegen des vielen Schmug-
gels wurde 4784 der Staatshändel eingeführt: jede Provinz erhielt ein
Haupt- und mehrere Nebendepots, die von Kaufleuten gegen Caution
gehalten wurden. Diese verkauften Kaffeebohnen an die Privilegirten,
die wenigstens 20 Pfd. jährlich nehmen und dazu einen Brennschein
lösen mussten; gebrannten Kaffee in Büchsen zu 24 Loth an die
Krämer, welche 5 Proc. Provision nehmen durften. Vgl. Preuss,
Gesch. Friedrichs M. III, zu Anfang. Wie verhasst dies Regal war,
bezeugt Hamann in Fr. H. Jacobi's Werken IV, 3, 4 45, und Bürger
in seinem Raubgrafen. Dem Könige selbst erschien seine Regie als
der rechte Mittelweg zwischen seinem frühem Steuerwesen und der
französischen Steuerverpachtung. Aber schon 25. Jan. 4 787 hob
Friedrich Wilhelm II. die Tabaks- und Kaffeeregie auf.')
Auch andere Formen der unbeschränkten Monarchie, die mit
dem vorzugsweise s. g. Absolutismus nur mehr oder minder Ähn-
lichkeit haben, wie z. B. der morgenländische SuHanismus,®) der
6) Vgl. Röscher, Gesch. der N. Ökonomik in Deutschland I, 389 fg.
7) Welchen Anachronismus Friedrich M. durch seine Regie beging, zeigt
sich nicht bloss, wenn man ihn mil seinem Vater vergleicht, (Röscher, Gesch.
der N. Ö. in Deutschland I, 365), der doch nicht weniger staatsgewaltig und
haushälterisch war, als der Sohn. Sondern fast noch deutlicher in der Zusammen*
Stellung seines Zeitgenossen Justi, des Dieners zweier absoluten Monarchen, mit
dem ein Jahrhundert altern J. J. Becher, der im republikanischen Holland gelernt
hatte. Der letztere schwärmt für ein grossartiges Commercienregal, welches durch
eine Verbindung von Provianthaus, Werkhaus, Kaufhaus und Bank eigenUich die
ganze Volkswirthschafl dirigirte. (a. a. 0. I, 283 ff.). Justi hingegen lehrt geradezu,
dass Staatsgewerbe, wenn sie einmal im Gange sind, möglichst bald an Privat-
unternehmer gegeben werden sollen, da sie z. B. auf auswärtigen Absatz schwerlich
hoffen können. (Hanufacturen und Fabriken, 4 757, I, 85tf.j.
8) Vom türkischen Kaffeeregal s. Ausland 4 856, No. 9. Mehemet Ali ver-
band in Ägypten mit der Confiscation alles Bodens ein Monopol für Baumwolle,
Mohn, Lein, Indigo und Zuckerrohr, zu deren Bau und Ablieferung die Fellahs
166 • WiLHECM Koscher. [5^
abendländische Cäsarismus, welcher der ausgearteten Demokratie zu
folgen pflegt,^) haben dieselbe Vorliebe für Staatsmonopolien. Was
man im heutigen Yerfassungsstaate mit Recht wider sie geltend macht:
dass sie das Volk ausser Stand setzen, genau zu berechnen, wie viel
der Staat ihm kostet; dass sie einen vom Parlamente fast unabhängigen
Zweig der Staatseinnahme bilden ; dass sie ein Heer von Beamten in
privater Abhängigkeit von der Regierung halten ^^) : alles dies wird von ^
einer unbeschränkten Monarchie zu ihren Gunsten ausgelegt werden.
Bis zu welchem Grade freilich die Freiheit des Volkes und die wahre
Ordnung darunter leiden können, zeigt in erschreckender Klarheit der
frühere Zustand eines Theils von Brasilien unter der Herrschaft des
Diamantenregals. Kolonien pflegen alle Richtungen, welche zur Zeit
ihrer Gründung im Mutterlande herrschen, zur äussersten Consequenz
zu entwickeln, weil dort wie auf einer tahtda rasa die meisten Hemm-
nisse der rücksichtslosen Geltendmachung fehlen. Das Diamantenregal
gezwungen wurden; ebenso ein Monopol für die wichtigsten Einfuhren aus dem
Sudan : Goldstaub, Elfenbein, Guaimi, Straussenfedern etc. So hatte früher der
König von Siam nicht bloss den Grosshandel mit den wichtigsten Landesproducten
allein, sondern auch ein Vorkaufsrecht für alle eingeführten Waaren. S. Finlayson,
Mission to Siam (18^20) und Crawfurd, Embassy to the courts of Siam etc. (1828).
Neuerdings hat man die Monopole mit Zöllen vertauscht. t)brigens liegt es in Län-
dern, wo der Kaufmann sich bei jedem Schritte unsicher fühlt, in seinem eigenen
Interesse, als Staatsbeamter aufzutreten. Israelitische Staatsmonopole unter Salo-
mon: I. Kön. 10, 15. 29. Ewald, Gesch. von Israel III, 75.
9j Justinian führte zahlreiche Monopolien ein (Procop. Hist. Are. 26), na-
mentlich eine Art von Annona. (22.) Noch während der Kreuzzüge dauerte dies
für Korn, Wein und Ol fort, wahrscheinlich bis zur Eroberung durch die Vene-
tianer. (Albert. Aquens. bei Bongars I, 203.) Übrigens hatten die zahlreichen
Staatsfabriken der früheren Imperatoren (wovon der Theodos. Codex und die No-
titia dignilatum handeln), ausser dem finanziellen Zwecke noch die Bestimmung,
den eigenen Bedarf des Staates z. B. an Waflen sicher gut zu befriedigen und den
Alleingebrauch gewisser Waaren, z. B. Purpurkleider, dem Hofe vorzubehalten.
Die Webereien arbeiteten für den Hof, Geschenke des Hofes und das Heer. Die
Arbeiter meist Frauen aus staatsleibeigenen Familien ; die Waffenarbeiter auf dem
Arme gebrandmarkt. (Theod. Cod. X, 22, 4.) Harte Strafen sowohl für Aus-
reisser und deren Verführer, als für diejenigen, welche das Monopol gewisser
Staatsfabriken verletzten.
10) Die schlimme Kehrseite hiervon, dass ein Regierungswechsel dann für
Viele eine sowce de fortune sein, also zu Revolutionsgedanken reizen würde (Leroy-
Beaulieu, Sc. de F. I, 92 ff.), fürchtete man im Zeitalter des gesunden Absolutismus
noch nicht.
S3] Versuch einer Theorie per Finanz-Regalien. 167
(seit 1730) wurde zuerst nur mittelst einer Quote der Ausbeute,
hernach mittelst einer Kopfsteuer für jeden waschenden Sklaven ge-
nutzt. Seit 1741 Verpachtung, wobei aber der Pächter bald, anstatt
der bedungenen 700 Sklaven, 10000 beschäftigt und solches durch
ein systematisches Bestechungswesen verdeckt haben soll. Die Regie
(seit 1772) von Pombal organisirt. Der Diamantenbezirk streng ab-
gesperrt; selbst der Gouverneur der benachbarten Provinz nicht ohne
schriftliche Erlaubniss des Intendanten eingelassen. Jeder Austretende
in Kleidern, ja im Körper visitirt, ebenso die Lastthiere ; man konnte
sie wohl gar 24 Stunden lang festhalten, um die Excremente nach
Diamanten zu durchsuchen. Der Intendant, zugleich höchster Richter
und Polizeibeamter, durfte jeden Einwohner auf blossen Verdacht
aus dem Bezirke verbannen ; waren Diamanten bei demselben gefun-
den, sogar mit Vermögensconfiscation. Von seinem und der Junta
diamantina Urtheil gab es keine andere Appellation, als an die Gnade
des Königs. Jeder Beamte, selbst jeder Soldat konnte nach Diamanten
eine Haussuchung vornehmen. Wer einen nichtregistrirten Sklaven
hielt, kam 3, im Wiederholungsfalle 1 0 Jahre auf die Galeeren in Afrika ;
ebenso 10 J. Tür den Herren, dessen. Sklav Diamanten besass oder
nach D. grub. Auch in der Nachbarschaft konnte der Intendant
Niederlassungen verhindern. Alles dies bestand im Wesentlichen noch
1820 (Spix und Martins, Reise II, 430 ff.), und hat doch in 90 Jahren
dem Staate nur etwa 10,35 Millionen Thlr. eingebracht! (v. Esch-
wege.) Erst seit Aufhebung des Monopols ist die Stadt Diamantina
blühend geworden. (Wappaus, Brasilien, S. 1879.).
10.
Weil im Handel und Gewerbdeiss die Productionsfactoren Ka-
pital und Arbeit regelmässig über den Factor der aneignungsfähigen
Natur noch weit mehr vorwiegen, als in der Landwirthschaft, so
muss auch die ökonomische Überlegenheit der Privatunter-
nehmung über die Staatsbeamtenwirlhschaft dort in der Regel eine
viel grössere sein, als hier. Je mehr ein Geschäft sich der persön-
lichen Verschiedenheit der Einzelnen, dem rasch wechselnden Be-
dürfnisse des Augenblicks anzupassen hat, um so hemmender natür-
lich die Instructionen, Controlemassregeln, Berufungen auf eine höhere
Instanz, deren die wirthschaflliche Thätigkeit von Staatsbeamten ge-
168 Wilhelm Rosgheb, [^i
rade im wohlgeregelteo Staate nicht entbehren kann. Hier gilt wirk-
lich das' Wort Ad. Snoith's*): »Keine zwei Charaktere scheinen, un-
vereinbarer, als die von Trader und Sovereign. . . Die Diener des
sorglosesten Privatmannes sind vielleicht mehr unter den Augen ihres
Herrn, als die des sorgfältigsten Fürsten«. Namentlich für Specula-
tionen, Vorausberücksichtigung latenter Bedürfnisse der Käufer, wird
der gewissenhafte Staatsbeamie meist zu ängstlich sein, der nicht
gewissenhafte, da seine Versuche ja auf Staatskosten gemacht wer-
den, fast immer zu leichtsinnig. Darum können Staatsgewerbe so
äusserst selten die vollentwickelte Privatconcurrenz ertragen*) und
i) Ad. Smith, W. of N. IV, p. ^54. 187 ed. Bas.
2) Aus zahllosen Erfahrungsbelegen, die es hierfür gibt, nur einige wenige!
Der grosse Kurfürst räumte von !&einem Guineahandel selbst ein,-da8S ihm jeder,
aus afrikanischem Goldstaube geschlagene Ducaten deren zwei ao preussischen
Waaren gekostet habe. (Stenzel, Preuss. Gesch. II, 463.) Wie die neueren
Ärarfabriken Österreichs fast alle mit Schaden arbeiteten, wenn man die Verzinsung
des Anlagekapitals mit berechnet, s. Rau-Hanssen, Archiv IX, 25 4 ff. Die Linzer
Staatsmanufactur gab die ordinUren Tuche schon früh auf und ging statt dessen
zu feinen Teppichen über, mit denen sie eine Art von Seminarwirkung üben
konnte. Seit 1850 verliess sie auch dies Gebiet und wurde ganz zu einer Tabaks-
fabrik, die ja monopolisch gesichert war. Das in den Staatsbergwerken steckende
Kapital verzinste sich für Preussen lange Zeit nur mit 3 Proc, für Baden sogar
nur mit \ Proc. (Pfeiffer, Staatseinnahmen I, 469.) Oft wird bei Staatsgewerben
das wirkliche Reinerlragsverhättniss durch die historische. Unklarheit des Anlage-
kapitals oder auch durch die Unvollständigkeit der Berechnung verdunkelt. So
erhielten z. B. in Bayern die Staatsbergwerke das Holz um 25 Proc. wohlfeiler
und waren ausserdem vom Weggelde befreiet. (Rudhart, Zustand des Kgr. Bayern
I, 4 28.) Die preussischen Hüttenwerke des Staates hätten nach der Privatschrifl :
»Ober die Betriebsergebnisse der Staatshüttenwerke in den J. 1853 — 60« in dieser
Zeit 2332143 Thlr. Verlust ergeben; und selbst die amtliche Gegenschrift unter
demselben Titel rechnet nur einen jährlichen Gewinn von 240867 Thlr. heraus,
d. h. 3.86 Proc. des wahrscheinlichen Kapitalbetrages. Der baare Uberschuss
war sogar nur 0.9 Proc. jährlich. Man hat desshalb in Preussen die ailmäliche
Veräusserung dieser Hüttenwerke eingeleitet, in Baden (wo der Ertrag der Staats-
Eisenwerke 1855 unter 4 Prod. war), schon 4 868 vollendet. Die gewerblichen
Etablissements der preuss. Seehandlungsgesellschaft hatten 4 869 nur 4 9775 Thlr.
Reinertrag für einen Buchwerth von über 4 Mill. Thlr. (Rau-Wagner F. W. I, 457.)
Ein Erfolg wie derjenige der bayerischen Eisengiesserei zu Wasseralfingen, die
z. B. 4 854 zu 873000 Fl. Kapital berechnet wurde und 4 856 == 330000 Fl.
Reinertrag hatte (Rau, Finanzwissensch., 5. Aufl., I, 2 4 4), wird auf ganz be-
sonderen Gründen beruhen. Die k. sächsische Porcellan fabrik zu Meissen hat
zwar unter günstigen Conjuncturen, wenn sie zugleich eine ausgezeichnete Leitung
^^j Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 169
haben sich insgemein bloss dadurch halten können, dass ihnen die
gesetzgebende Gewali ein Monopol bewilligte. Für die Yolkswirth-
scbafl im Ganzen freilich wird der Verlust hiermit nicht kleiner,
sondern nur, durch Vertheilung auf Viele, weniger merklich ; er wird
in der Regel sogar noch grösser, da nichts mehr zu Trägheit und
Sorglosigkeit verführt, als die Gewissheit, keine Goncurrenz fürchten zu
müssen^) (Mein System Bd. I, §. 91). Es gibt verschiedene Grade von
Monopolisirung : je nachdem bloss die Fabrikation, oder bloss der Ver-
kauf, oder beides zusammen dem Staate vorbehalten ist^). Aber selbst
der mildeste Grad enthält eine zwiefache Belästigung, sowohl der
Producenten wie der Consumenten, während der freie Handel nach
beiden Seiten wohlthätig zu vermitteln pflegt^). Einen grossartigen
besass, ansehnliche Oberscbüsse geliefert. So 1730 — 56, 1763 — 74; wiederum
seit 1863, wo bis 1879 im Jahresdurchschnitt 4 94258 Mk. an die Staatskasse ab-
geführt worden sind (4 882/3 sogar 370000): freilich, wenn das Kapital an Ge-
bäuden, Maschinen, Formen, Vorräthen etc. 4 868 zu 966800 Thir. berechnet
wurde, nur eine Verzinsung von kaum 6.7 Proc. (Allein 4 874 — 79 allerdings
über 9.3 Proc.) Aber z. B. 4 834, als man zur Feststellung der Civilliste die
Nutzungen des Domaniums etc. berechnete, wurde angenommen, dass die Porcellan-
fabrik einen regelmässigen Zuschuss erforderte. (Wirklich 4 829 — 32 zusammen
56795 Thlr.) Erst seit dem Anschlüsse Sachsens an den Zollverein wurden die
Verhältnisse besser. Vgl. Böhmert, Gesch. und Statistik der Meissener Porcellan-
manufactur: Sachs. Statist. Ztschr. 4 880, 44 ff. — Für die Erfolge der k. preus-
sischen Porcellanfabrik unter Friedrich M. ist es bezeichnend, dass jeder Jude,
welcher heirathen wollte, für 4 00 Thlr. Porcellan kaufen und exportiren musste.
(Mirabeau, De la monarchie Prussienne II, 4 08.) Die bayerische Porcellanfabrik
zu Nymphenburg erforderte jährlichen Zuschuss 4 84 9 — 25 von 874 7 Fl., 4 837 — 43
von 4 4 782 FI.
3) Shakespeare's Wort : As you all know, security is mortals chiefest enemyf
stimmt ganz mit Huskisson überein, dass das Monopol immer Gleichgültigkeit gegen
Verbesserungen erzeuge.
4) In Frankreich hatte der Staat früher beim Salze nur das M. des Ver-
kaufs, gegenwärtig bei den Zündhölzchen nur das M. der Fabrikation, beim Tabak
(mit Ausnahme der Rohstoffproduction) beides.
5) So war in Frankreich der Tabaksbau wegen des Regals auf 8 Departe-
ments beschränkt, und selbst im Dept. Niederrhein bald von 6000 auf 4700 ha.
zurückgegangen. (Chaptal, De Tiodustrie Fr. I, 4 67 ff.) Als in Mexico 4 764 das
Tabaksregal eingeführt war, durfte Niemand ohne besondere Erlaubniss, die aber
nur für wenige Q. Meilen bei Veracruz ertheilt wurde, Tabak pflanzen. Eigene
Guardas de Tabaco reisten umher, um alle sonstigen Anbauer in Strafe zu nehmen
und ihre Pflanzen auszuraufen. Die Gegend von Guadalaxara, die sonst viel T.
gebaut hatte, verfiel kläglich. (Humboldt, N. Espagne IV, 4 0.) Was die Con-
170 Wilhelm Röscher, [56
Aufschwung kann eine Production, auch wenn sie von der Natur
des Landes noch so begünstigt wäre^), unter der Herrschaft eines
solchen Regals nur da nehmen, wo ihr ein wirkliches Naturmonopol
zur Seite steht').
Wollte man durch Verpachtung an Privatpersonen die Übel des
Monopols mildern, so müsste man, weil hier eigentlich nur ein Recht
verpachtet wird, fürchten, dass sich der Eifer des Pächters vorzugs-
weise auf die grösstmögliche Anspannung dieses Rechts verlege,
(volkswirthschaftlich unproductiv!): also Übertheuerung der Consu-
menten, die selbst gegen einen vom Staate vorgeschriebenen Tarif
sehr wohl durch Verschlechterung des Products erfolgen kann. Ebenso
wird der Pachter, der einen Handelszweig rechtlich allein besitzt,
factisch leicht auch andere Handelszweige an sich reissen, und da-
mit dem Publicum weit mehr entziehen, als wofür er dem Staate
gezahlt hat.
sumenten betrüTt, so sollen wegen des Reismonopols der englischen Compagnie
4 767 in Bengalen t Mill. Menschen verhungert sein. [J. G. Büsch^ Weltbändel s. a.)
Als Y. Beust in Savoyen das Salzmonopol sehr verbessert hatte, meinle der König,
wie er das schöne Salz erblickte, das sei zwar für die .Unterthanen sehr vortheil-
bafty für ihn aber sehr unvortheiihaft. (Justl, Polit. und Finanzschr. II, 379.)
In Bahia, wo der Fleisch- und Fischverkauf etc. an den Meistbietenden verpachtet
war, oft bitterer Mangel an Nahrungsmitteln. (Spix-Martius, Reise II; 650.)
6) Bei allem Ruhm der Drake etc. hat doch die englische Rhederei zwischen
4 588 und 4 602 um ein Drittel der Schilfe und Seeleute abgenommen: wie denn
auch der Seehandel wegen der vielen Monopole zu mehr als 80 Proc. in London
concentrirt und hier auf etwa 200 Bürger beschränkt war. (Hume, Uistory of
England, Ch. 45.) Die grosse Rolle des Havanatabaks fangt erst nach Aufhebung
des Regals an. [Humboldt, N. Espagne II, p. 49.) So ist in Altspanien die
Bleiproduction seit Aufhebung des Regals binnen 3 J. um das Fünfzehnfache ge-
wachsen. (Schubert, Staatskunde HI, 68.) Über die schlimmen Folgen der anderen
spanischen Monopole s. Townsend, Journey passim, besonders I, 274 ff. Ais Pombal
4 756 den Weinhandel von Oporto einer Monopolgesellschaft übergeben hatte, ver-
schlechterte sich die Güte der dortigen Weine im auffälligsten Grade, namentlich
hörte die Verschiedenheit der Sorten fast gänzlich auf, während der Preis auf das
Drei- bis Vierfache stieg. [Henderson, Hislory of wines, 2 4 0. Balbi^ Essai sla-
tistique sur le Portugal I, 4 57.)
7) So rühmt Wallace, Malayischer Archipel I, 44 2fr. das Muscatregal der
holländischen Insel Banda, die eine Art Naturmonopol eines Luxusgegenstandes
besitzt. Hätte man dies vom Freihandel ausbeuten lassen^ so würde es auf eine
viel minder gemeinnützliclie Weise in die iland einzelner Reichen oder Actionäre
gerathen sein.
^7] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 171
11.
Wenn also bei reifen und blühenden Völkern, um ihren finan-
ziellen Staatsbedarf zu decken, die Vermuthung durchaus für Be-
steuerung der Privatindustrie und des Privathandels, aber gegen
Staatsindustrie und Staatshandel streitet ^) '^ , so gibt es doch wieder
bedeutende Ausnahmen von dieser RegeP), die freilich in jedem
einzelnen Falle erst durch den Nachweis begründet werden müssen,
dass die wahrhaft freie Privatconcurrenz mit ihren überwiegend
segensreichen Folgen (System Bd. I, §. 97) hier entweder nicht möglich,
oder aus besonderen, sehr triftigen Ursachen nicht wünschensvverth sei.
A. Ist ein Handels- oder Gewerbzweig für das Volk unzwei-
felhaft nützlich, wohl gar nothwendig; sind aber die Privat-
kräfte, auch die zur Corporation oder Actiengesellschafl organisir-
ten, ebenso unzweifelhaft noch nicht reif dafür: so bleibt natürlich
nur der Staatsbetrieb für solchen Zweck übrig. Hierher gehören
i) Sehr merkwürdig ist der Nachweis des Mioisters v. Heynitz an Friedrich
Wilhelm III. 1798, dass die Fridericianische Regie 4 780/81, verglichen mit der
auf dieselbeo Waaren gelegten Accise von 1765/6 2^874 Tlilr. weniger einge-
bracht hat, und dabei die Yerwaltungskosten von 5.9 Proc. auf 13.2 gestiegen
sind. (Riedel, Brand, preuss. Staatsh., 159.)
2) Während sich die hscalische Jurisprudenz des 17. Jahrh. grossentheils
um die Regalien drehete, hat L. v. Stein für unsere Zeit ganz Recht mit den Sätzen:
dass der Staat jetzt Regalien festhält, nicht weil er ein Recht darauf hat, sondern
weil sie nothwendig sind ; dass sie eine Einkommensquelle nur bilden dürfen,
wenn dies mit den Bedürfnissen der Gesammtheit vereinbarlich ; dass sie eben
darum in der Finanzlehre eine untergeordnete, in der Verwaltungslehre eine wichtige
Rolle spielen. (Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 190 fg.) Von Monopolien für Staatsgewerbe
hält Stein nur in dem Falle viel, wo sie eine Steuerform sind. Denn sonst : wenn
das Gewerbe auch ohne Monopol einträglich ist, dann braucht man das M. nicht ;
oder wenn das Gewerbe ohne M. nicht einträglich ist, dann schadet das M. der
Yolkswirthschaft. (a. a. 0., 507.)
3) Vgl. v. Cancrin, Weltreichthum, 168ff. M. Chevalier, Cours d*£co-
nomie politique II, Le9on 21 charakterisirt die Gewerbe, die ausnahmsweise vom
Staate betrieben werden mögen, so: celleSf qui importent ä la miisse des ciioyenSy
qui affectent d'une maniere permanente l'ensemble des transactions de toute nature,
et auxquelles en meme temps l'unite d'administration est particulierement avantagetAse ;
Celles, qui ont besoin d'un personnel d'elite, tres longuement prepare; Celles, qui
pour la meilleure qualite des produits reclament des avances de capitaux extreme^
ment considerables, auxquelles les Fortunes privees ne sufßraient pas en des pays,
oü la richesse est tres divisee; encore celles, qui doivent se presenter au ptU)lic en-
vironnes d'un haut degre de confiance, que des citoyens isoles inspireraient difficilement.
172 Wilhelm Röscher. [58
namentlich alle die Gewerbe, die für das Heerwesen noth wendig
sind. Kein wahrhaft souveräner Staat wird sich in BetreflF seiner
Wafien auf eine ausländische Industrie verlassen wollen. Aber auch
die Anfänge des Kornhandels im Grossen, sowie des fernen Welt-
handels können solche Kapitalien erfordern und solche Gefahr laufen,
dass die einstweilen noch sehr schwachen Privatkräfle sich nicht
daran wagen. Hier mag der Staat erzieherisch vorangehen*).
Mitunter bedarf auch er in solchem Falle zu seiner Ermuthigung
eines anfänglichen Monopoles^): nur hat er sich dann aufs Ausserste
zu hüten, dass er nicht aus despotischer Yielgeschäftigkeit oder kurz-
sichtiger Plusmacherei das allmäliche Heranwachsen der Privatindu-
strie hemme. Kann diese letztere das bisherige Staatsgewerbe wirk-
•
lieh ersetzen, so ist das nicht bloss ein günstiges Symptom, sondern
es wird dann auch regelmässig von ihr das VolksbedUrfniss rascher,
wohlfeiler, besser befriedigt*^). Vielleicht wird bei kriegerischen Be-
dürfnissartikeln ein Rest von Staatsindustrie immer nothwendig blei-
ben, weil hier so oft eine Geheimhaltung verbesserter Waflfen etc.
4) Wie der Dienst des Kornhandels, gleichsam der Provia nlmeister des Volkes
zu sein, fast in jedem Mittelalter durch die Kirche mit ihren Zehntscheuern und
das Domanium, etwas später durch die obrigkeitlichen Magazine der Städte besorgt
nvird, ehe der gerade bei dieser Waare so schwierige Privathandel sich ausbildet,
s. mein System Bd. II, §. 155. Der erste unmittelbare Handel Westeuropas nach dem
südlichen Afrika und Asien ist von der portugiesischen Regierung betrieben worden,
zu einer Zeit, als noch nicht einmal solche Actiengesellschaften möglich waren, wie
sie nachmals den holländischen und englischen Verkehr nach denselben Ländern ein-
geleitet haben; auch diese letzteren wegen Unmöglichkeit des Privathandels im
engern Sinne. (Bd. HI, §. 31.) "
5) So dass z. B. die Privatpersonen, welche zu Jagdzwecken Flinten oder
Schiesspulver kaufen wollen, die Staatsfabrik ansprechen müssen: was deren Pro-
ductionskosten für den Heeresbedarf wenigstens etwas verringert.
6) Mit gutem Grunde warnt Leroy-Beaulieu den Staat davor, seine
ohnehin so grosse Thätigkeit nicht noch mehr zu compliciren. Er soll nicht bloss
diejenigen Gewerbe den Privaten lassen^ für welche diese sont plus aptes que luij
sondern alle, jDour lesquelles il n'est pas de toute evidence, qu*il a une competence
exceptionelle . (Sc. des F. I, 92 ff.) Ähnlich meint v. Gerber (D. Privatrecht,
§. 67), dass die s. g. Regalien bald ganz aus dem Privatrechte verschwunden
sein werden, indem der Staat seine Interessen weit angemessener durch Gonces-
sionsgesetzgebung, Besteuerung etc. befriedigt. Was ich über die entgegengesetzte
Ansicht urtheile, die immer mehr Privatgewerbe durch die »Zwangsgemeinwirth-
Schaft« absorbirt sehen möchte, s. in meinem Systeme Bd. I, §. 84. (16. Aufl.).
^9] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 173
wttDSchenswerth ist'). — 'Es gibt aber auch erzieherisch gemeinte
Staatsgewerbe, die selbst auf der höchsten Wirthschaftsstufe mit Segen
fortdauern können: Seminarien, um die edelsten Bluthen eines Ge-
werbzweiges zu fördern, diejenige Schicht gleichsam, die einstweilen
für den Geschmack und darum auch für die Kauflust der Massen zu
hoch steht, wo jedoch bei richtiger Leitung das eigentliche (erst
geistige, dann auch leibliche) Wachsthum des ganzen Gewerbes vor
sich geht. Im Zeitalter der Hausmanufactur hatten solche Seminarien
eine sehr breite Nützlichkeit. (Bd. HI, §. 1 47.) Aber noch heute kön-
nen sie für die zunächst an Kunst oder Wissenschaft angrSInzenden
Gewerbzweige von Bedeutung sein*). Dass sich der Staat solcher
Anstalten auch für seine unmittelbaren Zwecke bedienen kann (Ehren-
geschenke an fremde Höfe etc., Druck von Geheimschriften, Papier-
geld etc.), versteht sich von selbst. Nur das würde ich missbilli-
gen, wenn er auch ordinäre Bedürfnissgegenstände seiner Beamten,
Soldaten etc. der reifgewordenen Privatindustrie nicht gönnen wollte,
»um den daran zu machenden Gewinn sich selbst vorzubehalten«.
Dies Princip, in vollster Gonsequenz entwickelt, müsste zum Commu-
nismus fuhren!
B. Die intensiveren Transportunternehmungen (Bd. III,
§. 77), die gerade auf den höchsten Wirthschaflsstufen eine so grosse,
immer noch zunehmende Wichtigkeit erlangen, sind meistens von der
Art, dass hier die freie Concurrenz, überhaupt die Concurrenz mit
ihren Spornen und Zügeln entweder gar nicht, oder nur in geringem
Masse anzubringen ist. Beim Betriebe der tüisenbahnen z. B. würde
7) Mao hat wohl für eine staatliche Production der WalfeD die Thatsache
geltend gemacht, dass England im Krimfeldzuge gewisse Granaten mit 73 £ St.
pro Tonne bezahlen musste, die es hernach für t5 £ selbst anfertigen Hess.
(Quart. R., No. 205.) Ebenso die Unhaltbarkeit der Kanonenboote, welche gegen
Sdiluss des Krieges von der Privatindustrie gebaut wurden. Es war damals eben
eine ganz unerwartete, einmalige Nachfrage gewesen ! Ihre Dampfmaschinen bezieht
die englische Kriegsflotte schon längst ohne allen Nachtheil aus Privatfabriken. Das
Quart. Rev., Gel. 4 860, p. 567 fg. hoflUt, dass in Zukunft die Staatsarsenale, ab-
gesehen von neuen Versuchen, bloss noch das Ausrüsten und Repariren der heu-
tigen Schiffe besorgen werden.
8) So die Gobelinsfabrik in Paris, (ein Werk Golberts), die Porcellanfabrik
in Sevres; manche Staatsdruckereien, welche die privatwirthschaftlich nicht ren-
tirenden, aber wissenschaftlich wichtigen Lettern z. B. orientalischer Sprachen zur
Verfügung steilen.
174 WUHELM ROSCHER, [60
die »freie Concurrenz auf der Schiene eben nur eine Freiheit sein,
Andere zu zermalmen oder von ihnen zermalmt zu werden^. (Nebe-
nius.) Und auch der Bau von zwei concurrirenden Bahnen zwischen
denselben Endpunkten wäre oft nur eine volkswirthschafllich un-
fruchtbare Verdoppelung der Bau- und Betriebskosten, wobei die Be-
nutzenden privatwirthschaftlich eine Zeitlang durch Schleuderpreise
gewinnen möchten, bis eine Fusion der Nebenbuhler doch wieder
ein Ihatsiüchliches Monopol hergestellt hat. Da hier die Strasse, auch
ohne productiven Gebrauch, einer starken natürlichen Abnutzung
unterliegt; da bei regelmässigem Betriebe Fahrzeug und Motor immer
ebenso weit zurück-, wie vorwärts gehen müssen: kommt es bei
allen sehr intensiven Transportmitteln vornehmlich darauf aa, die
»todte Zeit und Kraft«, sowie das »todte Gewicht« möglichst einzu-
schränken: also auf Verringerung der Generalkosten durch Massen-
haftigkeit und Unterbrechungslosigkeit des Transportes. Hieraus er-
klärt sich der starke Trieb, welchen die Eisenbahnen. Briefposten etc.
zur thatsächlichen Monopolisirung haben. Was man gewöhnlich als
Vorzüge der Privatunternehmung rühmt, das gilt bei den Transport-
gewerben nur von solchen, die klein genug sind, um von einem Ein-
zelnen wirklich verwaltet zu werden. Nun sind aber neuerdings eben
die wichtigsten Transportgewerbe mit Erfolg nur in einem Umfange zu
betreiben, der so wie so ein zahlreiches Beamtenpersonal nöthig macht;
und es kann demnach als Unternehmer nur entweder an den Staat (die
Provinz, Gemeinde elc), oder an sehr reiche Privatpersonen, zumal
Actienvereine, gedacht werden. Bei der Wahl hierzwischen ist aber
eine regelmässige Überlegenheit der Privatbeamten über die öffentlichen
in Betreff des Eifers, der Freiheit und Verantwortlichkeit* gewiss nicht
vorauszusetzen. Auch die Gemeinnützlichkeit, welche dem Privatbe-
triebe durch Staatsaufsicht und Besteuerung auferlegt werden kann, ist
viel weniger unmittelbar, als beim öffentlichen. Andererseits wird der
öffentliche Betrieb naturgemäss weniger auf Ersparnisse bedacht sein;
es werden auch Missbräuche, technischer, ökonomischer, ganz be-
sonders politischer Art, wenn sie eingerissen sind, beim Staatsbetriebe
wegen seiner Souveränetät viel schwerer abgestellt werden^). Je
9) Wie leicht kaoa z. B. einer Privat-EiseDbahn die Oberarbeituog oder
UnterlÖhnuDg ihrer Subalternen vom Staate verboten werden ; ebenso die rechts-
61] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 175
mehr ein Transporlgeschäft, um seine Aufgabe; recht zu erfüllen, einer
für weite Räume und lange Zeiten möglichst unwandelbar* gehenden
Maschine ähneln muss, mit gleich massiger Behandlung und Tarifirung
aller einzelnen Objecte: um so weniger bedenklich ist die Staats-
Unternehmung desselben. Daher man sie jetzt bei der Briefpost
überall für nothwendig hält, auch in den Ländern, wo der Anfang
des Postwesens durch privilegirte Privatep gemacht worden war.
(Bd. 111, §. 84.) Bei den Eisenbahnen hingegen ist weder aus der
Theorie noch aus der Erfahrung ein allgemeiner Grund zu entneh-
men, wesshalb der Staatsbetrieb technisch, wirthschaftlich etc. dem
Privatbetriebe nachstehen oder überlegen sein müsste. (Bd. 111, §. 85).
Der einzige sichere Unterschied besteht darin, dass jener der Staats-
gewalt, speciell der jeweiligen Regierung ein ganz neues, unberechen-
bar grosses, vom Landtage wegen der complicirten Schwierigkeit der
Tarife kaum controlirbares Gebiet politischen Einflusses (Ifthet: was
in Ländern einer zu geringen Regierungsmacht sehr wohlthätig, in
anderen ebenso gef^ahrlich sein kann. (Bd. 111, §. 86.) Merkwürdig
übrigens, wie die meisten Theoretiker, die für ein Eisenbahnregal
schwärmen, dabei im Hintergrunde an eine Ermässigung der Tarife
auf die Selbstkosten denken : womit also die finanzielle Bedeutung
dieses Regals völlig abgestreift wäre. (Bd. 111, §. 88.)*»)
widrige Massregeiung derselben zu politischen Wahlzwecken ! Eine Regierung^ die
sich dergleichen zu Schulden kommen l'assl, würde man, wenn sie zugleich die
Majorität auf dem Landtage beherrscht, kaum zur Verantwortung ziehen können.
iO) Ähnlich verhält es sich mit den Pferdebahn-, Gas- und Wasserleitungs-
geschäften in grossen Städten, auch den Docks in Handelsstädten : lauter Unterneh-
mungen, wo die Vorzüge des einheitlichen Grossbetriebes an Güte und Wohlfeil-
heit der Leistungen ebenso einleuchten wie schwer wiegen; die zum Theil sogar
eine freie Concurrenz nicht einmal gestatten. Da man derartige Monopole am
natürlichsten der Gemeinde überlässt, so würde zugleich der etwanige Miss-
brauch leicht durch eine unparteiliche Aufsicht von Seiten des Staates verhindert
werden. In England begünstigt die Tramway-Acte von 4 870 die Municipalisirung die-
ses Betriebes, der seiner Natur nach monopolisch ist, sehr viel Polizei erfordert und
mit wenig Kapital reichen Gewinn verheisst. Ähnliches gilt von den Gaswerken^
obschon 4 870 den 1S28 englischen Gas-Gompagnien mit 24 Mill. £ Kapital und 59
Öffenthchen Gaswerken im Privatbesitz nur 75 municipale gegenüber standen. Die
Gas-Acten von 1847 und 1860 haben das Publicum gegen die Monopolisten eigent-
lich nur durch die bedenkliche Vorschrift zu schützen versucht, dass keine Divi-
dende mehr als 4 0 Proc. betragen darf. Wassergesellschaften gab es damals etwa
4 30 mit 14 Mill. £ Kapital; daneben 4 04 municipale. Jenen hat der Staat den
176 WiLHELW ROSCHBB, [62
12.
C. In manchen Gewerbe- und Handelszweigen würde eine ganz
freie Privatconcurrenz gemeingefährlich sein. Von eini-
gen ist sogar überhaupt nicht zu wünschen, dass sie über die engste
Gränze des Unvermeidlichen hinauswachsen. Beides Rücksichten, die
an sich schon zur Regalisirung führen können, woneben dann aber
der Ertrag des Monopols für die Staatskasse gleichsam als Zuschlags-
prämie wirken mag. So rechtfertigt sich das Regal der Glücksspiele
als Versuch des Staates, ein gefährliches, aber wohl unausrottbares
Übel im Volksleben doch einigermassen zu beschränken, minder ge-
fährlich und für den Staatshaushalt nutzbar zu machen. Das fran-
zösische Schiesspulverregal will, ausser dem unter A. besprochenen
Grunde, einen Stoff, der in leichtsinniger, wohl gar verbrecherischer
Hand so verderblich ist, wenigstens einiger Überwachung durch den
Staat unterwerfen. Beim Dynamit empfiehlt sich derselbe Gedanke
um so mehr, als eine von freier Concurrenz herrührende Wohlfeil-
heit dieses Sprengstoffes doch selbst für den normalen Gebrauch nur
wenig Nutzen bringen würde ^). — Das wichtigste, zu dieser Gruppe
gehörende Regal betrifft die Münzprägung. (Bd. III, §. 48.) Um
ihren Zweck als allgemeines Tauschwerkzeug und Werthmass etc. zu
erfüllen, müssen die Münzen Jedermann das Vertrauen einflössen,
dass ihr Schrot und Korn aufs Genaueste dem Münzgesetz entsprechen.
Wäre die Prägung der freien Privatconcurrenz überlassen, so würden
selbst im günstigsten Falle unzählige Streitigkeiten über die Annahme
von Münzen, lästige Mühen und Sorgen des Nachwägens und Pro-
birens die Folge sein. Es ist aber eine der bestconstatirten That-
Zwang auferlegt, alle Bewohner ihres Bezirkes zu festem Preise nach Bedarf zu
versehen. (Quart. R. CXXXI^ 477 ff.) Für derartige Gemeindenionopole eigoen
sich besonders solche Unternehmungen, die nothwendige Producte liefern, eine vor-
zugsweise günstige Stelle erfordern, keine Concurrenz von anderer Gegend her zu.
fürchten haben, in besonders hohem Grade Zuverlässigkeit nach einheitlichem Plane
bedürfen, und deren Production sehr vergrössert werden kann ohne entsprechende
Mehrkosten. (1. c. p. 462.)
i) M. Chevalier möchte auch die besonders gesundheitsgefährlichen Indu-
striezweige, so lange sie dies sind, dem Staate vorbehalten. (Cours II, p. 429.)
Im höchsten Grade gehört in diesen Abschnitt das Opiumregal im britischen Ost-
indien (vgl. schon R. Ritter, Asien, VI, 782 ff.), das z. B. 1855/56 über 4871000
Pfd. St. einbrachte.
^3] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 177
sachea der Wirtbschaflsgeschichte, dass beim Aufhören des Munz-
regals bald eine Verschlechterang der Mttnzen einreisst, die nicht
bloss den Verkehr schrecklich beschwert, sondern auch die Volks-
Sittlichkeit um so mehr gefährdet, als ja die Münzen die Unterlage
fast aller Creditgeschäfle bilden. Wollte der Staat durch strenge
Überwachung der Privatmünzen dies verhindern, so würde er wahr-
scheinlich dieselben Kosten aufzuwenden haben, die jetzt aus seiner
eigenen Prägung erwachsen. Auch ist bei der Eigenthümlichkeit der
Prägarbeiten, namentlich der feinen, dazu erforderlichen Maschinerie
wenig Aussicht, dass die freie Concurrenz eine viel grössere Wohl-
feilheit bewirken sollte. Übrigens hat das Munzregal in den meisten
Ländern seinen fiscalischen Charakter ganz oder doch zum grössten
Theile verloren, in England schon seit mehr als zwei Jahrhunderten.
(Bd. III, §. 47.) Über die Bedeutung eines Papiergeldregals s. Bd. III,
§. 68. 70:
D. Endlich gibt es Gewerbe, deren Product sich zu fiscalischer
Vertheuerung, also zur Auflage einer indirccten Steuer, in ganz be-
sonderem Grade eignet; wo es aber kaum möglich scheint, in der
Lebensgeschichte gleichsam des Productes, von der Gewinnung des
RohstofiTes an bis zum Verkaufe an die Consumenten, ein Stadium
hervorzuheben, an welches sich der Steuerapparat ohne die grössten
Bedenken anknüpfen Hesse. Hier mag die Staatsmonopolisirung unter
Umständen als eine Steuerform bezeichnet werden, bei welcher die
§.10 erwähnten Übel so zu sagen den Hauptbestandtheil der Er-
hebungskosten ausmachen. Sind diese, verglichen mit dem Ertrage,
nicht, gar zu gross, so lässt sich der Monopolform manches nach-
rühmen: Bequemlichkeit der Erhebung, sowohl für die Pflichtigen,
denen die Zahlung erst dicht vor dem Genüsse abgefordert wird,
und eine fast beliebig genaue Werthtarißrung gewährt werden kann,
wie für den Staat; Sicherheit des Ertrages ; grosse Ausdehnungsfähig-
keit; dabei auch Freiheit von gewissen Schattenseiten der Concur-
renz (Fälschungen, Reclamen etc.). Es passen aber für eine solche
Monopolisirung wohl nur Waaren, deren Production sehr einfach, mehr
mechanisch als geistig und vorzugsweise auf Kapital beruhend ist ^) ^).
t) V. Stein, FinanzwisseDSchaft, 54 0.
3) Das russische Branntweinregal, das erst nach 4 85S mit einer Accise ver-
178 WlLBBLM ROSCHBR, [^^
Die Staatsgewei'be dieser vierten Art haben, wie alle übrigen,
sobald sie bedeutend geworden sind, das Üble, dass sie zwar in
glucklicher Zeit die Regierung stärken, nach Innen zu freilich mehr
durch vergrösserte Zahl ihrer Creaturen, als durch vergrösserte Festig-
keit ihrer Stutzen; dass sie aber z. B. nach einer kriegerischen Nie-
derlage den Begriff der Beute gegenüber einem siegenden Feinde in
gefährlichster Weise ausdehnen.
13.
Seinen vornehmsten Rechtfertigungs* , auch Entstehungsgrund
hat das Lotterieregal in den grossen wirthschafllichen und sitt-
lichen Gefahren des Glücksspiels, zu dem gleichwohl eine weit ver-
breitete, wie es scheint unausrottbare, jedenfalls lief gewurzelte
Neigung die Menschen treibt^). Je mehr bei Völkern, wie Einzelnen
der phantastische Leichtsinn und die mit ihm verbundene Trägheit
über die vernünftig beharrliche Strebsamkeit vorherrschen, um so
mächtiger pflegt diese Neigung zu sein : daher es vornehmlich die Halb-
rohen und die von der Hauptschattenseite hoher Kultur, dem trau-
rigen Gegensatze der Plutokratie und des Pauperismus, Bedrängten
tauscht wurde, rechtfertigte sich früher sowohl aus dem Grunde D wie C. Nie-
mand wird leugnen, dass der Branntwein im Allgemeinen ein sehr passender Gegen-
stand der Besteuerung ist. Bei der dünnen Bevölkerung, aber im grössten Theile
von Russland wäre eine hohe Accise schwerlich gegen Defraude zu schützen ge-
wesen. Und dass seit Aufhebung des Regals die Trunksucht in Russland furcht-
bare Fortschritte gemacht habe, scheint leider unzweifelhaft. Vgl. v. Haxthausen,
Studien II, 51 2 ff. Vorher gab es auf 26 MiU. Menschen nur etwa 4 0000 Brannt-
weinschenken, was Cancrin (Ökonomie der menschl. Gesellsch., 255) eine wahre
Wohlthat des Monopols nennt. Jetzt hat sich die Zahl der Schenken furchtbar ver-
mehrt, da selbst das Verbot, dass sich die Grundbesitzer für die Concessionirung
einer solchen bezahlen lassen, häufig umgangen wird. (Eckardt, Russlands ländliche
Zustände, 1870, S. 54. 23 4 fr.) Seit 4 870 scheint übrigens der Gonsum wenigstens
des versteuerten Branntweins wieder abgenommen zu haben. (A. Leroy-Beaulieu, Das
Reich der Zaren, übers, von Pezold, I, S. 375.)
4 ) Wie das römische Recht, so hatte auch das frühere Mittelalter die Glücks-
spiele verboten. Mit Thomas von Aquino beginnt jedoch eine müdere Ansicht;
daher z. B. Sixtus V. zu Gunsten eines Spitals Lotterien gegen eine Geldabgabe er-
laubte. (F. Endemann, Beitr. z. Gesch. der Lotterien, 4 882, S. 4 3. 24.) Im 4 6.
Jahrb. schildern viele Kanonisten den contractus sortiumj der z. B. gebraucht
wurde, um Ladenhüter doch an den Mann zu bringen. (35 fg.)
^S] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 179
sind, welche der Spielsucht huldigen^). Vom Hasardspiel unterschei-
den sich die Lotterien dadurch, dass bei ihnen die Grösse der Gewinne
und Verluste nicht aus der Spielthätigkeit selbst hervorgeht, sondern von
vorn herein bestimmt isL Bei der altern Art derselben, den Lotterien
im engern Sinne ^), besteht der Gewinn des Staates in den Procenten,
%) Nirgends herrscht eioe grössere Spiel wuth, als ia Java, bei Yoraehaien
wie Geringen. Man wettet selbst auf Kämpfe zwischen Heuschrecken, die mittelst
eines Grashalmes gereizt werden. (Vgl. St. Raffles, History of Java, II, 4 818.)
Von der Spielwuth der Germanen s. Tacit, Germ. 24; der vornehmen Leute im
neuem Polen: G. Forster, Schriften VII, 304. Ein klassisches Land hierfür ist
China (mein System, Bd. I, §. 174), wo arme Spieler wohl einen Zahn oder Finger
einsetzen. Hildebrand sah, dass ein solcher, der verloren hatte, sich mit Ölgetränkter
Baumwolle ein Loch in den Arm brennen liess. [R. um die Erde II, 4 93.) Oft, wenn
in einer chinesischen Spielhölle ein Unglücklicher zum Selbstmorde schreitet, lassen
sich die übrigen Spieler dadurch kaum stören ! Dies hängt damit zusammen, dass
hier auf der Leiter der bürgerlichen Gesellschaft die mittleren Sprossen so wenig
entwickelt sind : wie man ja auch bei uns oft sieht, dass Einzelne, die wegen
allzu grosser Concurrenz keine vernünftige Aussicht zu haben meinen, in ihrer
Verzagtheit auf Lotterieloose hoffen. Über die grosse Bedeutung der Lotterien in
Italien s. Bronn, Reisen (4 838) II, 145. Die tyrannische Oligarchie Venedigs
duldete geflissentlich Hasardspiele aller Art; lange Zeit ward auf dem Marcusplatze
Bank gehalten. (Dam, Hist. de Vönise V, 534.) So streng übrigens die päpst-
liche Censur war, so duldete sie doch Volkskalender, welche zum Lottospiel ver-
lockten, Mittel angaben, wie man fast sicher dabei gewinnen könne etc. (Nach
A. Stahr's Reisebriefen in der Bremer Zeitg. , 1846.) Auch die in Österreich
früher so beliebten Traumbücher grösstentheils auf Lottospieler berechnet. In
Frankreich unterschied Gh. Dupin (Deput. K. 2S. März 18^8) t\ spielsüchtige
und 65 besonnene Departements. Die Lotterieeinsätze betrugen 1826 durchschnitt-
lich hier 84 000, dort 2200000 Fr. Die spielsüchtigen waren zugleich die handels-
und gewerbereichsten, wo die meisten grossen Städte liegen (Paris, Lyon, Marseille,
Bordeaux, Lille, Strassburg), aber auch die meisten unehelichen Geburten, Findel-
kinder, Hausdiebstähle und schweren Verbrechen vorkamen. Im Österreichischen
Lotto wurden 1861 pro Kopf der Bevölkerung eingesetzt 18.5 Kr.; auf Nieder-
österreich allein kamen jedoch 1 Fl. 47.5 Kr. (Rau, F. W. I^ 343.).
3) Der Ausdruck: holländische oder Klassenlotterie ist unpassend, obschon
man früher allgemein glaubte, dass selbst das Wort loteria holländischen Ursprun-
ges sei. Nur die Eintheilung in Klassen, wodurch man die Zahlung der Einsätze
bequemer und die Aufregung des Spiels länger dauernd machte, die aber doch
nichts dieser Lotterieart Wesentliches ist, scheint in Holland aufgekommen zu sein.
Die älteste deutsche Klassenlotterie in Hamburg seit 1610. (Endemann a. a. 0.,
49 fg.) Vielmehr ist die älteste bekannte Geldlotterie (damals jedoch /o(/o genannt)
1530 vom Florentiner Staate unternommen worden. (Varchi, Storia Fiorent. XI,
366.) Die 1521 zu Osnabrück errichtete städtische L. war eine Waarenlotterie.
(Klock, De aerario II, C. 118.) Der französische Staat versuchte 1539 eine Geld-
Abhandl. d. k. S. Genellscli. d. Wissenscli. XXI. 43
180 Wilhelm Roscbbb, [66
welche die Spieler von ihren Gewinnsten, deren Gesanimt betrag dem
Gesainmtbelrage der Einsätze gleich zu sein pflegt, abgeben müssen; bei
der Jüngern^) Zahlenlotterie (Lotto) darin, dass die Wetten auf das
Herauskommen gewisser Nummercombinationen unter der Wahrschein-
lichkeit bezahlt werden.'*) — Ein volkswirthschafllicher Nutzen der
Lotterien wird sicher nur von Wenigen angenommen. '•) Unschädlich
lotterie. (Delamarre, Tr. de la Police III, 4, Gh. 7.) Als Ludwig XIV. 4 660
eine solche wieder errichtet hatte^ wurden 166 4 und Öfter aUe Privatlotterien ver-
boten. Englische Klassenlotterie seit 4 694.
4) Das Lotto scheint von Staatswegen zuerst in Genua 4 620 eingeführt zu
sein, nachdem es schon lange vorher üblich gewesen war, bei den Wahlen zum
grossen Rathe, wo aus 90 Namen je 5 erloost wurden, auf das Herauskommen
gewisser Candidaten zu wetten. So hatte 4 562 Pius IV. die sponsiones in eliyendis
ecclesiai'um praelatis verboten. (Endemann a. a. 0 , 73 fg.) Ausserhalb Italiens
sind die LoUos nicht vor der Mitte des 4 8. Jahrh. nachgeahmt worden: 4 752 in
Wien, 4 763 in Berlin. Bis 4 774 in Deutschland zusammen 29, vom Staate ent-
weder selbst betrieben, oder verpachtet. Eine Wochenschrift: »Lottologie .oder
kritische Beiträge zur Lotterielehre«, 4 770 und 74, hat im I. Bande sogar zwei
Auflagen erlebt.
5) Bei der franzÖ.sischen Lotterie betrugen 4 792 — 4 858 die Gewinnste durch-
schnittlich 72,27 Proc, die Verwallungskoston [darunter fast ^y^^ für die Einnehmer)
8,82, der Keinertrüg für den Staat 4 8,94 Proc. Das Maximum der ausbezahlten
Gewinne 4844 = 90, das Minimum 4820 = 64,56 Proc. Der Reinertrag 4846
—28 durchschnittlich 4 4,25 Mill. Fr. In Preusscn behält der SUat 4 3^« Proc.
der Einsätze und im Etat für 4 884/82 war der Reinertrag zu 4023400 Mk. an-
gesetzt; in Hannover bei Gewinnen unter 4 000 Thlr. 4 0 Proc, bei höheren 4 2 Proc.
Bei den jetzt üblichen Ausslellungslotterien scheinen 50 Proc. Verlust der Spieler
gewöhnlich zu sein. (Endemann, 79.) Im Lotto ist z. B. die Wahrscheinlichkeit
einer Terne = 4 : 4 4 748, die einer Quaterne = 4 ; 54 4 038. Jene ward aber
in Bayern nur mit dem 5400 fachen, in Osterreich mit dem 4800 fachen bezahlt;
diese mit dem 60000 — 64500 fachen. Freilich kam es z. B. in Bayern 4 852/53
vor, dass alle Einsätze = 4 0592580 Fl. betrugen, alle Gewinnste = 4 0547549 Fl.;
wesshalb der Staat einschliesslich der Verwaltungskosten Schaden hatte. (Rau,
F. W. I, 342.) Auch das Berliner Lotto hat einmal in 7 Quartalen 92000 Thlr.
Verlust gehabt. (Endemann, 75.)
6) Die Ansicht, dass eine Lotterie zu Ersparnissen führe, insofern die kleinen
Einsätze vom Einkommen bestritten, die grossen Gewinnste aber zum Vermögens-
stamme geschlagen würden (Bernouilli, Schweiz. Archiv Ifl, 4 42.): steht im
Widerspruch mit der alten Erfahrung: Wie gewonnen, so zerronnen! Als in
Frankreich die Lotterie aufgehoben war, empfing die Pariser Sparkasse während
des nächsten Januars nachher 525000 Fr. mehr Einlagen, als im letzten Januar
vorher (M. Mohl, Ge werbe wissensch. Reise, 35.) Im Brüsseler Leihhause nahm
4 829 nach Abschaffung des Lottos während der nächsten 5 Monate die Zahl der
^7] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 181
ist die Lotterie für solche Spieler, die Zeit genug haben, sich diese
Unterhaltung zu gönnen, und Geld genug, sie zu bezahlen. Leider
spielt aber die grosse Mehrzahl nicht um der Unterhaltung willen,
sondern aus einer, überdies noch sich selbst täuschenden, Gewinn-
absieht:^) Personen folglich, welche entschieden besser thüten, nicht
mitzuspielen.^) Solchen schadet die Lotterie mehr noch mittelbar
und geistig, als unmittelbar und pecuniär: indem sie nur zu leicht
an die Stelle des Fleisses und der Sparsamkeit eine trügerische Hoff-
nung, eine den Sinn benebelnde Zahlenmystik setzt, überhaupt zur
Spielwuth verführt. Der Spielteufel knechtet seine Opfer mit ganz
besonders verstrickenden Banden!^) Es ist darum begreiflich, wenn
sich in neuerer Zeit die »aufgeklärte öffentliche Meinung« so oft für
Abschaffung der Staatslotterien ausgesprochen hat^^), und England
versetzten Pfänder um 7837 ab, die Zahl der wieder eingelösten um 3609 zu,
vei^lichen mit der entsprechenden Zeit des Jahres vorher. (Foreign Quart. Rev.,
No. XXIX.) Wenn L. v. Stein Lotterien, wo nur um den Zins der Einsätze gespielt
wird, als Sporn zu Ersparnissen rühmt (Finanzwissensch., t\i), so kann das nur
für das kleine Gebiet der Staatslotterieanleihen Geltung haben.
7] Spielen Manche, um »sicherer« zu gehen, lieber % Loose, als ein ganzes :
so wird dadurch eben nur ihr Verlust wahrscheinlicher. Wer alle Loose nähme,
der würde zwar alle Gewinne beziehen, aber von seinem wieder empfangenen
Einsätze ganz sicher die Abgabe an den Staat, sowie die Verwaltungskosten ab-
gezogen sehen.
8) Im C. Waadt wurden früher von 2007 Loosen 4 64 an Reiche, 909 an
Personen mittlem Vermögens^ aber 934 an »Arme, Falliten und Unterstützte« abge-
setzt. (N. Verhandl. der Schweizer gemeinnütz. Gesellsch. (1829) V, 353.)
9] In einem englischen Dorfe, wie 4 819 im Unterhause erwähnt wurde,
bestand ein Wohltbätigkeitsclub für Alte und Sieche. Plötzlich gewann ein Bauer
3000 £ in der Lotterie; und alsbald flog jener Wohlthätigkeitsclub auf, ein Lot-
terieclub entstand, viele Personen versetzten ihre Möbeln, ja ihr Bettzeug, um nur
spielen zu können. (Maccutloch, Taxation, 34 3.) »Hexengold, das der Hölle
zollt!« (Schiller.)
4 0) Nachdem in Frankreich der Kanzler Poyet, der freilich auch alles Ver-
mögen der Unterthanen dem Könige zusprach, 4 539 die Lotterie als Nachahmung
von vielen »berühmteno Städten, und um den Unterthanen einen würdigem Zeit-
vertreib zu geben, empfohlen hatte (Sismondi, Hist. des Fr. XVII, 63 fg.), meinte
Bornitz von den Lotterien : nee suadeo, nee dissuadeo. (De aerario, 4 64 2^ II, 4.)
Latherus, De censu (4648) III, 45 und M. Faust, Gonsilia pro aerario (4644),
p. 204 missbilligen sie als Finanzquelle. Busch nennt sie eine Finanzmissgeburt^
von der man am Ende des 4 8. Jahrh. in keinem europäischen Staate mehr wissen
werde. Auch Beckmann, Beitr. z. Gesch. der Erfindungen (4 805) V, 309 tf.
tadelt diese »schnöde Einnahme« aufs Entschiedenste. Stahl, Siebzehn parlament.
13*
182 Wilhelm Röscher, > [68
(1826), Hessen-Darmsladt (1832), Frankreich (1836), Bayern (1861)
praktisch diesem Rufe gefolgt sind. — Freilich übersieht man bei
solchem Extrem zwei wichtige Punkte, einen polizeilichen und einen
finanziellen. So lange sich die Menschen selbst nicht gründlich bes--
sern, wird die noch fortdauernde Spielsucht nach Wegfall der Staats-
lotterien andere Befriedigungsmittel suchen: ausländische, private
Lotterien, geheime Glücksspiele, bei denen es vielleicht unehrlich zu-
geht, und die zugleich mit einander wetteifern, durch immer neue
Formen die Spiellust immer stärker zu reizen.") Ebenso hat der
Gedanke viel Ansprechendes, eine nicht lobenswerthe, obschon auch
nicht verbrecherische Neigung der Menschen wenigstens zu einiger
Gemeinnützlichkeit durch Besteuerung anzuhalten. ^^) ") Jedenfalls sind
Reden, 1862^ S. 37(1. erinnerl emphatisch daran, wie in derselben Paulskirche
zwei so verschiedenartige Versammlungen, die Nationalversammlung von 1848 and
der evangelische Kirchentag von 1854 (Referent KaplT), einstimmig die Abschaffung
der Spielhöllen etc. gefordert haben.
H) In Neapel wurde 1687 das Lolto aus sittlichen Gründen aufgehoben,
jedoch 1713 wieder hergestellt, weil das Volk inzwischen immer in ausländischen
.\nstalten gespielt hatte. Aus demselben Grunde sah man sich 1734 veranlasst,
ebenso viele Ziehungen, wie in Rom, einzurichten. (Galanti, N. Descrizione II,
C. 16.) Papst Benedict XIII. halte das Lottospiel noch mit dem Banne belegt;
sein Nachfolger aber 1730 selbst ein Lotto errichtet, als seine Unlerthanen durch
die schwersten Strafdrohungen mit Brieferbrechen etc. nicht abgehalten werden
konnten, in fremden Anstalten zu spielen. (Justi, Polit. und Finanzschriften III,
262.) So hat auch Frankreich die 1793 abgeschaffte L. 1797 wieder hergestellt.
In England sollen seit Aufliebung der Lotterie die Wetten bei Pferderennen etc.
sehr zugenommen haben. Wie in Nordamerika bei Hahnenkämpfen wohl 14000
Doli, verwettet werden, s. Hesse- Wartegg, Missisippifahrten, 247.
12) Schon viele Kanonisten hatten das Spielen zu wohlthätigem Zwecke für
etwas gut Christliches erklärt. (Endemann ^ 64.) Die Lotterien des 16. Jahrh.
verfolgten oftmals solche Zwecke: so die englische L. 1569 für die Marine, 1612
für die amerikanischen Kolonien. Die holländischen L. seit 1549 für Waisen-
häuser, Gerontokomien etc. Leibniz empfahl L., um gelehrte Gesellschaften darauf
zu fundiren. (Opp. ed. Dutens V, 533. Guhrauer II, 197.) Noch J. Moser für
wohltbätige Zwecke , für die es keine regelmässigen Deckungsmittel gibt. (Patr.
Phant. I, 27.) Der Österreichische Lottopächter musste 1777 5 Mädchen aus-
steuern, deren Name zugleich mit den Nummern gezogen war; 1778 statt dessen
eine Abgabe von 12000 Fl. zu mildem Zwecke liefern. (Mailath, Österreich.
Gesch. V, 82.) Wenn es wahr wäre, dass 1757 das einem Italiener für 187000 Fl.
verpachtete Lotteriemonopol eigentlich auf Privatrechnung des Kaisers Franz ge-
gangen (Nicolai, Reise III, 273), so wäre das freilich zu dem Obigen der schroffste
Gegensatz.
69] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 183
die verschiedenen Arten des Gluckspiels in sehr verschiedenem Grade
bedenkiich. Je kleiner die Einsätze, je mehr das Spiel durch Grösse
der Gewinne, Häufigkeit der Ziehungen etc. den Spieler geistig be-
schäftigt, je mehr der Unternehmer dabei profitirt: um so schädlicher
eine Lotterie. Also das Lotto am schädlichsten. ^^)
Ähnlich zu beurtheilen, wie die Lotterien, sind die staatlich er-
laubten, wohl gar verpachteten Spielhäuser, die neuerdings be-
sonders in Hauptstädten und Badeörtern eine grosse Bedeutung er-
langt haben. Nur waren hier die Schattenseiten zwar local beschränkter,
wie denn manche Staaten sowohl ihren Beamten, als auch der nie-
dern Klasse ihrer Unterthanen den Besuch ihrer Spielhäuser verboten
\3) J. Moser, Palr. Ph. I, 27 erinnert an die Bordelle, die ja auch, ist
die Unzucht einmal unausroUbar, wenigstens ihre Verbindung mit Diebstahl und
anderen Verbrechen hindern, zur Einschränkung der Syphilis dienen und besteuert
werden können. Freilich hinkt das Gleichniss insofern, als die Hurerei immer
sündlich ist, das Glücksspiel doch nur unter gewissen Voraussetzungen. (Im
M. Alter könnte man übrigens hier und da wirklich auch von einem liurenregal
sprechen; wie denn z. B. die Ölfentlichen Dirnen wohl Hübscherinnen (von »hö-
ßschct) courtisanes, cortesanasj cortigiane heissen, unter dem llofmarschall stehen etc.
Vgl. Maurer, Gesch. der Frohnhöfe II, 34.3.)
M) Vgl. Peliti di Roreto, Del giuoco del Lotto. (1853.) Das bayerische
Lotto hatte früher 36 Ziehungen jährlich!
15) In Frankfurt a. M. bestand von 1379— U32 eine Spielbank für Würfel-
spiel, von der Stadt verpachtet und besonders auf die Messen, aber auch wohl
einnaal auf den Reichstag berechnet. Ihr Ertrag scheint gegen 3 Proc. des durch-
schnittlichen Stadteinkommens gewesen zu sein. (Kriegk F*s. Bürgerzwiste etc.,
S. 344 IT.).
16) Vor Aufhebung der Pariser Spielhäuser gab es daselbst in 7 Anstalten
9 Tische für Roulette, 6 für Trente et un und 2 für Creps; und es fand sich,
dass von den 204 monatlichen Abrechnungen dieser Tische 1837 nur 17 dem
Unternehmer Schaden brachten. Er gewann in diesem Jahre 9288581 Fr. und
verlor 809486. Ist es für den Staat wohl anständig, eine so blinde Leidenschaft
seiner Unterthanen oder Gäste auszubeuten? Auch hier die meisten Verluste der
Spieler bei den niedrigsten Einsätzen : bei einem Tische, wo nur um Gold gespielt
werden durfte, 7 Monate Gewinn, 5 M. Verlust der Bank. Der Staat erhielt für
seine Licenz 5Y2 Mill. Fr., dazu noch über 1341000 Fr. für die Stadt Paris, so
dass die Unternehmer 262848 Fr. Proüt über ihre BetriebvSkosten und Gautions-
zinsen hatten. (Macculloch, Taxation, 315.) Unter Napoleon I. war der Ertrag
der Spielpacht, = 3400000 Fr. , für die geheime Polizei verwandt worden.
(Thibaudeau VIII, 364.) In Baden-Baden zahlte die Spielbank 1858/9 127400 Fl.
Pachtzins, der alsdann für Gebäude, Anlagen, Freibäder an Ort und Stelle, zum
Theil auch zur Unterstützung anderer BadeÖrter verwandt wurde. (Bau, F.-W. I, 348.)
184 Wilhelm Röscher, [70
haben; sonst aber noch schlimmer, als selbst beim Lotto. Es ist
daher als ein segensreicher Fortschritt zu betrachten, dass in Deutsch-
land seit 31. December 1872 keine öfifentlichen Spielbanken mehr
bestehen dürfen.
14.
Der Tabak ist so unzweifelhaft ein Luxusartikel, dessen Ver-
theuerung zu Gunsten der Staatseinnahme kein eigentliches BedUrfniss
schmälert, und doch zugleich von so ausgedehnter, wachsthumsfähiger
Consumtion, dass der heute so übliche Ausdruck von seiner grossen
»Stcuerkraft«, wenn auch an sich unpassend mythologisch, doch ganz
erklärlich istJ) Gleichwohl stösst jede bisher angewandte Form,
ihn einer hohen Steuer zu unterwerfen, auf die grössten Schwierig-
keiten. 2)
A. Erhebt man die Steuer als Flächensteuer bei den Roh-
producenlen, etwa so, dass sie die mit Tabak zu bestellenden Grund-
stücke anmelden und dann einen, je nach der Bodengüte abgestuf-
ten Zuschlag zur Grundsteuer bezahlen: so ist zwar die Controle
wegen der Offenkundigkeit leicht, aber wegen der grossen Verschie-
denheit der Ernten nach Menge, Güte und Preis, eine irgend hohe
Besteuerung unmöglich. ^)
\) »Kein Genussmiltel von gleicher Entbehrlichkeit ist so stark begehrt. Sein
Consum deutet auf besonders steuerkrUflige Einkommenstheile. Die Steuer gewährt
grossen und ziemlich sichern Ertrag». (Schaffte, Grundsätze der Steuerpolitik,
432.) In Frankreich wurde ^860 der ordinäre Rauchtabak von 7 auf 9, <872
auf tt,5 Fr. erhöhet, andere Sorten dem entsprechend; und jedesmal war der
Rückschlag im Verbrauch ein ganz vorübergehender. Seit 1872 hat der Gesa mmt-
ertrag um über 60 Mill. Fr. zugenommen. Leroy-Bea ulieu empfiehlt eine
hohe Belastung des T. namentlich auch damit, weil derseU)e keiner andern In-
dustrie dient und dem Consumenten gar nichts nütze, vielen Anderen sogar lästig
sei. (Sc. des F. I, 673 ff.).
2) Schon Malchus, Finanzwissenschafl und Finanzverwaltung I, 339. 345
meint, dass die Monopolisirung der Fabrikation und des Debils mit Ausschluss der
Freiheit des Tabaksbaues der einzige Weg sei, aus der Besteuerung der T. con-
sumtion ein bedeutendes Einkommen zu ziehen. Auch Rau, kein Freund des
Monopols, stimmt dem wesentlich bei: Finanzwissensch. 11, 440.
3) Preussen vertauschte die seit 4 819 bestehende Gewichtsteuer 1828 wegen
der vielen Klagen über die Controle mit einer Flächenst. in 4 Klassen : 6, 5, 4
oder 3 Thlr. pro Morgen. Die Zahlung erfolgte, wenn die Hälfte der vorjährigen
*^J Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 185
B. Wenn man dagegen die Rohproducenten nach dem Gewicht
ihrer Ernte besteuert, (natürlich, ebenso wie in den Fällen A. und C, mit
entsprechender Zollbelastung des vom Auslande kommenden Tabaks),
etwa im trocknen oder formentirten fabrikreifen Zustande, so kann
die Steuer zwar hoch sein.^) Zur Controle muss aber den Tabaks-
bauern vielfach ein peinlicher Zwang auferlegt werden.^) Die so sehr
verschiedene Güte des Rohstofles bleibt von der Gewichtsteuer
unbeachtet: was eine harte Mehrbelastung der ärmeren Consumenten
bedeutet. •) Ebenso ist die Nothwendigkeit eines langen Steuervor-
schusses hier zwar der Zeit nach etwas kürzer, als bei der Flächen-
steuer, kann auch statt des Pflanzers auf den Fabrikanten übertragen
werden '); sie ist aber wegen des höhern, möglicherweise sehr hohen
Betrages der Steuer hier noch weit lästiger, kann sogar das Mit-
Ernte verkauft war, oder spätestens bis Ende Juli. Bei Misswachs natürlich Nach-
lässe. Der Ertrag war 1856 — 58 durchschnittlich nur H&HiThlr. Die Pflanzer
mit weniger als 6 Q. Ruthen Tabaksfeld [nach einer amtlichen Denkschrift etwa
4 20000) blieben steuerfrei. Dieses preussische System wurde mit der Ausdehnung
des Zollvereins auch von Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Oldenburg, Luxem-
burg angenommen und 4 867 auf die anneclirlcn Provinzen ausgedehnt; ist dann
auch in dem Ges. vom 26. Mai 4 868 für den ganzen Zollverein im Wesentlichen
beibehalten.
i) Die badische Accise erhob 4 84 2 — 4 84 8 vom Ctr. beim Verkaufe nur
24 Kr. und 6 Kr. Wagegeld. Dagegen das deutsche Reich von je 4 00 Kilogr.
20 Mk. (4880), 30 Mk. (1881), von 4882 an 45 Mk.
5) Das deutsche Gesetz vom 4 6. Juli 4 879 zwingt die Tabaksbauer zur Pflan-
zung in geraden Linien und gleichen Abständen ; das Köpfen und Ausgeizen muss vor
Erhebung der Blätterzahl durch die Feldcontrole beendigt sein, alle vor der Ernte
stattfindenden Abrälle vernichtet werden. Den Bauern ist die Mischung der Tabaks-
kultur mit anderen Pflanzen (§. 22], den Fabrikanten die Benutzung von Surro-
gaten untersagt (§. 27.) Die Trockenböden werden von der Steuerbehörde über-
wacht (§. 4 0.) Was bei der wirklichen Verwiegung des Rohstoffes an der von
der vorräutigen Feldcontrole festgestellten Blätterzahl und Gewichlmenge fehlt,
muss gleichwohl versteuert werden, falls nicht der Abgang vorschriftsmässig ge-
rechl fertigt ist (§. 6. 9.)
6) Wenn der inländische Tabak einschliesslich der Stängel zwischen 7 und
90 Mk. pro Ctr. kostet (Hirths Annalen 4 879, 457), so würde eine Steuer von
28 Mk. für den schlechtesten Tabak 400 Proc. betragen, für den besten nur 34 Proc.
Der ausländische Rohtabak schwankt sogar zwischen 4 4 und 368 Mk. nach der
Reichs-Enquöte.
7) In Frankreich 4 797 den Fabrikanten eine Steuer von 40 Cent, pro
Kilogr. der eingekauften Blätter aufgelegt.
186 Wilhelm Röscher, [72
werben der minder kapitalreichen Fabrikanten fast unmöglich machen.^
Übrigens enthalt jede sehr hohe Besteuerung des Rohstoffes bei sonst
freiem Verkehr einen starken Reiz zu Fälschungen.
C. Die Besteuerung des fertigen Fabrikats würde bei den Klein-
händlern wegen der unendlichen Zersplitterung des Geschäftes kaum
durchzufuhren sein^), auch wohl eine Gontrolirung der Fabriken vor-
aussetzen, die kaum geringer wäre, als wenn die Steuer bei den
Fabrikanten selbst erhoben wird. Diese letztere Form der Fabri-
katsteuer, in Russland ^^) und Nordamerika dadurch erhoben, dass
alle Tabaksfabrikate nur in gestempelten Hüllen, die nicht ohne Zer-
störung der Stempelmarken zu öffnen sind, die Fabrik verlassen dürfen,
hat manche Vorzüge. Die Qualität der Waare kann etwas mehr be-
rücksichtigt werden, als beim Systeme B., da sich wenigstens Cigarren,
Cigarretten, Schnupf-, Rauch- und Kautabak leicht unterscheiden las-
sen. **) Die Zahlung der Steuer liegt dem Consum näher. Dagegen
unterwirft sie, wenn Defrauden wirksam verhindert werden sollen,
die Fabrikanten, die beim Systeme B., ebenso wie die Händler, ziem-
lich ungefesselt waren, einer im höchsten Maasse drückenden Con-
trole, ohne gleichwohl die Rohproducenten davon zu befreien. Das
8j Beim Schnupftabak kann der Verarbeitungsprocess Jahrelang dauern.
Übrigens würde eine massige Gewichtsteuer zur Controlc der auf die Rohstofllager
der Fabrikanten gebrachten Vorr'athe ein sehr gutes Hüifsmittcl zur Sicherung der
Fabrikatsteuer sein.
9) Eine bedeutende Menge namentlich von Cigarren kann ja auch mit Um-
gehung des Krämers von den hausindustriellen Arbeitern selbst verkauft werden.
\0) Schon Napoleon hatte dies System in dem Decrete vom 4 6. Juni 4 808
(Art. 4 4 fg.) versucht. Nach seinem russischen Nachahmer, Graf Cancrin (Öko-
nomie der menschl. Gesellschaft, 252} »führt sich das Mittel der Banderolle, auch
bei Karten gebräuchlich, gut durch«. Da indess zur Bequemlichkeit der Steuer-
behörde jene gestempelten Hüllen nur in grossen Quantitäten verkauft werden, so
ist der Grossbetrieb ungemein begünstigt. Die Händler dürfen nur aus den paten-
tirten Fabriken beziehen und nur in ganzen Packeten oder Kisten ohne Verletzung
der Banderolle verkaufen.
4 4) Sowohl Russland, wie die V. Staaten haben sich genöthigt gesehen, die
versuchte Qualitätstaritirung wieder fallen zu lassen. Wenn Hirt h (Annalen 4 873,
752fr.) eine Werthsteuer der Tabaksfabrikate empfiehlt, so wird dabei u. A. eine
Verpflichtung aller inländischen Rohproducenten und Importeurs vorausgesetzt, die
Übereinstimmung der Factura -Werthdeclarationen mit den wirklichen Ankaufs-,
resp. Einkaufspreisen an Eidesstatt zu bescheinigen!
73] Vebsuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 187
DordaDierikaDische System*^), auch nach der Reform von 1868, mit
seinen zahllosen harten Strafen, seiner beständigen, durch Angeberei
verstärkten Inquisition, wäre dem Schreckenssystem eines Belagerungs-
zustandes zu vergleichen, wenn nicht die von ihm Betroffenen ihren
Beruf, der sie beinahe zu kurz gehaltenen, unsicher besoldeten Staats-
beamten macht, freiwillig erwählt hätten und beibehielten. So demo-
kratisch die Tabaksteuer dort eingerichtet ist, so beschränkt sie die
pei*sönliche Freiheit kaum weniger, als die Monopol Verfassung der
absolutesten Monarchie dies thun würde. '^)
12) Ganz anders in Württemberg 1812 — 28, wo nach Aufhebung des Tabaks-
regais den Fabrikanten und Händlern eine Steuer von zusammen nur 40000 Fl.
auferlegt, und diese nach Fassionea über ihren Absatz, späterhin nach einer Klas-
seneinschätzung ihres muthmasslichen Absatzes umgelegt wurde. (Rau, F. W.
II, §. 440.)
1 3) Alle Tabakshändler und Fabrikanten müssen eine jährlich zu erneuernde
Licenz in Stempelmarken lösen, die hernach kassirt im Geschäftslocale sichtbar
sind. Wer ohne Licenz sein Geschäft anfängt oder fortsetzt, verwirkt Geldstrafe
bis 500 Doli, oder Gefängniss bis zu einem Jahre. Die Namen der Licentiirten,
ebenso wie der registrirten Cigarrenarbeiter sind bei der Steuerbehörde ausgehängt.
Wer einen nichtregistrirten Cigarrenroacher beschäftigt, zahlt pro Tag 5 Doli. Strafe.
Die Tabakspflanzer dürfen nur an licentiirte Personen verkaufen. Jeder Fabrikant
muss eine genaue Beschreibung seiner Fabrik einreichen, deren Genauigkeit u. A.
dadurch controlirl wird, dass für die Anmeldung der Maschinen elc. ein Gertiticat
der Steuerbehörde jederzeit im Fabrikiocale ausgehängt sein muss. Jede Fabrik
muss bei iOO — 300 D. Strafe durch ein Schild äusserlich bezeichnet sein.
Der Fabrikant hat jährlich ein neues Inventar seiner Yorräthe aller Art einzu-
reichen, in der vorgeschriebeneu Form täglich über alle Käufe, Verkäufe, Ver-
sendungen Buch zu führen und monatlich einen Auszug daraus einzuliefern : bei
Strafe von 500 — 5000 D. Geld und 40 Monaten bis 3 Jahr Gefängniss. Eine
Caution von 2000 — ^0000 D. ist von jeder Fabrik zu bestellen: wer vorher Tabak
fabricirl, wird mit «000 — 5000 D. und \ — 5 Jahren Gefängniss bestraft. Selbst
die hausindustriellen Cigarrenarbeiter sind zu 500 D. Caution verpflichtet. Wer
Tabak in anderer als der gesetzlichen Verpackung feilbietet, hat 4 00 — 5000 D. und
6 Monate bis 2 Jahre Gefängniss verwirkt. Wer die Adhibirung der Etikette
unterlässt oder die Etikette unbefugt abnimmt, zahlt 50 D. für jedes Päckchen.
Jeder Tabakspflanzer, Rohtabakshändler oder Verkäufer anderer zur Tabaksfabri-
kation dienlichen Materialien muss bei schwerer Strafe der Steuerbehörde auf Ver-
langen anzeigen^ an wen und zu welchem Betrage er verkauft hat. Auch die
Käufer der Fabrikate werden zur Gontrole herangezogen: wenn sie von einem
Fabrikanten kaufen, der seine Steuer nicht bezahlt hat, so wird die gekaufte
Waare confiscirt und sie selbst in 100 D. Strafe genommen. Das vom Steuer-
beamten zu führende Kataster, das nicht bloss die Inventare, sondern auch die
monatlichen Buchauszüge aller Fabrikanten enthält, muss Jedermann zur Einsicht
188 Wilhelm Röscher, [74
D. Das englische Verfahren, den Tabak nur mit einem Ein-
fuhr zolle zu belegen, hängt zusammen einerseits mit der frUhern
Kolonialpolitik ^^), andererseits mit der bloss maritimen, also leicht zu
bewachenden Gränzlinie Englands. Man kann eben darum die Steuer
sehr ausgiebig machen, auch die Qualität der Waare berücksichtigen,
wenn die Einfuhr auf wenige, mit ausgezeichneten Kennern besetzle
Zollstätten eingeschränkt wird. Dagegen hat dies System den grossen
Nachtheil, dass jeder inländische Tabaksbau verboten sein muss. ^^)
Ein Tabaksregal besteht gegenwärtig in Frankreich, Öster-
reich, Spanien, Portugal, Italien und Rumänien. ^^') In Preussen ist
oö'en liegen. Dabei werden fast alle Erklärungen über steuerliche Verhältnisse
beschworen. Man sieht, wie hier die Grundsätze der Selbstdeclaration, der Selbst-
besteuerung (durch Stempelmarken] und der Controle durch ÖfTenUichkeit mit einer
sehr geringen Beamtenzahl doch ein äusserst wirksames System bilden. Vgl. Fel-
ser in Hirth's Annalen, 4878, 300 ff.
1 4) Sollten die tabakbauenden Kolonieen ihre Gewerbe- und Handelsbedürf-
nisse ausschliesslich vom Mutlerlande beziehen, so schien es billig, ihnen für ihre
Rohproducte einen entsprechenden Vortheil zu gewähren.
15) Nachdem noch Jacob I. allen Tabaksgenuss verboten hatte, führte Karl I.
ein Regal des Tabakhandels ein. [Rymer Foedera XIX, 554. Anderson, Ori-
gin of commerce^ a. 1634.) Der inländische Anbau (auch für Irland) 1652 und
4 660 untersagt. Während des Krieges mit Nordamerika wurde 4 779 das Verbot
für Irland suspendirt, 178'i aber auch auf SchoUland ausgedehnt und 1831 in
Irland wiederhergestellt. Übrigens ist im V. Kgr. der Tabaksschmuggel sehr be-
deutend, obwohl in einem 7meiligen Gränzbezirk keine Tabaksfabrik geduldet wird.
Nach Macculloch soll in England über */4 , in Irland sogar bis ^4 ^es Tabaksver-
brauches eingeschmuggelt worden sein. Auch über Fälschungen sehr geklagt: von
857 Sorten, die 1871/73 untersucht wurden, fand man 479 durch Zusätze von
Sand, Eisenoxyd, Schwefel etc. verfälscht. (Bericht der deutschen T.-Enquete-
Gommission V, Drucks. Sl, S. 8.)
16) Frankreich hatte seit 1629 einen Einfuhrzoll von 30 Sous pro Pfund,
seit 1674 das Regal, das verschiedenen Compagnien nach einander, später den
Generalpächtern, verpachtet wurde. (Forbonnais F. de Fr. 1, 213. 537; vgl.
Bulletin de statistique et de legislation comparee, Fevr. 1877.) Kurz vor der
Revolution war der Reinertrag 30 Mill. Livres. Statt des Monopols 1791 wieder
ein Einfuhrzoll, 1797 daneben eine Fabrikabgabe, die aber trotz der von Napoleon
verschärften Controle nur gegen 18 Mill. Fr. einbrachten. Daher vom 1. Juli
1811 an wieder Regal. Der Minister bestimmt jährlich den Bedarf an inländischem
Tabak, wie viel davon auf jedes Departement und Arrondissement kommen soll, die
Baufläche und die Eintösungspreise. Eine erste Inventur erhebt die Zahl der
Pflanzen, eine zweite die der brauchbaren Blätter. Bis 1 . August muss aller Tabak
entweder an die Behörde abgeliefert^ oder ausgeführt, oder zum Zwecke der Aus*
75] Versuch einbr Theorie der Finanz-Regalien. 189
es wiederholentlich versucht, doch jedesmal, und zwar unter grossem
Beifall der öffentlichen Meinung, wieder aufgegeben worden.") In
keinem der obigen RegallSinder hat man die grossen Schattenseiten
der Monopolisirung vermeiden können. Eine blühende, wahrhaft ex-
portfähige Industrie konnte sich mit dem Monopole nicht vertragen. ^®)
fuhr amtlich gesperrt sein. (v. Hock, Finanzven^'altuog Frankreichs, 340 IT.) — In
Österreich datirt das Regal von 4 670. Erst dem Land-Jägermeister übergeben,
welcher das kais. Jagdgeräth davon erhallen musste. Später verpachtet^ bis der
Staat 1784 Fabrikation und Verkauf in Regie nahm. Seit 4 834 sind die Geschäfle
vertheilt zwischen einer T. Fabrikdirection, die bloss das Technische besorgt, und
den Provinzial-Finanzbehörden, welchen der Vertrieb, Schutz gegen Schmuggler
etc. zusteht. Seit 4 854 ist auch Ungarn dem Monopole unterworfen. Der Tabak,
der nur in die Regierungsmagazine geliefert oder ausgeführt werden muss, wird
in 25 Staatsfabriken verarbeitet, dann aus 69 Niederlagen an 506 Hauptverleger,
weiterhin gegen 70000 Klein verschleisser (in Frankreich nach v. Hock über 33300
mit 4 0 — 4 2 Proc. Gewinn) abgegeben, denen ein bestimmter Preis vorgeschrieben
ist. Der Gewinn jener beträgt 4^2 Proc, dieser t — 4 0 Proc, je nachdem die
Sorte mehr oder minder gangbar. Viele Pensionäre, Wittwen etc. mit solchen
Stellen versorgt. Vgl. v. Plenker, Das österr. Tabaksmonopol (4 857). Portugal
führte das Tabaksregal 4 674 ein (Schafer, Portug. Gesch. V, 92 fr.), Spanien 4 730
(Bourgoing, Tableau H, Off.). Das italienische (seit 4 865) hat in Venedig schon
seit 4 657, bald nachher im Kirchenstaate Vorläufer gehabt. Rumänisches Regal
seit 4 865.
4 7) In Preussen hatte schon Friedrich Wilhelm I. 4 74 9 das Tabaksregal ein-
geführt, nachdem vorher die Accise vom Tabak bedeutend erhöhet worden war.
Doch wurde 4 724 das verpachtete Regal wieder abgeschafft, (v. Reden, Finanz-
statistik II, 74.) Als Friedrich Wilhelm II. das von ihm selbst aufgehobene Frie-
dericianische Regal 24. Mai 4 797 wiederherstellte, war der Vorwand, dass man
der ärmern Klasse wohlfeilem Tabak liefern und dafür die Reicheren »gehörig« be-
lasten wollte. (Riedel, Brand, preuss. Staatsh., 4 99.) Gleich nach seinem Tode
hob der Nachfolger das Regal wieder auf. Bergius, Finanz Wissenschaft, 209 meint:
»kein preussischer Finanzminister wird im Slande sein, das Monopol wieder ein-
zuführen, auch wenn er ein so schlechter Finanzmann wäre, dass er dies über-
haupt wollen könnte«.
4 8) Die französische Vorschrift, dass Ye ^^r Regiefabrikate aus inländischem
Rohstoff gemacht werden sollten (nach dem Decrete von 4 84 0 sogar ^Yis), war
um so unpraktischer, als gerade eine Regie wirklich nicht umhin kann, den bessern
und wohlfeilem ausländischen Tabak in grösserer Masse zu verwenden. So ist
denn 4 835 die nichtssagende Vorschrift an die Stelle getreten, dass höchstens
V5 durch den inländischen Tabaksbau gedeckt werden sollen. Man rechnet übri-
gens in Frankreich nur 8 Ctr. trockner Blätter pro ha, höchstens 2 4 Gtr., während
in Belgien durchschnittlich 36, in den Haupt-Tabakdistricten Flanderns sogar 40 — 44
Ctr. auf die ha kommen. (Rau I, 298.) Der französische Bau zum Export er-
190 Wilhelm Roschbr, [76
Der Genuss des Tabaks ist der Bevölkerung spärlicher, wahrschein-
lich auch schlechter zugemessen, als bei voller Freiheit der Fall sein
wurde J'*^) Den Schmuggel hat eine sehr drückende Controle doch nicht
erdrückt.*-^) Aber die Möglichkeit, den Monopolgewinn nach der
Güte der verschiedenen Sorten, also in der Regel nach der Zahlungs-
fähigkeit der Käufer, billig abzustufen, ist unstreitig vorhanden. ^^)
Und die finanziellen Ertrüge des Monopols sind dermassen glänzend,
dass man das Streben z. ß. der deutschen Reichsregiorung nach einem
Tabaksregal nicht unbegreiflich finden wird. Deutschland bezog 1878
zeugte 1868 nur 12474 Ctr., also weniger, als manche badische Einzelgemeinde.
Dagegen Hess Frankreich 4 864 fast Y2 ^^'^* Kilogr als Ausschusswaare verbrennen,
im Dept. Niederrhein allein 275705. (Creizenach, Die französische T. Regie,
4 868, 76.) Die oft hervorgehobene Thatsache, dass Ungarn eben nach Einführung
des Regals seinen Tabaksbau von 20225 ha und 304240 Ctr. (1854) auf 60758 ha
und 4 154860 Ctr. (4 875) gesteigert habe, spricht durchaus nicht zu Gunsten des
Monopols, erklärt sich vielmehr schon daraus, dass Ungarn, von Natur sehr zum
Tabaksbau geeignet, von der österreichischen Regie, mit Ausschluss der roeisteo
übrigen Provinzen, zum Hauptlieferanten des Rohstoffes gemacht wurde. Vgl.
Preuss. Staatsanzeiger 4 868, No. 4 4 4.
49] Der Tabaksverbrauch pro Kopf der Bevölkenmg war in Frankreich (4 872)
etwas über 4 V2 ^^^j »" Österreich (1874/5) 2,98, Grossbritannien (4870/6) 1,35,
Nordamerika (4 875/6) 3,25, Deutschland (4 87 4—77) 3,75 Pfd. Dabei ist sowohl
die Güte, wie namentlich der Sortenreichthum in Deutschland gewiss grösser, als
in den Regalländern.
20) Wenn in Frankreich z. B. 4 872 auf den Kopf der Gesammtbevölkening
78 i Gr. Tabak verbraucht wurden > hatten drei Hauptsitze des T. baues, die
Dptmts. Lot, Lot und Garonne, Dordogne, nur 334, 506 und 326 : was doch ziem-
lich sicher auf einen bedeutenden Unterschleif in diesen letzteren schliessen lässt.
24) Wirklich benutzt wird diese Möglichkeit übrigens selbst in Frankreich
nur sehr ungenügend. Um den Schmuggel vom Auslande her wirksamer zu be-
kämpfen, wird in den Gränzgegenden, Zonenweise abgestuft, der Tabak wohlfeiler
verkauft, als im Binnenlande: ordinärer Gantinen-Tabak pro Kilogr. in Zone L zu
2 Fr. 60 Ct., Zone IL zu 4,40, Zone HL zu 7,20, im Innern zu 4 4,50. Also
Y7 der Bevölkerung sehr massig besteuert, damit Y? ^^^^ b<^<^^ besteuert werden
können ! Trotzdem werden in den französischen Gränzdeptmts. durchschnittlich
3000 Ctr. fremden Tabaks mit Beschlag belegt, und wahrscheinlich 40 mal so
viel glücklich eingeschmuggelt. (Kühne a. a. 0., 68.) Nach J. Krükl, Das T.-
Monopol in Österreich und Frankreich (4 878) betrug 4 873 der mittlere Gewinn
der französischen Regie 430 Proc. der Selbstkosten; aber für Scaferlati 597, für
Rollen und Garrotten 505, für Schnupftabak 858 Proc. In Frankreich wie in
Österreich macht der Gewinn von den sehr feinen Cigarren nur einen winzigen
Theil des ganzen aus. (Kühne, Der Zollverein und das T. monopol, 4 857, S. 53.)
77] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 191
aus seinen Tabakssteuern 0,34 Mk. pro Kopf der Bevölkerung, Russ-
land 0,47, Nordamerika 4,36, Grossbritannien 4,86, und die Regal-
staaten Österreich 3,41, Ungarn 1,58, Italien 2,53, Frankreich 5,68,
Portugal 2,71.^)
Mir würde in Ländern, wo das Tabaksregal Wurzeln geschlagen
hat, seine Aufhebung, etwa aus doctrinärer Begeisterung für die Ver-
kehrsfreiheit, als ein arger Fehlgriff erscheinen. Die Schwierigkeiten
freilich, gegenüber einer grossen, blühenden Privatindustrie, wie in
Deutschland, das Staatsmonopol erst einzuführen, sind Ton der Art,
dass z. B. die gewiss nicht für das Bestehende parteilich zusammen-
gesetzte EnquSte-Coromission sie für unübersteiglich erklärt hat.^)
Eine ungenügende Entschädigung der Expropriirten '^) wäre ein Stück
socialer Revolution: um so schlimmer, weil es durch keinerlei finan-
zielle Nothwendigkeit entschuldigt würde und vorzugsweise die klei-
22) Schäffle, Steuerpolitik, 433 hält 4 Mk. pro Kopf durch ein deutsches
Tabaksregal nach Ablauf einer Obergangszeit für sehr wohl erreichbar. In Frankreich
hat sich die Bruttoeinnahme von 53,872 Mill. Fr. (t845j auf 255,707 Mill. (4869)
erhoben^ während die Kosten nur von 24,7 49 auf 58,496 Mill. wuchsen. Auch
in Österreich hat sich 4 854 bis 4 870 der Reinertrag verdreifacht.
23) Diese Commission bestand aus 2 Vertretern des Reichskanzlers, 5 Be-
amten der grösseren Bundesstaaten, einem Mitgliede für die Hansestädte und
3 Sachverständigen für Bau, Fabrikation und Handel des Tabaks. Ihr Beschluss wurde
mit 8 gegen 3 Stimmen [der beiden Vertreter des Reichskanzlers und des württem-
bergischen) gefasst.
24) Während der württembergische Monopolfreund v. Moser 687 Mill. Mk.
Entschädigung billig fand, wobei die Nebengewerbe der Tabaksindustrie, ebenso
die Zollausschlüsse noch gar nicht berücksichtigt waren, nimmt die »Begründung«
des Gesetzentwurfes vom 27. April 4 882 nur höchstens 256874424 Mk. in Aus-
sicht. Auch im Einzelnen viel Bedenkliches. So ist der Rechtsweg bei Feststel-
lung des Schadensersatzes völlig ausgeschlossen. Die Fabrikanten, die nicht wenig-
stens 4 Jahre lang ihr Geschäft unausgesetzt betrieben haben, erhalten für den
Verlust ihrer bisherigen Erwerbsthätigkeit gar keine Entschädigung. (§. 66.) Ebenso
diejenigen Fabrikdirecto ren^ Inspectoren, Arbeiter etc., welche »die Annahme eines
ihrer bisherigen Lebensstellung angemessenen Postens im Dienste der Monopolver-
waltung ohne ausreichenden Grund ablehnen«. (§. 67.) Soll es z. B. ein aus-
reichender Grund sein, wenn der bisherige Cigarrenarbeiter zugleich Feldbau trieb
und nun seinen Wohnort nicht wechseln mag? Die »Personalvergütungu, welche
für die nichtwiederangesteilten Arbeiter bis zum Fünffachen des jährlichen Ver-
dienstes beabsichtigt war (§. 67), hätte für Ungebildete, Unwirthschaftlicbe gewiss
eine gefährliche Versuchung gebildet.
192 Wilhelm Roscheb, [78
nen Bauern und Hausindustrielten verletzte. ^^) Eine wirklich ge-
nügende Entschädigung würde aber den Gscalischen Gewinn der
ganzen Massregel wenigstens für eine längere Zeit sehr zweifelhaft
machen. ^) Sie ist auch für eine grosse Zahl der Beschädigten kaum
durchführbar, wegen der Unmöglichkeit einer genauen Berechnung
ihres Verlustes. So z. B. für manche Nebenge werbe ^') : für die Kauf-
leute, die bloss nebenher etwas Tabak absetzen^); ganz besonders
für die Hansestädte, die fast ohne Zweifel von ihrer Stellung als Welt-
märkte des Tabakshandels sehr viel verlieren würden. Überhaupt ist
es eines der schwersten Bedenken wider die ganze Massregel, dass
sie die verschiedenen Bundesstaaten, und auch im Einzelnen die ver-
schiedenen Theile derselben im höchsten Grade ungleich treffen würde.
25] In Frankreich kommen auf eine ha Tabaksland nur 3, in Deutschland
9 Pflanzer: wie denn allerdings gerade der Tabaksbau wegen der grossen Arbeits-
menge, die er fordert, besonders für die kleinen Landwirthe passt. Hinsichtlich
der Fabrikation ist wohl zu beachten, dass namentlich die Cigarren zu den wenigen
Producten gehören, welche die sonst überall im Rückgange befindliche Hausmanu-
factur nicht bloss vertragen, sondern sogar dem Grossbetriebe vorziehen. Wie
mancher, von anderen Gebieten verdrängte , Hausindustrielle hat sich neuerdings
in diesen Hafen gerettet! Auch das gibt zu denken, dass Actiengesellschaflen
bisher in der Tabaksindustrie wenig gediehen sind. Während in Deutschland die
Zahl der männlichen Tabaksarbeiter viel grösser ist, als der weiblichen (1861 =
32702 M., 21336 W.), hat die österreichische Tabaksindustrie 3098 M., 22151 W.,
658 Kinder; die französische 1381 M., 13779 W. Also auch in diesem Punkte
würde die Regalisirung ein mit Recht beklagtes sociales Übel des neuem Gewerb-
fleisses wesenUich verschlimmern I
26) Sehr billig scheint der Vorschlag der Elberfelder Zeitg. 4. Mai 1882,
wonach die Regie alle bisherigen Arbeiter behalten soll. Wenn dies zunächst eine
Überproduction bewirken werde [aber doch nur unter Voraussetzung stark erhöhter
Fabrikatpreise)) so könne man solche leicht und unmerklich heilen durch unter-
lassene Annahme neuer Arbeiter, bis ein Theil der bisherigen weggestorben sei.
Ähnlich Schäffle, Steuerpolitik, 441.
27) Allein die Kistchenfabrikation auf dem Bremer Freihafengebiete producirte
1877 für 1928878 Mk., wovon nur 154402 Mk. ins Ausland gingen.
28) Auf dem deutschen Handelstage wurde am 10. Decbr. 1881 berechnet,
dass die Tabaksindustrie gegen 360000 im Kleinverkauf Nebenbeschäfligte zum
Theil erhalte. So haben gegen das Tabaksmonopol zahlreiche kaufmännische Ver-
eine beim Reichstage petitionirt, weil bei der Entschädigung nur an die Händler
und technischen Gehülfen (was heisst »technisch«?), aber gar nicht an die kauf-
männischen gedacht sei. Noch dazu in einer Zeit so verbreiteter Stellenlosigkeit,
dass z. B. 1881 bei den Vereinen zu Bremen, Frankfurt a. M. und Mannheim 5730
Suchende nur 1120 Stellen finden konnten.
7d] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 493
Vertheilt man den Reinertrag des Monopols unter die Bundesstaaten
nach ihrer Einwohnerzahl, so würden Baden und K. Sachsen sehr
verlieren^), Württemberg hingegen mehr gewinnen, als seine Unter-
thanen verloren hätten. Nun gibt es aber fUi' den innern Frieden
eines Bundesstaates kaum eine grössere Gefahr, als wenn sich bei
vielen Mitgliedern die Überzeugung verbreitet, dass sie zu Gunsten
anderer wirthschafllich übervortheilt werden sollen. ^^)^*)
29) Von den (1881) 27277 ha Tabaksland im deutschen Reiche besitzt
Baden 8477, also gegen 30 Proc. (Preiissen 6900, Bayern 6400), während seine
Bevölkerung nur 3,4 Proc. der deutschen beträgt. Das Kgr. Sachsen hat zwar
wenig Tabaksbau, aber sehr viele Tabaksfabrikation: es kommen auf diesen Staat
6,< Proc. der deutschen Bevölkerung, aber H,1 Proc. von den mit Tabaksfabri-
kation Beschäftigten. Nach einer Denkschrift der Mannheimer Handelskammer sind
auf je 10000 Personen mit Tabaksverarbeitung beschäftigt im ganzen Reiche 260,
in Baden 895, Altenburg 880, Bremen 854, Hessen 808, Braunschweig 529,
K.Sachsen 447, Preussen 232, Elsass 222, Württemberg 105. Württemberg hat
nur einen Gesammtumsatz von Tabak von H, Baden von 59 Mill. Mk. Noch
auffälliger würde ein ähnlicher Gegensatz unter den Gemeinden sein, denen doch
vom Zustandekommen des Tabaksregals eine Erleichterung ihrer Gemeindelasten in
Aussicht gestellt war. Nach den Vorschriften, die man zur Controle des Tabaks-
baues beabsichtigte, würden z. B. in Baden 6 Bezirke mit 36 Ortschaften und
394 Pflanzern, ausserdem noch 102 andere Gemeinden wegen nicht genügender
Anbaufläche ihren Tabaksbau gänzlich verloren haben. In vielen badischen Ge-
meinden muss das gesammte Tabaksgewerbe jetzt i 0 — 20 Proc. der Gommunal-
steuern aufbringen : wogegen der Monopol-Gesetzentwurf die künftigen Reichsfabriken
ausdrücklich von allen Staats- und Gemeindesteuern ausnimmt (§. 27).
30) Schaffte, der schon 1868 das Tabaksregal für Deutschland empfohlen
halte (D. Vierteljahrsschr. No. 122, H, 34011.), verlangt bei der Ablösung der
Privatindustrie die strengste Gerechtigkeit der Entschädigung. Er gibt aber den
jetzigen Fabrikanten etc. daneben ernstlich zu bedenken, dass ohne Monopol eine
starke Erhöhung der Steuer, etwa der Fabrikatsteuer wahrscheinlich ist, und dass
auch diese den Erfolg haben würde, einen grossen Theil von ihnen zu Grunde
zu richten: solches natürlich ohne Entschädigung, während bei der Einführung
des Regals die volle Entschädigung wenigstens möglich wäre. (Steuerpolitik, 441 fg.)
31) An das Tabaksregal erinnert das Staatsmonopol der Goca in Bolivien
(Wappäus, M. und S. -Amerika, 698); auch das Staatsmonopol der Matebäume
in Paraguay, wodurch Fälschungen verhütet und die Bäume selbst vor der Aus-
rottung (wie bei den Cinchonawäldem Peru's, Bolivia's und Ecuador's) geschützt
werden. (Wappäus, 1164. 1168.) In Ostindien Opiumregal, das sogar, wenn
die freiwilligen Mohnpflanzer nicht genug in die Regierungsmagazine liefern, mit
einem Rechte des Zwanges zum Mohnbau verbunden war und 1855/56 4871227
£ St. eintrug. (Wappäus, Asien, 535fg.) Um 1880/1 =8451294.
194 WlLBBLM ROSCHER, 'ß^
15.
Für die Regalität des Salzes können die obigen Rechtfertigungs-
gründe des Tabaksregales nur in sehr geringem Masse gelten. Das
Salzregal war früher bei den Regierungen, die es gerne mit dem
Bergregal (System, Bd. III, §. 180) in Verbindung setzten, beliebt
namentlich aus folgenden Gründen.^)
I ) Die römischen Salinen zu Ostia dem König Ancus Martins zugeschrieben.
(Liv. I, 33.) Die staatliche Monopolisirung des Salzes 506 v. Chr. scheint zunächst
eine Erniedrigung des Preises als blandimentum plebi erstrebt zu haben. (Liv.
II, 9.) Die Censur des Livius Sallnator steigerte 206 v. Chr. den Salzpreis in
unpopulärster Weise. (Liv. XXIX, 37.) Nachmals war der Ankauf nur den
Pächtern der Slaatssalinen gestattet und die Ausfuhr aus einer Provinz in die
andere verboten. (Becker, Rom. Alterth. HI, I, S. 123. 205) In Deutschland
haben zwar noch während des 16. Jahrb. einzelne Landesherren Privatsalinen ge-
pachtet (Mittermayer, D. Privatrecht II, §. 312); aber der Gedanke, dass die Stein-
salzwerke regal seien, der bereits unter den Hohenstaufen auftaucht (Böhmer,
Hegesta Friderici II, No. 171. 212. 325. 593), in der goldenen Bulle (IX, 1) für
die Kurfürsten durchdringt, hat sich nachmals auch der Salzquellen dermassen
bemächtigt, dass v. Gerber, System des Deutschen Privatrechts, §.98 ihn als ge-
meinrechtlich anerkennt. Vgl. das preuss. Allg. Landrecht II, 16, §. 71, nachdem
in Brandenburg 1652 gegen heftigen Widerspruch der Stände das Regal eingeführt
worden war (Stenzel, Preuss. Gesch. II, 80); ferner Römer, Staatsrecht von Sach-
sen II, 683; V. Kreiltmayr, Bayersches Staatsrecht, 372 tf. Württemberg hat das
Regal erst 1807 bekommen. Vor 1866 bestand in Österreich, sowie mit Aus-
nahme Hannovers und Oldenburgs in sämmtlichen Zoll Vereinsstaaten das Salzregal.
Entweder gehörten alle Salinen dem Staate (Österreich, Bayern, Baden, Kurhessen,
Hessen-Darmstadt); oder es durften die Privatsalinen bloss dem Staate verkaufen
(Preussen); oder endlich ein von Natur salzarmes Land erhielt seinen Bedarf nur
durch Regierungseinfuhr (Kgr. Sachsen, Luxemburg, Nassau): wo dann in allen
drei Fällen die private Einfuhr untersagt war. Der Verkaufpreis des Salzes ent-
weder für alle Theile des Staates gleich (Preussen), oder je nach Entfernung der
Salinen, Gefahr des Schmuggels etc. verschieden. (Österreich, Bayern.) Wo man
sich zum Kleinverkauf der Privathändler bediente, war diesen regelmässig eine
Taxe vorgeschrieben. — In Prankreich wird die gabelle du sei zuerst gesetzlich
erwähnt 1318, doch als früher schon bekannte und nur vorübergehende Kriegs-
last. Sie wurde aber kurz vor Mitte des 14. Jahrb. für den grössten Theil des
Staates in Form eines (seit 1548 verpachteten) Staatsmonopols bleibend. Die von
Franz I. versuchte Gleichstellung der Gabelle und des Salzpreises für alle Pro-
vinzen verursachte in den Küstenlandschaften (die nach Bodin, De republ. VI, 2,
eine bedeutende Salzausfuhr hatten), schwere Aufstände; so 1548 in Guyenne.
(Sismondi, Hist. des Fran^ais XVII, 350 fr. 131 ff.) Bis zur Revolution unterschied
man: 1) pays des grandes gabelles, wo der Ctr. Salz bis 62 Livres kostete und
B4] Versuch einer Theorie der Finanz-Kegauen. 195
A. Es hat wegen der Unentbehrlichkeit des Salzes^) einen ebenso
reichen, wie sichern Ertrag.^) Freilich gewinnt eben damit jede
Salzauflage einen kopfsteuerähnlichen Charakter: d. h. sie würde nur
in einem Steuersysteme zu rechtfertigen sein, welches die unterste
Klasse der überhaupt noch Steuerfähigen nicht schon in anderer
Weise verhdltnissmdssig belastet. — B. Wegen seiner, verhältniss-
mässig leichten Gewinnung, mit wenig Maschinerie, auch wenig
Arbeit, ohne Qualttdtsverschiedenheit des reinen Kochsalzes, sind bei
diesem, überwiegend natürlichen Producte die Hervorbringungskosten
verhaltnissmässig gering, so dass hier technisch und wirthschaftlich
jeder Einwohner 97e ^^^- i™ jUbrIichen Durchschnitt kaufte, (der grössle Theil
von Nordfrankreich); 2) pays des petites gabelies mit 33^/2 £ pro Ctr. und einem
jährlichen Verbrauche von 14^/4 Pfd. pro Kopf, (der grösste Theil von Südfrank-
reich]; 3) provinces des salines , wo man aus nahen kÖn. Salinen kaufte: 4 4 Pfd.
pro Kopf und 24^2 ^ pro Ctr., (Elsass, Lothringen, Franchc Comte] ; 4) provinces
redimeeSy die steh unter Heinrich If. losgekauft hatten und nun den Ctr. mit 6 —
\t £ bezahlten, (Limoustn, Perlgord, Guyenne, Poitou, Foix, ein Theil von Au-
vergne etc.); 5) provinces franches, wo die Gabelle nie bestanden hatte, mit t —
9£ pro Ctr., (Bretagne, Artois, Flandern, Bearn); 6) pays de quart bouillony wo
man von dem selbst gewonnenen Seesalze nur ^4 unentgeltlich an den Staat
lieferte: Preis 4 6 £ pro Ctr., (niedere Normandie). Im Ganzen nannte man seit
Richelieu das Salzregal das Indien des Königs. Vgl. Stein- Warnkönig, Franz.
Staats- und Rechtsgesch. 1, 469. 620ff. — Auch in Russland bestand 4705 — 28,
4 734 — 4 863 ein Salz regal. Vom Salzregal in China s. Timkowski Reise II, 44; bei
den Sikhs A. Burnes Reise I, 57. In Ostindien, wo der Salzverbrauch sehr stark
ist, kauft die Regierung das Seesalz monopolisch von den Bereitern und verkauft
es dann mit 300 Proc. Gewinn an die Kleinhändler. (Wappäus, Asien, 535.)
t) Corporibus nihil utilius sale et sole. (Plin. H. N. XXXI, 45.) Salz in
gewissem Sinne noch unentbehrlicher, als Brot, das man ja durch Kartoflfeln^ er-
setzen kann. Für pflanzenessende Menschen ist mehr Salz nothwendig, als bei
Fleischnahrung, welche an sich mehr Chlornatrium enthält. (Moleschott, Physio-
logie der Nahrungsmittel, 4 54.) Daher SalzauHagen bei armen Völkern besonders
ergiebig sein können, aber auch besonders schädlich sein müssen. Hübsche Ver-
suche^ aus denen hervorgeht, dass Salz, weil es die Speisen verdaulicher macht,
an Nahrungsmitteln sparen lässt: Demesnay im Journal des Econ. 4 849, p. 7.
Offenbar gerade für die Ärmeren von besonderer Wichtigkeit, die ja auch verhält-
nissmässig am meisten gesalzenes Fleisch, gesalzene Butter etc. verzehren. In Bern
hat man früher beobachtet, dass in schlechten Jahren, zumal wenn die Heuernte
missriethy der Salzverbrauch weitaus am grössten war. (Mathy in Rau's Archiv
IV, 76.)
3) In Frankreich vor der Revolution gegen 54 Mill. Livres, in Preussen 4 867
rein 6727824 Thir., in Österreich 4879 = 43944308 Fl.
Abhsndl. d. K. S. Gesellscli. d. Wissensch. XXI. 4 4
196 Wilhelm Röscher, [8^
der Staatsbetrieb dem Privatbetriebe weniger nachsteht, als in den
meisten anderen Productionszweigen. — C. Auch der Schutz des
Monopols gegen Umgehungen ist beim Salze besonders leicht, weil
dessen Production nur an gewissen, von der Natur selbst bestimmten
Orten möglich ist*), und da insgemein sehr grosse, also schwer zu
verbergende Anstalten erfordert. Eine früher bei den Regierungen
sehr beliebte, mit der Uncntbehrlichkeit der Waare eng zusammen-
hängende Form des Monopolschutzes war die Salzconscription : indem
jedes Haus genöthigt wurde, nach der Kopfzahl seiner Mitglieder
eine gewisse Menge Salz von den Staatsniederlagen zu kaufen, ge-
wöhnlich mit dem Verbote des Wiederverkaufes.^)*^)
Freilich sprechen alle diese Gründe ebenso wohl zu Gunsten
einer Salzsteuer, wie eines Salzregals, und heben die allgemeine Ver-
muthung (§. 1 0) nicht auf, dass eine freie, nur besteuerte Privatcon-
4] In Kussland lagen bisher die Haiiptorte der Salzgewinnung, nämlich die
salzigen Binnenseen, in peripherischen, wenig bevölkerten Provinzen. Die Ge-
winnung des Seesalzes in wannen Klimaten ist allerdings schwerer zu beaufsich-
tigen. Das deutsche Reich hatte 1880 nur 79 Productionsstatten, die aber fast
668 Mill. Kgr. Salz lieferten.
5) Diese Conscription , von der Sully sagt: je n'ai Jamals rien trouve de
si bizarrement tyrannique (Economies royales II, p. 465 der Quart-Ausg.), ist in den
französischen pays des grandes gabelies so alt, wie das Salzregal selbst. Vgl.
Fortescue, De legibus Angliae, c. 35. In Preussen führte sie Friedrich Wilhelm I.
ein (4 74 9). Seit 4 7S5 erhielt jedes Haus ein Buch, worin sein Bedarf verzeich-
net war: 4 Metzen jährlich für jede Person über 9 Jahre, t M. für jede Kuh
oder 4 0 Schafe. Jede nicht abgeholte Metze mit 4 Groschen Geld oder ent-
sprechender Leibesstrafe gebüsst. (Stenzel, Preuss. Gesch. III, 394. Borowski,
Preuss. Cameral- und Finanzwesen II, 34 4iT.j Während die Einfuhr des fremden
Salzes 4 723 mit dem Galgen bedrohet wurde, solUe das General-Directorium alle
Maschinen spielen lassen, damit namentlich Polen sein Salz von Preussen bezöge.
Die Coascription 4846 aufgehoben. Man hat sie nachher nur in Gegenden bei-
behalten (4 2 Pfd. jährlich pro Kopf), wo man sonst den Schmuggel zu sehr hätte
fürchten müssen, z. B. in Exclaven. Aufhebung der sächsischen Conscription 4 840.
6) Die schweren Klagen über das französische Salzwesen, dass die Verwal-
tungskosten tO — 25 Proc. des Rohertrages verschlangen, dass jährlich gegen 3500
Menschen wegen Salzdefraude verhaftet und bestraft wurden etc. (Necker, Ad-
mini.stration des finances II, 8; A. Young, Travels in France etc., 598), waren
nicht unmittelbare Folgen des Regals, sondern hingen zusammen mit der grossen
Verschiedenheit und gegenseitigen Absperrung der Provinzen. Wer auch nur ein
Minot einschmuggelte, konnte von dem Gewinn eine Woche lang behaglicher leben,
Is vom Tagelohn. (Forbonnais F. de Fr. I, 59.)
^3] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 197
currenz, bei gleicher Einträglichkeit für die Staatskasse, der Volks-
vvirthschaft nützlicher sein werde. Eine grosse Production verbunden
mit einem niedrigen Preise des Salzes muss gegenwärtig nicht bloss
im Interesse der unmittelbaren Volksernährung angestrebt werden,
sondern auch im Interesse der Seefischerei'), der intensivem Land-
wirthschaft (Viehsalz^), DUngersalz*)), und einer Menge von tech-
nischen Gewerben*^): lauter Verwendungsarien des Salzes, welche
7) Obgleich die englischen Seefischereien eigentlich steuerfreies Salz haben
sollten, was zu gewaltigen Steuerdefrauden (bis zu V3 ^^^ gesammten Steuer) ge-
missbraucht wurde, ist die Erlangung des nöthigen Salzes für sie doch von der
Steuer so erschwert gewesen, dass erst nach Abschaffung der ganzen Salzsteuer
die Fischerei sehr aufblühen konnte. (Macculloch, Taxation, 256 ff.)
8) Vom Nutzen des Viehsalzes handeln schon Plin., H. N. XXXI, 41; Colu-
mella, R. R. VI, 4, 23. Nach Lieb ig, Chemische Rriefe, No. 27 nährt es nicht
unmittelbar, macht aber z. B. das Mastvieh gesunder, zum Stoffwechsel geeigneter
etc. In Preussen war lange für jede Provinz der Salz verbrauch pro Kopf um so
grosser, je mehr die Landwirthschaft daselbst überwog. [Hoffmann, Lehre von
den Steuern, 259.) Nach v. Weckherlin, Landw. Thierproduction 11, 157 sind
12 Pfd. jährlich für eine Kuh genügend; viele pfäizer Wirthe geben jedoch V2T
ja i Pfd. wöchentlich. (Rau, F. W. I, 265.) Noch immer ist wegen des hohen
Salzpreises der wirkliche Salzverbrauch für Menschen und Vieh zusammen in den
meisten Ländern viel geringer, als der wünschenswerlhe. Nach A. Schmidt, Das
Salz: eine volkswirthsch. und finanzielle Studie (4874), S. 36 ff. sollte er betragen
pro Kopf der Bevölkerung, beträgt aber wirklich nur
in Preussen
30, U Pfd.
jährlich,
47,72
- Bayern
35,41 -
—
23,76
- Württemberg
30,59 -
-
26,87
- Sachsen
23,36 -
-
40,70
- Russland
33,04 -
-
46,48
- Frankreich
28,50 -
-
16
- Österreich
36,69 -
-
44,56
Dagegen mögen die starken Salzdosen, welche das engUche Vieh erhält, (taglich
4 4 Loth für ein Pferd oder einen Ochsen, 8 für eine Milchkuh, 5 für ein Kalb
von mehr als einem Jahre, 4 für ein Schaf oder Schwein : Kerst, Das Salzmono-
poL 53), mit der völligen Steuerfreiheit des englischen Salzes zusammenhängen./
9) Die Wichtigkeit der Salzdüngung wurde namentlich früher (z. B. von Sin-
clair) oft überschätzt; jedenfalls können für diesen Zweck viele Abfälle gebraucht
werden: Pfannenstein, die Asche der abgelegten Dornen aus den Gradirwerken etc.
4 0) Im deutschen Zollverein wurde 4 870 vertragsmässig abgabenfreies Salz
an folgende Gewerbzweige abgelassen : Soda- und Natronsulphatfabriken, chemische
F., Seifenf., Glashütten und Glasf., Lederf., Gerber und Häutehändler, Farbef.
und Färber, Steinzeugf., Ofenf. und Töpfer, Viehsalzlecksteinf., Feilenf., Eisen-
hütten, Kürschner, Papierf., Eisen- und Stahlf., Düngerf., Conditoreien, Kunst-
n*
198 Wilhelm Röscher, I^*
vormals eine sehr viel geringere Wichtigkeit besassen, jetzt aber in
fortwährendem Wachsthum begriffen sind. Dass nun die Vertauschung
des Regals mit einer massigen^') Steuer die Production und Con-
sumtiou des Salzes beträchtlich heben müsse, ist im Allgemeinen
wohl nicht zu bezweifeln. ^^) Der Übelstand freilich bleibt auch bei
der massigsten Steuer auf Speisesalz, dass man, um sie nicht um-
gehen zu lassen, das Vieh- und Fabriksalz nur im »denalurirten« Zu-
wollenf., Darmsaitenf., Schiffbauer, Ölf., Tuchf., Amidoaf., Zinkhütten, Uand-
schuhf., Darmhändler, Maschinenf., Seiler, Gelbgiesser^ Gementf., SchnellbleicbeD.
Dazu müssten aber eigentlich noch kommen: Tabaksf., F. künstlicher Mineral-
wasser, sowie die Gewerbe, die Eiskeller nÖthig haben. (A. Schmidt, a.a.O., 26 fg.)
H) Die englische Salzsteuer von 4 694 — 4 823, die zuletzt gegen 4 500000
£ St. jährlich eintrug, war seit 4 805 über 30 mal so hoch, wie der sonstige
Preis des Salzes! In Frankreich, wo 4 790 das Saizregal mit seinen Haussuchungen
und körperlichen Strafen, 4 791 auch die Salzsteuer abgeschafft worden war,
führte Napoleon 4 806 wieder eine Steuer von 4 0 Ct. pro Kilogr. ein (mit Steuer-
freiheit für die Seefischerei und nachmals auch die Sodafabrikation), die hernach
auf 20, 4843 auf 40, von den Bourbons 4844 auf 30, 4848 wieder auf 40 Ct.
festgesetzt wurde. Also immer noch gegen 500 Proc. des natürlichen Preises^ da
Seesalz an Ort und Stelle nur etwa 2 Fr. pro metr. Ctr. Gestehungskosten erfor-
dert. Aber auch so ist der Zustand doch gegen die Regalzeit wesentlich besser
geworden. Die Production des Seesalzes wird von der Steuerbehörde nur über-
wacht; die des Landsalzes bedarf ausserdem noch einer Concession, die insgemein
bloss dann ertheilt wird, wenn der Goncessionar cnindestens Y2 ^i^'* Kilogr. jähr-
lich hervorbringt. Jedes Salzwerk ist mit einem Zaune zu umgeben, der Tag und
Nacht bewacht wird ; die Steuer wird gleich beim ersten Verkaufe gezahlt. Dann
ist der weitere Salzhandel frei, abgesehen von einigen Transportcontrolen in der
Nähe des Gewinnungsorles.
4 2) L. V. Stein durchaus für Salzsteuern^ nicht für Salzraonopole. (Finanz-
wissensch. , 534.) Als Deutschland 4 867 das Regal mit einer Steuer vertauscht
hatte* betrugen die Erhebungskosten der letzlern 4 872 nur 0,58 Proc, während
das preussische Regal 4 850 — 62 ohne die Kosten des Ankaufes durchschnittlich
4,27 Proc. des Bruttoertrages gekostet. (A. Schmidt, a. a. 0., 94.) Über die
grosse Belästigung des Innern Verkehrs, die früher im Zollvereine durch die Re-
galität des Salzes noth wendig war, s. Tübinger Zeitschr. 4 864, 474 ff. Auch in
Österreich, wo man 4 829 das Regal insofern milderte^ als der Gross- und Klein-
handel von den Beamten auf die Privatindustrie übertragen wurde, ist das Salz
entschieden wohlfeiler geworden. In Wien z. B. schlagen die Verkäufer nur etwa
4^2 Pi*oc. auf den Staaispreis, und so wohlfeil könnte der Staat selbst schwerlich
dienen, (v. Tegoborski II, 24 5 ff.) In Russland brachte das Regal 4 850 — 60
durchschnittlich nur 7900000 Rub. ein, die 4 863 begonnene Salzaccise 4 867 — 72
I4V2 Mill. (A. Schmidt a. a. 0., 84.)
^^] Versuch einer Theorie der Finanz-Regalien. 199
Stande'^) steuerfrei machen kann: gewiss eine an sich gehässige Mass-
regel, eine edle NaUirgabe aus SleuergrUnden absichtlich, ja mit
Kosten zu verschlechtern! Daher eine Nachahmung der in Eng-
land (1825), Norwegen (1844) und Portugal (1846) eingeführten Steuer-
freiheit des Salzes auch anderswo gewiss zu wünschen ist. ^*)
13) Die Denaturirung des Viehsalzes erfolgt nanienilich durch Eisenoxyd
oder RÖthel uod Wennullikrautpulver ; die des Fabriksalzes durch Glaubersalz,
Kieserit, Asche oder gemahlene Holzkohlen.
H) In Frankreich hat weder 4 868 der Vorschlag von Fould, noch 1871
trotz der grossen damaligen Finanznoth der wiederholte Vorschlag, die Salzsteuer
auf 20 Ct. pro Kgr. zu erhöhen, durchgesetzt werden können : ein merkwürdiger
Beleg, wie wenig dem neuern Zeitgeiste Salzauflagen beliebt sind.
DER GESCHNITZTE
HOLZSARG DES HATBASTRÜ
IM AEGYPTOLOGISCHEN APPARAT
DER UNIVERSITÄT ZU LEIPZIG
VON
GEORG EBERS
MITGLIED DER KÖNIGL. SACHS. GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
Abkandl. d. k. S. Gesellsch. d. Wissensch. XXI. 45
Unter den vielen aus dem aegyptischen Alterthum bis auf uns
gekommenen Sarkophagen nimmt der im aegyptologiscben Apparat
der Universität zu Leipzig conservirte durch den Reichthum der In-
schriften, welche ihn bedecken, die besondere Sorgfalt, mit der die
einzelnen schriftbildenden Zeichen hergestellt sind, die höchst seltene
Art und Weise der Aussculptirung seiner Oberfläche und das Material,
aus dem er besteht, eine hervorragende Stellung ein. Wir besitzen
in diesem Sarkophag ein in seiner Weise einzig dastehendes Denk-
mal, und seine Publication, welche unter allen Umständen wünschens-
werth erscheint, darf schon darum nicht unterbleiben, weil ja die
Fachgenossen in Leipzig, das kein aegyptisches Museum besitzt, solchen
Schatz zu finden keineswegs erwarten können. Unser aegyptologi-
scher Apparat ist nur eine Sammlung von Abgüssen und Cartonnagen,
an die sich eine kleine Bibliothek von Publikationswerken und Wörter-
büchern anschliesst, und er braucht fUr die Lehrzwecke, denen er
gewidmet ist, nichts anderes zu sein; an Originalen, auf welche wir
in den Vorlesungen verweisen können, besitzen wir nur vier, aber
unter diesen sind zwei so beschaffen, dass sie sich mit den kost-
barsten Schätzen der allergrössten Museen messen können. Der grosse
medicinische Papyrus Ebers ist den Fachgenossen längst in meiner
Publikation zur Hand, mit dem Leipziger Sarkophag denken wir sie
an dieser Stelle bekanjit zu machen.^)
4) Unsere beiden anderen Originale sind eine itleine Stele von der Gattung
der i>Horus auf den Krokodilena genannten Denkmäler, mit der ich die Gollegen
bereits in unserer Fachzeitschrift 4 880, S. 54 bekannt gemacht habe, und eine
Anzahl von Mumienbinden mit den theils vollständig, theils unvollständig wieder-
gegebenen Kapiteln 4, 2, 3, 4, 5, 6, 4 7, 74, 74, 75, 76, 77, 78, 4 04, 4 05,
4 06, 4 49 des Todtenbuches in zierlicher Schrift.
15»
20 i Georg Ebers, [^
Fundort und Erwerbung.
Leider hat sich über den Fundort unseres Sarkophages nichts er-
mitteln lassen. Aus den Akten, welche tn\r durch den kgl. Sachs.
Cultusminister Dr. von Gerber in ausserordentlich zuvorkommender
und liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt worden sind, geht
nur hervor, dass unser Denkmal den Weg über Triest genommen
hat. Professor Dr. M. G. Seyffarth, mein Vorgänger auf dem Lehr-
stuhle für aegyptische Sprache und Alterthumskunde an unserer
Hochschule, hatte im Jahre 1841 durch den Ordinarius der juristi-
schen Facultät Prof. Dr. Günther Kenntniss von der Existenz unseres
Denkmales erhalten und bei dem kgl. Cultusministerium zu Dresden
ein Gesuch eingereicht, dasselbe für die Leipziger Universität erwerben
zu dürfen. Da die vorgesetzte Behörde seinem Wunsche bereit-
willig entgegenkam, beauftragte er den Licentiaten M. Goldhorn,
Gustos bei der Universitätsbibliothek, welcher im April des folgenden
Jahres über Triest nach Italien reiste, den Sarkophag in Augenschein
zu nehmen und ihm eine Reihe von Fragen, welche sich auf den-
selben bezogen, zu beantworten. Aus dem mir vorliegenden Briefe
des genannten Gelehrten geht nun hervor, dass sich derselbe seinem
Auftrage mit Eifer unterzog und den Werth des Sarkophages richtig
erkannte. Leider findet sich in seinem Schreiben keine Notiz
über denjenigen, welcher unser Denkmal nach Europa gebracht
hat oder gar über die Fundstätte desselben. Er erzählt nur, dass
er zu Triest durch den Kaufmann Herrn Martins in einen Speicher
geführt worden sei, wo der Sarkophag aufbewahrt wurde. Dieser
war auseinander genommen, und den Deckel, welcher unter Waaren-
ballen versleckt lag, bekam Herr Goldhorn gar nicht zu sehen. In-
dessen erfuhr er, dass das Denkmal von dem früheren preussischen
Consul in Alexandrien (1840, v. Wagener) zum Geschenk für seinen
König bestimmt gewesen sei. Vielleicht ist dieses Vorhaben in Folge
des Regierungswechsels in Preussen 1840 unausgeführt gebh'eben.
Ermuthigt durch den günstigen Bericht Goldhorns erneute Prof
SeyflFarlh sein Gesuch um Ankauf des Sarkophags, und derselbe wurde
denn auch von dem kgl. sächs. Cultusministerium für den beispiellos
billigen Preis von »nicht ganz 1000 Francs« erworben.
{h
oh
4
lern aegyptischen Aiterthum bis auf uns
mmt der im aegyptologischen Apparat
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Q, die besondere Sorgfalt, mit der die
hen hergestellt sind, die höchst seltene
ng seiner Oberfläche und das Material,
Tragende Stellung ein. Wir besitzen
'ner Weise einzig dastehendes Denk-
be unter allen Umstanden wUnschens-
rum nicht unterbleiben, weil ja die
206 Georg Ebers, [6
reicht seia Umfang volle 2,25 m. Am Kopfende des Deckels sieht
man das Antlitz des Verstorbenen in typischer Darstellungsweise.
Der Bart ist unvollendet geblieben und als leicht zugespitztes, flüchtig
geglättetes Holzstück in das Kinn gefügt worden. Eine gestreifte
Kalantika umhüllt das breite Haupt. Sie ist hinter den abstehenden
Ohren zurück gestrichen und fällt in steifen Falten in zwei Flügeln
auf die Brust herab. Seyffarth hat ))auf dem Scheitel« die Figur
einer Nephthys gesehen. Wir können dieselbe nicht mehr wieder-
finden, bemerken aber auf der Kalantika etwas über der Mitte der
Stirn eine Figur, welche man allerdings für das bekannte TT halten
kann. Das Halsband, welches tief hinunter hängt, besteht aus drei
Reihen von höchst sorgfältig aussculptirten vegetabilischen Ornaq[)ental-
figuren und einer Franze von dicht aneinandergefügten Tropfen. Am
rechten und linken Ende dieses Colliers sieht man je einen Sperber-
kopf mit der Sonnenscheibe auf dem Scheitel. Beide stehen an
Stelle der Verschlussstücke, welche sich an wirklichen Halsbändern
finden. Unter dem Collier sucht man vergebens nach den auf an-
deren ähnlichen Mumiensarkophagen in erhabener Arbeit hervor-
tretenden Händen; es stehen hier vielmehr drei Figuren, von denen
die mittelste ein wahres Meisterstück der Holzschnitzkunst genannt
werden darf. Sie stellt die mütterliche Göttin Nut dar, in knieender
Stellung und mit ausgespannten Flügeln. Über den Schwingen hat
sie die Arme weit ausgestreckt, und in jeder Hand trägt sie das Attribut
der Wahrheit, die Straussenfeder. Das nach rechts schauende anmuthige
Gesicht ist mit besonderer Liebe behandelt, und die Zeichnung des
rechten Beines, auf dem sie ruht, ist eben so frei als fein. (Taf. I.)
DiQ thronenden Göttergestalten bei den Flügelspitzen der Nut tragen
Scepter j -und y in den Händen. Sie sind von vorn herein weniger
sorgfältig ausgeführt, jetzt aber leider ziemlich stark beschädigt.
Die Inschriften über ihnen sind unlesbar. An Stelle dieser ent-
schieden männlichen Figuren findet man auf anderen Sarkophagen
aus ungefUhr derselben Zeit Isis und Nephthys.
Die untere Hälfte des Deckels wird von zwei Mal sechs hori-
zontalen Inschriftsstreifen eingenommen. Sechs derselben stehen zur
Rechten, sechs zur Linken einer verticalen Hieroglyphenzeile, welche
in der Richtung vom Kopf zum Fuss die Deckelaufschriften in zwei
Theile zerlegt. Allen Horizontalstreifen mit Ausnahme der untersten
7] Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastru. 207
rechts und links gehen Göttergestalten voran: den vier (zwei und
zwei) obersten je zwei, den sechs (drei und drei) folgenden je eine.
Auf dem FussstUcke (den mit Mumienbinden zusammen gewickelten
Füssen), sieht man die geflügelte Göttin der Wahrheit Maä, welche in
den HSinden und auf dem Scheitel je eine Straussenfeder fuhrt.
An den Schulterstücken des Deckels sind je vier verticale Hierogly-
phenzeilen angebracht, und so findet sich denn auf demselben kein
Zoll, welcher nicht mit Hieroglyphen oder anderen Sculpturen be-
deckt wäre.
Das gleiche gilt von dem Sargkasten, auf dessen Aussenseite
sich eine verticale Hieroglyphenzeile an die andere drängt. Seine
untere Seite, oder besser sein Rücken, denn der Sarkophag war
darauf eingerichtet in der Grabkammer wie eine Statue aufgestellt
zu werden, ist durchaus flach, während der Deckel namentlich in
der Brustgegend sich hoch und rund auswölbt. Die Kalantika an der
Kopfstelle der hinteren Seite des Kastens ist gefältelt, aber spannt
sich wie aufgeleimt über das flache Brett. Auch der untere Theil
unseres Denkmals ist über und über mit Inschriften bedeckt. Nach
Seyffarths Berechnung nehmen die Texte, welche auf dem ganzen
Sarkophag vorkommen (Deckel und Kasten) volle 30 Quadrat-
fuss ein.
Ganz besonderen Werth gewinnt unser Denkmal durch die Art
und Weise, in der die Bilder und Hieroglyphen hergestellt sind,
welche es schmücken. Die sind sämmtlich in erhabener Arbeit aus
dem Holze geschnitten, und zwar mit solcher Sorgfalt, dass man an
den menschlichen Figuren die einzelnen Locken im Haar und die
Fingernagel, an den Vögeln die Federn, an den Schlangen die
Schuppen, an den Kinnladen ^^^ die Zähne erkennen kann. Bei
dem Zeichen \^ lassen sich die einzelnen Finger an der Hand
unterscheiden. Q ist ein Väschen, welches an einem Stricke hängt,
und an diesem ist es vergönnt die Seilerarbeit zu erkennen. ^
ist merkwürdig gebildet , z. B. in ^ i , denn der Mann in
dieser Hieroglyphe hält hier kein Beil in der Hand, sondern zieht
sich mit beiden Händen an dem eigenen Haarschopf hinunter. Aus
dem gesammten aegyptischen Alterthum ist kein Holzsarkophag mit
so sorgfältig in Basrelief gearbeiteten Figuren erhalten geblieben.
208 Georg Ebers, [8
und wenn man die im Museum zu Bulaq conservirten Breiter aus
Saqqara, einige Bretlspielkästen und andere kleine Stücke ausnimmt,
gibt es keine Holzskulptur aus dem alten Aegypten, welche sich mit
der unseren an Schönheit messen kann.
Man weiss, dass zwischen dem Tode eines begüterten Aegypters
und seinem Begräbniss siebenzig Tage vergehen durften. In diesem
Zeitraum musste die Balsamirung und alles was zur Ausstattung der
Leiche gehörte, fertig gestellt werden. Man scheint streng an diesem
Termin festgehalten zu haben, denn manche mit Sorgfalt hergestellte
Sarkophage (so der von H. v. Bergmann treflflich behandelte des
Panehem Isis zu Wien) sind vor ihrer völligen Vollendung beigesetzt
worden. Dies gilt auch von unserem Grabdenkmal, auf dem sich
ganze unfertige Gruppen nachweisen lassen, und zwar an Stellen
wo man sie, weil sie gerade dort besonders ins Auge fallen mussten,
am wenigsten erwarten sollte. Dies gilt z. B. von dem unteren
Theile der grossen Vertikalzeile, welche den plastischen Schmuck
des Deckels in zwei Theile zerlegt, sowie von den Göttergestalten.
Das Holz, in welches die Namen der darzustellenden Gottheiten ge-
schnitten werden sollten, war ausgespart worden, aber man kam in
mehreren Füllen nicht dazu sie einzuschneiden, obgleich dies bei
den ihnen gegenüberstehenden Figuren geschehen war. — Die Hast,
mit welcher das Werk vollendet werden musste, hat wol auch den
Hierogrammaten, welcher die zu benutzenden Texte aufgesetzt halte,
verhindert sie nach ihrer Übertragung auf das Holz noch ein Mal
durchzusehen und zu corrigiren. Nur so erklären sich die zahl-
reichen Schreibfehler, welche diese so ungewöhnlich fein und sorg-
lich geschnitzten Texte entstellen. Manche derselben sind derartig,
dass man, wenn sie auf einem Monumente von weniger unantastbar
sicherer Echtheit stehen würden, sich versucht fühlen könnte, dies
für gefälscht zu halten. Zieht man die x\rt und Zahl der groben
Schreibfehler in Erwägung, so kann man nicht zweifeln, dass der
Künstler, welcher unsere Texte in das Holz schnitt, entweder der
Hieroglyphenschrifl unkundig war oder ohne auf den Sinn dessen
was er schrieb zu achten, seine Vorlage auf den Sarkophag über-
tragen hat. Diese scheint nicht in hieratischer, sondern in flüchtiger
hieroglyphischer Schrift verfasst gewesen zu sein. Das lässt sich
an der häufigen Verwechselung der Zeichen ^^^3:^ und ^^3^ erkennen,
d] Der geschnitzte Holzsarg des ^atbastrl'. 209
welche in der hieratischen Schrift ganz verschieden, in der hiero-
glyphischen aber recht leicht mit einander zu verwechseln sind.
Eigentliche Beschädigungen hat unser Sarkophag nur an der rechten
Seite des Fussstückes und den sich an den Rücken scbliessenden
Seitenbrettern erfahren. Übrigens lassen sich die verhältnissinässig
wenigen abgeriebenen Zeichen in den meisten Fällen ergänzen.
Die Persönlichkeit und Heimat des in unserem Sarkophag
bestatteten Aegypters.
Bevor wir auf die Inschriften des Sarkophages eingehen, aus
denen schon in diesem Abschnitt manche Gruppe anzuführen sein
wird, muss bemerkt werden, dass wir »rechts« und »links«, hier wie
auf den Tafeln, nicht in unserem, sondern im aegyptischen Sinne
gebrauchen, d. h. wir denken uns in die Osirisgestalt, von der wir
zu reden haben, hinein. Rechts ist für uns nicht die unserer Rechten
gegenüberstehende Hälfte der Mumie, sondern diejenige Seite der-
selben, an der sich ihr rechter Arm und ihr rechtes Auge befinden.
Der Name des Menschenkindes, für welches unser Sarkophag her-
gestellt worden ist, erscheint auf demselben häufig, und zwar 31 Mal;
aber obgleich seine Lesung sicher steht, bleibt es zunächst frag-
lich ob er einem männlichen oder weiblichen Wesen angehört hat.
Dergleichen kommt sonst glücklichweise nur selten vor; hier ist es die
Sorglosigkeit und Unwissenheit des Schreibers oder Bildhauers, oder
vielleicht auch beider, welche den Leser in eine so missliche Lage
versetzen.
Unser »Osiris« war bei Lebzeiten ^ "^ ^ gerufen worden
und dies muss wie die Variante \ ü ^ ^ cv) lehrt, 5atbastru^) gelesen
werden. Seine Eltern werden mehrmals, am vollständigsten auf dem
Seitenstück I. Z. 1 genannt. Es heisstdort: 1?^^^§ "^^^^^^^^ %>
Der königl. Anverwandte Hatbastru, Sohn des werth ge-
A/VNA^A
t
2) Wenn . . . epuiof ist, Hatbasleru zu lesen.
210 Georg Ebers, 1^0
schätzten bei dem grossen Gotte PeOef (sehen?) 3) Kind der Herrin
des Hauses, der werth geschützten bei den Göttern Tasä^epr.
Gewöhnlich wird bei Anführung der Eltern die Mutter zuerst
genannt; aber Tasä/epr muss eine Frau sein. Darauf deutet viel-
leicht das ^'^^ mit dem ihr Name beginnt, dafür tritt der diesen
begleitende Titel Herrin des Hauses ein, das wird entschieden durch
das femin. q ^ dmexi^ welches sich auf sie bezieht und den
im Demotischen vorkommenden Namen Sa^epri^) im griechischen
Antigraphon 2a)^TCYjpi<;, welcher ausschliesslich Frauen zukommt und
unserem Säxepr vollkommen entspricht. Da nun Qatbastru stets
^^ d. i. Sohn seiner Eltern genannt wird, sollte man denken, dass
die Frage nach seinem oder ihrem Geschlecht entschieden sei. Dies
ist aber nicht der Fall, denn erstens wird der Name Hatbastru mehr-
mals mit dem weiblichen Klassenzeichen determinirt und zweitens
wird der einzige Titel des Verstorbenen ein Mal 1 und zwei
geschrieben ; diese beide Formen weisen aber auf eine
Mal ^
I Q W
Frau. Bedenkt man ferner, dass unser Osiris, für den ein so kost-
barer Sarkophag hergestellt worden ist, doch eine recht vornehme
Persönlichkeit gewesen sein muss, so hat es allerdings etwas auf-
fallendes, dass wenn wir es mit einem Manne zu thun haben, bei
der einunddreissigmaligen Wiederholung des Namens Hatbastru auch
nicht ein einziger anderer Titel als der eines königlichen Anver-
wandten vorkommt. Würde der Osiris ein Weib gewesen sein,
so verstünde sich dieser Umstand von selbst. Dennoch halten
wir Qatbastru für einem Mann, denn der Verstorbene wird
3) Das ^ scheint als Delerniinativzeichen zu der Gruppe oder D
zu gehören. Das D ist vielleicht der männliche Artikel, welcher dem ^
(jedenfalls Artikel) in dem Namen der Mutter Tasäj^epr entspricht. Zeitschrift
^ ^ z=z Mi auf einem Sarge im Berliner Museum.
4) ^V yj^t^^^at— ^ J^ Brugsch, Samml. demol.-griech. Eigennamen.
^4] Der geschnitzte Holzsarg des Hatbastru. 211
ohne Ausnahme ^^ se d. i. Sohn und kein einziges Mal ^^
sel^ d. i. Tochter genannt. Gewöhnlich wird der Name gar nicht
determinirt, aber wo dies geschieht tritt eben so häufig das Klassen-
zeichen j| wie das weibliche ^j) ein. Um der Confusion die Krone
aufzusetzen, steht hinter dem Namen unseres Hatbastru, der doch
keine androgene Persönlichkeit gewesen sein kann, die Frau mit der
Blume, welche sonst immer nur Feminina determinirt, aber diese Frau
ist mit dem Barte versehen, welcher nur Männern zukommt. Sucht
man bei den Eltern Rath, so findet man, dass der Name des Vaters
hier mit dem gewöhnUchen Klassenzeichen für männliche Persönlich-
keiten J|, dort mit dem wunderlichen C^, welches uns hinter Hat-
bastru begegnet ist, determinirt wird, während man bei der Mutter
ein yj also wiederum eine bärtige Figur, welche hier aber statt der
Blume das Zeichen -r- auf dem Knie trägt, findet. Aus den De-
terminativzeichen, durch welche sonst in ähnlichen Fällen jeder
Zweifel beseitigt wird, lässt sich hier also garnichts entnehmen.
Auch das 1 und J darf nicht mit Bestimmtheit für
€ cit I t I O \\
einen Frauentitel angesehen werden, denn die Sorglosigkeit unseres
Schreibers ist gross, und wir haben J^^^ auch anderwärts bei
Männern gefunden. So heisst es auf einer Apisslele im Louvre,
welche nur um weniges früher als unser Sarkophag hergestellt worden
zu sein scheint. ^x^>e=^ . . . ] *^^(] ^O^ Sein Sohn . . . der kgl.
Anverwandte äab. Auf einer Inschrift aus der IV. Dyn.^) wird ein
i^^^l wk. suten re^^t ämöen erwähnt, und dieser ämöen ist
jedenfalls ein Mann gewesen. Von der anderen Seite werden
Frauen ziemlich oft 1 ^ © suten re/ (ohne ^) genannt. Schon im
alten Reiche heisst eine f»^ Nubhetp "^1 ^i U^n^^-f suten
re^^ sein Weib, der königl. Anverwandte etc. ^) Gelegentlich wird
5) Lepsius, Denkm. II, 3. Grab und Statue im Berl. Museum.
6) Lepsius. Deokm. II, 14.
212 Georg Erers, [12
dem Manne und dem Weibe in ganz gleicher Weise der Tilel
suten rei beigesellt.')
]
0
So kommt denn auch durch diesen scheinbar weiblichen Titel
unsere Frage nicht zur Entscheidung. Die pronominalen Suffixe,
welche in derartigen Fragen manchmal den Ausschlag geben, lehren
hier nichts, weil verstorbene Männer und Frauen in gleicher Weise
üsiris wurden und Hatbastru wie jeder verklärte Aegypter darum
auch Osiris genannt wird; Osiris aber ist männlichen Geschlechtes,
und wo man ihn anredet oder wo von ihm gesprochen wird bedient
man sich des Pronomens in der 2. oder 3. Pers. Mascul.
Da der Name Hatbastru sonst nirgends vorkommt,^) so bleibt
uns nichts übrig als uns an das ^^ se lilius zu halten, welches
doch kaum so consequent gebraucht worden sein würde, wenn
Qatbastru die Tochter und nicht der Sohn seiner Eltern gewesen
wäre und uns auf einen äusserlichen Umstand zu stützen, welcher
die ganze Frage zu entscheiden scheint. Unser Sarg stellt eine
bärtige und darum männhche Person dar, denn Frauensärge mit
einem Barte sind weder mir, noch Dr. Stern, noch anderen CoUegen,
bei denen ich Nachfrage hielt, begegnet.
Leider fehlt, wie wir wissen, jede Nachricht über den Fundort
unseres Denkmals; indessen scheint Hatbastru in Unteraegypten, und
zwar in Memphis gelebt zu haben. Darauf deutet schon das in
seinem Namen vorkommende unteraegyptische n^ Bast, und dies
wird zur Gewissheit durch den Anfang der Mittelzeile auf dem Deckel,
wo es heisst lA^ /^^v^^A jl'^'1 1 ^^cz^'O i^ Eine königliche Opfer-
gabe dem Osiris, dem grossen Gotte, dem Herren der weissen Mauer.
Da diese »weisse Mauer« (änbu het't) zu Memphis gehörte und keiner
anderen Gottheit als dem Osiris dieser Lokalität im Namen des hat-
bastru ein Opfer votirt wird, muss unser Verstorbener in der alten
Menesstadt gelebt haben, oder doch wenigstens in derselben zu
Grabe gegangen sein.
7) Lepsius, Denkm. II, 59.
8] Weder in Liebleins nützlichem Namenswörterbuche , noch in meinen
eigenen Collectaneen.
^^] Dek geschnitzte Holzsarg des Hatbastru. 213
Die Zeit der Herstellung des Sarges.
Seyffarth, der erste Aegyptolog, welcher unser Denkmal (1842) zu
sehen bekam, glaubte auf demselben einen Königsnamen und eine ge-
naue Constellation, welche eine Bestimmung der Sterbezeit des Qatbastru
auf astronomischem Wege zuliess, entdeckt zu haben, aber leider findet
sich auf dem Sarkophag weder der eine, noch die andere. Die
EntzifTerungsversuche des gelehrten und in gutem Glauben an die
Richtigkeit seiner Methode arbeitenden Gelehrten werden den jüngeren
Fachgenossen, welche dem Entwickelungsgange unserer Wissenschaft
nicht gefolgt sind, komisch und im höchsten Grade verkehrt vor-
kommen, ja sie werden den Seyffarth'schen Übersetzungen gar nicht
mehr zu folgen im Stande sein und sie als Ungeheuerlichkeiten be-
trachten, mit denen man nicht mehr zu rechnen hat. Wollten sie
sich indessen die Mühe geben, Seyffarths System kennen zu lernen,
so würden sie wahrnehmen, dass der genannte Gelehrte es bei all
seinen Übersetzungsversuchen ganz consequent angewendet hat, und
sie würden sich dann mit uns voller Erstaunen fragen, wie es ge-
lingen konnte mit Hülfe einer ganz verkehrten Entzifferungsmethode
Versionen zu liefern, welche nur in vereinzelten Worten dem
wahren Inhalt des Grundtextes entsprechen, und dennoch nicht ganz
und gar unsinnig klingen. Champollion hatte diejenigen Hieroglyphen,
welche wir längst als Silbenzeichen kennen, als alphabetische Buch-
staben betrachtet, zu denen ein zweiter und manchmal auch ein
dritter Laut zu ergänzen sei, Lepsius war es, welcher das Wort
Silbenzeichen zuerst aussprach, Seyffarth aber stellte die Silbenzeichen
an die Spitze seines Systems. Dabei ging er viel zu weit, und als
er sah, dass die ChampoUion'sche Schule die Silbenzeichen, welche
er als seine Entdeckung in Anspruch nahm, benutzte ohne ihn zu
nennen, wurde er gereizt und fuhr sich, wenn der Ausdruck erlaubt
ist, in die Silbenzeichen fest. Zeichen in Menge, denen ein ganz
anderer Werth zukommt, wurden von ihm als solche betrachtet und
erklärt. So gelangte er zu höchst verkehrten Lesungen, und die be-
fremdlichen Wörter, welche bei diesem Verfahren herauskamen, er-
klärte er dann mit beispielloser Kühnheit aus dem Koptischen oder
den semitischen Sprachen. Im Ganzen lässt sich sagen, dass wol
214 Georg Ebers, [44
selten ein ernster und fleissiger Gelehrter an eine von vorn herein
verlorene und verkehrte Sache so grossen Eifer und so erstaunlichen
Scharfsinn vergeudet hat wie Seyffarth.
Den Namen unseres Batbastru liest er Hetnitocri, das U|
änbu het'-t, welches wir kennen, umschreibt er Tp thch. Er erklärt
es aus dem koptischen T^ne ocüjy Thebe provincia, nomus und halt
also diese Gruppe, welche sicher einen Theil von Memphis bezeichnet,
für den Namen des hundertthorigen Theben. In der Mittelzeile auf
dem Deckel steht die häufig und mit vielen Varianten wiederkehrende
Phrase jö a/vwvn M ^^z:^ ilj, ^ci:^ ^ ^ -^^ii^ ig=i "^^ 1 ^^^n:?^^ Liba-
tion Deinem Genius, Odem Deiner Nase, Räucherung Deinen Gliedern
von allem Herrlichen aus dem Himmel (was der Himmel erzeugt) etc.
^ bedeutet hier also das Ausgezeichnete, Herrliche und weiter
nichts; SeyfiFarth aber will in dieser einfachen Gruppe, obgleich sie
keineswegs mit der Cartouche, welche alle Königsnamen auszeichnet,
umgeben ist, den Namen des »zweiten Königs der XIX. Dyn.« er-
kennen, welchen er Rpc — Raphakes liest. Mit diesen Proben der
SeyQarth^schen Entzifferungskunst mag es genug sein. Es gibt nichts
aus ihr zu lernen, aber man sollte sie auch nicht hervorsuchen, um
über sie zu lachen, denn sie ist das Resultat eines zwar verkehrten
aber doch ernsten und ehrlichen Strebens.
Es steht trotz Seyffarth kein Königsname auf dem Sarkophag,
und so müssen wir denn nach anderen Hülfsmitteln suchen, um der
Zeit seiner Entstehung annäherungsweise auf den Grund zu kommen.
Nun gibt es kein funeräres Monument, auf dem Figuren und Texte
in erhabener Arbeit aus dem Holz geschnitten sind ausser unserem
Sarg und den berühmten Brettern in den Museen von Bulaq und
Turin. Die ersteren stammen aus der Pyramidenzeit, und da nun auch
eine Anzahl von archaischen und grammatischen Formen in den Texten
auf unserem Sarge vorkommt, so könnte man daran denken, seine
Herstellung in die erste Hälfte des alten Reiches zu verlegen, zumal
wir jetzt wissen, dass schon in weit früheren Tagen als man bis
vor Kurzem gedacht hat, der Verstorbene ein Osiris genannt worden
ist. Dagegen erhebt jedoch das ^^ maäj^er (mit vielen Varianten)
Einspruch, denn dieses tritt zwar in späterer Zeit regelmässig hinter
4S] Der geschnitzte Holzsarg des ^atbastru. 215
den Namen der DahiDgegangenen , kommt aber unseres Wissens nie
und nirgends vor der elften Dynastie vor. Dies ^^ begleitet nun
den Namen des 0a(bastru wenn auch nicht immer, so doch unter
dreissig Fällen zehn Mal, und aus diesem Umstände gewinnen wir
einen Terminus a quo, welcher uns mit Bestimmtheit zu behaupten
gestattet, dass unser Sarkophag frühestens aus der Zeit der XI. Dy-
nastie stammt. Fassen wir sodann die Göttergestalten ins Auge,
welche auf dem Deckel des Sarges angebracht sind und von denen
wir später zu reden haben, so finden wir, dass sie zwar schon in den
ältesten Texten des Todtenbuches erwähnt werden, aber in dieser Zahl
und Form nicht früher als auf den Holzsärgen der XIX. Dyn. vorkommen,^)
und so darf denn der Kreis enger gezogen und festgestellt werden,
dass unser Sarg frühestens unter der erwähnten Herrscherreihe ver-
fertigt worden sein kann. Doch in dieser Epoche und in den ihr fol-
genden Jahrzehnten liebte man es noch nicht auf archaische Formen
zurückzugehen; solche kamen vielmehr erst später, und zwar unter
den Fürsten der 26. Dynastie in Aufnahme. Man ging in dieser
Zeit auch gern auf die Kunstformen des alten Reiches zurück
und befleissigte sich in der Sculptur derselben liebevollen auch ins
kleine gehenden Sorgfalt, welche uns an unserem Denkmal erfreut.
Die Hieroglyphenschrift gewann damals, wo ein Zug »von gesuchter
Classicität und eines eleganten Purismus« ^^) durch die ganze aegyp-
tische Kunst ging und der Luxus, welcher in alle Gebiete des Lebens
eingedrungen war, sich auch auf die Todtenbestattung erstreckte,
jenen ansprechenden und ohne Kleinlichkeit zierlichen Stil, welcher
Lepsius veranlasste die schriHbildenden Zeichen dieser Zeit den
mustergültigen Hieroglyphen typen zu Grunde zu legen, welche für
die Berliner Academie durch ihn hergestellt und von den Aegypto-
logen aller Länder in Gebrauch genommen worden sind. Fassen
wir nun die Bilderschrift, welche den Sarkophag bedeckt, ins Auge,
so finden wir, dass die Form der einzelnen Zeichen und der Stil
der gesammten Texte sich nicht weit von der Eigenart der Schrift
auf den Monumenten aus der XXVI. Dynastie entfernt. Bei der Be-
9) V. Bergmann. Der Sarkophag des Panehem Isis. S. 8. Vgl. dazu Lepsius
Denkin. III, 279, e. Sharpe, Inscr. II, 47.
\ O) Lepsius, älteste Texte des Todtenbuches S. H .
216 Georg Ebers, [16
trachtung der Lichtgeister werden wir finden, dass diese auf einem
Sarkophag*^) aus der genannten Herrscherreihe ähnlich benannt und
aufgezählt werden wie auf unserem Sarge. Keine Liste der yu'
kommt der unseren so gleich wie die auf diesem Schrein des Psam-
öek neb pehti (26. Dyn.).
So lässt sich denn vermuthen, dass unser Monument wenn auch
nicht in dieser Epoche, so doch in einer derselben benachbarten
entstanden ist. Prüfen wir nun den Werlh der einzelnen schrift-
bildenden Zeichen, so kommen wir zu der Überzeugung, dass unser Sarg
noch jünger ist als die 26. Dynastie und dass wir ihn frühestens in
den Anfang der Ptolemäerherrschaft setzen müssen. In dieser Zeit
war der Schriftstil der Saitischen Epoche noch nicht vergessen, und
wo wir in derselben nicht der eigenartigen, schnörkelhaften und
aenigmatischen Schreibweise begegnen, finden wir Texte, welche
viele Besonderheiten der 26. Dynastie theilen. Dies gilt auch von
dem unseren, und doch ist derselbe nicht frei von jenen Wunder-
lichkeiten, die erst unter den macedonischen Herrschern in die Hie-
roglyphenschrift eingedrungen sind. Wenn wir den Artikel beim Vo-
cativ statt ^^ — a,^^) wenn wir \\ w ") statt mit dem Auge mit
der Pupillle o i , wenn wir ^ J ^ aufgehen statt mit ^ mit ^^ , die
ganze Gruppe also ^^ J ^ ^^) schreiben sehen und statt ^-^ a
— K^ statt ^^z^' — <=>^^) (THpov) hinter dem Nomen finden,
so sind wir zu behaupten berechtigt, dass wir es mit einem Denk-
mal aus der Lagidenzeit zu thun haben. ^^ kommt mit dem Werthe
u gewiss nicht vor den Ptolemäern vor. '^) Unter einem der ersten
dieser Könige wird unser Sarkophag doch wol verfertigt worden sein,
\\) Lepsius, Denkm. III, 279.
4 2) Seitenstück G, rechts Z. 4.
43) Vorderstück B, links, Abschn. 2, Z. 9.
\i) Schulterstück E, rechts Z. 2.
15) Seitenstück G, rechts Z. 3.
16) In Edfu und Dendera vertritt ^^ die Buchstaben «, s und r. Dü-
michen, Zeitschr. 1879, S. 126, A. Osiris (ünnefr) wird hierund sonst ^^
'j^H geschrieben, d. i. u -f- « -|- r, also usr oder usir.
^7] Der geschnitzte Holzsarg des IQatbastru. 217
derjenigen der 26. Dynastie in der Thal sehr nahe, und fehlt auf
ihm noch jene Selbstapologie, die sich an die ersten Zeilen des
127. Kap. des Todtenbuches schliesst und der man auf den schönsten
Sürgen aus der Lagidenzeit begegnet. ^^) Mit dieser schwer anfecht-
baren Bestimmung lassen sich auch die Namen des 0a{,bastru und
seiner Eltern wohl vereinigen. Die der letzteren scheinen, wie ge-
sagt, analog denen des Pasemtek'^) und der Tasemtek mit dem Ar-
tikel gebildet zu sein. Qatbastru ist zwar ein Hapaxlegomenon,
doch spricht schon die Form dieses Namens für sein geringes Alter.
Wie weit er von den einfachen Namen des alten Reiches abweicht,
braucht kaum hervorgehoben zu werden. Es ist auch bekannt, dass
die Gruppe W^ oder n^ hast, (Stadt oder eponyme Göttin),
welche in ihm vorkommt, erst seit der XXII. Dynastie häufiger bei
der Bildung von Eigennamen verwandt wird. Zwar kennen wir
eine Familie aus dem alten Reiche ^^) welche der Göttin Bast als
Priester gedient zu haben scheint, und unter der einige iMitglieder
W^ 5^ ^ ^ ^^^^ U^ »k ^ ^^^' '^^'^s®^' zwar kommt auf
einer wiener Stele aus etwas späterer Zeit eine W ^^ vor, zwar
hat es am Ende des alten Reiches den Namen ^^_-^'=^\('^ ^
und ^^ n ^0 g^S^^®"^» "^ Anfang des neuen Reiches kommt aber
ein mit n^ n^ oder W*^ Bast zusammengesetzter Name höchst
selten vor. Aus dem Ende der 18. Dynastie kennen wir nur eine
Familie, ") in der die Frauen als -»i^ « ^ qemät n Bast oder Sän-
gerinnen der Bast (auch des Amon) thätig waren, und unter der
ein männliches Mitglied ^^W^ hiess. Bis zum Regierungsantritt
der XXII. Dynastie kommen dann mit Bast zusammengesetzte Namen
nur ganz vereinzelt vor, von da an bis zum Ende der XXVI. Dynastie
17] Sai^ des Panehemisis (Wien) des Unnefer und Hör em heb (Bulaq).
4 8) Kanopen im Dresdener Museum. Zeitschr. für aegypt. Spr. und Alter-
thumsk. 1881.
19) Berliner Stele i\. Bei Lieblein diot. des noms hierogl. N. Hl.
tO) Sharpe. Inscr. VI. ser. 61.
24) Louvre. T. 4 54.
t%) London. Tablet 4 54. Liebiein. D. d. n. h. 858.
Abhandl. d. K. S. OesellBch. d. Wissenseh. XII. 16
"^^'i liiil
218 (Ikorg Khkhs, 'I^
werden sie ungemein hüufig, und sie freien auch in der Perser- und
Ptolemüerzeit in zahlreichen Beispielen auf. Wir erwUhnen aus dieser
Epoche eine ^Q.^^ oder ^'^Qv ^^/^ Derjenige mit Basl
zusammengesetzte Name, welcher auch unter den PtolemUern am
beliebtesten war, ist ° ^ "^ ,'') Auch ts^^
verschiedenen Varianten'^') ist nicht seilen. Im Louvre linden sich
die Namen <=>W'^ und W'^^r^'')- '^^»' ^'^^ g(»hört in die
XXII. der andere in die XWI. Djnaslie. In diese und splUero
Zeiten weisen noch die foigenllen Namen, zu denen sich noch manche
Ergiinzung finden Hesse :
fonz T"ti:. ^:sp, \z:^:. \m-
^Zffi' %m'^Z' '■\M2- ra^^Q.
Der schon oben erwUhnte Name der Mutter des Halbaslru ist
uns nur im Demotischen begegnet. Er heisst dort Säye|)ri und sein
griechisches Antigra|)hon lautet ilayTrr^pi;. Auch dieser Umstand
zwingt uns die Entstehung des Sarges in verhältnissmässig spHte Zeit
zu verlegen. Unsere Ansicht geht also dahin, dass derselbe am Anfang
der Ptolem^ierzeit, und zwar zu iMemphis, hergestellt worden ist.
Die Göttergestalten.
Die zum Schutze des Verstorbenen auf dem Sarg angebrachten
Göttergestalten sind nicht eben zahlreich. An anderen Sarkophagen
und besonders an denen aus spüterer Zeit kommen sie in sehr viel
grösserer Menge vor. Merkwürdig ist das Fehlen der vier preisen-
den Affen, Jj ääni' äft, welche im Todtenbuche so-
wohl auf der Vignette als im Text des 12G. Kapitels, das auch
23) Krall, Studien zur (icsch. <1. a. Aogypton. W'ien <88.i. S. 50.
24) Bulaq Siele ti3.
25) Liverpool. Sarg. Liebl. I. I. 1069. Münchencr Antiquariiini Stele 30.
(III, 1, 4.) Liebl. I. 1. t050.
26' Auf \ Apisslelo und Stein 274.
^d] Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastri}. 219
auf unserem Sarge angebracht ist, vorkommen. Es fehlen hier
ferner (sie sind überhaupt auf Holzsargen selten) die Nachtstunden,
welche so häufig in die Steinsarkophage gemeisselt wurden und die
(man denke an die ami-tuat Texte) nicht von endlicher Dauer
waren und als Schauplätze dessen, was in ihnen vorging, angesehen
worden sind. Die Sarkophage vertraten den Westberg und die
Unterwelt, und wenn wir das was in ihr war und vorging, nament>
lieh auf SteinsUrgen häufig abgebildet finden, so erklärt sich das
leicht, weil der selig gesprochene Verstorbene nicht nur eingeht in
die Herrlichkeit des Rä (der Sonne), welcher als werkthäliger Schöpfer
aller Dinge aufgefasst wird (von rä thun), sondern weil er auch
all seine Attribute empf^ingt und vollständig mit ihm assimilirt wird.
Als Rä hat nun der Dahingegangene, wie die Sonne nach ihrem
Tageslaufe, die Unterwelt zu durchwandern, um am anderen iMorgen
am östlichen Horizonte als neues die Erde erleuchtendes und seg-
nendes Tagesgestirn wieder aufzugehen. In die 12 Stunden der
Nacht fällt der Lauf der Sonnenbarke durch die Todtcnregion; darum
werden diese als Frauengeslalten mit dem funfstrahligen Stern ic auf-
dem Haupte (manchmal auch in Begleitung der Stunden des Tages)
besonders gern auf den Steinsarkophagen dargestellt. Sie fehlen nie in
dem »Buche von dem was in der Unterwelt ist«, aber dies findet sich,
wie schon angedeutet wurde, gewöhnlich nur auf Steinsarkophagen mit
viereckigem Durchschnitt, weil es mehr Platz erfordert als ein Schrein
in Gestalt der menschlichen Mumie hergibt. Unser Verstorbener ist
aber nicht nur Rä, sondern, und zwar in erster Reihe, Osiris, mit
dessen Namen er auch benannt wird. »Damit ist« — wir bedienen
uns der knappen und durchaus zutreffenden Erklärung v. Berg-
manns — »damit ist die nächtliche, abgestorbene und in Todes-
starrheit befangene Sonne gemeint, die aber, mit unzerstörbarer vi-
taler Potenz begabt, aus dem Todtenschlafe erwachend, am Morgen
zu neuem Leben am östlichen Horizonte emporsteigt.« Im letzten
Stadium der Apotheose wird aus dem Osiris Rä.
Auf dem Sarg unseres IJatbastru gibt es keine eigentlichen
astronomischen Darstellungen zu sehen, wenn auch der Göttercyklus,
welcher uns auf seinem Deckel begegnet, wenigstens ursprunglich
einen siderischen Charakter gehabt zu haben scheint.
220 Georg Ebers, [SO
An beiden Seiten des MiKelslrcifens auf dem oberen Theile des
Sarkophags, und zwar unmitlelbar unter der die FlUgel ausstrecken-
den Nut stehen einander zwei Mal paarweise und einmal einzeln
GöttergestaUen gegenüber. Diese bilden zusammen einen Kreis von
10 Gottheiten, welcher beinahe el^enso in der XXVI. Dynastie und
niemals früher als auf den Holzsürgen der XIX. Dynastie vorkommt,
aber immer nur als eine Erweiterung des Cyklus der 7 oder
8 yu '^^ M ( ] zu betrachten ist, welcher schon im al-
testen Kapitel des Todtenbuches, dem 17., und zwar in der 38. Zeile
erwähnt wird. Auf dem Sarge des Sebekaä — er stammt aus dem
alten Reiche — heisst es von ihnen (im Innern des Deckels) also:
U I »Ich auch kenne den Namen der 7 Lichtgeister,
welche sich beßnden im Dienste des Herrn der Nomen (Osiris) ; durch
Anubis sind ihnen ihre Sitze bereitet worden«. Diese Stelle (und
noch deutlicher der unten zu citirende Satz im Pap. des Suti Qenna
Taf. X, 119) liefert die Erklärung, warum auf unserem Sarkophag
dem aus 7 zu 10 erweiterten Kreise der j^u oder Lichtgeister zwei
verschiedene Formen des Anubis folgen. Die ganze Götterschaar
kommt zum Abschluss mit zwei GöttergestaUen ^ Neith^) und
n Jj Selq. An Stelle dieser beiden könnte man wohl das Göt-
tinnenpaar Ne^^eb (Neqeb) und Uat', die Süd- und Nordgöttin, er-
warten, und Neith und Selq scheinen hier in der Thai für diese
einzutreten.
©
27) Lepsius, älteste Texte des Todtenbuches. Taf. 3S. Z. 45. In dem
schönen Theb. Papyrus des (j^ v— fl "^ ^ Suti Qenna, welcher zu Ley-
den conscrvirt wird, ist immer nur von 6 Lichtgeistern die Rede ; bei der Auf-
zählung derselben (siehe die Liste) Taf. X, H 6 und 4 4 7 der Leemans' sehen Pub-
lication, werden aber dennoch deren 7 bei Namen genannt.
28) Das ycD^ ist nur 0 geschrieben, und so könnte man es wol auch ^c=3
lesen; aber der Winkel vorn ist kein spitzer, sondern ein rechter, und Neith
und Selq gehören zusammen ; mit besonderer Regelmässigkeit auf den Kanopen-
inscliriften. In dem begleitenden Texte wird die gemeinte Schutzgöttin »Mutter«
genannt, was sich auf Neith und nicht auf Maä beziehen muss.
^^] Der geschnitzte Holzsam des Qatbastru. 221
Der zu 10 erweiterte Kreis der 7 -/a oder Lichtgeister kommt, wie
bereits angedeutet worden ist, nicht vor der XIX. Dynastie vor.
Merkwürdig ist es, dass auf späteren Särgen aus der Ptolemäerzeit
der Cykhis wieder zusammenschrumpfl und nur noch 8 Götter enthält.
Wir denken, dass es Manchem angenehm und nützhch sein wird hier
neben der Lichtgeisterreih'e auf unserem Sarkophag andere Listen
derselben Verehrungswesen zur Vergleichung vereinigt zu tinden.
(S. S. 222 und 223.)
Diese Listen zeigen verschiedene Divergenzen; nur die Namen
der vier Todtengenien bleiben einander auf allen gleich, v. Berg-
mann^) hat die ursprünglich siderische Natur der yja nachgewiesen,
und wir erwähnten schon oben, dass sie bereits in den ältesten
Texten des Todtenbuches^) als im Dienste des Herren der Nomen,
d. i. des Osiris, stehende Lichtgeister bezeichnet werden. Auch in
den Inschriften unseres Sarkophages sind sie die hulfreichen Geleits-
männer, Diener und Kämpfer für den Osiris d. i. den Verstorbenen.
Bei allen Stadien seiner Erneuerung und Verklärung stehen sie ihm
thatkräftig bei, und zwar auf Befehl des Rä, ^') bis die Apotheose
des Dahingegangenen erfolgt und er selbst Rä geworden ist. Ähn-
liche Dienste und Hülfleistungen wie die Lichtgeister haben auch
Neilh und Selq dem Verstorbenen zu verrichten, wenn auch nur mittel-
bar, da sie gewöhnlich als Beschützerinnen der den Dahingegangenen
schirmenden Kanopengötter genannt werden.
Zwischen den 10 -/u und dem genannten Göttinnen-Paare sieht
man links und rechts von der Mittelzeile je eine Gestalt mit dem
Schakalkopfe. Beide tragen das Scepter j in der linken und das
-¥- in der rechten Hand. Sie folgen den Lichtgeistern unmittelbar
und bringen wie die sie begleitenden Inschriften lehren, den Gott
Anubis zur Anschauung. Die Figur rechts wird (I Ml änep
(Anubis) in der Kapelle, die Figur links ü p, ® ^"^P (Anubis)
oben auf seinem Berge genannt.
29) V. Bergmann. Der Sarkophag der Panehemisis S. 8.
30) Lepsius, älteste Texte d. T. Taf. 32. Z. 4 5.
0tq
^vwvNA^ I Ich komme vom Himmel auf Befehl des Rä etc.
I I
222
Georg Ebers,
[22
Licht
I. Sarkophag des Hat-
bastru.
{\0 Lichlgeisler.)
II. Todlenb. XVII, 38.
(7. Lichtgeisler.)
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A/VNAAA n I I I
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32) Auf dem grossen Sarkophag im museo civico zu Bologna ein mal auch
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Der geschnitzte Holzsarg des Hatbastru.
223
geister.
IV. Todtcnb. XCIX, \S
8 Lirhliieisler.]
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V. Deckel des Sarges VI. Sarg dos Paneliein-
des Fcldhauplmannes i isis zu Wien.
Psamtek neb pelili aus
der XX Vf. Dvn.
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(8 Lichtgcisler.'
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33) Ebenso Dümichen. Tenipelinschriflen I, 15
224 Georg Ebers, [^^
Man musste von vorn herein einen Gott, welcher mit der Bal-
samirung, der Todtenbestattung und der Unierwelt so eng zusammen-
hangt wie Anubis auf unserem Sarkophag zu finden erwarten. Er
ist ja auch der Psychopompos der Aegypter. Unter die -jfu darf
man ihn nicht rechnen, obgleich der letzte Name in der alten Liste
Todtenb. XVII, 38 ^J^ öor /ent an ma im gleichen Kapitel
derselben Schrift Z. 61 dem Anubis gleich gesetzt wird. Es heisst
dort 0^^^^rf)°^^(e)^^c^ Anubis aber ist Hör j^ent an ma d. h.
Horus, welcher sich im Inneren dessen befindet, der ohne Sehkraft
ist. Der des Gesichtes Beraubte ist der Verstorbene, und wenn von
diesem ausgesagt wird, dass sich Horus in ihm wirksam erweise,
so bedeutet dies, dass die vitale Kraft in den Leichnam zurückgekehrt
sei. Jlor /ent an ma, welcher dem Anubis gleich sein soll, Iftsst
sich also kurz als die den Leichnam neu belebende Potenz bezeichnen.
Anubis folgt den ^^u wie der Hirt der Heerde und bereitet ihnen
die Sitze (Todtenb. 17, 34 ^ fl ^ ^if^rTi' '"" "^^^^
V
Pap. des Suti Qenna zu Leyden heisst es an der gleichen Stelle
des XVII. Cap. (Loemans'sche Publikation Taf. X, H9) von den
Lichtgeistern ^ rTx .T^. °:^ ± 17^ ^ k ^rT.^Ö
Es hat sie betraut Anubis mit dem Schutze des balsamirten Leich-
nams. Der Seele des Verstorbenen öffnet Anubis die Wege als
H n) \/ ^ Anup äp uat\ ^*) nachdem er für ihre Balsamirung
Sorge getragen. Über diese Seite seiner göttlichen Thätigkeit wird
in den sogenannten Balsamirungsritualen, welche von Maspero^)
34] Todtenb. 18, S2 u. a. v. a. 0. Die Lesart uat festgestellt von Le Page
Renouf. Proceedings. Soc. of. bibl. arch. 4 882. S. 61. S. Lepsius älteste Texte.
T. VI, 9. Sharpe, Inscr. 1, 78. U, «6. Die entscheidende Variaole ist -JH Ib^
S. dazu Todtenb. 147, 22. Ich bin gekommen wie Rä -ch>- ^ ^^ Mw
vA (I ^ Ich habe zurückgelegt den Weg gleichwie ihn mir bereitet
hat Anubis. In den ämi-tuat Texten sitzt der äp-uat auch als wegweisender Pilot
an der Spitze der Barke.
35) Maspero. Memoire sur quelques Papyrus du Louvre. Paris 1876. Le
rituel de Tembaumement. D*apres le Pap. 5158 du Louvre et le pap. 3 de
Boulaq.
^^] Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastrc. 225
herausgegeben und behandelt worden sind, nähere Auskunft gegeben.
Jedermann kennt die zahheichen Vignetten, welche Anubis zeigen,
wie er neben der Bahre seine Hände schützend oder segnend gegen
den Verstorbenen niederlässt. Ist die iMumie »vollendet«, so sorgt
Anubis Tür die Unterkunft derselben, denn es heisst Todtenb. 1 52, 2
AA/VA/NA
der Osiris ... Er erbaut ihm seine Wohnung auf Erden. Er legt ihren
Grundstein in Heliopolis und er friedet sie ein in ^erau. — Wie
Anubis den Leichnam balsamirt, so sorgt er für die Wiederherstellung
und Kräftigung des auferstandenen Leibes, und er begleitet den-
selben schützend und helfend bis in die Halle des Gerichtes. Uorl
nimmt er Theil an der Wägung des Herzens des Verstorbenen,^)
indem er Hand an diejenige Schale der Wage legt, auf welcher das
Gewicht, das Bild der Göttin der Wahrheit, sieht. In seinen Mund
wird die Verkündigung des Resultates der Wägung gelegt, und wenn
die Rechtfertigung der Seele erfolgt ist, bleibt er ihr Begleiter und
Hüter bis zu ihrer Apotheose. Ja die Nacht, in welcher die Ver-
klärung erfolgt heissl -) ^ | T "V S. St s3 F^ S^l 1^ ! f
® jj'^ . . . diese Nacht, in welcher Anubis seine Hände legt auf
die Dinge, welche hinter dem Osiris liegen.
Diejenigen Formen, unter denen Anubis auf unserem Sarkophag
vorkommt, finden sich beide im Todtenbuche wieder, die eine
IV AAAAAA ify ^'^^
(I Ml Anubis in der göttlichen Halle ganz olfen^) und ebenso
wie auf dem Schrein des ^atbastru, die andere im Turiner Exemplar
versteckter, aber doch leicht kenntlich und durch Varianten in an-
deren Papyrus sicher zu identificiren. »Anubis in der göttlichen
Halle« ist derjenige, welcher sich im Saale des Gerichtes bei der
Wägung thätig erweist. Dies geht mit Gewissheit aus dem in der
36) Todtenb. CXXV. Vign. d.
37) Todtenb. XVIII, 36.
33) Todtenb. UJ, t3. h ^^ (^ ^' ^^^^^^ ™'* unwesent-
lichen Varianten Mt, 25. 164, c.
8
'226 (iKüRG EllERS, !?6
Wügungsscene über der Schale mit der (iöltiii der Wahrheit stehen-
den Texte hervor, wo es zu Hüuj)ten der Anubis heisst:^^) ^^ l^
göttlichen Halle spricht: »Das* Herz hüll das Gleiciigevvicht durch
seine Stellung, der Wage ist genug gethan durch den Osiris. . . «
Neben diesem VcMkündiger des Ausfalles der WUgung in der
öltlichen Halle sieht der (J fi\ " oder Anubis oben auf
seinem Berge.
Diese Forui des Gottes ist unendlich hiiufig, imd doch konmit
sie in) Turiner Kxemplai' des Todtenbuches nirgends ausgeschrieben
vor. Indessen ist auch diesen Texten unser Golt \Nohlbekannt und
wenn wir Todtenb. 115, 79 lesen: fl (j ^ ^'''^ '^' * iS ^ Vw^
M|l c-D SO haben wir in diesem Satze die beiden Anubis-
formen unseres Sarkophags vor uns und dürf(»n übersetzen :
Ich wandle im Hause des (Anubis) der oben auf seinem Berge'")
und sehe den (Anubis) in der göttlichen Halle. In dem sehr ver-
derbten Texte Todtenb. 151, b wird unter dem Bilde des Anubis,
welcher zwischen zwei aufgerichteten Mumiengestalten liegt, stntl
des Anubis ein Osiris tep tu-f genannt. Dies darf uns nicht wundern,
da der Verstorbene zwar gewohnlich ein Abbild des Osiris, oft aber
auch des Anubis heisst. Todtenb. 17, 7 kommt ein |M jf
Ovsiris, Herr des Westberges vor, und eben dieser" Wesiberg, d. h.
das libysche Gebirge, welches die Nekropolen nach Abend hin ab-
grenzt, rauss selbstverständlich die Residenz des Gottes der Todten-
region sein.
39) Todlenb. CXXV. vign. d.
40) Erman. Ztschr. 4 883, S. 95 fassl inil Recht das ® in diesem Titel als Nisbe
Pj . . und weist zulrefl'end darauf hin. dass in alten Formeln und Titeln die Nisbe
defccliv geschrieben wird. Er halt a. a. 0. 'r&Ä.*i*]fajy im grossen pariser Zauber-
pai)yrus C, \ 4 für die koptische Form unseres tep tu-f und sucht den lautliclien
Vorgang in Folge dessen diese Wandlung erfolgt sein würde geschickt durch Ana-
logien zu erklären. Jedenfalls wird gerade Anubis noch im 6. und 6. Jahrh. n.
Chr. in griechisch-aegyptischen Zauberscliriften angerufen.
^T Der geschnitzte Holzsarg des (Iatbastrl. 227
Auf dein Deckel des Sarkophages des ^ ^i^ 0 P ^s. ^ '
^^^^^^illl^O' welchen wir schon oben ervviUmten, tinden wir hinter
den zu 1 0 erweiterten 8 Lichtgeistern gerade wie auf unserem Sarg(;
die beiden Anubisformen. Neben ihnen steht der Stab mit dem
Pantherfell etc. C, welcher so oft zu Füssen des Osiris der Unter-
welt zu sehen ist. Der Anubis in der göttlichen Halle heisst hier
(| UV' Anubis oben auf seinem Berge und wird wie auf unserem
Sarkophaö;e M und dazu noch ^"^^ c^^^ der Herr der
Nekropole genannt. Beim Tempelkult \on Dendera trugen 8 Paslo-
phoren den Schrein der Hathor, welcher Statuetten der 8 Licht-
geister enthalten zu haben scheint. Dieselben werden in der In-
schrift zur Uechlen und Linken des Schreines (Marielte, Denderah
IV, Taf. 9, Nr. XXXVIH) also genannt: (j^ amseö, ^^ Tua-
met-f, ^\ heq, CZ3-*^ är ren-f t'esef, jvlp (|ebhsenf, ©o^ y
Maa-tef-f, f-^ Jö^^^)» X^"* ^^^4"^ "^"^ X^"^ ^^ *"^-
Die Inschriften auf dem Deekel.
Sie zerfallen in einen Mittelstreifen von je 6 Zeilen zur Linken
und Rechten desselben. Auf den dieser Arbeit beigegebenen Tafeln
haben wir sie in lithographischer Reproduction gegeben. Wohin
jede gehört, Uisst sich leicht aus dem Tableau erkennen, welches
die auf die Ebene übertragene Oberdäche des Sarges zeigt. Wir
geben den Text genau wieder und haben geflissentlich von Cor-
recturen, auch da wo '^^37 für ^^ci;*, ^^=>6 für ^^^37 steht, abgesehen.
Taf. L Mittelstück A.
Ein königliches Weihgeschenk für den Osiris, den
i\) Lepsius, Denkm. III, 279^ e.
42) Aus diesem Beispiel ergibt sich die Lesung j^er für iöh-=>. Dieselbe
kommt ja auch sonst oft vor, darf aber keines>\egs für die Lesung } = yer
herangezogen werden. Nach unserer und Le Page Renoufs Darlegung muss es bei
^/^ = ya bleiben.
228 Georg Ebf.rs, i^^
grossen Gott, den Herrn der weissen Mauer*^) für den
werthgeschaizten bei Osiris den königlichen Anver-
wandten Flatbastru. Libation werde dargebracht Deinem
Genius (Ul), Odem sei Deiner Nase, Räucherung Deinen
Gliedern von allem Vorzüglichen was aus dem Himmel
stammt und allem was aufsprosst auf Erden. Es sollen
Dich erfrischen Wasser, jederlei Opfergebäck und alle
Dinge, welche erscheinen vor dem Opfertische des
Obersten und grossen Herrn der weissen Mauer??^*) Du
darfst hinein- und herausgehen, nicht bist du ausge-
schlossen aus den Thoren derer, welche auferstanden
sind für die Ewigkeit.^^)
Vorderstück C, rechts 1 und 2 und Vorder stück B,
links 1 und 2.
Die beiden Hälften des Vorderstückes dürfen nicht einzeln von
Zeile 1 bis hinunter zu Zeile 6 behandelt werden, sondern so, dass
man der ersten Zeile rechts die erste Zeile links, dieser die zweile
Zeile rechts, dieser wiederum die zweite links folgen lässt und so
fort. Dies geht aus den ersten Zeilen auf beiden Seiten hervor,
denn sie sind den Horuskindern, den vier ersten Lichtgeistern ge-
widmet, welche nicht gelrennt werden konnten, und wie gewöhnlich
so auch hier mit Q^~"|rvl ämseö beginnen.
Ein diesen vier Genien oder den 10 Lichtgeistern gemein-
sam geltender Text ist hier nicht vorhanden, obwol es einen
solchen gibt, wie wir aus dem Sarkophag des Panehem Isis ersehen, *^)
wo er lautet:
43) Das auch den Griechen wohlbekannte Fort von Memphis Xeuxov rei/o;.
Nach dem Scholiasten zu Thucydides I, 104, weil es von Bruchsteinen (dem
schimmernden Kalk des Mokattam) und nicht von Ziegeln erbaut war. Es wird
sonst noch erwähnt Herodot III, 91 und Diodor XI, 74, 77.
44) Die unausgeführten Rechtecke müssten doch wol also gelesen werden
c
45) jj Ä^ welche sich in die Höhe heben ewiglich.
46) y. Bergmann. Der Sarkophag des Panehemisis. S. 7.
29] Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastrl*. 229
raX(tPiffiP^il^1°^UZIiä
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AA/WAA "^
ja2.
oy_Jl^ ' n^^
/^/vs^^A
Heil, Heil Euch Söhnen, diesen Kindern des Honis, diesen
8 Lichtgeistern, den Vollkommenen. Zu seinem Dienste sind sie
von Rä daselbst an seine Seite gesetzt worden, weil da hasset Seth
seinen (nicht ihren) Anblick. Übet aus Eueren Schutz über Eueren
Vater Osiris N. N. Vollbringet das Wachen über ihn Tag und
Nacht, denn er ist einer von Euch.
Den vier Horussöhnen oder Todtengenien liegt es ob, den Ver-
storbenen zu beschützen und zu bewachen. Auf der Vignette zum
CXXV. Kapitel des Todtenbuches, wo sie in der Gerichtshalle über
dem Opfertische dem Oberrichter Osiris gegenüberstehen, scheinen
sie als An walte zu fungiren. Unter den Erklärungen zum XVII. Ka-
pitel des Todtenbuches, welche leider den klaren Grundtext weit
öfter verdüstern als aufhellen, befindet sich eine, die sich auf sie
bezieht und immerhin geeignet scheint einiges Licht auf ihre mytho-
logische Bedeutung zu werfen. Der Grundtext Todtenbuch XVH,
32, sagt:
Heil Euch, ihr Herren, der lohnenden und strafen-
den Gerechtigkeit ^^ßßi ihr königlichen Häupter, die ihr
schützend hinter dem Osiris stehet, ihr die ihr abtrennt
(säl) vom Bösen, ihr, die ihr derjenigen folget, welche
gnädig gewährt ihren Schutz (betep-s x^"^)» gebet auch
mir, dass ich zu Euch komme. Löset in nichts auf alles
Schlimme, das an mir haftet (äri-ä), gleichwie ihr es thut
jenen sieben Lichtgeistern, welche zur Gefolgschaft (Die-
nerschaft) gehören ihres Herrn, welcher das Recht zu-
ertheilt, und denen Anubis ihren Platz angewiesen hat an
jenem Tage des »Komm Du zu uns!«
'230 Georg Kbbbs, [30
Nun beginnt die Erklärung mit einem ^ f Oft ^"^^^ 1 y
Was ist das?
Es sind diese göttlichen Herren der lohnenden und
strafenden Gerechtigkeit Te^^uti und Astes, die Herren
des Todtenreiches (^^ ^ j; die königlichen Häupter aber/^)
welche schützend hinter dem Osiris stehen, sind Amseft,
Häpi, Tuamet-f und Qebhsenu-f, und diese sind es auch,
welche sich hinter dem Stierschenkels;estirn c?^ •
des nördlichen Himmels befinden.
Aus dieser Erklärung geht hervor, dass man die vier Genien
vvol zunächst als siderische Gottheiten und dann als Schirmherren !
der Verstorbenen gedacht hat. In Folge der ersteren Auffassung j
haben sie auch kalendarische Funktionen und treten als eponyme
Gottheiten der Monalstage auf. Sie stehen unter diesen dem 4 — 8,
dem 10. und 15. als Kalendergottheiten vor. Als Schutzherrn des
Verstorbenen geben sie demselben die Grundbestandtheile seines
Wesens zurück, denn auf dem Sarkophag des jl'S Petu usiri
mit dem uns Naville zuerst bekannt gemacht hat,"***) sagt Amsed:
»Ich übergebe Dir Deinen Ll«,*^) (das ist die von dem mate-
riellen Körper abstrahirte Erscheinungsform, der Genius und geistige
Doppelgänger). Häpi spricht: »Ich übergebe Dir Dein Herz«
(d. i. Geist und Gemüth). Tuamel-f spricht: Ich übergebe Dir
Deine Seele (^ ba (d. i. das Lebensprincip, durch welches sich
das Lebende vom Nichtlebenden unterscheidet). Qebhsenu-f spricht:
Ich gebe Dir Deinen sahu« (d. i. der durch die Balsamirung
für eine ewige Dauer zubereitete Leib)."^*)
47) Die vier Todtengenien werden auch an andern Stelleu h i i Vwl
ji i\ genannt.
48) Zeitschr. 1877, S. 30.
49, II AA/lvAA
50) Auf der Granitstatue der Hör ut'a zu Miramar heisst es ^^^
^^ O (1 Q ^^ V^ ^^ Ich bin ein Sahu durch das was
AAAAAA
•^•^ Der gesciimtztk IIolzsakg des Katbastri. 231
Naville hat a. a. O. auch claraur hingovvioson, dass wir in
unseren vier Genien die Gottheiten der vier Himmels- und Wind-
richtungen, ja der vier Winde* selbst zu erkennen haben. Zu den
bekannten Krönungfesten, welche im Uamessenm (Leps. Denkuj. III,
i(J3) und zu Medinet Habu dargestellt werden, gehört eine (Zeremonie,
welche daraus besteht, dass man vier Vögel als Bolen in alle vier
llinunelsrichtungen fliegen lüsst. Jeder von ihnen wird nach einem
von unseren Genien genannt. Beide Monumente haben für den Süden
Anisett und für den Norden Häpi, welcher zu Medin. Hal)u
ü;eschrieben wird. ()el)hsenu-f und Tuamet-f stehen im Bamesseum
deuj Westen und Osten, zu Med. Habu umgekehrt dem Osten und
Westen vor. Genauigkeit ist bei solclien Dingen überhau|)t nicht zu
erwarten, aber Amse}> und Hä|)i sind ohne jede Ausnahme Vor-
steher der Windrichtungen des Südens und Nordens, und in weitaus
den meisten Fallen, welche wir notirt haben, ist, wie im Ra-
messeum, Tuamet-f der Gott des Ostens und Ostwindes, Qebhsenuf
der des Westens und Westwindes. Der Text von Med. Habu
schliesst sich an die weniger gebriUichliche, aber doch auch sonst
vorkommende Auffassung. Auch zu Dendera steht Tuamet-f dem
Ost-, Qebhsenu-f dem Westwinde vor. '') Naville hat ferner darauf
ihm f^eschehen ist, ein Verklärter, vollkommen durch die AusslaUung, welche sich
an ihm befindet. Diese Ausstattung ist die Balsamirung, die Urawickelung mit
Binden und ist auch die dem Leichnam beigegebenen schützenden Araulete und
Texte. Das Lexikon lehrt, dass sahu auf die Wurzel 18 'n^^^^ 1 1
zurückzuführen ist, welche sich im koptischen ce^g., cino^fg , coo^g congerere,
congregare, acervare erhalten hat. Es bedeutet mit etwas reichlich versehen,
reichlich beschenken. Im Pap. Ebers 65, 16 wird es von Salben gebraucht, die
reichlich aufgetragen werden sollen. An solchem sahu oder reichlich ausgestatteten
Mumienleibe haftete die körperliche Form, durch welche sich der verstorbene
Mensch von anderen Menschen unterschieden haUe , und in den funerären Texten
wird darum unter Sahu nicht nur die Mumie, sondern auch die von dem Körper
abgelöst gedachte Unterscheidungsform desselben verstanden. In dieser Auffassung
ist der Sahu dem LI, nahe verwandt und man darf ihn wohl Schemen übersetzen.
Der Ka wird abstrahirt von dem Bilde, der Statue des Verstorbenen, der Sahu
von seiner Mumie.
51) In einer Darstellung der vier Winde in einem der Fenster von Dendera.
Dümichen Hesultate Taf. Ä6.
232 Georg Ebers, [33
hingewiesen, dass Äinsed und Häpi mit der Doppelsladl*^^ D© ©
pe und tep (d. i. Buto), die beiden anderen sog. Kanopen mit der
1 535;^ Kapitel von der Kenntniss der Geister von y^en oder ne^en,
Stadt jen oder nej^en in Zusammenhang gebracht werden.
Die 'm^rfji oder Geister dieser beiden Orte, d. h. die in ihnen
verehrten mythologischen Persönlichkeiten waren von so grosser Be-
deutung, dass die Seelen der Verstorbenen sie in der Unterwelt
kennen mussten. Die Überschrift des 112. Kapitels des Todtenb.
lautet: <^^*^^^^i '^^ cv) ' D*® • ^'"^ anderes Kapitel von der Kennt-
niss der Geister von Buto, die des 113. Kapitels: 1 j
i
d. i. die Eileithyiastadt. Aus Kap. 112 geht nun hervor, dass
Horus zum Gotte von Buto eingesetzt worden ist nachdem das
Horusauge den Seth, welcher es in Gestalt eines Schweines angefallen,
verbrannt hatte.-'^) in demselben Kapitel heisst es, dass die vier
ersten Lichtgeister Amsed, Häpi etc. den Horus zum Vater und
die Isis zur Mutier haben. ^ j^ ,T; ° ^ ^" PTl e jl O I
ihr Vater aber ist Horus, ihre Mutter Isis. Demnach gehören nicht
alle vier zu den Seelen von Buto; vielmehr nennt der Verstorbene,
nachdem er zur Kenntniss dieser Seelen gelangt ist Todtenb. 112, 8
nur Horus, Amsed und Häpi. Die beiden anderen Tuamet-f und
Qebbsenu-f gehören — wiederum mit Horus — wie das 113. Kap.
lehrt, zu den Göttern von " o. Dies war dem Horus durch Rä
verliehen worden, nachdem es Sebek gelungen war, seine Arme,
welche er im Kampfe gegen Seth eingebüsst halte, mit seinem Netze
aus dem Wasser zu fischen. Wie Amsed und Häpi zu Buto, so
sind Tuamet-f und Qebhsenu-f zu yen oder Nej^en, d. h. in der
Südstadt xatf ^5ox^v, der Eileithyiastadt der Griechen und dem el-
Kab von heute die Wächter und Begleiter ihres Vaters Horus. So
kommt es denn auch, dass in der Vignette zu Kap. 112 der Ver-
storbene den Horus und seine Söhne Amsed und Häpi die Geister
von Pe, in der Vignette zu Kap. 1 1 3 den Horus und seine Söhne Tua-
52) Wie Buda-Pest oder Elberfeld-Barmeo.
53) Todtenb. H2, 6.
33] Der geschnitzte Holzsarg des ^atbastru. 233
met-f und Qebhsenu-f, die Geister von yen oder Nej^en, anbete^.
— Eigentlich sollte man für ^^en oder Ne/en Amsed, vielleicht mit
Tuamet-f, für Buto Häpi, vielleicht mit Qebbsenu-f erwarten, denn
•jfen oder pennen ist stets die Sudstadt, Buto immer die Nordstadt,
und so sagt denn auch der Gott Menhi zu Esne dem Könige:^)
A^TT-^A V T ro-^ w T '^'^ ^^^^ ^^^ ^'^ weisse Krone (von
Oberaegypien) in Nej^en und die rothe Krone (von Unteraegypten)'
in Pe. Die Göttin von Ne/en 1 JI U. Ne^eb-t ist stets die des
Südens, die T^, var. *^ ü q "1"^ oder ut'-it ist immer die des
Nordens. So würde man denn auch zu Nej^en neben dem Horus
dieser Stadt den Amsed, welcher überall der Windrichtung des Südens
vorsieht, und neben dem Horus von Pe und Tep, Häpi, den nörd-
lichen ohne seinen südlichen Genossen Amse&, welcher ihn hier
dennoch begleitet, zu erwarten haben. Die Naville'sche Wahrnehmung,
dass also ^ Pe für sich allein, wenn es ^^^ j^en oder Nej^en gegen^
übergestellt werde, den Norden und Süden zugleich darstellen könne,
ist unanfechtbar, aber eine Erklärung für dieselbe haben wir nicht
zu finden vermocht. Statuen derselben kennen wir nicht, wol aber
werden häufig kleine Wachsfiguren in der. Höhe von 7 — 10 cm.
»die vier Osirissöhne« bei den Mumien gefunden.
Besonders häufig begegnen uns die vier ersten Lichtgeister als
Vasen, deren Deckel die Form desjenigen Thierkopfes tragen, welchen
man jedem einzelnen von ihnen zuschrieb, und deren Inneres diejenigen
Innentheile des Verstorbenen barg, welche jeder von ihnen besonders
zu beschützen hatte. In jedem Museum finden sich dergleichen Vasen
oder Urnen, und sie werden schon früh allgemein mit dem Namen
»>Kanopenc( bezeichnet, obgleich derselbe nicht aegyptisch zu sein
scheint. Jedenfalls hängt er mit dem der Stadt Kdva)7i:o(; oder doch
wohl richtiger Kdvu>ßo<;, zusammen, aber auch dieser scheint griechisch
zu sein. Nach einer bekannten Stelle des Aristides, ^^) würde der
betreffende Name allerdings aus dem Aegyptischen kommen. Der ge-
nannte Schriftsteller will mit Kecht nicht an die Sage glauben, dass
54) Brugsch. Dictionnaire geographique. I, S. 354.
55) Arislides. Or. Aegypt., opp. T. II. p. 359 seq. ed. Jebb.
AbliaDdl. d. K. S. Ge««llach. d. WUaensch. XXI. 4 7
234 Georg Kbeks, [^^
Kanobos nach dem Steuennanne des Menelaos, welcher hier begraben
liegen sollte, benannt worden sei, denn ein aegyptischer Priester hatte
ihm mitgetheilt, die Stadt habe schon viele Jahrhunderle vor Menelaos
ihren Namen getragen und dieser bedeute /püooov ISacpfx;. Charapollion**)
sprach die nahe liegende Ansicht aus, der Priester, welcher den
Aristides belehrte, könne nur das koptische K^.gl ÜJforS, das man
• vielleicht einfach K^J-gJiöVß ausgesprochen habe, gemeint haben, und
dies bedeutet ja in der That j^poooGv eSacpoc; oder güldene Aue.
Aber diese Erklärung scheint aus dem Kopfe des erwähnten
Priesters selbst gestammt zu haben, denn kein Denkmal gibt einem
Orte, welcher für Kanobos gehalten werden darf, einen Namen,
welcher auf die Bedeutung »güldene Aue« zurückgeführt werden
könnte. Dem xd^coTto«; im griechischen Theile des Dekretes von
Kanobos entspricht die Gruppe jj^ fl ? (demot. Pakutä) welche
Brugsch, da er das anlautende p wol mit Recht für den mascul.
Artikel hält, und es von der Wurzel trennt, Pi-Qaud liest. ^') So
würden denn die aus dem Todtenbuch (125, 17) bekannten Namen
S ^^ Q i^auu ^ \> % T=r kauu oder auch das ^_
AAAA^AT=r k:autut des Pap. Harris oder das q ^^^^® l^öuti aus den
A^VN/S/VS
w
Kämpfen des Horus zu Edfu^) dem iß^ ji'^ und Kdvo>Tco(; der
Bilingue von Tanis (Dekret von Kanobos) entsprechen. Neben den
erwähnten Gruppen kommt nun für Kanobos allerdings noch ^
vor. Dies ist ka nu pe zu lesen und entspricht also dem griechi-
schen KdvcoTTo«; ganz und gar; aber Brugsch ^^) sieht auch hier das
Rechte, wenn er es für die hieroglyphische Transcription eines grie-
chischen Namens hält. Das ^ lehrt uns also nur, wie der hel-
56) F. Champollion L'£gypte sous les Pharaons II. S. 259.
57) Ist diese AuflassuDg richtig, so kann Düinichens VermuthuDg (Geschiebte
S. 74) dass ÜT\ 7 0 gleich Kanopus sei Dicht auf Annahme rechnen. Denn
in dem äa pek wurde das p nothwendig als zur Wurzel gehörig zu betrachten
sein. Brugsch^ dict. geogr. S. H65.
58) Navilie, Myth. d'Horus. PI. XXI, Z. 7.
59) Brugsch a. a. 0. S. 720. 849.
^^] Der gbschnitztk Holzsab« des Qatbastru. 235
lenische Naiue kdvuyjto; oder Kdvcußcx; in später aegypiischer Schrift-
weise aussah ; aber ebea diese Schreibung enthält einen Prolest gegen
die durch Aristides bekannt gewordene Etymologie, da sie weder auf
fc/^l terra, pulvis, noch auf fiovfi aurum auch nur von fern an-
spielt. Welcher Umstand oder welche Namenslihnlichkeit die Griechen
veranlasst hat, das Grab des Steuermannes Kanobos gerade nach
Kanobos zu verlegen ist schwer zu sagen; jedenfalls ist später —
und zwar durch sie — der Name des Piloten auch unter den
Aegyptem für denjenigen der Stadt acceptirt worden. Es hatjn
derselben bis in später Zeit ein Serapistempel von grosser Bedeutung
gestanden. Der Geograph Gl. Ptolemäus soll die Pylonen desselben
als Sternwarten benutzt haben, ^) und es ist ja bekannt, dass
Hadrian unter den Nachbildungen anderer berühmter Lokalitäten,
welche ihm auf seinen Reisen besonders imponirt hatten, in seiner
Villa zu Tibur auch ein »Canopus« genanntes Bauwerk herstellen Hess.
Es scheint als habe das Heiligthum von Kanobos später Veranlassung
gegeben auch andere Serapistempel Kanobos zu nennen. — Da der
Serapiscult mit der Unterwelt und dem Leben im Jenseits eng zu-
sammenhing, müssen bei demselben unsere vier Lichtgeister noth-
wendig eine Rolle gespielt haben, und die Krüge, durch welche man
dieselben zur Anschauung brachte, scheinen den Griechen besonders
ins Auge gefallen zu sein. Später wählte die Stadt sogar einen
Krug oder wohl auch die Amse^-Kanope mit dem Menschenkopfe
als Münzzeichen. Eine der Münzen unserer Stadt zeigt bei dem Kruge
die Umschrift K ANQBITQN. •*) — Die Griechen haben auch eine
Erklärung für die Verehrung von Urnen , welche einen Menschenkopf
trugen, gefunden. Rufinus®^) der so viel Wunderliches zu erzählen
weiss, dass wir ihn nicht nur für einen naiven Nacherzähler un-
glaublicher Dinge, sondern gelegentlich auch für einen phantasie-
reichen Fabulanten halten müssen, theilt sie mit.
Die Chaldäer sollen mit ihrem Gotte, dem Feuer,- herumgezogen
60) Olympiodor Tässt ihn seine Beobachtungen machen iv toT(; A.eYO)jivou
irtepou TOü xavo)ßou. Commentar zum Phaedon des Plalo. Die Griechen (Slrabo)
nennen die Propylonen der aegypt. Tempel auch sonst irtepof.
6f) Vaiilani. Hist. Ptolem. p. 205.
62) Histor. Eccles. II, 26. S. auch Suidas s. v. xava>i:o<.
47*
236 Geokg Kbers, ['-^^
suia und ciio Götter aller anderen Länder zu einoni Kampfe niil ihm
herausgefordert haben. Der Sieger sollte von allen anderen als Gott
Anerkennung finden, üieser Herausforderung stellte sich ein listiger
Priester von Kanobos. Er nahm einen der porOsen Thonkrüge,
welche noch heute in Aegypten so gut verfertigt werden, ver-
stopfte die Poren, welche man als künstlich erweitert denken
muss, mit Wachs, malte ihn bunt an, füllte ihn mit Wasser und
setzte ihm einen Kopf auf, welcher einem Bilde des Steuermannes
des Menelaos angehört haben sollte. — Diesen Krug gab er für
seinen Gott aus und stellte ihn als die Chaldller kamen, über das
Feuer derselben. Natürlich schmolz das Wachs, das Wasser rann
aus den Löchern in die Flammen und verlöschte sie. Kanopus hatte
durch die List des Priesters den Gott der Chaldöer besiegt. Seit-
dem, sagt Rufinus, werde das Bild des »Canopus« mit kleinen Füssen,
zusammengeschrumpftem Halse und aufgedunsenem Bauche, welcher,
wie auch der Rücken, die Rundung eines Kruges habe, gebildet.
Diese gut ersonnene Geschichte sammt dem Zusätze, dass auf den
Krug das Haupt des Steuermannes des Menelaos gesetzt worden sei,
kann aus früher griechisch-aegyptischer Zeit stammen. Bei der fol-
genden Beschreibung des Gottes Kanopus scheint Rufinus die krug-
förmigen Lichtgeistergestalten mit den Pygmäenfiguren des Ptal^ Sokari
zu verwechseln.
Wenn wir Krüge mit Menschen- oder Thierköpfen Kanopen
oder die vier ersten Lichtgeister Kanopengötter nennen, so thun wir
es also nicht auf Grund aegyptischer Bezeichnungen, sondern indem
wir der nun einmal angenommenen Benennungsweise der Griechen
folgen. Die Kanopenkrüge mit Deckeln in Gestalt eines Menschen,
A(!*en, Schakals und Sperberkopfes stellen die vier ersten Lichtgeister
dar. Das geht aus den Texten, welche sich an der Vorderseite
der einzelnen Krüge zu finden pflegen, sicher hervor. Die folgende
Tabelle soll das über die Kanopengöttei' Bekannte übersichtlich zu-
sammenfassen.
37]
Der geschnitzte Holzsakg des Qatbastrc.
237
Die vier Horussöhne. Die vier ersten Lichtgeister.
f.
lj^]J ämse»
Mensrhenköpfig.
U ka
Magen uod grosse
Eingeweide. ?
Isis.
Südwind.
Süden.
Ol
0
Geist von
pe.
^auch _ ® pe
® D
und tep).
Lässt wachsen das
Haus und gibt der
Biids'äule Bestand.
«.
Aßeaköpfig.
O ab
Kleine Eingeweide.?
Nephthys.
Nordwind.
Norden.
Geist von pe.
(auch
0
O 0
•).
Überliefert die Köpfe
der Widersacher,
betet an. die Schön-
heit der Osiris, *'*)
streckt aus seine
Arme nach Osiris.
3.
tiiamet-f
Schakalköpfig.
(^^ ba
Lunge und Herz.?
Neith.
Ost- od. Westwind.
Osten oder Westen.
4.
Geist von yen
oder j^enen.
Hält zusammen Kno-
chen und Fleisch.
^ qebh
senu-f
SperberkÖpßg.
l I sah « ')
Leber und Galle. ?
Selq.
West- od. Ostwind.
Westen oder Osten.
Geist von ven
oder }(enen.
Verheissl den Triumph
und die Verklärung des
Leibes.
v^JjiI^J d. i. grosse königliche
Alle vier werden
Hauptgötter genannt.
Söhne des Horus (oder noch hdußger des Osiris) und der Isis.
Vier Diener des Horus. Anwälte bei'm Todtengericht.
Vier Vögel, welche als Herolde ausfliegen.
Gestirne bei'm Stierschenkel des nördlichen Himmels.
Vier Elemente. Eponyme Gottheiten von Monatstagen.
63) Es treten hierzu noch manchmal /at oder t'el Leib und ^aibt Schatten.
Gewöhnlich ist die Vierzahl, welche der der Kanopen und Elemente entspricht.
64) 0er Atfenköpfige steht der Anbetung vor. Den Affen, wir erinnern an
das IÜ6. Kapitel des Todtenbuches und die Vignette dazu, wird oft die Rolle des
Anbetens übertragen. Die hier aufgezählten Funktionen wechseln. Wir geben
sie nach unserem Sarge.
238 Georo Ebbrs, [38
Den Längenmassen auf Ellen vorstehend.
Priester, welche den Schrein der Hathor tragen.
Als krugförmige Kanopengötter um den Sarg gestellt.
Von Rä eingesetzt zum Schutze der Osiris, d. h. des Ver-
storbenen.
In iMumiengestalt mit Menschen, Affen, Schakal und Sperber-
köpf oder auch nur als menschenköpfige Mumieogestalten^'^)
auf den Sarkophagen von Stein und Holz.
Gemalt (sitzend oder stehend) an den vier Ecken der Grab-
kammer.®®) Wachsfiguren bei Mumien.
im Todtenb. Kap. 27 werden sie angerufen, um den Verstor-
benen davor zu bewahren, dass ihm sein Herz genommen wird.
Die Vignette zeigt den Osiris N. N. mit seinem Herzen in der Hand
vor den vier Kanopengöttern. Ihre Bilder werden angerufen 148,
35 und 36. ihr Vater ist Horus, ihre Mutter Isis 112, 6. Sie werden
genannt 99, 18. U1, 9. 142 Z. 2—4 unten.
Vorderstück C, rechts. Abth. 1. An der Spitze der 14
Texlzeilen dieses Abschnittes stehen die mumienförmigen Gestalten
des Ämsed und Tuamet-f, jede mit dem Scepter in der Hand. Die
Namen sind in die für sie vorbereiteten Schilder nicht eingeschnitten
worden.
1. Es spricht AmseO: Ich bin Dein Sohn 2. o Osiris
Qatbastru, Sohn des Pe = 3. def (sehen?). Ich bin zu
Dir gekommen und stehe zu Deinem Schutze bereit.
4. Ich gebe Gedeihen Deinem Hause Tag für Tag bleibend
5. in Deiner Wohnung, Bestand habend in Deinem
Sanctuarium und es erfrische 6. sich ewiglich Osiris Qat-
bastru.
7. Er spricht Tuamet-f. Ich bin Dein Sohn 8. o Osi-
ris Hatbastru, triumphirender.^^) 9. Ich bin gekommen
65) Z. B. auf dem grossen Sarkophag des Museo civico zu Bologna. Heraus-
gegeben von G. Szedlo. Bologna. 1876. Taf. I, 7, 8, 9, 10, wo sie so folgen:
Amse&, Tuamet-f , Hapi , Qebl.isenuf. Taf. III , stehen sie in der gewöhnlicheD
Folge. Ebendaselbst Nr. 7 wird Ämseft (1 ^v ü 0 wi ^™seOi geschrieben.
66) Deveria. Im Pienret*scben Texte zum Papyr. Nebqet p. 6.
67) Maä y^er. Ich folge hier der Bnigsch* und v. Bergmännischen Ober-
^^] Der geschnitzte Holzsar« des Qatbastrc. 239
und siebe zu Deinem Schutze bereit. 10. Ich vereinige
für Dich Deine Knochen H. und ziehe zusammen für Dich
Deine Muskeln und Glieder.^) i2. Nicht lass' ich Dir (neh-
men)^) Dein Antlitz und Dein Herz 13. ewiglich. 0 Osiris
14. Hatbastru, triumphirender.
Vorderstück B, links Abth. 1. An der Spitze des Abschnittes
Häpi und Qeb^senu-f in Mumiengestalt mit dem Scepter 1 in den*
Händen.
1. Es spricht Qäpi. O Qa(bastru 2. Kind der Tasa^epr,
leb bin gekommen 3. um Dir Schutz zu gewähren. Ich
reiche 4. (Dir) dar die Köpfe Deines Widersachers, den ic|h
gebunden 5. habe.(?) Ich bete an Deine Schönheit. 6. Ich,
strecke aus Deine Arme 7. nach dem Horizonte des
Himmels.
8. Es spricht Qebbsenu-f. 0 Osiris Qa(bastru. 9. Sohn
des Pedef (sen?) Ich bin Dein Sohn, den Du liebst. 10. Ich
bin gekommen um Dir Schutz zu gewähren. Wenn der
Schutz verliehen worden ist 11. so lass Deinen Mund^®)
nicht still stehen, denn Dju sprichst das Rechte, 12. und
es wird Dir verliehen was recht ist zu Deinem Schutze.
Es wird 13. von ihnen Verklärung verliehen Deinem Leibe
ewiglich.
All diese Texte sind niemals zum Kanon geworden, denn in
anderen Stücken fallen den Kanopengöttern oder Todtengenien ganz
andere Funktionen zu. Während z. B. in dem guten alten thebai-
schen Texte des Pariser Papyrus Nebqe( Qebbsenu-f die Knochen
Setzung dieser Gruppe, da die Grundbedeutung derselben, an der ich son«l fest-
halte, in der That etwas Kriegerisches gewonnen hat. Eine besondere Abhandlung
über das maä^er bereite ich für eine andere Stelle vor.
68) Todtenb. 133, 4. () _ ."^^^^^
69) Hier wol S^y^v— j zu ergänzen. Ich erinnere an Todtenbuch t$.
Oberschr. ^lot c^ «-«p ^ v& Kap. «8, \
I ö " - fl -^-^ c^ ^ c:. W K ^ 'vwv^
S1^-
70) epoR könnte auch ein reflexiver Dativ zu ^ sein.
240 Geokg Ebers, [40
und Glieder vereint, t^Ut diese Aufgabe auf unserem Sarkophag dem
Tuamet-f zu u. s. f.
Vorderstück C, rechts Abth. 2. An der Spitze des Abschnittes
zwei bärtige Göttergestalten, welche in der Linken das Scepter, in
der Rechten das -t- halten. Die Überschrift ist nicht in die für sie
uusgesparten Flächen eingeschrieben worden , aber der Text lehrt
dass sie den ^^ J J) Seb oder Qeb,'*) welcher hier zu den Licht-
geistern gerechnet wird^ und den 7 zi beq, den wir aus unserer
Liste S. 222, iNr. 7 kennen, darstellen.
Z. 1. Es spricht Seb. 2. 0 Osiris Qatbastru, Sohn der
Hausfrau 3. Tasa^^pi. Ich öifne Dir Deine 4. beiden
Augen, damit Du nicht blind seiest. Ich breite Dir aus-
einander 5. Deine beiden Beine, welche umwickelt waren. '^)
ich gehe 6. Dir Dein Herz, (das Herz) Deiner Mutter,'^)
das Herz für 7. Deinen Leib, dass er lebe ewiglich.
8. Es spricht Heq. O Osiris ^atbashu.'*) 9. Ich komme
und bin in Mitten Deiner 10. Barke, und ich zähle Dich
unter die Götter. 11. Wenn Du auferstanden bist, sehen
.Deine Augen den grossen Gott 12. und die Reinheit dessen,
welcher verbunden (versehen) ist mit seinen Strahlen.'*)
71) Auch auf dem grossen Sarkophag des museo civico zu Bologna ed. Gzedlo
Taf. in, Nr. it folgt den vier KaoopengÖttern und dem Anubia der Gott Seb,
welcher dort ^^ 11 1^^ I I I ^^^' der Fürst der GtJtter , genannt wird und
dem dieselben P'unkUonen zukommen wie auf unserem Sarge.
^^^j imum A/v^/w\ .,^^>- Q I w i ^_ i^j A/vv\rtA
72) Todlenb. 26, 3 und 4 " vÄ ^ j^ ^^
73) Todtenb. 30, 4.
74) Hier nur \ ry <z> geschrieben; ohne i i i-
^ö) f\T^^^ A (PH! «5) • ^ hinter lo scheint für ^verschrieben zu
sein. ^ kommt öfter, z. ß., in Edfu und Dendera bei der eponymischen
Benennung des 25. Monatstages vor. Das -j| am Ende scheint auf einen Eigen-
oder Beinamen zu deuten; doch kann sich unsere Gruppe auch als Epitheton
ornans auf neter aä beziehen.
41] Der geschnitzte holzsarg dks Qatbastrv 241
Auch im Todtenbuch 126, 4 ist es Seb, welcher den blind f^e-
wordenen Augen des Verstorbenen die Sehkraft und seinen um-
wickelten Gliedern die Beweglichkeit zurückgibt.
Vorderstuck B, links, Ablh. 2.
Dem Texte voran gehen die beiden Licbtgeister fl\ J j)
Xer baq-f und ^ f für -*^ J| j. Beide sind
menschenköpfig und tragen in der rechten Hand das Scepter und in
der linken das -t-.
1. Es spricht ler baq-f: 2 0 Osiris Hatbastru Sohn
des PeOef (sen).'®) 3. Ich komme vom Himmel auf Befehl
des Rä 4. wie ein Sohn des heimischen Gottes alle Tage.
Ich bereite Dir Schutz vor 5. allen. Ich (beschenke?) mit
Leben Deinen Namen und 6. Erhaltung ist beschieden
Deiner Gestalt ewiglich.")
7. Es spricht Arneft'esf: 0 Hatbastru. 8. Ich bin ge-
kommen, um Dir Schutz zu gewähren. Ich vernichte
9. alles Üble, das sich an 10. Deinen Gliedern befindet. Ich
erweise mich thätig auf Befehl 11. des grossen Gottes, des
Herrn der Ewigkeit, um 12. aufzurichten Dein Herz für
immer. 0 Osiris 13. Hatbastru, triumphirender.
Vorderstück C, rechts, Abth. 3.
An der Spitze des Textes steht der menschenköpfige Lichtgeist
Armäua mit dem Scepter in der linken und dem -r* in der rechten
Hand.
1. Es spricht Armäua. 2. 0 Osiris Hatbastru'^) 3. trium-
phirender. Ich komme zu Dir auf 4. göttlichen Befehl, und
76^ Das 0 am Anfang des Namens w ist nicht ausgeführt worden,
aber wol nur aus Versehen.
77) Z. 5 muss doch wol verbessert werden. Statt ^^ schlage ich vor
^A^w> . Dem Gedanken Z. 6 entspricht Todtenb. 89, 7. -iU. X [j
^^* ^^ ^^ Nicht wird er zunichte an dfer Gestalt ewiglich.
78) Hier ist der Name 8 W ^ ^ • Jf so ausgeschrieben.
242 Georg Ebbrs, [42
da bin ich und handle 5. als Dein leiblicher Sohn.^^) Und
wenn Du dort aufsiebst als 6. ein Lebender zu jeder Zeit
7. und unter den Gewaltigen Tag für Tag, so ist es Dir ge-
stattet, 8. dass Du anlegst Deinen Schmuck unter den
Hauptgöttern 9. und wenn Du dann dastehst in 10. Rein-
heit, gross durch die Balsamirung, 11. gibt es Libation und
Räucherung fUr Deinen Genius 12. alle Tage ewiglich.
0 Osiris Hajbastru.^)
Vorderstück B, links, Abth. 3.
Dem Text voran geht der Lichtgeist — ^ ^ Matef (var.
f- jj ma tef-f). Er halt in der Rechten das Scepter, in der
Linken das -¥-.
1. Es spricht Matef: 0 Osiris 2. Ha(bastru, triumphi-
render. Ich begrüsse 3. Dich. Ich bin da 4. um Dich zu
beschützen, Du, der Du lebest neu 5. und verjüngt wie
Rä 6. alle Tage, der Du eingereiht®') bist unter 7. die Götter
der weissen Mauer. Du trittst ein 8. als Sperber, 9. Du
gehst aus als Phönix,®^) 10. und Du durchwandelst^) das
Immerdar als 11. Nel^ebka Schlange. 12. 0 Osiris Hat-
bastru, 13. triumphirender, Sohn des Pedef (sehen?) , des
triumphirenden.
Dieser Abschnitt schliesst sich eng an gewisse Texte des Todten-
bucbes, ja er gibt einige unter den sogenannten Yerwandlungskapiteln
(vom 76. an) in nuce wieder, besonders das 77. und 78. i
A/V\/VW £^
79) Der Lichtgeist ist als Sohn des Osiris (oder Horus) auch der des Ver-
storbenen (Osiris) .
80) Hier |S^^^;9atba8tru.
81) flxl doch wol nur wie auch sonst für ^ ^ etc.
88) Hier J ^ ba. Die reine Wurzel.'^n VocXtion fraglich ist.
83) Das IJ I kann hier wol auch »zuzählen« bedeuten, cckccr numerare,
computare, coUigere, Brugsch WÖrterb. S. 1140. Dann: Den sich zuzählt der
Herr des Immerdar als etc.
^3] Der geschnitzte Hoizsarg bes IJatbastru. 243
W ^ f •'^'"'^ JJ^^fssTi Kapitel vom AnoehDien die Gestalt eines
goldenen Sperbers, »od(78}^^^^|l^ ^4J^l<^fll
Kapitel vom Annehmen die Gestalt eines kräftigen Sperbers. Ebenso
wird das 83. Kap. berücksichtigt: ^^^"^^ ^ (^ fl n — t^
Kapitel vom sich verwandeln in den Bennuvogel (Phönix). Kap.
122, 5 heisst es, ähnlich wie in unserem Texte: "*~^ *^-«^ ^^ j Q
> ^ j TT^ ^^ ^^^^ hinein als Sperber und tritl
heraus als Phönix.^) Im 87. Kap. wird von der Verwandlung in
eine Schlange gesprochen, aber nicht, wie auf unserem Sarkophag
in die Nehebka-, sondern in die ^^^oo Sataschlange. In diesem
Kap. Z. 2 heisst es, ähnlich wie in unserem Abschnitte Z. 5 und 6:
boren, ich erneuere und verjünge mich alle Tage. Übrigens wird
auch im Todtenbuche der Verstorbene der Nehebkaschlange gleich
gesetzt und diese wieder dem Gatten der Nut, d. i. Seb, denn Kap.
149, 42 sagt der Dahingegangene (Osiris) von sich selbst aus:
^^^^^^IJUMj^ '^h bin der Gatte der Nut, die
Nobebkaschlange. Diese gehört an die Spitze der guten, heil-
bringenden Schlangen, welche, indem sie sich immer selbst erneuern
als nicht alternd und ewig lebend betrachtet werden.^*) Der Herr
84) Über die luoare Bedeutung des Phönix bat ßrugsch jüngst interessante
Aufscblüsse gegeben. Thesaurus inscriptionum aegyptiacarum. Abth. II. S. 387.
Als Neumond im Mondmonat des Frühlingsanfangs stellt der Benno (Phönix) die
Auferstehung des Osiris dar. Die entscheidende Stelle ist dem Tempel von Den-
dera entnommen (Mariette Dend. IV. 77) und lautet: [[] 1 U
[j F=3 f zd ^^, (1 (1 ö Er (Osiris Lunus) erwacht aus dem
Schlafe. Er schwingt sich empor als Bennu (Phönix). Er nimmt ein seine
Steile am Himmel als wiedererneuter Mond. — Über die solare Bedeutung des
Benno A. Wiedemann. Zeitschr. 4 878. S. 89.
85) Piutarch. Is. und Osiris ed. Parthey, 74. Adirföa 5e ai^ aY^po) xal
;(pu>^V7)v xivTJatoiv avopyavot^ fifit 8uireTe(a<; xal OYporrjToc aotpip itpooetxaoav*
2i4 Georg Ebebs, [**
des Immerdar 8o§, d- h- der Zeit ohne Ende, welches dem ^^
d. i. dem metaphysischen Begriff der Ewigkeit gegenübersieht, gesellt
sich den Verstorbenen als Nehebkaschlange, d. h. als seinesgleichen
zu. Darum heisst es auch Todtenb. 17, 61 ' 8 ^^^s^ ^ ^?®8
QAfv I JjU^jlj^ Unzerstörbar ist er auf immer gleich der Nehebka-
schlange. Nach Todtenbuch 1 49, 3 trügt sie die Krone des Tum,
des Uranfönglichen. In Herakleopolis wurde sie in einem eigenen
Tempel verehrt.
Den Lichtgeistern folgen nun die beiden andern Anubisgestallen,
von denen wir oben geredet haben.
Vorderstück C, Abth. 4, rechts schreitet Anubis in seiner gött-
lichen Halle, schakalköpfig mit dem Scepter in der linken und dem
■?• in der rechten Hand dem Texte voran.
1. Es spricht Anubis in der göttlichen Halle. 2. 0
Osiris Ha(bastru 3. triumphirender. Ich bin zu Dir ge-
kommen und stehe 4. zu Deinem Schutze bereit. Ich
mache gesund Dein 5. Fleisch Ich bringe für Dich in Ordnung
Deine Glieder 6. und ich füge für Dich zusammen Deine
Knochen. 7. Ich recke für Dich aus Deine Gefässe (Nerven
und Adern) und ich strecke 8. für Dich aus Deine iMuskeln.
Ich verleihe Dir 9. dass Du bist wie ein Gott 10. welcher
Die Schlange aber^ welche nicht altern soll, und ohne Glieder leichthin-
gleitend sich bewegt, vergleichen sie dem Sterne. Dies ist richtig, denn wie Sob,
der Gatte der Nut, dem die Nehebkaschlange gleichgesetzt wird, heisst auch der
Stern ic — seb. Nach HorapoUo ed. Leemans. I^ I und 2 bedeutet die Schlange
welche den Schwanz mit dem übrigen Körper bedeckt, die schrankenlose, ewige
Zeit aicbva. Seb ist den Griechen Kronos und wird von Lepsius^ Ghronol. I,
V. 94 für die Sternenzeit gehalten. Gewöhnlich ist er der Erdgott. Die Materie
ist den Aegyptern ewig, und so wird auch in a^ das Bild der Schlange und
Erde benutzt, um den BegrilT der Ewigkeit zur Anschauung zu bringen. Das
grosse Todtenfest in Theben ist nach unserer , ein ewiges Leben symbolisirenden
Schlange benannt worden. Ihr Name bedeutet »Anschirren des Stieres«, doch
wohl mit Bezug auf die erneute Th'atigkeit der Natur, welche gleichsam durch
den ersten Schnitt des Pfluges in den Acker inaugurirt wird. Vielleicht ist das
Nehebkafesi nicht nach ihr, sondern sie nach ihm benannt worden.
45] Der geschnitzte Holzsakg des Qaibastrl*. 245
ewiglich lebt und beständige Daner besitzt H. im Hanse
des Herren der weissen Krone.
Vorderstück B, links, Abth. 4. Anubis, der sich oben auf
seinem Berge befindet (n ^^'^ j schakaiköptig mit dem Scepter
in der rechten und dem •¥• in der linken Hand geht dem Texte
voran.
1. Es spricht Anubis, der sich oben auf seinem Berge
befindet: O Osiris 2. Hatbastru triumphirender. 3. Ich bin
gekommen und bin 4. zu Deinem Schutze bereit. Ich pflege
gesund^) 5. Dein Fleisch und leite 6. Deine Muskeln. Ist die
Aufrichtung erfolgt (wenn Du in Ordnung gebracht bist),
7. so erblickst Du die Glieder eines Gottes 8. und Du be-
gibst Dich zu der reinen Sldtte, 9. an der Du gerne ver-
weilst. 10. Wenn Du das Gestell betreten hast Deines
11. heimischen Gottes, so 12. jubelt jeder Gott, welcher
bei Dir ist. ^')
Osiris wird als derjenige bezeichnet, welcher auf der Spilze
der Stufenleiter oder des Gestelles steht. Todtenb. 22, 2 heisst Osiris
der Herr von Keset ^_^ ^ V ^ »^ ® ' ® ö «^ ^^"^ deijemge,
welcher sich oben auf der Stufenleiter befindet. Diese Stufenleiter
bezieht sich vielleicht auf die gesammte Ordnung der Dinge. Zu
iVledinet-Habu bringen (beim Fest der Stufenleiter (x^O) die Stiegen
derselben die Mondphasen zur Anschauung. Sonst stellt die Treppe
auch nur das Piedestal und die Trage dar, auf welcher das Bild
der Gottheit stand. Bei Processionen wurden diese Bilder entweder
86) I Ti sute;( Pap. Ebers 44, H Pflegen, gesund pflegen, gewöhnlich
I j setu^ geschrieben. Man könnle auch an kneleo und festkneten denken,
die Causativform von (| ^ , das bei knetenden Männern im Grabe des Oi
steht. Brugsch, Wörlerb. S. 4 67.
87) Bei der fortwährenden Verwechselung von ^^3^ und v^ * darf auch hier
das "«^37 für v.^^ gehalten werden. Sonst müsste hier »in der Barke des Herma
übersetzt werden. Aber dies »Herr« ohne Determinirung würde Ungewöhn-
Hch sein.
246 Geoug Eqrbs^ [*6
auf einem standartenartigen Gestell oder auf einem tragbaren Tische
umhergefuhrt. Darum heisst es Todtenb. 128, 7 — 8 von dem Ver-
storbenen, der über seine Feinde gesiegt und vor dem Neungötter-
kreise triumphirt hat: nillQj^^^^ ^I^'''^'^^ '
y^ 1^ 0 Osiris, Du hast empfangen Dein Scepter; Dein Stan-
dartengestell und Deine Stufenleiter sind unter Dir. — Das heisst:
Nachdem Du das Attribut der götllicheo Würde gewonnen hast,
stehst Du wie ein Götterbild auf dem Standartengestell und der
Stufenleiter. Osiris Hatbastru wird, nachdem er triumphirt und
die Befähigung erlangt hat jede beliebige Gestalt anzunehmen
auf den Platz seines heimischen Gottes gestellt, ^^) und die
anderen Himmlischen, welche ihn dort erblicken, jubeln ihm zu. Der
Gott hat gewissermassen sein Examen bestanden. Dies verlief im
Orient von den ältesten Tagen an bis heute anders wie bei uns.
Der Schüler oder Rechtskandidat wird unter die Lehrer oder Richter
aufgenommen, sobald er es gewagt hat den Platz eines Lehrenden
oder Richters einzunehmen und seine erste selbständige Leistung
durch Zuruf gebilligt worden ist.®*) Mit der Acciamation der Götter
bei'm Anblick des triumphirenden Verstorbenen wird diesem zugleich
die Aufnahme unter sie als einem der Ihren bewilligt.
Vorderstück C, rechts, Abth. 5 und Vorderstück B, links, Abth. 5
stehen die Göttinnen Jj Net (Neith) und M^^^^^cl} einander
gegenüber. Der Name, welcher bei'm Vorderstück C, rechts 5 über
der dem Texte vorangehenden Göttin steht — sie hält das Scepter
in der Linken und das -?- in der Rechten — könnte auch für den
der Maä gehalten werden , doch gehören auf diesen Texten , wie
88] In der merkwürdigen Selbstapologie des Verstorbenen, wie sie auf den
Buiaqer Sorgen des Panehemisis und Horemheb Yorkommt sagt, der Verstorbene:
1 "^^^^ / ® ^^ ^v ^::r:^ T * ^ ' ^HTff ^ Es geschieht Dir Gutes ia
Deiner Stadt und Du hörst göttliche Lobpreisungen in Deinem Nomos. v. Bergmann
a. a. 0. S. 'ii. Es wird also dem Verstorbenen begegnet wie dem heimischen
Gotte.
89) So steigen heute noch in der Universitätsmoschee el-Azhar zu Kairo die
Lernenden zu den Lehrenden auf.
47] Der geschnitzte Holzsabg des Qatbastru. 247
auch auf den Kanopcn, nicht Maä und Selq sondern Neith und Sciq
regelmässig zusammen, und wir haben es hier also mit der Neith
zu thuD, zumal diese Göttin auch hier die ihr zukommende mutter-
liche Stellung einnimmt.
Der Text Vorderstuck C, rechts, Abth. 5 lautet also:
1. Es spricht Neith: 0 Osiris 2. Hat^bastru. Sei ge-
grUsst im 3. Gemach Deiner Mutter. Möge Licht spenden
i. Su im Innern 5. Deines Sarges. Ich bin fUr Deinen
Schlitz thätig 6. so wie Rä, indem ich Schirm verleihe
7. gleich dem grossen Gotte. Es eröffnet Dir 8. &p-ua-t
(Anubis der Wegeröffner) die Wege der Reinheit. 9. Voll-
getrunken (^® tei) ist Dein Ohr und Dein Vordertheil mit
Rauchwerk 10. und Dein Hintertheil mit Reinigungssalz.
Es bieten sich (Deinen) Blicken 11. dar die Götter auf
ihrem Wege ewiglich.
Vorderseite B, links, Abth. 5. Selq mit dem Scepter in der
Rechten und dem -^ in der Linken.
1. Es spricht Selq. 0 Osiris 2. Hafbastru. Ich stehe
zu Deinem 3. Schutze bereit. Ich gebe Odem 4. Deiner
Nase und den Hauch des (Lebens), welcher hervor 5. geht
von Tum. Ich 6. mache weit Deine Kehle, und wenn 7. die
Verklarung vollbracht ist und die Vereinigung mit 8. dem
Leben, siehst Du die 9. Schönheit der Sonnenscheibe und
wie sich aufrichten 10. die Uräusschlangen, die lebenden
11. und Du machst Deine Rundfahrt an der Himmelshöhe
alle Tage ewiglich.
Der Göttin Selq liegt es ob die erstarrte Kehle des Verstor-
benen weit zu machen. Zu welchem Zwecke lehrt ein kleiner die
Göttin 3^^ begleitender Text auf dem Sarkophags des Pane]^em-
isis, ««) in dem es heisst ^^J^^^^nn^I^'D Ich öffne
(sereq) Deine Kehle, um zu sprechen (ut) über Dich (in Bezug auf
Dich — zu Deinen Gunsten). Bei der hohen Bedeutung, welche
die Rede und das rechte Wort für den Verstorbenen in der Unter-
90) V. Bergmann a. a. 0. S. 4 9, § 32
248 Geokg Ebbr8^ [48
weit hat, inussle einer Gotlheil die Herstellung des Sprachorgans
anvertraut werden.
Vorderstück C, rechts und B, links, Abschn. 6 finden sich
Schlusssätze, an deren Spitze das Bild einer Gottheit fehlt. Der
Verstorbene ist nun selbst Osiris und endlich auch Rä wird als
solcher redend eingetllhrt.
Vorderstück C, rechts, Abth. 6.
1. Es spricht der üsiris Hat 2. bastru, Sohn des Pe&ef
(sehen?) , Kind 3. der Hausfrau Tasäj^epr, der triumphirenden.
4. 0 Du Fresser seines Armes auf 5. seinem Wege. Ich bin
Rä und trete hervor 6. aus dem Horizont gegen meinen
Feind, für den es keine 7. Rettung gibt vor mir. Ich
strecke aus 8. als Herr des UrHusdiadems die Hand 9. ich
brauche frei meine Beine 10. und frei beweglich ist mein
Arm. Ich lasse 11. den Feind der Wahrheit zu Boden
stürzen unter 12. mich ewig und immer.
Die undeutlichsten Stellen dieses Abschnittes lassen sich nach
dem Todtenbuche wiederherstellen. Zeile 4 muss es, und so haben
wir denn auch ilen schwer lesbaren Text ergänzt, nach Todtenbuch
11, 1 heissen (j^^'^ ^ S<=> (^^^''^)^^k^ ®^-
Überhaupt entspricht dieser Abschnitt im Ganzen dem 11. Kap. des
Todtenbuches. *•) Statt unseres ^ wi * — -^^j« ^ ?
N>lsNsf>,
heisst es besser und verständlicher Todtenb. 11, 2 -^« \^
^ ^v ^=c=:7 <c=> ci /jf ich strecke aus meine Hand als Herr des
Uräusdiadems. Das will sagen: Ich kann meine Hand mit könig-
licher Macht ausstrecken sobald ich mit dem Uräusdiadem gekrönt
und dadurch eine göttliche Persönlichkeit geworden bin. »Der
Fresser seines Armes auf seinem Wege« ist der Gott ^pc^ X^™-
Dieser pflegt in aufgerichteter Stellung und ithyphall gebildet zu
werden. Er trägt eine hohe Doppelfeder auf dem Kopfe und ein
91 I <;^> <z> »c-cw. *^ I Kapitel Vom Hervortreten eefien
seine Feiode aus der Unterwelt.
49J Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastru. 249
Schild auf der Brust. Sein Körper ist muniienförmig umwickelt und
zwar so, dass der rechte Arm, über dem die Geissei schwebt, frei
beweglich, sich wie der eines Säemannes erhebt, der linke aber von
den Binden fest eingeschnürt ist. Diese ithyphalle Gottheit wird
übrigens auch mit dem Monde in Verbindung gebracht und stellt
die ewige Werdekraft dar, welche den Tod überlebt und der Natur
wie der menschlichen Seele, welche dem Tode erlesen zu sein
scheinen, zu neuem Leben verhilft. ^^) In dieser Auffassung wird
lexn wie Amon, für den er überhaupt häufig eintritt, der Gemahl seiner
Mutter genannt. D. h. er ist derjenige, welcher den beseelten Stoff,
aus dem er selbst hervorgegangen ist, zu immerwährenden Neubildungen
zwingt. Die nicht fortzuleugnende Starrheit des Todes, welche er
in neue Beweglichkeit umwandelt, wird durch den in Binden ein-
geschnürten einen Arm symbolisirt. Auch des Verstorbenen Hand
w^ar regungslos, aber in Folge der Neugeburt und Apotheose wird
die umwickelte Gestalt f ^^.»^^X'^kSkküi
mächtig gegen ihre Binden unter den Verklärten. Dann heisst es
Todtenbuch 46, 2 weiter: und gegeben ist es mir nun,^ dass ich
ausstrecke meine Hand. ^) Todtenb. 17, 12 wird -/em geradezu
Horus, der Rächer seines Vaters Osiris, genannt, d. h. derjenige,
welcher den scheinbar Verstorbenen seinen Feinden zum Trotz zu
neuem' Leben verhilft. Am mondlosen Tage ist Osiris-Lunus ver-
storben und in Starrheit verfallen. Bei'm Treppenfeste zu Medinet
Habu ist es /em, welcher auch ihm zur Auferstehung verhilft.
Vorderstttck B, links. Entsprechend denj Texte Vorderstück C,
rechts enthält auch dieser nur Worte des Osiris gewordenen Hat-
bastru.
1. Es spricht Osiris Qa^bastru. 2. Kind der (Haus)-
herrin Tasa^^eprau. Es ist mir 3. in Ordnung gebracht
worden mein Hinterkopf im Himmel 4. und auf Erden^^)
9t) Todtenb. U9, 3. ^ FM A ^ U I -^ -^^ ^ ^^^ baut
neu auf den Gonius (oder das Abbild) des Osiris und seine Seele.
9t)
AbhADdl. d. k. S. Oesellsch. d. Wissensch. XXI. 48
250 (Jkoiu; Kbkks, '»o
durch Rä, am Tage, an welchem 5. festgestellt wird die
Stutze für denjenigen, welcher schwach ist 6. auf den
Beinen und (an dem) man abschneidet 7. den Bart. Es
ward erhoben 8. die Stutze (Standarte) durch Tehuti und
die Neunzahl 9. der Götter. Er ist reich 10. indem man
ihm Opfergaben zuertheilt, 11. nicht-*'') begegnet Wider-
stand auf 12. Iilrden dem Üsiris Hatbastru.
• •
Dieser Abschnitt entspricht dem 50. Kap. des Todlenb. Stall
d«« SSfl^W hat dieses |^ J^ Ij ^ (| 3 ® 1 f"r
iP^^-^^ - iP>l^!^^i- »- Gruppe ^^^13,
ist mir hier zum ersten Male begegnet. Vielleicht darf sie mit
^ ,^ "^ zusammen gebracht werden, was Brugsch
Haar übersetzt. Haar muss hier freihch, wie schon das Determina-
tivum "jj^ lehrt, gemeint sein, aber kaum das Haupt- sondern das
Barthaar. Unser Iq!^'^. "CCl ^^^ ^^^^ ^^'*^ '^^ ^^^'^ ^'^■^' "^'*
In.? sat der Schwanz verwandt; den Bart als »Schwanz des
Mundes« zu denken, lag nahe. In der Pianj^i Stele Z. 5 heisst es:
Schliessung gegen Herakleopolis, und er hat es gemacht zum Bart
an seinem Munde. Diese »Redensartc( bedeutet anschaulich genug:
Er hat es völlig abhängig von seinem Gutdünken gemacht. Brugsch,
welcher [1 \j für Schwanz hält, übersetzt: »Ihr Schwanz ist in
ihrem Rachen». Wenn Osiris zu Dendera *»-*> ^ genannt wird,
so heisst das nicht der »Haartragende«, sondern derjenige, welcher
einen Bart trägt, der Bartige, und die Osirisgestalten werden ja stets
bärtig gebildet. Im Koptischen hat sich fUr cjt nur die Bedeutung
»Schwanz« erhalten. Im Todtenbuche entspricht unserem Iq'^^w^
die Gruppe '^ "^ji^ i und diese kann kaum etwas anderes be-
95) Hier ist sicher ^jl^ einzufügen, da es an der entsprechenden Stelle des
® W
Todtenbuches 50, 3 heisst: .^^u* ^7 /wwvs
/www I I I
^^\ Der geschnitzte Holzsarg des Qatbastru. 251
deuten als das (Haar), welches sich am Antlilz beündet. Es ist
hier also nicht, wie Pierret will, vom Abschneiden der Köpfe, sondern
vom Scheeren des Bartes die Rede. Nach der Apotheose soll wol
dem Osiris statt des unreinen irdischen ein göttlicher Bart wachsen.
Es war überhaupt etwas Eigenes um die aegyptischen Barte. Wo
Pharaonen oder Götter mit solchen gebildet werden, haben sie ein
befremdliches Ansehen. Sie können so nie und nimmer natürlich
gewachsen, sondern müssen an das Kinn gesetzt worden sein.
Schnurrbarte kommen nur in ganz früher Zeit vor. So auf den
berühmten geschnitzten Brettern aus Saqqara, welche zu Bulaq con-
servirt werden. Der natürlich gewachsene Bart war eines der
wesentlichsten Merkmale, durch welches die aegyptischen Künstler
die Semiten von ihren Landsleuten unterschieden. Wer rein sein
wollte, hatte für die Scheerung des Bartes zu sorgen. Aus dem
weiteren Verlaufe des Textes des 50. Kapitels ersehen wir nur
noch, — und dies ist schon in der Anmerkung angedeutet
worden — dass in die sinnentstellende Lücke Zeile 11 über m
ein ^JL* einzufügen ist.
Schulterstück E, rechts.
1. Es spricht der Osiris, der königliche Anverwandte
Ha(bastru. 2. Sei gegrüssti Wenn Du aufgehst'-^) als Rä, so
bist Du eine herrliche Gestalt. 3. Wenn Du hervortrittst
am Horizont, erleuchtest Du die Welt mit Deinem Glänze.
Ich bin zu Dir gesellt und schaue &. Deine Schönheit.
Gib Du, dass ich versehen werde mit Leben^') im lenseits
und neige Du Dich zu mir mit Deinem schönen Angesicht.
Derjenige, welchen der Verstorbene anredet, ist Rä.
96) nS^ J( üben. Diese seltsame Schreibung der bekannten Gruppe
hat uns schon bei der Bestimmung der Herstellungszeit unseres Sariwophages Dienste
geleistet. ^^ für ^ ist uns ausser in der Ptolemäerzeit nur noch in Texten
von durchgängig änigmatischer Natur in den KÖnigsgrlibern begegnet.
muss doch wol nr gelesen werden. Sowohl der Sinn
als auch die ComplemeDte sprechen dafür.
18»
252 ÜEORti Ebers, [52
Schulterstück D, links.
1. Es spricht Osiris Hathastru. Sei gegrüsst. 2. Der
da untergeht im Lande des Lebens, Tum, Vater der Götter;
wenn Du Dich vereinst 3. mit Deiner iMutter im Lande des
Lebens, gieb Du mir den 4. süssen Hauch des Lebens und
dass ich schaue Deine Schönheit, ich Ha^bastru.
Die Seitenstücke links und rechts gehören so zusammen, dass auT
das Seitenstück F das Rückenstück H und diesem das Seitenstück G
folgt Diese Texte enthalten das 127. und 126. Kap. des Todten-
buches; das letztere in absonderlicher Ordnung und stellenweise
recht corrumpirl.
iMit dem 127. Kap. beginnt auch die grosse Selbstapologie,
welche in der Ptolem^erzeit als »Muster und Meisterstück« gegolten
zu haben scheint.^*) Sie kommt auf den Sarkophagen des Hör eni
beb zu Bulaq und dem des Panehemisis zu Wien vor, welche beide
unter den Lagiden hergestellt worden sind.^) Leider enthält diese
(Komposition von den 12 Zeilen des 127. Kap. nur 6, aber diese
leisten bei der Herstellung und Übersetzung unseres Texles gute
Dienste. Die interessante Selbslapologie findet sich nicht auf dem
Leipziger Sarkophage.
Seilenstück F, links. 127. Kap. des Todtenbuches.*«»)
1. Es spricht der königliche Anverwandte Ha^bastru,
Sohn des würdig Befundenen bei dem grossen Gotte Peöef
(sehen?), Kind der Herrin des Hauses, welche würdig be-
funden ist bei den Göttern, Tasä/^pr der triumphirenden:
98) V. Bergmann. Sarkophag des Panehemisis. S. 25.
99) V. Bergmann. Sitzungsberichte d. k. k. Akad. der Wissenschaften zu
Wien 4 876. Bd. 82. S. 74. Später mit Vergleichung des Bulaqer Hör em heb-
Sarkophages noch ein Mal weit vorzüglicher publicirt und übersetzt in dem oben
angeführten Werke.
100) Die Überschrift dieses Kapitels fehlt auf dem Sarkophage. Sie lautet:
"^T^-KMin^^^^fT^-s
oo
^ I ' ^ .M^^ 11 1^ \\ nr-n Kf=:.{^ Bi^ \ ^ k^^ MI Ml
ca SN 0 / /wwvN o
Ljr Das Buch vom Lobpreisen der Götter der beiden Qerti.
Zu sprechen von der Person (für welche der Papyrus bestimmt ist) wenn sie zu
ihnen gelangt ist, um diesen Gott in der Unterwelt zu sehen.
^^] Drr geschnitzte Holzsarg des Qatbastrd. 253
Seid gegrüssl Ihr Götter der beiden Sphären, welche in der
Unterwelt sind.'®') Seid gegrüsst IhrWächter derThore, 2. der
Unierwelt, die Ihr beschützt (Todtenb. A§^ ^ )^®^) diesen
Gott und heraufbringet die Botschaft vor Osiris. Gebet*®^)
Euere Lobpreisungen und vernichtet die Feinde des Pe&ef
(schen?).'^) Verbreitet Licht und zerstreuet'®^) die Finster-
niss, dass Ihr schauet die Herrlichkeit 3. Eueres Fürsten.'®^)
Ihr lebet, so wie er lebt, Ihr rufet an denjenigen, welcher in
seiner Sonnenscheibe weilt. Führet auch mich auf Eueren
Weg,'®') damit meine Seele eingehe in Euer geheimniss-
götll. Wächter, grosse Fürsten, die heraufbringen die Meldung.
103) Stau - n soüte in unserem Textß A fl stehen. Das Todtenb. hat
A AA^/vxA , Panehemisis ebenso: A Q sepet tn Haltet Euch gerüstet (zu
preisen) .
f04) Hier steht merkwürdiger und interessanter Weise der Name des Pe&ef
(sen?), d. h. des Vaters der Verstorbenen, welcher vor diesem Eins mit Rä ge-
worden ist für Rä. Das Todtenb. hat an SteJle von w Cjj — 0
PanehiMi'i'^is }J^ d. h. des Rä.
* 105) Todtenb.: 1? ^^ j^er seklen. Es muss also in unserem Texte
statt X — Q heissen. Panehemisis hat: Erleuchtet die Wege, und dann
—m — m n
; — * zerstreuet, sers ist tgiuA diripere, auferre. Brugsch wei.st auch
auf ygoAc praeda.
106) Das Todtenbuch hat ^"^W^^/^, PanehenÜMs ' V ll Jl Ik
t D I 4; m ^^^ Herrlichkeiten des Osiris, dieses Eueres Fürsten, gleich einem
Könige.
107) Todtenbuch /vwnaa . Darnach das wvwv unseres Textes in ^^^^
zu verwandeln.
254 Georg Ebers, [^4
volles LandJ^*^) (Ich bin Eliner von Euch.)*^) Ich schlage
VVunden^*^') der Apepschlange; ^^M ihr aber zerstöret**^) das
Böse in 4. der Unierwelt. Dein Wort ist das rechte"^) gegen
Deine Feinde, grosser Gott, der in seiner Sonnenscheibe
weilt.'**) Du sprichst das rechte Wort (Du triumphirst^
gegen Deine Feinde, o Osiris, der Du weilest im Westen.
Es ist Dein Wort.
Rückenstück H. 1. das rechte (Du triumphirst) gegen
Deine Feinde, im Himmel und auf Erden, o Osiris Hatbastru
im Süden, Norden, Westen und Osten. Ich bin ein Diener"^)
des Osiris, des grossen Gottes in der Unterwelt,^"*) welcher
Lohn ertheilt demjenigen, welcher vor ihm steht im Thale.**')
4 08) Todlenbuch ^ /ww>a . Panehemisis '^ h^ i c^^=^o jn di
verborgenen Thore.
409) Todlenbuch (1 ^\ /vww Panehemisis
Q
A/VWNA
HO) Todlenbuch utä ^T"^ , Panehemisis <=><^%^ ^ '""'^ "^
(1 ^ zu schlagen Wunden der (Apepschlange).
1H) Die dem Rä feindliche grosse ly phonische Schlange.
H2) Todlenbuch, die Gausati>form H^ ^^ "^^^ /wwsa . Panehemisis
Q c=^> J S ^-^ III i ^ ^
n h 1^^=^ ft um unschädlich zu machen den Platz der Vergeltung
der (für die) Grossen der Unterwelt. Den Platz der Vergeltung fassl v. Bergmann
richtig für die Stätte der höllischen Strafen.
4 1 3) Auch im Todlenbuch spricht der Verstorbene in der 2 . Person. Bei
Panehemisis thut er's in der ersten (J i 1 \|.
t<4) Panehemisis: Ich triuniphire ^^ ^*^^ f] ^or dem grossen Gott etc.
4 \ 5) Panehemisis g
\ 1 6) Panehemisis '^ir:^ >|< U ^ <:i des Herren von Abydos.
\ \ 7 Todlenbuch / 1k M . Panehemisis 0% a^aaaa .
r
^^] Der geschnitzte Holzsarg des Hatbastr». 255
Er triumphirt urtler den Hauptgöttern. '*'*) Als grosser Gott
triumphirt er in der Unterwelt 2. gleichwie die aufgehen-
den Gestirne.*'"*) Nicht (fällt anheim)**^) seine Seele dem
PVesser der Leiber der verdammten Todten. Die Auf-
steigenden sind im Verderben.'^') Wir sind bewahrt vor
der Vernichtung. Es triumphiren*^) die Seelen**^^) aller
edlen Verklärten, die Diener von Tafeser, an der Stätte
des Lebens für alle SeeienJ'^^) 3. Du, der Du demjenigen
gleichst, welchen Rä lobpreist,**'^*) Du, der Du demjenigen
H 8 1 Todtenbiich Z% / A A I Jnl i ^^
I A
ilLU
Panehemisis PI|^^=a)^jm^f^
1 \ 9) Todleiibuch Q Q 1 J P J « Paoehemisis 0 (j !J. !j. 'S • •?■ •?••?■
itO) Hier hat unser Text ;;;^ wo das Todtenbiich und Panehemisis
1 [I^IX ^^^^'^^ ^^ heisst also in diesen beiden Texten: Es speit Feuer seine
Seele gegen etc.
\t\) Todtenbuch aww ^^ Panehemisis ^ö* Roug^, hier. Todtenb.
haben v. Bergmann und Brugsch (Wörterb.) richtig erkannt. Auf unserem Sar-
kophag ist zu ergänzen I 8 D *Tp '^'^^'^ J fl ^^ Panehemisis hat hier: JT J^
^Cfc^^ \j )mih I ^^" ^^ kommt jeder (wie v. Bergmann passend hinzu-
fügt »ohne Hinderniss«) indem ich vernichte die Apepschlange mit Verderben.
!22) Hinter ^ vielleicht | zu ergänzen. Das Todtenbuch hat (j (
in
, Panehemisis ^1^1 f IV^VS^i'^^^IS '"^^"' '*^
Triumph gewähren den Seelen aller vortrefflichen Verklärten.
123) Auf unserem Sarkophag fälschlich ^^ l für Ä^ . Wunderlich ist
die Schreibung von men}(.
vollkommenen Diener von Tat'eser, der Stätte des Lebens der göttlichen Seelen. —
Hier hört leider der Sarkophag des Panehemisis auf Dienste zu leisten.
125) Unser Text ist in dieser Zeile corrumpirt. Statt des 8—— -^ |
256 Georg Ebers, [^^
gleichst, welchen Osiris lobpreist, geleite den Osiris 9at-
bastra. Erschliesset*^*) die Thore (der l)nterwelt)'27^ öffnel*^»)
seinen Qert (seine Sphäre)*^) für ihn, lasset sein Wort das
rechte sein gegen seine Feinde. Da reicht uran dar die
Speise der Unterweltsbewohner und macht schön zurechl
i. ihm seinen heiligen Kopfschmuck, welcher zukonimt
dem Gotte, der in der Wohnung der Verborgenheit weih.
Siehe eine Nilschwelle von der rechten Art ist die Seele*-**)
eines Verklärten. Wohlthätig und gewaltig ist sie an
ihren Händen. Es sagen die beiden Beheb: ^^^*) Sehr gross****-^)
und I ^ I O yI^ haben andere Texte und auch das Turiner Todteobuch
das hier zu erwartende "
4 26) Die erste Pers. Pliir. scheint hier irrthümlirh zu stehen und niuss in
die zweite verwandelt werden. Das Turiner Todlenbuch , das von Kouge edirie
hieratische etc. haben statt vielniehr 'wwva
III III
Ml) Nach anderen Papyrus ergänzt. Das Turiner Todtenbuch hat \\ic
Uli I /VWS/VA ^^
öl ^ *,^
I
128) Nach allen mir zu Gebote stehenden Handschriften muss statt des sinn-
losen ^ \J — \^m gelesen werden.
4 29) Statt des ubhchen <zz> ^ <=:> \
<ir> ^ steht hier <z:> Y . Wir schliessen uns an Navilles
' <=>o Ä
geistreiche Lrkräruiig dieser Gruppe an. La Litanie du soleil. Leipzig 1876. S. 15
und IG. Von den 75 Formen des Rä hat jede ihren qert, in den sie eintreten
und verweilen, und den sie verlassen kann. Qert ist Hohle und Hülle zugleich
für die Geister, und man darf es wol mit den Zonen oder Sphären der Alexandriner
vergleichen. M. s. a. Ebers. Das Alte in Kairo etc. S. 23. Die Kopfstütze ist ein
ebenso passendes Determinativuni für diese Ruhe- und Rückzugsstätte der Geister
und Götter wie (TTD und Q-
130) Statt 4^ steht wieder irrthünilich ^^.
131) Unser Text hat ""^^^^ 1 I '^ ^ ^ ' ^^^ Todtenbuch <=> § § ^ \\
Die Lesung rehehui ist hier wol die richtige; die bärtigen Determinativ-
zeichen sprechen dafür. Ed. Meyer hat in seinem Seth-Typhoo erwiesen, dass
wenn die Rehehui auch gewöhnlich die feindlichen Brüder Horus und Seth sind,
reheh doch auch im allgemeinen einen Zwilling bedeutet. Auch Isis und Nephthy
*^7] Der geschnitzte Holzsarg des IIatrastri]. 257
ist der Osiris Ha(baslru. Sie sind enlzUckt 5. über ihn.
Sie lobpreisen^^^) ihn mit ihren beiden Händen. Sie reichen
ihm das Ihre (was ihnen zu geben zukommt oder auch
ihren Schutz).'^*) Nun lebt er, und es tritt der Osiris Hai-
bastru dort feierlich hervor*^) als lebende Seele des Rä
(am Himmel). So wie es dort für ihn vorgeschrieben ist,*^)
verwandelt er seine Gestalt. Er Iriumphirt unter den
Hauptgöttern. Er schreitet fort aus dem Lande der Tiefe
so wie die Seele des RäJ^^) — Der Osiris 6. IIa(bastru der
triumphirende, der sehr fromme, *^^) er spricht. Offen steht
mir das Thor^^J des Himmels, der Erde, der Tiefe, und
befriedigt ist darob die Seele des Osiris. Wenn ich ihr
Haus durchschreite, lobpreisten"^) sie bei meinem Anblick.
Ja, wo ich hingehe, *^^) (bei meinem Eintritt) erschallt mein
werden <^^> 8 8 ^W t^^ genannt. Dümichen, geogr. Inschr. I, 98, 8. Von
den Mertischlangen heisst es Todtenb. 37, i ü | '^'^'^'^ <3> R 8 c^r^JLJL'^
^/?n J/r\ ^^'^ gegrüsst Ihr Zwillinge (mit Jn) Ihr beiden Mertischlangen
Schwestern.
132) Urui aä kann Itaum zu rehehli gehören, denn an das rehebui des
Todtenbuches schliesst sich ein Urtu aälu Usiri.
ZU
I I I
4 33) Statt ^ sieht ^.
<34) Vielleicht auch ^ zu ergänzen und 0 R ^''^ t ^^ oder omjo 0
lesen, denn es heisst im Todtenb. ^^ V l '^'^'^'^ Sie verleihen ihm ihren Schutz.
I I i^L^^A 1 1 I I
135) Todtenbuch / ifc^ nr I ^ Hervortretend als
' fl jT I 0 0 I I F==^
lebende Seele des Rä am Himmel.
136) Todtenbuch ö ^^ ^%^^^^°^^<^ t|' ' ' So wie es ihm vor-
geschrieben ist macht er seine Umwandlungen.
437) Todteobuch f J VZ*'kc^S^* A.E1 ^^ll
138) x;37 ^ ® ^1 Todtenbuch: Osiris auf aiix etc. '^
139) Ini Todtenbuch yc^
UO) 0 für
141) ij? Der -Sinn wird durch das Todtenbuch aufgeklärt. Dort heisst
258 Georg Ebers, [58
Lob, und wo ich hinausgehe (^herrscht) Liebe zu mir. Ich
bewege mich vorwärts."'^) Nicht ist irgend etwas Böses
(Seitenstück G, rechts) an mir, dem Osiris Hatbastru dem
triumphirenden.
Den Schlusssatz, welcher auf unserem Sarge bis zur Unleser-
hchkeit verwischt ist, glauben wir nach dem Todtenbuche**^) so er-
gänzen zu müssen : n <=> v^J np . Die beiden letzten Figuren
W ^ äri-ä und der Name des Verstorbenen sind nicht mehr auf
den Rücken des Sargkastens gegangen und darum auf das Seiten-
stück rechts gesetzt worden. Um ihre Zusammengehörigkeit mit dem
Texte des 127. Kapitels des Todtenbuches, welchen sie zum Ab-
schluss bringen, anzudeuten, lässt man sie nach der gleichen Richtung
schauen wie die Zeichen des Stückes, zu dem sie gehören. Die
dann folgenden Hieroglyphen des mit ^'JTTt^ beginnenden
neuen 126. Kapitels sehen nach rechts, d. h. in die entgegengesetzte
Richtung. Dadurch wird der Text
Seitenstück G, rechts
zu dem was wir retrograd nennen , d. h. die Zeilen laufen um-
gekehrt fort, als man nach der Stellung der Hieroglyphen in- ihnen
erwarten sollte.
Dieser Abschnitt enthält ziemlich den ganzen Inhalt des 1 26.
Kapitels des Todtenbuches, indessen sind auf dem Mumienkasten die
einzelnen Sätze desselben anders geordnet als auf dem Papyrus, auch
fehlt merkwürdiger Weise in unserem Texte jede Beziehung auf die
vier heiligen Kynokephalos- Affen, denen gerade dieses Kapitel im
Todtenbuche gewidmet ist. Hier zeigt die Vignette, welche sich
auch in älteren guten thebaischen Texten an das 1 2ö. Kapitel schhesst.
es: """ — " ^vÄöVnSn'^MJi <^ ^ ^ . Be» meinem Eingang
erschallt mein Lob und bei meinem Ausgang herrscht Liebe zu mir.
142) Hier beginnt der Text unleserlich zu werden, doch glaub' ich, dass
^ /www A^WV\
entsprechend dem 9 DJS des Todtenbuches zusammengehört.
U3) Dieser hat ^.Y.^^!^*
W Jö I
S^] Der geschnitzte Holzsarg des Patbastrv. 259
den Feuerpfuhl, an dessen vier Ecken die vier Allen hocken. Sie
werden als zwei sich anti|)odisch gegenübersitzende Paare dargestellt.
Bei jedem von diesen schaut ein Affe den andern an. Zwischen
den vier Thieren steigen je zwei Flammen auf. Vor dem ganzen
Bilde steht der Verstorbene und erhebt anbetend die Arme. So
ungewöhnlich es nun wäre, wenn diese Vignette auf unserem Sarge
Platz gefunden hatte, so befremdlich muss es ersc^heinen, dass
hier der sonst nirgends fehlende Anfang imseres Kapitels völlig
unberücksichtigt bleibt. Derselbe lautet: ^ A^
(Id^i »ü diese vier Uundskopfafl'en!« Statt dessen hat unser Text,
und zwar auf der vierten Zeile, nur n^ I I i ") ^ '^'' ^'^'
Götter. Die so Angerufenen werden dann gerade so charakterisirt
wie die Affen im Todtenbuche; doch reicht diese (Jiarakterisirung
nur von hemesu die Ihr sitzet, bis äpt Ihr, die Ihr Schiedsrichter
seid. Das schon hier zu erwartende maär hnä user kommt schon
Zeile 3 in ganz anderer Verbindung vor. Man möchte glauben, die
Vorlage des Holzschnitzers sei auf Streifen geschrieben gewesen,
welche er verwechselt habe. Der Anfang würde gegeben sein,
ebenso das diesen fortsetzende Slück, aber bei der weiteren An-
knüpfung stösst man auf Hindernisse.
Unser Text lautet also:
Seitenstück G, rechts. 1. Ich**^) trete ein und gehe heraus
aus Roset. Geh voran**^) und komm! Wir beseitigen Alles was
schlecht ist an Dir, und löschen aus alles Böse, das Dich ver-
letzt hat'^') auf Erden, '^^) denn wir zerstören'^") alles Böse,
144) Das G als Artikel Wim Vocativ, (statt JyK) weist auch auf die späte
finlstehungszeit unseres Sarges.
145) Der Text beginnt Todtenbuch 136, 4 unten.
446) Todtenbuch 136, 5
147) Todtenbuch <26, 5 ^
148)
U9) Todtenbuch 426, 5 (1^
I I I
260 Gkorg Ebers, [60
welches Dir anklebt, o TriumphiienderJ^) Ihr*^*) die Ihr
ohne Trug seid und denen die Sünde ein Gräuel ist, 2. ver-
nichtet denn auch das Böse, welches sich an mir befindet
und löschet aus die Unreinheit. Ihr, an denen keinerlei
Makel haftet, gewähret was auch immer (mir Noth thut)*^^)
im Grabe, *^^) dass ich eintrete in Roset und dass ich
durch die gcheimnissvollen ^''^) Thore des Westlandes
schreite.*"^) 3. Wohlan so gebet*"^^') mir nun Opfer-
150) fehlt in der parallelen Stelle des Todtenbuches.
4öO Hier springt unser Text auf Todtenbuch 126, 2 unten über. Die An-
gerufenen sind im Todtenbuch die vier Hundskopfalfen, in unserem Texte 3?
Götter an der Spitze der Sonnenbarke.
162) Todtenbuch 126, 3 f J ^^^ ^ zzzz Q ^ | "^ • ^^^ f J
vÄ in unserem Texte ist gewiss nur diejenige Gruppe, in welcher Goodwin
scharfsinnig wie immer das koptische oywp und ^Siwp quot, quantus wieder-
erkannt hat. Seine Übersetzung (Zeitschr. 1868, S. 90) »all whatsoever^ quot —
quot sunt stimmt auch hier vortrefdich. Wir wissen , dass es am Ende des
Satzes so viel wie et cetera und am Schlüsse von Aufz'ählungen auch »und der-
gleichen« oder »so viel ihrer sind« bedeutet. Im Todtenbuche wird es il, 3
I 11 ^^^ geschrieben (neben ^-^ l 42, 11). Der von Rouge edirte hiera-
tische stimmt hier mit dem Turiner Texte zusammen.
153) Brugsch, Wörterb. übersetzt (1 ^v ß Loch, Höhlung, auch Grab.
Es muss eine grosse unterirdische Halle gemeint sein , welche in der Nähe des
Einganges in die Unterwelt gelegen war. Dafür spricht Papyr. Bulaq IH, 4, 16,
wo von den erquickenden Nordwinden in der { / x v\ ämhut, welche
bei den Thoren der ic ^s. ^ liegen, gesprochen wird. Brugsch, dict. geogr.
p. 37. Auf den Serapeumstelen ist die Rede von allen Göttern^ Göttinnen, die in
H v\ 8 (] U weilen. Eine Inschrift des Oasentempels von Charge sagt : Es
Ödhet sich Dir die amhu nach Süden zu. T jl >5^ a/vwa [1 a 0 >^ I
Brugsch, dict. g^ogr. S. 38.
154) Todtenbuch 126, * ^^^^"^O^^*^^^
1551 ^"^ ^
■^}
A/WNAA
ilt
6'] U£R GESCHNITZTE HoLZSARG DES QaTBASTRU. 261
kuchen,*^^) Krüge (Bierkrüge) und Backwerk*^) gleichwie
diesen Verklärten (den übrigen Verklärten).
Von hier an beginnt sich unser Text mit Todtenbuch 126, 2
zu decken; doch gehört zu diesem untrennbar die letzte Gruppe
von 1 26, 1 \/ ^ I . Sie ist auf unserem Sarkophag nachlässiger
Weise fortgefallen, und man hat darum unbedingt zwischen '^^
und ^ü ^Q/}^ — X^ w^i zu ergänzen. Nachdem diese Emen-
dation erfolgt ist, können wir also zu übersetzen fortfahren:
Sie, die da Schiedsrichter sind zwischen den Elenden
und Mächtigen, mögen sie zur Ruhe bringen die Götter,
welche Flammenrachen haben, *^^) sobald (x^ft) ihnen dar-
gebracht^^) sind alle*^^) Blumengaben und Wasserspenden,
sowie die Opfergaben an Rindern und Gänsen der Ver-
klärten, 4. welche leben von Wahrheit und welche sich
speisen mit Wahrheit.^^)
Nun folgt der Anfang des 126. Kapitels (126, 1) in der oben
angegebenen Variation. Statt der 4 ^i Hundskopfaffen
werden 3 Götter angerufen. Es heisst auf unserem M umien käste n :
0 ihr 3 Götter, welche sitzen vorn auf der Barke des Rä
157) Todtenbuch ^%6, i 9. Das Determinativ des Wasserbehälters
in unserem Texte muss in rs^ verwandefit werden. Der Schreiber scheint an
q22^3^=c sens, den Namen des 82. (Zusatz-) Nomos von Unteraegypten ge-
dacht oder ihn vielmehr in der Feder gehabt zu haben. sind ge-
-n— in
wöhnUch fiiericräge. A. d. Stele Ramses I im Louvre y ^ vier
A O H — 1 1
Krüge Bier.
158) Todtenbuch 126, 4 hat nur: 9
/www
I
a
159) Statt rDrOfl'^^^^" ^^^ Todtenbuch 126, 2 'IJJ^ [D fP
A/W/V/W
<=>\l I I
I A n0
160) Statt tX. ! Todtenbuch 126, 2
161) <c:> THooT omnes.
' I I I ^ *
162) Todtenbuch 126, 2 -^-^I^^R^-
I iczn fl
I
I
262 Georg Ebers^ Der geschnitzte Holzsarg des Hatbastru. [6S
und hinaiifgelangen lasset die Wahrheil zum Herrn des
Alls, mag mir mein Urtbeil werden?^®^)
Die kleinen Texte am FussstUck sind sehr stark beschädigt und
von geringer Bedeutung.
Es gibt wenige schöner geschriebene Texte als der unsere; aber
leider ist er im höchsten Grade verderbt. Dieser Umstand hat uns
verhindert ihn einer genauen Analyse zu unterziehen. Obgleich er
auch wenig bedeutsames Neues enthält, hat er uns doch Veran-
lassung geboten, manche bemerkenswerthe, eines näheren Eingehens
würdige und noch nicht völlig sicher gestellte Einzelheit in's Auge
zu fassen und den Versuch zu wagen sie aufzuklären. Darin
pflichten uns alle Aogyptologen bei, dass wir nie genug Texte haben
können , und so darf denn diese Publication schon als solche auf
eine freundliche Aufnahme von Seiten der Fachgenossen rechnen.
163) Diese Übersetzung ist gezwungen. Ich glaube eher, dass die erste
Zeile mit ^11 ^^ y. SA auf der t. fortfahren sollte, und dass sich der Ab-
schreiber — eine Vermuthung, welche schon oben ausgesprochen worden ist —
in der Vorlage vergriffen hat.
DER i.eipzk;er geschnitzte holzsarg des hatbastru.
VuUDKKANSlCilT DES DECKliLS.
A. J. K. S. Cri. lt. Hui. lSS4.
DER LEIPZIGER GESCHNITZTE HOLZSARG
DES yATBASTRU.
OBERER THEIL DES DECKELS.
DER LEIPZIGER GESCHNITZTE HOLZSARG
DES yATBASTRU.
FUSSTHEIL DES DECKELS.
Mt.j.fr. s. c«.
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TAF. V.
lOLZSARG DES HATBASTRU.
Vorderstück C.
rechts.
I^pxig* Giesgcke &> Devrunt.
DEK
ABLAUT DER WÜRZELSILBEN
IM LITAUISCHEN
VON
AUGUST LESKIEN
MITGLIED DER KÖNI6L. SACHS. QKSELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
Abliandl. d. K. 8. Gesellsch. d. WiR8(»ii8ch. XXI. 49
)
Vorbemerkung.
Die folgende Darstellung der litauischen Ablautsreihen hat nicht
den Zweck, eine der vorhandenen Theorien über indogermanischen
«
Yocalismus zu stützen oder zu bekämpfen, sondern war ursprünglich
nur bestimmt, mir als Hülfsmittel bei der Behandlung des slavischen
Yocalismus zu dienen. Die Sammlung, der anfänglich das Nessel-
mann'sche Wörterbuch zu Grunde lag, hat sich dann durch allmäh-
liches Nachtragen sonst gefundenen Materials und Aufnahme des
Lettischen so erweitert, dass sie, vollständiger als die bisherigen
Zusammenstellungen , den vergleichenden Grammatikern überhaupt
nützlich sein dürfte. Aus diesem Grunde veröffentliche ich sie.
Die Schrift zerfällt in zwei Abtheilungen, deren erste die Bei-
spiele der einzelnen Vocalreihen enthält. Hier ist die Ordnung der
zu einer Ablautsreihe gehörenden Wortfamilien die gewöhnliche al-
phabetische, nach dem Anlaut der Wurzelsilbe (wo das Lettische
vom Litauischen abweicht, ist das betreffende Wort unter den ent-
sprechenden litauischen Anlaut gestellt, also df unter g, z unter k
u. s. w.). Die Reihenfolge der Vocale innerhalb einer Wortfamilie ist
die in der Überschrift der betreffenden Reihe angegebene. Innerhalb
der einzelnen bei einer bestimmten Wortfamilie vorkommenden Vocal-
stufen sind die Worte, getrennt durch ;, so geordnet, dass das pri-
märe Verbum voransteht, diesem die primären Nomina folgen, und
zuletzt, durch - getrennt, die abgeleiteten Verba. Bei dem primären
Verbum ist Präsens, Präteritum, Infinitiv angegeben. Unter die No-
minalableitungen sind die Bildungen, deren Yocalstufe sich durch
eine feste grammatische Regel von selbst ergiebt, also die Participien,
die lebendigen Nomina actionis und Nomina agentis (auf -iiwö-, -utwö-,
-ÄCÄflMo-, -eja- u. s. w.) nicht aufgenommen, Nomina act. und ag.
jedoch in dem Falle aufgeführt, wenn ihr Yocal von dem des In-
finitivs abweicht. Ferner konnten unter den abgeleiteten Verba die
49*
266 August Leskien, [^
litauischen Causativa auf -din-ti mit der bestimmten Bedeutung »das
und das thun lassen« ausgeschlossen werden, weil ihr Vocal sich
nach dem Vocal des Infinitivs der zu Grunde liegenden nicht causa-
tiven Verba richtet. In nicht geringer Zahl sind secundäre Nomina
aufgenommen, theils natürlich, weil das primäre Grundwort fehlt,
theils weil im Litauischen Suffixe, die ursprünglich primär sind, zu
secundären Ableitungen verwendet werden, namentlich das Adjectiva
bildende -ii-, und es wünschenswerth schien, solche Fälle aus der
Sammlung heraus beurtheilen zu können. Wenn secundäre Nomina
auf ebenfalls angeführte, ihnen zu Grunde liegende primäre folgen,
sind sie von diesen durch Komma getrennt. Von den abgeleiteten
Verben ist selbstverständlich ein Theil leicht als denominativ zu er-
kennen, ich habe sie trotzdem in der Regel nicht den Nomina an-
gefügt, weil eben bei einem anderen Theil das betreffende Nomen
gar nicht mehr existirt oder nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist,
und eine Trennung der abgeleiteten Verba nach diesem zuföliigen
Moment nicht zweckmässig war.
Es enthält das Verzeichniss also nur diejenigen litauischen und
lettischen Worte, die mit anderen derselben Wurzel in einem Ab-
lautsverhältnisse stehen, dagegen nicht diejenigen, deren Stellung in
einer bestimmten Vocalreihe sich nur etymologisch durch Vergleichuug
der anderen indogermanischen Sprachen bestimmen lässt; doch habe
ich am Ende jeder Vocalreihe die primären Verba, die einen Vocal
dieser Reihe ohne sonstigen Ablaut enthalten, als Anhang hinzu-
gefügt.
Der zweite Theil enthält als Hauptabschnitt, bei dem ich mög-
lichste Vollständigkeit erstrebt habe, die Vertheilung der Vocalstufen
auf das primäre Verbum und zwar nach Bedeutungskategorien, wie
es für das Litauische charakteristisch ist; ferner Fälle, wo die
Verbindung einer bestimmten Vocalstufe mit einem bestimmten No-
minalsuffix noch durchgängig erkennbar ist; endlich den Versuch,
die Abhängigkeit der abgeleiteten Verba von Nominibus zu zeigen
und damit nachzuweisen, dass zwischen der Stufe des Wurzelvocals
und diesen Verbalbildungen kein selbständiges Verhältniss besteht.
Es versteht sich , dass eine erschöpfende Behandlung der beiden
letztgenannten Abschnitte nur mit Hülfe der verwandten Sprachen
vorgenommen werden kann, auf die ich hier verzichte.
^] Der Ablalt der Wurzelsilben im Litauischen. 267
Der litauische Wortschatz ist weit davon entfernt, vollständig
bekannt zu sein. Schon aus diesem Grunde kann auch meine Samm-
lung nicht vollständig sein. Dazu kommt, dass ich auch die vor-
handenen litauischen Drucke nur in beschränktem Masse ausbeuten
konnte: viele ältere oder im russischen Litauen gedruckte Bücher
sind nicht zu erlangen, manches eignet sich wegen seiner unvoll-
kommenen und unsicheren Orthographie gerade für den vorliegenden
Zweck nicht. Was ich ausser Nesselmann's Wörterbuch, Schleicher's
auf das Litauische bezüglichen Werken und Kurschat's Grammatik
hauptsächlich benutzt habe, sei hier mit der Citirweise angegeben:
Bezzenberger, Beiträge zur Geschichte der litauischen Sprache,
GöUingen 1877 (B).
Bezzenberger, Litauische Forschungen, Göttingen 188S (BF).
Geitler, Litauische Studien, Prag 1875 (G).
Juskevic, Lietüviszkos däjnos, 3 Bde., Kasan 1880 — 82 (J).
Juskevic, Svotbin6 r^da, Kasan 1880 (JSv).
Iwiiiski, Genawajle, Wilna 1863 (IG).
Kurschat, Deutsch-liltauisches Wörterbuch, Halle 1870 (KDL).
Kurschat, Littauisch-deutsches Wörterbuch, Halle 1883 (KLD).
Leskien-Brugman, Litauische Volkslieder und Märchen, Strass-
bürg 1882 (LB).
Mittheilungen der litauischen literarischen Gesellschaft, Heidelberg
1880—83 (MLG).
Wolfonczewski, Prade ir iszsiplietimas kataliku tikieima, Wilna
1864 (WP).
Wolonczewski, Zemajcziu Wiskupiste (nur zum Theii; WW).
Szyrwid; Punktai sakimu, (Neudruck) Wilna 1845 (SzP).
Szyrwid, Dictionarium trium linguarum, Wilna 1713 (Sz).
N bezeichnet, dass mir ein Wort nur aus Nesselmann's Wörter-
buch bekannt ist, etwaige Zusätze zu N dessen Quelle (s. N.'s Wörter-
buch S. VI). Wenn Kurschat die von ihm aus Nesselmann aufge-
nommenen Worte accentuirt hat, ist der Accent auch bei mir so
augegeben. Der Vorsatz pr bedeutet preussisch. Ein Fragezeichen
vor einem Worte bedeutet, dass mir die Zugehörigkeit zu der be-
treffenden Gruppe zweifelhaft ist, dasselbe nachstehend, dass die
Existenz oder Richtigkeit des Wortes unsicher ist.
Fur das Lettische musste ich mich auf Bielenstein's »Lettische
Sprache« und auf Ulmann's Lettisch-deutsches Wörterbuch beschrän-
ken; wo ein Citat nöthig schien, ist ersteres durch Bi, letzteres
durch ULD bezeichnet. Die lettischen Beispiele wollen natürlich nicht
268 August Leskien, L^
besagen, dass die aus dem Litauischen angeführten Worte dort nicht
vorhanden wären; wo die gleichen Worte in beiden Sprachen existi-
ren, genügte eben die Anführung des litauischen. Die Bezeichnung
der lettischen Tonqualitäten war für meinen Zweck überflüssig, ich
h2|be daher die Vocallänge durch ~ bezeichnet, und für ö ü^ für e i die
Zeichen ii, e angewandt. Ausserdem schreibe ich der Bequemlich-
keit des Druckes wegen die erweichten Consonanten mit ', nicht mit
Querstrich. Die lettischen Worte sind durch vorgesetztes le hervor-
gehoben.
Beim Litauischen wäre es freilich wünschenswerth gewesen, dass
die Tonqualitäten nach Kurschat's Weise geschieden wären, allein die
Sache ist nicht durchzuführen, da man, falls das Wort bei Kurschat
fehlt oder man es selbst nicht gehört hat, zwar sehr oft die Hoch-
tonsilbe kennen, aber die Tonqualität nicht bestimmen kann. Ich
habe daher Schleicher's Accentuationsweise beibehalten.
A. Alphabetisches Terzeichniss der Beispiele.
Allgemeine Bemerkungen. Im Folgenden sind als Ab-
lautsreihen des Litauischen aufgestellt:
L i y (= i) e ei [ej) ej ai {aj)
II. u ü ü au ov
III. a) i y (= i) e e a 0 (= a)
h) e e a 0 (= a)
IV. e a ö {= ä)
V. a 0 (= ä).
Davon gehören III a und III b eng zusammen und hätten zu
einer Reihe vereinigt werden können; die Scheidung ist aus dem
äusseren Grunde geschehen, um die Fälle der Stufe i zusammen
übersehen zu können. Es versteht sich, dass sehr leicht eine Ver-
mehrung der Reihe III a aus III b eintreten kann, wenn man zu Bei-
spielen der letzteren noch die i-Stufe findet. Die Reihe IV beruht
vielleicht z. Th. nur auf dem Zufall, dass gerade Formen mit e oder i
in der Wurzelsilbe nicht überliefert oder mir nicht bekannt geworden
7] Der Ablaut der Wurzelsilben im LiTALisciiäN. 269
sind; da aber ein Theil der Fälle auf einem indogermanischen Ab-
laut ^ 0, der nur diese Stufen umfasste, beruhen kann, musste diese
Reihe zunächst als besondere ausgeschieden werden. Die Reihe V
verringert sich vielleicht auch noch durch Auffindung von Formen mit
ß, zunächst war sie ebenfalls festzuhalten, weil sie sicher z. Th. auf
uraltem Ablaut a ä beruht. Betrachtet man das Zahlenverhältniss
der Beispiele aller Reihen, so zeigt sich, wie stark in der Sprache
die Ablaute der ersten drei herrschen, wie unbedeutend die übrigen
sind:
I. 131 Beispiele
II. 1 30
III. 288 (a. 227, b. 61)
IV. 10
V. 22,
also 549 Beispiele der ersten drei Reihen gegen 32 der beiden
letzten.
Wie sich diese litauischen Yocalreihen in die als indogermanisch
angenommenen oder anzunehmenden einfügen, überlasse ich den ver-
gleichenden Grammatikern zu bestimmen. Es ist z. B. möglich oder
wahrscheinlich, dass ein äugti (wachsen) einer anderen ursprünglichen
Reihe angehört als z. B. raügti (säuern), im Litauischen ist kein
Unterschied, und was im Litauischen gleichartig erscheint, ist hier in
eine Reibe zusammengestellt.
Bemerkenswert!! sind die Consonantenverhältnisse der Wurzel-
silbe bei den verschiedenen Reihen, wobei ich indess wegen der
geringen Anzahl, die keine festen Verhältnisse erkennen lässt, von
IV und V absehe. Auf die 131 Beispiele- von I kommen nur vier
Fälle, von denen man mit Sicherheit sagen kann, dass die Wurzel
auf r oder l auslaute, nämlich dyr- glupen, nyr- dass., mä- lieben,
smilr- naschen (Fälle wie kaire\ linke Hand, lassen sich nicht mit-
zählen, weil das r einem Suffix angehören kann) ; Auslaut m oder n
kommt gar nicht vor, so dass die stehende Form der Wurzelsilbe
Auslaut auf einfachen stummen Consonanten oder auf Vocal (t) ist.
Unter den 130 Beispielen von II finden sich 7 auf r^ l^ m: biur-^
glum-, gul-^ kiur-^ mur-^ pul-^ smul-. Sonst ist der Wurzelauslaut
einfacher stummer Consonant oder Vocal (li). Man wird wohl sicher
annehmen können, dass sowohl in I wie II die Beispiele mit wurzel-
270 August Leskien, [B
auslauleDdem liquiden oder nasalen Consonanten ursprünglich nicht
hierher gehören. Von dem sonstigen Vorkommen des u vor Liquida
oder Nasal oder Verbindungen mit solchen wird unten die Rede
sein. — Von den 227 Beispielen der Reihe lila haben 214 r, /,
w, n dem Vocal folgend oder vorangehend, nur 13 den Vocal von
stummen Consonanten umgeben {bizdzm, le dfisl, kiblu kvipii^ sykis^
lesikt^ \e schk'ibit^ \e stiba^ nu-szisz^s, iiszkaü prät. , tviske'li^ vipli,
le wifinäi). Von den 214 zeigen 24 r, /, m, n vor dem Vocal (le dri-
binät^ dribti^ driksti^ glibijs^ grisli^ le Idibl^ krisli, midüs {medm), wi-
kenli {mekenti) , plpzli^ rikli^ le riiel^ su-rizg^^^ le skribinäty slipti, splisti,
spriges, szlikti, sznibzdeti^ trikli^ tripseti {trjpli)^ iriszli^ iriszeti^ zlibti).
Bei der Reihe 111 b sollte man als regelrechte Form der Wurzelsilbe
den Auslaut auf stumme Gonsonanz erwarten, doch darf man hier
auf bestimmte feste Formen nicht rechnen, da der Zufall, dass bei
einer auf r, i, iw, n oder r u. s. w. -f- Consonant auslautenden Wurzel
gerade keine t-Stufe vorliegt, eine grössere Anzahl Wurzeln dieser
Form, z. B. dmu, derkiüy semiü u. s. w., in dieselbe Reihe mit ieküj
metü, segü u. s. w. gebracht hat.
Eine der schwierigsten Fragen des litauischen Vocalismus, die
nach der Natur des u, wird durch die erwähnten Reihen nicht er-
ledigt, kaum berührt. Zwar kommt in 11 das ü vor, aber nur die
wenigen Fälle, in denen es sich mit u oder au begegnet. Mit dem
Hineinziehen dieser ü in die u-au-Reihe ist über die ursprüngliche
Form und Geltung dieses Vocals nichts präjudicirt, sondern nur das
Factum angegeben, dass er zuweilen im Ablaut mit u und au steht.
Die viel zahlreicheren anderen Fälle, in denen eine Berührung mit
it-au sicher abzuweisen oder nicht nachzuweisen ist, kommen in
den unten folgenden Verzeichnissen überhaupt nicht vor, weil sich
kein regelmässiges oder auch nur öfter wiederkehrendes Ablautsver-
hältniss zwischen ihrem ü und anderen Vocalen auffinden lässt. Ich
habe daher das u als Anhang der Vocalreihen kurz behandelt.
Ferner fehlen in den Verzeichnissen die Beispiele von u vor
r, /, m, n -|- Consonant, und von u vor einfachem r, /, m, n sind
am Ende der Reihe 11 nur die primären Verba dieser Wurzelform
aufgenommen. Auf die Behandlung dieses u, sowie auf Vollstän-
digkeit der Beispiele habe ich verzichtet, weil eine Regel und ein
bestimmtes Verhältniss zu anderen Vocalnuancen nicht zu ßnden war.
d] Drr Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. SI71
I. i y e ei (ej) ej ai (aj).
i. le biji%-8 (prt. zu blte-s): bijaü-8 bijöU-s sich fürchten, pr bin-
Iwei. — f. le bl-stü-s prs. zu bltß-s sich fürchten - le bldit in Furcht
setzen ; le bislile-s sich fürchten. — €• le bedel schrecken, le bedeklis
Popanz, Hasenfuss. — wL le baida Schreckniss; le baile Furcht, bai-
lus Sz furchtsam, vgl. le bailsch^ bailigs dss. ; bäime Furcht, baimm N
furchtsam; baisä Schrecken Sz, baisiis abscheulich, baisius baiselis
Abscheu haben, baistu baisau baisti NSz grausam werden (denom. von
baisä); bajüs fürchterlich ^ pr |7o-6attii< strafen; baidaü baidpi scheu-
chen ; le baidinät einschüchtern ; bailinti scheuchen ; baisinti (zu baisä)
grauen machen.
i. le bigk Bi I. 268 scheu. — Cli. le baigi n. pl. »in Furcht
setzende Zeichen am Himmel, Nordlicht«; le baiglis Schreckbild;
baigsztis N Fliegenwedel; baigsztüs N scheu; baigm dss. N «^ bai-
ginti N scheuchen.
ei. le beidfu beidfu beigt endigen; le beiga Ende, Neige. —
€li. baigiü baigiaü baigti enden; pabaigä Ende^ Aufhören; pabaigtüves
Ernteschmaus.
t« blyksztü blyszkaü blf/kszli erbleichen; isz^lpzkelis Bleichge-
sicht. — e. isz-blieszkfs (= sonstigem isz-bltjszk^s bleich) WP 206.
300. — Cli» blaikszlatir-s blaihztijli-s N sich aufklären (vom Himmel).
Zusammenstellung zweifelhaft; der gewöhnt. Ausdruck für letzteres
ist: blaivaiir-8 blaiv^U-s.
e. brcziu breziau br'ezli kratzen; br'Szis m. und brcUjs das Kratzen,
Riss. — €ti. braizan braizijli iter. kratzen BF 101; J 150, 16.
i« (vielleicht auch i in le didels ungeduldiger Mensch, didelül
unruhig sein) le didit hüpfen machen. — €• le del tanzen -^ le de-
delet iter. (eig. herumtanzen) müssig gehen. — eL le deiju (Präs. u.
Prät. zu det). — ai. dainä Volkslied (nach Fick VW II. 584 eig.
Tanzlied).
i. d^gsiu dygau dijgii keimen (eig. hervorstechen, mit der Spitze
herauskommen); le digs Keim, lit. dijgas Dorn IG 73; dyge N Stich-
ling, pl. dijges Stachelbeeren; di)gis m. das Keimen; d^glis Stachel
BF 107, auch dyglys^ le dtgUs Keim, dyyle Stichling; dygubjs Stich;
di/gsnis m. Stich; dygiis stachlicht - le didfel dldßnät keimen machen;
d^ktereti NM Seitenstechen bekommen. — €• degia d'ege dSgti stechen
272 August Leskien, [^0
(imp. z. B. vom Seitenstechen), pa-d'e(jü keimen lassen MLG I. 230;
Jegas Keim, le dcgs Zwirn [degt auch »einfädeln«); le degUs Keim,
lit. deglis BF 107 Name einer Krankheit; \e degsls Keim. — deigmis
J 1118. 13, 1168. 4, deiginas WP 169 Lanze. — ai. pa-däigos
»FederansUtze junger Vögel«, Spielen (nach N auch padaigai) ; daigis
m. das Keimen ; daiklas Stelle, Ort, Sache (nach Fick IL 738 »punctum«)
- daigaü daigijti iler. stechen; daiginti keimen machen.
t. dyru dyreli N gaffen, lauern; dijrau dfjroti dss.; dyrinli
schleichend lauern; df/rineli iter. dss. — (iL ajitj-daira Sz Vorsicht,
apydairm Sz vorsichtig (unter ostroznosc) , das einfache dairus in
»Naujos Giesmes etc.« (Memel 1876) 3 v. 1 - dairaiir-s dairyti-s um-
hergaffen .
€• devas Goit. — cL deive Gespenst; deiväUis Bezeichnung des
Perkun; deivilas B Götze; deivt)sle Gottheit B (bei dem auch andere
Ableitungen mit ei) - at-s^i-deivoti Abschied nehmen, z. B. J 1 1 72. 7.
i» drikä »ein Faden oder eine Partie Fllden, welche beim Weben
nicht eingezogen vom hinteren Webebaum . . . herabhangen« KLD «^
drikstereti intr. mit einem Ruck reissen. — t. drykstu drykaü drykti sich
lang herabziehen (von Halmen etc.); drykrs N Krummstroh; isz-dri)-
kelis lang aufgeschossener Mensch - dnjktereti punkt. sich hangend
herablassen. — €• drckiü drekian drekli (Halme) streuen; isz-dr'ekas
im blossen Hemde. — dt. draikas N lang gestreckt; pa-dräikos KLD
verstreutes Stroh; draikalas gestreute Halme; draikm zähe MLG L
387 -* draikaü draiktjli iter. streuen; draikinii streuen.
l. drpas Streifen (in Zeug). — €. drezas Eidechse. Zweifel-
hafte Zusammenst.
e. le et gehen (Präs. mii, et u. a. F.) ; le ela Reihe. — €t. inf.
cUi (Präs. ei), le präs. eimu u. a. F.; -eiga Gang, z. B. f-eiga Eingang;
eidinc N Gang, vgl. eidininkas Passgänger; eiklüs behende, schnell,
z. B. J 300. 18; eile Reihe; eimena u. eimena^ N Bach; eisme N
Gang, Steig; eisena Gang; pri-eitis f. N Vorstadt; (Schleicher Leseb.
hat ein citininkas Gänger, viell. Verwechselung mit eidininkas) ; kar-
eiwis (Kriegsgänger) Krieger, kel-eivis (Weggänger) Wanderer. —
€j» öjaü (prät. zu eiti), — (lt. le ailis u. a. Reihe; le aideneks Pass-
gänger (auch eidencks; überhaupt scheint hier ai im Anlaut ei zu
vertreten) .
i. prät. gijaü (zu gf/ti)^ le dflju, — %• präs. gyju^ le dfistu^ inf.
1^1 Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 273
(jf/ti heilen inir. - gf/dau gf/dyli caiis. heilen; gijdinli dss. — €• '?\e dfel
hervorbluhen, hervorragen Bi II. 394; le dfedel caus. heilen; \e dfc-
dinät dss. — eL ?le dfeiju präs. prät. (zu dfel). — (li. gajfis leicht
heilend.
i. le ylbslii fjibu gibt ohnmächtig, schwindlig Jwerden; le gibla\
le jlblis; le gibelis Ohnmacht; le glbüns dss. — ei. le (jeibt (= ^ibt)\
\e (jeibules f. pl.; le geibtUis; le geibüns (Bedeutung wie unter i). —
(li* le gaiba (und geiba) Faslerin, Thörin.
t. pra-gif8iUj gydau, gijsli anheben zu singen. — €• g'Mu gedoli
singen ; le dfesma Gesang, gesme Gesang. — d'L gaidas N, gaidä N
Sänger, -in; gaidijs Hahn; ?Ie gailis Hahn.
i. le dfidrums Klarheit, vgl. le g'idrs klar, heiter. — e. ?le dfesna
Dämmerung, Abend-, Morgenrüthe; gedras heiter (vom Wetter); gedrä
heiteres Wetter. — (lt. gaidrus heiter; gaisas Lichtschein am Himmel,
le gaiss Luft, Wetter; le gaischs = ^gaisja-s (viell. Vertreter für ^gai-
sm) klar; le gaisma Licht; gaisras Lichtschein am Himmel «^ gaidrinü
heiter machen (zu gaidrus).
f. pr sen-ggdi empfange, sea-gidaul empfangen (eig. abwarten);
le dfidris Durst. — €i. geidzü geidzaü geisli begehren, pr geide 3. pl.
präs. warten; gcida Verlangen BF 112; gciduhjs Lüsternheit - gei-
däuli sich sehnen. — Cli. le gaida Erwartung, le pagaida und pa-
gaids Zins, uzgaida nach K lüsterner Mensch, nach N auch Gelüsten
(neben uzgaidas N), gaidüs N erwünscht, ?dazu gaidau^ gaidel mein
Lieber -» le gaidit warten, harren auf.
'L le ^idu prät. ^ift merken, muthmassen - le (jidät iter. —
€. le (jedu (präs. zu f)ifl).
i. gijvas lebendig; le rf/«rc Leben, Wirthschafl - gyvenli wohnen.
— €li» gaivüs N munter - gaivinti erquicken (zu gaivm),
i. giiiis MLG I. 388 scharf, widerlich. — t* ggzlh gyiaii gyzU
herb, sauer werden ^ gtjztereli plötzlich s. w. — €• g'ezia gete g'ezU
impers. kratzt (im Halse), geziü pers. grollen; pa-gczä Rache. —
Cli. gaizüs herb.
i. gnijbiu gnybiau gnybii kneifen; gmjbis Kniff; gnyblis NSz Knei-
fer, Nussknacker. — ai. gnaibis m. Kniff; gnaibüs NM, KLD leicht*
kneif bar, zänkisch - gnaibaü gnaibyli iter. (zu gmjbli).
i. le gribu gribet wollen, verlangen; leyri6a Wille; gribsznis m.
Griff - gribtereti gribsztereli schnellen Griff thun. — €• grebiu grebiau
274 AüGL'ST Leskien, L^^
grebti greifen. • — eL greibiu greibiau greibli greifen, z. B. VVP 166,
185, sugreib^s MLG 1. 369. — (li* ap-graibomu inslr. pl. handgreif-
lich, oherflächlich MLG I. 62, vgl. apgraibas WP 274; graibüs N zum
Greifen geneigt; graibszlas Kratzharaen, Kescher KDL^ graibati graibfjü;
graibslaü graibsl^li; grdibszczoli Iterativa (zu grSbti).
€. greziu gr'eziau grezli einritzen (in der Runde) , abzirkeln,
le grefchu grefu grefl schneiden, in beiden Spr. auch »mit den Zähnen
knirschen«; greze Schnarrwachtel; grezinijs runder Schnitt; grezle
Schnarrwachtel. — (iL le graifes f. pl. Leibschneiden; graiszlas B
Säge; graizlos G Einfassung des Bodens am Eimer {grSzti bedeutet
»einen solchen Boden abzirkeln«) - le graifil iter. schneiden ; graizyti
{rankm) ringen (die Hände) J 513. 21 (gehört wohl zu grfziü s. d.).
i, iszkuß N deutlich, offenbar; iszczas N dss. — (lim äiszkm
deutlich.
i. izii entzweigehen, 3. prüt. izo z. B. WP 36, 174, vgl. menu
par-iza (G s. v. parizimas) der Mond ist im letzten Viertel; le w^j-ife
ULD Windriss im Holze (vgl. ife) ; izines N Schlauben ~ izinti aus-
schlauben. — t. le ife Spalte im Eise ULD, lit. yze yziä Grundeis.
— di. le aifa Spalte im Eise, vgl. par-aiza {= per-) G. Abnahme-
zeit des Mondes, hz-aizos Schlauben -^ aizaü aizijti ausschlauben ;
aizinli dss.
t. prät. su-jiszkau inch. zu suchen beginnen. — €• jSszkau
jeszköli suchen.
€• kSmas Bauerhof, Dorf. — (It, kaimas dial. Dorf, vgl. aptj-
kaime N Dorfbezirk, kaimfina^ Nachbar; "fkaimene Heerde.
ci» le k'eiris link. — (lt. kaire linke Hand, kairijs Linkhand.
i. ut-kisti G {linus) »die Flachsstengel auf die ardai legen«;
atkisas G »die Arbeit, durch welche das ausgedroschene Getreide
von neuem in die Trockenkammer gelegt wird. — di, le kaisil
streuen (?bei ULD als livisch bezeichnet).
i, kiszü kiszaü kiszti trans. stecken. — t« kpzau k^szoti intr.
wo stecken - hjszlereti (mit y KLD) dem. (zu kiszti), — di. kai-
szlis m. Riegel <^ kaiszaü kaiszyti iter. (zu kiszti).
i. kitas anderer, -kintu -kilau -kisti N anders werden. — e. "fpa-
si-kijzdatnis n. pl. m. abwechselnd WP 1 23, kann nach dortiger Ortho-
graphie c gelesen werden. — eL keiczü keiczaü keisli wechseln. —
di. kaitaü kaityli iter. zum vor.
13] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 275
t. le klit Bi I. 373 irren, sich zerstreuen. — C ? Bei Sz ein
Präs. kliemi (unter plot^ somnio, nugor). — Ci. le kleija Herum-
treiber, le kleijüm dss. - le kleijüt herumtreiben {ei dial. für at?,
s. d.). — ai. le klajsch (= *klajas) geräumig, eben; le klaija Ebene;
klajm N irreführend, vgl. klajünas J 62. 6 Herumslreicher - klajöli^
le klaijät herumirren (vgl. klyd-).
%. khjstu klijdau klpti irre gehen (le klifl auch »sich zerstreuen«) ;
pa-kltjäelis Irrgänger; pa-klydm N verirrt - klyde'ti; klydineti iter.;
le klldinät zerstreuen. — 6. le klefchu kledu klefl ausstreuen ; le kle-
det iter. (zu klift) Bi I. 323, caus. verthun (zerstreuen) ULD. —
ei. — kleisti WP 103. 271 wegwerfen, verschwenden. — (li. pa-
klaidä NM Irrthum, Sz ineptiae u. a.; klaidüs irre führend; le klaists
Herumtreiber ~ klaidaü klaidpi iter. (zu klpti)^ le klaidll caus. zer-
streuen ; Häidzoti iter. (zu khjsli) ; klaidinli irre führen ; le klaistUes
sich herumtreiben.
t. 8ip-kligu (3 sg. prt.) antele aufschreien J 323. 1 ; le klidßnät
ULD schreien wie ein Habicht. — €• le kledfu kledfu klegt schreien.
— (li. le klaigät it. zum vor.
i. klipytuti »mit schiefen Füssen halblahm gehen« KLD. —
'L klypstü klypaü kbjpii mit krummen Füssen gehen; su-kl^pelis
Schief bein. — ei- kldpiü kleipiaü kleipii schief treten (Schuhe). —
di. isZ'klaipiu MLG I, 17 verschränken, vgl. klaipiks »der mit den
Füssen schaufelt« ebend. '^ klaipaü klaiptjli iter. (zu kleipti).
i. kliszas schiefbeinig, kliszis, kliszijs^ kliszim subst. — ei. klei-
sziüti KLD mit krummen Beinen eilig laufen.
6. le knebju knebu knebt kneifen. — ui. le iter. knaiplt,
i. knisii knisaü knisii wühlen. — f. knysijs (mit i K) Rüssel. —
di. knaisaü knaispi iter.
t. le krija {krlja) Baumrinde, lit. krijä »der am Rande eines
Siebes auf den Boden gelegte Bastring« KLD, krijos N Knaul von
Bast oder Rinde. — !• ? krpis f. i-st. und krpis m. Kescher zum
Fischen, le krits m. (vgl. graibszlas zu grebiu^ dss.) - le krijdt schin-
den. — e. le krenu kret schmänden. — ei. le präs. kreiju (zu
kret)\ le kreims Sahne ~ le kreijüt schmänden. — ej. le prät. kreju
(zu kret). — Cli. le kraisHt iter. (zu krei), — Vgl. lit. grejü grejaü
grPli dss. was le kret^ iter. dazu graislaü graistijti^ dem. graisiineli;
276 August Leskien, [^*
su-gr'ili ergreifen, erraffen J 278. 8; zu le kreims vgl. lit. greimas
KLD [] schleimiger Niederschlag im Wasser.
i. krivis schief gewachsener Mensch; krivule Krummstab. —
ei* kreivas schief. — Cli. le krails gebogen; apy-kraives {pmzeles)
Anyk. Szil. v. 1 2 bei G erklärt durch »etwas gekrümmt« ; Sz schreibt
kraivas (z. B. unter krzywy) krumm, schief.
i (i?). isz-krikas, adv. isz-krikai B zerstreut. — cL kreikiü
kreikiaü kreikti streuen (Stroh). — di. kraikas Streu; kraikä dss. -
kraikaü kraikijli iter.
i. krypslü krypaü krypii sich drehen; i-krypai N. adv. mit halber
Wendung, schräg (dass. bedeutet i-skripai) - knJptereU dem. —
d» kreipiü kreipiaü kreipti drehen, wenden. — wL kraipaü kraippi
iter. zum vor.; kraipineli dss.
€• kveczü kveczati kvesti einladen ; kveslys Hochzeitsbitter ; kvlSstis N
Einlader. — wL pr quoik (= ^kvaiias) Wille - pr quoileii (= ^kvaile-)
ihr wollt.
im prät. lijaü (zu Itjli) ; i4ija KLD [ ] Regenwetter — 'l. präs.
lyjü bjli regnen, le prUs. listu; le lija feiner Regen; lytüs Regen -*
hjdau l^dyti (Talg) schmelzen (vgl. slav. lojb Talg); h'fdinti dss.; lymli^
le linät [llnät) fein regnen. — €• leju lejau leli giessen; nu-lejos N
Abgüsse; lelüs Regen LB 338, le lelus; leime Tiegel. — ei. le prUs.
leiju (zu lel) ; le aif-leija Zuthat zur Speise. — ej* le prät. leju
(zu lel). — di. laistüvas N Giesskanne - läislau läistyli iter. (zu leli)
laistaü laishjli KLD bewerfen (z. B. eine Wand mit Kalk), le laislcklis
Giesskanne; laistineti iter. J 1245. 6; läistereli dem. (zu leli); laidau
laidyli caus. (zu leli) bei Sz (unter dojf) : laidau karwes melke.
i. ? le lidinäle-8 schweben, von Bi L 360 als iter. zu laifl
genommen. — t» lydzü lydeli geleiten ; al-lyda {be allydos, geschr.
aüidas^ ohn Unterlass) WP 56; saule-lydis Sonnenunlergang JSv2I;
nurlyde Unterdach am Giebel BF 147; to-bjdtaus sofort, in einem
Zuge. — ei» leidzu leidau leisti lassen ; ? le leida Zins , Pacht ;
saule-leidis Sonnenuntergang; al-leidüs KLD versöhnlich (s. unten aüai-
rfj/Ä), ap'leidmSz nachlässig. — €li. le laifchu laidu laifl lassen; le laidas
n. pl. f. lange Striche, alAaidä Erlass, nii-laida Sz Abhang, allaidm
versöhnh'ch, nu-laidiis abschüssig; pa-laidas lose [palaidi plaukai herab-
hangende, aufgelöste Haai*e) ; Vläidas Bürge; laisvas frei Sz, laisve
Freiheil z. B. J 214, 3; palaidu Sz nefarius, aplaidu NSz Abtrünniger
15] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 277
(vgl. palaida N Sz Hurerei) ~ läidau läidyti »mehrfach flössen oder
fliessen lassencc iter. (zu leidzu^ vgl. leidikas Flösser); laidinti laufen
lassen (Pferde etc.); läidoU bestallen; läidzoti iter. entlassen.
e. le ledfu IMfu legt weigern, leugnen. — di. le laigät iter.
»
i. prät. Ixkaü likti zurücklassen, pr. po-linka er bleibt (wäre
ein lit. Hinku likli inlr. zurückbleiben, die 3. sg. präs. lit. pa-linkt^
zu lekü, z. B. IG 37. 47 u. s.); 4ika (bei den Zahlen von
11 — 19). — i. ät-lykis KLD Arbeitspause; lijkius Rest, l^kinti ab-
nehmen (Rest machen). — €. präs. lekü (zu likli); iSkas NM unpaar,
le leks überzählig, äl-lekas Rest, le at-leks dss. und le at4eka dss. —
ai. pä-laikas Rest (vgl. palaikis Nichtsnutz, schlechte Sache); laikas
bestimmte Frist, le laih Frist, Zeit (Fick II. 652.) .'^ laikaü laikpi
halten.
e. Mas gross z. B. J 1 022. 1 , le lels dss., le lels Schienbein ;
? lemu Leibeswuchs, Taille, Körper (im Gegens. zu den Gliedern),
Stamm ohne Aste ; leknas G schlank. — et. leilas N dünn schlank ;
leinas J 351. 9 schlank (s. unten lainas). — läibas schlank, dünn;
lainas N schlank.
C. lepiü lepiaü Wpti befehlen. — ai. pr palaips Gebot ~ pr
laipina 3. sg. befahl.
i. 3. sg. lipst »er brennt« Mik.; le lipitf ein Licht anzünden
(Bezz. Beitr. III, 58) — e. lepsnä Flamme.
i. limpü lipaü lipti kleben bleiben, lipü lipaü lipti steigen
(le lipu^ d. 1. Himpu, lipu lipi in beiden Bedeutungen); pa-lipomis
adv. i. pl. stufenweise, prelipa Anbau, Erker; lip'^ne Übersteigslelle;
lipntis N klebrig, le lipns freundlich; lipsznm dss., nach N auch
»freundUch«; lipsztus MLG I. 228 freundlich «^ lipaü liptjti caiis. (zu
limpü) kleben; lipdau lipdyti dss. J 1134. 25; lipinti dss.; lipdinti
caus. zu lipü steigen lassen; lipineti iter. (zu lipü)^ caus. iter. (zu
limpü), le lipinät Irans, ankleben. — i. \e pe-llpi m. pl. ULD u. a.
»was angeklebt ist«; dvi-hjpis (z. B. r'eszulas) aus zweien zusammen-
gewachsen '^ bjpstau l^psiyti M berühren ; hjpstintis KLD sich ansehmei-
cheln. — C Wplas Steg; lepsznus N (= lipsznüs). — €lt. le /aipa
Steg; le pe-laipe Anback am Brode; le laipns freundlich, davon
laipnlgs laipnlba; laiptas Gerüst G, nach BF 132 auch »Steg übers
Wasser«. -' läipioli iter. zu lipu; laipiidi caus. steigen lassen (zu lipü)
WP 135, JSv 74.
278 August Leskien, [<6
i. l^slu Ij^sau Ipti mager werden. — €, Vesas mager, le lestu
lern lest (auch lit. bei N) denom. dazu (mager werden).
l. lylü {lyczu) lyteti anrühren. — e. lesli J 420. 4, 1. sg. fc-
czu Sz, 3. sg. pri-lecza B antasten, vgl. An. Szil. v. 29, reizen,
necken N - lelineti [bärzdq) zupfen J 141. 2. — (li. le lailit strei-
chen (hin und her mit der Hand).
i. isz-lizos f., isz-lizei m.pl.N Zwischenraum zwischen den Zähnen,
den Zehen; lizitis (Lecker) Zeigefinger. — i. isz-lyzei N (= isz-lizei).
— €. leziü leziati lezli lecken; hz-lezu KLD (Bed. = iszr-lizei). —
ui. le laifcha Leckermaul ; bliüd-laizis Schüsseliecker «^ laizaü laiz^li
iter. (zu ISzü).
i. le miju prät. (zu mit); le mite Wechsel - le milut iter. lau-
schen. — t. le präs. miju mit tauschen. — ^. ?le mena Wortstreit
(vgl. aber metis anmassender Mensch); ie meli n. pl.; le metus pl.
Tausch, Wechsel, le melul tauschen. — di, mainas Tausch, le (neben
mains m.) auch f. maina^ le maina dss., lit. atmaina Sz (unter odmiana)
Tausch «^ mainaü mainpi tauschen, lett. mahnt iter. (zu mit).
e. le wÄ, präs. mem'i, bepfählen; m'elas Pfahl J. 67. 3, le m«"te,
le metid bepf^hlen. — d/l. le maide Stange; le maiti Zaunstecken --
le maidit bepfählen.
i, migü migaü migti Sz drücken (z. B. prtmigu unter nacieram). —
e. le medfu megt stark drücken ULD. — (li. maigas Sz Haufen (unter
mierzwa slramen coacervatum) ; pr pele-maigis Rötheiweihe (nach Fick
IL 756 »Mausklemmer); le maigli Zaunspricker ; ?le maiksts, maikste
lange Stange -- maigau maigyli N häufen.
!• -mingü migaü migti inch. einschlafen; äl-^migas Nachschlaf MLG
L 65; le miga Lager eines Thieres; migis m. N dss.; i-migis m. der
erste Schlaf; mignim verschlafener Mensch -- migdaü migd^i caus.
einschläfern; miginli, migdinti dss.; le midßnät dss. — €• präs. megit
(zum jnch. migti, le ebenso aif-megu schlafe ein), präs. megii megöti
schlafen; mSgas Schlaf; megälius (N auch megalasl) Vielschläfer. —
ai. pr maigun a. s. Schlaf; maigünas Schlaf bank.
!• su-si-milstn milaü milti sich erbarmen. — i. mylif$ mjfleti
lieben; mylüs lieb. — €• melas lieb. — üL meile Liebe, meüm
liebreich.
i. misztü miszaü miszti sich mischen, durch einander gerathen;
su-miszai durch einander; pry-miszis Sz Beimischung {przymieszanie) ;
47] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 279
miszinis Mischling, Gemengsel; miszriü JSv 67 durch einander,
sq-miszriüi dss. ; le mislra Mischmasch - le misSl mischen, irre
machen. — di» mai^za/o« Gemengsei ; maisztas Aufruhr; mamto NSz
dss. ~ maiszaü maiszpi caus. mischen.
im mintü mitaü misti sich nähren; mUas Lebensunterhalt, vgl.
zem^mit^s durchgewintertes Thier; tnüulp dss. ~ le milinäl unterhal-
ten, Aufenthalt geben {mist le wohnen). — dim maistas Nahrung -
pr po-maität nähren; maitinti caus. nähren.
im le at-mliu (= ^mintu) mitu mist losthauen, sich erwärmen. —
e. le at-melßt erweichen.
i. mizia mize cunnus; mizius penis. — f. prät. m^zau m^zlij
le mifchu mlfu mlft harnen; myzalai Urin; le mlßis penis bestiarum;
myzeklis penis; le tnifenes Ameisenart. — €• le m^fnu eine Präs.-F.
(zu miß); le mefnäl iter. — di. su-si-mäizoti iter. JSv 73. — B p, 41
weist die Schreibungen minzqs (part. präs. a.) und minzalai nach; K
schreibt ebenfalls miUi und so in allen Fällen, wo Schi. y\ die letti-
schen Formen mit l können sämmtlich in enthalten. Das Präsens
lautet mezu (so Schi.), das wäre dann m^zu (K. m^.zu)\ le mef- kann
ebenfalls = menf- sein. Wenn demnach von einer Wurzelform mingh
auszugehen ist, so kann das Präsens ursprünglich auch nur in, nicht
en haben ; das Präsens menzu zu minzau u. s. w. muss eine Anlehnung
an das Verhältniss renkü rinkaü sein. — Ganz davon zu trennen ist
wohl me'iiu meziau me'zti misten, mezlai Mist (K. schreibt ^, vgl.
aber le mßfchu m^fu mäß^ mösls).
i. le mifu prät. (zu meß) Bi L 344; ?le mifa Rinde, Imiful ab-
rinden ; le mißnäl caus. zu meß, — €. mefu {meßu) meßi meß
stumpf werden (von den Zähnen).
tm le nlßu nidu nlß hassen - le iter. nfd^l, — di. le e-naids
Hass.
i. ninkn nikaü nikti auffahren {ap-nikti anfallen), le ap-nikt über-
drüssig werden (die eigentliche Bedeutung der W. [vgl. slav. niknqli]
»sich wohin heben oder senken«) ; le nikns heftig, böse {suns Hund,
der Menschen anfällt). — t» nykstü nykaü n^kti verschwinden, ver-
gehen; le nlkulis Kränkelnder; nyksztp Daumen ~ le nlzinüt caus. (zu
nlkl), — ei [dif), pr neikaut wandeln. — di. le naiks^ adv. naiki
schnell, heftig; aiikszl^'naika adv. rücklings; aukszijji-naikla KLD dss. ~
naikaü naik^li caus. (zu w^kli) ; naikinti dss.
Abbandl. d. k. S. Gesellsch. d. Wissens cb. XXI. 20
280 August Leskien, [^8
f. nffru {kaip szunelis^ sc. piktas vijrs) J 330. 1; 157. 1 etwa
»glupen«. — di. nairomis (sc. ziureli) N schielen ; nairiu naireU N
schielen; nairaii-s nairyti-s glupen, z. B. WP 82, 126.
i. nu-nizfs prt. prät. a. eines ungebränchl. nizlü nizaü nizli
krätzig werden, pa-nizlü anfangen zu jucken; nur-nizelis Krätziger;
nizim dss. — €. neza [neU) nezeii^ le nef nefa nefl jucken; le rief
riefet iter. jucken; nezai Krätze, le nefs; le neßs dss.; le nesls dss. —
dim le naifs; le naifa Krätze.
i. pa-pijusi kurve »eine Kuh, welche beim Melken die Milch
nicht mehr zurückhält« (eig. »angeschwollen, strotzend«) pt. prät. a,;
fpHas paüias rundes Ei NBd. — t» ptjdau p'^dyti »eine Kuh zum
Milchen reizen« (eig. caus. »strotzen machen«), — e. plSnas Milch;
'^p'eva Wiese.
i. piklas böse ; pr pikuls Teufel. — t. pykstü pykaü pijkli böse,
zornig werden; päpykis papyhjs Zorn ^ pykeii böse sein J 667. 6;
pykinti caus. böse machen; pyklereti dem. (zu piJkU). — &L peikiü
peikiaü peikli fluchen; papeika Sz Tadel. — di* paikas dumm (nach
Fick H. 606) - pr popaikä 3. sg. prs., pr popaikemai 1. pl. prs. be-
trügen.
t* fleplst sich leicht ausschlauben ULD; ^\e pislis Stäubchen. —
€• pestä Stampfe; peslas^ Sz (unter unercimak)^ dss., le pesls; pesiä^
peslomis^ peslü [szökli) gebäumt (springen). — Cti. paisa Haufen
Gerste zum Abpuchen MLG I. 230; le paise Flachsbreche; le paiseklis
Holz zum Flachsschlagen (zu paisit) ^ paisaü paispi Gerste abpucheln;
le paisit Flachsbrechen; le paislit einstampfen.
e. peszä N Russ; p'Sszas N Russfleck. — di. paiszas Russfleck,
pl. Russ - paiszinti berussen.
€• pliekszoti WP 19 wanken, schwanken. — dt. plaikszoti G
flattern.
l. plynas eben, baumlos (/>/. laükns freies Feld) ; plpw Ebene. —
d» pleine Ebene.
tm le rldit; le rldinät hetzen. — e. le ret bellen, beissen. —
ei. le reiju präs. (zu rel). — ej. le reju prät. (zu ret), — wL le rai-
du hetzen.
t. le su'-riba Verdruss. — €. le rebju rehu reit verdriessen;
le r^a Verdriesslichkeit, Ekel; rebus fett (eig. ekel, widerlich). —
di. le sü-raibs Verdruss; le raiba Ekel.
^^1 Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 281
i. le prüf, ridu riß ordnen Bi bei ULD ordnen; le vidi m. pl.;
le ridas f. pl. Geräth, Kram. — 6. le redu präs. (zu riß), —
di» ?le raids bereit, fertig.
i. le riks; le rika [ap-riks^ ap-rika) Brodschnitte. — €• r^iü
rekiaü rekti schneiden (Brod) ; al-rekai N Abschnittsei ; reke' Brod-
schnitte; le at^rekne (s. u. alraikne). — (lt. apijraika Abschnitt Sz
(unter okrawek) ; ? le al-raiknis^ le alraikne Wittvver, Wittwe (wenn
so richtig und nicht airailnis) ^ raikaü raikpi iter. (zu r$kli),
%• 1 njkas Geräth, Werkzeug, Geschirr. — ei. reikia reiketi
[reihii] es ist nöthig; reikalas Bedürfniss; reikmene dss.
i. le risiu [rlsiu =: ^rinstu) risu risl sich anfügen Bi I. 374,
lit. riszn riszaü riszii binden (le risu risu m^), pr sen-rists verbunden;
riszlis NSz (r?) Verbindlichkeit; riszliwas N Band - riszineti dem. iter.
binden. — l. ryszys Band; ryszulfßs Bündel. — e. Bi I. 344 als dial.
Präsensf. le reschu (zu risl binden) angeführt (vielleicht zu reschu rein
resl gehörig, doch vgl. das folg.). — ei. pr per-reist verbinden. —
(li. räiszas lahm (nach Fick II. 644), dazu räi^zlu räiszau räiszli lahm
werden (scheinbar primär), räiszii$ räiszeli lahmen; raiszlas N Kopf-
binde, gewöhnl. raiszlis ~ raiszaü raiszpi; raisziaü raiszlijli\ räiszczoli
Iterativa (zu riszii).
i. riszki-s riszkile-s »wisse dich, w. euch« (im nördlichen l^ilauen
gebräuchlich für das sonst gebrauchte zin6li-s\ ich habe nur i ge-
hört, K schreibt j/), bei N auch le-si-riszla^ ebenso ie-si-riszla-s (= te-
si-zin) MLG I. 70. — ei. reiszkiu reiszkiau reikszli offenbaren. —
Ui. raiszkm N offenbar ^ raiszkau raiszkyli N iter. (zu reiszkiu) ; bei
Sz (s. v. skarga) ap-raiszau raiszyli anklagen, auch bei Bd (ob
hierher?).
i. rilü rilaü risii rollen trans. ; riiinis Rolle; rislüvas Walze;
rilus N rollbar ~ riieli rollen lassen J G67. 6, aucli intr. , le rilel
rollen inlr. ; ritinli rollen trans., le rilinal iter.; rilineli dem. iter.
trans. — €. reczü reczaü resli rollen, wickeln (J 488. 8; 584. 5 u. o.
aufbrechen, von Blumen), le reschu relu resl abfallen, sich abtrennen;
relu releli rollen intr., le re/w, reM hervorbrechen, aufgehen (le re-
taju relel caus. rollen machen) ; äl-relas Aufschlag am Ärmel, N auch
al-rela; reshjs N Krauskopf (Substantivirung des pt. pass. reslas ge-
wunden) ; resluvas^ le reslava Webebaum. — (li. äl-railas Aufschlag
am Ärmel, N auch alraila alraile, Sz alaraite limbus; "} raisle NBd
«0»
282 August Leskien, [20
Kreis, ? vgl. Iriöbas { raisia hudavoti KLD in geschlossenem Quarrt
bauen ^ railaü raitpi; raiczoti iter. (zu risii).
i. sijä BrUckenbalken. — €• te-pa-sije (Jj — den Orden — ant
sava krutinfj WW IL 76 anbinden, ist wohl e zu lesen, ij ver-
tritt bei W bisweilen e\ le senu sei binden ; le selava Tuch ums Bein
(statt Strumpfes). — 01. älseilis »das vom Schwengel an die Achse
gehende Eisen« BF 97. — ej* le sBju prät. (zu sei), — di. al-sajä
GSz Stränge des Pferdes, »das eiserne Ding, mit welchem der skels
an der Achse des Wagens befestigt wird«; ät^saüe »Verbindungs-
stange zwischen Bracke und Achse« BF 97; le saiklis Garbenband
von Stroh; le pa-sainis Schnur, aif-sainis Bündel; sailas Strick BF
167, saitai Sz vincula; le saile Band; le saiwa WeberschiflF, Netz-
nadel '^ le saislit iter. (zu sei).
%• sijöii sieben; äl-sijos Abgesiebtes. — 6. sSlas Sieb.
€• sSkiu sekiau s'ekli langen (mit der Hand), schwören ; le seks
eine Art Getreidemass ; sSksnis m. Klafter. — ei» seikiü seikeli messen
(mit Hohlmass); seikm Sz (unter mierny) massvoll. — Cli» saikas
Hohlmass «^ saikaü saikpi N iter. (zu seikeli); saikinli schwören
lassen; saikszczoti KLD [ ] iter. öfter langen.
t, le schk'ibs schief. — €. le schkebju schk'ebu schk'ebt schief
neigen, kippen.
i» le schk'idrs dünnflüssig. — %• le schk'istu schk'idu schk'isl zer-
gehen, lit. skyslu skydau skysti N dünn werden, fosk'^sli sich zer-
streuen : gani^klos ap-sk^dusios MLG L 72 zerstreute Heerden {pa-skida
WP 33 u. sonst, ap-skisti G ist mit y zu lesen); skijstas dünnflüssig,
le schk'isls klar, rein, davon schk'lslil reinigen ~ le schk'idindt caus.
(zu schk'isl). — €• skSdzu skediau skesli verdünnen, trennen, scheiden;
le schkMu schk'edöl in Theile zergehen ; skeda Sz (unter Irzaska) Span ;
skSdmenys pl. Scheidung, skSmenys pl. Webergänge; skedrä Span;
le schk'psna »die feinen Fäden, in die der Flachs sich vertheilen
lässt«. — (li. le skaida Span, al-skaida G Abtheilung; skaidülios
KLD [ ] Fasern (von Flachs u. a.); skaidulis N Faser; skaidrus N hell,
le skaidrs; skaislas und skaisliis hell, le skaists schmuck -- skäidyli
trennen iter. BF 168, le skaidil verdünnen.
1'. le prät. schkiiu schk'isl meinen, impers. scheinen. — €• le präs.
schk'elu (zu schk'isl). — €li. le skails Zahl; skaillius^ le skaills skaiüis
Zahl '^ skailaü skaitpi zählen, lesen.
S^j ÜER Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 283
i» skl\slü skündaü sldisti auseinanderfliessen , ap-sklindps über-
schwemmt BF 171, sklidu (3. sg. prät.) hraujuiSlis J 1.094. 8, wie
von einem PrSs. ^sklindu^ die Präsensform wird die Veranlassung zu
dem durchgehenden Nasal geworden sein; le sklida Schleife; skli-
dinas voll bis zum Überfliessen «^ le sklidet gleiten ; skliduriuti schwim-
men, fliessen J 972. 5. — ^. skl^dus glatt BF 171. — ei. skleidzü
skleidzaü skleisti ausbreiten (bei N daneben sklaidzu sklaidtau sklaisH).
— di. le sklaids glatt; ut-sklaida N Riegel, davon wohl uz^sklaisii
(scheinbar primitiv) präs. sklaidzu N ein Denom. ; le sklaidis Herum-
treiber; sklaidus N zerstreut, nü-sklaidüs N abschüssig -- sklaidaü sklai-
dpi iter. (zu skleisli); sklaidioti iter. zu dems. LB 335. — Vgl. pr
schklaits schlails (I. sklails) sondern, sklailinl scheiden. — Berührt
sich mit slidr-^ wie mit sklind--^ stdand-,
i. skrijos der von Bast gefertigte Rand oder die Einfassung
eines Siebes. — t. le skridelöl umherlaufen; le skridinät laufen lassen.
— €• skrejü skrcjaü skrilli im Bogen fliegen, auch trans. im Kreise
bewegen, zirkeln, le präs. skrenu skrgt laufen, fliegen; le skresch
(gen. skreja) hitzig (z. B. ßrgs),, le skremes Abgänge, Abgenutztes;
le skremeüs; le skremens runde Scheibe; le skretns flügge -^ le skredinät
laufen lassen. — ei. le skreiju Präsensf. (zu skret) ; le skrejsch (gen.
skreija) hitzig. — ej. le skrejü prät. (zu skret) ^ vgl. le skrejßjs Läufer,
le skrejens Lauf, le skräjums Lauf. — di. le skrajsch (gen. skraija
undicht (vom Walde); le skraids Herumtreiber; szü skraidiüju spar-
neliu BF 171 (der nom. ist skraidüs flüchtig, nicht skraidias, wie
dort angegeben) -- skrajöti i 28. 4, 101 8. 4; skraidaü skraidpi;
skraidzöti; skraidineti iter. (zu skret); le skraidelel iter. dem. viel
herumlaufen; le skraidinät caus. laufen lassen. — Die Formen mit d
sind von den zu skridr- (s. d.) gehörigen nicht sicher zu scheiden.
i. skrindü i 138. 5, Sz (unter latam) skridaü skristi fliegen,
kreisen ; skridule Gerbeisen ; skriditiij/s [kelio) Kniescheibe ; skridine N
dss. — t. skr^dauli im Kreise gehen J 276. 3; skrydavöti LB 343; skry-
dineti kreisen (von Vögeln) ebend. — e. skredzu skredzau skrSsti fliegen
NBd; skredtoti Sz fliegen (unter latänie). — (li. skraidaü skraidpi N
im Kreise herumtreiben. — Betreffs der Form mit d s. auch skri-.
i. äp-skritas rund Sz (unter okrqgly), J 1214. 1 [sirate'lis = Kpy-
rjiaH CHpoTa vater- und mutterlose Waise) ; ap-skritm rund ; skriiidijs
Kreis, Kniescheibe, le skritulis Rad, — f. ski'jtis f. Radfelge. —
28 i Aigiät Leskik>', ^22
€f# nkreczu Hkreczaü nkreHli N drehen; nkrcHluva^ Zirkel. — €i. 'fskrei-
ifie Maolel, Talar, ? ap-^i-skre'uilH skreUlaü «kreinii N den Mantel um-
nehmen. — Vgl. skri- und ^krid-.
im le Mda« (. pl. Schüttschuhe, schräges Gerüst zum Hinauf-
ziehen; KfliJm rutschig, glatt, le sUd^ glatt, schräge; le »Udu slidei
gleiten; le slidewt glatt, rutschig -- le slidinäl caus. gleiten machen. —
i. ffhjslu nlffdau hIiJmU gleiten ; le slidu slidei = slidei - slydineli iter.
— €• "Islednas N -= slednasf) massig geneigt, nicht steil; le siede
Geleise ^nach Brückner, Fremdwörter, ^^ slav. sledTj). — €lim le slaids
abschüssig.
i* le smidil^ le smidinäl lachen machen ; le smlkäl dem. lächeln.
— 6. le smel lachen; le smekls Gelächter - le smedinäl lachen
machen. — et. le präs. smeiju (zu smel). — ej. le prät. smeju
(zu smelj ; smüjßjs Spötter. — Clt* le smaida Lächeln -* le smaidil
iter. (zu smel).
i. pa-sminyü smitjaü smigli BF 173 auf einer Spitze hängen
bleiben. — cL smeigiü smeußaü smeujli etwas einstecken, feststecken.
— (lim smaiyas Pfahl, Stange (zum Anbinden von Pflanzen) ; smaig-
slisj smaigsle N dss. -- smaigstaü smaigslfjU iter. (zu smeigli) ; smaigati
smaigffti dss. — Vgl. smegli.
i. smilus xMLG I. 391 naschhaft; smilius Näscher, Zeigefinger. --
smiläuli] smiline'li iter. naschen; pa-smilinii G verlocken (lecker
machenj. — ai» smailm spitz, naschhaft, smailas N dss., sniailäuli
iter. naschen, smailinti spitzen. — Vgl. übrigens smalstutnai^ smal-
slumifnai KDL Leckerbissen.
e. le snedfu snedfu snegt reichen. — CiL le snaigs schlank. ~
le snaigslU iter. (zu snegt),
i. sninga snigo snigti schneien, le präs. snigsl (die Präsensformen
mit », st urspr. inchoativ). — 6. snSga präs. (zu snigti); snegas
Schnee. — dim snaigalä Schneeflocke; snaigüle dss. - snaigo snaigijli
iter. (zu snega),
L spiginli heftig frieren. — eL speigas starke Kälte MLG I. 67.
L le spldßnäl quälen bis zum Kreischen (= caus. kreischen
machen) ; le splgstBl pfeifen. — e, le spedfu spedfu spegl pfeifen
(vgl. indess lit. spengia gällt in die Ohren, da le e = en sein kann).
e. le spefchu spedu speft drücken; le spede Mangel (Bedrängniss) .
— fCif le spaids Druck, Presse -^ le spaidit (iter. zu speft).
^^\ Dek Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 285
/. spinlii spiUiü splsli incb. ausschwärmen (von Bienen) ap-Hpiniü
JSv umringen; 1 spünä Dorn der Schnalle; '^ spiiubjs Stern auf
der Stirn eines Thieres. — €• speczü speczüü spesli schwärmen;
le speis Bienenschwarm; spetis dss. B; sp'eczus dss. — €€• speiczü
speiczaü speisli umringen.
i. slingü stigaü sligli inch. (eigentl. eben anlangen) an einem
Orte ruhig werden, verweilen, le pröt. siigu stigl einsinken (doch
vgl. shigt) ; le sliga Pfad. — i. shjgau shjgoli dur. verharren. —
€• le slegu präs. (zu stigt^ doch s. u. slrigi). — Bt. le steidfu-s
sleidfü-s steigte-s eilen, sleigtis JSv 5 u. ö. sich bemühen, beeilen,
i-steigti W(oft) stiften, erbauen, errichten (fact. zu stigti); steig adv.
J 311. 19 eilends; sieigomis i. pl. adv. B (wenn nicht ai zu lesen,
vgl. staigä) eilends -' le sleidfinät beschleunigen. — di. slaigä adv.
plötzlich; le slaigulis unstüt Umherwandernder; le staigns mo-
rastig, le staignis Morast (doch vgl. unter strig-) - siaigau-s slaigyli-s N
iter. eilen; le staigäi wandeln; le staigalät dem. hin u. her gehen;
bei Mielcke auch ein primäres slaigiü-s slaigli-s eilen (ist wohl ei
zu lesen).
t. slimpii slipaü slipli steif werden; su-stipelis steif Gewordener
(vor Kulte); slipinis »Stollen, Stutze an einer Schleife zum Auflegen
oder Stutzen des Obergestellsa, slijnmjs^ stiptnas N Radspeiche; sliprüs
kräftig ^ stipinli steif machen. — f. ven-sljjpis was nur einen Spross,
Zweig hat KLD. — 6. slepiü slepiaü slepti recken {pa-si-sWp^s ge-
reckt), le stepju slepu stepl strecken (= steif machen). — wl. stai-
paü slaip^ii^ le staipU iter. (zu stSpli)^ le staipeklis Recken der Glieder.
t. stringu strigau sirigti BF 178, KDL hängen bleiben, le prät.
slrigu slrigi einsinken (in Morast; vgl. siig-)', Isirikiä Faser. —
€• siregu siregti BF 178 ie dort =. e, anstecken, le siregu präs. (zu
slrigi); str'Sgalas BF 177 [e = e) Köder. — wL le slraignis Morast.
— Bei KLD ein slregiu siregti erstarren.
im strijnnis slripimjs Wurfknittel, Leitersprosse. — i. strypiü
strypiaü stnjpli heftig treten, trampeln, trippeln. — €. sir'Spsfiis m.
Leitersprosse. — dim paslräipomis i. pl. f. stufenweise; straipsiiis m.
Leitersprosse ~ le slraipaläl dem. taumeln.
ۥ svedzu svedzau svesti schleudern, z. B. WP 156, svedtu ing
weidu schlage ins Gesicht Sz (unter biJQ kogo)^ le swefchu swedu sweft
werfen. — di. le nü-swaidigs ; le nü-swaidens abschüssig «^ svaidau
286 August Le8kien, [24
svaidyli iter. (zu svMi), z. B. WP 42. 47, le swaidil; le swaidelei
iter. dem.
^. le $K;{/i(ti ^u;i(iu «u;t/)t schwitzen ^ le «ti;id!^/ caus. schwitzen
machen. — €• le swedri m. pl. Schweiss - le swedinät schweissen. —
ei, le sweidöl (wohl nur dial. für stvidel).
im svidü svideti glänzen; svidüs NM glänzend -^ svidinti caus.
glänzend machen. — i. le gaisma swlde der Tag brach an (nach
ULD ^i;j^/]tti «wictu «tt;e/i(). — €• f sv'eslas Butter. — (lt. le swaidU
salben.
ei. szeima Gesinde, z. B. J 210. 3, 924. 17, szeim^na dss. —
di. le «aifne dss., saimneks Wirth.
i, szyplä Spötter; le schipnis dss., schlpnüi hohnlachen «^ szy--
pauti N Zähne zeigen, verhöhnen ; szypsaü szypsöti grinsen ; szijpteriti
dem. — e. szepiu'8 szepiaü-s szepti-s Gesicht verziehen, Zähne
zeigen. — (li. szaipaür-s szaippis iter. (zu szSpti).
i. szlij^s pt. prt. a. sich geneigt habend, schief, 3. sg. prät.
pa-szlije (zu szlpi) WP 164; szliiis f. Garbenhocke, szlite N dss.,
szlite B Leiter, vgl. ?le slila »ein aus liegenden Hölzern gemachter
Zaun« ; szlivis schief beinig. — f. pa-szlpi KDL (präs. szlyju) straucheln ;
?le sklljsch (gen. sklija) abschüssig. — 6. szlejü szlejaü szlSti anlehnen,
le präs. slenu sleL — ei* le präs. sleiju (zu slgt) ; le sleijs^ sleija
Strich, Streifen; ?le skleijens abschüssig; at-szletmas Vorhof LB 373
(s. u. ai)\ szleivis schief beinig LB 140. — ej. le prät. sUju (zu slet).
— ui. szläjes Schlitten; at-szlaimas Sz {podworze), KLD Bd Vorhof;
le slains punvs einschussig (worin man einsinkt) ; al-sdainis Erker M,
»in Samogitien ein geringer Anbau an ein Gebäude« KLD; szlaitas Ab-
hang; szlailis m. dss.; szlajüs KLD [] schräg, DL von Pferden, die beim
Ziehen seitwärts geh^n oder springen -- szlaistaü szlaisttjU iter. (zu szlSti) .
i. szmizu szmizau szmizti N verkümmern, sthszmiz^s verkümmert,
klein; szmizinp B {fchmifzinjs) Geschmeiss, Ungeziefer. — *• "Jszniyk-
sztu szmykszau szmykszti N (dss. was smizti). — e. Iszmezineti N
[e nach KLD) umherkriechen ; ? szmekszaü szmekszöti »in unbestimmten
Umrissen dastehen, etwa von einer geisterhaften Erscheinung im
Halbdunkel« KLD (doch vgl. szm^kszla egle M die Tanne ragt hoch
empor). — Iszmaizm N kalt, rauh (vom Winde, = verkümmernd?,
wenn überhaupt das Wort richtig; dieselbe Bedeutung hat szaiziis).
i. szvinlü szvitaü szvisti hell werden, aufleuchten; szvitü szvile'ti
25] Der Ablaut der Wurzelsuben im Litauischen. 287
heil sein; pa-szvitai Schmucksachen; szvH-varis Messing, Flitter;
proszviczeis l^a regnet mit Sonnenblicken '-» szvitrine'ti MLG I. 70
schimmern. — %• szvylffü J 624. 2, szvytruti blinken, auch trans.
blinken lassen (schwingen) J 518. 5; szv^stereti dem. aufblinken. —
e. szveczü szveczaü szvMi leuchten; szvesä (= ^szvßt-sa) Licht, szvems
hell. — ei» szveiczü szvekzaü szveisti putzen; paszveitalai Putz. —
ai. szvaisä Glanz, Helle, szvaisus hell; pa-szvaisre Nachdämmerung;
ap-szvaiia Sz Reinheit; ap-szvaista KLD [ ] Reinheit «^ szvaüaü szvai-
tpi hell machen KLD, schwingen Sz (vgl. szvytüti); szvaitinti hell
machen ; szvaistaü szvaistpi iter. (zu szvJSsti ; nach N auch zu szveisti) .
i. tinkü tikaü likti intr. passen, taugen, le iik {= tinka) tika
tiiU belieben ; tikiü tike'ti (t kq) vertrauen, glauben ; le partiks^ partika
das zum Lebensunterhalt Nöthige {partikt auskommen) ; pre-tikis f. NSz
Zufall; le tikls tauglich, vgl. lit. pri-tiklus geziemend, passend MLG
I. 391; ne-likdis Taugenichts; tikslas Belieben WP 64; tikras recht;
su'tikle Sz Zusammentreffen (unter poikanie) ; tiktai iikt nur (gerade) «^
tikau tikyti NSz zielen; tikinti NSz gerathen lassen. — i. pa-si-t^k^s
pt. prt. a. JSv 8 sich versehen mit, pat^kti J 1095. 3 versehen
(mit Sterbesacrament), vgl. gitMu pri-si-tijkusis pl. pt. prt. a. WP 75.
— €• le präs. teku in der Bedeutung »geschehen« {nül^u nü-ükt) ;
gerat nu-si-P^fS KLD gut gelaunt (s. titi-si'teik^ dss.). — ei. teikiü
teikiaü teikli fügen; pa-teika Müssiggang, pa-teiküs mUssig; le teizu
tdzu leikt sagen (vgl. slav. praviü »sagen«, eig. »recht machen«);
le teika^ le teikstna Erzählung (vgl. jedoch teigiu teigiau ieigti KLD [ ],
WP 274, MLG L 61 [als memelisch] erzählen). — ai. {-taikas was
zu Gefallen geschieht; pa-taikd Müsse; sänntaike Eintracht JSv 18;
taiküs gut eingepasst -- taikaü iaikpi iter. zusammenpassen; täikinti
zusammenfugen.
i. isz-tisas gestreckt. — e. iesiü tesiaü tSsti grade richten,
strecken, ap-tSsti bedecken, z. B. J 384. 15; pra-tesas N Mastbaum;
lesä Wahrheit; stal-tese Tischtuch; tesüs gerade (vgl. tSs adv. gegen-
über; tmog^ tesiom geradeaus) '-* isz-teseti J 746. 5 sich bessern? —
ei» teisiü teisiaü teisti abmachen, abfertigen NSz; atr-teisa NSz Ent-
scheidung; teisüs recht, gerecht. — dt. pa-taisä Zubereitung; ap-
taisalas Sz Vorhang (vgl. aptSsti) ; le iaisns gerecht *« taisaü taisjti
herrichten, bereiten; taisine'ü iter. dem. dazu.
if tride Durchfall, tridius wer oft D. hat. — *. pra-trptu tr^dau
288 August Lk^skii^n, [26
Irijsli iiil". Durchfall bekommen; tryda Durchfall J 374. 5. — €• ir'edzu
tr'edzau Iresli Durchfall haben; /rerfa N Durchfall; Iredalas dünnes Ex-
crement, treddlius der viel Durchfall hat. — di. traidinti Durchfall
erregen.
i. triszku Iriszkeli spritzen N (vielleicht y zu lesen, N hat bei dieser
W. überhaupt nur i; auch trikszii B »quellen« wird y zu lesen sein).
— t. trykszlu trijszkau trykszti spritzen intr. ; trykszlc Spritze KDL. —
e. Ireszkiu Ir'eszkiau trek^zii quetschen, pressen; treszke NSz Presse;
Irekszlus NSz gepresst; tr^kszlüve Presse. — wL ulüs träiszkus starkes
Bier KLD [ ] (welches herausspritzt) - iräiszkau trüiszkyti iter. (zu
ir'ek4szii) ; träiszkinti dss.
€• le Irepju Irepu trept beschmieren. — €ti. le IraipU iter.,
Iraipeklis Fleck.
i. prät. vijaü (zu vijti) ; le wija ein von Strauch geflochtener
Zaun, pl. wijas Ranken; pa-vijijs N Strecke Wegs; vijünas convoivulus
arv. — %• inf. vijti winden; nachjagen, le präs. wlju [wiju^ wU)\
le wljas pl. Ranken (richtiger wohl wijas) \ \e wlle Saum; kaklä-vymjs^
kaklä-vyne KLD [] Halsband; vijtis f. Gerte, \e wile Ranke; \e wilfds
Weide; le wliens Flechtwerk; vylores KDL Ackerwinde (convolv. arv.);
vyluvai Garnwinde; le tvlsts Bündel - vyniöti iter. (zu vijli); vijslau
vyslyli wickeln (ein Kind, vgl. le wisis); vyturuli JSv 9 iter. (zu
vj'fli). — €. vejü prüs. (zu vyti)\ velä Drath (vgl. velioti wickeln LB
347); dazu "f älvejai (= kärtas Mal; e schreibt KLD) eig. )iWieder-
kehr«. — €li. vajöti iter. (zu vyli) ; vainikas Kranz.
e. le webjii'S webü-s webie-s Gesicht vei'ziehen. — dt. le wai-
bile-s iter.
i. pr widdai er sah; pa-vidalas Erscheinung, Gestalt; pavidulis
Ebenbild. — t» isz-vijslu vijdau vpli gewahrwerden; pa-vijdziu pavy-
deli beneiden; pa-v^das Neid, pa-vydüs neidisch, pa-vi/rfwWts Neider;
vyzdijs Pupille, pa-vyzdtjs^ pä-vyzdis Muster; pr aki-wysli öffentlich (*?).
— e. le wedti wcf% le wedWi sehen; pa-vedus ähnlich WP 49, 83
u. s. — ei» veizdzu veizdeti sehen; veidas Antlitz, ap-veidüs schön
(von Gesicht) ; äp-veizdas i 325. 5 Vorsehung, üz-veizdas Aufseher,
i'Veizdm NBd ansehnlich; veizdala N Brille. — di. vaidas N Er-
scheinung; vaizdai KLD [] Brautschau; api)-vaizda Vorsehung, a/>-
vaizdm Sz vorsichtig; vaiskus Sz durchsichtig (unter nieprzejrzysty) , —
27] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litaiischen. 289
Dazu pv waisl wissen i. pl. waidimai^ pr waisnan a. sg. Kennlniss,
pr powaisennis Gewissen; pr pa-waidint unterweisen.
im vikrüs munter, rührig; fne-viku NQu überaus, überdiemassen.
— i. -vykslü^ -vykaü^ -v^kü sich wohin begeben, anlangen, eintreffen
[i'V^kti]^ le wikstu wiku wikt gedeihen; v^kis ra. N Leben, Lebendig-
keit. — €. vekä Kraft. — €i, veikiü veikiaü veikti etwas machen,
anfangen, le iveizu weizu weikt ausrichten {nihw. = lit. nu-veikii be-
zwingen), weikle-8 gedeihen, gelingen; veikas NSz geschwind; le weikls
munter, frisch, gut gerathen; vei'kalas Geschäft; pa-veikslas Beispiel;
le weikme Gedeihen; le weikne dss. ; veiküs flink, willig, veikei väk
bald. -' le weizinäl gelingen machen. — di. } vaikaü vaikyti Schi,
scheuchen, nach KLD in Samog. umherjagen, su-vaikijti N nachjagen,
haschen; "^vaikas Knabe; "fväikszczoti; "1 vaikszlineti iter. umhergehen,
wandeln.
i. i-visü sich vermehren WW L 112 {j-visusi daugybe)^ i-viso
3. sg. prt. WP 75, so mit i auch BF 199, KLD [] schreibt vyslu
(vgl. vinslu G) visaü visti; vislüs N fruchtbar. — €• le weschü-s
wesle-s sich mehren, gedeihen. — Bt. veisiü veisiaü veisli fortpflanzen ;
veisle Brut, veislm N fruchtbar. — di. vaisä Sz (unter plodnosc)
Fruchtbarkeit, davon denom. (trotz primärer Form) pa-vaislü vaisaü
vaisli N empfangen, vaisus fruchtbar Sz (unter plodny); le waisla Brut;
vaisius Frucht ~ vaisaü vaisijti fortpflanzen, fruchtbar machen it. (zu
veisii), z. B. Neues Test. (Berlin, Trowitzsch 1866) Matth. L 2 pav.
erzeugen; vaisinti dss.
i. ven-viszys^ adv. ven-viszei »einsam, ohne Anhang, unbeweibt
etc. lebend« KLD [ ]. — !• j vyszes oder ant vijszti eil zu Gast gehen
MLG L 71. — 6* le weschu wem wesl ULD einladen?; vesziü veszeti
zu Gast sein; vesziu kelias^ gewöhnl. vhz-kelis Landstrasse {gosciniec
poln.), le wesis Gast; veszne Gastin. — dt» vaisza JSv 20 Be-
wirthung; vaisze G Gastmahl ~ vaiszinti als Gast aufnehmen, be-
wirthen.
t. vijstii vpau vijsti welken - le wUet welken lassen; vylinli dss.
— €• le wetet welken lassen. — Cti. pa-vailinti welken machen,
z. B. J 348. 7, 613. 13.
t. le wlfchüt wollen. — €• uz-si-veziu veziau v'ezti sich über-
winden zu etwas, vermögen. — Zweifelh. Zusammenst.
i. le fibu (= ^ßmbu; neben ßbu) fibu fibt flimmern; zibü zi-
290 August Lbskien, l^S
bell glänzen, schimmern, le ßbet blitzen; pa-zibai Flitterwerk JSv
1i, vgl. zibüie^ zibüczei pl. Flitter im Haarband; le fibins fibenis ßbmis
Blitz; zibunjs Lichtspan, vgl. ziburiuti N flackern -- zibinti leuchten,
anzünden (Licht), z. B. J 435. 4; le ßbinät leuchten lassen, blitzen.
— i. zybtere'li dem. leuchten MLG L 76 (bei KDL unter »durch-
blinken« zebtef'eti und zibtereli). — €• zebiü z^iaü zSbti leuchten
lassen, anzünden; zSbas ß Blitz. — di. zaibas Blitz.
i. pra-t^8tu i^dau tysti aufblühen ; zydu {zijdzu) zydeti blühen. —
€• zedzu iedzau zSsti NSz formen, bilden; le fedu (fefchu) fedet blühen;
iSdas Blüthe, Ring. — ei. pr zeidis (Vocab. seydis), d. i. zeidas, Wand
(slav. zidz zu Zhdaü).
ei. ieidzü zeidiaü zeisti verwunden; pazeida Sz (unter obraza)
Beleidigung, Wunde, IG 120. — dt. zaizdä Wunde, {-zaizdus N
schädlich.
%. zyme Merkmal, Zeichen; pa-tymifs Merkmal. — (li. zaim^ti-s
sich verstellen, entstellen MLG L 76; zaimöti-s albern ebend.
i. zvingü [zvigü) zvigaü zvigli aufquieken -- zvigdaü zvigdpi caus.
— t. zvygiü ivygiaü mjgli KLD [ ] quieken. — e. zvegiü zvegiaü
ivSgli quieken.
Als Anhang zu der obigen Sammlung folgen hier die primären
Verba, die keine Ableitungen mit Ablaut neben sich haben oder nur
den Wechsel von i und i aufweisen (Beispiele für die Kürze sind
daher nicht weiter nothwendig, für die Länge sind sie gegeben);
ferner die primären mit ^, ei, ai ohne Ablaut. Zum Theil lassen die
verwandten Sprachen das i als der hier behandelten Reihe angehörig
erkennen; wo es nicht der Fall ist, beruht die Hereinziehung der
betreffenden Verba auf der Beobachtung, dass i vor einfacher Con-
sonanz (mit Ausnahme von r, /, m, n) fast immer dieser Reihe, i vor
mehrfacher Consonanz oder vor r, /, m, n fast immer der Reihe i, e
u. s. w. (s. d.) zuzuschreiben ist. Onomatopoeia wie cipii^ cz^jpii^
pfjpli^ kmJIUi u. s. w. sind nicht aufgenommen.
i l.
bligslu blizgau bligsli aufleuchten; blizgü blizgeli üimmern; blizgai
und blizgei Flitter; blizges dss. — blyzguii flimmern (vgl. Fick IL 623,
ausser mit slav. blh8{k)nqti blSsh mit germ. W.).
29] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 391
dizu diiti G prUgeln, nu-diie 3. sg. prt. {teip j\ nudiie jogiei
kaulai buva matomis) WP 56; MLG I. 224 steht dietli^ nu-dieiti in
ders. Bedeutung. — Vielleicht ist die Bedeutung ursprünglich »ein-
tränken« (daher: prUgeln; vgl. pilii giessen in der Bedeutung »prü-
geln«), dann könnte hierher däias Tunke gehören.
driztu drizau drhti matt, schlaff werden; driiinti matt machen
MLG L 65.
i-m^ yij^^ gyii erlangen.
sU'kid^s pt. prt. a. zerlumpt, zersausl, KLD nach Muthmassung
kindü kidaü kisti.
klinkü Idikaü klikli aufschreien; klykiü klykiaü klijkii schreien;
klyka N Schrei ; klyksmas Geschrei '^ khjkauli iter. schreien.
le knliu (= kninlu) knilu knist keimen (G hat ein kninti inf.
Zweige bekommen, sprossen, wohl missverständlich nach einem Präs.
knintu) .
ai-lizti^ 3. sg. prt. lizo WP 114, G die Lust verlieren, sich ab-
wenden.
pin^ pigaü pigli wohlfeil werden, vielleicht denom. zu pigüs
wohlfeil.
le plljü'S plijü'S plite-8 sich aufdrängen.
ryjü rijaü rjjfti schlucken; le iter. ristiL
rinkü rikaü rikti beim Sprechen anstossen, sich versprechen,
sich verzählen; rikus Sz fallax [omylny).
isz-si-r^kszti sich födeln, sich in Faden auflösen, 3. sg. pr. r^fc-
8zla KDL (unter »fädeln«).
{rizü-s) rizaU'8 rizli-s gesonnen sein, sich unterfangen WP 12,
83, vgl. bei G ryzoli-s ant ko etwas vorhaben, unternehmen (Quan-
tität zweifelhaft; 'wenn i zu lesen, könnte dies == in sein und das
Wort mit renz-^ recken, zu verbinden sein).
le slkstu 8izu 8lkl rauschen, zischen (von kochendem Wasser).
s^8ti prät. 8y8aü ein Kind abhalten; 8y8taü 8y8tpi dss.
le situ situ 8i8t schlagen.
8kid{a) 3. sg. präs. ertönt MLG 72.
8lyg8lu 8lygau slygti schlummern N, wohl inch. zu verstehen.
8pikiu 8pikii ermahnen N.
8zikü 8zikaü 8zikli cacare.
8zimpü szipaü szipli stumpf werden.
292 AüGDST Leskien, [30
sziikti prJit. sztikaü errathen BF 185, WP 215.
tiztü lizaü tizti schlüpfrig werden; iizüs schlüpfrig.
vlsgii visgeti schlotlern — f. vysgoli schwanken,
le wizinäi schwanken; le wikstu wikt geschmeidig werden, sich
biegen; le wlkne Ranke; le wlksls geschmeidig,
le wifu wifet flimmern.
zypstü zypaü zypü N sich erholen (nach einer Krankheit).
e.
le knefchu knefu knefl dicht aufkeimen.
metti süssen (mit Honig etc.) MLG I. 229, bei N prs. mezu^ prt.
mezaiL
pesziu pesziau p'esii schreiben J 209. 1, 629. 2, 637. 5 {mes
neijälim apip'eszti ni iszpasaköli; jaü karüzi uzpesze \ kareivelins jöii;
asz pesziu gromaiel^), slav. phsali u. s. w.
skeczü skeczan skesli ausbreiten (z. B. von Bliumen, die Äste).
ei.
keikiu keikiau keikti fluchen.
kreiszkiu kreiszkiau kreikszti durchwühlen MLG L 227.
pleikiü pleikiaü pleikti Fische ausnehmen, »am Bauche aufspalten
und dann breitlegen«; vgl. G pripleikti hinzufügen,
le reibst reiba reibt impers. schwindeln.
skeiczü skeiczaü skeisti Schi. Leseb. andern.
szleikiü szleikiaü szleikti wetzen.
ai.
gaisztü gaiszaü gaiszti versäumen, verschwinden, zu Grunde gehen.
kaipstu kaipau kaipti abzehren, kränkeln; vgl. le k'eipstu k'eipu
k'eipt das Leben kaum durchbringen ULD, dort auch ein kaipt sich
stützen, sich anhalten; vgl. Fortunatov in Bezz. Beitr. III. 56.
kaislü kaitaü kaisti heiss werden; kaiczü kaiczaü kaisti heiss
machen; vgl. kaiträ Glut, prä-kaitas Schvveiss, le kaisls erhitzt u. a.
kai^zti glätten BF 119, reiben, schaben G; kaiszin kaiszii MLG
I. 226 treiben, rennen.
klairu klaireti KLD wackeln, lose sein.
>
31] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 293
saiczn (saitu) saiczau saisti N Zeichen deuten; saitas N Zeichen-
deuterei.
svaigslü svaigan svaigti Schwindel bekommen; svaigulfis Schwin-
del; svaikte N dss. - ap-svaiginti betäuben.
le waidu waidu waift sich wo aufhalten, beßnden.
zäidzu zäidzau iäisli spielen; zäislas Spiel.
tnairiü znaireti schielen, viell. denom. zu znairiis schielend (auch
sznaireli^ sznairas^ sznairüs geschrieben).
zvairiü zvaireli schielen, viell. denom. zu zvairm schielend.
II. u u ü au ov.
U. priU. bliuvaü (zu bliüli); hluvimas Auf brüllen. — 17. prlls.
bliüvü bliüli aufbrüllen inch.; bliüvis m. Gebrüll - bliüvauli iter. (zu
bliäuli). — (tu. präs. bliäuju bliäuli brüllen; Ic bl'anha Schreihals;
le bl'aure Schreihals ^ le bl'auslil iter. (zu Maul). — OV. prät. blio-
viau (zu bliäuli)^ le btäwu; blovimas n. act. ; blovikas nom. ag. (zu
bliäuli); le bl'äwa Schreihals; le bl'äwejs dss.
UU. briäujü-8 briäuli-s sich andrängen, act. zwlingen; le brauls
ULD geil; briaunä stumpfe Kante {peilio br. Messerrücken), le brauna
abgestreifter Schlangenbalg u. a. — OV. briöviau-s prüt. (zu briäuli);
brövimas n. act.
tl» brukü brukaü brükti einzwängen; le brüku {= brunku) bmku
bniiki abbröckeln, vgl. pervas nubrünka memel. MLG I. 67 die Farbe
geht ab; le bruzeklis Sensenstreichholz - le bruzinät abreiben, Sense
streichen. — fl. brükis m. Strich; le brüze Strieme, Schramme; brip-
klis m. Knitlel; brükszmis m.; brükszni^ m. Strich und brüksznis
f. i-st. dss. — (tu. braukiü braukiaü braükli wischen, streichen,
le fahren; i-braukai FüllwUnde; nu-braukos (Abschabsei) Flachs-
abgänge; braukis Sz ictus {dos); le brauklis hölzernes Messer zum
Flachsreinigen; le braukis dss.; brauklüvas^ braukihve Streich Werk-
zeug (beim Flachs) - braukaü braukffli iter. (zu braiikli)^ le brauzil
streichen; le braukäl iter. fahren.
tl, bubenli dumpf dröhnen (vom Donner); hiibyti; bhbinli dröh-
nend schlagen; le bubiml wiehern. — fi. bühlf/s iN Rohrdommel
{ü KU)) - bühauli dumpf brüllen; biWuti J 290. I dss. — (lll. baubiü
294 August Lbskien, [32
bauHaü baiibii brUlleo; baubl^s Rohrdommel -^ baüblereli dem. iter.
(zu baübti).
U. bundü budaü büsti erwachen, le präs. büstu = *bunstu\
bundü budeii wachen; budrüs wachsam «^ le budll caus. wecken;
büdinli wecken; le budinät dss. — Ä. büd^ne KLD Nachtwache. —
(tu. baudzü baudzaü baüsti züchtigen; baudä Strafe KLD [ ], DL
Scheltwort; le bauslis (= Haud-stja-) Gebot (zur Bedeutung vgl. got.
biudan) ; bamme' KLD [ ] Strafe ; baüdzava Frohndienst - por-st-bau-
dyii B sich erheben, aufbrechen, vgl. pa-si-baudeti NBd sich gegen-
seitig aufmuntern, sich zusammenrotten; su-si-baudtisi pt. prt. a. G
»sich in irgend einer Sache verabreden« (wenn für batulzitsi, zu bath
dyti^ sonst zu baiisti); ? le baudit versuchen, prüfen, kosten, heim-
suchen. Bi L 249; pr etr4)audini^ auferweckt.
fi» bügstu bü§au bügü intr. erschrecken; bügszlus N scheu. —
dU. baugiis furchtsam ; baugsztüs scheu ~ bauginti caus. erschrecken ;
baugsztaü baugszl^ti scheu machen.
U0 biurstü (?) biuraü biürti hässlich, garstig werden. — U. biüruf
präs. (zu biürli) ; pr bürai scheu. — dtl. biaurüs hüsslich -* biauriü-s
biaure'tis Abscheu haben; biaürinti besudeln.
H. sU'Czüstu czüdau czüsti in Niesen ausbrechen. — €IU» czäu-
dzu czäudzau czämti {czäudeti) niesen; czaud-iole KLD Niesswurz;
czaudul'js Niesen.
tl. czüpti {uz kq) greifen nach MLG L 369 ; ap^-czupa adv. i. sg.
tastend, vgl. apy-czupo N loc. sg. dss.; czupnus greifbar MLG L 391;
czupinomis i. pl. Sz palpando «^ czupine'ti iter. betasten; czüptereli (bei
Schi, czüptereli) dem. schnell greifen. — "Ü. czupiu czü'piau czüpti
betasten, fassen [u KDL, 0 KLD; czüpti J 417. 16 u. s.). — UU. fczäu-
piu czaupiau czäupti {bürnq) eng schliessen (den Mund) ; ? czaupaü-s
czaup^ti'8 iter. zum vor.
tl. czuzenti schleifen (beim Gehen); czuziniiti dem. iter.; czu-
ziuti BF 105 schlürfend gehen; czuzi^ni Rutschbahn. — !%• czuiiü
czuziaü czu'iti rutschen auf dem Eise; K auch 0).
M» ? le drudet in der Bed. »zittern«. — li. ? le drüksts (mit ein-
geschobenem Ai?) Verwarnung ULD. — OM* draudzü draudzaü draüsti
drohen; le draudi m. pl. Drohungen, ntdratidus N tadelnswerth;
le drausma Drohung, drausme* Zucht, drausmüs N strafbar -- le draudH
drohen, vgl. le draudeklis Drohmittel.
^3] 1)er Ablaut der Wurzalsilben im Litauischen. ^9&
U (ö?). su-drugii prät. drugo B sich gesellen. — UUb draügas
Genosse. — ? Dazu le drugt ULD sich mindern, zusammensinken
(= sich zusammenziehen?).
U. le drüpu {= ^drumpu) drupu drupt bröckeln intr.; le drupi
m. pl.; le drupas f. pl. Trümmer; le drupeklis Werkzeug zum Bröckeln;
le drupene Brocken ; le drupata Brocken - le drupinät trans. zerbröckeln.
— (tu. le drauplt caus. bröckeln. (Litauisch hat das gleichbedeu-
tende Wort anlautend l: trupü trupeti intr. zerfallen; trupinei Brocken;
trupuiys Brocken; trupus bröcklig ~ trüpinii trans. bröckeln.)
U» le prät. fchuwu (zu fchüt) . — Ü. dzüsiu dzüvau dzüti dorren,
trocken werden; dzüvä KLDBd Dürre; su-dzüvelis dürrer Mensch; dzüslä
der Verdorrende KLD [ ] ; dzüsna N Schwindsucht ; dziülis f. Sz dss.
(unter sucholy choroba). — UU. dzäuju dzäuti trans. trocknen;
le fchautrs Trockenstange ~ le fchawH (so mit a Bi L 410) trans.
trocknen; le fchaudet trocknen trans.; dzaustpi J 260. 7 u. s., BF 110.
iter. (zu dzäuti), — OV. prät. dzöviau (zu dzäuti)^ le fchäwu; dzövi-
mas nom. act. ; dzovä Darre, Dürre '^ le fchäwet {ä ULD) trans. trock-
nen, räuchern; dzovinii trans. trocknen.
U» dumbü (le dubu) dubaü dübli hohl werden, einsinken; le dtibli
m. pl. Koth, Morast; dubüs hohl; dubunjs N Loch im Boden (KLD [ ]
schreibt dübunjs^ daneben dumbur^s) - dübinti hohl machen. —
"Um dubiu dubiau dübli aushöhlen; le dübs hohl, tief; dube\ le dübe
Höhle; le dubuls^ le duhule Vertiefung; ?le dümis Höhlung, Abgrund -
le düböt aushöhlen. — (HIb daiAä Schlucht; daubur^s dss., N auch
daubura.
U. dzutigü dzugaü dzügti froh werden; dzugülis Sz (unter weso-
lek) Spassmacher; dzugus Sz garrulus {rzekoüiwy) *- dzüginii erfreuen.
— Ü» dzügstü Schi (Präsensf. zu dzügti). — dll. dzaugiu-s dzau-
giaü~8 dzaügti-s sich freuen; dzaügsmas Freude.
U. duksm B reichlich amplus - duksinti B vermehren. —
(tu. daüg adv. viel (subst.); datijw m. Vielheit -' ddwgfinii vermehren;
däuksinti dss.
II» le düku (= ^dunku) duku dukt matt werden; le duzu duzöt
it. brausen -- le duzinäl caus. brausen machen. — Ü. dükstü dükaü
dükti toll werden; le düzu {dükstu) dükt brausen, tosen; dükä M
Rasender; dükis m. Raserei, pädükis m. ToUwuth; pa-dükÜis Ver-
rtlckter '-> dükinti rasend machen; dükmi'ü iter. dem« umherFasen. •~»
Abhandl. d. K. S. Oesollscli. d. Wissensch. XXI. S4
296 AüGLST Leskien, [34
CUUm tai eit { padauküs das geht entzwei, zu Ende; padaukles N dss.
was padaukaL
U. duslü dusaü düsti auf keuchen, le dtisu dusu dust; dmiü du-
seil (s. a. ü) hüsteln KLD []; düsas^ ai-dusas J 551. 7 Seufzer;
le dv^a Ruhe, Schlummer; dusul^s Engbrüstigkeit, le dusulis Husten;
le dusmas f. pl. Zorn ~ le dusel (keuchen) ruhen, rasten; le dminät
ruhen lassen; düsinli dampfig machen. — Ü, dmiü düseli keuchen;
ätdüsis m. Seufzer ^ düsauti seufzen. — dU. daüsos Luft, z. B. J 127.
9; dausinti N Luft machen. — Vgl. dvesiü dve'sti,
U. le dufu [düfu = ^dunfu ULD) dufu duft entzweigehen; duzis
m. N Bruch (ö?) ; le dufma ULD Verwirrung; perduzimas NSz Knochen-
bruch (ö?). — Ü. düzis m. u, f. Bruch (KLD w, DL o). — au. dau-
ziü dauziaü daüzii heftig stossen; pa-dauzä NSz Vagabund, vgl. le pa-
daufs^ padaufe Lllrmmacher, Herumtreiber, und karvele padauzülele
J 387. 1, padauzü NSz Vagabund »- dauzaü dauzpi iter. (zu daüzii).
U. gludm MLG L 388 sich dicht anschmiegend ; le gluds^ le glu-
dens glatt; gltulzöms oder gludzeis begii mit angezogenen Ohren laufen
(vom Pferde; KLD das erstere mit ö, das zweite ohne Quantitäts-
bezeichnung) '^ le gludinät glätten; glüstereti dem. leicht anlehnen
KLD. — Ü» glüst änt peiSs lehnt sich auf die Schulter »in Samog.«
KLD; glüdau glüdoti angeschmiegt liegen. — (lU. glaudzü glaudzaü
glaüsli anschmiegen ; le glaudi m. pl. ; le glaudas f. pl. Liebkosungen,
vgl. glaudas NBdQu Kurzweil, le glauda Glätte; pri-si-glaüste MLD L 65
Zufluchtsort; glaudüs anschmiegend - glaudi/ti-s BF 113 schmeicheln
(iter. sich anschmiegen); le glaudit; le glaudät glätten, glaudoti B
heucheln; pri-si-glaüstyli iter. MLG L 66 sich anschmiegen, Zuflucht
suchen, le glaustU streicheln iter.
U. le glumstu glumu glumt schleimig, glatt werden; le glums
schleimig, glatt, lit. glümas hornlos (vom Vieh). — Ctll. gliaümas
»schleimiger Abgang vom Schleifstein«, gliaumüs NBd »glüpfrig« (vom
Essen) ; le glauma eine Schlangenart, le glamnas f. pl. Trespen im Lein.
Ü. gniüztÜ Faustvoll, Faust; gniüzulas G (w?) dss. — dU* gniäti-
ziu gniäuziau gniäuzii Hand zusammenschliessen , damit drücken, N
hat ein mäno szirdis gniäuzt mein Herz ist beklommen ; gniauzte Faust '^
gniäuiiau gniäuzyti iter. (zu gniäuzii),
U» griuvaü prät. (zu griüli); gruvimas nom. act.; griuvüs N bau-
föllig (wahrsch. ö, so KLD, wenn nicht aus Sz und prt. präs. :^
35] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 297
griüvqs). — Ü» präs. griüvü (le gfüstu^ lit. bei Sz griüstu) griüti ein-
stürzen intr.; le gi'üwa eingefallene Erde (auch gfuwaTj, — ClU. griäuju
griäuli umstürzen, donnern; le gfawa (ä?) Schlucht. — OV. prät.
graviau^ le gräwu (zu griäuti) ; griövimas nom. act. ; griovä Schlucht.
U. man szirdis pa-grüdo 3. sg. prt. mir wurde das Herz weich
KDL s. V. »weich«; grüdzu grüdau grüsti stampfen, (Eisen) härten,
nach N auch »ermahnen, warnen« ; grüdas Korn ; le grüdenes Graupen
u. a. ; le grüslis Sonnenstäubchen; grüstüvas Stampfe ~ grüdau grü-
dyti; grüdinli (Eisen) härten. — Ät€. le graufchu graudu grauft pol-
tern, donnern \}LD ; . graudens Gewitterschlag, vgl. graudulis Sz Donner
(unter ogrom)^ ebenda grausmas dss., davon grausmus [ogromny^ srogi)
Sz; le grauds Korn; \e grauschl'i pl. (zu graaslis) Schutt; grausme N
Warnung; gramvingas SzP 6 schrecklich, drohend (parallel mit hai-
süs)\ graudüs spröde, brüchig, rührend, wehmüthig - le graufdäl
(Eisen) härten; pr en-graudisnan a. sg. nom. act. Erbarmen; graudinli
härten, spröde machen, in der Bibel »ermahnen« (wofür gewöhnlich
graudefiii)^ su-graudinti betrübt machen J 615. 3, IG 107.
U. gruzdü gruzdeti schwelen; gruzdis M Aschenbrödel ~ gruzr-
denii schwelen. — (ZU. gräuzdu grauzdeli N dss., bei KLD auch
griauzdü,
U. gruzine'ii iter. dem. nagen. — dll. gräuziu gräuziau gräuzti
nagen. ? Dazu su-gruzinti SzP 9, 20 vernichten ; le grufchi pl. (von
grußs) Schutt, Graus; gruzötas N uneben, holperig; gräuzas Kies;
le grau fehl' i m. pl. (von grauflis) Graus, Schutt.
U. le guwu prät. (zu gut); guvüs gewandt, gescheit JSv 73;
? lit. guinü gujaü güiti nachjagen (so Schi; guijü guijaü K). —
Ä. le präs. güstu günu güju [güjul s. Bi I. 355), inf. gut haschen,
fangen ~ le güstlt iter. — dU. gäunu gavaü gäuti erlangen, bekom-
men {ap-gäuti betrügen); f gaujä Haufe, Rudel; ap-gaule JSv 76
Betrug, üz-gaulis m. M Beute, pagaulus adj. Sz [pochopny)\ gauklas
NSz Erwerb - gäudau gäudyti iter. (zu gäuti) fangen; ap-si-gäu-
dinti J 613. 6 sich betrügen lassen; ap-gaudineti betrügen IG 122.
— €iV. le gäwu prät. (zu gaut), — ? Dazu le gausa Genügen, Ge-
deihen, gausüs reichlich - le gausll reichlich machen; pa-gaüsinti
JSv 18 vermehren; le gausinät Gedeihen geben.
U. le guhstu gubu gubt sich krümmen, sich beugöir, kv guba
Heuhaufen, zusammengestellter Haufen von Garben. lit. guba G Schober,
298 AüGüST Leskien, (36
le gubät Heu in Haufen legen, lit. guboti G Getreide aufhäufen. —
du. su-gaubli G »Getreide einfuhren, einsammeln«, im 2em. soll es
bedeuten: von oben her ganz zudecken, vgl. uz-si-gaübmi verhüllt
J 305. 1, galveles uzgaubstpos J 220. 2 (iter. dazu), svöcza gaubtüviu
JSv 47. — Die gewöhnliche Form des Wortes für »einhüllen« ist
gobiu göbiau göbti,
Ü» güduriüli klagen, jammern MLG I. 359. — "Ä. gudzu gudzau
gusti beklagen, -s klagen, sich beklagen. — ClU. gaudzü gaudzaü
gaÜ8ti jammern, heulen, summen, klingen (Glocken G), le gaufchu
gaudu gauft klagen ; le gauda Klage, Geheul, gaudm N, le gausch =
^gaufchs = ^gaudjas (Vertretung von gaudüs) kläglich ; gaudone Pferde-
bremse ~ le gaudät iter. (zu gauß),
U» guliü guliaü gülti sich legen; guliü gule'li liegen; pre-gulä
Beischläferin; prS-guls Beischläfer; le gul'a Lager; sugulda Sz {sklad-
nosc concinnitas) , üzgulda Sz Grundlage; le gidta Bett, lit. gulla Lager
Sz (unter loznicd) -' guldaü guld'^li legen. — "Ü. le gäVa Lager, Nest;
gfÜis m. Lagerstätte. — Bei Sz gvalis Lager eines Thieres (s. v.
lozysko) .
Ü, gusis m. Ruck, Mal, güseis i. pl. hin und wieder, manchmal.
— (tu. ? le gama Genügen, Gedeihen, le gausigs verschlagsam, vgl.
?le gauss^ adv. gausi langsam (= anhaltend?); gamüs reichlich. —
Die Worte von gamä an s. auch unter git-,
Ü. le jüiis pl. Scheideweg, Gelenkstellen, wo zwei Knochen
sich berühren Bi (nach Fick H. 639). — dU* jäuju jäui aquidam
fervidam super infundere N aus Schnitzen, le jäuju jaul Teig machen,
einrühren; le jaws apjaws ULD Mengsei von Viehfutter; javai Ge-
treide (nach Fick H. 639). — OV. prät. jöviau (zu jäuti)^ le jäwu;
le jäwums nom. act. Mischung; edalu jovüja nom. ag. f. JSv 6; j6-
valas Schweinefutter.
U* jundü judaü jüsli anfangen sich zu regen; judü judeti sich
regen; pa-juda BF 149 Anregung; jüdra N Wirbelwind; judüs NSz
zanksüchtig '-> jüdinti rütteln; juduti sich bewegen (vom Meere) J 725.
12. — dU. le jauda Kraft, Vermögen - le jaudät vermögen ; su^jau-
dinti J 855. 8; jaudrinti N in Bewegung setzen. — Bei IG 114
ne-si'juodindams sich nicht regend.
W» m-jukti sich vermischen, su-jükmi pägada Mischwetter MLD
L 71, BF 119, le jUku {= junku) juku jukl verwirrt werdtti; X^juka
37] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 299
Verwirrung, Mischmasch ; le juzeklis was Verwirrung stiftet -» le juzinät
Verwirrung stiften. — CtU. le jauzu jauzu jaukt mengen, mischen,
lit. jaukti mischen (so ist G's jaugli zu lesen) .
tl. jünkstu jünkau jünkti gewohnt werden - le juzinäl gewöhnen.
— (tu* \e jauks lieblich, anmuthig; jauküs zahm - \e jauzet gewöh-
nen; jaukinti gewöhnen (Thiere, zähmen).
t^. juntü jutaü jüsti durchs Gefühl gewahr werden; jutüs Sz
(unter czuyny) empfindlich ; juirus empfindlich. — dfl. jauczü jauczaü
jaüsH fühlen, le jauschu jautu jaml nach Bi fühlen lassen; pa-jaulä
Sz Gefühl (sensus), prejauta BF 4 58 Gewissen; \e jamma Gerücht,
Ahnung; le jautrs munter; jautrus WP 128, MLG I. 388 wachsam;
jaulüs empfindsam '^ le jautäi fragen.
U. prät. kliuvaü (zu kliüti) ; kliuvimas nom. act. — Ü. präs.
kliüvu (le kPüstu) kliüti hängen bleiben; le kl'üms; le krüma Hinderniss;
kliüiis f. u. kliüte N Hinderniss «^ kliüdaü kliüdijU caus. (zu kliüti)^
le ktüdtt iter. (zu klüt) ; kliüdinii caus. ; le kl'üstite-s iter. hängen blei*
ben. — ÖW€. le kl'aujur-s Maut&s sich anlehnen, lit. pa-si-kläuju^
"kläuti vertrauen auf; kliaudä Fehler, Gebrechen, vgl. kliaudzu kliau-
dzau kliausti N hindern, aufhalten; kliaulis f. G Vertrauen; kliaute Sz
(unter wada) Hinderniss, Gebrechen ~ kliaudau kliaudyti N iter. hin-
dern; le kl'ausilte-s hängen bleiben. — OV. prät. klöviau^ le Mäwu
(zu kliduti).
U. le Uu^is hölzerner Nagel, Krücke, u. a. — au. le klau^is
u. a. Holzklotz, grosses Stück, Grossmaul, Raisonneur -- le klaudßt
anklopfen, klappern, raisonniren; le klaudfinat anklopfen; lit. klaugeli
G schwatzen.
U. klumpü klupaü klüpti stolpern, in die Knie fallen ; par-klupis
N Anstoss; klupüs leicht stolpernd - klupdaü klupd^jti caus. stolpern
machen ; klupinti dss. ; le klupinät caus. und iter. (zu klupt) ; klupi-
nSti iter. dem. (zu klüpti), — Ü. le Uüpu adv. strauchelnd; klüpo-
mis adv. i. pl. f. kniend -* klüpau klüpoti knien. — ClU. klaupiu-s
klaupiaü-s klaüpti-s fact. refl. knien.
U. pa-klustü klasaü klüsti gehorchen ; le kluss still ; pr po-klusmai
nom. pl. gehorsam; klusm MLG I. 226 scharfes Gehör habend, pa-
klusus Sz gehorsam (u. poslmzny) ; paklmnüs gehorsam. — Cltl, klävn
siu klätisiau kläusti fragen; le klamchi n. pl. (zu klausis = ^klausjas)
»der Gehorch« ULD; klausä Sz Gehorsam (unter nieposlmzenstwo) -^
300 August Leskien, [38
klausaü klausijii hören; klausine ti iter. fragen; le klaumnäl iter.
forschen.
U0 le kruva Haufe, lit. kruvä; le kruts steil. — Ü» krüvä Haufe,
so K; le krüte Hümpel auf Wiesen; pakrüle N Uferrand (ö KLD).
— (tu. kräuju kräuH (le kfaut) häufen, laden; le kfawa Haufe,
le krawäl zusammenraffen; le kfaujs m., krauja f. Haufe; le kraulis Ab-
sturz, steiles Ufer, Bergwand; le kfaume grosse Menge; le krauna
ULD Schwärm; le krauta Ufer (ULD hat auch kraujs^ gen. krauja
steil, kraujums Steilheit, doch vgl. kraujsch, steiles Ufer, u. lit. kriäur-
8ZU8 kräuszus steiler Abhang, s. krusz-) -^ krämtau kräuslyli iter. (zu
kräuti^\ kraustineli iter. dem. (zu dems.) J 312. 8, JSv 80. —
OV. prSit. kröviau^ le kfäwu (zu kräuli) ; krövimas nom. act. ; krovikas
nom. ag. ; le kräw^js nom. ag. ; krovä Haufen.
U, krüvinas blutig, krüvinti blutig machen. — €ltl. kraüjas Blut.
U. krükis m. Schi. Leseb. Rüssel; krüke N Gegrunze, Schweine-
rüssel. — Ü. kriükiu kriükiau kriükti grunzen J 349. 1. — dU. krau-
kiü kraukiaü kraükii krächzen; le krauka Husten des Viehes; le kraukls
Rabe; lit. kraukhjs N Krähe; le kraukschis Knorpel; kraukszle Uneben-
heit, Frosthölsterlein auf Strassen etc., die beim Fahren krachen. —
Zusammenst. z. Th. zweifelhaft.
t€. krujnü-8 krupiau-s krupti-s N erschrecken (eigentl. sich zu-
sammenziehen, zusammenfahren), nu-krüp^s BF 129 schorfig, le kfüpu
[=z ^kfumpu) kfupu kfupt verschrumpfen (bei ULD unerweichtes r);
le krups Kröte, Zwerg; krupus Sz furchtsam {bojäzliwy) •*' le krupet
zusammenschrumpfen. — Ü. le krüpis Zwerg; krüptereti dem. plötz-
lich zusammenfahren; krüpszczoü iter. — ClU, kraupiü kraupiaü
kraüpti aufschrecken trans., sur-si-kraüpü zusammenschauern; le kraupa
Grind, Warze; le kraupes Runzeln; le kraupis Ausschlag, Kröte; krau-
püs schreckhaft, man kraüpu es graust mir -' le kraupei trocken wer-
den (vom Ausschlag); kraupsipi-s iter. N sich ängstigen.
U. kruszü h^uszaü krüszti {kriüszti K) stampfen, zerstossen;
kruszä Hagel, bei N auch Eisscholle. — Ü. pa-kriüszis m. KLD
steiler Abhang. — ClU» kraüszius^ pakraüszius Abhang {kriaüszius K),
bei Sz [skala wysoka) krauszas -' le krauset stampfen; kriauszpi iter.
(zu krüszli) MLG L 85.
fi. kügis m. grosser Hammer, grosser Heuhaufen (vgl. u. kauge);
küjis Hammer. — Uli» käuju käuii schlagen, schmieden, z. B. J 790.
39] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 301
17, kämpfen, le kaujti kawu kaut^ zum le prät. kaum vgl. gelzinim
pänczus änt koju kävu J 1162. 3; le kawa Schicht, Haufe, le e-kawa
Klammer; le kaudfe Schober, lit. kauge G Heuhaufen, vgl. kaugur^s
u. kaugure' »ein mit Sandgras bewachsener kleiner steiler Hugel« KLD;
le kauslis Raufbold; kavine G Mörser -^ katistau käiisiyti iter. be-
schlagen (Pferde), le kaustit verkeilen, beschlagen; pakausdinli J 534. 1
beschlagen lassen. — OV. prät. koviau (le käwu^ Bi I. 363, so
wechselnd auch käwöjs kawejs Schläger, käwens kawens Schlägerei) ;
le käwi n. pl. m. Nordlicht (nach dem Volksglauben kämpfende Män-
ner); kovä Kampf, kovöti kämpfen.
U. kuviü-s kuveli-8 [u oder ö?) sich schämen, sich scheuen Sz
(unter wstyd und wstydliwy) ; ? le külrs träge. — 0W€« le kauns Scham -^
? le kawBl aufhalten, zögern.
Um su-kukiu kukiau kukli aufheulen N ; kukle N Geheul (zweifelh.
ob u oder ü). — ClU. kaukiü kaukiaü kaükti heulen; le kauka
Sturmwind, le kaukul heulen (vom Winde) ; le kauza Geheul; kat^mas
Geheul «^ le kauzinäl zum Heulen bringen.
U. kükis m. Misthaken (nach Fick II. 538 zu dieser Gruppe) ;
kukul^s Mehlkloss; le kukurs Buckel; kukarna N Frosthölsterein auf
Wiesen. — Ü» le kükums Höcker, Buckel, vgl. le kükis u. a. Zwerg,
le kükscha vor Alter Gebückte. — Utl. kaükas Beule, Geschwür;
kaükos KDL Drüsen; "f käukole Schädel; kaukarä Hügel.
U. le küpu (== %umpu) kupu kupt sich ballen, gerinnen ; kupiu
kupiau kupli KLD [] auf einen Haufen legen, aufräumen, ordnen;
le kuph dicht; kuplm dss. MLG I. 389; le kupenis Schneehaufen;
küpinas gehäuft (beim Masse); le kuprs Höcker; lit. kuprä dss.; ku-
petä Heuhaufen; küpstas Erdhöcker «^ küpyju küpyti KLD häufen
(ein Mass) ; küpinti KLD [ ] häufen (beim Masse) ; le kupinät gerinnen
machen. — tl. küprinti; küprineti KLD mit gekrümmtem Rücken
gehen. -7- '^^ ktipiu kupiau küpti häufeln (Getreide), reinigen, fegen,
lett. küpt zusammenbringen, reinigen; le kups Haufe; le küpa dss.,
lit. apküpa Sz (KLD [ ] mit 0) Reinheit, apkupus (ibid. 0) reinlich. —
au» kaupiü kaupiaü kaüpti häufeln; kaüpas Haufe; uzkaupa N Über-
gewicht, Draufgabe ~ kaupu'ti häufen (Mass; zu kaüpas).
Um kiürslu kiuraü kiürti löcherig werden, prakiür^ durchlöchert;
pra-kiurüs {prakiuri zeme) locker -^ kiürinti durchlöchern. —
(tu* kiäuras durchlöchert -- kiäurinti durchlöchern.
302 AüGüST Leskien, [*0
U. le küstu (= ^kunstu) kusu kust schmelzen intr., thauen, comp,
ermüden, lit. tujaus sukuszo il skruzdys visas mestas WP 44 (kam in
Bewegung, fing an sich zu regen wie Ameisen) ; kmzü kusze'ti sich
regen; le ai-kusa Tbauwetter; le kuds klein, zart, vgl. kuszlüs KLD
schwächlich, kümmerlich (von Pflanzen) ; le kustunis »lebendige Wesen«,
auch »Ungeziefer« -- küszinti rühren, in Bewegung bringen; kitszind^li
iter. dem. dss. ; le ktisinät müde machen; le kustel rühren, bewegen;
le kmtinät dss. — Ü. le küsuls Sprudel «^ le küsät küsät küsut
wallen, überwallen, uf-küsäl auflhauen. — ClU. le at-kama Thau-
wetter - le kausät trans. schmelzen, ermüden; pr en-kausint an-
rühren.
Ü. kiutis f. N ein Loch, das sich die Schweine im Schlamme
wühlen, darin zu liegen (w ?) ; ? le kütrs faul (s. oben u. kuviü-s) -*
kiütau kiüloii »mit angeschmiegtem Kopf still daliegen«; nu-kiütina
ätgal i karkl'^nus MLG L 364 (dort übersetzt »ging zurück ins Ge-
büsch«). — (tu. kiaustü kiautaü kiaüsti verkümmern (im Wachsthum),
ap-kiaüt§8 verkümmert, auch von einem trägen, ungehorsamen Jungen;
ap-kiaülelis ein Verkümmerter, Träger.
(tUm liäuju liäuii aufhören, pr au-laut sterben; pa-liauba Sz
(unter mtawanie) Aufhören; lavönas Leiche. — OV. prät. liöviau
(zu /mw/i), le l'äwu; liovimas nom. act. Aufhören; pa-Uovä dss.
il0 liüstü liüdaü liüsti traurig werden; liüdiü liüde'ti traurig
sein; liüdnas traurig. — (Itl. pr lamthieiti 2. pl. imp. demüthigen
(wäre lit. inf. Hiaustinti) ; pr laustingins a. pl. demüthig (Ableitung von
einem St. ^liausta- Betrübniss).
Ü» lükiu lükeli ein wenig warten, vgl. pr kaima-luke suchte
heim (w?); le nü4üks Ziel, Absicht; palüki N Warten; palukanos
Zinsen (Wartegeld) ; lükestis f. Harren - lükteliu dem. LB 338 zau-
dern; le lükut schauen, nach etwas ausschauen; Itikurti^ lükurioti
dem. harren. — Cltl. läukiu läukiau läukti warten; pr laukit suchen.
t€. lupü (le lüpu = *lumpu) lupaü lüpti abhäuten, schälen, le
auch berauben; ww-/Mj!>a N Abgeschältes, Abfall, bei Sz (unter lupina)
steht nuoluopa (= mlüpa)^\ lupinai u. lupinos N Obstschalen; lupsnis
f. und lupsznis f. geschälte Tannenrinde - lüpinti schälen; le lupinäl
dss. iter.; lupine'ti iter. dem. — dtl» le lauptt iter. (zu hipt)^ lit.
laupyti G rauben.
U, lüztu lüzau lüiti intr. zerbrechen; lüze'ti intr. brechen J 1217,
^^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 303
5; lüzis m. Bruch; le lüfchni (pl. von lüfnis) Bruchstelle im Walde;
lüztt$8 N zerbrechlich, aus Sz (unter lomisty), scheint = lüztqs prt.
präs. zu lüztu - lüztereti dem. ein wenig einknicken. — (Itl. läuziu
läuziau läuzti trans. brechen; läuzas Ast; le laufa Bruchstelle im
Walde, nv!'lauza Bruchstück; läuiis m. Bruch (z. B. Steinbruch);
le laufchni (pl. zu laufnis) Bruchstelle im Walde; lauitüvas Brech-
instrument, Flachsbreche; lauzüs Sz zerbrechlich «^ läutau läuzyti iter.
(zu läuzti).
Ü. pr aa-mü-snan a. sg. Abwaschung. — au. mäuju mätiti
streifen, le maut auch »schwimmen«; le pa-mawe Umwurftuch der
Frauen; le e-mauti pl. Zaum {maut zäumen); rank-mauste NSz Arm-
binde der kath. Geistlichen ~ mäudau mäudyti baden; le maudät
schwemmen; mäustau mäustyti J 790. 11; mäusczoli J 810. 6 iter.
(zu mäutt). — OV. prät. möviau (zu mäuti)^ le mäwu; mövitnas nom.
act. ; movikas nom. ag. ; üz-mova was man aufstreift (z. B. Muff). —
? Dazu ein le muljä-s müjvrs müte-s hinderlich sein, unter den Füssen
sein ULD.
Clfl. le mauju und tnaunu^ maut brüllen (von Kühen; onomatop.).
— Äl?. prät. mäwu.
U. le müku (= ^munku) muku mukt sich abstreifen, in einen
Sumpf einsinken, fliehen, lit. mükti G entwischen, müka ätgal f me-
stili (3. sg. prt.) eilen MLG I. 386; le nümuka abgestreifter Balg,
le at-mukas f. pl. [dfijas ar atmukäm lose gesponnenes Garn) ; le mukls
einschüssig, sumpßg. — Ü. le nü-müki m. pl. abgestreifter Balg. —
dU* maukiü maukiaü maükti streifen, MLG I. 383 saufen; le nu-^auks;
le nümauka abgestreifter Balg; le mauka meretrix; maukna G Baum-
rinde, vgl. le maukni m. pl., le mauknes f. pl. Tannenrinde zum Decken;
le emaukti m. pl. Zaum.
U. mürstu muraü mürti durchweicht werden (vom Boden),
i-mürfs durchweicht (z. B. vom Wege) - le murit besudeln ; miftdau
mürdyti einweichen, eintauchen WP 188 (f-). — Cltl» le maura
Gras ums Haus herum, Rasen ; lit. maurai Entenflott -» ? iszmauroti G
aufscharren mit den Hörnern (vom Ochsen), vgl. maurioli G herum-
schweifen, vgl. uzmauröju (3. sg. prt.) säva piktä^ dainas I 855. 8. —
Zweifelh. Zusammenstellung.
OW^. le nauju^ naut^ iter, fiaudöt miauen (onomatop.). — ÜV* le
prät. nmvu.
304 August Leskien, [*2
Ü» pa-nuslu^ nüdau^ misti (mit gen.) gelüsten, sich sehnen nach,
vgl. änl ku panüdu (3. sg. prl.) lävu szirdele i 68S. 3. — ClU» naudä
Nutzen, Hab und Gut; zur Bedeutung vgl. natidyti begehren, naudüii-s
sich aneignen.
Ü. niuksoti im Dämmerlicht, im Dunkeln daliegen, gire niukso G,
auksztas isz ülos kalnas niukso jo WP 120 (ä?); niükiü niükiaü nitUiii
{nükti)^ auch nükslü nükaü nükti KLD rauschen, dumpfes Getöse machen.
— dtl* ap-si-niäukiu niäukiau nidukli^ le apAaukte-s sich bewölken,
lit. pt. prt. a. ap'si-niäukfis besudelt, unordentlich.
tl, plujoti J 113. 2 schwimmen (w?); \e pludi und pludini m. pl.
Schwimmhölzer an Netzen ^ le pludel obenauf schwimmen; le plu-
dinäl überfliessen machen; le pludüt sich ergiessen. — Ü. plüstu
plüdau plüsli ins Schwimmen gerathen; plüdiu plüdzau plOsti N
schwatzen; le plüdi m. pl. Überschwemmung, Flut; plüdis f. Schwimm-
holz am Netze; plüdza N Schwätzer; plütis m. N oflFene Stelle im
Eise; le plüskas f. pl. Schleuse; änt pltistu (Floss?) pastäczus i üpi
paslümli JSv 75 - le plüdit ergiessen; \e plüdinät überfliessen machen;
plüdurti auf dem Wasser treiben. — Cl/U» pläuju pläuti spülen;
le plaufchu plaudu plauft nass machen, auch »kund machen, unter
den Leuten verbreiten«, lit. plaudzu plaudzau plausti NSz waschen;
pa-plava WP 238 Spülwasser (?) ; upe-plaudis m. Sz Abspülen durch
die Strömung (unter podbieranie) ; pliaunä (so KLD) Schwätzer;
? le plauskas f. pl. Schinn auf dem Kopfe ; plaüsmas Floss ; plaütis m.
Schnupfen, pl. plaüczei Lunge (nach Fick IL 612); platistas Floss zum
Übersetzen MLG L 19 -^ plaujöli iter. (zu pläuti) Schi. Leseb.; plau-
stau plaustyli iter. (zu dems.) J 870. 7. — OV^ plöviau prät. (zu
pläuti) ; plovimas nom. act. ; plovejas ; plovtkas nom. ag. ; isz-plovos N
Spülwasser.
U. plunkü plukaü plükti verschiessen , die Farbe verlieren,
le plüku (= plunku) pluku plukt verbrüht werden, abgehen, ver-
schiessen, uzplunku M befliessen, vgl. J 716. 5 paplil^u (3. sg. prt.)
lentüzes die Bretter — der Brücke — schwammen weg (zu lesen
ist wohl pa-plüku) ~ plukpi BF 157; plukdaü plukd^li schwemmen;
le plttzinät iter. (zu plükt) , caus. zu plukt ULD. — ti. ? le plüzu
plüzu plükt zupfen; le plükät iter. {ü = wn?, vgl. plünksna Feder,
nach Fick II. 612 hierher gehörig). — CtU* plaukiü plaukiaü platikti
schwimmen; plaukai Haar (nach Fick II. 612), d^v on pläukstu pläiJuiu
r
i|>^
r-.*
43] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 305
pläukti Haare bekommen, schössen, pläukiu pläukiu pläukti dss. ;
le plauks Wischtuch; ie plaukas f. pl. Flocken, Fasern; pre-plauka Sz
Hafen {port) ; plaükumas Floss ; ? le plaukts Sims, Scheibe unter dem
Wagenkorb, auf der die Achse ruht; ?le plaukstes Schinn auf dem
Kopfe -^ plaukaü plaukpi iler. (zu plaükli),
ti. le pl'upstu pl'upu phipt sprudeln. — 'Ä. ? pliopiü pliopiaü
pliöpti platschern, schwatzen; pliopä Plappermaul. — dU. pliaupiü
pliaupiaü pliaüpti platschern, schwatzen.
M. plüszai KLD s. v. Faser; pliüszis f. und pliüsze Schilf, Schnitt-
gras; le plüsni m. pl. flatternde weisse Birkenrinde -- iszpluszöti J
757. 3, papluszöti 1 330. 1 (ö?) sich zerfasern, pliüszüti-s sich ab-
fasern KDL. — ? Dazu pluksztu plüszkau plükszti zusammenfallen,
dünn werden. — dU. plamzai Bast.
U. prusnä Maul, die dicken Lippen am Maul (des Rindes). —
dU. prausiü prausiaü praüsti waschen (Gesicht), Grundbegr. »spritzen«.
fl. pitivis m. Schnitt, szen-piüvis Heumäher J 23. 3; piüve N
Schnitt, Ernte; piüklas^ N auch piükle S\^ge; piümü BF 155 Ernte,
piümene Sz (unter zniwo) dss.; piütis f., auch piute (Schnitt) Ernte.
— (tu. piäuju piäuti schneiden (le ptaut)-, le pl'awa Wiese, Heu-
schlag; \e pl'aujaTivnie; a/^-piatifc/a« N Abschnittsei ; piäutuvas Siehe] '->
piämtau piäustyti iter.; piäustineli iter. dem. {zu piaiUi). — OV» prät.
piöviau^ le pl'äwu (zu piäuti^ le pl'aut); piövimas nom. act. ; le pl'ä-
wums das Gemähte; piovejas, le pl'äwejs; piavikas nom. ag. ; piove
(Schnitt) Ernte J 976. 4, vgl. le pl'awa Erntezeit.
tl» prät. puvaü (zu puti) ; puvimtis nom. act. ; supüvelis Nichts-
nutz; le papuwa^ le papmve Brachacker. — U. präs. püvü püti
(le prs. püstu) faulen; le papüde Brachacker, vgl. lit. püdymas dss.;
pülei Eiter; le püfnis m., auch püfnes f. pl. Moder - le püdet caus. ;
püdau püdyli'C^ns. faulen machen. — dtl» "! piaulai faules, im
Finstern leuchtendes Holz, J 1 278. i ; vgl. indess le prauls moderndes
Holz (für *ptaul8l).
U. le pum »Auswuchs am Baume, Höcker«; le punis Beule;
le pui'ia und pune Knollen; le punte Beule, Auswuchs am Baume.
— dU, le pauns und pauna Schädel; le paurs und paure Schädel,
Hinterhaupt, Gipfel. — Zweifelh. Zusammenst.
t€* pülli fallen, le prät. pulu; pultis NSz Fall, pra-pultis f. Ver-
derben - piildau püldyti fallen lassen; piildineti dem. iter. {zu pülli).
30G ArcrsT Leskiets, }^
— U. präs. pulu, prSit. puliau [zu pülti ; ai-puleli^ Ablrünniger ;
puliff m. Fall, pre-pidns zufällig, zu pr^ulU m. Sz Zufall; at-pfdinys
Abtrünniger.
tl» le pups Weiberbrust. — If« le püpuli m. pl. Weidenkätzchen.
— UU» le pavpt schwellen, verrecken. — Vgl. pämpti, pümpuras u. a.
!€• pukszle Sz (unter guz] Beule. — €ltl, papauszkas (ebenda) dss.
U» puszkü puszketi knallen (von gährenden Dingen} '-* pu»zkinti
caus. — Ü, pa-si-pÜ8zkau^ puszkyti Schi. Lsb. im Wasser plätschern.
— €IU» päuszkiu päuszketi knallen '^ päuszkinti caus.
tl» puczü präs. blase, wehe; puntü puiaü pmti schwellen '^sich
aufblasen); pulä Blase, pl. Schaum; 6aiii/-pti/j^« Wellenbläser (Meeres-
gotl); le puteklis Staub; isz-fiäelis Aufgedunsener; puilüs NM sich
blähend; pütmenos K Geschwulst; puimenys m. pl. dss.; le ptUenis
Stühm (Schneetreiben); pusnis f. J 1056. 3 zusammengewehter
Schneehaufen, vgl. davon pusmjnas dss.; ^ puträ Grütze - le pittu
pulst stäuben, stühmen iter. (zu püst) ; le putinät dss. ; püsto pusiyti
stühmen iter. KLD. — U. prät. püczaü pusti blasen, le präs. püschu ;
pa-sirpütelis aufgeblasener Mensch ; \Qnü-püla Seufzer; le püle Blase,
Blatter; le püm Windstoss; le püslis Blase; püsW [ü K) Blase, z. B.
Harnblase; le püsma, püsme^ püsmis Athemzug. — ClU. "? paütas
Ei, Hode (doch vgl. le ptUns Vogel); pamatfs sutrintus papautus
(Schwielen?) ant ju ranku nü sunkio darbo WP 63.
t€. rujä Brunstzeit des Wildes. — Ä. le rujas laiks Hegezeit
des Wildes. — Uli» le raunas laiks Brunstzeit der Katzen.
Uli» räuju räuti ausreissen; le rauklis Raufeisen; rävalas Sz
(unter pletvidlo) Gäten; le raustawa und rautawa Raufe; isz-ravus Sz
Unkraut '^ raveli jäten; le raustit iter. reissen. — OV. prät. raviau^
le räwu (zu räuti) ; rövimas nom. act. ; le räwäjs nom. ag. ; le räwens
nom. act.
U» rüdas rothbraun; rudü rudeti rosten Schi. Lsb., vgl. J 42. 2
käme lävu pentinelei szvesi surudeju] rudu Herbst; le rusta^ rüste
braune Farbe; rüsvas rothbraun -» le rudlt braunroth machen. —
fl» rüdis f. Rost, rüdyjü rüdpi rosten; rüdynä^ rüd^ne Sumpf »mit
röthlichem, eisenhaltigem Wasser« K ; le rüsa Rost, le rüsSt rosten -
le rüdlt Eisen härten, glühend machen. — au, raüdas roth BF 163;
raudä rothe Farbe, raudönas roth; f raumü' (= raud-men-t) Muskel-
lleisch ; raüsvas roth G, MLG I. 390.
45] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 307
tl. verkia rüdul mergele J 361. 6 (w?), vgl. szirdis merg^tes
mrüdu 3. sg. prt. 616. 4 (v\ahrscheinl. ü), — Ü. ap-si-rüstu KLD Bd
werde böse, prat. surüdau i 364. 3 traurig werden; rudis N armselig
(ö ?), rudulis N armer Schelm (ö ?); rustas und rüstüs mürrisch, grimmig
'^ rudinti betrüben J 1502. 7 (ö?), vgl. le rüdinät dss. (zum Weinen
bringen) und surüdinti visu szirdis rühren BF 166. — dtl. raudä
Wehklage «^ rmidöti wehklagen, 3. sg. raüda J 1216. 30, le raudu
raudät.
Ü. rügslu rügau rügti sauer werden, gähren ; rügiu rügiau rügti
aufstossen, rülpsen KLD ; le at-rügas f. pl, Aufstossen ; isz-rügos Mol-
ken; rüffjjs N sauertöpfischer Mensch; su-rügelis dss.; rükszmjs dss.;
rüksznus N mürrisch; le rükts bitter, herb, pr ructan dadan saure
Milch; rtiksztas sauer; rüksztis m. (nach N auch f.) Säure - rügtereti
dem. (zu rügti) . — WU» le at-raugü-s raudfü-s raugte-s aufstossen ;
räugas Sauerteig; le at-raugas f. pl. Aufstossen ~ räugeti aufstossen;
le raudfet säuern; le at-rnugate-s iter. [zw -raugti-s) \ rau^k^i säuern.
U. runkü rukaü rukti faltig, runzlig werden (le mit f) ; sur-rükelis
Eingeschrumpfter (vor Alter); rukalotas N mürrisch (Abi. von einem
rukala-); rükszle Falte MLG IL 75; su-rukszmuti knittern KDL - le
Hninät einschrumpfen machen. — dtl. raukiii raidciaü raükti runzeln,
in Falten ziehen; raükas Runzel; ratdia N dss.; raükszlas Runzel;
raukszW dss.; ravksztas N runzlig ~ raukaü raukpi iter. {za raükti).
U. rüpas rauh, holperig ; rupe N Muschel, pl. rup6s eine Pferde-
krankheit N ; ruple N rauhe Borke ; le rupuls grobes Holzstück, Tölpel ;
rupt$s grob MLG L 232, akmenelis rupm Sz rauh, le rupjsch dss.;
rupuze' Kröte. — dU. raupas Pocke Sz (unter odra) ; le raupi m. pl.
abgeschnittene Samenstengel des Flachses ; le raupa Gänsehaut (Schau-
der); le raupjsch rauh anzufühlen; raupte Blatter; raup^ai Aussatz;
raupeze Sz Kröte (unter iaba wielka). — Zu derselben Wurzel rup
(brechen) nach Fick II. 645 auch: Ü» rüp' man rüpeti kümmert mich,
inch. parüpo (prät.) z. B. J 467. 3, BF 166; le rüpas f. pl. Sorgen;
rüpestis f. Sorge; rüpus Sz {rupus unter pilny) besorgt '^ rüpinti be-
sorgen. — ? iSf. ap-^vpiu röpiau röpti etwas beschicken, fertig
kriegen.
Um rüsinti schttren (doch vgl. rusiti glimmen G, ruslds Bratrost
G); le ruschinät wühlen, Feuer schüren. — fl. peletir-rüsis , f. -e,
pelen-rnsa Aschenbrödel; U) rüsa Karloffelmielo; w?v^v, N auch rüsas,
308 August Leskien, [46
Grube für den wialerlichea Kartoffel vorra Ib. — dU. rausiü rausiaü
raüsti wüblen; rausis m. N Höhle, kürm-ratms m. Maulwurfsbaufea <«
ie ratiset; rausaü rausyti iter. (zu raüsti); le raustelet dem. zupfen.
U. ruszus N geschäftig, rührig - rusziu ruszeti; rmzauti N ge-
schäftig sein; rüszinti berühren. — 'Ä. ruszti JSv 6 besorgen (präs.
Sz unter sprawuj^: rusziu, geschr. ruosiu), ap-si-ruszii [apS) sich zu
thun machen MLG I. 376, dss. G sich tummeln, vgl. JSv 6 had [gaspa-
din(i\ rusztu sävu rusztq aplink ühj; ruszus Sz (unter sprawny) ge-
schäftig, rührig, le rüschs {= *rusjas, Vertretung von ^rusus) dss. -'
rüszavo-s 3. prt. schaffen, arbeiten MLG L 377; le rusUe-s geschäftig
sein. — UU» ^.räuszau räuszyti M (wenn nicht Fehler für rausaü)
wühlen.
dU, le skauju skaut umarmen. — ÜV. le prät. skäwu (zu
skaut) '^ le skäwet iter.
ClUm le präs. schkauju und schk'aunu, schk'aut niesen, vgl. schk'ewas
f. pl. das Niesen; le schk'audas f. pl. dss. - le schk'audet niesen. —
Ü/V» prät. le schk*ätvu.
U. pra-skundü skudaü sküsli anfangen zu schmerzen, zu er-
müden; skündzu skündzau skifsti klagen, sich beklagen; le skundu
skundit missgönnen, murren, wohl denom. zu skundä Anklage, pra-
skunda NQu Schmerz, nü-skünda J 539. 7 Mitleid; skudurelis G Ge-
schwür; skudrus Sz scharf (unter ostry) IG 84, vgl. skudrus kirvis,
peilis = scharf MLG I. 233, bei G auch »flink, geschickt« - sküdinti
weh thun machen J 643. 18 (mit ü); le skundet missgönnen, murren.
— dUm skaüst skaudeti schmerzen; le skaufchu skaudu skauft neiden;
le skaudel dss. (vgl. indess le skau^is Neider, lit. skauge Neid G,
skaugus neidisch G) ; skaudulys Geschwür; skatismas J 961. 7 Schmerz;
le skaudrs scharf; le skaudre scharfe Kante; skaudüs schmerzlich.
U, skulü (le skütu = *skuntu) skutaü sküsti schaben, scheeren;
skütas i 651. 9 kleines Stück; skutä Staub, skütos Abschabsei; skutnä
N Kahlkopf, nach KLD auch »abgeschabte Stelle«; skuste N dss. --
skutineti dem. iter. (zu sküsti). — "Um le skutite-s sich schubben. —
(tu. Ie schk'aute scharfe Kante, lit. skiäute Hahnenkamm, Flick;
le schk'auteris scharfe Kante, lit. skiaulere skiauture Hahnenkamm.
Ü. slügstu slügau slügti <>ich setzen, abnehmen (von Geschwulst).
— ClU. pa-slauginti Jemand bei der Arbeit vertreten BF 174, vgl.
pa-slaugpi i 1487. 8 {äsz säva matuszeles daugiaüs neslaug^siu
^'^] Der Ablaut der Wurzelsilben iu Litauischen. 309
1487. 9; jau män^s neslaug^si i483. 5; pnjimkit martel^ man uz
slaugelf^ also ein Nom. slauga-), paslauga B III, 59 von Forlunatov
als »Hilfe, Hilfeleistung« gefasst. — Zusammenst. zweifelh., jeden-
falls zu slav. sluga.
U. smunkü smukaü smükti hinabgleiten; sthsmükelis zusammen-
gesunkener Mensch; f smükles Schilfgras. — (lU, smaukiü smatJüaü
smaükti aufstreichen, streifen; par-smaukas (= per-) G wahrschein-
lich »Streifen«.
U. le smulis Sabbeier, le smul'a dss. <^ le smutät^ smulinät
sabbeln, sudeln. — (tu. le smaulis und smaule Fresse - le smaulet
sabbeln.
U. snudä und snüdis KLD Schläfer, Träumer. — Ü. snüstu
snüdau snüsti einschlafen (einnicken). — Cltl. snäudzu snäudzau
mämti schlummern; le snauda Schlummer; le snaufcha verschlafener
Mensch; snaudälius^ le snaudafa schläfriger Mensch ; matidul^s Schlum-
mer - le snaudet iter. ; le snaudekt dem. (zu snauft),
O/il. le sprauju^s spraute-s ULD emporkommen, empordringen
(z. B. von Saat) ; spriaünas^ spriaunüs stattlich, keck. — CiV* le prät.
spräwü-s (zu spraule-s),
Um spriüdulas KDL s. v. Knebel (bei K alle Formen mit er-
weichtem r, richtiger wahrscheinlich ohne Erweichung). — Ü, sprüstu
sprüdau sprüsti intr. herausdringen aus einer Klemme, herausfahren,
le sprüstu sprüdu sprüst eingeklemmt werden; le sprüds Knebel;
le sprüslis dss.; sprustis IG 149 f. i-St. Gedränge (wahrsch. ö). —
dU. spräudzu spräudzau spräusti zwängen, le sprauft; le spraude
Zäpfchen; le sprausla Gestell zum Einstecken des Pergels; spraustis
m. N Sperruthe des Leinewebers - spräudau spräudyti, le spraudii
iter. (zu spräusti).
U. le sprüku {=. ^sprunku) spruku sprukl entspringen, entwischen,
lit. spruka 3. sg. prt. WP 60 entschlüpfte, iszr-sprük^s entschlüpft MLG
I. 366; le spruksis ein Leichtfüssiger. — (lU* le sprauzü-s spraukle-s
entwischen. — Vgl. sprügstu sprügau sprügt N entspringen, entwischen;
le sprauga Zaunlücke, lichte Stelle; ?le spraudfu spraudfu spraugt,
iter. spraugät grob mahlen, schroten.
ClU^ spiäuju spiäuti speien (le spl'aut) ; spiäudalas Speichel ;
spiäudelis Spuker; le spl'audeklis Spuke -- spiäudau spiäudyti iter.
310 August Leskien, [*8
speien. — OV. spiöviau^ le spl'äwu präi. (zu spiäuti^ le spl'aut) ; spiö-
vimas nom. act. ; spiovejas; spiovikas nom. ag.
U. Ü. pa-spudeti B sich quälen, sich abmühen ; spudinti WP 54
eilen, sich davon machen [spudina isz mesta), so auch bei G »ent-
wischen, davonschleichen^, vgl. MLG I. 379 is^spüditw isz übersetzt
mit »kam aus ...a. — du. späudzu späudiau späusti drücken; spaudä
N Presse, prespauda Bedrückung; spausiüvas und spatistüve Presse -
Spandau späudyü iler. (zu späusti).
U. pa-srüv^s pt. prt. a. blutunterlaufen, pasrüvo 3. sg. prt. [aszaras
zmoniun dar didesnei pasruwa) fliessen IG 1 49; srudzu Sz (unter rozkrwa-
wic)^ prt. srudzau sruMi N blutig machen, le slrufchu strufl ULD eitern;
sruja (ü?) G Strömung; srutä Jauche, le strulas f. pl. Eiter, Jauche. —
U. le sirükla und slrükle Wasserader, Wasserstrahl, vgl. N strukle
Abflussröhre, Wasserstrahl, %*a siriüklemis KLD regnet in Strömen,
strükleis MLG L 71 dss. — Uli. sraviti sraveii sickern, leise fliessen
(wohl denom.) ; sravä N Fluss (z. B. menstrua), prä-srava Blanke (nicht
gefrorene Stelle) im Eise, bei N prä-sravas; sraujas Sz (unter bystry)^
slraujas N reissend, slrauje upe BF 1 77, le straujsch (= slraujas) ; le
strauls reissend; le straule Stromenge; le straume Strom; srauniis
[upelis) fliessend, strömend ; le strauls Regenbach, lit. srautas G Strom -
srävinti bluten machen. — OV. srove Strom, le sträwa und sträwe -
le sträwöt strömen.
li. sriubä Suppe. — "Ü* srubiü srfibiaü srubti schlürfen. —
Cltl» sriaubiu sriaubiau sriaubti Sz dss. (unter pohjkam),
Ü. stügauti NSz heulen (w nach KLD). — (lU. staugiti staugiaü
slaügli heulen (von Wölfen).
U, subine Hintere. — t€. süböti^ sübuti schaukeln, mit dem
Körper wackeln. — ObU. ?le schaubit zum Wackeln bringen (setzt
ein siub' voraus).
1€. sugiu sugiau sugti heulen, winseln NQu. — Ü* le südfu
südfet klagen. — Cltl. saugiu saugiau saugti N tönen, schallen; N
daneben saukii dss., vgl. dazu nu-saukli MLG L 230 beim Gesänge
dehnen, sauküti MLG L 233 dss., aber auch »heulen« [kaip vilks).
U. sukü sukaü sukti drehen; le süku (= "^sunku) suku sukt
(eigentl. »sich drehen, winden«) entwischen, schwinden; ap-sukai
adv. N gedreht; ap-suka Sz Wirbel (cardo), apsuküs Sz drehbar (unter
nieobrotny)^ susuka N WlnkrlziXge; f päsukos DiUermWch; ap-sukalas M
id] Dbb Abladt der Wurzelsilben im Litauischen. 311
Thürangel; le sukrs drall; sukrüs beweglich, flink; sükata Dreh-
krankheit; sukütis Kreisel; sukluve' Drehscheibe <^ sukau sukyti N in
die Runde eggen (iter. zu siikti) ; sukineti iter. dem. (zu sükti ; vgl.
bei NSz mkinis Kreisel). — Ü. eik sükais pack dich KDL (unter
»packen«); sükur^s [ü K) Wirbel, Wirbelwind. — "Ü. pri-sffkti be-
wegen zu, zwingen, z. B. WP 37 ne maz zmoniu prisuk^ itiketi i
Kristin u. ö. — (tu. ? pa-si-sauklinti »höher sich machen zu sitzen« NBd.
U* 8um susaü süsii räudig werden, le susu susu sust trocken
werden; nti-süselis Räudiger, Grindiger. — Cttl* saüsas trocken, denom.
saustü samaü saüsti trocken werden, den. satisiü sausifti^ le sausH
dss. ; sama N Dürre; sailms m. Räude; le saumis vertrockneter Baum ^
saüsinti trocken machen.
U. siuniü siulaü siüsii toll werden, le schütu (= ^siuniu)^ schuiu
schusi böse werden; püs-siulis halbverrückt; pa-siüUlis Rasender;
siuslas N Wtithrich; siüsla Toben - le schutinät böse machen. —
CXM« siauczü siauczaü siäusti wüthen , toben , ? le schamchu schauiu
schaust stäupen <^ siaule'ti dur. toben.
"A, szlü'ju szlü'ti wischen, fegen ; szlfüa Besen «^ szlustau szlustyii
iter. — (tu. prät. szlaviaü; szlavimas nom. act. ; szlave'jas nom. ag. ;
sq-szlavos Kehricht -- szlavine'ü iter. dem. (zu szluti).
!€• le schl'üku (= ^sliunku) schluku schl'ukt glitschen; szliuksztu
KLD [ ] gleiten (auf dem Eise) ; szlukszUjnd {szliuk.) Rutschbahn auf
dem Eise - szluksztindti N iter. — Ü. le schVüzu schl'üzu schtükl
spinnen (gleiten machen) -- le schVükät iter. (zu schl'ukt) ; le scMüzinät
gleiten machen. — Ä, ?le schXuka Weg, den das Vieh im Getreide
tritt, Spur im thauigen Grase. — CLU. le slauzu slauzu slaukt melken ;
le nüslauka woran man etwas abwischt, le paslauka Abschaum;
\e slauze Milcheimer; le slaukulis Wischtuch; le slaukts Geschirr mit
Öffnung im Boden; le slauktuwa Milcheimer «^ le slauzit wischen.
U» szluzai N Steinschleife , szliüzas (mit i K) Lab, nach N eine
Fischart ohne Schuppen; szliüte Schwert am Kahn, pl. Schlittschuhe
(KLD schreibt den pl. szliüies) -- le slufchät und schl'ufchät schlurren,
glitschen. — "&• szlüiiü szluziaü szluzti schleifen (z. B. ein langes
Kleid auf dem Boden) . — dU. szliaüzti^ prt. 3. sg. szliaüze schleichen
J 1 66. 7, szliauiti kriechen Sz (das slauziu bei KLD aus Sz ist eine
Verlesung für gelegentlich bei Sz vorkommendes slauziu^ d. i.
szliauiiu) .
Abhandl. d. K. S. Uesellsch. d. Wissensch. XXI. 22
312 August Leseien, [^0
U» le schAukurs Rotznase '^ le schtiukstM schnuckern, schluchzen ;
szniuksztuü schnauben (vom Pferde) J 1174. 20. — Ü. \e schüüzu
schnüzu schnükt schnauben; le schMka Nasenschleim. — CLU* le sckAauzu
schiiauzu schnaukt schnauben, vgl. lit. szniaükti (Taback) schnupfen
J 248. 1, szniaükqs pt. prs. a. J 858. 11 : le schAauze Prise; le schnau-
kalas f. pl. Nasenschleim -- le schnaukät iter. (zu schnaukt).
Ü» szüvis m. Schuss. — Clll. szäuju szäuti schiessen, le scliaui
= "^sziaiUij nu-szavaü 1. sg. prt. J 1257. 4; paszavä (und paszuvä N),
»ein Beifaden beim Weben, der durch den Kamm nicht gehoben
wird«; le schaudrs hastig, hitzig; szaul^s Schutze J 834. 5 «^ szäudau
szätidyti iter. (zu szäuti) ^ le schaudUy vgl. le schaudeklis Weberspuhle,
lit. szaud^kle Weberschiffchen. — OV» prt. szaviau^ le schäwu^ (zu
szäuti); szövimas nom. act. ; le schäwums; le schäwöns dss.; nü-szovis
m. KLD [ ] Stromschnelle.
U. szunkii szukaü sziikti aufschreien. — Ü, szükauti iter. schreien;
sztiktereti dem. iter. — ClU» szaukiii szaukiaü szaükti schreien, rufen;
szaüksmas Geschrei; szauküs N schreiig ^ le saukät iter. (zu saukt);
szaukine'ti dem. iter. (zu szaükti).
U (w?). pa-szune B Kraft, Stärke. — ClU. szaünas und szaur-
rm^ derb, tüchtig.
U. szuntti szulaü szüsti intr. gebrüht werden, schmoren, le sütu
(= ^suntu) sutu sust heiss werden, bähen; le suta Bähung; le suti
m. pl. dss.; atsuczei NBd Flachstrespen; le sulnis m. schwüles Wetter;
le smla schlechter Absud ; nu-szütelis Abgebrühter (Schimpfwort) ;
le sutra Dunst ^ le sutöt trans. bähen, brühen ; sziitinti trans. schmo-
ren; le sutinät trans. bähen, brühen. — Ü. le süstöt iter. (zu smt).
— (tu, idant surink^ saujq zolin isz to szeno sav valgi iszvirtumes^
bet parneszusis retai patys tq szautq (etwa: Brühe) te-srebe WP 61 ;
le saute und sautrs »ein Frühlingsgericht aus Nesseln u. s.w.« -- le sautH
trans. bähen, brühen.
U, trunkii trukaü triikti sich verziehen, zögern, le sa-trüku
(= trunkii) truku trukt zusammenfahren, erschrecken; patrukis m. NSz
Zögerung; triikszmas Zug, Menge (von Thieren z. B.); le truksnitis
Bündel; uz-trunkus N säumig (wohl prt. präs. = trünkqs) - trukdaü
trukdpi; triikinti; trükdinti causa tiva (zu triikti); trukiniuti zögern
J 41. 12. — f€. trükstu trükau triikti intr. reissen, le auch: ge-
brechen, fehlen; trtikis m. Zug, Riss; nu-trükelis KLD [] Galgen-
/
K^l Der Ablaut der WuRZELsaaEN im Litalischen. *^lä
strick; galva-trükszczeis i. pl. no. über Hals und Kopf - trüknöti
zucken; le irüzinät mangeln lassen, mit if- erschrecken Irans.; trük-
szczoti zucken; trüktereli^ vgl. trükleliu LB 346, zucken. — (lU. träukiu
träukiau träukti ziehen; per-traukas^ Wegegeld; per-lrauka NSz Zer-
streuung; trauktuve NSz Winde -- Iräukau träukyii Her. (zu träukli) ;
le trauzet Irans, aufschrecken; le trauzinät erschüttern; traukineli iter.
dem. .(zu träukli).
U* Ufipü trupeti intr. zerbröckeln; su-trupos Sz Schutt; Irupin^s;
trupul^s Brocken; h'upüs bröcklig -- trüpinii; le trupinäl trans. bröckeln.
— (tu» traupus MLG I. 391 spröde. — Vgl. Irapus^ le Irepans und
trapains morsch, le treppt und trapet verwittern.
U. le trusu trtist struppig werden; le irusls zerbrechlich. —
U» hiüsai die langen Schwanzfedern des Hahnes ; ? trtmü [triüm))
trüsiaü irüsH sich bemühen, geschäftig sein; trüsas {iriüsas) Be-
mühung; trüsffti; trüsineti iter. (zu trüslt). — Cltl» le Irauschs
(= *trau8Ja8) zerbrechlich; le IrausU dss.
Um le lüw8^ tüU^ tüms nahe. — dU. ? le laujät fragen, forschen
nach; le taustU tasten; pr tawischan (1. taviska-) a. sg. Nächster,
Nachbar.
tC. tunkü tukaü tükti^ le tüku (= Hnnku) tuku iukt fett werden ;
le lukk feist; lit. tuklns mästbar; tukrm dss. '-> tükinli fett machen.
— 1*. le tukstu lilku tükl schwellen; le tüks Geschwulst - le tüzet
schwellen machen. — ClU. le tauks fett; tatikai Fett ~ taükinti fetten.
U» le tupju tupu tupt hocken; tupiü tupeli hocken, kauern,
le tupet\ uz-tup^s der dritte Mann einer Frau ~ tupdaü tupdpi hocken
lassen J 170. 4; tüpinti] le tupinät dss. — U. tüpiü tüpiaü tüpii
sich kauern; le tüplis Gesäss - tüptereti dem. (zu tüpli)] tiipczoli dss.
— (JtU» siP-taupyti aufeinanderlegen, z. B. lüpas, die Lippen zu-
sammenkneifen, Uberh. zusammenhalten, sparen, le taupU aufhalten,
schonen, sparen; bei G auch ein taupti schonen, pflegen.
ft. udis m. einmaliges Gewebe, das Weben eines bestimmten
Stuckes. — (tu* äudzu dudzau äusti weben; le aiidi m. pl. Gewebe,
at-audai Einschlag; at-audos N dss.; äudeklas Gewebe.
U. "frud-ugp September. — Ü. pa-^o 3.sg. prt., WP 38 wuchs
auf, pa-wj^ prt. prät. a. ib. 86 erwachsen (ö ?) ; uz^ugiu NSz er-
ziehe (ö?); ügp und ügis m. Wuchs, Jahreswuchs, uz-ügis m. NSz
Erziehung; üglis m. Wuchs, Schössling - pa-ügeti KLD, pa-si-ugeti
22*
314 AuGcsT Leskibn, [^i
J 466. 2 heranwachsen; uginti B aufziehen (w?); ügtereti dem.
wachsen. — li. ügis N Schössling, ^ szil-ugis Haidekraut; üglis N
Schössh'ng. — (111. ätigu äugau äugli wachsen; le angs Gewächs,
lit. per-äugas schmerzhaftes Hautgewächs; augä N Wachsthum, isz-
auga N Auswuchs in der Haut, le at-augas f. pl. Wiederwuchs aus
der Wurzel; le ataudfe dss.; augltis N Gedeihen; le auglis Frucht,
Gewächs; äugalim Wachsthum, äugalüti schnell wachsen; augmu
Jahreswuchs; "f äuksztas hoch, vgl. pr auktimiska- Obrigkeit; äugyve
Mutter; pr augm geizig (nach Fick II, 706) - le audfst aufziehen;
auginti; le atidfinät dss.
tl. ? unksna Sz Schatten, vgl. uksne dss. B. — Ü. iiksta üko
likli N sich beziehen (vom Himmel) ; tikas caligo N. Test. Trow. AA.
13. 11; üir-üksmis m. wettergeschiltzter Ort, uz-uksme dss. IG 66;
tikana bewölkter Himmel; ükanas bezogen, bewölkt «^ tikstati-s ükstyli-s
sich beziehen (vom Himmel). — Cl/U. le auka Sturmwind.
tl. zlungü {zliungü K) zlugaü zlügli^ präs. auch zlugslü triefen,
von Wasser durchzogen sein; zlüklas Bückwäsche; ilüklis BF 203
das Waschen - zlüginii J 870. 4 anfeuchten, durchs Wasser ziehen.
— fl. zliüges KLD [ ] »feinblättriges Wasserkraut, Miere«. —
au. ilaükiys f. pl. Traber.
U. prät. zuvaü; zuvitnas nom. act. Umkommen; pra-zuvä Sz (ii?)
Untergang, vgl. pra-zuvas BF 158 (ö?) Verlust. — le füdu (= ^fundu)
fudu fuft verschwinden, verloren gehen ; imog-zud^s Mörder »^ itidaü
zudpi umbringen; le fudinät verloren gehen lassen — Ü. präs. iüvu
züli umkommen; le füdUa-s sich härmen. — dU. m-zaveli WP 228
verderben, krank machen; iavinti tödten; le faudBt verderben,
verlieren.
U. zuvis f. Fisch; pr zukans a. pl. Fische; zukl^s KLD [] Fischer,
zukläuli ib. Fischerei treiben ; bei N nach Sz zustu zuvau zuii fischen
(lies: ö). — €I/U. pa-ziäune Flosse. — Vgl. zvejä Fischfang; zvejp
Fischer.
U. ziuklereti M mucken, mucksen. — €ltl. iiäukczäii ziäuk-
szczuli Aufstossen haben. — Vgl. zekter^ü Aufstossen haben (bei KDL
unter »schluchzen« auch zektereti)^ zeksiü zekse'ti iter., zekczoti iter. K;
mir ist die Aussprache ziklereti bekannt, das von ziiditere'ti kaum zu
unterscheiden ist; vgl. ferner zegulp K SchlixckeUj zagsyti schnucken,
zagiUis MLG 238; bei Sz (unter szczkam) ziaksiu ziakseli.
J
^3] Der Ablaut der Wurzelsilben lu Litauischen. 315
Es folgen die primären Verba mit Uj au ohne Ablaut, mit Aus-
schluss wieder der deutlich onomatopoietischen. Die Verba mit
innerem u sind hier ausgeschlossen. Innerhalb der Verba mit u
sind diejenigen weggelassen, welche auf Liquida oder Nasal -j- Con-
sonant auslauten, da bei ihnen keinerlei Vocal Wechsel vorkommen
kann; bei den mit stummem Consonanten oder einfacher Liquida,
einfachem Nasal auslautenden kann ü eintreten, für welches Beispiele
angegeben werden.
u u.
fl. blükstu bliikau blükti N schlafT, welk werden, von den Mus-
keln; isz-blükfs N erschlafft; bltiksztu blüszkau blükszti N dss.
U (tl^?)« blum blusau blusti NSz verzagen, traurig werden.
U0 be-hruzdant ger. WP 48, bruzde 3. sg. prt. ib. 41 sich auf-
halten, seine Thätigkeit irgendwo haben.
U. bruzgü bruzgeti rascheln, vgl. bruzgai Gestrüpp, Schi. Lsb.
schreibt die Ableitung brfizgpias (Strecke Gestrüpps); darbeliu bruz-
giüju (nom. sg. wohl bruzgüs) J 300. 15; dvi verpe bruzgetm, treczöji
Uneliiis szukävo J 77. 9 (vgl. bruzgülis KLD Knebel u. a., bruzguliuti
KLD »knebeln, klöppeln, würfeln«).
U. buvaü prät. ; buvimas nom. act. ; buias Haus (nach Fick U.
618) ^ buvineti dem. sich eine Weile aufhalten. — Ü. inf. büH sein;
büvis m. Aufenthaltsort; bükla^ bükle Statt, Wohnstatt, u. anderes,
dessen Quantität nicht sicher steht.
U» bukslü oder bunkü bukaü bükti stumpf werden ; buküs stumpf.
Um buriü bürti allerlei Wahrsagerei oder Zeichendeuterei trei-
ben; bürtas Loos; burla Zauberei WP 228, vgl. le burla Verzeich-
niss, burtas-küks Kerbstock; le burvis Zauberer. — ^ Ü, buriau prät.
(zu bürti) ; bürimas nom. act.
tl. dumiü dümti decken, zusammentragen. — Ü. dümiau prät.
(zum vor.); dtimimas nom. act.
U. iszr-dumtumbit 2. pK opt. bei B (Übersetzung von Luthers
»pajusteta Hieb 6. 26), von ihm mit slav. d^fnq, dqti zusammenge-
stellt, dann wäre u aus a entstanden. Bei der Masse von Schreib-
fehlern der betreffenden Quelle (Bretkun) ist ein solches vereinzeltes
Wort unsicher.
Üb düzgu düzge'ti (= dunzg-Tj dumpf dröhnen.
316 AcGcsT Leskien, [5*
II. äuriü dnrti stechen; dürstau dürsttjU iter. — t€. präl. rff-
riauj le düru; dürimas; le dürums; le dürens nom. act.; le dürBjs
Stecher; duris m. Stich.
?€• ie glünti glünH lauern.
II. grumbü grubaü grübti holperig werden ; grublai Unebenheiten
(z. B. im Wege/; grubüs holperig; le grumbu grumbu grtifnbt Runzeln
bekommen; le grumba Runzel; le grumbud Unebenheilen.
M. grumiti-8 griimli-s ringen. — U. grumiat^s prät.; grümimas
nom. act.; grümikas nom. ag.
t€. gundü gudaü güsti klug werden; gudrüs^ le gudrs schlau.
tl. le gumsiu gumti gumt ȟberfallen, sich langsam auf einen
senken« ULD.
t€. le gurstu guru gurt ermatten ; le gurdens ermüdet, matt, vgl.
man szirdis gürsta mir bricht das Herz, bei N sich legen (vom
Winde), bei N auch ein gurti bröckeln, gurus N bröckelig, su-gurinti
Sz zerbröckeln trans.; bei M ein aüsys gürsta die Ohren gellen.
tl. su-si-güzti^ prt. prät. a. -güzfs sich zusammenkauern ; güsztä
Lager (eines Hundes, Huhnes) u. a. Abi.; dazu wohl guzine'ti Blinde-
kuh spielen (?!?); G hat ein guiti beschützen (syn. mit glöbti); Schi.
Don. i-si-giisztfs sich eingehüllt habend, nach K ist das fem. 'güsztusi;
vielleicht ist auch gmzczusi möglich, das käme dann von einem iter.
güsztyli, — Vgl. bei Sz (6o;V ^^) i^si-guftu (ebenso unter przelfh-
nqc «ip), lies i.
t€. le jumju jtimu jumt Dach decken. — tl. le jümu Form
des Prät.
Ü. ne iinaü keliu^ kltihiu päkeliu (Bedeutung ?) JSv 1 7, isz-kltik^s
{platiczu biski) ib. 73; ? dazu auch kur pakluk {lüde ir müsze ne-
kaum kalalikus WP 53), nach G »hie und da«.
tl. Ü. le ktlupt und knüpt zusammengekrümmt liegen, vgl. lit.
kniüpsau kniüpsoti gebückt dasitzen; knüpszczas auf dem Gesicht lie-
gend; le knüpi$ adv. gebückt; vgl. auch le kntibt {sä-) biegen, knur-
Unat (knoten), lit. kmibu NBd gebückt sein.
tl. kruniii kruni'ti hüsteln.
tl. at-krüsti, prt. krüsaü BF 129 aufleben (vom Erfrornen),
sich erholen, präs. wohl krüstü,
tl. krutu kruteli sich regen; krutüs N rührig. — tl. krütuliu^
krülulioju iter. dem.
55] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 317
U. le kukslu kuku kukt die Flügel hängen lassen; ? vgl. pa-si-
kiuksedama tai verke mergele J 1128. 12.
tl. kuliü kidti dreschen; \e kuls Tenne u. a. Ableit. — M. ktl-
liau prSit. ; külimas; le külums nom. act. ; le küls ein nach dem
Dreschen zusammengestossener Getreidehaufen; küle Dreschzeit.
U* kuriü kürti bauen, heizen (Feuer anmachen; der eigentl.
Begr. scheint »schichten« zu sein) ; le kurstu kuru kurl intr. heizen.
— U. prät. küriau; kürimas nom. ac(.; le kürSns malkas Holzhaufen
zum einmal. Heizen; kürejas; kürikas Heizer '*• kürenli' iter. heizen.
i€. le ap-küpstu küpt$ küpt beräuchert werden; le küpu küpet
rauchen; vgl. lit. küpffti keuchen u. s. unter kvep-.
tl. kustü und kuntü kutaü küsti sich aufrütteln, sich erholen;
kutu kuteti N aufrütteln, le kut{a) kutH kitzeln; le kutinät kitzeln
trans. ; kutd Quaste, Franze; kutrus N hurtig; kutenti franzen, fa-
sern u. s. w.
l^t). küisziu küiszau küiszti KLD sachte und mühsam laufen.
t€. kiuzü kiuiaü kvuiti KLD [ ] wimmeln, kribbeln.
tl* sur-lüjo 3. sg. prt. bellte auf, KLD giebt den inf. als li$iti
an (ob der je vorkommt?).
tC. ? Ittgnas N geschmeidig, biegsam, palügnas N gefällig, schmeich-
lerisch, palugnüs dss. (J 1190. 4 das fem. geschrieben palügfii). —
Ü» le lüdfu lüdfu lügt bitten, lit. lugoti bitten G (Quantität zweifelh.).
U. mmzü mmziaü müszti schlagen. — Ü. müszis m. Schlacht.
U. m-niürf8 prt. prät. a. finster, sauertöpfisch aussehend KLD;
pa-niürelis Gluper. — H* tiiüriü niürüti glupen KLD [ ]. — Ablei-
tungen wie niuTomis ziure'ti u. a. mit zweifelh. Quantität.
tl» pliuszkiü pliuszke'ti schwatzen , plappern (onomat.) ; plimzis
Schwätzer.
tl. le pur^t^ purinät schütteln, rütteln; bei J 774. 15 kaseles st^
piiru (3. sg. prt.) die Haare sind aufgelockert, wirr (wohl ü zu
lesen, vgl. dort); ?le pums und purna Schnauze, Rüssel; f purvas
Koth -* purlau pürlyli rütteln iter. — Ü, pa-pürfs pt. prt. a. aufge-
rüttelt, lose liegend, isz^pür^s KLD innen faul, hohl (von Bäumen),
le if-^üris struppig (wohl .part. prät. a.) ULD -^ pürinli auflockern.
Ü, le füzu füzu tükl brausen, brüllen.
U, rumiü rümti N stampfen, rümli-s G sich balgen. — Ü* ru-
miau prät. — Accente u. Quantität nach Yermuthung angesetzt.
/
318 August Leskien, [56
tu rüzgiu rüzgeti murren; rüzgm N mürrisch.
U, pa-skumbü skubaü skübti eilig thun, fertig werden mit; da-
von z. B. 8kubÜ8 N eilig; skubrüs dss.; skübinli beeilen u. a.
U. le nü-skumstu skumu skumt traurig werden ; le skumjas f. pl.
Kümmernisse.
U (i^?). snuzti^ 3. sg. snuz rauschen G.
U. le spurstu spuru spurt intr. ausfasern; le spurs Faser.
Ü. stügstu stügau stügti steif, in die Höhe stehen KLD; Schi.
Lsb. hat ein inch. pa-stügü stugaü stügti steif werden (ob die Quan-
titäten sicher?).
tl. stumiü stümti stossen, schieben. — Um stümiau prät.; slü-
mimas nom. act. ; stümikas nom. ag. -- pa-stümeti KDL (unter
»drängen«) dem.
U, siuvaü prät.; le präs. schuju^ prät. schuuni; siuvimas nom.
act. Nähen; siuvejas; siuvikas nom. ag. ; siuvinp ^ISAizeug ^ siüvineti
dem. iter. — Ü» präs. »iüvü inf. siüti, le schünu schüt; siülas Fa-
den; siüle Naht ^ le schüdit nähen lassen, lit. siüdyti J 27. 15.
U. supü supaü süpli trans. schaukeln. — Ü. süp^ne; süp^kle
Schaukel «^ ^t/|}m(i schaukeln; le schüpät^ schüput wiegen (setzt ein
siup- voraus).
U. le schukstu schuku schukt schartig werden (wäre = szitik-) ;
szükos Kamm; szüke^ le schtike Scharte, Scherbe; f sziükszmes feine
Späne, Geröll u. dgl; sziukszti du na Brot von ungereinigtem Ge-
treide. — le schukt soll auch »erschrecken, beben, klappern« bedeu-
ten (s. ÜLD), daselbst auch ein schaukuns Schauder. — ?Dazu lit.
szäuksztas Löffel (= Scherbe?).
U* szupü szüpti KLD [ ] faulen (von Holz), surszüp^s pt. prt. a.
verfault.
Ü. pa-sziürü sziüraü sziütii KLD [ ] schauern intr. (von der
Haut); gleichbedeutend sziürpti; ersteres aus dem Deutschen?
U. truniü truneti faulen, modern (K schreibt triuneti)^ le trunet^
wohl denom. von einem St. ti-una-^ vgl. le trüdi m. pl. Moder, trüdöl
modern.
U» pra-türslu turaü türti MLG in Besitz kommen, reich werden
(bei KLD [ ] turstü turstaü türsti als denom. von türtas Habe) ; turiü
tureti haben.
Um üziü üziaü üzti sausen, rauschen.
57] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 319
Ü. pra-ziürstu iiüraü ziürti zu sehen anfangen, sehend werden ;
iiüriü iiüri'li sehen.
au.
aunü aviaü aüti Schuhwerk anziehen, vgl. von Ableitungen:
atJile Fussbinde; aiUas Stiefelschaft; avalai G Schuhe; aütas Fuss-
läppen; aviü aveti Schuhe anhaben.
aüszta aüszo aüszti anbrechen (vom Tage) ; le ausa Tages-
anbruch; auszrä Morgenröthe.
ämzlu ätiszau äuszti ktthl werden; le anksts kalt.
czauszkiü czauszkiaü czaükszti rieseln.
gauju gaujau gautif NBd heulen (von Wölfen). — Sehr zweifel-
haftes Wort.
le ^aubju ^aubu ^aubt ergötzen, doch auch ^augte-s sich er-
götzen ?
kiäusziu kidmziau kiäuszti nach KLD Scherzwort fUr »schnell
gehen«.
maumiu mugio Sz.
mattsziu mausziau mauszii N brünstig sein (von der Kuh), vgl.
BF 140 käp maüszes (= kaip manszis) manp maüsze (= maüsze) »er
rannte, indem er ohne aufzusehen vor sich hin ging, mich über den
Haufen«, uz-mauszti ibid. »auf etwas treten, laufen«, mauszis »bedeutet
vermuthlich brünstiges, stössiges Thier« ibid.
le paufchu paudu pauft, iter. paud^t ruchbar machen, unter die
Leute bringen.
saubiü saMaü saübli toben, rasen (= wild herumlaufen) ; pa-
saubä wer viel herumtobt, vgl. pimaubulele [karvele) i 736. 1 (KLD
hat sovvohl saubiü wie siaubiü); saubl^s dss.
naudzu siatulzau siausti summen (von Bienen J 157. 2), rauschen
(von Fichten J 434. 3).
säagmi und säugu (meist saugöju) saiigöli hüten, bewahren, le
saudfu saudfet schonen. «.
siauczü üauczaü siaüsti einhüllen, umgeben; siaustüve JSv 15
{szilkü 8.) - siaustpi iter. ibid. — WP 274 übersetzt den Namen
der christlichen Secte Circumcelliones durch pasiutelei (gemeint ist
wohl pasiütelis Rasender, Tobender).
su-9i-8klau8ti (W. t) G sich zusammendrängen, ausis sklausli G »die
320 AcGcsT Leskien, [58
Ohren zusammenziehen«; sklaustas G Gewölbe. — ? vgl. slaudzu slausli
NSz drücken, drängen.
skraudu skratisH NSz rauh werden ; skraudus NSz rauh, brüchig.
smäugiu smäugiau smäugti wUrgen, nach N auch »ohrfeigen^, vgl.
le schmaugu schmaugu . schmaugt einen Schlag (auf den Mund) geben.
— Für den Begriff »würgen« hat das Lettische fmaudfu fmaugl;
fchmaudfu fchmaugt; fchnaudfu fchAaugt.
ap-sraupiu »umfassen, poln. ogarnywam« G.
8zidu8zit(-8 8ziäu8ziau-s 8ziäuszti~s sich sträuben (von Haaren u. s. w.);
le 8chau8ma8, le 8chaU8chala8 f. pl. Schauder.
täu8zkiu lauszketi anklopfen (onomatop.?, tot//»z< ist die Interjec-
lion, welche den Schall des festen Anklopfens bezeichnet).
in. a) i i e e a o (ä).
t* biUtu JSv 1 7 bilti B zu reden anfangen ; le bilfchu bildu bilft
reden (in compos., eig. inchoativ); le aibilda Antwort ~ le bild^l^
präs. 6t/du iter. reden; le bildinäl caus. anreden; pr bilUwei reden (im
Katech. immer //, also i). — t^ bylä Rede, Process, davon ne-bylp^
f. -e Stummer, prll8zbyli8 widersprecherisch, bylüs JSv 14 redefertig
'*' bylineti iter. processiren; bylöti reden. — Ct. bälsas Stimme.
i. bildu bilde ti poltern intr. ; bildesis m. Geklopfe NBd '^ bil-
dinli caus. klopfen. — €• beldiu bddzau bikti klopfen; beldu beldeti
N klopfen. — d, baldas N Stössel, baldus stössig, holperig (vom
Wege) -' bäldau bäldyli iter. (zu bekti).
i. bimbe 3. sg. pit. J 1090. 6 summen; bimbilas bimbalas Ross-
käfer. — CIb bambu bambe'li brummen, vgl. le bambät^ bamb€t hohles
Geräusch machen; le bambals bambuis Käfer.
t« bing8lü bingaü bingti muthwillig werden (eigentl. wohl »sich
heben«); bingm muthi^ (von Pferden). — e. bengiü bengiaü bengti
beenden (eigentl. heben) ; pa-bengtüvis Schmaus am Ende einer Arbeit.
— ^d. bangä Welle; le bügs und buga dichte Menge, vgl. lit. pra-bangä
Uebermass (und Sz [u. rozrzutnos'c profusio divitiarum] prabinkte;
prabingeja8 prodigus) ; pä-bangas u. pabangä Beendigung; batigüs letalis
i 1204. 4 (übermässiger? Regen), bangÜ8 alüs widerlich (»der sich
wieder hebt beim Trinken«); bangtas KLD ungestüm; bänglos jüriu
ebend. Ungewitter.
^9] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 321
i. prät. biraü birti (zu präs. byrü) sich verstreuen, ausfallen, le
präs. birstu; pa-birp was sich stieut; le pa-bires f. pl. ausgefallener
Same; le birda feiner Schnee, Staubregen; ?le birfe »Strich Landes
zwischen zwei Furchen, dessen Breite der Säei* mit einem Wurfe
besäet« Bi L 298 -- le birdu birdlt caus. ausstreuen ; le birdeUt dem.
it. in feinen Theilchen ausfallen; le birinäi und birdinäl caus. streuen.
— f. präs. bym (zu birti) - byr'Sju byreti dem. trans. ein wenig
streuen, auch intr. (J 596. 19 bireti geschrieben, dort intr.). —
€• beriü berti streuen; bertuve N Wurfschaufel. — ^. prät. fc^iaw,
le beru, (zu berti) ; berimas nom. act. ; berikas nom. ag. ; le b^lba
Schüttung; beralas umgeworfeltes Getreide. — €1. at-barai und ätr-
baros beim Worfeln verstreutes Korn; bäras in einem Zuge gemähtes
Stück Feld (vgl. le baris Schwade); le uf-bars Uebermass - barstaü
barstpi iter. (zu berti).
t. birbiü birbiaü birbti summen ; birbikas Summer ; birb^ne Summ-,
Schnarrinstrument -- birbinti caus., daher auch »blasen« (ein derartiges
Instrument). — U. barbözius Summer.
i. le birfe Saatfurche. — 6. le berfchu berfu berft scheuem,
reiben. — Zweifelh. Zusammenst., vgl. unter birti.
i. le birfe Birkengehänge, Laubgehänge: birilis KLD M Birken-
zweig; biritva J 497. 3 Birkenwald? — e. berias Birke.
i. bizdzm N und K = bezdälim Stänker, nach Schi. Lsb. ein
Dicker, schwerfällig Gehender, wozu bizdöne^ Räthselwort für Schwein,
das fem. — €• bezdü bezdi'ti pedere; bezdas {bizas) crepitus ventris;
bezdalas {bezalas) dss.
i, bljsta blindo blisti dunkel werden; prj-blinde Abenddämmerung.
— e. blendz&s blendiaü-s bl^sti-s NM sich verfinstern. — Cl. blan-
daü bland^ti, sc. akis die Augen niederschlagen (eigentl. »verdunkeln«),
blandpi-8 sich schämen, vgl. dangus isz-si-bländ^ der Himmel hat
sich aufgeheitert BF 1 00 (gehört nicht, wie dort angegeben, zu einem
inf. blqsti, sondern zu blandpi^ vgl. ebend. das pt. prt. f. isz-si--
bländitm).
i. le bhfchu, blldu und blifu^ bllft ULD (Bi hat nur e) aufdinsen,
t = m, le bliflgs ein sich noch Entwickelndes, Zunehmendes (z. B.
Kind), lit. prirbl^ta^ blindo^ blfsti KLD [] »im poln. Litauen, in Ge-
brauch«: fester werden -^ Iblijzau blfzoti KLD still, woran geschmiegt
daliegen (dann blizau zu schreiben). — e. le blefchu^ bledu und blefu^
322 August Lbskien, [60
blefl aufdinsen, dick werden, e = en. — Ä. le blufe Gedränge,
ü = an; blandüs nach KLD »bündig« (von der Suppe), nicht wäs-
serig, nach N das Gegentheil : dünn, wässerig. — Ausser der Reihe
le blaißt quetschen, schmettern, schlagen. — Zweifelhaft wegen des
Wechsels von f {£) und d.
%. prät. bridaü bristi (zu bredü) waten - le caus. bridinät waten
lassen. — i. br^dis m. das Waten -^ br'^dau br^doii dur. intr. im
Wasser stehen. — €• präs. bredü (zu bristi) ^ daneben brendü i
638. 9 (Sz brindu = brendu)^ vgl. le bredu = "^brendu ~ bredzoti
Sz iter. — flt. bradä das Waten, die Pfütze; le braslis m. Furt;
bi^asta Furt -- bradaü bradpi; le bradät iter. (zu bristi); le brafchät
iter.; bradinti caus. waten* machen. — Ausser der Reihe lit. iter.
braidaü braid^ti; bräidzoti (vgl. le brafchät = Hradzoti).
im bfisia brindau bristi aufquellen ^ brindau brindyti quellen
machen. — €• br^stu brendau bristi kernig werden, reifen, le breßu
bredu brifti quellen, reifen; pr brende-kermnen schwanger; brendfd^s
Kern - brendinti reifen lassen caus. — Ä. ?le brüds Dachfirst;
brända N das Kern-, Kornansetzen; le brüfchs (= ^brandjas^ das
brandus vertreten kann) stark, völlig, vgl. brandj a. sg. J 1018. 6;
brändalas NSz Kern; le brüsls (= Hrand-sla-s) stark, dick; brandus N
körnig, gefüllt, Sz (unter nieplenny) ~ pr nom. act. po-brandisnan a.
sg. Beschwerung, doch vgl. pr pobrendints beschwert (s. lit. bren-
dinti) .
i» bringstu bringau bringti theuer werden. — d. brangus theuer,
denom. davon brangstu brangau brangti theuer werden N ^ branginü
theuer machen.
i. brinkstu brinkau brinkli quellen, schwellen ~ brinkinti caus. —
(Z. brankä das Schwellen (z. B. ins Wasser gelegter Kömer) ; ?le
adv. brankti fest anliegend, gedrang; "fbränksztas Bruch im Felde.
im brinksztereti Schnippchen schnellen, vgl. den Ausruf brinkszt,
der das Schnippchenschlagen bezeichnet. — tt» bränkszlereti einen
kurzen schlagenden Ton hervorbringen, vgl. den Ausruf bränkszt dafür,
dass. bräkszt und braksztereti.
i. czirszka Kreischer; czirszkl^s Wespe ~ czirszkinti kreischen
machen. . — €• czerszkiü czerszkiaü czerkszti klirren u. a. (doch auch
czirszkiü); czerszkü czerszke'ti dss.
f. le dile saugendes Kalb ^ le dillt säugen. — €• le döl d^ju
64] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 323
nach ULD auch »saugen« (an der firust) ; le dBls Sohn ; deW Blut-
egel, le d^le] pirmdele kärve Kuh, die z. e. M. geboren hat, pirmdel^s
Erstgeburt (von Thieren) ; le d^jals Mutlermilch.
i. prät. dilaü dilti sich abnutzen, le präs. dilstu; püs-dilis (s.
-dylis); le diluns Auszehrung -- dilinti; dildinii; dildyti J 841. 21
caus. ; le dilinät caus. ; le dilüt abschleifen Irans, iter. — i» präs.
dylü (zu dilti) ; püs-dylis {me'nü) Mond im letzten Viertel. — e. le
präs. delu (zu dilt); delna flache Hand (nach Fick II. 581); delczä
abnehmender Mond «^ le deld^t caus. abnutzen.
i. nur-dilh-slü dilbaü dilbti inch. die Augen niederschlagen ; dilba
Gluper; dilbinas dss. ^ dilbinti glupend umhergehen; dilbineti
dem. iter. dss.; dilbsü dilbse'ti glupen; dilbsaü dilhsöti dss. —
€• delbiü delbiaü delbli {akis) die Augen niederschlagen, »vielleicht
nur in dem Part, nudelbfs akis^ die Augen niedergeschlagen, in Ge-
brauch« K.
i. le dilba; le dilbis m. Röhrknochen, Schienbein. — €• le
delbs {delms) Ellenbogen; delba KLD Forkenstiel, vgl. le delbis zwei-
zinkige Gabel. — Cl. le dalbs^ le dalba Fischerstange u. a. (Zur An-
knüpfung an das Vorherstehende vgl. Fick IL 583).
i« dilgstu dilgau dilgti von Nesseln verbrannt werden; dilge N
Nessel (gewöhnl. dem. dilgde)^ davon dilg^ne Nessel; dilgus stechend,
brennend MLG I. 387 '^ dilgau dilgyti caus. mit Nesseln brennen;
dilginti dss. — U. dälgis m. Sichel (vgl. Fick II. 582), bei Sz auch
dalge.
i. le dimstu dimu dimt dröhnen; le dima Dröhnung -- le dimdst
iter. — e. Präsensf. le demu (zu dimt).
€. dingstü dingaü dingti wo hingerathen (eigentl. wo verdeckt
werden, wo sich verbergen); ?dazu dimstis f. N Hof, Gut,
nach N am Haf gebräuchlich, wenn für dingstis^ wie nach N ebenda
dimsta man für dingsta man (mich dünkt). — e. dengiü dengiaü
dengti decken; dengä N Decke; uzdengalas Sz [azudingalas ; unter
zaslana) Decke; dengle N dss.; uidengtüve N Schild ~ dengine ti iter.
dem. decken. — CL. ap-^angä Kleidung; dängalas Decke; dängtis m.
Deckel; uidangte Sz {u. pokrywka) Decke; dangtuve N Deckel; dangus
Himmel «^ dangaü dangpi; dangsiaü dangst^i iterativa (zu dengti);
danginti-8 sich wohin begeben (caus. zu dingti) MLG I. 62, BF 106.
i. dirti schinden WP 100, nu-dirtas prt. prftt. p. WP 75, PrSs.
und Prdl. zweifelfiaft. ELD hat nach Kekb ein Jynw ifjfriiii dirli
af>»tecfK;o: Idirrä Acker d. b. bestellbares Ackerland . —
f# le Jirä/ eiu. iter, scbinden. — <¥• le nit-dara Stande mit be-
kappten Aei^teo, le nii-dara$ t pL Abfalle von Bast o. a.'.
i« dirtm dirhau dirbü aiiieiten -^ dirlnmeü iler. dem. — C7. dar-
ha$ Arb^5it, darbm arbeitsam.
i# dirgnlu dirgau dirgti in Unordnung geralhen vom Gewehr:
loifgehen), $u^irgü zornig werdai J 876. 16, 9u-dirgo N ist schlechtes
Wetter geworden -^ dirginti caas. in Unordnung bringen^ piiszkq pa-
dirgirUi Flinte abdrücken; dirgau dirgyü in Unordnung bringen. —
<^. d^gia d^gi dirgü ist schlechtes Wetter; dergeiis ELD Unfläther
'«^ le derdfetS-s Ekel empfinden; pr derge sie hassen. — A. darga
N schlechtes Wetter, dargm NSz garstig; padargas künstliche Ma-
schine KLD, nach N allerlei künstliches unnützes Machwerk, doch
auch: Gerath; därgana schlechtes Wetter.
i« dirilü diriaü dirili zähe, hart werden; apHlirzelis verhärteter
Mensch; dirias Riemen. — ttm 'Idärzas Garten, le darfs auch »Hof,
Kinzäunung«.
i# le dribinät (neben drebinäl) caus. zum Zittern bringen, vgl.
pr dirbinman a. sg. Zittern. — €• drebii drehe li zittern ; le drebeklis
Schreckbild; drebulp Schauer; drebule Espe; drebüs N zitterig ^
drölnnti zittern machen. — (I0 drabüs zitterig KLD s. v. drebüs.
i. drimbü dribaü dribli langsam, dickflüssig herabtropfen; su-
drihMis (Scheltwort) Zusammengesunkener; pa-dribä N Augentriefen.
— i« dri'jfbau drifboli dur. dick herabhangen, anhangen. — e. präs.
drehiü (zu dr^'bli) mit Dickflüssigem werfen; '^drebüzis (neben dra-
büttH) Kleidungsstuck. — ^. prät. drebiaü drehti (zu präs. drebiü):
drMmaa nom. act. ; drdbikas nom. ag. ; ? le drehe Zeug, Gewand. —
U» drabnm N leicht anhangend, feist; 'fdrapanä, gewöhn), plur. drä--
panos Woisszoug = ^drab- pana{'!); *? drafewm Kleidungsstück (neben
drcbülis) ^ drahstaü drabslpi iter. (zu drehti). — O. "f drohe Leinwand, vgl.
Fick 11. 381, drobüU Laken; ?le dräna (für *drdh-na1] Zeug, Wäsche.
i. dristü drisaü dristi dreist werden, wagen; le drlkslet wagen
(oig. iterat. ; l der Bildungszusatz, k eingeschoben). — e. Präs.-
form drfm (zu dr{Bti). — d. drqsä Dreistigkeit, davon drqsiis dreist,
le drihchs = ^dransjas^ Vertretung von dransm; drqslm NSz dss.
~ drisinti caus. dreist machen.
63] Der Ablaut deb Wcbzelsilben im Litauischen. 325
i* prät. sip-driskaü (gebrauch), prtic. sthdriskfs) driksti intr. zer-
reissen; ap-dri^kelis Zerlumpter; isz-driskei pl. N Weichen (der
Tbiere) ; le driska ein Zerreisser ; ~ drikstere'ti, driksterti dem. ruck-
weise reissen intr. ; le driskät trans. zerreissen. — %. su-drykslü
präs. (zu dnskaü\ so Schi. Gl. Don.). — 6. dreskiü präs. (zu dreksti)
Irans.* reissen. -^ <§• prät. driskiaü drä'ksli (zu präs. dreskiu) reissen
trans.; dreskimas nom. act. ; dreskikas nom. ag. ; dreskejas nom. ag.
— Cl. le draska Lump «^ draskaü drtisk^U iter. (zu dre'ksli) ; le draskäl
dss. zerreissen. < — Ausser der Reihe le draiska ein Zerreisser, le
draiskät (= draskäl).
i. gilüs tief; jfi/m^' Schi. Lsb. als zem. Tiefe. — l. gyU N
Tiefe, le dfile Abgrund. — e. gelme' Tiefe; le dfdwe Strudel.
i. gilsta gilo gilti anfangen zu stechen (von Schmerzen), plötzlich
schmerzen impers., bei NM ein güu gilau gilti stechen (z. B. von
Bienen); giltine Todesgöttin. — i. gylä KLD heftiger Schmerz; gylp
Stachel -^ gyliöti iter. stechen. — 6. präs. geliü gelti stechen; le dfelde
Auflauf der Haut von Brennnesselstich; gelu (St. gelenr-) N Stachel;
gelonis f. stechender Schmerz, Stachel ; gelinenis (Vertreter eines älteren
^gelmu) N heftige Kälte; le dfelwa (neben dfelba) Auflauf der Haut
von Brennnesseln ~ le dfeldit iter. stechen. — ^« geliau prät. (zu gMi)^
le dßlu] gelimas nom. act.; gelä KLD heftiger Schmerz. — Um 'Igalas
Ende (= punctum?).
i« gilbstü gilbaü gilbli sich erholen, genesen ~ le at-^lbinät caus.
aufleben lassen. — €• gelbu gilheli helfen. — C*. pchgälba Hülfe.
i. prUt. gimiaü gimti geboren werden, pr nom. act. gimsenin
a. s. Geburt; pr per-gimam a. pl. Creaturen; po-gimis m. Natur J 128.
7; pr preigimnis bhe pergimnis (gen. sg. im Text) Art und Natur;
gimine' Geschlecht (Verwandtschaft); le dßmta Geburt, Geschlecht;
gimtis f. Geschlecht (sexus), pry-gimtis angeborene Art; gimtine' Ge-
burtsort (zum adj. ^gimtinis); gimtuve Geburtsort «^ gimdaü gimdpi
caus. gebären, vgl. pirma-gimde primipara Sz (unter pienviastka) . —
%• g^mis m. Geburt, Gesicht. — €• präs. gemü (zu gimti) ^ im pr.
Kat. in mehrere Formen des primären Verbums mit e, z. B. gemton
inf, »gebären«, gemmons prt. prät. a. geboren, act. in gemmans ast hat
geboren — die Richtigkeit dieses e wie die trans. Bedeutung sind
nicht sicher; gema NBdQu Frühgeburt; le dfemde ulerus '^ le dfemdet
gebären - le dfemdinät caus. erzeugen. — Ct. gdmas B Art, Geschlecht,
326 August Leskien, [64
äp-gamas prS-gamas Muttermal; gamta G Natur (?) -- gaminH cans.
ei*zeugen.
i. [genü) giniaü ginli treiben, hüten (Vieh); ginü [g^niau) ginti
wehren, schützen; gine'jas Yiehtreiber; ginikas dss. ; ginklas Wafle,
ap-ginkle Sz Schutzwehr, n{e)apginklm Sz (unter nieobwarowany) un-
vertheidigl, unbewehrt; ap^ntis f. i-st. IG 158 Vertheidigung ; ginczä
Streit; ginluve' N Festung «^ gindinti caus. (zu genü) treiben lassen;
le dfidinät iter. (zu dßt = ginti treiben). — i. g^niau prät. (zu ginü);
gifnimas nora. act. ; prSszr-gynis^ f. -e Widerspenstiger, vgl. prisx-gyniuii,
-gyniäuii sich widersetzen. — €• genü präs. (zu ginti treiben); genesis
Trift MLG I. 72; genest^s dss. - le dfenät iter. (zu dflt = ginti trei-
ben). — U» le gans Hirt, le gani ra. pl. Weide; iszr-ganus N heilbringend;
gäniava das Hüten - ^anati ganpi iter. (Thiere) hüten, weiden. —
0. nakli-gon^ Nachthut; nakti-gonis m. i-st. Nachtschwärmer KDL. —
Ausserhalb der Reihe: gainiöti iter. (zu genü ginti) J 127. 3, le gaiAät
abwehren; le gainit treiben, verfolgen; geinis »ein Ast nebst einem
Stück Holz, behauen wie ein Brettchen zum Zurückschlagen des
Kreisels (n/^ä)«, vgl. su^ginti »den Kreisel zurückschlagen« MLG
1. 225.
i. le ^inftt$ ^indu ^int zu Grunde gehen Bi 1. 374. — €• gendü
gedaü gesti entzweigehen, verderben inlr., pa-si-gesti sich sehnen
nach; gedü gedeti trauern (um einen Verstorbenen). — ^. g^'da
Scham, Schande (pr gldan Scham, negidings schamlos, hat wahr-
scheinlich f = ß); gedzu-8 gedeti-s sich schämen (eine 3. sg. prt.
su-si-ge'do J 166. 6, von einem präs. ge'stu); gedus N Schamhafligkeit --
gedinti beschämen. — tt. pagadas N Verderben - gadinti caus. ver-
derben. — Zusammenstellung zweifelhaft.
im girä^ le dßra Trunk, Getränk; giria Trank KLD [ ], pä-girios
Nachrausch ; girklas Sz Getränk (unter napoj) ; girtas betrunken (altes
pt. prt. pass. zu gMi) ; girtüs berauschend ; girtis f. u. girte N Sauf-
gelage; ap-giriis m. KLDBd kleiner Rausch; girtuvii' Schenke ^ giru'ti
und giräuti N zechen (iter.), letzteres bei Sz (unter napijam sif); girdau
girdyti caus. tränken; girdinti; le dßrdinät dss.; girmuti {jgirsndti),
girksznöti J 1046. 3 dem. iter. fortgesetzt ein wenig trinken. —
i. le dßras^ dßres f. pl. Gelage. — €• geriü girti trinken; gerkU*
Kehle; ui-gertüvds f. pl. Verlobungsschmaus; gerove'lis dem. Trinker
J 849. 3. — <5. ge'riau prät. (zu gerti)\ gi'rimas nom. act.; gerikas
^^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 3S7
nom. ag. ; ge'ris Trunk, Trinken J 669. 1, bei KLD [ ] als fem. i-st.
aus NSz; ge'ralas Getränk BF 112.
i0 giriü girli loben; pr girman a. sg. nom. act. ; pr po-girim
a. sg. Lob. — t» prät. g^riau (zu girti) ; g^rimas nom. act. ; gyrüjas
nom. ag.; gyrä SchL Lsb. Ruhm, Prahlhans; gitjrius Ruhm. — €• geras
(nach Fick IL 549) gut. — d. geruhe Güte; gere'ti-s Wohlbehagen
empfinden, sich gefallen. — d. garbe\ garbä Sz Ehre, s. u. gerbti.
i. girslü girdaü girsli zu hören bekommen, vernehmen; girdiü
girde'ti hören; girdij/s Hörer - girdma girdenti es geht das Gerücht;
girdinti-s N sich hören lassen, sich verbreiten (vom Gerücht). —
e. gerdas giardas = gerdas B Geschrei, Botschaft, gerd-neszis Herold B
- pr po-gerdaut sagen; gerdenü Sz (unter gloszfi) Gerücht verbreiten,
viell. fehlerhaft, denn z. B. unter gruchnplo steht girdena (doch mehr-
mals gierd- unter rozglasza). — Ä. gärsas {= ^gard-sas) Schall, garsus
schallend, gärsinti schallen machen; garstnas Ruf von etwas (= ^gardr-
Brnos) WP 221.
*. girgzdzu girgzdeti knarren ; ? le dßrksts^ dßrksle Gicht, Späth,
auch Hüftgelenk ; ? le dßrksnis Leistengegend (ULD indess auch
zirksnis, zirkste Biegung am Unterleibe, Weichen, dazu lil. kirksznis f.
»das Gelenk zwischen dem Dickbein und Bauch«) -- girgzdinti caus. ;
girgzduti caus. J 908. 1 . — 6. ? le dferkste = dßrksle. — €1. le
gargfda grauer, sandiger Boden. — Daneben gurgzdii'ti in derselben
Bedeutung.
i. le prät. dßsu dßst (zu präs. dfMu) erlöschen intr., kühl
werden; gistu Sz exstinguor (unter gasn^)\ ne-gisunei SzP 5 unlösch-
bar (?); le dßsinät trans. löschen. — 6. gestü gesaü gesti intr. er-
löschen; le dfeschu dfest trans. löschen, bei Sz (unter gaszfi) gesiu
(geschrieben giesiu^ wo i die Erweichung des g bezeichnet); gesm^'
kleines eben noch glimmendes Feuer; le dfesma {dfäsma) der kühle
Hauch am Morgen; le dfestrs kühl «^ gesaü gespi caus. löschen; ge-
Sinti dss. — €• le dfesu pröt. (zu dfest; auch präs. dfeschu, inf. df^st
werden angegeben) Bi I. 368. — Das le präs. dfestu kann als ausser-
halb der Reihe liegend {e ^=l Diphth.) gefasst, aber auch als ^dfenstu =.
^genstu erklärt werden.
t. le gllwe grüner Schleim auf dem Wasser, Schleim; le gllftu
glidu gllfi schleimig werden. — €• KDL unter »breiartig« hat ein
gWja-s { dantis (klebt an die Zähne, sc. breiiges Brod) ; le glews zäh
Abhandl. d. k. S. aeselUch. d. Wissenscb. XXI. 23
328 August Lbskien, [^^
(sich ziehend wie Schleim), schlaff u.a.; glemes zäher Schleim (rich-
tiger gUmesTj^ vgl. glemis G.
i» glibp N triefäugig. — €• glembü glebaü glebti N, G weich
werden, zerfliessen.
i» grimsiü grimzdaü grifnsti sinken, le grimstu grimu grimt ~
le grimdinät caus. versenken. — 6. gremzu gremzau gremsti NQu
senken (2; dial. für zd)\ le gremdet; \e gremdinät caus. versenken. —
CI0 gramzdüs tief sinkend -- gramzdaü gramzdpi; gratnzdinti ver-
senken.
*• grindzü grindzaü grisH dielen; le grids (=• ^grindas) Fuss-
boden, Diele, pa-grindai Bohlenlage auf Brücken u. s. w.; grinda IG
178, le grida Diele; grindis f. Dielenbrett; gristds N Diele. —
ßm ?le gresii (= ^grenstai) m. pl. Oberlage, Zimmerdecke. — C*. le
grudi (= ^grandai) m. pl. Holz zum Einfassen, lit. grändai BF Latten
auf den Deckbalken des Stalles; pagranda Sz (u. poklad) Diele; le grth-
des f. pl. Holz zum Einfassen; grandis N aus M, nach N f. Radreifen,
Armband.
i. gr\8tü grisaü gristi überdrüssig werden. — C ^resiu gresiau
gresti entwöhnen (so lese ich G's griesii^ at-gnesii, nt^griesli, wo i
wohl nur das weiche r bezeichnet). — «. grasä Ekel, grasus ekel-
haft - grasaü-s gras^ti-s sich ekeln; grasinti Jemandem etwas verekeln.
i. grizlü grizaü gr{zli zurückkehren ; gr{zo rätas der grosse Bar ;
grizulas Reitbahn, grosser Bär; gr\zule KLD [] Deichsel; le grifeklis
eine Art Riegel; grizte Büschel (Flachs); su-griitis f. i-st. IG 157
Rückkehr <^ griiöti KLD schwanken; griztereti dem. sich ein wenig
verdrehen, verrenken. — €• gr^ziü grffziaü grfili drehen, bohren,
le grefchu grefu grefl; le grgfa, gref-galwa Wendehals (= ^grenf-);
le grefchi m. pl. (= ^grenfjch) Mondphasen; gr^zule N Deichsel;
le grefnis Drillbohrer. — d. at-grqias N Wiederholung, Strophe;
surgrqza Sz (unter odwrot) Rückzug; le grusch (= ^granf-jas) drall,
stark gedreht; le grufchi m. pl.; le grufchas f. pl. Lenkseil (= * granf-
ja-) ; grqzulas NSz Deichsel ; grqztas Bohrer ^ grqzaü grqz^ti (le grüßt)
iter. (zu gr§iti); grqsztau grqsztyli N dss.; grqzinti umkehren machen.
— Ausser der Reihe le graiftt in der Bedeutung »hin und her wen-
den« iter. (zu grgft) ; ? le greifs schief.
if gvüdisj gvildp KLD [ ] Ausschlauber ; gvtldau gvildyti aus-
schlauben; vgl. gvilbinU schlaubig machen J 1018. 3, 4. — 6. pa-
67] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 8Sd
gvelbti WP 155 entwenden, aber 173 pa-gveldi, d. i. pa-gveldf pt.
prt. a. plur. m. — Ä. gvaldm leicht aushttlsbar MLG I. 388 ~ gval-
daü gvaldyti ausschlauben ] 683. 6, gvalbyti 6 dss.
i. ilslü ilsaü ilsli müde werden ; ilsiu-s iketi-s ruhen ; ätnlsis f.
Ruhe - ilsinti N müde machen. — €• ?Ie elschu elsu eist keuchen,
vgl. elsuü und dsuti WP 183, 16S keuchen, athmen. — U. alsä
Müdigkeit, alsüs müde, isz-ahüli ~ alsau alsyii N erniüden caus.;
alsinii dss.
i» imü imti nehmen ; isz-imga KLD .[ ] Ausgedinge, Altentheil ;
ime'jas Nehmer -* imdineli Sz iter. — €• le pras. jemu, inf. jemL —
d. emiau prät. (zu imli) ; emimas nom. act. ; ^ikas nom. ag. ; le
prät. jemu.
%• ingsta ingo ingti abgehen (von Haaren des Felles u. a.) MLG
I. 68; ingis Faullenzer; ?dazu le Igstu idfu igt innerlich Schmerz
haben, verdriesslich sein, torpere; le idfinät verdriesslich machen,
necken. — €• nu-engti BF abschinden (Stück Haut), skürq iszengti
beim Gerben abstreifen, zv^nes nuengti abschuppen MLG I. 68, iszengti
kaili WP 159, 160, bei KLD engiu engiau engti »etwas mühsam und
schwerfällig thun, ärkli nuengti ein Pferd abquälen, abtreiben, vgl.
le engst ULD turbiren. — Ä. f angä Öffnung; änksztis f. i-st. Hülse
(z. B. von Bohnen).
i. nur-inksla inko inkti verschiessen (von der Farbe); le ikls
(lies ikls'f) und ils (= ^inUasf) stockfinster. — 6. jenkü jekaü jekti
erblinden; ap-jekelis Verblendeter. — d. äMas blind.
i, iriü irti rudern; irkhs Ruder. — f. j^mti prÄt. (zu irti);
^imas nom. act.; le ir^js nom. ag.; isTryra^ iszyri N Anfahrt für
Kähne (wenn eigentl. »Uferausschnitt« bedeutend, zum folgenden). —
(Im pr artwes Schiffreise.
i. prät. iraü irti sich auftrennen, le präs. irstu (auch lit. bei NSz);
sur-irelis gewissermassen »einer, der entzweigeht«, d. h. Unentschlos-
sener, Verwirrter; pä-iras locker; ankszt-irai, änkszi-iros Maden
(eigentl. Hulsen-trenner, -bohrer, äfiksztis Hülse) ; le irdens locker ~
le irdlt; le irdinät trennen, lockern. — f. yru präs. zu irti. — C le
erfcku {erstu) erdu erst ULD trennen; Srdvas weit, geräumig, le erds
locker, bequem; erdvä KLD [] Geräumigkeit; ertas geräumig WP 211.
— d* j6rkä pra-j^ka Schlitz. — CK. ärdai Stangengerüst zum Flachs-
trocknen; le ardaws ULD = irdens locker; ardus zerstörend MLG
330 August Leskien, [68
I. 386; f arklai {arkilai) Stangengerüst in der Brechslube (=: ärdai);
le ? ap-arms »bei der Scheune ausgebreitete Heuhaufen zum schliess-
liehen Übertrocknen« ULD - ardaü ardyti trennen. — Ä. öras Luft,
le ärs das Draussen (nach Fick IL 518 hierher gehörend).
i. kimbu kibaü kibti hangen bleiben, i-kibti über Jemand her-
fallen, angreifen, z. B. WP 98, 108; kibü kibeli sich regen (zum
Bedeutungsübergang vgl. u. kijburti)^ vgl. kibzdü kibzde'U wimmeln;
kibjs G Klette; kib-irksztis f. Funken; kibeklas KLD [ 1 (N kybeklas)
Fischerhaken, kibekle N Art Haken, kibeklas KLD künstlicher, in
einander greifender Mechanismus; kibiras Eimer ~ kibinli caus. (zu
ktbi^'ii) eigentl. zappeln machen, necken, zupfen; le k'ibinät reizen. —
i. k'^bau k^boli dur. hangen; k'jburti^ k'^burioti hangend zappeln,
überh. zappeln. — €• kebeklis m. Haken; keblikas dss.; keblüs N
holperig (vom Wege), vgl. keblineli hin- und herhüpfen; kebenekas
Haken; kebesza N Misthaken. — 6. "( ke'psztereti »einmal leicht zu-
hauen, oder zuschlagen, etwa mit dem Schnabel« u. s. w. KLD. —
Ct. kabu kabe'ti hangen; le kaba Sparrbalken mit Wurzelende u. a.
Gebogenes, üz-kaba Vorhang, ap-kabä Umhang; kabe' Haken; le kablis
Häkchen, Heftel, kablis Misthaken u. a., auch »Necker«; kabüs sich
leicht anhängend; kablm dss. MLG L 388 ^ kabinti caus. hängen;
le kabinät dss.; kabine'ü iter. dem. (zu kabinli); 1 kapsznöti picken
KDL s. V. bicken.
i. kiktu kilaii killi sich heben; kiltne Abkunft, Geschlecht WP
160, iszr-kilme dss. z. B. JSv 61; kilnas N erhaben; pra-künüs statt-
lich ; kiltis f. i-st. Geschlecht, le zills (i-st.) dss. ; le zilta dss. ; atr-kilüs
offen - kileli dem. trans. heben J 599. 6 (s. kyleti); kiluli iter.
trans. heben, z. B. J 274. 3; le zilät iter. heben; le zildit; le zildinäl
zu etwas bewegen; le zilinät iter. beben; kilnöti iter. heben; kilsnöti
dss. — l. Präsensf, kylü (zu kilti); isz-kyla N Anhöhe- kyleli dem.
ein wenig beben; kyloti LB 336 iter. heben. — e. keliü kelti heben;
3k^lia8 Weg; nom. ag. kele'jas Hebender; Ikelmas Baumstumpf; kein
tiiv^ StocV am Dreschflegel, le zeltawa kleine Fähre - le zelal iter.
{tM zeit z=: kelti). — e. prät. keliau (zu käti), le zSlu; ke'limas
nottiu öct.;; le nom. act. 2;eich« zu Tragendes, Garbenreihe u, a. ; le
aoin. % ze/4j^;z^%> Überfabrer (Fährmann). -— a. le kaSa Hebel;
iali»a« Berg; hoUvä Hiigel.
69] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 331.
i. kilpa Steigbügel, Schlinge, kilpine und kilpinis it). Anubrusl.
— Ä. kälpa Querholz am Schlitten, das die Kufeti verbindet.
i. kimslü kimaü kimti heiser werden; kimüs heiser ; kimülis
Heiserkeit -^ kimirUi heiser, dumpf machen (die Stimme). — ft. A4-
mine Feldbiene, kamane KLD [] Art Erdbiene (nach Fick IL 3StO
hierher gehörig), le kamines Hummeln, pr kämm Hummel.
i, pvM. kimszaü kimszti [{zu präs. kemszü) stopfen; kimsza Dach-
luke; kimszis f. i-st. N Stöpsel; kimsztis f. i-st. N dss. -^ kimsztereli dem.
— €• kemszü präs. (zu kimszti). — £€• i-kamszai Füllsel KDL; kam--
8za Stopfung, Damm, nach MLG I. 69 auch »unnützer Ballast(c ; kamsz--
lij8 Stopfer, Vielfrass; kämsztis m. Stöpsel ~ kamszaü kamsz^U iter»
(zu kimszti).
i, kinka Kniekehle der Thiere, Hesse; pakinkä Anspann '^ kinkäü
kinkpi anspannen. — €• kenkle Kniekehle.
i. zem-kintis adj. den Winter über aushaltend (z. B. dbulas), — •
€• kenczu kenczaü (le zelu = %eniau) k^sti (und kente'ti) aushalten,
leiden. — d» pa-kanlä Geduld, nap^kanta Gehässigkeit {n'apkenczü
ich hasse), napykanttis verhasst Sz {ux\iev nienawistny) ; kanczä Schmerz,
Qual; kantrüs geduldig; ne-kantus unruhig BF 1.45.
i — f. i'kirli G sich ekeln; por-k^r 3. sg. präs. überdrüssig wer-
den JSv 42; kireti J 855. 10 böse werden, ap-kireti WP 72 über-
drüssig werden, j-kyreti MG I. 70 zum Ekel werden (bei N ein
kyru kyrti; kyru kyreti in der Bedeutung von kerSti); f-kirus WP 25
feindselig, jr-kyrm MLG I. 70 widerwärtig. — €• keriü kere'U Jem.
verzaubern, Böses anthun. — Ä. ? käras, le kafsch = *karjas Krieg.
i» ? le k'irna Plackerei, Händel (vgl. indess das vorstehende
f-kirli u. s. w.) •*• le k'irinät iter. (zu k'ert), — 6. le Kefu k'ert
fassen, greifen. — A prät. le k'eru (zu k'ert) ; le k'i^ens Griff; le k'ö-^
riba Ergreifung; le k'er^js Dieb (Greifer). — «• le kannät iter.
necken, reizen (vgl. aif-kafu, käru^ karl anrühren, antasten). — •
Zweifelhafte Zusammenstellung.
i. le zirta (= ^kirta) Locke (?zu zirst =i kirsti^ vgl. zirste-s
sich kräuseln). — €• le zera (= *kera) Haupthaar; le zerba (= *kerbd)
Locke.
i» lit. kirmele' Wurm, kirmis N dss. ; kirminas grosser Wurm,
le zirmifisch Milbe. — e. le zerms, zerme Wurm.
i. prät. kirpaü kirpti scheeren ; pchkirpos Abschnittsei ; le k'irpis
332 Ai}GU8T Leskien, [70
Holzwurm; le zirpe Sichel ; kirptüves Schafschurfest -^ kirptereti dem.
iter. ein wenig scheeren. — €• kerpü präs. (zu kirpti) ; ? ketpe Moos
auf Dächern, Steinen, le zerps^ zerpa Humpel, GrasbUschel u. s. w. —
a, kärpa Warze, ät-karpos Abschnittsei; ai-karpai dss.; le karpis
Warze - karpaü karp^ti iter. (zu kerpti)^ le karplt dss. scharren.
i, prät. kirtaü kirsti hauen; at-kirta N Schlacke; kirtis m. und
kirt^g Hieb; kirsczä (in kirsczomis eiti auf den Hieb gehen, sich
schlagen); kirstüvas N Lanzette - kirslereti dem. iter. (zu kirsti). —
€• präs. kertü (zu kirsti). — (l. kartä Schicht; kärtas Mal; ^karlüs
bitter (= schneidend, Fick IL 3SSI), davon denom. karstü karktü
kärsti bitter werden.
i, prät. kirszau kirszti N zornig werden, pakirszti B entbrennen --
kirszinti zum Zorne reizen. — 6. präs. kersztu N (zu kirsztiy kann
richtig sein, eher erwartet man kerszu oder kirsztu) ; kerszingas zornig;
kersztas Zorn ; kerszüs NSz zornvoll ~ kerszyü zürnen. — CK« le karstu
karsu karst erhitzt werden; kärsztas^ le karsls heiss; kärszlis m. Hitze««
karszinti N erzarnen; le /parket erhitzen.
"^^ le ap'klibstu klibu klibt lahm werden; klibü klibeti wacklig
sein; le klibs lahm;, klibis Messer mit wackliger Klinge ~ klibinti
wacklig machen. — e» khbii klebe'ti wackeln, klappern (Zähne). —
a. klabü klabi'ti klappern; le /r/a6iA^'i^ Thürklopfer; \q klabeklis Klopf-
brett; le klabata Klapper <« klabinti N caus. klopfen; le khbinät an-
klopfen, klappern.
im klimpstü klimpaü klimpU einsinken (in Schlamm etc.). —
a. klampä N Sumpfstelle, klamp^ne Morast, klampüs sumpfig <^ klam-
poU iter. mit Einsinken über einen Sumpf gehen.
im knibü knibaü knibti zupfen, klauben -- le knibßl und knibinäl
iter. klauben. — f. kn^burioü KLD »mit irgend einer Hand- oder
Fingerarbeit beschäftigt sein« (auch kniburioü). — e. knebönti klau-
ben; knebine'ti iter. dss. — S» knebiü knebiaü knd'bti KLD leise knei-
fen. — dm knabii knabeti N schälen (Kartoffeln u. dgl.) ; knabüs NM
langfingerig, diebisch, geschickt ^ knabine'ti N = knebine'ti; le knab-
slU ULD picken. — ttm le knäbju knäbu knäbt picken, zupfen -^ le knäbät
iter. — Vgl. dazu le knebju knebu knebt zwicken (K's kne'bti viel-
leicht auch knSbti zu schreiben: e und e gehen bei K beständig
durcheinander); le knaiblt iter.
im kribzdü kribideti wimmeln. — 6. krebidü krebideti rascheln.
'J^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 333
i. prät. krimtaü krimsli nagen; le hnmsli m. pl.; le krimslas
f. pl. Abgenagtes, Überbleibsel; X^krimslk Knorpel; \q krimBlalas uiid
krimsteles f. pl. Knorpel; krimstus Sz bissig, gefrässig. — €• präs.
kremtü (zu krimsti); kremsle' Knorpel. — <*. kramsle KLD [ ] Knorpel;
kramtüs Sz {krumtus; unter uszczypliwy) bissig, zänkisch; kramslus
Sz (dort krumslus) bissig (übrigens sind vielleicht krumtus wie krum-
8tu8 part. präs.) ~ /rramtoti kraml^li iter. (zu krimsti) ; /e kramstit dss. ;
kramsnöti dem. iter.
i. kripszteri'ti kurz und leise rascheln. — a. krapsztas N Kratz-
hamen «^ krapsztaü krapszt^ti umherstochern, scharren; krapsztineli
iter.; krapine'ti stolpernd umhertappen.
i« ftmtö fcritoti ftm/t fallen (von Blättern, Tropfen u. a.) ; kritis
f. i.-st. Fall; le kritals Lagerholz; le krital'a umgestürzter Baum;
krislas Brocken, le krisls Stäubchen. — l. le kritaPät dem. iter. oft
ein wenig fallen. — €• präs. kreczü schütteln; kretü kreleü sich hin
und her bewegen, sich schütteln, wackeln z. B. ] 866. 8; le kre-
ttdis Art Sieb. — S. prät. kreczaü kresti schütteln, schütten ; krelimas
nom. act.; krelikas nom. ag.; krelöjis dss.; "ikrBts und krele Hahnen-
kamm, Mähne ; kretin^s gedüngtes Ackerstück. — a. j-kratas^ inkratas
Betteinschüttung; pa-krdczos zu Boden fallender Heusamen KDL;
kralüs hart trabend *« krataü kratpi iter. (zu kre'sti) ; le kratinät iter.
schütteln. — Ausser der Reihe le kraität taumeln.
i. kvimpü kvipaü kvipti anfangen zu riechen. — e. präs. kvepiü
(zu kve'pti) ; kvepiü kvepe'ti duften ; kveputi keuchen J 628. 5 (KLD
kveputi). — d. prät. kvepiaü kvepti (zu präs. kvepiü)^ bei KLD
kvipiü (Schi, kvepiü) kvepiaü kvepti^ vgl. le kwßpsiu kwöpu kwept
qualmen; kvepä KLD kurzer Athem, davon kveputi keuchen, kvepus
KLD [ ] engbrüstig ; le kwäpes f. pl. Qualm ; kvepalai wohlriechende
Dinge ^ le kw^it] le kwöpinät räuchern; kvepszczöti keuchen. —
a» kväpas Hauch, Duft, kvapus wohlriechend MLG L 389; kvapnus
dss. ebend. *-* kvapstaü-s kvapstpi-s iter. fortgesetzt athmen. — Vgl.
dazu le küpstu küpu küpt beräuchert werden ; küpH rauchen ; küpinät
Rauch machen; küpains rauchig; lit. küpu'ti schwer athmen.
i. le l'imstu l'imu timt ULD unter schwerer Last zusammen-
sinken, knicken (eigen tl. brechen?), pr limtwei brechen trans. —
€• lemiü lemti Jemandem etwas als Schicksal bestimmen; pr lemlai
3. sg. opt. präs. — d. le'miau prät. (zu lemti). — d» le lams und
lama '= lumu io der Bedeuf. « limdau lamdyfi zätiioeo. zureilen.
zur Artieit anhalteo Fick II, 681 : lamimti dss.. zur BedeuL vd.
KLD aplamdyli^ aflaminii geschmeidig macben: lam$i4im lam^fü Ter-
1% iloimben i(er zu Umti . — ff« foinii Ziel zo üpmli . Schicksal
uz $äto UimfßJK. küre derg bm lemfs 5ILG I, 65 , le /f/ma Mal: le
Idma lamjf Diedriire Stelle, Eiiu»eDkuii£r des Ackers, lil. lowui dss.
N, \iA. J. H7i. 16. — Die ZusamiDeiistellaii^ zweiFelhafl.
i« pr^L /ffiJati /f«/i zu präs. /^ni/fi kriechen: /iiid« limdzü
lindSti N kriechen; lindyne Versteck - /mi/ati /rnJofi wo stecken;
Undineti dem. iter. zu l\^ii . — €• präs. lendü zu /f*li . —
U0 lunda Flugloch der Bienen , landyne Winkel; le lufcha = *landz4t
Schleicher, vgl. lit. landzus Kriecher; landonis f. Wunn Finger-
krankheit^ ; le liufUf '= *lamtm Versteck, Taubenschlag: Iqsia KLD
Imla^ pl. ImloH^ bei 1 IqmtoSj Nest zum Brüten für Gdnse ^ landzoü
iter zu Ipfii,^ le /uJä/; landinli caus. kriechen machen; le lufchinät,
lüfchnal iter. hin- und herkriechen.
i# lifujüli^ limjoti iter. hin und her, auf und ab bewegen,
Kf;haukeln; lingeü ) 591. 2 schwanken; lingau [lingoju Ungoti N
Hchweben, wackeln (mit dem Kopfe ; linktereti dem. it. ein wenig
mit dem Kopfe nicken (wohl zu lenkiü^ ; lingine'le J 793. 4 Schaukel
(dem. eines Ungine]; le ligste Schwungstange der Wiege; "^palingnas
N demüthig. — €1» langau [langoju) langoti N schweben, sich >viegen,
le (iujalß'H wanken; le tüdfiles sich schaukeln, recken; 'llängas
Fenster.
i. linhtlü linkaü linkti sich biegen, sich neigen; linkiü linke ti
JSv 9, MLG I, 377, Schi. Lsb. wünschen (sich neigen zu), bei KLD
als dem. sich ein wenig neigen (zur Bed. vgl. kam prilink^ buü
Jem. geneigt sein; änl kö linkes zu etwas geneigt); -linkai^ 4ink
-wUrts, ap4inkui herum, ap-linka Sz Umgegend, aplinkonm mkti Sz
umdrehen (unter obracam), vMinkas einfach; le hks (= ^linkas)
krumm; linkis m., le llzis Biegung; linkus N biegsam; "? linksmas
fröhlich ^ Imklerili it. dem. ein wenig mit dem Kopfe nicken;
linkszczoli dem. intr. einknicken; Ihiksaü linksöti gebückt stehen. —
e. lenkiü lenkiaü Unkli trans. biegen; Umke Vertiefung, kleines Thal;
perlenkis m. Antheil an etwas; lenkmene BF 135 Knie-, Ellenbogen-
gelenk; le lekns und /efcwa Niederung, feuchte Wiese; le /e&w^ niedrig
gelegen (von Feldern) ; lenken be'gti in die Wette laufen. — d. länkas
73] Der Ablaut der WtRZELgiLBEN im Litauischen. 335
Reifen, le luki m. pl. Handhaspe] ; ie lüks^ lükans^ lukains biegsam;
lanküs biegsam; j-lanka Einbiegung, lankä Thal, ap^jj-lanka adv. inst.
s., af^-lankomis adv. i. pl. auf Umwegen, apylanka Sz convexitas;
lanksmas Biegung; länkstas Sz dss. ; länktis m. Haspel ~ lanköti;
lankiöti iter. (zu lenktt) ; lanlffiü lankpi besuchen , le luzit iter. (zu
lekt =. lefikti) ; hnkslaü lankstpi iter. (zu lenkti) .
i, midüs Meth. — €• medüs Honig.
i. mikenli KLD [ ], als sUdlit., meckern, stottern. — €• mekenti
meckern, stottern; mekl^s Stotterer; mekn^s dss. — d. maknijg
Stotterer.
i. milinp Stock der Handmtthle; le milna dss.; miltai Mehl.
— e. melmu Nierenstein (nach Fick II, 630); pr meUan Mehl. • —
d. maliü maliaü mäüi mahlen; malünas Mühle; inalnos N Hirse
(nach Fick I. c). — Ct. mölis ra. Lehm, le mäls = ^mälas (nach
Fick I. c).
t. mildm Sz fromm, mildybe Sz Frömmigkeit. — - €• meldzü
meldzaü milsti bitten, refl. beten. — d. malda Bitte ~ maldaü mal-
dpi iter. (zu mehii).
i. milszti (Jaü präded milszti das Gewitter fängt an sich zu-
sammenzuziehen) BF 143, le milst milsa milst es wird dunkel, ein
präs. miktu ich rede verwirrt Bi I. 368; le mik ULD Phantasie,
Alp (kann = ^mils(is sein, aber auch = ^milas^ Casusformen sind bei
U nicht angegeben). — B. le mehchu melsu meist verwirrt reden;
? vgl. le melns schwarz (Bi I. 378 auch ein prät. melu schwarz
werden) ; lit. melas Lüge. — €• lit. me'lys pl. f. i-st. blaue Farbe,
melynas blau. — d* le maldit in die Irre gehen ; le maldinät in die
Irre führen. — Zusammenstellung z. Th. zweifelhaft.
i. prät. le milfu milft schwellen; le müfe grosser Haufe; le
milfens^ lit. milzinas Riese. — 6. präs. le melfu (zu milft),
i. prät. milz<iu milUi (zu melzu) melken; milUuve Melkgefäss.
— e, meliu präs. (zu milzti); oszka-melze Ziegenmelker (Vogel). —
d, pamalii kärve leichtmelkige Kuh, m. wäre malzüs -- mälzau mal-
zyli iter. (zu milzli) ; mdlzinti dss., ap-m. bändigen.
i. prät. miniaü minti (zu präs. menü) gedenken ; {menü) mineti
gedenken, erwähnen; le mifia {nü mna ne minas naw von ihm ist
keine Erinnerung, keine Spur); pa-minklas Andenken; le mikla =
*minkla Räthsel; at-mintis f. i-st. Gedächtniss. — %• myniä^ nur in
336 AuGosT Lbskien, [74
der Redensart: nei m^nio neiuriü ich habe es nicht einmal in Ge-
danken. — e* menü präs. (za minti, mine'tt) ; menas NSz Yerständniss ;
atrfnenüs (auch aUmanüs nach KLD) leicht erinnernd. — CL. iszmanas
J 693. 10 Verstand, vgl. f-maniis verständig; le a(-mana Besinnung ;
isz-mane J 844. 11, 1162. 9 Yerstaiyl; mq^tis f. i-st. Erwftgung
(zum Nasalvocal vgl. Sz's mustis = manstis, s. v. mysl)^ mqstaü
mqsipi überlegen, bei J 1205. 1 und oft »die Todtenklage halten«,
mqsii'jas Todtenbeklager, mqsUle (dem.) Todtenklage «^ manaü ma-
npi verstehen. — Ci. nu-mona {isz numonos kq danjü nach dem unge--
fähren Mass, aufs Gerathewohl etwas machen) ; isz-monis J. 1211. 12
Verstand; prär-nwne Erfindung {pra-manpi erfinden), sq-mane guter
Verstand, sq-monüs begabt.
i. minü minti treten, mintp-s N ringen; pär-minos Abgänge beim
Flachsbrechen, le pa-mina Tritt (z. B. am Wagen); le ädHUiifiis
Gerber (eig. Hauttreter); mintis f. i-st. N Ringkampf; mmtovat Flachs*
breche -- mindioti iter. — i. m^niau prät. (zu minti) ; mpiimas
nom. act. ; mynia N Haufen, Gedränge (bei Sz, der die Quantitäten
nicht scheidet : minia ; ebenso IG 1 50) ; le mtnis und tnine Stelle,
wo Lehm getreten wird '^ mi^nioti^ le mlnät iter. (zu minü^ ; le mldü
dss. — e. Nach Fick's (II, 636) Vermuthung hierher meneniwey
(führen) im 2. Gebot des 1. preuss. Katech.
i. minklas Teig ; le mikla dss. ; le mikns weich (vom Wetter) ;
je mikne weiches Wetter {i = in) ; minksztas weich *« minkau minkyti
kneten. — U» manksziaü mankszt^li erweichen; mänkszUnli MLG I. 71
dss., mankszlinti KDL.
i, mirsztu miriaü mirti sterben; numirelis der Todte; bad-mir^s
Hungerleider; nu-mindis Sz Epilepsie; mirtis f. i-st. Tod, bad-mirte
N Hungersnoth, vgl. bad-mirszczöü Hungersnoth leiden; mirtina das
Sterben; mirszlus Sz sterblich (unter niesmiertelny^ wenn nicht pt.
präs. = mirsztqs)^ vgl. le mirsttba Sterblichkeit «^ mifineti iter. dem.
fortgesetzt langsam hinsterben. — f. m'^ris m. das Sterben MLG I.
229. — €• m^dzu mirditi im Sterben liegen; le merdit trans. ab-
mergeln. — e. le märis m. Pest. — Cl. märas Pest (gegen Brückner
doch wohl echt litauisch, bei J bedeutet es oft nur »Tod«, z. B.
1150. 23); nu-maru Sz Epilepsie; martuwe Sz Pest (u. powietrze) «^
marinti eig. »sterben lassen«, beim Sterben Jem. zugegen sein, auch
»tödten« {nth-marinti) .
75] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 337
i. le mirgstu mirgu mirgt flimmern, bÜDken; mirgu mirge'ti flim-
mern; le mir gas f. pl. plötzliches Hervorblinken «^ \q mirdfinöt &c\i\mr
mern lassen. — d. märgas bunt, davon denom. margslü margaü märgti
bunt werden, märguti bunt schimmern, märginii bunt machen; le
marga Schimmer ^ märgaliuti bunt schimmern; märgslyti-s {mislys
präded — die Gedanken fangen an sich zu verwirren) BF 139.
i. mirkslü mirkaü mirkti eingeweicht werden; mirka N Flachs-
röste «^ mirkaü mirk^ti einweichen; mirkinti dss.; mirksaü mirksöU
eingeweicht sein. — €• merkiü merkiaü merkli einweichen ; le fnerza
Feuchtigkeit; le merze Tunke - le merzet iter. tunken. — <*• marka
Flachsröste; le marks und marka dss. ^ markaü markpi iter. (zu
merkti).
i. pus-mirkis {püsmirkes äkys halbgeschlossene Augen); mirklp
Blinzler, le mirklis Blick, vgl. mirldioli blinzeln, mirkline'ti iter. dem. ;
mirksnis m. Blick, davon mirksnioli blinzeln -- mirksiu mirkse'ti blin-
zeln; mirksaü mirksöti mit oßenen Augen dasitzen; mirkczöti, mirk-
szczöti blinzeln; mirklereti iter. dem. schnell Blicke thun. — e. merkiu
merkiau merkli die Augen schliessen. — Um üzmarka einer, der etwas
anblinzelt '^ markslaü marksipi iter. (zu merkli),
i» mirsztü mirszaü mirszli vergessen «^ mirszeti dur. nicht im
Gedächtniss haben. — €• merszu {merszeju) merszeti N ausser Acht
lassen (viell. für richtigeres mirszeti). — d. märszas das Vergessen;
üz-marsza N Vergesslichkeit, uzo-marsza und üzr-marsza vergesslicher
Mensch, marszüs^ uz-marszüs vergesslich; le aif-marscha (= ^mars-ja)
Vergessenheit ~ marszinti vergessen machen.
i. prät. niraü nirti, prt. prät. a. iszHiir^ aus dem Gelenk ge-
kommen (präs. zweifelhaft, KLD nj/m, niru1); vgl. le nir/, nirtes ULD
tauchen intr. ; le nira Taucherente -- le nirdät untertauchen trans. —
€• neriü nerti untertauchen, einftideln. — e. prät. neriau (zu nerti) ;
nSrimas nom. act.; nerikas nom. ag. — d» näras Taucherente;
zälczo tsznara abgeworfener Balg der Schlange; naromis (i. pl. zu
einem narä) plaükli unter Wasser schwimmen ; narp Knöchel, Gelenk,
Kettenglied, sq-naris m. Glied; nartas N Ecke; narva N Zelle der
Bienenkönigin, vgl. üznarve KLD [ ] Versteck -v naraü narpi ein-
renken ; narinti dss. ; närdau närdyti iter. (zu nerti) untertauchen ;
närslau närslyti dss. — Ü* le närs und näre Klammer, närüt ver-
klammern.
338 August Lbskiek, [76
i« nirsziü hirszaü nirszti ergrimmen (so KLD), daneben nirslü
nirtaü nirsti starrsinnig werden, j-nirtps ergrimmt (die Wurzel ist nirt;
nirsziü ist vielleicht aus nirstü entstanden, vgl. mirsztu^ daraus ein
nirsz- für die weitere Flexion abgezogen) ; ajh-nirtelis Starrkopf, apHir-
szelis dss. 5 i-nirszelis Jähzorniger; nirstus N (vielleicht prt. präs. =
nirstqs) zornig ~ nirünti KIjD [ ] in Zorn bringen. — B. nerczu-s ner--
czaU'S nersti-s Sz (unter bäwip «if ) einer Sache obliegen (eigentl. : sich
auf etwas versteifen); isznerteti G seinen Eigensinn ausdauern lassen;
pr er-nerlimai wir erzürnen; pr nertien a. sg., nerties g. sg. Zorn. —
a. närsas (= %ar^-«a-'«) Zorn, narsiis grimmig J 1082. 12; närsztas
Zorn BF 145 - y-nartinti Sz ferocem reddere (unter beslwi^); nar-
8inti\ narszinti N dss.
i. pilkas grau, davon den. pilhtu pilkau pilkti grau werden. —
6. peliü peleti schimmeln; pele Maus. — Ct. pälszas fahl, davon
den. pälsztu pälszau pälszti fahl werden; fälvas falb.
i. \Qpimpis penis; le /nmjpa/a dss. ; \e pimpfdis eine zu Zauberei
verwendete Wachskugel, vgl. le pimpalains knotig. — €• le pempt {neben
pampt und pumpt) aufschwellen; le pempis Schmeerbauch ; le pempe
Stummelschwanz. — W. pampstü pampaü pämpti aufdinsen; le püpe
(= ^pampe) Httmpel, Polster - pampyti prügeln (caus. zu pampti)
WP 98 prügeln; pampsaü pampsöti aufgeschwollen daliegen.
i. pinü pinti flechten; pinikas nom. ag.; pine'jas dss.; käs-pinas
Haarband, pinai Strauchwerk zum Flechten ; vyz^pinp^ v^i-pinis Bast-
schuhflechter; le pine Falz; le pinka Zotte; pinklas Geflecht JSv 23,
pinklm verwickelt, künstlich - piniöti iter. verflechten. — i. prät.
p^niau {z\x pinti); p^nimas nom. act. ; pynejüie (demin.) J 813. 6
Flechterin; ;>yn^' Flechte — e* f pentis f. i-st. Rücken der Axt, der
Sense, nach N auch Ferse, le pele Rücken des Beils (nach Fick II.
600). — a. pänlis m. Fessel; 1 päntas^ pänta Hahnenbalken; IXepule
Pfropfreis, pullte (dem.) Knöchel am Fusse.
i. pirtis f. i-st. Badstube. — 6. periü perti baden, eigentl. mit
dem Badequast schlagen. — e, pe'riau prät. (zum vor.); perimas
nom. act.; perikas nom. ag.
6. le prat. pirdu pirst pedere; pirdä Furzer; le pirfcha und
pirfche dss.; pirdis m. Furz; pirdzus Furzer. — e. le präs. perdu
(zu pirst) ; perdiu pSrdzau pSrsti pedere.
i, prät. pirkaü pirkti kaufen; nii-pirkis m. Abkauf; pirklas Sz
77] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 339
Waare - pirkineti iter. dem.; le pirkalät dss. — 6. präs. perkü (zu
pirkti). — d. parksipi iter. (zu pirkii) MLG I. 385.
i» pirksznys f. pl. i-st. Asche mit glühendey Funken; le pirkstes
f. pl. glühende Asche, Funken in der Asche. — €• le perslas f. pI.
Eisnadeln in der Luft <- le persit bereifen. — d. le parslas f. pl.
Flocken von Schnee oder Asche. — Zweifelh. Zusammenst.
i. prät. pirszaü pirszii freien (für Jemand) ; pirsdp Freiwerber,
pirszlioti {pirszliüti) N iter. (zu pirszii). — €• präs. perszü.
i. isz-plind^s prt. prät. a. G dünn, fadenscheinig, möglicher
Weise zu einem ^plin-A-yli iter. sich ausbreiten, oder zu einem
^pljstu ^plindau ^plisti breit werden. — e. Bei M unter platüs eine
3. sg. iszsplenda wird breiter, das isz^lenda gelesen werden mag. —
a, le plandit ausbreiten. — Ä. plönas^ le pläns dünn, fein. — Zweifel-
hafte Zusammenstellung.
tm pl'jisztu pl'jfszau pljszti reissen intr. ; su-pl'^szelis Zerlumpter;
plyszjs Riss, Spalte ; plysze dss. — S. plesziu plesziau ple'szti reissen
trans. ; pra-pleszä Bruch ; pleszus N rSiuberisch (aus Sz unter lupiezny,
wird aber prt. präs. = ple'sziq^ sein) ; pleszinp frisch aufgerissener
Acker *- ple'szau pleszyti iter. (zu pleszti) . — ft. ? le plüsU iter.
reissen, zerren; "f pUsztas plöksztas Handvoll, Wisch, Bündel. —
Ausser der Reihe pl^zu plmzeti reissen , platzen (von der Haut) ;
le plaisa, plaisums Riss; le plaisU Risse bekommen; plaiszinti KLD
bersten machen, BF 155.
i. le sa-rikt gerinnen ULD; le sa-rika Gallerte. — €• sa-rezH
gerinnen.
i. rimslü rimaü rimti (eigentl. sich stützen) ruhig werden, rimtas
G fest (pt. prät. pass.) ; ne-nü-rima N unruhiger Mensch; rimastis f. i-st.
Ruhe; rimus ruhig MLG L 390. — t« r^mau r^moti aufgestützt
sitzen, stehen. — 6. remiü remti stützen - le remdet caus. (zu rimt)
ruhig .machen; le remdinät dss. — 6. prät. remiau (zu remii); re-
mimas nom. act. ; remikas nom. ag. — (€• rämas N Ruhe, ramüs
Tuhig; rämtis m. Stütze; rämsüs m. dss. «« ramaü ram'^ti I 524. 8
caus. (zu rimti) besänftigen ; raminti beruhigen ; rämdau rämdyU caus.
(zu rimti) dss.; ramstaü ram^tpi iter. {zm remti). — «. romüs sanfl-
roüthig, le rüms dss.
i. rir^ä Krippe (eigentl. Röhre, Rinne, vgl. stögo rindä Dachr.),
le rinda Reihe, Zeile. — 6. nu-si-rendant prt. präs., nu^rendusi prt.
340 Adgcst Leskien, [78
prat. a., nu^rendejusi dss. untergehen (von der Sonne) B (eig. Bed. :
rinnen?). — Cl. rändas Striemen, Narbe; le randa das Laichen;
le randa »Vertiefung in Wiese und Wald, wo das Wasser ab-
fliessl« ULD.
i. ringa wer vor Frost u. s. w. krumm dasitzt KLD ~ ringuti
krümmen; rinksaü rinksöli gekrümmt sitzen, stehen. — €• rengiu-s
ren^aü-s rengtis (eig. sich krümmen) sich anstrengen, sich anschicken,
act. rengti rüsten. — d* ranga Einrichtung J 587. 1 2, Sv 9, su-ranga
Sz (unter krfgi) die kreisförmig zusammengelegten Schiffstaue; pa-
rangüs geschmeidig, i-rangus N rührig, rüstig zur Arbeit; rangsius N
eih'g, bei KLD das adv. ränkszczei^ das adj. ränkszczas DL (unter
»hastig«), rankszius LD ~ rangaü rang^ti iter. krümmen.
i. rinkü rikaü rikti aufschreien. — t. rgikauti schreien, jubeln.
— ^. rekiü rekiaü r^'kti schreien; re'ka Schreihals; reksmas Geschrei;
r^kmp Schreier - re'kauti iter. (zu re'kti); rekinti caus. (zu rekli).
i» prät. rinkaü rinkti sammeln; parinka Sz {pobierki) Nachlese;
sihrinkis m. NSz Sammlung; varpa-rinkte N Aehrenlese, su-rinkie Sz
Sammlung - rinkineti iter. J 312. 7. — €• präs. renkü {zu rinkti).
— CT. ranka Hand, paranka Nachlese; ranke N CoUecte, Lese; ran-
kirn Collecte «^ ränkioti iter. (zu rinkti) ; rankine li i 76. 1 9 dss.
i» rintp und rintis Kerbe. — €• renczü renczaü rfsti kerben;
rentas N Kerbe; renlin^s hölzerne Einfassung, Ringwände u. a. —
a. räntas N Kerbholz; iszr-ranta Kerbe BF 118; rqnsta^ J 780. 7,
ranslas G, rästas (d. i. rqstas) K abgesägtes oder abgehauenes Ende
eines Baumstammes -- rantaü ranlpi iter. (zu r^sti).
%• le rUu rität dünn werden. — e» rStas dünn, undicht, selten,
davon rentü {reslü) retaü resti »dünn werden« wohl denominativ.
i. rizgfs verwirrt BF 165 (von einem intransitiven inch. rigsU
sich verstricken, bei Schi. Gr. § 113 ryzgü rizgaü rigsti). — €• rezgü
rezgiaü regsti stricken; rezgis m. N Geflechte, Korb. — d» razgaü
razgpi iter. (zu regsti) ; razgiöti dss. — Ausser der Reihe raizgaü
raizg^ti und raizgioti iter., vgl. raizgis und reizge B Korb, su-raizga
Sz (unter matanina) Verstrickung.
i, pr. Kat. L IL sindats syndens prt. präs. sitzend (in 111. sldons^
sldansj wo l viell. Vertreter von ö), vgl. slav. s^dq. — ^. sefdu se'dau
se'sti (auch -s) sich setzen; sefdzu sideti sitzen. — CK. pr sadina er
setzt. — ä» södas Baumgarten (Pflanzung, slav.?); söslas Sessel;
79] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 341
pasöst^ Wagensitz; at-sodä N Absatz am Gebäude ~ sodinli sitzen
machen, pflanzen.
i. le stku (= ^sinku) siku sikl versiegen, fallen (vom Wasser).
— f« le slks klein. — €• senkü sekaü sekli sieb senken, fallen (vom
Wasser) ; sSkis m. N seichte Stelle, Sandbank ; le sekla Sandbank, lit.
bei N seklis und sekle, seklüs seicht.
f# s^kis m. Hieb, Mal. — € (e?). f-sekli B eingraben, einschnei-
den, isz-sekü B sculpere (zu lesen sektif, vgl. slav. sfkq).
i. le 8a-9iru sirl mit Sand überdecken, sa-sirle-s mit etwas be-
deckt werden. — i. le siru prät. (zu sirt). — e. le sehi sert Ge-
treide in die Rije stecken. — €• le pröt. säru (zu sert). — €1, le
sarts Scheiterhaufen, Holzhaufen zum Verbrennen. — Zweifelhafte
Zusammenstellung.
i. prät. sirgaü sirgti krank sein, le präs. sirgsiu; le sirguns
Krankheit, kränklicher Mensch ~ sirgineti iter. dem. kränkeln. —
€• präs. sergu^ le sergu (zu sirgti) ; le serga Krankheit. — Cl» sarga-
lingas kränklich, von einem St. sargala-^ vgl. särgalioti kränkeln <«'
särginti als Kranken behandeln, pflegen, sarginti krank machen.
i. sirpslü sirpaü sirpti reifen ^ sirpinti caus. reifen lassen. —
a. sarpinti caus., z. B J 232. 2; 697. 3.
i. le nÄ-«irm pt. prät. a. (= "^sirkfs) »vom Bier, wenn der
Schaum oben die Gährung anzeigt« ULD. — €• szerksznas M schim-
melig, vgl. k^ änt iirgelio szerksznu plaukdiu J 437. 9; szerksznas
Sz Reif; le serksnis Schneekruste. — Zweifelh. Zusammenst.
i* le schkiblt (== ^skibyti) hauen, schneiden, ästein. —
CK. skabu skabe'ti hauen, ästein ; le skabrs splittrig, scharf; le skabargs
Splitter; skabus N scharf -^ skabaü skab^ti iter. pflücken; skabinti dss.,
le skabinät Aeste abhauen. — ä. nu-sköbti BF 171 abpflücken,
nunskobe 3. sg. prt. WP 113.
%• prät. sküaü sküti sich spalten; le^cMt/a, schk'ile Scheit; le schk'üis
Spaltmesser; pusiäip-skilis zweispaltig; skiltis f. i-st. abgeschnittene
Scheibe; le schKilsts dünn; skilstis f. N Klauenspalte der Thiere;
skiliAS N spaltbar. — %. skylü präs. (zu skilli) ; le schkllis Spaltmesser ;
skylS Loch. — €• skeliü skiüi spalten ; skilda skildeti sich spalten,
bersten iter., le schVildH trans. — ^. prät. ske'liau (zu skilti)\ ske-
limas nom. act.; le schüre abgehauenes Stück <« le schk'det spalten.
— d» le skals und skala Lichtspan, lit. skalä; at^skala JSv 79 er-
342 August Leskien, [80
klärt durch zopöslas (Vorrath); skalüs spaltig, le skal'sch (= ^skaljas^
Vertretung von skalüs) -^ skäldau skäldyti iter. (zu skeliü) ; skalineti
dem. iter. (zu skeliü).
%• skiliü skilti Feuer anschlagen, le präs. schk'il'u; skiltuvai
Feuerzeug. — t» sk'^liau prUt. (zu skilti). — (l. le skal'sch
[=z ^skaljas) helltönend ; Fick 11, 680 verbindet skilti mit deutschem
»schallen«, daher die Zusammenstellung oben ; das bei Fick angeführte
skälyli »anschlagen« (vom Hunde) ist slavisch. Vielleicht gehören die
Worte eher zu skelti spalten.
i. prät. skilaü skilti in Schulden gerathen. — i. skylü präs. —
e. skelü bei N präs. zu skilti^ wohl missverständlich für skeliu;
skeliü skeleti schuldig sein; pr part. präs. skellänts schuldig. —
Cl. pr skallisnan a. sg. Pflicht (Schuldigkeit), nom. act. eines iter.
^skalyti, — ä. skolä Schuld.
i» pra-skilhti MLG I. 62 bekannt werden (präs. wohl skilbslu^
prät. skübau). — 6. skelbiu skelbiau skelbti Gerücht verbreiten. —
n. paskälba Gerücht.
i. skimbtereti JSv 89 erklärt mit i^tnesti einwerfen , eig. wohl
»klingen lassen« iter. dem. — d. skambu skämbeti klingen; skAm-
balas Schelle; skambüs N tönend ~ skämbinti caus. klingen machen.
i« le schk'indet klingen. — (l. le skaria Klang; le skansch
(= *skanjas) hell tönend; le skanu skanBt klingen «^ le skandel\ le
skandinat tönen lassen.
i. skiriü skirti scheiden ; at-skirai adv. abgesondert KLD [ ] ;
le scMiita Unterschied; le schk'irba Ritze; skirejas Schiedsmann; le
schk'ir&ns Abschnitzel; le schk'irme Gedeihen {schk'irte-s gelingen) ^
skirslau skirslyti iter. (zu skirti). — t. prät. sk^riau (zu skirti); «fcj^
rimas nom. act.; skyrejas, le schVirejs nom. ag.; shjrius Unterschied.
— d. skarä abgerissener Fetzen, Lumpen, le skara krause Wolle,
Zotte, Büschel, davon denom. skärü skaraü skärti zerlumpt werden,
nur-skär^s pt. prt. a. zerlumpt, skarineti zerlumpt einhergehen; ?Ie
skarba Splitter.
i* ap-skirb^s G {p'Snas) pt. prt. a.^ stinkend geworden, ange-
gangen. — 6. ?le schk'erbs herb, bitler-sauer. — <*. ?le skarbs
scharf, streng, rauh.
i» si^skirdusios köjos aufgesprungene Füsse KDL (s. v. auf-
springen). — €• skerdzü skerdzaü skersti (Schwein) schlachten, eig.
S1] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 343
spalten, le schkerfchu, schk'erdu schk'erft spalten, aufschneiden, theilen,
verschwenden; skerdzu skerdeti Risse bekommen, aufspringen (Haut).
— U, skardyli iter. G schroten, le skardlt zertheilen, zerstampfen,
J 1131. 8 u. ö. vom Pferde »stampfen« (die Erde: zemüz^ skard^-
datnas); skardp Abhang, Steile, Ufer, dem. skardelis J 28. 6 u. ö.,
WP 82, vgl. den Dorfnamen Skurdupenai; skardus IG 117 steil.
i. le schk'irpta Scharte. — €• le schk'erpele Holzsplitter; le
schk'erpis das Pflugmesser zum Rasenpfluge ; scIik'erpH Rasen mit dem
Rasenpfluge schneiden.
%• sklindas N Riegel. — €• sklendzü sklendzaü skl^sli schleudern
intr., z. B. vom Schlitten, auch »schweben« (vom Vogel). — tt. le
sklanda »die schräge glatte Schleuderstelle auf dem Winterwege« ÜLD,
päsklanda N Ort, wo der Schlitten schleudert, pasklandüs schief-
liegend, Schleudern verursachend, uz-sklanda B Riegel, \g\.pa'-sklandinti
B versch Hessen ; le sklandis abschüssig; sklqstis m. Riegel <^ sklandaü
sklandpi iter. (zu sklendzü). — Die Bedeutungen und ähnliche Bil-
dungen auch bei sklid"^ s. d.
i. le skribene krummes Eisen, Hohlmesser; le skribinät nagen. —
€• ? skrebü skrebeti rascheln ; ? änt^skrebai Krampe (bei N ein zem.
skribele dss.). — a. 1 skrabeti rascheln J 252. 5; le skrabstul
{skrabufj skrabu skrabt schaben; le skrabindt benagen; le skrabstU
iter. schaben; äl-skrabai Abfall von Zeug u. s. w. BF 97.
%. skvirbinü prickeln, bohren. — 6. skverbiü skverbiaü skverbti
bohrend stechen. — €t. skvarbaü skvarb^ii iter zum vor.
i. prät. slinkaü sUnkti schleichen ; le slikstu sllku slikt sich neigen,
sich senken, untersinken (gleiten) ; slinka Schleicher, Faulenzer ; slin-
kos J 181. 21 dss., le slinks faul, le slinküt faulenzen, vgl. slinkine'ti
BF 172 dss.; slinkis m. BF 172 Erdschnecke; le slikum was im
Wasser untergeht; le sltkmis Morast - slinkeii N iter. dem. ein wenig
rutschen ; slinklereli dss. — €• präs. slenkü (zu slinkti) ; ? slenkstis m.
Schwelle, bei Sz auch slenkmis (geschr. slynksnis^ unter prog)^ vgl.
jedoch ein le sledfu siegt stutzen ULD, Bi I. 365. — a. slankä und
släiike Schnepfe; slankä Schleicher, Faulenzer; slanke N Triebsand;
slänkius Schleicher; slänkius KLD steiles Flussufer, richtiger iemiu
slänkius Erdfall an steilen Ufern KDL '-> slänkioti iter. (zu slenkü). —
Vgl. slünkim bei Don. Name eines faulen, liederlichen Bauern, le
slunk'is Lümmel, Schlingel. — ? Vielleicht dazu ausser der Reihe
Abliaiidl. d. K. 8. Oesellscli. d. Wissenscb. XXI. 24
34i August Leskien, [82
le daiks gefügig {slaika ruka freigebige Hand' ; le slaika eine Art
Schlitten.
i. pa-slipli^ prät. slipo BF 172 unbemerkt verschwinden. —
6. skpiü präs. verbergen; le slepju slepH iter. verbergen; le slepens
heimlich. • — S» prät. slepiaü inf. slepti (zu präs. slepiü) ; slepimas
nom. act.; slepikas nom. ag.; le slepSjs Hehler; "? pa-sle'psnei Wei-
chen (bei N auch Schamtheile) , slepmos N dss., le paslepenes dss. —
a. slapiä adv. instr. sg., slaptomis adv. i. pl. heimlich zu slapia N
Heimlichkeit, paslaptä Hinterhalt; slapte Sz Verborgenheit {potajem"
nosc) ; släpczas verborgen ; paslaptis f. i-st. Geheimniss WP 29 ; slapus
heimlich thuend ^ slapaü slappi; slapstaü slapst^ti iter. (zu slepiü) \
slapinti N verstecken.
t* smiltis f. i-st. Sand. — €• le snieltains sandig (le stnilts f.
Sand); smeltis f. NBd sandiger Acker, vgl. le smelis Wassersand im
Felde. — €• smüynas G sandiger Acker, vgl. le »melis Wassersand
im Felde.
%• le smilgstu smilgu smilgi winseln '^ le smildßt iter. dss. —
6* le smeldfu smeldfu smelgt schmerzen.
{• ? smilkinp Schläfe (am Kopfe) . — 6. le smelknes feines Mehl,
das beim GrUtzemachen abfällt (daneben smalknes Feilstaub, Säge-
späne). — €1» le smalks fein. — Lit. smulküs fein, smülksiu smidkau
smülkti fein werden.
i» smilkstü smilkaü smilkti dunstig werden, glimmen, le pS-
smilkstu smilku smilkl versanden (eigentl. ersticken, vgl. unten stnel-
kiü); smUkalas G Weihrauch; smükmenai N Räucherwerk -- smilkaü
smilkpi caus. Dunst machen, räuchern ; smUkinü dss. — €• smelkiu
srnelkiaü smelkli ersticken (von Pflanzen, die andere erdrücken). —
a. smälkas Dunst; ap-smalka G Lack; smälktas N Stelle im Walde,
wo das Holz dicht steht; smälklis m. und smälkstis m. Dunst.
i» smirstu smirdau smirsli stinkend werden; smirdiu smirdeti
dur. stinken; pasmirdelis Stinkender (Schimpfwort); smirdas Stänker;
smirdis und smirdzm dss.; le smirda dss.; le smirfcha dss.; le smir-
dekl'i m. pl. Unrath; smirdulis N Gestank; smirdälius^ smirdelius
Stänker, smirdele Zwerghollunder ; smirdm N stinkend (aus Sz unter
parkotem, wenn nicht ein prt. präs. zu smirdu Sz) «^ le stnirdeUl
stänkern (vgl. smirdelis Stänker); smirdinli; le smirdinät stinkend
machen. — €• le smerdelis (und smirdelis) Stänker. — U. le smards
83| Deh Ablaut der Wuhzelsilben m Litauischen. 345
Gestank, Geruch überh.; le smarfcha (= *8fnard-ja) dss.; (wenn bei
ULÜ smarscha richtig, so ist es = ^smardr-sja^ vgl.) lit. smarsas N
(schlechteres) Fett (= ^smardsas)^ smärstas N Gestank; smarsU
KLD [ ] dss.; smärve (= ^smard-ve) dss. - smardinli stinkend
machen.
i. pr spigsna Bad (i vielleicht Vertreter von ö) . — CK. pr spag-
tan Bad.
i. le spilwa »Teichgras, Samenwolle, Hopfentraube u. a., die
Seele der Federpose«, le spilwens Bettkissen; le sjnlwines feine flat-
ternde Birkenrinde. — d. le späh Heft, Stiel; spal^s, pl. spälei^
]e spafi Schaben (Abfall beim Flachs); le spalwa Feder (des Vogels).
— Z. Th. zweifelhafte Zusammenstellung.
i« spindis m. N Stellstätte, geradlinig durchgehauene Waldlich-
tung; spindzm K dss. (doch vielleicht zu spindi'ti glänzen). —
6. spendzu spendzau spfsli Fallen stellen (spannen). — d» spqslai
Falle, le spüsls Fallstrick '** spandyti B iter. (zu spfsti) ; le spuslit
Fallen stellen (zu spmls).
i. spistu spindau spisti inch. erglänzen; spindiu spindeti g\}Sinzen^
le sptdu spidel; al-spindis m. N Wiederschein am Himmel; spinduh^is
Glanz, Strahl - spistereii ein wenig aufleuchten. — d» le spüfchs
(= ^spandjas) glänzend; le spudrs (= ^spandras) blank. — Dazu
viell. spindis (s. das vor.)
%• spingti spingeli Schi. Lsb. (»Räthselwort«) glänzen, vgl. ebenda
als Räthselwort spinge' die Glänzende; spingi^ m. N Durchhau im
Walde (vgl. oben sphidis); le splgana eine Lufterscheinung, le spi-
gans dss.; le ^p^am^ Irrlicht ; le splgulis Johanniswürmchen ~ le spi-
gtUiU schimmern. — d» 1 spangi^s Schielender; le spügalas Glanz ^
le spugui glänzen.
i» spiriü spirti hinten ausschlagen, mit dem Fusse stossen;
spirä: aviü spirä Schafmist, ziög-spiros Sägespäne; spiris m. N Leiter-
sprosse; atrspirth f. i-st. Stütze - spirdau spirdyti iter. KLD [ ]. —
i. prät. sp^riau (zu spirtt) ; spjrimas nom. act. ; ät-spyris m. Stütze -*'
spyre'ti dem. (zu spirti). — e. le speH* spert mit dem Fusse stossen ->*
le sperinät iter. — B. ie spßru prät. (zu spert); le spSr^ns starker
Schlag. — d. le spars Wucht, lit. ai-sparas Widerstand WP 246;
pa-spara G Stütze, sq-spara Gehrsass; spardus N von einem aus-
schlagenden Pferde (aus Sz unter kon\ ist aber vielf. prt. präs. =
346 August Leskien, [8*
spärdqs von spärdyti); spardulis N Schlag, Stoss; spärnas Flügel;
pr sparts stark; pr spariin a. sg. Kraft, pr sparlint stärken; 1 spärtas
N Band; sparlüs J 97. 16 anhaltend, verschlagsam - spärdau spar-
dyli iter. (zu spirti),
%• splintü splitaü splisti KLD [ ] breit werden. — €• präs.
spleczü und pleczü breite aus, le pleschu (neben pUschu) inf. plesi
(neben plest) breit machen. — ^. prät. spleczaü und pleczaü, inf.
spie Sil und plesti, le prät. /)/^^w; spletimas nom. act.; spletikas nom.
ag. '-' plesteleti ein wenig ausbreiten MLG I. 375. — tt. le p/afe breit;
platüs breit, le plaschs (= ^platjas, Vertretung von platüs)^ davon
denom. plantü plataü plästi breit werden; vandu eü sam-plalä das
Wasser steht oder geht dem Ufer gleich hoch. — Ä. plötas in der
Phrase: rugei plötais iszplik^ KLD das Korn ist platz-, stellenweise
ausgebrannt; plötis m. Breite - le plätil iter. ausbreiten. — Die Zu-
gehörigkeit der Worte von platüs an ist fraglich.
i. le spridfigs rasch, munter; spriges BF 175 Knipse, Schnipp-
chen; le sprigulis Dreschflegel - le spridßnät klatschen, spritzen. —
€• le sprägshi sjjregu spregt (neben sprägt) platzen, bersten ; le spr^-
gains rissig, geborsten - le iter. spregät, — Cl» spragü sprageti
prasseln, platzen; spragä Zaunlücke; sprägilas Dreschflegel; spmgüs
prasselig - spraginti N rösten (= prasseln lassen) ; spragsiü spragseti
KLD [ ] prasselnd anschlagen; le spragstet prasseln. — Ö. sprögstu
sprögau sprögti prasseln, spriessen , . le sprägt^ le spradfens n. act.
Knall; isz-sprogas Schössling; sproga N Spalte, WP 161 fliegender
Funke; sprogalas^ Schössling; sprogaläKLH ausgesprungenes Stück;
le sprägste Spalte im Holz ^ sproginti platzen, spriessen machen.
t. sprindis m. Spanne. — €• spr^ndzu sprendzau spr^sti spannen
(mit der Hand), nti-sprfsti BF 175 abschätzen, le sprefchu spredu
spreft spannen, abschätzen, urtheilen, refl. sich recken, sich drängen;
sprendulis KLD [ ] eingespaltener Stock zum Schleudern ; le sprSsls
Stütze; le spreslis Gewölbe. — U. sprändas Nacken; spranstas B Buckel,
Knauf; le whisch ir sprusiä er ist in der Klemme. — Ausser der
Reihe le spraids Stelle, wo man gedrängt steht; le spraislis Stütze,
Keil, debeS'Spraislis Himmelsgewölbe.
i. springstü springaü springti würgen intr. (beim Schlucken) ^
pri-springseU J 264. 8. — €• sprenge ti BF 175 würgen intr. —
€i, sprangiis würgend (beim Schlucken) - spranginii caus. beim
85] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 347
Schlucken ersticken, würgen machen; le sprängät einschnüren, ein-
sperren.
i. le stiba Stab, Ruthe ; le slibenes^ slibini Stützhölzer der Schlit-
ten; slibüklas 1 246. 11 (= stebüklas) -- le slibät^ stibut ULD schwer-
fällig gehen, lahmen. — Aus Stender ein ? le stibu slibu stibl betäubt
werden. — 6. stebiu-s stebeti-s staunen; ein nu^stebf^s entsetzt Sz
{nuostebis, unter zdumialy); nü-sleba Sz Erstaunen; slebule Radnahe;
stebüklas Wunder - slebinti N in Erstaunen setzen. — €• stebiü-s
stebiaür-s stebti-s sich stemmen; stebas Stab, Strebepfeiler. — d* le
Stabs Pfosten, stäbas B Bildsäule, Götze, släbas Schlagfluss -- slabaü
stab^ti aufhalten, hemmen; stabd^ii; stabinli; stabdinti dss.; slaptereli
dem. augenblicklich stillstehen. — Ü. stöbas NBd Gewalt; slöbras B
Säule ; siobrp Baumstumpf. — Vgl. staibis m. KLD [ ] Pfosten,
Schienbein; staibülas {ränku) Unterarm BF 176; slaibus N stark.
i» siilgur-s ich eile G. — €• stelgiü sielgiaü stelgti starr hinsehen,
} kq stelgti Jem. anstarren, stelgtirs B prahlen, {-stelgti »sich gewöh-
nen auf die Heuschläge und Kornfelder zu laufen« (von Pferden) MLG
I. 233. — Ct. stalgus trotzig, frech B, von Pferden, die jene Ge-
wohnheit haben MLG a. a. 0. «^ stalgauti B trotzen, stolz sein.
i. slimbras Stummel (Schwanz); stimbenjjs dss. — €• stembiü
stembiaü stembti N, KLD [ ] schössen, in Stengel schiessen ; stembras N
Stengel, le stä)rs Binse; stembras Stengel. — d. stämbas N Strunk;
stämbras N Stengel, le stübrs Halm; stambüs grob.
i. pr stinsennien a. sg. eines nom. act. Leiden, pr stinons prt.
prät. a. gelitten habend (so Kat. III, aber I slenuns^ also wohl richtiger
stinom in III). — €• stenü steneli seufzen.
i» slingstu stingau siingti gerinnen (eig. starr, steif werden) ;
le stingrs stramm, steif - stinginti N caus. — €• slengiü-s stengiau-s
stengti'S sich widersetzen, sich anstrengen; le stengs und stengrs
trotzig, streng. — Cl. atstangä Widerspenstigkeit, i-slanga Kraft,
stangüs widerspenstig.
t« stirpstü stirpaü stirpti etwas emporkommen (beim Wachsen),
etwas zunehmen. — €• sterpti-s [üz säwo teistjb{'i) auf seinem Rechte
bestehen (etwa: sich starr machen, sich aufrichten?). — Unsichere
Zusammenstellung.
i. le stringstu stringu stringt stramm werden, verdorren Bi I. 376.
— (l. le Strangs muthig, frisch (zweifelhaftes Wort?).
348 AüGüST Leskien, - [86
i. prät. svilaü svilti schwelen, le präs. svilslu; le sivilis Holz,
das nicht brennen will ; svilmis brenzlicher Geruch MLG I. 20 ; svilus
N glimmend; svilim KLD ein Versengter - svilinti', le swilinäU swil-
dinät caus. versengen. — f. präs. svylü (zu svilti); pri-svijlos An-
gesengtes (bei Speisen) ; svyl^s »eine Senge« KLD [ ] . — 6. le präs.
^wel^u swelt sengen trans. ; le swelme Dampf. — €•. le prät. stvelu
(zu swelt). — U. le swals und swala Dampf.
i. svimbaliuti N, KLD [ ] baumeln. — d. svämbalas Senkblei,
Loth , svämbaliüti baumeln ; svambus durch Schwere schwankend (von
Aehren) LB 344.
i. prät. sviraü svirti das Übergewicht bekommen, präs. svirstü
MLG L 73; le swira Hebebaum; le swiris (neben stviris) dss.; ptmäu-
sviris halb überhangend; svirtis f. i-st. Brunnenschwengel; le svirte
Hebebaum; svirus KLD nach N (bei N svyrtss^ aus Sz unter uwisty^
wohl sicher prt. präs. = sv^rqs) schwebend. — %. präs, svyrü (zu
svirti) ; pusiäu-svyrä adv. halb überhängend ; svyrus N schwebend
(s. o.) - svyrü ti J 386. 12 baumeln, nu-svyre'ti {rankäs) J 794. 4
trans. ; svyr&ti taumeln, K svyröti taumeln ; svyrineti dss. — e. sveriü
sverti wägen - sverdeti J 1055. 1 schwanken; sverdineti J 141. 13
taumeln. — ^. prät. svüriau (zu sverti) ; svetimas nom. act. ; sverikas
nom. ag. ; le sw^e Ziehbalken am Brunnen. — €1. sväras Gewicht,
svarüs schwer; svarbüs schwer, gewichtig; le swarts und swarte Hebe-
baum; svärtis m. Gewicht, Brunnenschwengel, Wagebalken ~ ^ar^toti
svarstpi iter. (zu sverti), — Ä. svöras KDL (unter »Gewicht«) u. a.
Gewicht an der Uhr. — Ausser der Reihe le sweitis Hebebaum.
i, szirmas grau, le sirms^ davon denom. sirmt grau werden;
szirvas Sz. — (€• szarmä Reif; szärmas^ le sarms Lauge. — Zweifel-
hafte Zusammenstellung.
i. szirdyti speisen B (iter. zu szerti). — e, szeriü szerli füttern;
szermens m. pl. Begräbnissmahl. — 6. prät. szeriau (zu szerti) ; sze-
rimas nom. act.; szerikas nom. ag. — d. pä-szaras Futter.
i. szirszu Wespe; szirsztjs^ szirszlijs dss., le sirsis Hornisse, pr
sirsilis dss. — €• szeriü s szerti-s sich haaren; szer^s Borste; szermü
nach N Wiesel, nach K wilde Katze, Hermelin , le sermvlis Hermelin ;
szernas wilder Eber (nach Fick II, 695). — €• szeriavns prät. (zu
szerti). — d. le sari Borsten, Strahlen. — Zweifelhafte Zusammen-
stellungen.
S7] Der Ablaut der WuRZELsasEN im Litauischen. 349
im nu-szisz^s N prt. prdt. a. grindig. — tt. szäszas Grind, davon
denom. szasztü szaszaü szäszti grindig werden.
im kraujas szlikdamas WP 110 triefendes Blut ; szliknati N triefen.
— Sm szlekiu szlekiau szlekti N spritzen. — CK. szläkas Tropfen ~
szlakü szlaketi tröpfeln N; szläkinti spritzen; le slazü iter. spritzen;
le slazinät dss. ; szlakstaü szlakstijti iter. spritzen.
i. sznibzdü sznibzde'ti zischeln; dem. it. sznibzdineti; sznibzdomis
adv. i. pl. (eines sznibzdä) zischelnd. — dm sznabzdü sznabzde'ti
rascheln; por-sznabzdomis (adv. i. pl. eines sznabzdä) zischelnd J 320. 3.
im szvilujenti nendriale schwankendes Rohr G aus Fort.- Miller
(daneben zvilüti und zvilli aus Mikuckij: schaukeln, wiegen, und
zvüti blasen, sauseb, vom Winde) . — 6. ? szvelnüs weich, sanft (an-
zufassen) ~ le swehtst iter. hin und her bewegen. — ^ le swalsls
Übergewicht «^ le gwalstU iter. hin und her bewegen, refl. sich schau-
keln, schwanken. — Zu den Worten mit i vgl. übrigens: le fwel'u
fwdu [weit »wälzen, fortbewegen, umwerfen« u. a. ULD (wenn /* nicht
Rest einer Präposition).
im szvüpiü szvilpiaü szvilpti pfeifen; szvilpa einer, der viel pfeift
KLD [ ] ; le swilpis Dompfaff; le swüpe Pfeife ; szvüp^ne Pfeife '^ szvil-
pauti] szvilpinti; szvtlpczoti; le stvilpüt iter.; szvilptereti dem. iter. —
6« swelpju swelpu stvelpt pfeifen, MLG I. 371 su-ßzvelpe 3. sg. prt.
(wenn hier nicht e für i steht).
im le swirkslu swirku swirkt knistern, prasseln, szvirksziu szwirk-
szczau szwirkszti N pfeifen, sausen. — Mit (l vgl. szvarkszczü szwark-
szczaü szvärkszti quaken (von Enten).
im tiles Bodenbretter im Kahn; le tilandi dss.; Ullas Brücke --
le tilät, tilinät ausbreiten. — 6« le telinät (= tilinät). — dm pä-tßlas
Bett; pr lalus Fussboden. — ^* ? tolüs fern, toli ad. fern, isz tölo
von weitem.
im ap'tilkfs zmogüs M durchtriebener Mensch, K construirt dazu
ein tilkstu tilkau Hlkti (die Bedeutung ist »herumgestossen werden^
sich herumtreiben«; slav. tl^kq tUSti stossen; zu aptilkfs vgl. russ.
tolo6nt/j pareii geriebener Bursche, von ders. W.), bei N ap-tilku
tükau iilkti zahm werden (sich die Hörner ablaufen). — 6. telkiü
teUdaü telkti eine Arbeitergesellschaft zusammenbitten (eig. zwingen).
— dm talkä eine so zusammengebetene Arbeiterschaft (slav. tlaka
Frohne) .
350 AcGUST Le8kien, [88
i. pr^t. tilpaü tilpti Raum haben; le tilpe Kramkammer. —
€• präs. telpu. — Ct. talpä ausreichender Raum, talpüs geräumig,
fassend KDL; talpnus fassend, umfangreich MLG I. 391 — talpinti
Raum schafifen, unterbringen.
i. ttmsras schweissfüchsig. — €• temslu temaü temti dunkel
werden; uz-temu m. N Verfinsterung '- temdau temdyli caus. dunkel
machen. — e. sü-teme 3. sg. prt. LB 166 dunkel werden. —
(€• tamsä Dunkelheit, tamsüs dunkel, tämsinti verdunkeln. — Vgl. le
turnst tuma turnt dunkel werden; le tumsa Dunkelheit; le tumschs
(zz: Humsjas^ Vertretung von tamsüs) dunkel.
i. timpstü timpaü timpti sich recken ; i-timpas KLD [ ] Ansatz
zum Sprunge; timpa Sehne (des Körpers) «^ titnpinti »langsam mit
vorgestrecktem Halse und langgestreckten Beinen gehen« KLD; nu-
timplioti skürq JSv 32, vgl. le debeschi tlpufüjä-s die Wolken ziehen
hin und her, le tlpul'üt trübes Wetter werden, le tipuPains trübe ULD;
timpsaü timpsöti {timsöti Schi. Don.) ausgestreckt liegen. — 6. tem-
piü tempiaü tempti spannen ; tempt^va Bogensehne ; temptuve N dss. —
Cl. tamprus G zäh, hartnäckig - tampaü tamppi iter. (zu tempti). —
Vgl. {-tumpas KLD [ ] = \timpas.
i. t{stu tinaü tinti schwellen. — d. tänas Geschwulst, tanüs
KLD [ ] geschwollen.
i. le tinu tinu tlt winden, wickeln, eig. spannen, dehnen, lit.
tinü tinti {dälgi) klopfen (die Sense) ; tinklas Netz. — t. prät. tijniau
(zu tinti). — e. tenvas G dünn, le tms {= lenvas). — Wohl mit
dem vorigen identisch.
i. tistü tjsaü tjsti sich recken; p^-tiselis lang aufgeschossener
Mensch, Lümmel; tisis m. N Fischzug «^ tjsau tisoti ausgestreckt,
lümmelhaft daliegen ; tistereti MLG L 79 dem. iter. sich strecken. —
€• t^MÜ tfisiaü tQsti dehnen; uz-t^sas N Leichentuch; pra-tfsa N Auf-
schub; ap-tfstüve N Tapete. — d. tusas KLD [ ] Fischzug (dial. =
tansas^ tqsas)] vükü isztqsa Wolfsfrass; tqms dehnbar ^ tqsaü tqsijti
iter. (zu teMi).
i. tirti erfahren -* le tirät ausfragen, nach ULD auch »schütteln«,
vgl. le tirinät »schütteln, reizen« ; le th*dit forschen ; tirdineti iter. dem.
nachforschen. — f. präs. tyriü^ prt. tyriau (zu tirti) ; t^rimas n. act. -
tyrineti iter. dem. ausfragen. — d» tärdau tärdyti ausforschen; tär-
dinli dss. — Ausser der Reihe iter. leiräuli-s JSv 5 sich erkundigen.
89] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 351
i. le ÜMl viel und laut reden. — Cl. tariü tariaü tärti sagen;
nu-tarios Sz (unter podeyrzenie) Verdacht; sqtaris f. i-st. Eintracht;
patarlü g. pl. (nom. wohl pa^tarle) Redensart MLG I. 62; tarmä und
tarme Rede, Aussage; nurtariis f. i-st. Tadel, presz-tariis f. Wider-
spruch; presz-larte dss.; preszr-tarüs N widersprecherisch ^ presz-
taräuli widersprechen. — Ä. pr tärin a. sg. Stimme. — Die Zu-
sammenstellung zweifelhaft, da le iiMl nicht mit Sicherheit hierher
gestellt werden kann.
t. le tirkschis Nachtwächterschnarre; le lirkschät schnarren;
tirszkinti klappern u. ä. — €• pa-lerszkia terszke lerkszti frösteln
(klappern vor Frost); le lerkschH schnarren; le terkschens Schnarre; le
terkschk'inäl schnarren, klappern. — d. tärszku iarszkiaü tärkszti KLD
klappern ; larszkiü iarszketi klappern, le tarschket schnarren ; le tarksis^
tarschk'is^ tarschk'ins Schnarre; tarszkülis (dem.) Kinderklapper; tärszkalas
Klapper -- Idrszkinli caus. klappern lassen; tarksztereti dem. iter. (zu
tarszketi). — Vgl. treszkü ireszkeli knistern, prasseln, treszkinti caus.;
traszkü traszketi prasseln, träszkinti caus. ; trahzmas KLD [ ] Krachen.
i» tirpsiü tirpaü tirpli schmelzen intr.; tirpinis geschmolzen «^
iirpaü tirppi caus. schmelzen trans. ; iirpinti dss. — Cl» tarpas
Zwischenraum (indess Je starpa) ; le tarpenis Sudwestwind. — Zweifel-
hafte Zusammenstellung; vgl. noch Hrpstü tirpaü iirpH erstarren;
tirpulp Erstarren, Schaudern (der Haut).
i. iirsztu tirszau tirszti N dickflüssig werden ; iirszlas dickflüssig,
trübe, tirsztas lylüs dichter Regen «^ tirsztinti (von lirsztas) dickflüssig
machen. — €• tersziü iersziaü terszli schmutzen.
im prät. tiszkaü^ isztiszko spritzte auseinander intr. (präs. tyksztui
bei KLD tiszkü). — €. teszkiü präs. dickflüssiges werfen; teszkü
ieszkeii in dicken Tropfen fallen; teszlä (neben taszlä) Teig; teszmu
Euter -' teszkinti dickflüssiges werfen. — ^. prät. teszkiaü te'kszti (zu
präs. teszkiü); teszkimas nom. act. — Ä. taszkas Sz Tropfen, Punkt;
taszlä Teig «^ taszkaü taszkpi iter. (zu teszkiü).
i. trimstu trimaü trimti sich beruhigen (von Schmerzen; eig.
niederfallen), bei*N präs. trimu und ein trimü trimaü trimti {sur-)
zittern vor Frost (eig. gestossen, erschüttert werden), vgl. sutrimdinti
B zittern machen; le trimda Getrampel, Lärm, Angst, le trimdinät
trampeln - trimtereti dem. ein wenig nachlassen. — 6. tremiü tremti
niederstossen, -werfen. — €• prät. Iremiau (zu tremti) ; tremimas
352 AuGD8T Lbskien, [90
nom. act.; tremikas nom. ag. — (€• le tramda unruhiger Mensch;
le tramigs und iramdigs scheu -- su-iramdyti B redigere, le IramdU
scheuchen ; traminti beruhigen , stillen (Schmerzen) , su-iraminli MLG
I. 21 verstauchen, ebend. 136 leise anstossen.
i. irifJiü trikaü trikti fehlgehen, nicht zu Stande kommen, vgl.
JSv 7, sich beim Zählen versehen «^ trikinti irre machen (beim
Zahlen u. a.). — €€• träkas Narr, le traks; vgl. patrakusi pt. prt. a.
f. WP 118 verrückt geworden; iraküs N toll, albern; "f iraknei
Krummstroh.
i. trinü trinti reiben, le prät. trinu; üztrinas J 246. 8 Abmachsei;
trinia bei KLD nach Sz (wohl trynia zu schreiben, der pl. auch bei
K als tn^nios angegeben) SägespSine; trintine N Feile; trintüvas N
Spulrocken, Fiedelbogen, le tritawa und trltaws Wetzstein. — %• prät.
tr^jiniau (zu trinti) ; trpiimas nom. act. ; trytiei KLD [ ] Schwielen
(bei Sz unter odrftwialosc: trinei); ftryn^s Eidotter; tryne N Sz
Pustel ~ trpiioti iter. (zu trinti). — CT. le trüts (= HranU^s) Wetz-
stein. — Ausser der Reihe träiniotl-s iter. sich herumreiben, herum-
stossen (im Gedränge).
i. prät. trinkaü trinkti (zu präs. trenkü) Behaartes (z. B. den
Kopf) waschen (rumpeln); trinkü {trinkiü) trinke*ti dröhnen, le trizu
trizH zittern; le trizens Erbeben; trinka Haublock; trinkis m. Anstoss;
pr per-trinklan a. sg. prt. pass. verstockt ~ le trtzinät erschüttern;
trinkczoti iter. slossen; trinktereti dem. it. dröhnen, trinkteliu LB
346 dss., MLG I. 84 klopfen. — e. trenkü pras. {zu trinkti); trenkiü
trenkiaü trenkli stossen (heftig) ~ le trezinät erschüttern; trenkseti
schmettern (von lauten Tönen). — d. i-tranka N Anstoss, pchtranka
holpriger Weg, tranküs holperig; tränksmas Gedränge, Lärm; le
truksnis Lärm ~ trankaü trank^ti iter. (zu trenkti).
i. tripse'ti JSv 30 auftrapsen. — i. trypiü trypiaü tr^ti stampfen,
treten. — €• trepstu trepti N stampfen ; trepseti strampeln. — In pr
Kat. III inf. trapt treten, er-treppa 3. prs. sie übertreten.
i. trisüu trisziau triszti Sz düngen, stercorare. — €. tresztü
(bei K trfsztü) treszaü treszti trocken faulen, verwesen. — Ä. pa-
traszas N verfaultes Holz; träszkanos Eiter in den Augen. — Vgl.
mit u: trusza NSz Dünger, trusznus MLG I. 391 faul, morsch. —
Dazu auch ? träiszus geil (von Pflanzen) , bei N auch »morsch«, träisza
N Fettigkeit, vgl. träiszi dirvä fetter Acker.
9^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 353
i. ivistu tvinaü tvinti anschwellen (vom Wasser) '-* tvindau tvindyli
caus. — €1. tvdnas Flut, le tvans und tvana Dampf, Danst, tvanüs
leicht schwellend (Fluss). — Ausser der Reihe tvainpp-s {aplink
v^rus tvain^te-s buhlen, von Jacoby MLG I. 75 als »schwellen«
gefasst) .
i. tvinkstü tvinkaii tvinkti schwären, anschwellen, le tvlkt
Schwüle fühlen, vor Hitze schmachten; le twlkulis Schwindel «^ le
twizinät schwül machen; tvinkszczoti iler. »von Pulsen, in schmerz-
haften Geschwüren fühlbar schlagen« KLD. — €• tvenkiü tvenkiaü
tvenkti schwellen machen, tvenkia N es ist schwül. — (l. tvänkas
Schwüle, tvanküs schwül. — Ausser der Reihe le tweizinät schwül
machen; le twaiks Dunst, Schwüle.
i» tvirtas fest (altes pt. prt. pass. von Iveriü)^ davon tvirtinti
befestigen. — e. tveriü tvSrti fassen; le tversme und tversmas pl.
f. Rückhalt, Schutz. — ^. tveriau prät. (zu tveriü); tve'rifnas nom.
act. — U. ap-tvaras NBd Gehege; ap-tvara N das Netz umfassender
Strick, f-tvara »von der Nussruthe abgeschälter Streif zur Befestigung
der Sense am Stiel« MLG I. 236 (die Thätigkeit: f-tverti}^ le pa-
tvara Halt, Schutz; tvarUas B Hirt; tvärsles N Fahrleine; tvartas
Verschlag - tvärstau tvärstyti iter. (zu tvMi). — Ä. tvorä Zaun,
le tväre.
i. isz-tvirkti liederlich werden, aus Rand und Band gehen
MLG L 226. — d. tvarkä Ordnung, tvarkm ordentlich - tvarkaü
tvarkpi in Ordnung bringen.
i. tviska tviske'ti stark blitzen. — f. tvykstu tvysketi knallen
(beim Blitzeinschlagen), bei N blitzen, nach K auch »flackern« (von
der Flamme) ; tv^skinU stark anklopfen ; tv^ksteriti plötzlich knaüen.
— €• (c?) tve'skia malka N nach M das Holz schwelt, glimmt. —
Ct. tvasketi J 1524. 3 blitzen, präs. tvasku Sz (unter btyszcz^ sif)
(vgl. SzP 13 akis wieszpaties toi labiam zibuncios ira ir twcJistunöios
negi saule)^ tvaskü tvasketi plappern, viel schwatzen; tväska KLD
Plapperer, nach N Geschwätz. — ä. tvoskü tvoskiaü tvöksti KLD [ ]
viel schwatzen; tvoskoti N flackern; tvoskinti N stark schlagen.
i. le pa-wila Füllung (als Fundament); vilna Wolle; vilnis f.
i-st. Welle «^ le tvilät rund machen, beschütten mit . . .; le witinät
zwischen den Fingern rollen. — e. veliü velti walken , le well wälzen,
walken; le pa-vel'es (= pavil'a); le 1 weide das vom Regen nieder-
354 Algust Leskiex, (92
gelegte Korn ; velenas KLD [ Walke ; ? veletiä Sittck ausgestochenen
Rasens, Rasen (überb.), vgl. le welens Rasen, Erdkloss; vellüvas
Walke -- le welit iter. (zu well). — €. pröt. veliau (zu velti ; veli-
mas nom. act.; velikas nom. ag. ; vele KLD nach N Walke (bei N
steht we/^^. — n. välas Schweif haare des Pferdes; ap-^ala Sz
(unten okrqg) Kreis, ap-valüs rund; nu-valai und nu-valos Nach-
geburt ; valimjs Tuchrand ; ? vältis f. i-st. Kahn ~ valaü val^ti fort-
schaffen (j-val^li, nth-val^lij pa-valyti)^ vgl. knäto nuvala abgeputzter
Docht KDL (unter »Lichtputze«), Lichtschnuppe; le walslU iter. (zu
well), — Cl» le wäls und wäle Heuschwade; le wäls und wäle Wasch-
bleuel; völas N ünterlageholz (slav.?j ; volai Wellen MLG L 21
(slav.?) - völioli iter. hin- und herwälzen, le wättUj wätät (slav.?).
i. le wil'u will betrügen, lit. privilli betrügen, z. B. J 706. 9,
villi-ff hoffen WP 204, nach N S. 86 das Präs. vilslu oder vilu, pr
pra-ü'ilts verrathen ; villis f. i-st. Hoffnung, z. B. WP 46, MLG L 383 ;
le wiltus Betrug '^ viliöti^ le wil'äl; le wilinät locken. — f. le prät.
wilu^ lit. vylau^ z. B. v^le-s 3. sg. MLG L 377 (zu villi); vylius Be-
trug; v^lis dss. J 193. 26; vyla N dss., vylm N trügerisch. —
€• pr po-wela sie verrielhen; le wells vergeblich, lit. ve/to« G unnütz,
veltü i 181. 27, bei N vellüi adv. vergeblich.
i. vilbti G zwitschern. — 6. velbejöti N lispeln.
i. pa-vilslu vildau vilsti N ererben; pa-vildeti N besitzen. —
6. por-veldu veldeii ererben. — (l. valdzä Regierung; le valsts i-st.
(lebiet, Gemeinde, Staat; valdöviis Herrscher; pr waldüns Erbe (neben
pl. weldünai) -^ valdaü valdijti regieren.
i. le wilgans (neben welgans) feucht; le wilksls noch nicht recht
trocken <« vilgau vilgyti anfeuchten. — €• le weldfu weldfu welgl
waschen (daneben walgt geschrieben) ; le welgs (neben walgs) Feuchtig-
keit; pr welgen Schnupfen; le welgans (neben wilgans) feucht - le
weldfet anfeuchten. — U. le walgs feucht, subst. Feuchtigkeit; ?le
pa-walgs Zukost; f välgis m. Speise; ^välgau välgyti speisen.
i, prät. vilkaü vilkti ziehen ; vilkiü vilkeli bekleidet sein mit . . ;
ap-vilkas N Sammetblume; nü-vilkis Sz (unter zewloka) exuviae,
nach N f. i-st. Abgezogenes; vaid-vilkis Ränkestifter; vilksne N
Schleuder; vilkslyne N Schleuder - le wilzinät in die Länge ziehen.
— €• velkü präs. (zu vilkti); velke Schleife, le wehe Strecke; veUcelä
Zochschleife — (l. le walks und walka Zug, le nu-walka Schlangen-
93] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 355
balg, lit. üz-valkas Bettbezug; üz-valkalas dss. ; väUismas Zug; le
walkans was sich zieht; \ewalk8ne^ lit. valksne ^ Yischzng; le walksts
Fischzug; valküs zähe - vd/feio^i, le walkät iter. {zavelkti); ap-sir-valk-
stpi iter. sich anziehen MLG I. 364, isz^sir^alkstpi KLD [ ] sich ver-
ziehen (von Wolken).
i. ? le wimbas f. pl. herabfliessender Speichel, Geifer - vimdau
vimdyti erbrechen machen (caus. von vemti). — €• vemiü vemti sich
erbrechen, speien; le wemes f. pl. Erbrechungsreiz, Vomirtes; vemalai
Ausgebrochenes (KLD schreibt sing, ve'malas, plur. vemalai^ DL ve-
malas) . — €• prät. ve'miau (zu vemti) ; vemimas nom. act. ; vemikas
nom. ag.; ve malas K (s. vemalai),
t. vtngis m. Krümmung; t;in^6 N dass. , vingmii Bogen machen,
sich schlangeln J 485. 4; le wingrs hurtig; vingrüs sich schlängelnd,
vgl. pr vingriskan List; vingus krumm, gewunden {vingiu kelüziu i
635. 7) -* vingurioti iter. krümmen. — €• vengiu vengiau vengii
meiden. — d. ätvanga Rast; ?le wanga Handhabe (zum Tragen,
von der Krümmung?), ?Ie pl. wangas fesseln; ? le wangals^ wangale
Mangelholz (aus dem Deutschen?); vangüs träge, dazu denom. pa-
vangstu vangau vangti N verdrossen sein ^ vangstaü vangstpi iter. (zu
vengti) .
i. at-vipti (präs. vimpu) MLG L 68 herabhangen (von Fetzen,
von den Lippen) . — f. vypsaü vypsöti mit offenem Munde dastehen,
gaffen; vifpslas N Maulaffe, Tölpel; v^plinti KLD gaffen; le wipnut
lächeln; le wipnigs heiter, scherzhaft ULD. — d, vepiu-s vepiaü-s vepti-s
den Mund verziehen (K schreibt e, indess le weplis Maulaffe, Lüm-
mel, le weplüt gaffen); isz-si-ve'pelis einer der mit offenem Munde
dasteht; veplp; vepelis; veparis Maulaffe ~ vep^ati vepsöti gaffen, das
Maul verziehen (K trennt vepsöti »den Mund halb öffnend, schief
ziehen« und vepsöti mit etwas geöffnetem Munde dastehen; es ist
dasselbe Wort) ; veplinti mit offenem Munde herumlaufen. — Ausser
der Reihe: vaipaüs vaippi-s das Maul verziehen, gaffen.
i* prät. viriaü virti kochen, trans. u. intr. (eigentl. wallen,
sprudeln, vgl. kraüju szirdis suvirim J 842. S5) ; le wira Gekochtes,
Gebräu; le ap-wirde Geschwür unter dem Nagel [kur asinis ap-wirti-
schas ULD); le wirags Strudel; püs-viris halb gar; viralas Gericht;
le wirtdis Sprudelquelle; virtis m. Strudel; virtuve' N Küche - virinti
kochen lassen; le wirinät, — f. at-vyrs Gegenstrom am Ufer MLG
356 August Leskien, [^*
I. 21 ; v^rius Strudel. — 6. präs. verdu (zu virti) ; versme Quelle,
le wersme Glut - le werdlt sprudeln. — d» le at-wars Wirbel; varüs
kochbar Sz [warzysiy), — Ä. le wärs Suppe; isz-vora Sz Suppe; le
ifwäres f. pl. Ausgekochtes; le wärags Gericht <^ le wäril kochen
trans.
t. pr et-wiriuns pt. prt. a. (Präsens 2. sg. opt. pr et-werrais
öflFne); ät-viras offen; at-viromis adv. i. pl. (eines -vira) N offen,
klar; le sth^res f. pl. Querstangen bei der Egge; ?le wirkne Auf-
gereihtes, Schnur; virtinis Schlinge; virvef Strick -^ le wirinät iter.
auf- und zumachen. — €• venu verti öffnen und schliessen, einfädeln.
— 6. prät. vertäu (zu verti) \ verimas nom. act.; le w^rens Stich
mit der Nadel; le w&rens Faden. — a. per-^ara Netzleine; api-^ara
JSv 23 Strick, vgl. ap^are' KLD [] Schnur; per-varas Langbaum
am Leiterwagen, ap-varas G Schnur der Bastschuhe, par-{=: per-)
varai G Thor; vartai Thor; ap-värtis f. i-st. Strick; ap-värte Schnur
der Bastschuhe •** värstau värstyti iter. (zu verti). — Ä. le sa-wäri
(neben sa-wari, sa-wares) Querstangen bei der Egge; f vor as Spinne;
fvorä Reihe; apy-vora NSz Schanze.
im pr wirds Wort. — Ct. värdas Name.
t. pra-virkstu virkau virkti anfangen zu weinen, nach KLD auch
wirksztu wirszkau wkkszti -- virkauti iter. J 849. 11 weinen; virkdau
virkdyti; virkinti caus. weinen machen; virkulioii N dem. ein wenig
weinen. — €• verkiü verkiaü verkti weinen; verksmas das Weinen;
verksme N dss.; verksmas Heuler, Schreihals.
i. virpstu virpau virpti [pa-) verkommen (am Körper) ; virpiu
virpe'ti beben, zitterig sein, bei N auch virpu virpti; pä-virpas N, KLD
[ ] armseliger, verkommener Mensch, Losmann, pr po-wirps frei (vgl.
pv piMvierpi verlassen), pr gruntr-powirpun grundlos; le wirpeles f. pl.
Herumdrehen eines Schlittens auf dem Eise; le wirpuls (auch werpels)
Wirbelwind; virptd^s N das Zittern. — €• verpiü verpiaü verpti
spinnen, pr et-werpeis 2. sg. opt. präs. vergib (erlass), pr et-^erpsnä
Vergebung, et-werpsennien a. sg. dss.; verpalai Gespinnst; verpole N
dss.; verpöne Gespinnst; \e werpata Scheitel; verptüvas N Spinnmvbel.
— €€• värpas Glocke; värpa Aehre; vdrpstis BF 195 dünne Stange;
varpste' Welle, um die sich etwas dreht, Spindel ~ varpaü varp^ü
N, Sz aushöhlen, durchlöchern, spicken, vgl. kirmrvarpa Wurmfrass
im Holz. — Fick II. 663 unterscheidet drei Wurzeln varp: werfen;
95] Der Ablast der Wurzelsilben im Litauischen. 357
zittern; loslassen, schwanken. Die Grundbedeutung wird »los-
lassen« sein.
i» virstü virtaü virsti umfallen, stürzen intr. ; virtis m. Sturz,
virtTJne Stelle, die zu Fall bringt; isTr^rszczas, iszr-virkszczas auswärts
gekehrt -' virtäuti N laviren; virteliüti N wackeln. — €• verczü
verczaü versti wenden ; at-verslüvi N eine Art Klappbank , le werstawa
Pflugsterz. — d. iszr-vartas N Umdrehung; pr^-varta Zwang; le
warscha (= *wart-ja) Thorriegel; värsmas Gewende, le warsms Strich;
varmä Pfluggewende, nach N auch varmas^ varmis, vgl. le ap-varmis
Kleidersaum ; värstas Gewende ; pr aina-^arst einmal (Orig. ä) «^ vartaü
vartjti iter. (zu versli); varialioti WP 163 umstürzen; pr wartitU
wenden.
i. le wirfchuns wirfu-s wirftg-s rücken, vgl. if-mrßtg-s ausfasern;
virz^s (neben verzya) N Strick; pa'i)irzi8 m., pavirzes f. pi. Zugabe
zum Lohn <« virzeti binden, z. B. J 857. 1 4 ; virzau virzyü N binden.
— e. verziü verziaü verzti schnüren, le werfchu werfu werft wenden,
drehen, iter. lewerfH, vgl. verze'ti i 386. 15 umgewickelt sein; isz-
veria N Beute, Raub; verzp (neben virip) N Strick. — Ct. värzas
Fischreuse; le warfa dass. <« varzaü varzijli iter. (zu verai)\ ?le sa-
warfät zusammenklecksen, Arbeit schlecht machen.
t. le wißnät umherfahren. — %• pa-vyie'ti ein Stück Wegs mit-
fahren lassen BF 200; v^zoti ein wenig fahren. — €• veiü veziaü
veiti fahren; mart-vezijs Brautführer. — 6. prorveta tiefes Geleise;
vezd' Gleis «^ vezinti caus. fahren lassen; vezineli iter. dem.- ein
wenig umherfahren. — d» üz-vazas N Auffahrt; pa-vazä Schlitten-
kufe; väzbas Fuhrlohn; le wafchas pl. t. und wafchw pl. t. Schlitten;
vdzis m. dss. ; vazmä Fuhre; vazta Fuhre Sz (unter podwoda) *^ va-
zivili fahren; vazinüti dss. iter. dem.; le wafät herumführen, herum-
schleppen. — €t. pra-^ozä tiefes Fahrgleis; pra-^oz^ N Anfurt.
i. zilstü Sz (unter siwiejf) züaü zilti grau werden; iilas
grau, le fils blau, le ßinäl blau färben, le ßlgans bläulich. —
i. iylü präs. (zu iilti). — €• ziliü ieUi grünen, wachsen; idmä
Schössling; ielvijH N grünender Stamm '^ zädau zeldyti wachsen
machen; le felinät dss. — ^. pr&t. ze'liau (zu zeUi); zeUmas nom.
act. — CS« at-zalas N, le at-fals Schössling; at-ialä Nachtrieb; i&lias
grün, le faVsch dss. ; le falgans grünlich «« ialiüti grünen ; zälifUi grün
machen. — &• ioW Gras, Kraut «^ iolineti Kräuter lesen.
358 AüGLST Leskien, 96]
im züpstü zilpaü zHpti dunkel, trübe werden (von den Augen).
— €• ap-zelpimas akiü Augenveiblendung (so zu lesen das bei N
S. 515 aus Bd angeführte apszelpimas; es kommt von einem transi-
tiven zelpti trübe machen) , äkys apzelptmos B {ap-fchalpmes ebend.
ist nur andere Orthogr. für e; das apsülpusios äkys B Verschreibung
der Handschrift?). — Vgl. le fchilbstu fchilbu fchilbl erblinden (da-
neben fchulbt).
i, zindu zindau z\8t% saugen (an der Brust), le präs. fifchu^ d. i.
Hindzu, nu-zisti trans. (aussaugen) ausmergeln; iindis N f. i-st.
Nahrung der Mutterbrust; le fidals Muttermilch; zindulp Sz Säug-
ling [osesek] ^ zindau zindyti caus. säugen; le ßdU u. fidinät. —
dm zändas Kinnbacken; zqslai; zqslos B Gebiss (am Zaum).
i. pa-zistu zinaü zinti kennen; zinaü zinöti wissen; ziniä^ zine
Kunde, sq-zine Gewissen; pa-zintis f. i-st. Kenntniss. — t* zymjs
Zauberer, zyne Hexe. — C zenklas Zeichen.
i. zijgis m. Gang, Geschäftsgang, zygeli einen Gang thun (wenn
= zigis); zingine das Schrittgehen; zingsnis f. u. m. Schritt. —
€0 zengiü zengiaü zengti schreiten. — (l. prazanga Uebertretung BF
158, Sz (unter wysl^pek); zängosios kojeles (im Volksliede) die
schreitenden Füsslein (von einem m. zangus) -- zangstaü zangstpi iter.
(zu zengti),
t. prät. ziraü zirti zerstreut werden, auseinander fahren. —
i. präs. zyrü. — e* zeriü zerti scharren. — €• prät. ze'riau (zu
zerti); zerimas nom. act. ; zerikas nom. ag. — €1, zarstaü znrstpi iter.
(zu zeriü).
t. zirgas Boss ; zirgei N Kreuzhölzer auf dem Dache ; zirges
Schrägen, Holzbock; zirgles KLD »zwei an einem Ende schräg ver-
bundene Stangen, welche statt der Zochschleiche gebraucht werden« -
zirglioti gespreizt gehen; zirglenti; zirglinti dss.; zirglineli dem. dss.;
iirgsaü zirgsoti gespreizt stehen. — €• zergiü zergiaü zergti die Beine
spreizen, gespreizt gehen. — d. ap-zargomis (i. pl. f. adv.) sc. jöii
rittlings; ap-zargei adv. dss. (von einem Adj. zargm) ^ zargaü zar-
gpi; zargstaü zargsttjti iter. (zu zergti); zargine'ti iter. dem.
im ap-dimbu^ zlibau^ zlibti Triefaugen bekommen MLG I. 223;
zlibds triefäugig, blödsichtig. — 6. ilebiü zlebiaü zle'bti schwach
sehen können.
im zvilgu zvilg^'ti KLD [ ] glänzen ; zvilgiu zvilgeti schnell hin-
d7] Der Ablaijt der Wurzelsilben im Litauischen. 359
blicken; zvilgis m. Blick, i-ivilgis Anblick; at-ivilga N Rücksicht «^
ivilgtere'ti dem. blicken, zty^lglereti Schi. Gr. — C. zvelgiü zvelgiaü
zvelgti blicken. — CT. zvälgas Beschauer, pl. zvalgai Brautschau;
ap-zvalga Sz Umsicht (unter niebacznie)^ ap-zvalgüs umsichtig -- zvalgaü
zvalg^ti iter. (zu ivelgli).
i. zvingu (oder zvingstu) zvingau zvingli anfangen zu wiehern --
zvingauti wiehern iter. — 6. zvengiu zvengiau zvengti wiehern, le
fwegt — a. aukso pazvange'U J 550. 7 Theil des Pferdegeschirrs -
3. sg. pr. zvänga inf. zvange'ti klingen, z. B. J 194. 14; 1348. 3;
zvanginli klirren, klingen lassen IG 1 77. — Ausser der Reihe le fwai-
gät iter. (zu fwegt).
Es folgen die primären Verba mit i vor r, /, m, n oder einer
diese Consonanten enthaltenden Gruppe, bei denen kein Ablaut
nachweisbar, zugleich solche, bei denen i nach r u. s. w. steht, und
beliebige, wo die verwandten Sprachen ein correspondirendes e oder
0, a nachweisen.
1. brizgu brizgau brigsti fasern MLG I. 224, brizgü brizge'li aus-
fasern; iszbrizga Faser; brizgilas Zaum.
i. le dirschu (und dirstu) dirsu dirst cacare; le dirsa podex.
i. i'drinkfs (B indrinkens) prt. prät. a. »frech, gierig«.
i. pa-kirsli B aus dem Schlafe auffahren, isz mSgo pakird^s
WP 113, pakirdo 3. sg. prt. ib. 33, pakird^s aukszt'^ ib. 195; pa-
kirdinti B erwecken, bei Sz präs. pakirdzu erwecke {przebudzam) .
i. pr au'klipts verborgen.
i. knimbü knibaü knibti {su-) zusammenknicken intr. (Halme, Knie),
N hat auch knefnbti als präs., daher ist das Wort hierhergestellt.
i. püü pilli giessen (füllen), prügeln, le pilslu pilu pilt; le pilu
pikt triefen; al-pildas Ersatz J 1016. 7; püncLs voll; pilvas Bauch «^
le pilinät träufeln; pilstau pilstyti iter. (zu pilti). — f. prät. p^liau
(zu pilti) ; p^limas nom. act. ; pylä Prügel ; pylus (1. p^lius) N Vollmond,
preszpylis N zunehmendes Mondlicht.
*. le if'pilzis ULD prt. prät. a. (= ^pilk^s) übermüthig.
i* pim pisaü pisti coire c. fem. (hierher wegen tooc, s. Fick
IL 605).
i* silpstu silpau silpti schwach werden; silpnas schwach.
im skinü skinti pflücken, le schk'inu schk'inu schklt. — t. prät.
skijniau; nom. act. sk'^nimas; le schk'lnis Heuraufe.
Abliandl. d. K. S. Gesellsch. d. Wisseiisch. XXI. 25
360 ACGCST Le$KJ£5, >8
i# le sifu ?^ ffirt »kriegerische Streif- ond Raubzüge machen;
omherschwänneD « a. a. ; le sira und sifa das Herumstreicheo ; le sifi
Marodeure. — f# le siru präl. (zu sirt] - le giräl, sirH iler.
i# 3. sg. nü-slimpa entschlüpft JSv 6, le slip^tu slipu dipl gleiten,
schief werden; le slips schräge, steil - slimpineü J 312. 6; 417. 19
entschlüpfen; le slipet caos. schräge machen.
i« smilu smilti sich versengen G.
im pa-^piUjf8 prt. prät. a. BF 174 dünn im Stroh (von Korn),
im Wachsthum zurückgeblieben.
i. le spirgslu spirgu »pirgl frisch werden, erstarken (eig. auf-
spritzen intr.?); spirgas Griebe; le spirgts frisch, munter '^ spkgau
spirgyli Feltstückchen (Grieben) braten (prasseln machen).
i» ie swirkstu ffwirku swirkt rieseln, knistern.
i. szile-8 3. sg. prt. WP 74, 211 sich bestreben [Arius szilies
darodili sunu diewa mazesni tejsant uz dietva tiewa 211).
i» prät. szilaü szilti warm werden , le präs. silstu ; sziüas warm --
Hzildau szildyti caus. wärmen. — f. präs. szylü.
f. styntü slyraü shjrti erstarren ; stijroB äkys starre Augen KLD.
i« szvinkslu szvinkau szvinkti übelriechend werden.
i» prät. tilaü tilti schweigend werden; tilstus Sz schweigsam <-
iHdau tildyti zum Schweigen bringen. — %. präs. tylü (zu tüli) ;
lyliü tyleti schweigen; tylä das Schweigen, lylüs schweigsam. —
Vgl. slav. tolili besänftigen.
i* lingslu tingau tingti faul werden; tingiu tinge'ti faul sein;
tinginp Faulenzer, tinginiäuti faulenzen; lingüs faul.
i» triszu triszeli N zittern.
i. tvHkli, 3. sg. prät. tvüke (WP 274 ^ undeniu karsztu tvilkiej
(las indess zu tvilkyti gehören kann), auch G, (mit heissem Wasser)
bcgiessen; iter. bei G ap-tvilkyti bespritzen, benetzen.
i. Ie fwirgslu fwirdfu fmirgt rieseln, grobkörnig zerfallen; le fwirg-
fde Kies, lit. ivirgtdas Kies.
ni. b) e e a o (ä).
6. bedu Sz (unter kopam) grabe, le befchu bedu befl schütten,
begruben; mol-bedis m. NBd Lehmgrube; le bedeklis Maulwurfshaufe;
lo bvilrc Grube ~ le bedil graben, begraben. — €l. f baslis ra. Sz
dd] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 361
PfabI, J 159. 8 «^ f badaü hadpi stechen, mit spitzen Dingen stossen;
Ihastaü-s bastytis sich herumtreiben, vgl. bei ^ pabastä Herumtreiber.
— Die Zusammenstellung zweifelhaft.
e. 8U-berbdj^ auzulas WP 260, su-berbijim Upa WW 260, nach
G alt, moosig. — CL. le ba[h)rbala^ ba{h)rbani feine weisse Birken-
rinde (lose hangend), alte Lumpen, Klunker; "fbarbalas N ein von
Strauch gedrehtes Tau an den Holzflössen. — Zusammenstellung
zweifelhaft.
e. degü degiaü degü brennen trans. u. intr.; degas N Feuer-
brand; le degas f. pl. ausgebrannte Stelle; le deglis Feuerbrand; le
deguls brennender Schwamm; degsnis f. Brandstelle; ugnä-dektis f. i-st.
und figm-dekstis f. i-st. brennende Kälte; dege'se und dege'sei in. pl.
Brandstelle, degesas BF 106 brennendes Stück Holz; degus NSz
Feuerbrand - degmti caus. brennen lassen. — €• nude'gulis, nüdegul^s
Feuerbrand K. — d. dägas Ernte, isz-dagas ausgebrannte Stelle
(durch Ausbrennen urbar gemacht) ; dagä Ernte, isz-daga von der
Sonne versengte Stelle des Feldes; dag'^s Klette, dageti J 584. 6
wie eine Klette stechen (oder wachsen?); däglas (daneben diglas)
weiss und schwarz gestreift; le dagla Brandfleck, daglaim gestreift ;^
le daglis Zunder - dagiöti iter. (zu degü)^ z. B. J 380. 6; 186. 4. —
^« atö-dogei Sommerroggen.
€• deriü [derü) dereti dingen; taugen, wozu dienen, J 498. 2
gedeihen; siiderme Sz Vertrag (unter rokosz) -^ derinti versöhnen. —
€1» sändara JSv Einwilligung; pa-darm Sz officiosus; padaras Sz
{skutek) eventus, üz-daras Abmachsei, Gewürz (vgl. dar^ti); äl-daras
oflen {at-darpi aufmachen) ; ap-darüs geschickt <« daraü darpi machen
(zum Bedeutungsverhältniss vgl. d. »machen« = fügen). — €1. dorä
Eintracht, sur-si-doröti i 1245.2, nedorasN lasterhaft, pa-doHis fried-
fertig, das einfache dorus [donos szirdes)^ z. B. IG 12; daneben dora
als f. [dora szirdis IG 158) von doras ib. 159 bescheiden; üz-doris
verschliessbarer Raum {üzdanjti).
e. derkiü derkiaü derkti besudeln« — tt. ? le darks und darzs
(= ^darkis) Schecke; därktas N hässlicher Mensch; darkem NM
unreinlicher, hässlicher M.; darküs garstig -^ darkaü darkpi iter. (zu
derkti) entstellen, schmähen.
€• dvesiü präs. ich athme. — €. prUt. dvesiaü dvesli [nu-dv.
verenden); dvesimas das Verenden; pri-dvesas N dumpfig; le dwesele
25*
362 August Leskien, [100
AtheiD, Seele, Leben - dvesuti Athem holen. — a. dvasiä [dvase]
le dwascha^ dväse Geist; at-dvasiis f. oder m. Sz Athmen (unter od-
dech). — Vgl. dus-,
€• elgiu'-s elgiaür-s elgtis sich betragen, sich wie verhalten. —
a, algä Lohn. — Zweifelhafte Zusammenstellung.
C erziu knurren - ^zinti caus. zergen. — ft. arza G Streit (in-
dess kann a = anl. e sein).
e. gerbiu gerbiau gerbti ehren Sz {szanuj^), WP 200; ap-si-
gerbti sich ankleiden JSv 6, 8, le ^erbju ^erbu ^erbt kleiden (Ver-
mittelung der Begriffe »schmücken«?); le ap-^erbs Kleidung. —
d. garbÜ Ehre, bei SzP 8 garba^ garbüs Sz ehrwürdig -* ? le garbät
schonen, pflegen, warten; gärbirUi rühmen; garbstaü garbst'jiti iter.
(zu gerbti) KLD rühmend herzählen.
€• glemziü glemziaü gUmiti zusammendrücken, stopfen. —
d. glamiaü glamz^li iter.
e. le grebju grebu grebt schrapen, aushöhlen; le greblis Harke,
Hohleisen -^ le grebinät iter. — <5. gre'biu gre'biau grebti harken,
raffen; grebhjs Harke -^ grebstaü grebstpi iter.; grebstineü dem. —
€K« le grabas f.pl. Zusammengerafftes; grabüs fingerfertig '^ grahine'ti
iter. dem. hin- und hergreifen; le grabinät iter. (zu grebt). — Ä. le
gräbju.gräbu gräbt greifen, packen, harken, lit. gröbti raffen, packen,
z. B. J 503. 1, JSv 66; grobi G Beute; le gräbulis Langfinger - grob-
styti WP 14 7, le gräbstit iter. (zu gröbti).
e. le gremüt wiederkäuen. — ^, ? le grSmem Sodbrennen ULD.
— d. gramsnoti N kauen. — Ä. le f gräms Sodbrennen ULD; gra-
mulys Wiederkäuballen, grömuliüti wiederkäuen.
€0 gremzdu gremzdau gremszii schaben , le gremfchu gremfu gremß
nagen, beissen. — d, pa-gramdis N Nachschrapsel ; le gramschVi m.
pl. Nachbleibsei, AbfUUe <^ grämdau grämdyti iter. schaben; le gramr-
stU iter. zusammenraffen, aufharken.
6. grendu [grendzu) grendau gr^sli reiben, scheuem, abschinden.
— d. grandinis m. u. a. Schabwerkzeug - grändau grändyti iter.
€• le grefm prächtig. — d, graziis schön ; grazna Schönheit. —
€l» groie G Schönheit, grozybe dss. ; grözinti schmücken.
€• kedenü kedönti zupfen. Wolle krämpeln; le kedinät Wolle
zupfen, vgl. le keda^ k'edra Spindel; kedeti N bersten. — d» ködas
Wickel von Flachs u. a., Federbusch der Vögel, Schopf (Schleicher
104] Der Ablaut der Würzelsilben im Litauischen. 363
schreibt kudas^ wozu das le kudaVa kudeUch = Hl. küdelis Wickel
von Flachs etc. stimmt). — Zweifelhafte Zusammenstellung.
€• kenkia kenke kenkti weh thun. — CK. känkas NSz und kanka
NSz Qual -- kankinti peinigen.
C. pri-kergü WP H, 101 anbinden, beifügen. — a. su-kargpi
iler. verknüpfen MLG I. 80, BF 121.
ۥ klestinti Schi. Don. (nach SchU jetzt klestenti) hin und herschlagen
(vom Winde). — ^. kle'styti Schi. Don. peitschen, stäupen (KLD schreibt
kleslyti); dazu einige Worte, deren Schreibung ebenso unsicher ist:
klesczu {klestu) klesczau klesti N (e; e KLD) sich bewegen, rauschen
(z. B. von Blättern) , dss. Wort bei N peitschen, stäupen ; klestereli N
flattern. Bei KLD [ ] klesziü klesziaü kleszti fegen (Getreide) und
ebenda ein kletii kleczau klesti (Getreide) abstäuben. Dazu wohl auch
m-klesti J 438. 3 (3. sg. fut. svkles) dicht werden lassen, spriessen
lassen (Blätter), kUstüti (3. sg. prät. kleste J 481. 3; 806. 17,
3. sg. prt. kleste jo J 481. 2, kleste jo 689. 1 wohl Druckfehler)
spriessen; vgl. auch bei G pa-kliesti^ ap-kliesti (d. i. klesti) bedecken,
schützen. — CK. nthklasiu klastau klastil NQu herabfallen (wohl:
herabflattern) ; nü-klastai und nu-klastos N, KLD [ ] Getreideabfegsel -
klastau klastyti iter. (Getreide) abfegen.
€• at'si-kvempti sich mit dem Ellbogen aufstützen MLG 1. 130,
BF 131 — ät-kvampte Seitenlehne MLG L 130.
€• präs. lekiü fliegen. — ^. prt. lekiaü lekli] lekimas nom. act.;
lekikas nom. ag.; le iBkas f. pl. Herzschlag; lekei {ä) NQu fliegende
Spreu; le lekts Aufgang (der Sonne); le lökschüs (loc. pl. m.) im
Galopp <*» le l6kät iter. hüpfen, springen; lekineti dss. — d. läkas
KLD Flug; lakä Flugloch der Bienen; läkim KLD dss.; pirmlakai und
pirm4akos das beim Worfeln vorausfliegende; lakünas Flieger J 605. 2;
le lakta Hühnerstange, lit. lakta und laksztä, bei N auch laktas; lak-
stus Sz flüchtig (unter pierzchliwy; viell. prt. präs. = lakstqs zu
lakstaü); läksztas Blatt (besonders breites; nach Fick H. 648); laktis
behende MLG I. 389. «^ lakinti caus. fliegen lassen; lakiöli iter. (zu
lekti) ; lakine'ti iter. dem. ; lakstaü lakst'^ti iter.
€• lesü lesaü lesti picken, le lest {lest) rechnen, zählen; lesalas
KLD Vogelfrass - lösinti caus.; lesine ti iter. dem. — €• le leschu
{listu) Usu lest (neben lest) zählen, rechnen. — U. lasa N Vogel-
frass, ap^lasa Sz Auswahl, apylasus N wählerisch; iszlasas peklos G
364 AüGüST Leskien, [*02
Auswurf der Hölle; läsalas N (= lesalas) -^ lasati lasijli iter. (zu lesli)^
le lasit sammeln, lesen.
e. metü meczaü mesti werfen ; ajh-melai Schergarn ; at-meialas Sz
Abwurf , Auswurf (unter odmiot) ; tiz-meteklis Thürriegel ; le e-mesls
Einwurf; metmenys pl. Schergarn; mestüvai Scherrahmen; metm N ab-
werfend (vom Pferde) - le metinäl iter. werfen. — d» ät-metis ra.
KLD [ ] Stutze am Heu- oder Strohhaufen - metau metyti^ le metät
iler. (zu mesti); mÜczoti KLD iter. dem.; metliöti BF 141 dss.; me-
tineti KLD [ ] dss. — CT. at-matas N Abwurf, Auswurf, le atmats
und atmata Dreeschland, Stütze, le ufmats und ufmata Zugabe zum
Futter. — Ä. nei mötais einerlei (nach Schi, mötas = Auswurf,
Kehricht), äp-motas Bewurf; isz-mota Kehricht, pre-mota Anwurf
(z. B. von Kalk).
6. mezgü mezgiaü megsti knoten, stricken; mezgä Strickerin;
mezginys Strickzeug. — d» mäzgas Knoten; tnahtas N Nadel, Strick-
brett der Netzstricker -^ mazgaü mazfftjli iter. (zu mezgü) JSv 43;
mazgiöti dss.; makstyti dss. flechten BF 138.
€• nersziü nersziaü nerszti laichen; net^sziu nerszeti KLD [ ] dss.
— €t. närszas Laich ; isznarszos Rogen (KDL unter »Fischbrut«) ; d/>-
narszas Milchner; narszlai Laich; närsztas Laich und Laichzeit [närszto
czesas)^ le narsts und narsta *** le narstil laichen.
€• neszü nesziaü neszti tragen ; lauk-neszä Holzgefäss zum Hinaus-
tragen des Essens aufs Feld; -neszi^s (in Comp.) Träger. — 6. le
nSsis Achseljoch {koromyslo) ; neszczä schwanger (so K) ^ le nösäl
iter. (zu nesl). — €€• pränaszas Prophet; sq-naszos^ le sa-naschas
(zm ^nas-jäs) Zusammengetragenes, Zusammengespültes; le naslis^ pl.
naschti Schilf, Rohr (vom Flusse getragenes); nasztä Last; näszczei
Wassertrage (Achseljoch); naszüs KLD fruchtbar, naszus iirgas IG 13
Reitpferd - naszinti NSz Gerücht verbreiten. — Ä. sq-noszai Zu-
sammengespUltes (bei Überschwemmungen) ; le näscha Achseljoch ;
le (dial.?) nüsa^ nusis Heutrage -» noszczoti Gerücht verbreiten.
€• le pel'u pell schmähen. — ^. le prät. p^lu\ le p(tläjs nom.
ag. - le pelH iter. schmähen. — €1. le patas f. pl. Tadel.
€• le perpt ULD quienen, verrecken. — d. parpiü parpiaü
pärpli knarren, quarren; parplp KLD knarrender Käfer; parpstü par-
j)aü pärpH aufdinsen; vgl. pürpti sich aufblähen.
e* pra-perszis m. N Blanke im Eise. — (€• praparszas NSz Graben.
103] Der Ablalt der Wurzelsilben im Litauischen. 365
€• peszü pesziaü peszti abreissen, rupfen, pflücken ; peszeklis Mis(-
haken; peszlüves Rauferei '^ peszinüli iler. dem. — (l. päszinas Splitter
(eingerissener, in die Hand) -- paszaü paszpi iter.; pasziöü J 556.
3 dss.
e. pr issprestun verstehen, isspresnan, mpressenien nom. act., iss-
prettingi nämlich (die Formen sind mit Ausnahme des einmaligen
ispresnä immer ss geschrieben, woraus indess auf eine Wurzelform
sprel nicht geschlossen zu werden braucht). — fl. pranlü prataü
präsii gewohnt werden {sthpr. verstehen). — Ä. prötas Verstand.
6« regiü rege'li schauen; nur-rega Sz Scharfsinn; le nü regas von
Angesicht; le redfe Sicht, nu redfes so viel man sehen kann. —
Cl. surragi^hos Brautschau MLG I. 76; ^ rägana Hexe.
€• rembiu rimheti KLD [ ] träge sein, von Pflanzen: nicht recht
wachsen, le apremhH im Wachsthum zurückbleiben. — d. rambiis träge.
6. f-si-renz^s prt. prät. a. sich gereckt h., isz-sl-rfzU MLG L 226
(geschrieben isz^-si-reiti) sich ausrecken, sich stemmen. — Ol. rqzas^
pl. rqiai (geschrieben räzas) »ein blätterloses, dürres Reis, eine Stop-
pel, pl. Stoppeln, Besenstumpf, Zinken einer Forke«, vgl. tfi-rqzis
dreizinkig, vgl. auch jis eil sävo raiü »er geht seine Nath weg, nach
seinem Kopfe« KLD (dieselbe Bedeutung hat eüi rmtö.Don., viell.
r^sziüf, und eiti sävo röszlu KLD [ ]; le rufe langgestreckter Hügel
Bi L 261 , le rüfes Reissen, Gliederschmerz (= ^ranzes) - rqzau rq-
zyli recken (bei B ransziti-s ist zu lesen raniyli-s)^ le rüfiles sich
recken, Reissen haben. — Ausser der Reihe ? reiziü-s rciziaus reizli-s
sich brüsten, sprändq i-si-reizfts pt. prät. a. Nacken aufsetzen, hart-
näckig sein, vgl. die Schreibung räizau-s räizyti-s sich recken {= rq^
zyli-s). Diese Formen mit t-Diphthong setzen eine mir nicht bekannte
Stufe mit i voraus.
€• le repu repu rept Callus ansetzen, zur Heilung bewachsen. —
(Im ap-rapstaü rapstpi iter. mit etwas Dickflüssigem bespritzen KLD
nach M.
€. reszkiu reszkiau rekszti pflücken N. — CK« faszkau raszkyli
iter. NSz, JSv 49, BF 162.
€• segiü segiaü segti heften. — €• apsega Einfassung, Clausur
(so schreibt K N's apsega). — CT. sägas und sagä etwas, womit die
Leinwand beim Bleichen festgelegt wird, pnysaga N Heflnadel, pa-
saga Sz (unter poprqg) cingula, pä^sagas Hufeisen J 958. 17; sagtis
366 AoGüST Leskien, [^04
f. i-st. Schnalle (bei J 84. 7 sägtis m.), le sagts und sagte - sagaü
sagyli iter. (zu segti)^ z. B. J 1134. SS5; sagiöti dss., z. B. J SJO. 8;
sagstaü sagst^ti dss. J 831. 7.
€• sekü sekiaü sekti folgen ; sehne N Gelingen ; ped-sekis N, KLD
Spürhund. — (Z. ped-sakas Aufspürung der Fährte, Fährte - sakiöti
iter. N; le sakstit iter. suchen, spüren nach etwas. — (%• pe'd-sokas
(= pe'd-sakas) LB S. 1 50 in einer Daina.
€• sekme Sz Fabel, Erzählung (bei Sz unter bäm steht sekmes) ;
sekmis f. i-st. NSz dss. (bei KLD [ ] m.) , sekmim NSz Fabelerzähler -
pä'saka Märchen; üi-sakas JSv 10 Aufgebot «^ sakaü sakpi sagen.
e. sein seleti schleichen; selomis N adv. i. pl. schleichend. —
e. ?»e/ena Getreidehülse; selintiKLD schleichen, nachstellen; selineti
ib. [ ] iter. — €?. pa-salä^ davon isz-pasalü^ pasalöms unvermerkt,
vgl. pasalü G in aller Stille, pasalus G einer, der hinterlistig über-
fällt, pasalas N betrügerisch.
€• semiü semti schöpfen. — C. prät. semiau; nom. act. semi-
mas, — n. sämtis m. Schöpflöffel -^ sanislaü safnshJÜ iter. J 144. 3
{sämstau sämstytt).
€• sergiu sergeti behüten, bewachen. — Ä. sarga N Wache,
al'sargä^ ap-sargä Hut; särgas Wächter; sargüs wachsam «^ le sargät
hüten.
€• skelsiü skelsiaü skelsti verschlagen, vorhalten (ausreichen). —
€1. skalsä das Verschlagen, skalsüs versch lagsam -^ skälsinli caus.
machen, dass etwas verschlägt.
€• skfstü skendaü sk^sti untersinken, ertrinken; skendtUis N ein
dem Ertrinken naher, Ertrunkener; skendin^s N dss.; skendanis KLD
dss.; skendu {skSndeju) skendeli im Ertrinken sein. — d. paskandü^
lele (demin. eines paskandtde^ m. -dtdis) Ertrunkene J 278. 6 - skanr-
dau skmidpi ertränken ; skandinti dss.
€• smengü smegaü smegti wo hineinfahren und stecken bleiben.
— (l. präs. smagiü schleudern; smagüs geschmeidig, handlich, ange-
nehm , smagurei Leckerbissen ; ? le smags und smagrs schwer von
Gewicht, lastend; smagüs N schwer zu tragen, zuziehen; ^ smägenes^
smägines^ le smadfenes Gehirn, Mark, lit. dantü smägines Zahnfleisch,
le smaganas. — ^« präs. smogiaü smögti (zu smagiü); srnogimas nom.
act.; smogikas nom. ag. ; sq-smoga NBdM Meerenge; smögis m.- hef-
tiger Wurf, Schlag; smoge N Hieb. — Vgl. smeigiü.
105] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 367
e. smerkiü smerkiaü smerkti nach KLD in Noth zu versetzen
suchen, nu-smerkti umbringen, pa-smerkti B verderben. — tt. smar-
küs grausam.
e. le snerdfe Rotz; le snerglis dss., nach N auch lit. snerghjs. —
a. snargljs Rotz.
€• stegenjs Stengel, Strunk. — «• slägaras dss.
€• szelpiü szelpiaü szelpti helfen. — U. paszalpä Hülfe.
€• szvelpiu szvelpti; präs. szvepliü; szvepliöti; szvepletUi lispeln;
szveplys Lispler. — «. szvaplp Lispler; szvapus MLG I. 391 viel
lispelnd. — Vgl. oben szvilpti pfeifen.
e. tekü teketi laufen, fliessen; le teka Fusssteig, vgl. lit. isz-teka
Mündung (eines Flusses) ; ^^rm^' Quelle, Bach; tekinas laufend, im
Lauf ^ tekineti iter. dem. ; le tezinät caus. laufen lassen. — €• le iter.
tökät, — Cl» täkas Pfad; nutaka mannbares Mädchen {nur-teketi hei-
raten), iszr-taka Mündung, ap-takä Umlauf (Geschwulst an der Nagel-
wurzel) ; nütakana in der Wendung vandu yrä nütakanoj das Wasser
föllt KLD [ ]. — ä. i-toka N Mündung.
6. telzu telzti bei G soll »beharnen« bedeuten; ebenda ein su-
talzli durchprügeln. — (l. talzyti MLG L 383 prügeln, talze 3. sg.
prt. WP 97 schlagen, le talßt u. talstit durchprügeln.
€• tepü tepiaü tepti schmieren; tepalas Schmiere; pa-tepte Sz
Schmutzfleck - tepliöti\ ieplenti schmieren. — d. tapioti iter. WP 75;
tapineti G iter.
€• ?le terpju terpu terpt kleiden, schmücken; pr en-terpo es
liülzL — (€• iarpä Gedeihen, tarpslü tarpaü lärpti gedeihen (denom.?).
e. le teschu lest mit dem Beil behauen; le tesele eine Art Beil.
— e. prüt. iBm (auch präs. teschu^ inf. lest). — (€• taszaü taszpi
iter. dss.
€• trendu [trendzu) Irendeti von Motten, Würmern zerfi-essen
werden. — d. trandis f. i-st. Holzwurm, Motte, nach KLD pl. irändys
Staub des Holzwurms, ' nach N trandis m. dss. ; trande Motte - tratir-
deti KLD nach M von Motten zerfressen werden.
€• präs. tresiü läufisch sein. — ^. prät. tresiaü tresti, — CT. Irasä
käle KDL (s. v. brünstig) läufische Hündin - trasyti iter. B (== te-
kineti) .
6. treszkü treszketi knistern, prasseln. — €€• trakszmas NSz
Krachen; traszkü traszketi (=: treszketi) ; träszkinti caus. prasseln machen.
368 August Leskien, [<06
e. vedü vedziaü vesti führen, heirathen (vom Manne); nauvedä
und nanvedzä Bräutigam; vedp und vedlp Freier. — (l. vädas Führer,
le wads, üzvadas I 622. 1 Vertheidiger ; pa-vadä zweite Frau; vädzois
Fahrleine ~ vadzöti^ le wadät iter. — Ä. i-voda N Wasserleitung
(Einführung) .
ۥ zembu zembeti zu keimen anfangen (eig. spalten, zerreissen).
— Ct. iämbas Balkenkante KLD [ ] N, i-zambis {izumbis) Sz (unter
ukosny) schräge.
€• zvelgstu zvelgti Sz plappern; zvelgseü ebend. dss. — U. le
ftvalkschet Scherben an einander schlagen, mit Schellen läuten,
schwatzen ULD.
Die primären Verba, bei denen kein Ablaut (ausser etwa e
neben e) nachweisbar ist:
ۥ berszti (3. sg. pr.) javai bei M das Getreide wird weiss.
Unsicheres Wort.
e» tiThblesta ugnis das Feuer wird klein; blestereti sich legen
(vom Winde).
6. brezü brezeti rasseln.
e* brezgü brezgeli stammeln.
e. delsiü delsiaü delsli säumen, zögern.
e» densti sich bedecken, schützen G.
e» esmi ich bin. — €• esqs prt. präs.
e. gebu gebeli pflegen = gewohnt sein, giebieli WP; giebus G
gewohnt {ie nur zur Andeutung des erweichten jf, nicht = e oder e).
e. geniü gene'ti ästein; genp Specht (Baumhacker, Fick 11.546).
ۥ le gwelfchu gtvelfu gwelft verklatschen, verleumden.
€• isz-gver^s ausgeweitet (daneben m-dverf«), bei KLD von gver-
slu gveraü gveiti sich ausweiten; isz-gverinti caus. KDL unter »aus-
buttern «.
€• kepü kepiaü kepli backen; kepsnis f. i-st. Gebackenes, Ge-
bratenes.
€• Ig k'eschü-8 [wirsü] k'esü-s k'esle-s sich aufdrängen. — ^. ? fce-
saü-s kesijti-8 sich unterfangen, Miene machen etwas zu thun.
€• kelü keleli beabsichtigen.
6. klenkü klekaü klekti gerinnen, stiklek^s geronnen, daneben
sii-krckfs; le krezu krezSt gerinnen, bei N lit. kreku kreketi; vgl. sq-
krekos N Glumse u. a.; sth-kldkinti gerinnen machen.
^07] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 369
m
ۥ ap'klepiu^ -klepti B fassen, begreifen.
€• üz-lempu lepau lepii N sich verzärteln, gewöhnl. lepstü lepaü
lepti^ viell. denom. von lepus weichlich.
ۥ ap'lepti Sz unter ogatmqc amplecti (mit /, also nicht wie bei
KLD lepti zu schreiben).
e. le nemu nemt, — d. le A€mu nehmen.
e. peldu peldeti B sparen, schonen, unterlassen.
ۥ le peldu peldH schwimmen.
€• penü peneti nähren, mästen; penas Futter.
ۥ pendzu {pende'ju) pende'ti stocken, trocken faulen; iszpendis
m. KLD trocken Ausgefaultes.
e. periü pereti brüten; peras Brut.
€. perszt perszeti schmerzen; persztdp Schmerz.
ۥ plaukai pa-peie G die Haare stehen aufrecht.
6. plempti, prt. prät. a. f. plempus[i) JSv 9, J 348. 3 schlemmen (?).
€. plezdü [splezdü) plezdeti flattern.
€• pleszkü pleszkeli prasseln.
e. selbe 3. sg. prt. J 965. 10 schwatzen (?).
€• sklepiu sklepiau sklepti wölben N; sklepas Gewölbe.
e. sklempiü sklempiaü sklempü glatt behauen.
€• skrentü skretaü skresti sich mit einer (Schmutz) kruste über-
ziehen, ap-skresli verharschen (Wunde).
6. le stnel'u smelt. — 6. le prät. sm^lu schöpfen.
ۥ spengia spenge spengti klingt in den Ohren.
€• srebiü schlürfen. — €• prät. srebiaü srebti (K auch präs.
srebiü). Daneben sriobiü sriobiaü möbti {sriübti).
€• stelbiü stelbiaü sleWli schal werden.
€• 8zelbiu-8 szelbiaü-s szelbti-s^ M sich zu helfen suchen.
e. sznetikü sznekaü sznekli anfangen zu reden; sznekü sznekeli
sprechen; szneküs gesprächig; szneklä Gerede.
6. tenkü lekaü tekti hinreichen.
e. -tesiü 'teseti ausführen, ausrichten.
6. vebzdü vebzdeti wimmeln.
€• pa-^elti B erlauben; velyti wünschen.
ۥ le sa-ivergt eintrocknen, einschrumpfen ULD.
€• zerplü {zerpliü) zerpleti glühen.
€• zlembiu zlembiau zlembti etwa »jammern«, z. B. J 1 1 28. 5, 1 21 6. 3.
370 AüGüST Leskien, [^08
IV. e a ö (a).
e. begti be'gau begti lauFen, fliehen; he gas Lauf; prj-bega Asy\;
be'gis m. Lauf; hegte* Lauf; le heglis Flüchtling; begus N flüchtig ^
beginti caus. laufen machen; b^gineü dem. iter. ; begioti iter. —
ä. boginti etwas flüchten, fortschaffen.
d. le brßzu brezu brekt schreien - le brekal iter. — €1. le
bräk'^t iter. schreien.
ۥ glebiu glebiau gle'bii umfassen (mit den Armen), le gUbt\
glebp Armvoll. — CT. le ghbät hüten, bewahren, warten, lit. ap-
glaböti sich um Jem. bemühen, pflegen MLG L 69, ? dazu auch
glaboü bitten, anflehen, z. B. WP 196. — CT. glöbiu glöbiau glöbti
umarmen, umhüllen, le gläbju gläbu gläbt retten, schützen; globa N
Umarmung, le gläba Lebensunterhalt, Auskommen >-' globöti iter. (zu
glöbti) .
^. plekiu plekiau plekti prügeln (Schi. Don. schreibt e, schwer-
lich richtig) ; plekis m. das Prügeln. — CT. plakü plakaü pläkti
schlagen, peitschen ; le plüku {:= ^planku) plaku plakt flach werden,
platt hinfallen ; nu-plakos Schwingelheede ; le plaku, plakam adv. flach,
platt auf der Erde; le plakans flach; plakte N Hieb; plaktüvai Sensen-
klopfzeug, plaktuve Schwingmesser (beim Flachs) ; plaksztas N der
Prügel. — CT. plökas N Estrich; plökis N Streich, Hieb; le pläze'
Schulterblatt, \g\. pläzenis flacher Kuchen; le plakans {neben plakans)
flach; plökszczas flach; ? le plüzi m. pl. Lage, Schicht.
6. reju rejau reti heftig losschreien. — CT. le räju räju rät
schellen.
e. replomis (i. pl. eines repla) eiti kriechend, auf allen Vieren
^ehen '^ repliöli kriechen; replinti etwas plump (gewissermassen : auf
alle Viere) hinstellen; replineti iter. kriechen; repsaü repsöti plump
daliegen. — CT. le räpju räpu rapt kriechen, iter. le räpät; le räpu
et kriechen.
^. reziu reziau rezli schneiden; rez^s Schnitt **' rezau rezyli
iter. — e ist die urspr. Form (vgl. slav. rfzati — razi), aber da-
neben steht e: reziu rSziau rSzti; at-rezai, ätrezos K Abschnittsei,
und dazu ai: raizti^f BF 162 schneiden; le raife schneidender
Schmerz; raisztas N Kreis - rditau räizyli iter. schneiden.
^. sle'giu slegiau slegti bedrücken, pressen, le sUgl schliessen ; le
409] Der Ablaut der Wurzelsuben im Litauischen. 371
slegs Bürde; le at-slöga Schloss; slegtis f. Presse; siegte' dss. KDL. —
ttm slogä Plage, at^slögo 3. sg. prt. (eines präs. atslogstu) J 589. 5
vomDrucke frei werden; slogai N Hölzer zum Beschweren eingeweichten
Flachses; slogüs N beschwerlich; le slügs Last, aif-slügs Riegel -
sloginti plagen ; le slüdßt bedrücken, beschweren ; le slügät und slügut
dss. — Vgl. übrigens le sluga Last, Plage Bi L 257.
€• stegiu ste'giau stegti Dach decken; ste'gius Dachdecker. —
€1. stögas Dach.
e. zeriü zere'ti strahlen. — (l. pazäras^ paziäras Schein am
Himmel; zarijä glühende Kohle. — Ä^ paziwa Wiederschein am
Himmel; zioröti K glühen.
Primäre Yerba mit e ohne Umlaut:
le hleju biet blöken.
hre'kszta breszko brekszti anbrechen (vom Tage) ; ap^-brdszkis m.
Tagesanbruch.
demi {dedü) dejau de'ti legen (doch sind dabei Formen wie
prS'das Zugabe zu berücksichtigen).
drä'kstu drekau dre'kti feucht werden; dregnas und dregnüs feucht
Das k in dre'kau ist vielleicht aus Präs. und Inf., wo k lautgesetz-
lich für g, eingedrungen.
edu {emi) ediau e'sti fressen; edrä NBD Thierfutter, edriis ge-
frässig; ^'dem m. Frass; edis m. N Frass; edzos Raufe'; edmenys
pl. N Fresse (Maul), u. s. w.
jegiü jegiaü jegli Kraft haben, vermögen, le jSgt; nu-jegä^ le
jpga Einsicht.
ap-ke!i§8 verkommen, im Wachsthum zurückgeblieben, pt. prät.
a. [e schreibt KLD unter kezu^ dagegen ap-kiezelis Zwerg).
me'gstu megau megti Wohlgefallen; meginti prüfen.
meziu meziau mezti Dünger machen, misten, mezlai Mist, le
mBfchu mefu meft^ mBsls (also nicht mSzti zu schreiben).
plekstu plekau pU'kti moderig werden.
reju rejau reli KLD aufschichten; rekles Stangen hinter dem
Ofen zum Holztrocknen.
se'ju sejau seil säen; semü Same; seklä dss.; sejis m. das
Aussäen.
skeczu skeczau skesti ausbreiten (von Pflanzen: Blätter, Aeste).
speju spejau speli Müsse haben u. s. w.
372 AcOlsT U»K1£5. HO
Mzehtü-ii $zMßiaU'$ nzehii-n aufzukommea. sich za helfen suchen,
M u. MDÄt lief N.
pa-Hzel^jf toll geworden pL prt. a.
le r^/r/ti wepu v^t Decke omlegen Bi L 3o8.
re'iflu renau re$Ü sich abkühlen: re^a Sz unter ocModa Külüe:
pa-^rf^fOH m. kühler Schatten; reiswt kühl.
iebih zi'biaü zebti »langsam, mit langen Zähnen essen«.
V. a o (a).
Um ariü ariaü ärii pflügen; le ara und are Ackerland; arklas^
le arkls Pflog; arkl;js Pferd ^Pflüger . — «. ore Pfliigezeit.
a» balü balaü bälti weiss werden; le balgans weisslich; bällas
weiss ; ballU bei Sz f. und m. bieliJlo , bei K m. weisser Farbstofl*;
balwoH MLG l 387 weisslich - bälinti bleichen J 251. 23, le fra-
lifiäL — l!l# le pt. prät. a. nubälis erblichen ^lit. ^nu-bolfs) ; le bäls
'wäre lit. *^bolas) bleich '«^ le frä/e/ erbleichen.
Um bariü [barü] bariaü bärti schelten; bamis f. i-st. Zank; barus
und barnüs N (letzteres bei Sz unter niespamy) streitsüchtig. —
Ä. le prät. bäru zu bafu bart — wäre lit. ^fconaii); le bär^js
Zänker.
(Im bäimas Masse, Menge; le bafcha Habe, le bafchas f. pl.
Verlegenheit {bafchäs tikl zwischen Thür und Angel gerathen). —
^« le bafchu bäfu bäft stopfen ; le bäßs Senkstein im Netzbeutel ;
bdimas Netz (des Bauches) ; ? böte [buze) Keule, Klöppel am Dresch*
flegei, vgl. aber le bufe^ baufe dss.
Um blaszkai N x> vorgeklopftes Getreide« (bei N auch bleszkaiT] *«
bloMzkaü blaszkpi iter. hin- und herschleudem ; blaszkinii dss. —
dm bloszkiü bloszkiaü blokszli bei Seite schleudern, bei N auch »Ge-
treide vorklopfena.
Um braszkü braszkeli krachen, prasseln; bräkszmas das Krachen;
iäz^braszkos bei KDL s. »Buttermilch« (mit ? vers.) ; braszküs prasselig
-- surbraszkau braszkyti N zusammenschutteln (einen Sack Getreide) ;
bräszkinli prasseln machen. — Um broszkiü broszkiaü brökszti [svSstq)
buttern (eigentl. »schütteln«); brokszlüvas Butterfass.
Um gabdnti bringen, holen; gabanä Armvoll. — ä. par-gobinti
WP !18 bringen lassen, N hat gobinli als »schachern«, pra-gobelis als
Hl] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 373
»Durchbringer , Verschacherer«. — Hierher auch "! gobeli begehren,
gobus, gobszas, gobszis begierig, gobuiis Begier, alles bei G.
a. atr-kalte' und ät-kalta Rückenlehne MLG I. 45, BF 97. —
&• atsikölti^ pt. prät. a. at-si-köl^s angelehnt KDL unter »lehnen«.
dm kariü kärti hängen; le pa-kars Haken; aüs-kara Ohrring;
karulei N hangende Eiszapfen; kärtuves, le kartawas Galgen; kärlis
f. i-st. Slange; karüs N hängend, schlafif (aus Sz unter obwisly^ wenn
nicht pt. präs. = kariqs) «^ le iter. karäle-s hangen , sich schaukeln ;
kärstau kärstyti iter.; karstine' ti dem. iter. — €1. prät. köriau, le
fcärw, (zu kariü); körimas nom. act.; ? le kärs lüstern; pa-kore Galgen;
tkonjs Wabe.
d. klänas Pfütze. — Ä. klone KLD dss.; klonü m. niedrige
Stelle im Acker.
U. läbas gut. — Ci. löbis m. Gut, Reichthum, davon wohl
denom. lobsln lobaü lobti reich werden (kann indess primär sein) --
lobinti bereichern.
d. laszü lasze'li tropfen; läszas Tropfen -- läszinti träufeln;
lasznöti tröpfeln. — Ä. le läsa und läse Tropfen; le /ö^tnaf tröpfeln.
d* mäzas klein, denom. davon mazlü mazaü mäzli klein werden;
üz mazens von klein an. — d, mdzis m. Wenigkeit, mäz-mozei
Kleinigkeiten.
d* skanüs wohlschmeckend. — d. skän-skonei Leckerbissen;
skoneii wohlschmecken; ?le skänsch (= ^skänjas^ das ein skänus
vertreten kann) sauer.
d. skapias Schnitzmesser; skaplis G Hohlaxt •« skapoti N schaben,
schnitzen; skapstaü skapsUjti KLD [ ] dss. — d. skopiü skopiaü sköpli
mit dem Messer aushöhlen (K u)\ skoptuvas G Hohlmesser.
d. stäkles Webstuhl (eigentl. nur »Gestell«) ; le staklis Zacken,
iÜlinke; pr stallt {stalllt) stehen; le stats Pfahl; üz-statas Pfand; pa-
State NM Ansehen, natürliche Beschaffenheit; pastatuve NSz Unter-
läge; statüs steil; statines Zaunlatte «^ stataü statyti stellen; statine li
dem. iter. {zu staUjli). — d» stöju stojau stöti sich stellen; pr stä"
nintei adv. eines part. präs. einer Präsensbildung wie slav. stane-tb;
le stads Pflanze, le städit setzen, stellen, pflanzen; pa-stölas Gestell;
stomu Statur; le stästs Erzählung, le stästlt erzählen; le stäws
Wuchs, Gestalt, le stäws aufrecht stehend, steil, le släive und stäwi
374 August Leskien, [442
m. pl. Webstuhl, stovä Stand, Standort, davon stöviu stovüti stehen,
stovineti dss. dem. iter. ; stovis NSz f. i-st. Zustand.
a. szälü szalaü szälli frieren, le präs. saktu; le sals Frost;
szalnä Reif; szältas kalt; szältis m. Kälte -^ szäldau szäldyti caus.
frieren machen; le saldBt; saldinät (lit. szäldinti) dss. — (t. pa-
szohjs Frost in der Erde, Nachtfrost.
(l. szankm Sz (bei Sz szunkus = szankus) behende, beweglich ;
at-szanke Widerhaken, bei N auch alszanha '^ szankinti springen
lassen (ein Pferd) . — Ä. szöku szökau szökti springen , ? dazu le
säkt anfangen; szökis m. Sprung «^ szokinli N caus. (= szankinli);
szökczoti; szokineti; szoktereti iter. dem. (zu szökti).
CL. szlampü szlapaü szläpti nass werden (kann auch denom. sein
von) szläpias nass '^ szläpinti nass machen ; le slapät dss. — Ü» szlop-
me' [szldp-me') BF 183 Nässe.
a« präs. vagiü stehle; vagis m. i-st. Dieb -^ väginti des Dieb-
stahls beschuldigen; vagine ti iter. dem. (zu vagiü). — Ct. vogiaü
vogti (prät. u. in f. zu vagiü) ; vogimas nom. act. ; vogte und vogczä N
verstohlen adv.
U» pri-valüs nöthig ; prir-valaü valpi bedürfen ; ? valioti etwas
zwingen = vollbringen können. — Ct. pr^vole^ pr^ole BedUrfniss.
Cl. zadü zadeti versprechen , präs. pra-zandu Sz (unter nazywam)
benennen, isz^zandu Sz aussprechen; iädas in be zädo sprachlos; pa-
zadä, prt-zada Gelübde; pre-zastis f. i-st. Ursache; pra-zastis m. N
Spottname, Beiname ~ zädinti sprechen machen, anreden. — ä. zödis
ra. Wort, denom. zostu zodau zosti N Worte machen; zosme JSv 48
Rede - zösczoti sprechen JSv 8.
Die primären Verba mit a ohne Ablaut:
adaü adpi nähen (Form des Iterativs); adatä Nähnadel.
ap-äl§8 pt. prät. a. KLD [ ] aus Bd abgemergelt.
ankü akaü äkti Augen bekommen, wohl denom. von akis Auge.
älkstu älkau älkti Hunger bekommen, hungern nach; iszalkis m.
Hunger.
alpBtü alpaü älpli schwach werden; älpnas schwach.
barszkü barszketi klappern; barksznöti iter. (vgl. burksznöti).
bläzgu bläzgeli klappern; bläzgyti und bläzginü caus.
galiü galeti können; gale\ galiä das Können.
gqstü gandaü gqsti erschrecken intr.; iszgqslis f. i-st. Schrecken.
4 43] Der Ablaut der Wurzelsubbn im Litauischen. 375
galändu^ galändau galqsti wetzen.
sii-grambti 6 fassen, fangen.
kaliü kaliaü käüi schmieden.
kalhü kalbe li reden; kalhä Rede, Sprache, kalhüs gern redend,
gesprächig,
le kalstu kaltu kalst trocknen, verdorren; le kals mager (= ^kalt-
sa-s); le kaltüm Auszehrung; le kältet trocknen Irans., doch vgl. kal-
dans mager ULD.
kalstu kaltaü kalsti schuldig werden, wohl denom. von kältas
schuldig; kalte' Schuld.
le kampju kampu kampt fassen, greifen.
kandu (le küfchu = "^kandzu) kändau kqsti beissen; le küda
Motte; lit. kandis f. i-st. dss. ; kändis m. Biss; kqsnis f. u. m. Bissen;
kandüs bissig.
kankü kakaü käkti hinreichen, genügen.
karsziü karsziaü kärszti kämmein (Wolle).
kärszttt kärszau kärszti alt werden; kärsziu kärsziau kärszti alt
sein; n&karszis Altersschwäche; karsze N dss.
kasü kasiaü kästi graben; äp-kasas NSz Graben.
lakiü lakiaü läkti Dünnes fressen, schlappen, le präs. luku
[= Hanku) ; lakalas N Frass.
parpstü parpaü pärpti aufdinsen.
plastü plaste'ti intr. schlagen {g^slos die Adern).
rankü rakaü räkti aufpicken, aufstochern, le rüku raku rakt
graben; ät-rakas oflfen; räktas Schlüssel; raksztis f. i-st. KLD [ ]
Splitter '-> rakineti [däntts) stochern iter.
sälü salaü sälti süss werden KLD, daneben salstü als Präs. an-
gegeben; saldüs süss; le salgans süsslich; le e-sals Malz.
skalbiü ekalbiaü skälbti waschen (d. h. mit dem Waschholz
schlagen); bei B ein isz-skelbti {iffkelpti) auswaschen.
skantü skaczaü (richtiger skataü) skästi mit sth bei M aufhüpfen;
skatinti G caus. »Jem. anstiften etwas schnell auszuführen«.
le smuku (= ^smanku) smaku smakt ersticken, erlöschen; le
smaka Geruch.
tampit tapaü täpti werden.
pa-^älpfs gelbsüchtig, pt. prät. a.
Abli&ndl. d. k. S. QeBellscli. d. Wissenscb. XXI. 26
376 August Lbskien, [^**
vapü vape'ti plappern.
varviü varveti triefen.
zdgiü zagiaü zägii N, KLD [ ] versehren, verunreinigen, le fugu
[= ^fangu) fagu fagt stehlen; ne-i-zagas Sz Unversehrtheit, Keusch-
heit; le faglis Dieb.
Primäre Verba mit o {ä) ohne Ablaut:
böju böjau böti beachten.
böstu bödau bösti Ekel bekommen; bodzu-s bodzaü-s bösti-s sich
ekeln; nu-boda Ekel; bodus N ekelhaft.
le bläfchu blädu bläß schwatzen.
le bräfchu bräfu braß streifen, sausen; le bräfe Gedränge; le
bräfma Zugwind.
nu-döbiu döbiau döbti Schi, zu Tode quälen.
dröziu dröziati drözti schnitzen; drozle Hobelspan.
droviu-8 droveti-s blöde sein (wie stoveli ein Denom., vgl.) dro-
vüs blöde KLD.
dvökti stinken, präs. dvoku WP 126.
le prät. gäju ich ging; gätis f. pl. i-st. Fluglöcher am Bienenstock.
göbiu göbiau göbti einhüllen.
le gäfchu gä[u gäß schütten, lit. gozti G giessen; le pagäfa und
pagäfne Neige.
gröju gröjau gröli krächzen.
grösli M poltern, dort 3. sg. grödza^ bei KLD eine 3. sg. gröiia^
N hat ein grodzu grosti suchen.
jöju jöjau jöti reiten.
klöju klöjau klöli zudecken; üi-klodas Bettdecke; paklöde Bett-
laken; paklötis f. i-st. Unterbett -- klöstau klöstyti iter.
klökiu klökiau klökii gluckern (vom Wasser) J 219. 5, bei N
»speien«; bei G ein par-klökti müde werden.
kopiu köpiau kopti klettern, steigen; fköpos die kurische Neh-
rung; köpes Leiter J 269. 6; koptos dss. WP 227.
kösiu köseti husten; kosul^s Husten.
kosziu kösziau köszti seien.
le kräju krät sammeln; le kräja gesammeltes Gut; f apkrqja Sz
(unter oblogi) impedimenta itineris.
le kräpju kräpu kräpt stehlen, lit. kröpü WP 69, 230, auch
bei G
4 4^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 377
sur-kröszfs sitzen geblieben, alt geworden (zu einem inch. krosztu) ;
krosziü kroszeti faul dasitzen; kröszau kröszyti hocken, faulenzen.
kvöcza-s kvöte-8 kvösti-s {man) mich dünkt, isz-kvösü JSv 9 aus-
forschen, präs. 3..sg. kvöcza] kvötimas Examen ib. 10; iszr-du'li kvolq
Rechenschaft geben ib.; kvotineti iter. hin und her fragen J 656. 3;
692. 5.
loju Ujau Uli bellen, le lät auch »fluchen«; le läsls Fluch; le
lädH fluchen.
loszlu löszau löszti toben, Muthwillen treiben.
atr-gi-losziä'S losziaür-s lösztir-s sich anlehnen ; dt-loszas und ailoszä
Rücklehne; llöszas lahm.
moju möjau möti winken; mojis m. Wink.
mökstu mökau mokti {isz-^ pri-) lernen; tnöku moketti verstehen,
vermögen, bezahlen; mökslas Lehre, mokslüs gelehrig; mökesnis m. ;
mökestis m. Zahlung.
le mäzu tnäzu mäkt drängen, drücken, mäktes sich bewölken;
le mäkunis dunkle Wolke.
nökstu nökau nökli reifen; le näku näzu näkt kommen.
noriu naritti wollen; noras Wille.
osziü osziaü öszti summen; oszljs Schwätzer.
plöju plöjau plöti breit zusammenschlagen; plönas fein.
rökia röke rökli es regnet fein; roki N Staubregen.
röpiu röpiau röpti mit etwas fertig werden, ap-ropti bestreiten
können, bei G f-«i-rop<t hineindringen. — Vgl. indess rup-.
le skäbstu skäbu skäbt sauer werden, wohl denom. von le skäbs
sauer, lit. bei G sköbas dss., sköbli sauer werden.
le a(-, nu-skärstu skaru skärt gewahr werden, bemerken.
skrödtu skrödtau skrösti aufschneiden, spalten (Thiere).
le släpstu släpu släpt dürsten, sticken, nu-szlopa WP 84 (3. sg.
prät. scheint verächtlich »krepiren« zu bedeuten, richtig slopaTj^ vgl.
slopsiu G schwach werden, shpinti caus. G, BF 172 ersticken, slöpti
ersticken intr. BF 172; le släpes f. pl. Durst; le släpet trans. ersticken.
le snäju snät locker zusammendrehen,
sokiü sokiaü sökti unarticulirt singen.
sopü sap^'ti Schmerz haben; le at-säpes Nach wehen; söpulisy so-
pulijs Schmerz.
sosiü sosiaü sösli quälen mit Bitten u. a.; sosW Beschwerde.
26*
378 August Leskien, [^^^
slokstü slokaü slökii in Mangel gerathen, viell. denom. von sloka
Mangel .
nu-stopti NRM ertappen.
siropslu stropau slropli N emsig sein, wohl denom. von slropüs
emsig.
svöti J 342. 2 {asz negaliü tävej svdli; Bedeutung?).
patosu loseli (auch mit sz) N zu Gefallen reden.
tröksztu Irökszau trökszti dürsten; troszkulp Durst, Gier.
tvöju tvojau ivöti schlagen J 460. 7 u. s., auch G.
vöjfs leidend; voiis f. i-st. Geschwür; ? vgl. le waijät weh
thun trans.
vökiu vökiau vökli^ svr- etwas auffinden, ap- bereinigen, be-
schicken, nu- verstehen, le wäzu wäzu wäkl zusammennehmen, fort-
schaffen; ?dazu le wäks Deckel, vökas Augenlid, bei Sz Deckel, bei
N vöka Deckel; nuwoka Sz Verstand.
voziii vöziau yozli stülpen; änt-vozas Deckel.
zioju ziojau ziöti den Mund aufsperren; f ziögas Heuschrecke;
"fziögris Stacket KLD, J 1016. 6; zioiis f. i-st. N Kluft; zioplp einer,
der Maulaffen feil hat ~ ziopsaü ziopsoti mit offnem Munde dastehen ;
ziögauti N gähnen, u. a.
Anhang.
Eine Untersuchung über diesen Vocal leidet unter der Schwierig-
keit, dass die. Ueberlieferung des Preussischen nicht mit Sicherheit
erkennen lässt, wie weit dieselbe oder eine vergleichbare Yocalförbung
hier Geltung gehabt hat, dann aber unter dem weit grösseren* Uebel-
stand, dass die litauischen Dialekte ü und o in einander übergehen
lassen und dass z. Th. in Folge davon auch in dem Dialekte, den
die preussisch-<litauische Schriftsprache repräsentirt, die grösste Un-
sicherheit in der Anwendung von ü und o herrscht. Man braucht
nur Kurschat's Werke, die Grammatik und die beiden Wörterbücher
zu vergleichen, um die grösste Regellosigkeit in der Schreibung eines
und desselben Wortes zu finden. Weit besser ist man mit dem Let-
tischen daran, wo Bielenstein's Grammatik und das Ulmann'Sche
Wörterbuch, an dessen Vollendung jener betheiligt war, einen sichern
^1*7]* Der Abladt der WurzelshTben im Litauischen. 379
Anhalt bieten. Unter diesen Umständen scheint es mir zunächst noth-
wendig festzustellen^ wie weit sich das Litauische und Lettische im
u decken, um von den Fällen, wo die Sprachen im ü übereinstimmen,
als von den älteren und sicheren auszugehen. Ich lasse daher ein
alphabetisches Verzeichniss der Beispiele folgen, so weit meine Samm-
lung derselben reicht.
apuka^^ le apügs Steinkäuzchen.
fewze, le büfe Keule.
dübe Höhle, le dube, vgl. oben unter Reihe IL
duna^ le düna dune ULD Brod.
duti^ le düt geben, pr dä-twei.
ffubä^ le guba Rüster.
le güds Ehre, güdät ehren, bei N als iem. goda^ godoü, also wohl
guda,
gülis Lagerstätte, le gül'a Bett, vgl. oben u. R. II; gülti nach Fick
II, 550 zu gal abfallen (ßdXXü)).
Judas schwarz, le juds Teufel ; nach Fick I, 1 5 zu skrt. andha.
jukas^ le juks Scherz; jühti-s lachen — zu lat. jöcusi
jusiu ju'sti, le just Igürten; justa^ le justa Gürtel — e-Cü)0-(i.(xt.
le kluns Estrich, lit. klunas (neben Monas) Bleichplatz hinter der
Scheune.
kudas Schopf, küdelis Flachswickel, le küdel'sch.
kupiu kupti häufen u. a., le küpt vgl. oben u. R. IL
kusa küsas Dohle, le kusa.
lübas Baumrinde, le lübs Schale.
liübiü-s liübti'S das Hauswesen beschicken, le labt ULD.
mümu Hirnschale, wenn damit zusammenhängend mümelis das
Zäpfchen (im Munde), le mümelis (geschrieben wird meist
momü).
numas nümä Zins, le nüma, nach Fick I. 127 von W. nem,
pü'das^ le puds Topf, Fick II, 599 päda-.
pulu (Präs. zu pülti fallen), le pulu^ vgl. oben u. R. IL, nach Fick
II, 253 zu acpdXXco.
püsziü-s pu'szti-s sich putzen J 1489. 4 u. oft, le püschu pust.
ruszus geschäftig {ruszti besorgen), le rüschs rührig, s. o. u. R. IL
su'dzei Russ, le südeji dss.
SU las Bank, le süls^ vgl. Fick IL 798, zu lat. solum u. s. w.
380 August Leskibn, [^^8
szluta Besen (zu szlüti fegen), le sl&ta s. o. u. R. IL
szüleis i. pl. im Galopp (n. sg. szüljs), le sulis Schritt.
udas Mücke, le üde.
üdegä Schwanz, le udega.
uga Beere, le uga, vgl. slav. jago-da.
ülektis {ölektis) Elle, le ülekt8, vgl. sl. lakih = ^olküh,
ülä Fels, le üla Kiesel.
usis Esche, le usis^ vgl. serb. jasen.
udzu ü'sü riechen, le üft^ vgl 6C(o 6S-(oSa.
uszvis Schwiegervater, ffszve Schwiegermutter, le üsa Schwägerin
ULD.
Diese Zahl von 35 Beispielen ist klein im Vergleich zu den in
beiden Sprachen insgesammt vorhandenen Fällen von u. Diese hier
aufzuzählen unterlasse ich einmal wegen der schon hervorgehobenen
Unsicherheit im Litauischen, dann wegen des Mangels an sicheren
Etymologien. Wie wenig noch die Worte nach dieser Richtung be-
kannt sind, davon mag Fick's Wörterbuch ein Zeugniss ablegen. In
dem grossen Werke kommen nur folgende litauische Worte mit u
vor: dfflij ju'das, jukas, jusli^ kulas, küpä^ nu'gas^ nu'glas^ nü'mas^
pffdas, p&lu, szlübas lahm (ich kenne nur szlübas), stumff (richtiger
ist, wie auch von F. daneben geschrieben wird stomu)^ sulas^ szluti^
uga, usis, ü'sti. Davon sind kulas, n&gas, nuglas als sicher oder
vermuthlich slavische Lehnworte noch zu streichen, hinzukommt dübe
(bei Fick (]?fi6^ geschrieben) . Von den obigen 35 Fällen gehen sicher
oder vermuthungsweise auf o- oder a-Vocal zurück: dffti, g&'lis, judas,
jükas, jü'sti, numas, pudas, pü'lu, su'las, u'ga, ülektis, &sis, udzu.
Bei dieser Lage der Dinge scheint es mir verfrüht, wenn man mit
so grosser Sicherheit, wie es öfter geschieht, behauptet, htauisches
ü könne nur o-Vocal sein, nicht auf eu oder ou {au) beruhen.
4^9] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 381
B. Die Sphäre der einzelnen Vooalstufen.
I. Im primären Verbum.
1. Die Keilien I— m.
I. Im primären Yerbum, dessen Nichtpräsensformen
keinen durch 6 oder o erweiterten Stamm haben.
A. Dieselbe Stufe bleibt im ganzen Formensystem oder wechselt nur mit der
entsprechenden Länge.
a) i der Reihe i^ y^ e u. s. w.
Im primären Yerbum, dessen Infinitivstamm gleich der Wui*zel
ist (die Verba -e-ii mit primärem Anstrich werden unten besonders
behandelt), ist diese Stufe in der Mehrzahl der Fälle von in-
choativer oder intransitiv-passiver (oft zugleich inchoa-
tiver) Bedeutung begleitet. Wo ein Durativum oder Transitivum
daneben vorhanden ist, zeigt dies die Stufe e. Die Präsensbild üng
geschieht mit -tu [s-tu)^ wenn die Wurzel auf zwiefache Consonanz
(r, /, m, n -|- Cons.) oder auf einfaches m, n auslautet, durch in-
figirten Nasal, wenn sie auf einen beliebigen andern Consonanten,
durch Dehnung des % (bei Suffix -a-) oder mit -«-/u, wenn sie auf
r, / auslautet. Im zweiten Falle (ritt ganz vereinzelt -tu auf (le klibstu,
plpzlu), vielleicht auch Doppelbildungen: infigirter Nasal und -tu zu-
sammen {gtislü). Die erwähnte Bedeutung ist selten bei Präsenssufßx
a (e-o) ohne Dehnung.
1. Yerba mit inchoativer oder intransitiver Bedeutimg.
a) Präsens auf -tu,
bilstu bilti anfangen zu reden.
bingstü bingaü bingti muthwillig werden (sich :heben) — bengiü
bengti beendigen (heben).
le birstu biru birt {byrü biraü birti) ausfallen, sich verstreuen —
beriü berti streuen.
blista blindo blfsti dunkel werden — blendzu-s blpsti-s sich ver-
finstern.
blista blindo blisti fester werden.
382 August Lbskien, [420
brisiu brindau bristi quellen.
bringstu bringti theuer werden.
brinkstu brinkti quellen, anschwellen.
le dilstu diu sich abschleissen (neben delu\ lit. dylü dilti).
dilbslü dilbii {nu-) die Augen niederschlagen inch. — deWiü delbli
[akis) .
dilgstu dilgau dilgti von Nesseln gebrannt werden,
le dirnstu (neben demu) dimt dröhnen.
dingstii dingti wohin gerathen (sich bergen) — dengiü dengti decken.
dirgstu dirgti in Unordnung gerathen — dergia dergti eigen tl. es
macht schlechtes Wetter«.
dirilü dirzti zäh werden.
drjstü dristi (präs. auch dr^sü) dreist werden.
drykstü Schi, driskaü driksti [sur-drisk^s] zerreissen intr. — dreskiü
drSksti zerreissen trans.
gilsta gilli anfangen zu stechen (von Schmerzen) — geliü geUi
stechen.
gilbstü gilbaü gilbti sich erholen — gelbu gelbeli helfen,
le dial. dßtmtu (gew. dfemu) dßmt geboren werden (lit. gemü
gimti) .
girsiü girdaü girsti zu hören bekommen,
le grimstu grimt sinken, lit. grimstü grimzdaü grimsli — gremzu
gremsti senken.
grystü {=gri8tü Doppelbildung = ^grins-tuT) grisaü grisli überdrüssig
werden — gresiu gresti entwöhnen.
griztü grizäü gr{zti sich wenden, zurückkehren — gr^ziü gr^'zti
drehen.
ihtü ilsaü ilsti müde werden.
ingsta ingti sich abstreifen, abgehen — engti abstreifen.
inksta inko inkti verschiessen (von Farbe),
le irstu iru irt sich auftrennen (lit. yrü irti).
kilstü (neben kylü) kilti sich heben — keliü kelti heben.
kimstü kimti heiser werden.
"^kirsztu kirszau kirszti zornig werden.
*kirstu kirdau kirsti aus dem Schlafe auffahren,
le klibstu klibt lahm werden (wahrscheinlich denom. von klibs lahm).
klimpstü klimpti einsinken.
421] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 383
le timstu limt zusammenknicken intr. — lemiü Umli.
linkstü linkti sich biegen — lenkiü lenkti biegen.
le milst tnilsa milst (iit. milszti) dunkel werden.
mirsztu mhii sterben.
le mirgstu mirgt flimmern.
mirkstü mirkaü mirkti eingeweicht werden — me$*kiü merkti ein>
weichen.
mirsztü mirszü vergessen.
nirsztü nirszti; nirstü nirsH ergrimmen — nerczu-s nersti-s sich
ereifern,
le pilstu pilt voll werden, 3. sg. pepilst gebräuchlich, vielleicht de-
nominativ von dem wie pik gesprochenen pilns voll.
phjsztu plifszli zerreissen intr. — ple'sziu pleszti zerreissen trans.
rimstü rimaü rimti (sich stutzen) ruhig werden — remiü reinli
stützen.
silpstu silpau silpti schwach werden,
le »irgstu sirgu sirgt (Iit. sergü sirgaü sirgti) erkranken.
sirpstü sirpti reifen.
^skiWstu skilbti bekannt werden — skelbiu skelbti bekannt machen.
^skirbstu skirbau skirbti angehen (stinkend werden; ap-skirbfs).
^skirstu skirdau -skirsti aufspringen {suskirdps) — skerdzü skersli
spalten,
le slipstu slipu sllpt gleiten (Iit. slimpu slimpti entschlüpfen),
le slikstu sltku sllkt sich senken (Iit. slenkü slinkti schleichen),
le smilgstu smilgt winseln — smeldfu smelgl schmerzen.
smilkslü smilkli dunstig werden — smelkiü smelkti ersticken.
smirstu smirdau smirsti stinkend werden.
^spilgslu spilgau {pa-spilg^s) spilgti im Wachsthum zurückbleiben.
spistu spindau spisti erglänzen,
le spirgstu spirgu spirgt frisch werden, erstarken.
springstü springti würgen (im Halse).
stingstu stingti gerinnen (starr werden) — stengiü-s stengti-s sich
widersetzen.
stirpstü stirpti etwas zunehmen, emporkommen — : sterpti-s auf etwas
bestehen.
styrstü s^rti starr werden.
. le stringstu stringt stramm werden.
384 AiJGi38T Lbskibn, l^^^
le 9wilsiu 9wilu 9w%U sengen inir. (lit. srnflü mlti) — le gwetu sweU
sengen trans.
svirslü (neben svyrü) mraü wirti das Uebei^ewicht bekommen —
sveriü sverti wägen.
le ^rkstu swirkt rieseln, knistern.
le »Ustu silu siU warm werden (lit. 9zylü szüaü sziUt).
szvinkstu szvinhti übelriechend werden.
üUislu tilkti heramgestossen werden, sich abreiben — teUdü telkU.
timpstü timpü sich recken — tempiü tempU spannen.
tingstu lingti faul werden.
tistu tinaü tinli schwellen.
tisiü tisaü tisti sich recken — tpsiü t§sti dehnen.
tirpstü tirpti schmelzen; erstarren.
tirsztu tirszti dickflüssig werden — tersziü terszti schmutzen.
*tyksztu tiszhaü auseinanderspritzen — - teszkiü te'kszti dickflüssiges
werfen.
trimstu trimti sich legen (von Schmerzen) — tremiü tremti nieder-
werfen.
tv^kstu {tvyske'li) knallen (vom Blitz).
tvistu tvinti anschwellen (vom Wasser).
tvinkstü tvinkti schwären — tvenkiü tvenkü schwellen machen.
"^tvirkstu *ivirkau iszr-tvirkti in Unordnung gerathen.
vilstu vildau vilsti (pa-) erwerben.
virkstu virkti {pra-) anfangen zu weinen — verkiü verkti weinen.
virpstu virpti verkommen (körperlich) — vetpiü verpti vgl. oben.
virstü virtaü virsti umfallen — verczü versti wenden, umwerfen.
iilpstü iilpti trübe werden (Augen) — ielpti trübe machen.
iistu (por-) zinaü iinti erkennen.
ivingstu {ivingu) zvingti anfangen zu wiehern — ivengiu zvengti
wiehern.
le fwirgstu fwirgt rieseln.
Unter der grossen Zahl dieser Verba sind nur vier, deren
Wurzelauslaut durch einfachen momentanen Gonsonanten oder Sibilan-
ten oder sk gebildet wird (das wahrscheinlich denominative le klibstu
nicht mitgerechnet) : grystü, drykstü, tv^kstu, plpztu ; das erste kann als
Doppelbildung aufgefasst werden (= ^grinstu)^ die Auffassung ist in-
dess nicht nothwendig, da, wie sich unten bei % der Reihe i, i u. s. w.
423] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 385
und bei u zeigen wird, diese Bildung langen Vocal bevorzugt, bei den
andern ist Nasalvocal ohnehin ausgeschlossen.
ß) Präsens mit infigirtem Nasal.
dritnbu dribaü dribti langsam herabtropfen — drebiü dre'bti mit
dickflüssigem werfen.
gristü (wenn nicht grystü richtiger) grisaü gristi (Präsens mit Doppel-
bildung = ^grinstu),
kimbu kibti hängen bleiben.
knimbü knibti zusammenknicken intr.
krinlü kritaü kristi herabfallen — kreczü kri'sti abschütteln.
kvimpü kvipti anfangen zu riechen intr. — kvepiü kve'pti duften.
rinkü rikti aufschreien — rekiü ri'kti schreien,
le 8tku (= ^sinku) siku sikt versiegen (iit. senkü sekaü sekli).
^slitnpu slipau slipti {pa-) verschwinden — slepiü sle'pti verbergen.
splintü splitaü splisti sich ausbreiten — spleczü sple'sti ausbreiten.
trinkü trtkti fehlgehen, irrig werden.
vimpu vipti (at-) herabhangen (von Lippen u. a.) — ve'piä-s vüpti-s
den Mund verziehen.
ilimbu ilibti Triefaugen bekommen — ilebiü iU'bli schwach sehen
können. .
Es ergiebt sich, dass die Wurzel niemals langen Vocal hat.
y) Präsens mit Dehnung zu y.
byru biraü birti sich verstreuen, ausfallen — beriü berti streuen:
yrü iraü irti sich auftrennen.
kylü kilaü kiUi sich heben — keliü kelti heben.
*kyru (3. sg. pakj^ überdrüssig werden) kirti — keriü kere'ti s. o.
nyrii niraü nirli {iszr-) aus dem Gelenk kommen — neriü nerti ein-
tauchen, einfädeln.
skylü skilaü skiüi sich spalten — skeliü skSUi spalten.
skylü skilaü skilti in Schulden gerathen — skeliü skele'ti schuldig
sein.
svylü svilaü svilti sengen intr. — le swetu Bwelt sengen trans.
svyru sviraü svirti das Uebergewicht bekommen — sveriü sverti
wägen.
szylü szilaü sziUi warm werden.
386 August Leskien, [12^
tylü lilaü tilti verstummen.
zylü zilaü zilli grau werden.
zyrü ziraü zirti zerstreut (zerscharrl) werden — zeriü zerli scharren.
ä) Präsens mit Suffix a (e-o) ohne Dehnung des Wurieiv.
brizgu brizgau brigsti fasern.
le ilgu ilgt nach Stender bei Bi I, 344 verziehen (vgl. ilgas lang),
lit. iszr-si-ilgstu ilgau ilgli wohl denom.
ryzgü rizgaü rigsti ausfasern intr. (ob die Quantität des Präsens
Schi. Gr. § 113 richtig?).
slimpu entschlüpfen (vgl. oben le slipstu).
smilu smilü (bei G., vielleicht smylu zu lesen) sich versengen.
trimü trimli zittern — tremiü tremti stossen (vgl. trimstu).
virpu virpti bei N zittern — verpiü vei^pii (vgl. o. virpstu).
ivingu zvingti anfangen zu wiehern (vgl. ivingstu).
Ganz vereinzelt steht le dfestu dfisu dfist auslöschen intr. (gegen-
über lit. geslü gesaü gesti dss. und trans. le dfeschu dfest). Vom
lettischen sa-^ki (gerinnen) wird das Präsens nicht angegeben.
Bemerkenswerth ist, dass dem Lettischen die Bildung mit y fehlt.
Kurschat schreibt die betreffenden Präsentia bald mit y^ bald mit t
{kylü, kilü)^ in Juskewic Sammlung finden sich Schreibungen wie
binra (3 sg. = b^ra), allein dass der Schreiber hier einen Nasal-
vocal gehört habe und nicht vielmehr einer grammatischen Theorie
gefolgt sei, ist noch zu entscheiden. Die Nasalität der Wurzelsilbe
ist mir aus dem Grunde sehr zweifelhaft, weil bei anderen Yöcalen
als i, z. B. in szälü (von Kurschat szqlü geschrieben) im Ostlitaui-
schen nicht die zu erwartende Vertretung der nasalen Silbe erscheint,
bei Sz heisst es szalu, nicht ^sztdu. Vereinzelt steht die Länge in
ryzgü^ das allerdings für *rinzgu stehen kann.
2. Terba ohne ausgeprägte InchoatlTe u, s« w. Bedeutung (s. o.).
Die Präsensbildung geschieht entweder mit Suffix a (e-o) oder
ja (Je-jo).
a) Präsens mit Suffix a.
dirbu dirbti arbeiten.
le dirsu (neben dirstu und dirschu) dirsu dirst cacare.
ginü g^niau ginti wehren.
^^^] Der Ablaut dbr Wurzelsilben im Litauischen. 387
imü e'miau imti nehmen.
knibü knibti zupfen.
minü mijniau minti treten.
pilü p^liau pilli giessen.
pinü pijniau pinti flechten.
pisü pisli coire c. fem.
skinü skpiiau skinti pflücken.
stilgu-8 G eile.
tinü t^niau tinti (Sense) klopfen.
trinü tri^niau tnnti reiben.
zindu zisii saugen.
ß) PrSlsens mit Suffix ja.
le bilfchu bildu hilft reden.
birbiü birbti summen.
le dirschu dirsu dirst cacare (neben dirsu und dirstü).
giriü g^riau girti rühmen.
grindzü gristi dielen.
iriü 'f^riau irti rudern.
le lifchu (neben ledu = lendu) lldu lift kriechen.
skiliü sk'^liau skilti Feuer anschlagen.
skiriü sk^riau skirli scheiden.
spiriü sp^riau spirti mit dem Fusse stossen.
szvilpiü szvilpti pfeifen.
trisziu triszti Sz stercorare.
le wil'u wilu will betrügen (lit. präs. bei N angegeben als vilsiu
und mh^ .
le mrfchur-s wirfü-s wirfte-s rücken.
le ßschu jidu fift (lit. zindu) saugen.
Vereinzelt steht mit Dehnung im Präsens tyriü t'^riau tirti er-
fahren. Von dirti schinden ist das Präsens nicht sicher bgkannt,
von vilbti (zwitschern) nicht angegeben.
b) u der Beihe u u ü u. ». vf.
Es wiederholt sich hier die Erscheinung, dass mit der inchoa-
tiven oder intransitiv-passiven Bedeutung die Stufe u oder ö ver-
bunden ist: das Präsens hat -tu oder infigirten Nasal oder Suffix a
1
388 AccrsT Lsmie», - [<26
e-o^ . BLsweiieo scheinen Doppelbildungen votrzokoouDen. Die weitaus
meisten Verba gehören den angegebenen Bedeutongsclassen an, ein
kleinerer Theil mit verschiedenen Präsensbildungen ist ohne jene
Bedeutungen. Wenn den Inchoativen oder Intransitiv-passiven ein
Durati vum oder Transitivum gegenüber steht, hat es in der Regel
die Stufe au.
1. TertM mit inchoatiTer oder intransitlT-passifer Bedeatmig.
a) Präsens auf -tu.
A. Consooantisch auslautende Wurzel.
4. Vocal ü.
blükstu blükau blükü schlaff werden.
biigstu bügau bügti erschrecken intr.
czüstu czüdau czüsli in Niesen ausbrechen — czaudiu czausti
niesen.
diügslü diügaü diügti (so Schleicher Gr.) froh werden (vgl. indess
dlungü) — diaugiü-s dzaügti-s sich freuen (sich erheitern).
dükstü dükaü dükti toll werden.
glüstu (3. sg. glfist) sich anlehnen — glaudzü glaiisti anschmiegen.
güitu guiti sich kauern s. S. 316.
*grü8tu grüdau grüsti weich werden.
^krüstü krüsaü krüsti aufleben, sich erholen,
le küpstu küpu küpt beräuchert werden.
liüHtü liüdaü liüsti traurig werden.
lüilu lüiau lüiti brechen intr. — läuiiu läuiti brechen trans.
nüslu nüdau nüsti gelüsten.
nükstü nükaü nükti rauschen (inch.).
plüstu pliidau plüsti ins Schwimmen gerathen — plaudiu plausti
schwemmen.
plüksztu plüszkau plühzti zusammenfallen, dünn werden.
rüstu rüdau rüsti ergrimmen.
rügstu rügau rügti sauer werden — le raugt^-s aufslossen.
slügstu slügau slügti sich setzen (von Geschwulst).
snüstu snüdau müsti einschlummern — snäudiu snäusti schlummern.
sprüstu sprüdau sprüsti sich zwangen — spräudtu spräusü
zwängen.
sprügslu sprügau sprügti N entwischen.
^27] Dek Ablaut der Wurzelsilben im 'Litauischen. 389
stügstu stügau stügti steif werden (und stügu stügaü stügti).
trükstu trükau tnikti reissen intr. — träukiu träukti ziehen,
le tükstu tüku tükt schwellen.
üksta tifco ükli sich beziehen (vom Himmel).
2. Vocal ü.
le büftu (Doppelbildung =z Hunftu^) budu buft erwachen (lit.
bundü) .
bukstü bukaü biikti stumpf werden, aber daneben präs. bunkü.
biurstü biuraü biüiii garstig werden. Bei K das Präs. biurstü
oder biürü^ überhaupt als zweifelhaft angegeben.
di4stü dusaü düsti (le präs. dum) ins Keuchen kommen,
le glumstu glumu glumt glatt werden,
le gubstu gubu gubt sich krümmen,
le gumslu gumu gumt sich langsam auf einen senken,
le gurstu guru gurt ermatten.
junkstü junkaü jünkti gewohnt werden (W. juk mit festgewordenem
Präsensnasal), le wird Bi I. 374 als prät. neben jüku
(= ^junkau) auch jiiku angeführt.
klustü klusaü klüsti {pa-) gehorchen,
le kukstu kuku kukti die Flügel hängen lassen.
kiürstu kiuraü kiürti löcherig werden,
le kurstu kuru kurl heizen intr. Bi I. 378. — kuriü küriau kürti
trans. heizen,
le küstu (Doppelbildung = ^kunstu^) kttsu kust schmelzen intr.
kustü {kuntü) kutaü küsti sich aufrütteln.
mürstu muraü mürti durchweicht werden (vom Boden),
le pl'upstu pl'upu pl'upt sprudeln,
le skumstu skutnu skumt traurig werden,
le spurstu spuru spurt faserig werden,
le schukstu schuku sehtet schartig werden.
türstu turaü türti in Besitzung * kommen.
ilugstü (neben* ilungü) Üugaü zlügti durch und durch nass werden,
triefen.
Dazu verdient bemerkt zu werden, dass unter den Fällen mit
ü keine auf r, /, m, n auslautende Wurzel vorkommt (eine Aus-
nahme wäre iiürstü üüraü iiürti [pror] zu sehen beginnen, allein
390 AüGüST Leskien, [<28
hier wird ziüriü ziüreti zu Grunde liegen), dass unter den Fällen
mit ü (im ganzen 22) 10 r oder m als Auslaut der Wurzel zeigen,
7 die Bildung mit Nasal neben oder zugleich mit -tu haben, 1 [dustü)
im Lettischen dusu hat. Es bleibt somit nur ein litauisches Verbum
mit ä, das diese Form rein hat pa-klmtü, in solchem vereinzelten
Falle ist man aber nicht sicher, dass nicht ein Denominativum der
Art wie saustü (zu saüsas) vorliegt; ferner drei lettische, davon
pl'upstu ein Schallwort, schukstu vielleicht Denominativum zu schuke
Scherbe, vielleicht schükstu zu lesen (inf. schükt ULD als Nebenform
angegeben, prt. schüku^ inf. schükt Bi I. 376 mit Fragezeichen),
kukstu. Es liegt bei diesen Verhältnissen der Schluss nahe , dass
die Bildung auf -tu bei Wurzelauslaut auf momentane Consonanten
und Sibilanten ursprünglich nur ü haben konnte. Dafür spricht auch
Schleichers dzügstü dzugaü^ wo keine Doppelbildung angenommen
werden kann, während le büftu und küstu allerdings eine solche
enthalten können.
B. Vocalisch auslautende Wurzeln.
Das Litauische hat hier die Form s-tu nur ganz vereinzelt oder
als dialektische Nebenform der Präsentia nach Art von iüvü^ das
Lettische dagegen durchgehend.
dzüstu dzüvau dzüti^ le fchüstu fchüwu fchüt trocken werden —
diäuti trocknen,
le gHlstu (lit. bei Sz griüstu) gfüwu gfüt einstürzen {^riüvü) —
gtaut stürzen trans.
le güstu [günu] güwu gut haschen.
. le kl'üstu Müwu kl'üt gelangen {kliüvü hängen bleiben) — kfaute-s
sich anstemmen,
le püstu püwu püt faulen {piüvü).
iüstu Sz {züvü) züvaü züti umkommen.
Dem Lettischen fehlt die Bildung nach Art von iüvü.
ß) Präsens mit infigirtem Nasal (le ü = un),
le brüku bruku brukt abbröckeln, sich abstreifen -^^ braukiü braükti
abstreifen.
bundü budaü büsti erwachen.
bunkü bvkwä bukti (auch bukstü) stumpf werden,
le drüpu drupu drupt bröckeln intr.
129] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 391
dumbii (le dubu) dubaü dübti hohl werden — dubiu dubti aus-
höhlen.
dzungü diugaü dzügti (auch dziügslu) froh werden — dzaugiu-s
dzaügü-s sich freuen.
le düku duku dukt malt werden.
le düfu (neben dufu) dufu duß entzweigehen — dauziü daüzti
heftig stossen.
grumbii grubaü griibti holperig werden.
gundü gudaü güsti klug werden.
jundü judaü jüsti sich regen inch.
le jüku juku jvkt sich vermischen — le jauzu javkl mischen.
juntü jutaü jüsti durch Gefühl wahrnehmen inch. — jauczü jaüsli
fühlen.
klumpii klupaü klüpti stolpern — klaupi&s klaüpti-s knien.
le kfüpu kfupu krupt {krupl) verschrumpfen — kraupiü kraüpti
aufschrecken u. s. w.
kuntü {ktistü) kulaü küsti sich erholen.
le küpu kupu kupt sich ballen — küpiu kupli häufeln, kaüpti dss.
le küstu kusu kmt (Doppelbildung?) schmelzen intr.
le müku muku rnukt sich abstreifen — mmdciü maükti streifen.
plunkü plukaü plükti befliessen, verschiessen — plaukiü plaükti
(fliessen) schwimmen.
ptmlü pulaü püsti schwellen — puczü pmti blasen.
runkü rukaü rukii faltig werden — raukiü raükli falten.
skumbii skubaü skübli sich beeilen.
skundü skudaü sküsti anfangen zu schmerzen.
smunkü smtdiaü smükti abgleiten — smaukiü smaükti abstreifen.
le sprüku spruku sprukt entwischen — le spraiizü-s spraukle-s
entwischen.
le 8üku suku sukt entwischen (lit. sukü sukti drehen trans.).
siunlü siutaü siüsli toll werden — siaucziü siaüsti toben.
le schl'üku schl'uku schl'ukt glitschen — le schl'üzu schl'üki spinnen.
szufdiü szfjikaü szükti aufschreien — szaukiü szaükli schreien.
szuntü szulaü szüsti schmoren intr.
trunkü trukati triikti sich verziehen (zögern), le trüku Irukt zu-
sammenfahren — träukiu iräukti ziehen.
tunkü tukaü tükti fett werden.
Abhandl. d. K. S. Qesellsch. d. Wissensch. XXI. 27
392 AüGüST LssEiEif, [^3ö
zlungii (und zlugstü) zlugaü zlügli triefen.
, le füdu fudu fust verschwinden.
Von vocalisch auslautenden Wurzeln kommt hier nur in Be-
tracht :
le günu {güstu) gut haschen (vgl. lit. guinii^ g^iji* nachjagen).
S^mmtliche consonantisch auslautende haben in den Nicht-
präsensformen nur kurzen Vocal, der Gegensatz gegen die te-Classe
zeigt sich klar bei zwiefacher Formation von derselben Wurzel, vgl.
trükslu irükau Irükli mit trunkü Irukaü iriikii; le tükstu tüku tükt fett
werden mit itmkü tukaü tükti fett werden.
y) Präsens mit Suffix a [e-o).
A. Consonantisch auslautende Wurzeln.
hlusu blmau blusti NSz (Quantität unsicher) verzagen.
le dubu dubu dubl (lit. dumbü dübii) hohl werden — dubiu dubii
höhlen,
le du8u dtssu dml keuchen (lit. dmiü dÜ8ti)^ viell. nicht u 2h.
le dufu (neben düfu = ^dunfu) dufu duft entzweigehen — dauziü
daüzli quetschen, stossen.
susü smaü süsli (so nach KLD flectirt, Präs. ungebräuchlich) räudig
(eigentl. trocken) werden, le su$u mm sust trocken werden,
le trmu irusu trust struppig werden.
szupü szupaü szüpti faulen (Holz).
Der Vocal ist durchweg kurz, nur bei Schi. Lsb. findet sich
ein pa-stügii siugaü siügti (steif werden) mit Dehnung im Präsens,
vgl. oben slü^slu stügau siügti,
B. Vocalisch auslautende Wurzeln.
Das Präsens hat Dehnung zu ü ; bei consonantisch anlautendem
Suffixe haben die hierhergehörigen Wurzeln wie sämmtliche vocalisch
auslautende Wurzeln des Litauischen stets langen Vocal. Dem Let-
tischen fehlt die Präsensbildung dieser Art. Die Nebenformen auf
-s-te s. oben.
bliüvn bliüvaü bliiili aufbrtillen — bliäuju bliäuti brtillen.
griüvü griiivaü griüti stürzen intr. — griäuju griäuti stürzen trans.
kliüm kliüvaü kliüti hängen bleiben — le klaute-s sich anlehnen.
püvü piivaü püti faulen.
iüvü züvaü züti umkommen.
434] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 393
Zu dem prät. sruvo^ pt. pa-sriiv^s wird präs. ^srüm^ inf. ^srüH
zu construiren sein.
cJ) Präsens mit Suffix 7a (je-jo),
gnliü guliaü giilti sich legen.
kukiu kukiau kukli N aufheulen (Quanliläl unsicher) — kaukiü
kaükti heulen.
tüpiü tüpiaü tüpti sich kauern, hocken.
Es bleiben einige Verba übrig, von denen das PrUsens nicht
belegt ist: su-drugli (3. sg. prt. drugo) sich gesellen; 3. sg. prt.
pa-rfipo; 3. sg. prt. pa-ügo^ prt. pa-üg^s; prt. prät. su-niür^s; 3. sg.
pr. m-piiro (ö?) ; s. oben unter den betreffenden Worten.
2. Terba ohne aasgeprägt Inchoative u. s. w. Bedeutung.
a) Mit Prasenssuffix o [o-e).
A. Consonantisch auslautende Wurzel.
brukii^rukaü brukti zwängen.
kruszü krmzaü hiiszli stampfen.
kiuiü kiuzaü kiüzli wimmeln.
lupü lupaü lüpti abschälen; le präs. lüpu =z Humpu,
muszü mmziaü müszti schlagen.
skutü skuiaü sküsti schaben; le präs. skfitu = ^skuntn.
sukü sukaü sukli drehen.
supü supaü süpti schaukeln.
Nur kurzer Vocal. ^r
B. Vocalisch auslautende Wurzel.
siüvu siüvaü siüti nähen, le schünu schüwu schul,
ß) Präsenssuffix ja {je-jo).
A. Durchgehend kurzer Vocal.
le sirufchu slruft eitern, lit. N srudzu srudzau srüsti blutig machen,
le lupju lupu tupl hocken.
B. Durchgehend langer Vocal.
grüdzu grüdzau grüsli stampfen. le plüzu plüzu plükl zupfen.
kriükiu kriükiau kriükti grunzen, rügiu riigiau rügti Aufslossen haben,
le lüdfu lüdfu lügt bitten. le rüzu rüzu rüki brüllen.
niükiü niükiaü niükti rauschen le schtüzu schtüzu schl'ükl spinnen.
87*
394 AccisT Leskiex. [^32
Ui H4'huuzu Hvhnüzu Hchnüki srhnau- Iriümi iriüsiaü /rtilsli geschäftig sein.
\atfi 'rH;l>en Hchnauzu nchnaukl . üziü üziaü fizii sausen, rauschen.
C. Wechsel von u und «.
Imriü buriau Imrii wahrsagen. kuliü küliau kitUi dreschen.
äumiü dümiau Jümli zudecken. kuriü kuriau kürli bauen; beizen.
äuriü düriau dürti siechen. rumiü rumiau rumli stampfen.
yrumiü'H grümiau-H f/rümlU ringen, slumiü slümiau stümti stossen.
le jumju jümu jumt ^präs. auch
jumu^ prül. jumu] Dach decken.
Der Auslaut ist also r, /, m, dazu kommt eines mit auslauten-
dem t: jnivzü jmczaü jmsti^ wo lettisch durchgehend ü: püschu püiu
pml^ blasen.
Es bleibt noch ein Rest, wo die Präsensform nicht bekannt
oder die QuantitSIt nicht sicherzustellen ist: krupiü-s krupiau-s kntpit-s
zusammenfahren ((erschrecken); kupiu kupiau kupii zu Haufen legen;
czüpti greifen nach etwas; snüzli (3. sg. snuz) rauschen.
c) i der Reihe i, 2/, e n. s. w.
Die Erscheinungen sind dieselben wie unter b). Dem i, y des
Inchoativs oder Intransitiv-passivs steht e oder ei beim Durati vum
oder Transitivum gegenüber.
1. Yerba mit Inchoativer oder intransitiv-passiver Bedeutung.
a) Präsens auf -tu,
A. CoDSonantisch auslautende Wurzeln.
4. Vocal durchgeheDd y.
hlykszlü blyszkaü bk/kszli erbleichen.
dijyslu df/yau dijgli keimen (hervorstechen inlr.) — dSgia dSgii
' stechen.
drykslü drykaü dnjkli sich herabziehen — drekiü drSkii streuen
(Halme),
lo ijihHlu (Jlbu (jibt schwindlig werden.
gfistu gtjdau gf/sli anheben zu singen — gSdu gedöii singen.
yytln gyinti gi)ili herb werden.
Ic gliflu glidu glifl schleimig werden.
klijslu klffdau kh)sli irregehen (le sich zerstreuen) — le klefchu
klefi ausstreuen.
^33] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 395
klypstü klypaü klijpli inch. die FUsse schief biegen beim Gehen —
kleipiü kkipti schief treten (Schuhe).
krypstü krypaü knjpli sich wenden — kreipiü kreipli wenden.
hjslu hjsau Ifisli mager werden,
le niftu nidu nift hassen (inch. Hass werfen auf . .).
nykstü nykaü nijfkti verschwinden.
pykstü pykaü p^kti böse werden — peikiü peikli fluchen,
le 3. sg. pisi inf. plsti ULD sich (leicht) ausschlauben.
njkszla rfjkszli sich in Fäden auflösen,
le sikstu {slzu) slzu sikl zischen (von kochendem Wasser),
le schk'iflu schk'ldu schJiiß zergehen, lit. skystu skydau skysU —
skedzü sk'esü scheiden, dünn machen.
slyslu shjdau slysti gleiten.
slygslu slygau slygli N schlummern (wohl inch.).
le swiflu swldu swifl schwitzen,
le swift sivida mvifi anbrechen (vom Tage).
szmykszlu szmyszkau szmykszii N verkümmern.
InJ/stu Irjjdau trf/sli Durchfall bekommen — trSdzu Iresli Durchfall
haben.
iiilkszlu Iryszkau Injkszti spritzen intr. — treszkiu IrSkszli quetschen.
vjljslu v^jdau v^sii gewahr werden,
le wlkstu wikl geschmeidig werden, sich biegen.
vykslü vykaü wjkti sich wohin begeben u. s. w. — veikin veikti
machen.
vj^stu mjlau mjsti welken.
zyslu zydau zysli aufblühen — zedzu zesü formen.
zypsiü zypaü zijpli sich erholen (von Krankheit).
2. Vocal durchgehend i.
bligslu blizgau bligsti aufleuchten.
drizlu drizau drizti matt, schlaff werden.
lipslu lipii brennen (s. o. an der betreffenden Stelle — die Quan-
tität ist unsicher).
tnilslü {sii-si-) milaü milti sich erbarmen.
miszlü miszaü miszti sich mischen ; bei Bi I. 374 das lettische Präs.
zu prät. mim mist zweifelnd ob misiu oder mlstu angesetzt.
niztü nizaü nizti krätzig werden, Präs. bei K nach Vermuthung
angesetzt. — nSza^ le nef nefa neft jucken.
39ß ArccsT Lcmic^. 1*34
le ri$tii rufu rui, oebeo präi». risiu Doppelbildung = *ria«ltf?
.sich anfügen,
le inif^ür^ 4r/iijya üntf'iyl lit. $ninga es schneit eig. inchoativ..
vt/fflü 'Dop()elhildong, zu schreit>en rulü'^ vi^aü vidi sich vermehren
— rmm rm/i fortpflanzen.
Vereinzelt steht hUIihIü sklindaü M{sli auseinanderOiessen, wo aus
einem Präs. ^»klindu der Nasal fest geworden und das Verbum in
ilies^^r fiestalt in die /u-Classe übergegangen ist. Die ursprüngliche
Kegel scheint auch hier die Verbindung der Länge mit der Präsens-
bildung auf -tu gewesen zu sein. Die Formen le ruiu, lit. üyslu
müssen nicht nothwendig als Doppelbildungen aufgefasst werden.
B. Vocalisch auslautende Wurzeln.
PrUsens auf -tu. Die Bildung ist aufs Lettische beschränkt,
le hiHlü-s hijii-H hile-s sich fürchten,
le dfuflu Jffju dfil heilen intr.
le zislii-if zijü-s zlale-s ringen,
le UhI lija hl regnen (eig. sich ergiessen).
Die litauische Bildung dieser Verba s. unten.
(i) Präsens mit Nasal (le l = in).
kindü kidaü khli (gebrauchlich su-kid^ zerlumpt), so nach Muth-
massung von K.
kinlu kitau kinti anders werden — keiczn keisli wechseln.
klinkü klikaü klikli aufschreien — klykiü klykli schreien,
le knilu knilau kninl keimen
pr po-lifika er bleibt.
limpü lipaü lipli kleben bleiben.
minyn migaü migli einschlafen — megü megöti schlafen.
minlu tnilaü misli sich nähren,
lo mttu mihi nml losthauen.
ninkii nikaü nikti auffahren.
pingü pigaü pigli wohlfeil werden (Denominativ von pigiAsTj,
rinkü rikaü rikti sich verzählen u. s. w.
lo ristn (Doppelbildung?, neben rislu) risu rust sich anfügen.
hklindu Hklidau sklisti auseinanderfliessen (vgl. oben sklfslü) —
skleidiii Hkleisli ausbreiten.
skrindn skridaü akristi kreisen, fliegen inch. — skredzu akr&fti fliegen.
^35] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 397
smingü smigaü smigti stecken bleiben (auf einer Spitze) — smeigiü
smeigti feststecken trans.
sninga snigo migti schneien (eig. inch.).
spinlü spitaü spisti ausschwärmen — speczü spesli schwärmen.
slingü stigaü sligti (wo anlangen) ruhig werden, wo bleiben —
sleigti stiften.
slimpü slipaü slipti steif werden — slepiü slepli recken.
slringü slrigaü slrigii hängen bleiben — slregli anstecken.
szimpü szipaü szipli stumpf werden.
szvinlü szvitaü szvisU aufleuchten, hell werden — szveczü szv'esü
leuchten; szveiczü szveisti putzen.
tinkü tikaü tikli passen intr. — leikiü teikli trans.
vystü (Doppelbildung = vislü'f) visaü visU sich vermehren —
veisiü veisli fortpflanzen,
le ßbu (neben fibu) fibu ßbt flimmern — zebiü zebii anzünden.
zvingü zvigaü zvigti aufquieken — zvegiü zvegli quieken.
Keines dieser Verba zeigt t, den Gegensatz zu der fw-Classe
veranschaulicht ninkü nikaü nikti und mjkslü nykaü mjkli von der-
selben Wurzel. — Von vocalisch auslautenden Wurzeln ist die Bil-
dung mit Suffix -na- [lijna es regnet) dialektisch als Nebenform der
Bildungen wie hjja vorhanden.
Y) Präsens mit Suffix a (e-o).
A. Consonantisch auslautende Wurzel.
skida 3. sg. präs. ertönt.
szmizu szmizau szmizli verkümmern.
le ßbu (neben ßbu = *ßmbu) ßbu ßbt flimmern.
B. Vocalisch auslautende Wurzel.
gyjü gijaü gpi heilen intr.; i-gyju u. s. w. erlangen.
hjja lijo Ipi regnen (eig. sich ergiessen) — VSju ISli giessen.
*8zlyjü szlijaü szlyli sich neigen — szlejü szlSli anlehnen.
Von einigen diesen Bedeutungsclassen zuzurechnenden Verben
ist die Präsensform nicht bekannt: izti^ prät. Hau entzweigehen; prät.
8Ur-]hzküu anfangen zu suchen {jeszkau jeszköti suchen); le klit sich
zerstreuen; su-kligo schrie auf; 3. sg. prät. mjro glupen; jm-pijusi
{kärve) strotzend; u^kisti (Flachs zum Trocknen legen) s. ob.; al-lizli
398 AcGcsT Le8sie5, [*36
die Lust verlieren, sich abwenden prat. 3. sg. lito ; sziikti, prät.
Hzlikaü errathen.
2. Terlw ohne inchoatlre n. s. w. Bedentmig.
a) Mit Präsenssuffix a o-^).
A. CoDsoDantisch auslautende Wurzeln.
kiszu k'iHzaü khzli stecken trans. rinzh rUzaü riszU binden.
ktÜHU knimü knixU wühlen. rilü ritaü risli rollen.
lipü lipaü lipli steigen. le situ situ sisl schlagen.
mujn mifjaü mifjli drücken. sziku szikaü szikli cacare.
Von xysaü (pvM.) sysU abhalten (ein Kind], pa-si-itjkfs versehen
mit /^Sterbesacrunienten) ist das Präsens mir unbekannt.
B. Yocalisch auslautende Wurzel.
le miju mtju mli tauschen.
Ic plijü-H plijüs plllC'S sich aufdrängen.
rijjh rijaü ri/li schlucken.
Ic wiju wiju wU flechten, winden (lit. vejü vijaü vyti).
ß] Mit Prüsenssuffix ja (je-jo).
(fnijbiu (jnfibiau gnifbti kneifen.
klykiü klykiaü klffkli schreien.
ic mifchu viifu miß harnen (lit. mein myzau myzii).
Hlrypiü slrypiaü sln'ipli trampeln.
ivyyiü ivyfjiaü ivygli quicken.
Zu diesen mit langem Vocal das bei N stehende spikiu spikli
ermahnen mit der Kürze.
d) Yocal e^ allein oder im Wechsel mit e.
Nur consonantisch auslautende Wurzeln.
Ebenso charakteristisch, wie für die Stufe i die inchoative oder
intransitiv-passive Bedeutung, ist für die Stufe e die durative oder
transitiv-active, so dass nur eine geringe Zahl der hierhergehörigen
Vorba jene Bedeutung hat.
1. Yerba mit inchoativer oder intransitiv-passiver Bedeutung«
a) Präsens auf -tu.
br{*'stu brmdau br^'sli körnig werden (vgl. brislu brindan bristi auf-
quellen).
137] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 399
geslü gesaü gesii erlöschen.
gverstu gveraü gvärti sich ausweiten (so nach KLD; in Gebrauch
nur pt. prät. isz^gver^).
lepsin (N auch kmpu) lepaü lepti sich verzärteln (wohl denom.
von lepüs),
reslü (renlü) relaü resli dünner werden (wohl denom. von retiis),
sk^siü skendaü sk^sli untersinken, ertrinken.
temstu temaü lemli dunkel werden.
trepslu Irepli N stampfen (mit den Füssen; wohl inch. zu fassen).
treszlü Ireszaü Ireszli faulen.
zvelgslu zvelgli plappern Sz (wohl inchoativ).
ß) Präsens mit Nasal. ^
gendü gedaü gesli entzweigehen.
glembü glebaü glebli weich werden, zerfliessen.
jenkü jekaü jekti erblinden.
lempii lepaü lepti {lepstü) sich verzärteln (wahrscheinl. denom. von
lepiis) .
renlü {restü) relaü resli dünner werden (wahrscheinlich denom. von
relas) .
senkü sekaü sekti sich senken (vom Wasser).
smengü smegaü smegli hineinfahren.
Idenkü klekaü Idekli gerinnen.
skrenlü skretaü skresli sich mit einer Kruste beziehen.
sznenkü sznekaü sznekli anheben zu sprechen.
lenkü tekaü tekti hinreichen, zufallen.
y) Präsens mit Suffix ja.
le blefchu bledu blefl aufdinsen.
slelbiü .slelbiaü slelbti schal werden.
Als Inchoativ kann auch das lettische repu repu repl einen Gallus
ansetzen (Suffix a) angesehen werden, inchoative Bedeutung hat auch
le sa-wergt einschrumpfen ULD (Präs.?).
2. Yerba mit durativer oder transitiver Bedeutang.
Die etwa gegenüberstehenden inchoativen oder intransitiv-pas-
siven mit i s. 0. S. 381 bei diesem Vocal.
400 August Leseien, [^^^
ä) Suffix a.
bedu grabe (le befchu bcdu befl mezgu mezgiaü megsii knoten.
schütten, begraben). neszü nesziaü nesüi tragen.
defiü degiaü degli brennen. peszü pesziaü peszii pflücken.
gremzdu gremzdau gremszli schaben, rezgü rezgiaü regsli stricken.
gremzu gremzau gremzli versenken, sekü sekiaü sekli folgen.
grendu (grendzu) grendau gr^'sti telzu lelzli G beharnen.
reiben, scheuern. lejm lepiaü tepti schmieren.
kepü kepiaü kepli backen. vedü vedzuü vesli führen.
lesü lesiaü lesli picken. vezü veziüü veUi fahren.
melü meczaü mesti werfen.
ßj Suffix ya.
1. e ohne Wechsel mit e.
le befchu bedu befl schütten, be- glemziü glemüaü gleniszli zusam-
graben. mendrücken.
beldzu beldzau behli klopfen. le grebju grebu grebl schrapen.
bengiü bengiaü bengli enden. grendzu {grendu) grendau grfsti
le berfchu berfu berfl scheuern. reiben.
blendzü'8 blaidzatl-s bl^'sli-s sich greniu gredau gresU (verekeln) ent-
verfinstern, wohnen (Quantität unsicher).
czcrszkiü czerszkiaü czcrkszli klirren gr^ziü gr^^ziaü gr^'zti drehen,
(neben czirszkiü). le gtvelfchu gwelfu gwelft verklat-
delbiü delbiaü dclbii [akis) nieder- sehen.
schlagen (die Augen). kenkia kenke kenkli weh thun.
delsiü delsiaü delsU säumen, zögern, kenczü kenczaü k^'sli erdulden.
dengiü dengiaü dengli decken. le k'eschü-s k'esü-s k'esle-s sich
dergia derge dei'gti es ist schlechtes aufdrängen.
Wetter (eig. es macht schl. W.). klepiu {ap-)klepli begreifen.
derkiü derkiaü derkli besudeln. lenkiü lenkiaü lenkli biegen.
elgiü-8 elgiaüh-s clgU-8 sich ver- meldzü meldzaü melsli bitten,
halten. le melschu melsu meist verwirrt
le elschu elsu eist keuchen. reden.
engiü engiaü engti abstreifen. merkiü merkiaü merkti einweichen.
le erfchu {er flu) erdu erft trennen, merkiu merkiau nierkii die Augen
erziu knurre. schliessen.
gerbiu gerbiau gerbli ehren ; kleiden, nersziü nersziaü nerszli laichen.
439] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. '401
nerczu-s nerczaths nersli-s sich be- slelgiü slelgiaü slelgti slarr hin-
eifem. sehen u. a.
perdzu perdzau persti pedere. slengiü-s slengiaur-s stengti-s sich
rengiü rengiaü rengti rüsten. widersetzen.
renczü renczaü rpsti kerben. szelpiü szelpiaü szelpli helfen.
reszkiu reszkiau rekszti pflücken. le swelpju swelpu swelpt pfeifen
segiü segiaü segli heften. (dss. wohl lit. szvelpiu szvelpli
skelbiu skeWiau skelbli Gerücht ver- lispeln).
breiten. lelkiü telkiaü telkli Arbeiter zusam-
skelsiü skelsiaü skelsti verschlagen inenbitten (s. o.).
(ausreichen). tempiü lempiaü lempli spannen.
skerdiü skerdzaü skersli (spalten) le lerpju lerpu tcrpt kleiden.
schlachten. l^siü t^iaü t^sli dehnen.
sklempiü sklempiaü sklempli glatt lerszkia terszke lerkszU frösteln
behauen. (klappern) .
sklendzü sklendzaü skl^sli schien- tersziü tersziaü lerszli schmutzen.
dem. trenkiü trenkiaü trenkii stossen.
sklepiu sklepiau sklepli N wölben, tvenkiü tvenkiaü Ivenkli schwellen
skverbiü skverbiaü skverbli bohrend machen.
stechen. le weldfu weldfu welgl nass machen,
le sledfu sledfu siegt stützen (wenn vengiü vengiaü vengti meiden.
e =z en). verkiü verkiaü verkü weinen.
\e smeldfu smeldfu smelgt schmerzen, verpiü verpiaü verpti spinnen.
smelkiü smelkiaü smelkli ersticken, verczü verczau versli wenden.
smerkiü smerkiaü smerkti verderben, verziü verziaü verzti schnüren.
spendzu8pendzau8p^8tiFsA\ensle\\en, zengiü zengiaü zengli schreiten.
spengia spcnge spengti klingt in den zergiü zergiaü zergti die Beine
Ohren. spreizen.
sprendzu sprendzau spr^sti spannen, zlembiu zlembiau zlembli jammern.
stembiü stembiaü stembli schössen zvelgiü zvelgiaü zvelgli blicken.
(Stengel ansetzen). zvengiu zvengiau zvengli wiehern.
Mit Ausnahme von le beß^ le grebt^ le keste-s^ segti und den in
Quantität oder Form nicht zweifellos überlieferten gresti^ klepii^
rekszti^ sklepli haben alle anderen als Wurzelauslaut r, /, m, n -{- Con-
sonant. — In diese Reihe gehören wahrscheinlich auch kergti an-
binden; kvempti'S sich aufstützen; ri't'iii recken; sterpli-s bestehen auf,
deren Präsens mir nicht vorgekommen ist.
402' August Leskien, [HO
2. e im Wechsel mit t.
A. Wurzelauslaut momentane Consonanten oder Sibilanten.
drebiü drebiaü drebli dickflüssiges lekiü lekiaü lekti fliegen.
werfen. slepiü slepiaü slepti verbergen.
dreskiü dreskiaü dreksli zerreissen spleczü spleczaü splesli ausbreiten.
trans. srebiü srebiaü srebli schlürfen.
dvesiü dvmaü dvesti athmen. leszkiü leszkiaü tekszli dickflüssiges
kreczü kreczaü kresti schütteln. werfen.
kvepiü kvepiaü kvepli duften. Iresiü Iresiaü Iresli läufisch sein.
Ausgenommen die Fälle dvesti^ kvepti^ iekszti geht dem e ein
r oder l voran. Im Lettischen hat dfest löschen trans. die Neben-
form dfest^ Prot, wird nur dfesu angegeben, Präs. df^chu und
dfeschu; ebenso bei tösl — lest behauen (u)it dem Beil), prät. tösu^
präs. teschu und teschu,
B. Wurzelauslaut r, /, m.
beriü beriau berü streuen. scmiü semiau semli schöpfen.
geliü (je'liau gelli stechen. le sefu seru sert in die Rije
geriü geriau gerti trinken. stecken.
keliü keliau k4lli heben. skeliü skeliau skclti spalten trans.
le k'efu k'eru Kerl fassen. le smel'u smelu smelt schöpfen.
lemiü le'tniau lemti Schicksal be- le spefu speru spert mit dem Fusse
stimmen. stossen.
le nemu nemu nemt nehmen. le swel'u swdu swelt sengen trans.
neriü neriau nerti eintauchen trans. sveriü sveriau sverti wägen,
le pel'u pelu pell schmähen. szeriü szeriau szerli füttern.
periü pe'riau perti mit dem Bade- szeriü -s szeriau-s szerli- s sieh
quast schlagen. haaren.
remiü remiati remli stützen. le fwel'u fwelu fwell wälzen.
süteme prät. 3. sg. LB 344 würde ein präs. ^lemiü voraussetzen
lassen, die Form würde zur Bedeutung indess nicht recht stimmen.
tremiü Iremiau tremli nieder- veriü veriau verli öffnen u. a.
stossen. zeliü zeliau zelti wachsen (von
Iveriü tveriau Iverü fassen. Pflanzen, grünen).
veliü veliau velti walken. zeriu zcriau ierti scharren.
vemiü vemiau vemti sich erbrechen.
4^^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 403
Der Unterschied in der Verwendung des e zwischen A und B
besteht, wie bekannt, darin, dass jene das e in allen Nichtpräsens-
formen des Verbums haben, diese nur im Präteritum.
e) Vocal au.
Bekanntlich sind im Litauischen ursprüngliches eu und ou in au
zusammengefallen und nicht mehr sicher zu scheiden; bei den pri-
mären Verben mit Suffix ja liegt bei der Parallelität mit e und e, ei
sicher durchweg eu zu Grunde. Inchoative Bedeutung mit dem ent-
sprechenden PräsenssufQxe ta- ist ganz vereinzelt; die durchgehende
Bedeutung ist die durative oder transitiv-active gegenüber inchoativen
und intransitiv-passiven Verben mit der Stufe u.
h Yerba mit inchoaÜTer Bedeutung (Suffix des Präsens -ta-),
aüszta aüszo aüszti anbrechen (vom Tage).
äuszta äuszo äuszii kühl werden.
kiauslü kiaustaü kiaüsti verkümmern (im Wachsthum).
Es versteht sich, dass Denominativa wie pläukstu pläukau pläukti
(von plaukai Haar) Haare bekommen hier nicht aufgenommen sind.
— Bei NSz ein skraudu skrausti rauh werden, wenn richtig, viel-
leicht denom. von skraudus.
2. Terba mit transitiT-aetiTer oder dnrativer Bedeutung.
a) Suffix a im Präsens,
le fiauku Aauzu naukt (lit. pr niäukiu) mit Wolken beziehen,
le raugü-s (at-) raudfü-s raugte-s rülpsen,
le schmaugu schmaugu schmaugt auf den Mund schlagen.
äugu äugau äugti wachsen.
ß) Suffix jo.
A. Consonantisch auslautende Wurzeln.
braukiü braukiaü braükti wischen, dzaugiü-s dzaugiaü-s- dzatiffü-s sich
baubiü baubiaü baübti brüllen. freuen.
baudzü baudzaü baüsti züchtigen, dauziü dauziaü daüzti heftig stossen.
czäudiu czäudzau czäusti niesen. glaudzü glaudzaü glaüsti anschmie-
czäupiu czäupiau czäupti den Mund gen.
eng schliessen. gniäuziu gniduziau gniäuzti zusam-
czauszkiü czauszkiaü czaükszti rie- menquetschen.
sein. le graufchu graudu grauft poltern.
draudzü draudzaü draüsti drohen, gräuziu gräuziau gräuzti nagen.
40 i August Lbskibn, [14^
le ^aubju ^aubu ^aubt ergötzen. raukiü raukiaü ravkli falten.
gaudzü gaudzaü gamti klagen, jam- rausiü rausiaü raüsti wühlen.
mern. le skaufchu skaudu skauft neiden,
lo jauzu jauzu jaukt mischen. sklatidzu sklaudzau sklausti drängen.
jauczü jauczaü jaüsli fühlen — smäugiu smäugiau smäugii würgen.
le jauschu jauiu jaiisi zu ver- smaukiü smaukiaü smaiikti zwlSmgen.
nehmen geben. snäudzu snäudzau snämti schlum-
klaupiu'S klaupiaü-s klaüpli-s knien, mern.
kliaudzu kliaudzau kliausii N [kliaU' spräudzu spräudzau sprämli zwän-
da) hindern. gen.
kläusiu kläusiau klänsti fragen. lo spraudfu spraudfu spraugt schro-
kratdiiü kraukiaü kraiikli krächzen. ten.
kraupiü kraupiaü kraüpti zusam- späudzu späudzau spämti drücken.
menfahren machen, aufschrecken, sraubiu [sraubiau) {sriaubti) Sz
kaukiü kaukiaü kaükli heulen. schlürfen.
kaupiü kaupiaü kaüpti häufeln. 8raupiu{sraupiau) [sraupli) nmtassen.
kiämziu kiäusziau kiäu^zti schnell slaugiü slaugiaü staügti heulen.
gehen. saubiü saubiaü saübti toben.
lätikiu läukiau läukli warten. siaudzu siaudzau siausti summen.
maukiü maukiaü maükti streifen. saugiu saugiau saugti tönen.
mausziu mausziau matiszH brünstig siauczü dauczaü siaüsti toben.
sein. siauczü siauczaü siaüsti umhüllen.
niätdiiü'8 niäukiau-s niäukti-s sich le slauzu slauzu slaukt melken.
bewölken. szliauiiu [szliauziau) (szliauszlt) krie-
plaudzu plaudzau plausii waschen, chen.
le plaufchu plaudu plauft nass le scMauzu schnauzu schAauki
machen. schnauben.
plavkiü plaukiaü plaükli schwim- szaukiü szaukiaü szaükli rufen.
men. sziatisziff-s sziausziaü-s sziaüezti-s
pliaupiü pliaupiaü pliaüpti schwa- sich sträuben (Haare).
tzen. träukiu träukiau träukti ziehen.
prausiü praimaü pi^aüsti (Gesicht) äudzu ätidzau äusti weben.
waschen. le fcMaudfu fchnaadfu fchiiaugl
le paufchu paudu pauft ruchbar {fchmaudfu fchmaugt; fmaudfu
machen. fmaugt) würgen.
Hierher wohl auch le paupt schwellen; taupti G schonen.
4i3] Der Ablalt der Wurzelsilben im Litauischen. 405
B. Vocalisch auslautende Wurzel.
Das Präterilum hat ö (le ä).
le auju (Nebenform von auna) awu liäuju liöviau liäuti aufhören.
{äwu) atU (Schuhe) anziehen. mäuju moviau mäuli streifen.
bliäuju bliöviau bliäuli brüllen. le mauju mäwu maut brüllen.
briäujü-s briöviau-8 briäuti-s sich le iiauju üäwu naut miauen,
drängen. pläuju plöviau plduli spülen.
(fzdf/ju Jzomat/ (/zdt//t trocknen trans. piäuju piöviau piäuti schneiden.
griäujugriöviaugridulislüTzenivans. räuju rtwian räuti ausreissen.
jäuju jöviau jäuti mischen. le skauju skäwu skaut umarmen.
le kl'auju-8 kl'äwü-s ktaule-s sich le schk'auju schk'ävm schkaut nie-
anlehnen (lit. pa-si-klätUi ver- sen.
trauen auf). le spraujü-s spräwu-s spraut em-
kräuju kröviau kräuti häufen. porkommen, empordringen.
käuju kaviati käuli schmieden ; spiäuju spioviau spiäuti speien,
kämpfen. szäuju szoviau szäuti schiessen.
Die lettischen Nebenformen der Präsentia wie kf-aunu^ raunu
u. s. w. , die dialektisch auch im Litauischen vorkommen, sind
Weiterbildungen einiger alter Muster wie annü und können hier un-
berücksichtigt bleiben.
y) Suffix na.
Es kommen hier nur vor aunü aviaü aüli (Schuhe) anziehen;
gäunu gavaü gäuti bekommen.
f) Yocale e und ei.
Verba inchoativer oder intransitiv- passiver Bedeutung fehlen
hier so gut wie ganz, daher auch die entsprechende Präsensbildung
auf ta-: es lassen sich nur anführen le meftu (neben mefu) mefu
meft stumpf werden (von den Zähnen) , le reibst reiba reibt es
schwindelt. — Sehr spärlich ist femer bei den Verben durativer oder
transitiv-activer Bedeutung a) das Präsens auf a vertreten, bei der
Stufe ei fehlt es ganz, bei e gehören hierher:
le b^fu befu beft gerinnen (dessen ^ übrigens = en sein kann),
le degu degu dSgt (lit. degiü dSgti) stechen.
tnSzu mezau mezti N mit Honig süssen.
406 August Leskien, L^^^
le nefu nefa tieft jucken.
slregu str^gli ansiecken.
Es bleibt also nur ß) die PrUsensform mit ja, die bei den
vocalisch auslautenden Wurzeln im Lettischen z. Th. die Nebenform
auf -na- hat (vgl. le ki-auju und kfaunu).
A. Consonantisch auslautende Wurzeln.
4. Vocal e\
hvHiu briziau hrezti kratzen. skredzu skredzau skresli kreisen,
degiü degiaü dSgti stechen. fliegen.
dräiiü dr^aü drSkli (Halme) skreczü skreczaü skrMi drehen.
streuen. le sledfu sledfu siegt stutzen (wenn
geziü geziaü geili grollen, impers. e nicht = en),
gSzia kratzt im Halse. le medfu snedfu snegt reichen.
grebiu grebiau grSbti greifen. le spefchu spedu speft drücken.
gr'Sziu grSziau grezti einschneiden. Ic spedfu spedfu spegt pfeifen,
le klefchu kledu kleft ausstreuen, speczü speczaü spMi schwärmen,
le kledfu kledfu klegl schreien. stepiü stepiaü st'epti recken,
le knefchu knefu knefl keimen. svedzü svedzaü sv'^sti schleudern.
kveczü kveczaü kvesti einladen. szepiu-s szepiaü-s szSpti-s Gesicht
le IMfu ledfu legt weigern. verziehen.
lepiü lepiaü lepti befehlen. szveczü szveczaü szvMi leuchten.
Irczu leczau lesti anrühren. tesiü tesiaü iesti strecken.
leziü l^ziaü lezti lecken. trSdzu trSdzau tr'estiDurchfall haben.
le medfu medfu megt drücken. treszkiu trSszkiau trtkszti spritzen.
p(S8ziu pSsziau pSszti schreiben. le Irepju trepu Irept beschmieren,
le r^ju rebu rebl verdriessen. le webjü-s webü-s webte-s Gesicht
rekiü rekiaü rlSkti schneiden. verziehen.
reczü reczaü rSsti rollen. le weschu-s wesu-s weste-s gedeihen.
sSkiu sekiau sl^ti langen. le weschu wem west einladen,
le schk'ebju schk'ibu sclik'ä)t schief vSziu {uz-si-) veziau vSzti vermögen.
neigen. zebiü zebiaü z'Sbti anzünden.
skSdzu skedzau skSsti scheiden. iedzu zedzau zSsti formen.
skiczü skeczaü skPMi ausbreiten. zvegiü zvegiaü zvSgti quieken.
2. Vocal ei.
le beidfu beidfu beigt endigen (lit. geidzü geidiaü geisti begehren.
baigiü baigti). greibiu greibiau greibti greifen.
445] Der Ablaut der Wurzelsuben im Litauischen. 407
keikiu keikiau keikti fluchen. skleidzü skleidiaü skleisti ausbreiten.
keiczü keiczaü keisti wechseln. skeiczü skeiczaü skeisti ändern.
kleipiü kleipiaü kleipti schief treten, smeigiü smeigiaü smeigti anstecken.
kreikiü kreikiaü kreikti (Stroh) le steidfu-s steidfu-s steigte-s eilen.
streuen. szleikiü szleikiaü szleikti wetzen.
kreipiü kreipiaü kreipti wenden. szveiczü szveiczaü szveisti putzen.
kreiszkiu kreiszkiau kreikszti durch- teikiü teikiaü teikti fUgen — le
wühlen. teizu teizu teikt sagen — Hl.
leidzu leidau Uhti lassen (le laift). teigiü teigiaü teigti erzählen.
peikiü peikiaü peikti tadeln. teisiü teisiaü teisti abmachen.
pleikiü pleikiaii pleikti Fische aus- veikiü veikiaü veikti machen.
nehmen u. s. w. veisiü veisiaü veisti fortpflanzen.
reiszkiu reiszkiau reikszii offenbaren, zeidzü zeidzaü zeisti verwunden.
B. Vocalisch auslautende Wurzel.
1. & durchgehend.
grejü grejaü griSti schmänden.
iSju l'Sjau Uli giessen.
skrejü skrejaü skrSli im Kreise bewegen, fliegen.
szlejü szlejaü szl'Sti anlehnen.
2. e [t] im Wechsel mit ei, ej, nur lettisch.
le deiju deiju det tanzen. le reiju reju r€t bellen, beissen.
le dfeijti dfeiju dfet hervorblühen, le skreiju skreju skret laufen,
hervorragen. le smeiju smeju smet lachen,
le kreiju kreju kr et schmänden. le sleiju sleju slet anlehnen,
le leiju leju let giessen.
Einige dieser Verba haben im Präsens die Nebenform mit Suffix.
na: krenu, skrenu^ slenu; dazu kommt senu seju set binden. — Im
Lettischen entspricht die Form sleiju sleju slet vollständig der von
kfauju kfäwu kraut {kräuju kröviau kräuti). Das Litauische hat die
entsprechende Bildung nur im Prät. ejaü (zu einü eiti).
B. Die Vocalstufen wechseln im Formensystem desselben Verbums.
Die Verhältnisse sind aus den Grammatiken bekannt, der Voll-
ständigkeit wegen mögen indess die Fälle auch hier aufgezählt
werden.
Abhandl. d. K. S. Geselldch. d. Wissensch. XXI. 2g
>
408 August Leskien,. [U6
4 . Die Reihe t, y, e u. s. w.
le ^edu §\du ^ift merken. werden (von den Zähnen) Bi I.
läiü likaü likti lassen. ^**'
^ , . , , . le redu ridu rist ordnen.
megu \min^u] mtga mtgt i - ^^ g^hketu schk'itu schk'ist noeinen.
schlafen. ., , , , w « u •
mega [sntnga) sntgo sntgh schneien.
le mefnu (kann indess = menf-4iu \q ^teg^ ^tigu stigt einsinken.
sein, vgl. lit. mfzü myzaü mpti) \q ^tregu strigu strigt einsinken.
mifu mift ]q fgku tiku tikt geschehen,
le mefu mifu (mefu) meft stumpf vejü vijaü v^i wickeln.
2. Die Reihe i, e u. s. w.
bredü bridaü bristi waten. le melfu milfu milft schwellen,
le dein {düstu) dilu dill sich ab- melzu miliau milzli melken.
schleifen. menü miniaü minti gedenken,
le demu [dimstu) dimu dimt dröhnen, le perdu pirdu pirft pedere.
dr^sü {dristü) drisaü dristi dreist perkü pirkcü pirkti kaufen.
werden. perszü pirszaü pirszti freien.
gemü gimiaü gimti (le auch dßm- renkü rinkaü rinkti sammeln.
stu) geboren werden. sergü sirgaü sirgli krank sein.
genü giniaü ginti austreiben (Vieh), slenkü slinkaü slinkti schleichen.
kemszü kimszaü kimszti stopfen. telpü lilpaü tilpti Raum haben.
kerpü kirpaü kirpti scheeren. trenkü trinkaü Irinkli (eig. abstossen)
kertü kirtaü kirsli hauen. waschen.
kremiü krimtaü krimsti nagen. velkü vilkaü vHkti ziehen.
lendü lindaü listi kriechen.
Vereinzelt steht mit abweichender Präsensbildung verdu viriaü
virti kochen, und mit anderer Ablautsform imü emiaü imti nehmen.
— Bekannt ist, dass die Verba unter 2. sämmtlich den Wurzelaus-
laut /, m, n oder r, /, m, n -{- Consonant haben, ausgenommen nur
bredü bristi^ wo r dem Vocal vorangeht. Femer ist zu bemerken,
dass bei 1. wie bei 2. nur die Prasensbildung auf -a- vorkommt
(abgesehen von dem zweifelhaften lettischen mefnu). — Der Reihe
u, u, au fehlt dieser Wechsel, das eigenthümliche pü'lu puliau pülti
ausgenommen.
Aus dem Bisherigen ergeben sich für die Vertheilung der Vocal-
stufen folgende allgemeine Sätze:
H7] Der Abladt der Wurzelsilben im Litauischen. 409
I. Die Stufen i (der e-Reihe), i (der ei-Reihe), u (der ew-Reihe)
sind gleich werthig ; die Bedeutung der Yerba mit diesen Stufen ist
in der grossen Mehrzahl die inchoative oder intransitiv-passive (gegen-
über entsprechenden durativen oder transitiv-activen Verben). Für
das Lettische hat dieses Verhältniss schon Bielenstein L 334 ff. richtig
erkannt. Länge und Kürze vertheilen sich wie folgt:
1) bei i (der c-Reihe) findet sich nur vereinzelt durchgehende
Lange: pljszlu plpzau plpzti^ der aber ein ebenso durchgehendes
e im transitiven ple'sziu ple'sziau pleszti gegenübersteht, so dass ge-
Wissermassen dieser Ablaut eine Reihe für sich bildet; dazu nur
noch tv^kstu tvyske'tu . Wechsel mit der Kürze findet vor momen-
tanem Consonanten oder Sibilanten statt in drykstü gegenüber driskaü
u. s. w. {grystü und ryzgü können Nasal enthalten), sonst ist die
Länge auf die litauische Präsensbildung der auf J, r auslautenden
Wurzeln beschränkt {byrü^ kylü).
2) u und ü, i und y vertheilen sich so, dass die Kürzen mit
der Präsensbildung durch Nasal, die Längen mit der durch -to- ver-
bunden sind, und die betreffende Quantität durchgeht [irunkü trukaü
Irükti — trükstu trükau trtikli; ninkü nikaü nikti — nykstü nykaü
njjkti). Wechsel zwischen den Quantitäten findet nur statt bei vo-
calisch auslautenden Wurzeln, indem das Präsens ü oder l gegen-
über dem Präteritum mit ü oder i hat, z. B. bliüvü bliüvaü, gyjü gijaü
(bei consonantisch auslautendem Suffix versteht sich im Litauischen
die Länge des Wurzelvocals vocalisch schliessender Wurzein von selbst).
II. Die Stufen e, ä', ei, au sind gleich werthig, die Bedeutung
der Verba mit diesen Stufen ist durchgängig die durative und tran-
sitiv-active ; die Präsensbildung geschieht in der grossen Mehrzahl
durch Suffix ja. Quantitätswechsel kann nur bei e stattfinden, und
nur in Nichtpräsensformen i erscheinen:
i) bei Wurzelauslaut r, /, w hat das Präteritum allein e {beriü
be'riau berli),
2) bei andern Consonanten im Wurzelauslaut mit r oder / vor
dem e das Präteritum und die Infinitivformen {lekiü lekiaü lekli).
III. Die Verba mit nicht bestimmt inchoativ u. s. w. fixirter
Bedeutung bei Tiefstufe i (zu e), i, u haben als Präsenssuffix ent-
weder a [o-e) oder ja {jo-je) ; die Quantitäten vertheilen sich
folgendermassen :
28*
410 AuGC8T Leskieh, [148
1) beim i (der ^-Reihe) ist der Vocal des Präsens stets kurz
mit einer Ausnahme: tyriü {t^j/riau lirti); wenn die Wurzel auf r, /, n
auslautet, hat das Präteritum Dehnung: minü m^niau minti; giriü
gpiau girli; skiliü sk^liau skilti,
2) beim u haben, wenn die Wurzel auf momentanen Consonanten
oder Sibilanten auslautet, die Präsentia auf a die Kürze: brukü, die
auf ja die Länge: grüdzu^ die Yocale verbleiben in ihrer Quantität
dann im übrigen Formensystem des Yerbums (brukaü brükü — grüdzau
grusti). Vocalwechsel findet statt bei Wurzelauslaut r, /, m, indem
das Präteritum die Länge erhält: duriü düriau dürti. Bei vocalisch
auslautender W. hat das Präs. ü gegenüber dem präteritalen ü (nur
siüvü siüvaü siüti).
3) bei i (der et-Reihe) scheinen nach den wenig zahlreichen
Beispielen zu schliessen die Verhältnisse ebenso wie bei u zu sein,
daher kiszü kiszaü kiszti^ aber strypiü slrypiaü strypli, und ryjü
rijaü rpi.
Anhang.
Die Stufen a 6 o (der e-Beihe) und ai im primären Terbum.
\. Vocal a.
Es lassen sich nur sehr wenige Beispiele anfuhren, deren Zu-
gehörigkeit zu dieser Reihe überdies z. Th. zweifelhaft ist und von
denen einige als denominativ angesehen werden können,
le aif-karu käru kart antasten (zweifelhaft, ob hergehörig),
le karstu karsu karst erhitzt werden.
maliü maliaü tnälti mahlen.
pampsiü pampaü pämpii aufdinsen (le pampig pempt^ pumpt, vgl.
lit. pümpuras Knospe u. a.).
parpiü parpiaü pärpti knarren, quarren ; parpstü parpaü pärpU (und
pürpti) sich aufblähen.
plantü plataü pläsli breit werden (zweifelh., ob zu dieser Reihe,
und wohl sicher denom. von plaiüs).
prantü praiaü präsii gewohnt werden (su- verstehen); zweifelh.,
ob hierher gehörig.
skärü skaraü skärti zerlumpt werden (gebräuchlich nur nu-8kar§s
zerlumpt; das Wort ist wohl sicher denom. von skarä Lumpen).
449] Der Ablaut der Würzelsilben im Litauischen. iH
le skrabt prät. skrabu (präs. skrabu^ skrabstuf) schaben.
smagiü smogiaü smögti schleudern.
tarpslü tarpaü tärpti gedeihen (denom.?).
tärszku tarszkiaü tärkszü klappern.
szwarksxczü szwarkszczaü szwärkszti quieken.
Die onomatop. Worte wie pärpti, szwärkszti kommen dabei kaum
in Betracht.
2. Vocal ^.
grebiu gre'biau gre'bti raffen, harken.
klesziü kUsziaü kle'szü fegen (Getreide).
knebiü knebiaü knebti leise kneifen (e?).
le kwepstu kwepu kwSpt qualmen (lit. kvepiü kvepiau kvepti neben
Präs. kvepiü duften).
plesziu plesziau pleszti zerreissen.
rikiü rekiaü re'kti schreien,
le sprägstu sprägu sprBgt platzen (neben sprägt).
stebiü-s stebiavhs ste'bti-s sich stemmen.
szldkiu szlekiau szlekti spritzen trans. N.
vepiu-s vepiaü'S ve'pü-s den Mund verziehen.
zlebiü zlebiaü zle'bti schwach sehen.
3. Vocal ö (ä).
le gräbju gräbu gräbt greifen (lit. gröbti).
le knäbju knäbu knäbt picken, zupfen.
skobiu skobiau skobti abpflücken.
sprögstu sprögau sprögti prasseln, spriessen.
tvoskü tvoskiaü tvöksti viel schwatzen.
4. Vocal Ol.
Diese Stufe ist in den Fällen, wo sich ein Ablaut constatiren
lässt, nur ganz vereinzelt vertreten:
baigiü baigiaü baigti (le bdgt) endigen.
klaipiu [isz-) »verschränken« ist, wenn nicht ein Denominativ, wohl
nur andre Schreibung für kleipiü.
le laifchu laidu laift lassen (gegenüber lit. leisti)»
sklaidzu sklaisti N {uz~) riegeln, die Schreibung mit ai ist ohne
Gewähr, vielleicht das Wort denominativ.
412 August Leskien, [450
Die anderen noch vorhandenen sind die oben S. 292 aufgezählten
Beispiele, bei denen kein Ablaut vorliegt.
II. Yerbalstämme auf e mit primärer Präsensbildung
auf a oder % (ja).
Es dürfte hier unmöglich sein, die primären Verba von den
denominativen mit Sicherheit oder auch nur mit annähernder Ge-
nauigkeit zu scheiden, namentlich so lange eine plausible Erklärung
der Präsensstämme auf i fehlt {m^li-me); trnßiu mylilti kann primär
sein, aber auch ein Denominativum zu mylüs, smtrdzu smirdeti ist
wahrscheinlich primäre Bildung, kann aber auch von einem Nominal-
stamm smirda- herkommen, pav^dzu pavyde'ti beneiden von pav^das
Neid u. s. w. Ausserdem sind sie nicht scharf trennbar von den
abgeleiteten Verbalstämmen, deren e durch sämmtliche Formen bleibt,
weil die eine Classe zuweilen in die andere übergreift. Der Werth
der folgenden Aufzählung ist daher gering. Am sichersten wird
man diejenigen als primär ansehen können, die Präsens auf -a-
haben und dem Inchoativum gegenüber die ausgeprägte Bedeutung
des intransitiven Durativums besitzen, »in dem und dem Zustande
befindlich« bedeuten. Die ursprüngliche Regel scheint hier die Tief-
stufe zu sein, vgl.
szvitü szviteti hell sein {szvintü szvisti hell werden).
Einigermassen deutlich tritt dies Yerhältniss indess nur hervor
bei der i- und w-Reihe, bei der e-Reihe erscheint es ganz verwischt.
— Es dürften folgende Verba hierher zu rechnen sein.
A. Wurzelvocal /, y (der Reihe i a u. $. w.).
i. Präsens auf a.
dyru dyreti gaffen. svidü svideti glänzen,
le gribu gribet wollen. szvitü szvite'ti hell sein,
le ktuitu kwitit flimmern. triszku triszketi {yf N) spritzen
lytü {lyczü) lyle'ii anrühren. (Irans, oder intr. ?).
le nidu nldet hassen. visgü visgeti schlottern,
le ritu ritöt rollen intr. le wifu wifet flimmern,
le slidu slidät und slldti slldH zibü zibe'ti schimmern,
gleiten. zi^du {zijdzu) zydeti blühen.
154] Der Ablaut der Wcrzelsuben im Litauischen. i13
Ganz vereinzelt ist diese Bildung bei der Stufe €:
le nef neßt jucken, lit. fiSU nezeti.
ritu reteti intr. rollen,
le scWedu schkedU in'Theile zergehen,
le fedu ififchu) fedet blühen.
2. Präsens auf i {ja).
lydzü lyde'ti Geleit geben, geleiten trans.
lyczü {lytü) lyteti anrühren.
m^liu myle'ti lieben (vielleicht denominativ) .
tikiü tiketi vertrauen auf, glauben an.
v^dzu {pa-) vyde'ti beneiden (vielleicht denominativ).
ijdiu {i^du) zyde'ti blühen.
Mit e oder ei: vesziü veszeii zu Gast sein (wohl sicher deno-
minativ, vgl. v'esz-kelis) ; reikia reike'ti nöthig sein ; seikiü seiketi messen
(mit einem Hohlmasse); veizdzu veizdeti sehen.
B. Wurzelvocal u, ü.
1. Präsens auf a.
bruzgü bruzgeti rascheln (ü?). le küpu küpH rauchen.
bundü hude'ti wachen (Präsens nach kiiszü kmze'li sich regen.
der Inchoativbildung). kutu kuteti sich zerfasern N.
le dum dusel ruhen (eig. keuchen), puszkü pwzkeü knallen.
düzgu düzge'ti dröhnen {^t). le putu puUt stäuben, stühmen
le glünu glünel lauern. (Schnee).
gruzdü gruzde'ti schwelen. rudü rudeti rosten.
judü judeii sich regen. trupü Irupeii bröckeln.
krutü krute'ti sich regen.
2. Präsens auf i {ja).
le duzu duzH brausen. nüriü nüreli glupen.
dtmü duse'ti hüsteln. pliuszkiü pliuszkd'ii plappern.
düsiü düsSti keuchen (vielleicht de- riip' rüpi'ti Sorge machen, impers.
nom., vgl. z. B. äl-düsis Seufzer). man r. mir liegt am Herzen.
guliü guU'li liegen. rusziu ruszeti geschäftig sein.
kruniü kruni'ti hüsteln. ruzgiu rüzge'ti murren.
kuviu-s kuveti-8 Sz sich schämen, le südfu südßl klagen.
liüdiü liüdd'ü traurig sein. tupiü tupe'ti hocken.
lukiu lüke'ti harren.
414
August Leskien,
[452
Auch hier ist die Zahl der Bildungen mit au gering: le glatulu
glaudät streicheln (iterativ?) ; le schk'audu [schk'aufchu) schk'audM
niesen; czäudiu czäudeii niesen; päuszkiu päuszketi knallen; tämzkiu
tauszketi anklopfen; skaüst skaude'ti weh thun; sraviü sravi'ti sickern;
aviü aveti Schuhe anhaben; die beiden letzten Bildungen müssen als
Denominative gelten (vgl. sravä)^ wären die Verba primäre, so wür-
den sie ^srauju^ ^auju lauten.
C. Wurzelvoca! i, e.
Hier lässt sich eine Regel nicht constatiren; i erscheint zwar,
wie sonst, mit wenigen Ausnahmen nur in der Begleitung von r, /,
m, n, allein ebenso in derselben Verbindung auch e; es mögen daher
im folgenden die betreflfenden Verba einfach aufgezählt werden.
4. Präsens auf a.
a. Vocal i.
bildu bildeti poltern.
brizgü brizgeti ausfasern intr.
kibü kibeti zappeln.
klibü klibeti wacklig sein.
kibzdü kibideti wimmeln.
kribzdü kribzdeti wimmeln.
lindu (lindzu) lindeti kriechen.
mirgu mirgeti flimmern.
le pilu pikt triefen,
le ritu ritet dünn werden.
spingu spingeti glänzen.
sznibzdü sznibzdeii zischeln.
irinkü {trinkiü) trinketi dröhnen.
triszu triszeli zittern.
iviska tvisketi stark blitzen.
zvilgu zvilgeti glänzen.
b. Vocal e.
beldu beldeti klopfen.
bezdü bezdeti pedere.
brezgü brezgeli stammeln.
brezü breze'ti rasseln.
czerszkü czerszketi klirren.
drebü drebeti zittern.
gebu gebeli pflegen.
gedü gedeti Leid tragen.
gelbu gelbeti helfen.
kein keteti beabsichtigen.
klebü klebe ti wackeln.
krebzdü krebzdeli rascheln.
kreiü krete'ti wackeln.
merszu merszeti ausser Acht lassen.
peldu peldeti sparen, schonen,
le peldu peldu schwimmen.
penü peneti nähren.
perszt perszeti schmerzen.
plezdü plezdeüi flattern.
pleszka pleszke'ti prasseln.
selü sele'ti schleichen.
skeldu skeldeti sich spalten.
skendu skendeti im Ertrinken sein.
skrebü skrebeti rascheln.
153] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 415
stenü steneti stöhnen. treszkü treszke'ti knistern.
sznekü szneketi Teden, vebzdü vebzdeti wimmeln.
tekü teke'ti laufen. veldu {pa-) veldeti ererben.
teszkü teszketi tropfen. zembu zembeti keimen.
trendu [trendzu] trende'ti von Motten
zerfressen werden.
2. Präsens auf i (ja),
a. Vocal i.
girdzü girdeti hören. fyKw /t//e'fi schweigen (wohl denom.,
girgzdzu girgideti knarren. vgl. tylä das Schweigen).
iUiu-8 ilseti-s ruhen. tingiu tingeti faul sein (vgl. tingus
linkiü linke'ti geneigt sein; sich ein faul).
wenig neigen. trinkiü {trinkü) trinke' U dröhnen, le
miniü {menü) mine'ti gedenken. trtzu trlzet zittern.
smirdzu smirde'ii stinken. vilkiü vilketi bekleidet sein mit.
spindzu spindeti glänzen. virpiu virpe'ti zittern.
b. Vocal e.
deriü dereti dingen. regiü regeti schauen.
geniü geneti ästein. rembiu rembeii träge sein.
kenczü kente'ti leiden. sergiu sergeti hüten.
keriü kereti verzaubern. skeliü skeleti schuldig sein.
»
kvepiü kvepeti duften. skerdzu skerdeti Risse bekommen.
mördzu merdeti im Sterben liegen, le slepju slepei verbergen (iter.?).
nersziu nerszeti laichen. slebiu-s siebe ti-s staunen.
peliü peleti schimmeln. tesiü [at-) teseti ausrichten, aus-
pendzu {pendeju) pendeti trocken führen.
faulen. trendzu {trendu) trendeti von Motten
periü pere'ti brüten. zerfressen werden.
D. Wurzelvocal a (der ^-Reihe).
kabü kabeti hangen. skämbu skämbeti klingen.
klabü klabe'ti klappern (neben klebü le skanu skanBt klingen.
klebe ii und klibü klibe'ti). skrabe'ti rascheln (gewöhnl. skrebü
knabü knabe'li N schälen (zupfen). skrebe'ti).
skabü skabe'ti ästein. spragü sprageti prasseln.
416 Aggcst Lbskien, [134
szlakü szlaketi tröpfeln. traszkü iraszke'U prasseln (neben
H7/nabidü sznabideü rascheln (neben treszkü ireszke'ti) .
sznibidü sznibidelt) . tvaskü tvasketi blitzen (neben ivisku
larszkiü tarszkeli klappern. tviskettj.
2. Die Eeihen IV nnd V.
Bei den wenigen Beispielen der Reihe IV lässt sich ein be-
stimmtes Yerhültniss der Yocalstufen in der Bildung primärer Verba
nicht erkennen. Die vorkommenden Fälle s. o. S. 37U.
Bei der Reihe V ist die Zahl der Beispiele, die überhaupt Ab-
laut zeigen, ebenfalls gering, indess kann man einige Male beobachten,
dass die Stufe a Inchoativ- und Intransitivbildungen, die Stufe o
transitiv-activen Verben zukommt, vgl.
hroHzkü hraszketi — hroszkiü broszkiaü brökszli (wenn die Zusam-
menstellung richtig ist)
und vgl. die transitive Bedeutung von bloszkiü blökszti bei Seite
schleudern, skopiü skopli aushöhlen, al-si-költi sich anlehnen. Zu
einem bestimmten festen Resultat reichen indess die vorhandenen
Fälle nicht aus.
Als Anhang mag hier der Wechsel von ä und a oder von a
und ö [a) innerhalb des Formensystems desselben Verbums folgen.
A. Präsens ä, sonst a.
Es kommen nur Beispiele vor, die sonst keinen Ablaut zeigen;
die Bedeutung ist die inchoative.
balü balaü bälli weiss werden.
szälü szalaü szalii kalt werden.
8älü salaü sälti süss werden.
Diese Bildung läuft also parallel der von byrü biraü birli und fehlt
wie diese dem Lettischen in dem einzigen entsprechenden Beispiel:
salstu salu sali (= szälti).
B. Präteritum o (ä), sonst a.
Wurzelauslaut r, /. Nur Verba ohne sonstigen, wenigstens
sichern Ablaut.
kariü köriau kärti hängen,
le aif-kaHi käru karl antasten.
455] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 417
le bafu bäru hart schelten — lit. barü {bariü) bariaü bärti.
\e pt. prät. nü-bälis erbleicht.
Dies entspricht dem Vorgänge in beriü beriau, duriü düriau u. s. w.
C. Präsens a, Nichtpräsensformen o (ä).
Auslaut stummer Consonant.
smagiü smogiaü smögti schleudern (Ablaut in smengü).
vagiü vogiaü vögli stehlen.
Es entspricht drebiü drebiaü dreblij püczü püczaü pmii u. s. w.
n. In der Nominalbildung.
Die folgende Darstellung berücksichtigt nur diejenigen Bildungen,
bei denen sich überhaupt eine festere Regel oder eine Neigung zu
bestimmten Yocalstufen erkennen lässt, die also für den Stand des
Litauischen charakteristisch sind ; es werden daher nicht alle primären
Nomina, die in der alphabetischen Aufzählung vorkommen, hier an-
geführt. Ferner kommen hier nur solche Worte in Betracht, deren
Wurzel überhaupt einen Ablaut zeigt, so dass die unten folgende
Aufzahlung nicht als ein vollständiges Yerzeichniss der Bildungen
mit dem betreffenden Suffix angesehen werden darf, ebensowenig
als ein vollständiges Yerzeichniss der im Litauischen vorhandenen
stammbildenden Suffixe. Die Anordnung ist nach den stammbilden-
den Suffixen gemacht, innerhalb des einzelnen Suffixes nach den
Yocalstufen, doch sind die Bildungen auf -a- ans Ende geschoben.
-i-. Die wenig zahlreichen Beispiele zeigen, dass das Suffix
sich wesentlich mit der tiefsten Yocalstufe verbindet: i. pre-tikis
Zufall. — U. U. plüdis Schwimmholz am Netze; pliüszis Schilfgras
(neben pliusze); rüdis Rost; iuvis Fisch. — %• (der e-R.)- grindis
Dielenbrett; ätilsis Ruhe; kritis Fall; zindi« Nahrung der Mutterbrust.
— Als Abweichungen von dieser Regel weiss ich mit Sicherheit
nur zu nennen sq-taris Eintracht; trandis (neben trandü) Holzwurm.
Das aus M bei N angeführte grandis f. ist möglicherweise m., da M
keine Genusbezeichnung dazusetzt und das dabeistehende Deminutiv
grandele nicht nothwendig ein femininales grandis beweist. — Noch
418 AcGDST Leskieic, [456
anders geartet sind die ebenfalls vereinzelten: geris bei KLD fem.
Trank; melys pl. blaue Farbe.
i- Suffixe. Nur zum Theil sind durchgehende gleichartige
Erscheinungen zu erkennen. Mit beüebigen Yocalstufen kann das
-//a- (-/j^ä), welcher nomina agentis bildet, verbunden sein: kvesl^s
Einlader (Hochzeitsbitter); dfjglp Stachel; grezle Schnarrwachtel;
bublp und baublp Rohrdrommel (eig. »Brüller«) ; kraukl^s Krähe
(Krächzer) ; szaulifs Schütz; saubl^s Herumtreiber; pirszlys Freiwerber;
mirklys Blinzler; kamszlp Vielfrass (Stopfer, wohl an das iter. kam-
szpi angelehnt) ; vedhjs Freier u. s. w. Das -Ija- setzt ein ein-
facheres Aor- voraus, das gelegentlich noch vorkommt, vgl. le kraukls
Rabe. Die Yielgestaltigkeit der Wurzelsilbe hängt damit zusammen,
dass das SufBx zur Zeit seiner lebendigeren Anwendung allgemeines
Suffix für nomina actorum geworden war und daher nicht an eine
bestimmte Vocalstufe gebunden blieb. Es hätte hier unerwähnt
bleiben können, ich wollte aber bei der Gelegenheit hervorheben,
dass dies Suffix dasselbe ist wie das slav. -h des prädicativen Part,
prät. act., das ursprünglich ein Substantiv war {dah jesmh bedeutete:
dator sum). Heute lebendig ist zur Bildung von nom. ag. (meist
mit deteriorirendem Sinn) -elis {ne-tikelis u. dgl.), das einfach die
Vocalstufe des zu Grunde liegenden Verbums theilt. Von den übrigen
^Suffixen zeigen mehrere einigermassen regelmassig die gleiche
Vocalstufe.
a) -ii/o-, -ulja- bevorzugt die tiefste Stufe: i. dtjgulp Stich;
le fibulis Ohnmacht; mittdp durchwintertes Thier; le nikulis krank-
licher Mensch; ryszulys Bündel; spituhjs Stern auf der Stirn von
Thieren; skriduW Gerbeisen; skritulp Scheibe; pavidulis Ebenbild. —
tl0 dzugülis Spassmacher, dtmdys Engbrüstigkeit; gniuzulas Faustvoll;
kukul^s Kloss; le küsuls Sprudel; rudulis armer Schelm; le rupuk
grobes Holzstück; sprüdulas Knebel. — i. (der e-R.) grizidas Reit-
bahn, gr{zule Deichsel; le kritul'i Lagerholz; nü-mirulis Epilepsie;
smirdulis Gestank; spindul^s Strahl; le splgulis Johanniswürmchen;
le sprigulis Dreschflegel; le ttpula- in ttpulains trübe (vgl. tipuMt) ;
le wirulis Sprudelstelle; virpuhjs Zittern, le wirpuls Wirbelwind; zin-
dulp Säugling. — Abweichungen davon sind seltener: geidul^s
Lüsternheit ; le ^eibulis Ohnmacht (neben ^ibulis) ; skaidülios (Fasern)
ist wohl als denom. anzusehen (vgl. le skaida Span); — czaudulp
457] Der Ablaut deb Wurzelsilben im Litauischen. 419
Niesen; graudulis Donner; skauduhjs Geschwür; maudul^s Schlummer;
le slaukulu Wischtuch ; — le bambuls (neben bambals) Käfer ; grqzulas
und grpiule Deichsel. In Bildungen von Wurzeln mit momentanen
Consonanten oder Sibilanten im Auslaut, wie le deguls brennender
Schwamm, vgl. nur-de'gulis, nt^-ei^^ti/j^« Feuerbrand; le kretulis eine Ari
Sieb ; slebule* Radnabe darf das e als die Tiefstufe angesehen werden.
b) 'ola-. Mit ziemlicher Regelmassigkeit treten hier die höheren
Yocalstufen ein: e^ Btj €i%. seikulas BedUrfniss; strSgalas Köder; pa^
szveitalai Putz; trSdalas dünnes Excrement; veikalas Geschäft; drai-
kalas gestreute Halme; maiszalas Gemengsei; snaigalä Schneeflocke
(wohl Denominativ) ; aptaisalas Umhang. Mit i nur pa-vidalas Er-
scheinung, Gestalt und etwa myialai {mizalai) Harn. — dU. äugalius
Wachsthum; rävalas Gäten; le schnaukalas f. pl. Nasenschleim;
wozu noch mit ov angereiht werden mag jövalas Traber. Mit U
nur apsukalas Thurangel. — CS. le bambals Käfer; brändalas Kern;
dängalas Decke ; läsalas Vogelfrass ; sargala- in 8argalinga$ kränklich ;
skämbalas Schelle; le spugalas Glanz; svämbalas Senkblei; tätszkalas
Klapper ; üz-valkalas Ueberzug. Daneben mit € ! bezdalas ; uir-dengalas
Decke; lesalas Vogelfrass — wobei es nahe liegt, an spätere An-
lehnung an die Yerba dengti^ lesti zu denken — ; atmetalas Abwurf,
Auswurf; t;erpa/af Gespinnst; mit 6.* be'ralas umgeworfeltes Getreide ;
^eVa/a« Getränk; kvepalai wohlriechende Dinge; venialai {und vemalai)
Gespeie; endlich mit i: bimbalas {mAbimbilas) Rosskäfer; le kritals
Lagerholz, kritaPa dss. und umgestürzter Baum; le pimpalä penis,
vgl. pimpalaim knotig ; smilkalas Weihrauch ; smirdälius Stänker, von
einem smirdala-; viralas Gericht (gekochtes); le fidals Muttermilch.
Wl-Suffixe. — a) -mew- (nom. -mw und die abgeleiteten Formen
auf -mene u. ä.); die c-Stufe ist hier die Regel: ei, eimena^ eimenas
Bach; reikmene' BedUrfniss; skedmenys und skemenys (Scheidungen)
Scher-, Webergänge ; le skremem runde Scheibe. — CIM* aügmu
Jahreswuchs; raumu Muskelfleisch. Abweichend piütnü Ernte; put-
menos Geschwulst. — €• gelmenis stechende Kälte; lenkmene Gelenk;
melmti Nierenstein ; meimenys pl. Scheergarn ; szermem Leichenmahl ;
teszmu Euter; zelmü Schössling. Die einzige Abweichung ist smilk-
menai Räucherwerk.
b) -ma-s^ -sma-s', -ma^ -sma, -me, -sme. — et^ €• eisme Gang,
Steig; gesme, le dfesma Lied, Gesang; le kreims Sahne, lit. greimas
420 August Leskien, [458
schleimiger Niederschlag; le skr&nes Abgänge; atszleimas Vorhof;
le teiksma Erzählung; le weikme Gedeihen. Ganz vereinzelt ist di.
bäime Furcht; le gaisma Licht; ai-sdaimas bei Sz {at-sdeimas) . —
dU. hausme Strafe ; dramme' Zucht, le dramma Drohung ; diaügsmas
Freude; grausmas Donner; grausme Warnung; le jamma Gerücht;
kaiiksmas Geheul ; le kfaume Menge ; plaüksmas Floss ; plaüsmas Floss ;
skaüsmas Schmerz ; le straume Strom ; szaüksmas Geschrei. Hier
sind die Fälle mit l^-Stufe etwas zahlreicher: brükszmis Strich; le
dusmas f. pl. Zorn; le dufma Verwirrung; le ktüms und kl'üma
Hinderniss; le püsma, püstne^ püsmis Athemzug; trükszmas Zug; üz--
üksmis^ uir-üksme geschützter Ort. — In der e-Reihe ist mit diesen
Suffixformen bald e, bald a der Wurzel verbunden, sehr selten i.
€• sudertnd Vertrag; geltne Tiefe; glemes {gle'mes) zäher Schleim;
gestne' GUmmfeuer, le dfesma {dßsma) kühler Morgenhauch; re'k^mas
Geschrei; sekme Fabel {sekmis f. dss.) ; le swelme Dampf; tekme
Quelle; le twersme^ twersmas pl. Rückhalt; versme Strudel; verksmas^
verksme Weinen. — Ct. garsmas Ruf; länksmas Biegung; tarmä^ tarme
Rede; träkszmas Krachen; tränksmas Lärm; välksmas Zug; värsmas
Gewende; vazmä Fuhre. — i. kilme Abkunft; le ^cAfc'iriwö Gedeihen ;
svilmis brenzlicher Geruch.
^«Suffixe. Nur einige der mannigfachen Formen dieser Classe
lassen feste Verhältnisse erkennen. Die wenigen als solche deutlich
erkennbaren alten Participia prät. pass. auf -na- haben die Tiefstufe,
z. B. kilnas erhaben; le mlkns weich; lipnüs (Vertretung von Hipnas)
klebrig; liüdnas traurig; wohin wohl auch Bildungen w\e skutna^ ab-
geschabte Stelle, zu rechnen sind. — Die alten Verbalnomina auf
-sni" f. haben die Tiefstufe: brüksznis (auch m. bmiksznis) Strich;
lupnis und lupsznis abgeschälte Rinde (eig. Schälung); pumis zu-
sammengewehter Schneehaufen; iingsnis Schritt; dazu stimmt auch
degsnis Brandstelle. Die Worte dieser Art sind (wie die Feminina
auf -ti") öfter in die Flexion der masculinen ja-Stämme übergegangen
vgl- d^gnis Stich; gribsznis Griff; mirkmis Blick. — Sonst lässt sich
ein festes Verhältniss mit einiger Sicherheit nur constatiren bei
dem primären Hna-, -inja-^ das mit wenigen Ausnahmen von
der Tiefstufe begleitet ist: i, izines Schlauben; miszims Mischling;
ritinis Rolle; slidinas übervoll; skridin^s Scheibe; stipinas^ stipinf^s
Speiche; stripinis Sprosse, Knittel; szmizinijs Geschmeiss; le fibins
459] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 421
Blitz. Abweichend grezin^s Schnitt. — U. kmvinas blutig (denom. ?) ;
küpinas gehäuft; lupinai, lupinos Schalen; le pludiM pl. Schwimm-
hölzer am Netze; subin^' podex; sakinis Kreisel; trupinp Brocken. —
i (der 6-Reihe). dilbinas Gluper; ^tmine Geschlecht; kilpinis, kilpini
Armbrust; lingine'U Schaukel; miliwjs Stock der Handmühle; milzinas
Riese; le stibini Stutzhölzer des Schlittens; tirpinis geschmolzen; le
m/ztTi^c/^ Brummkreisel ; zin^me Schritt. Dazu stimmt tekinas laufend;
mezgin^s Strickzeug. Abweichungen sind selten: renlinp Brunnen-
einfassung ; skendiw^s Ertrinkender ; grandinis Schabwerkzeug ; päszinas
Splitter (eingerissener); valin^s Tuchrand.
9-Suffixe. Bei -sa-s, -sa scheint die höchste Stufe die ursprüng-
liche Regel zu bilden, soweit eine solche aus der geringen Zahl der
Beispiele entnommen werden darf: (lim baisä Schrecken; gaisas
Lichtschein; szvaisä Glanz (doch szvesä Licht). — ClU» le gausa
Genügen; raupsai Aussatz|; abweichend le rüsa Rost. — €1* gärsas
Schall; närsas Zorn; smärsas schlechtes Fett; tamsä Finsterniss.
f-Suffixe. Unter diesen zeigt ein constantes Yerhdltniss zum
Wurzel vocal :
a) -fo-, daneben -«te-, -tja-, -stja-^ meistens masculin. Die Be-
deutung ist vorwiegend die eines nomen instrumenti; die Yocalstufe
at, au^ a. (li. baigsztis Fliegenwedel; daiktas Stelle, Ding; graib--
sztas Kescher; graisztas Säge; graiszlos Einfassung des Eimerbodens;
kaiszlis Riegel; le klaists Herumtreiber (vgl. Adjectiva in vereinzelter
Bildung dieser Art: skaistas hell, klar); maisztas, maiszta Aufruhr;
laiptas Gerüst, Steg; le maihts, maikste {mig') lange Stange; maistas
Nahrung; raiste Kreis; raisztas^ raisztis Kopf binde; saitas Strick, le
satte Band; smaigstis, smaigste Stange; szlaüas, szlaitis Abhang;
ap'Szvaista Reinheit. Daneben findet sich seltener die Stufe € bei
Worten gleicher oder ähnlicher Bedeutung: le digsts Keim; leptas
Steg; mSlas Pfahl; le meli Tausch; le nests Krätze; p^sta, le pests
Stampfe; sStas Sieb; svSstas Butter. Ganz vereinzelt i {t)^ le wlsts
Bündel. — O/U. le braukls Streich Werkzeug ; pri-si-glatiste Zufluchts-
ort; gniauite' Faust; le krauta Ufer; pr. liausta- BetrUbniss; le
e-maukti Zaum; le e-^mauti Zaum; rank^mausle Armbinde; le plaukts
Sims u. s. w.; platssias Floss; plaülis Schnupfen; le slaukts Art Ge-
schirr; spraustis Sperruthe des Webers; le sprauste Gestell für den
Pergel; srautas^ le slrauts Strom (Regenbach); zlaüktai Traber. Ab-
422 August Leskien, [^60
weichuDgen davon sind kaum vorbanden, allenfalls kann man dahin
rechnen: küpstas Erdhöcker; le rusta^ rusle braune Farbe; le sruste
abgeschabte Stelle; srutä Jauche; zluktas Buckwäsche; die letzten
beiden haben die Form alter Participia prät. pass. — Cl. hängtos
;wnw Ungewitter, bängtas ungestüm; bränkszias Bruch (im Felde);
brastä Furt; ddngtis Deckel, uz-dangte Decke; därktas Scheusal; a^
dvaslis (auch f.) Athem; gamta Natur; grqztas Bohrer; kämsztis Stöpsel;
kärsztis Hitze (indess wohl denom. von karsztas heiss); nur-Uastai,
nuklaslos Abfegsei; krapsztas Kratzhamen; äl-kvampte Seitenlehre; lakiä
Huhnerstange, laksztä dass.; läksztas Blatt; länktis Haspel, länkslas
dass.; le lusts Versteck, IqMä Brutnest; magstas Art Stricknadel;
ndrszlas^ le narsts und narsta Laichzeit; ndrsztas Zorn; nartas Ecke;
nasztä Last; näszczei Achseljoch; päntis Fessel; rämiis und rämstis
Stütze; rqstas Ende eines Baumstammes; sägtis [sagtis t^ le sagis und
sagtet.) Schnalle; sämtis Schöpflöffel; le ^arfo Scheiterhaufen; sklqstis
Riegel; smälktis und smälkstis Dunst; smälktas dichte Stelle im Walde;
slaptä^ slapte Heimlichkeit (slapczas heimlich) ; smärstas^ smarste Ge-
stank; spqstai Falle; spärtas Band; sprqstas Buckel, le sprusta Klemme;
le Stuarts^ swarie Hebebaum, lit. swärtis Brunnenschwengel; le Irüis
Wetzstein (= "^tran-ta-s) ] tvärtas Verschlag; le walksts Fischzug; le
walsts Gebiet; värpstis dünne Stange, var pste' WeWe, Spindel; värstas
Gewende; vartai Thor; vaztä Fuhre. Ganz selten sind gleichartige
Worte mit andern Vocalstufen : kersztas Zorn ; miltai Mehl (altes Par-
ticip?); tiltas Brücke (altes Particip?); le dfimta Geburt; gr\stas N
Diele (Particip?); le ligsle Schwungstange.
b) -<i-. Die Bildungen auf das alte femininale -<i- lassen sich
im Litauischen nicht genau mehr von den masculinen auf -tis und
den femininen auf -te sondern, da sie in deren Flexion übergehen,
indess lässt sich die alte Regel, nach welcher die Tiefstufe die Be-
gleiterin des Suffixes ist, deutlich wahrnehmen: t. knjtis f. und m.
Kescher; szlitis (daneben szliie) Garbenhocke; vijtis Gerte; dahin ur-
sprünglich auch su-tikte Zusammentreffen. Abweichend ist pri^is
Vorstadt. > — tl, le jütis pl. Gelenk u. s. w. ; kliütis (und kliüle) Hin-
derniss; pra-pultis Verderben; piütis (und piüte) Schnitt; rüksztis
Säure; sprüsiis Gedränge; lükestis Harren, rüpestis Sorge sind wohl
als Denominative zu nehmen. Abweichend kliautis (und kliaute) Hin-
derniss; zlaüktys pl. Traber (vgl. zlaüktai dss.). Hierher zu rechnen
1^4] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 423
sind auch gniüite Faustvoll; pakrüle Uferrand, le krüle HUmpel;
plütis m. offene Stelle im Eise; zlugtis das Waschen. — * (der
e-Reihe). gimtis Geschlecht; ap-giniis Verlheidigung; girtis Gelage
sur-griztis Rückkehr; kütis Geschlecht; kimsztis Stöpsel (eig. Stopfung)
at-minüs Gedenken; mintis Ringkampf; mirtis Tod; pirtis Badstube
skiklis Klauenspalle ; skiltis Scheibe; smillis Sand; at-spiriis Stutze
sviftis Brunnenschwengel; pa-zintis Kunde; viltis Hoffnung. Dazu
stimmt fignär-degtis^ ugna-degstis brennende Kälte. Bildungen wie ri-
mastis werden als denominativ anzusehen sein. Eine Anzahl Bil-
dungen, die nur mit -te überliefert sind, gehört ursprünglich sicher
hierher: prabingti Uebermass; griite Büschel; rinkte Sammlung;
pa-tepte Schmutzfleck; ebenso vir^i^ m. Strudel. Ganz selten ist
die abstufe: at-dvastis (auch m.) Athem; sagtis Schnalle (auch m.);
paslapiis Geheimniss; nü^tartis Tadel; ap-wärtis, apwärte Strick; mqstis
Erwägung ist vielleicht secundäre Bildung.
"lirm Für dies Suffix lassen sich im Litauischen keine regel-
mässigen Yocalstufen mehr feststellen, erstlich, weil die Adjectiva
auf urspr. -a- mit denen auf -tf- beständig durcheinanderlaufen, so
dass man im einzelnen Falle des Ursprünglichen nicht sicher ist,
zweitens, weil es eine grosse Zahl denominativer Adjectiva auf -w-
giebt, die doch wieder von den primären nicht sicher geschieden
werden können. Die alte Regel, dass -w- von der Tiefstufe be-
gleitet war, ist an vielen Beispielen ersichtlich, vgl. slidüs rutschig;
diAus hohl; gludüs anschmiegend; klupüs stolperig; bingus muthig;
at-kilÜ8 offen; kimüs heiser u. s. w. Eine Aufzählung würde aus
dem ersten der angeführten Gründe hier zwecklos sein. Als Bei-
spiele denominativer Bildungen seien genannt: grams ekelhaft {jgrasä) ;
klampüs sumpfig {klampä Sumpfstelle) ; skalsus verschlagsam {skakä) ;
talpüs geräumig {talpä) ; ivanüs überflutend {tvänas) ; tvanküs schwül
{Ivänkas Schwüle) u. s. w.
Suffix -O«, "U^m Feminina und Masculina sind hier nicht ge-
schieden, theils weil das Genus nicht selten wechselt, theils weil
durch das Hineinfallen der alten Neutra in die beiden anderen
Genera eine festere Scheidung ursprünglicher iMasculina und Femi-
nina nicht mehr durchzuführen ist. Die Bildungen mit diesem Suffix
vermeiden in solchem Grade die Mittelstufe, dass diese in einigen
Yocalstufen ganz zurücktritt; am auffallendsten ist das bei der
Abband), d. K. S. aeselldcb. d. WisRcnscb. XXI. 39
424 August Lrskien, [4^2
e-Reihe, daher diese hier vorangestellt wird; die Zahl der Fälle
mit e ist verhältnissmässig gering, die mit i bedeutender, die mit
H durchaus überwiegend: Ci. a/^d Lohn; an^d Oeffnung; a2«d Müdig-
keit; arza Streit; baldas Stössel; le bügs^ buga dichte Menge, pror-
bangä Uebermass, päbangas, pabangä Beendigung, bangä Welle; le
uf-bars Uebermass, atr-barai, ätbaros beim Worfeln Verstreutes; bradä
Waten, Pfütze; brända Kernansetzen; 6ranfed Schwellen ; dägas Ernte,
isz-dagas von der Sonne ausgebrannte Stelle, iszdaga dss., dagä
Ernte; apdangä Kleidung; le nur-daras pl. Abfälle, ätdaras offen, sätir-
dara Einwilligung; därbas Arbeit; darga schlechtes Wetter, padärgas
verwickelte Maschinerie; le draska Lump; därias Garten; dvfisä
Kühnheit; pagadas Verderben; gälas Ende; pagälba Hülfe; gämas
Geschlecht, äp-gamas Muttermal; le gans Hirt, le gani pl. Weide;
le gargfda sandiger Boden; le grabas pl. Zusammengerafftes; grändai
Latten zum Decken, pa-granda Diele; grasä Ekel; at-grqzas Wieder-
kehr, su-grqza Rückzug; le kaba Sparrbalken, üikaba Vorhang; kMpa
Querholz am Schlitten; i-kamszai Füllsel, kamsza Stopfung; kankas,
kanka Qual; tiap^-kanta Hass; karas Krieg; at-karpai, älkarpos Ab-
schnittsei, kärpa Warze; kartä Schicht; kärtas Mal (beim Zählen);
klampä Sumpfstelle; i-kratas Betteinschüttung; kväpas Hauch; lak{is
Flug, lakä Flugloch der Bienen, pirm-lakai, pirm-lakos das beim
Worfeln vorauffliegende Korn; le lams^ /ama Mal; /andd Flugloch der
Bienen; längas Fenster; le luks biegsam, länkas Reif, i4anka Einbie-
gung, lankä Thal; iszlasas {peklos) Auswurf der Hölle, hsa Vogel-
frass, apTJ'lasa Auslese; maldä Bitte; isz-manns Verstand; maras Pest;
le marga Schimmer, mdrgas bunt; le marks Flachsröste, marka dss.;
üz-marka Blinzler; märszas Vergessen, üz-marsza Vergesslichkeit, iiid-
marsza Vergesslicher ; at-matas Abwurf, le ufmats und ufmata Zu-
gabe (zum Futter); mdzgas Knoten; näras Taucherente, isz-nara ab-
geworfener Balg, naromis plaükti mit Untertauchen schwimmen;
närszas Laich, isz-narszos Rogen; pra-naszas Prophet, s^-mmzos Zu-
sammengespttltes; pra-parszas Graben; rämas Ruhe; le randa rinnen-
artige Vertiefung, rändas Striemen; ranga Einrichtung, Zurüstung;
pa-rankä Nachlese, rankä Hand; räntas Kerbholz, isz-ranta Kerbe;
rqzai Stoppeln; sägas und sagä Klammer zum Festlegen der gebleichten
Leinwand; pä-saka Erzählung, üi-sakas Aufgebot; püdrsakas Fährte;
pa-salä {pasalöms unvermerkt); le sari Borsten; särgas Wächter;
163] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 425
ap-sargä Hut; le skals Lichtspan, skdädss.; paskälba GerUichi; skalsä
Verschlagen; skarä Fetzen; le «fc/an^ia, ;>a«fc/aii(](a schleudernde Wege-
stelle, uz-sklanda Riegel; ät-skrabai Abfall von Zeug; slankä Schnepfe,
Schleicher; le smags schwer; le smalks fein; smälkas Dunst, apsmalka
Lack; le smards Gestank; le spars Wucht, at-sparas Widerstand,
sq-spara Gehrsass; sprändas Nacken; le stabs Pfosten, stäbas Bild-
säule, stäbas Schlagfluss; stämbas Strunk; at-stangä Widerspenstigkeit;
le muals und swala Dampf; sväras Gewicht; paszalpä Hülfe; pä-szaras
Futter; szläkas Tropfen; pa-sznabidomis z\sche\nd; <dfta« Pfad, isz-taka
Mündung, nü-taka mannbares Madchen; pätalas Bett; lalkä Arbeiter-
gesellschaft (s. o. unter titk-); talpä ausreichender Raum; tänas Ge-
schwulst; tü'sas (= ^tansas) Fischzug, vilkü isztasa Wolfsfrass; tarpä
Gedeihen; tärpas Zwischenraum; täszkas Tropfen; träkas Narr;
pa-trankä holpriger Weg, i-tranka Anstoss; trasä käU läufische Hün-
din; pa-traszas verfaultes Holz; tvänas Flut, le tvans und tvana Dampf;
tvänkas Schwüle; ap-tvaras Gehege, aptvara Netzslrick; tvarkä Ord-
nung; tväska Geschwätz, Schwätzer; vädas Führer, pa-vadä zweite
Frau; välas Schweifhaar des Pferdes, knäto nu-vala abgeputzter Docht,
ap-^ala Kreis; le walgs Feuchtigkeit, feucht; le walh Zug, üir-valkas
Ueberzug, le nurwalka Schlangenbalg; ät-vanga Rast; le at-wars Wir-
bel; pSrvaras Langbaum am Leiterwagen, pervara Netzleine; värpas
Glocke, värpa Aehre; w^^arto« Umdrehung, j^rj^-varto Zwang; värias^
le warfa Reuse; üi-vaias Auffahrt, pavaiä Schlittenkufe; al-zalas Schöss-
ling, at-ialä Nachtrieb ; zämbas Balkenkante ; zändas Kinnbacken ; pror-,
ianga Uebertretung ; ap-zargomis rittlings; zvälgas Beschauer, ap-zvalga
Umsicht. — im czirszka Kreischer; %/d Rede; di/6a Gluper; le dima
Dröhnung; dirias Riemen; pa-dribä Augentriefen ; le driska Zerreisser
gylä heftiger Schmerz; girä Trunk, le dftras pl. Gelage; gyrä Ruhm
grindüj le grida Diele, pa-grindai Bohlenlage, le grids Fussboden
griio rätas der grosse Bär; isz^ra Anfurt für Kähne; paAras locker
isz-kyla Anhöhe; ktmsza Dachluke; päkirpos Abschnittsei; atr-kirta
Schlacke; le klibs lahm; kilpa Steigbügel; kinka Fesse; le llks
krumm, vSn-linkas einfach, ap-linka Umgegend, ap-linkomis mkti; le
mils Alp; päminos Abgänge von Flachs, le pamina Tritt (am Wagen);
le mirgas pl. Blinken; tnirka Flachsröste; le nira Taucherente;
käs'pinas Haarband; pirdä Furzer; ne-nurrima unruhiger Mensch;
rindä Krippe; ringa krumm Dasitzender; pa-rinka Nachlese; le siks
426 August Leskien, [^ä*
klein; at-skirai adv. abgesondert; sklhidas Riegel; slinkas faul, slinka
Schleicher; smirdas Stänker, le smirda dss.; le stiba Stab; pri-svf^los
Angesengtes; le swira Hebebaum, pmiäunsvyrä adv. halb überhangend;
sznibzdomis zischelnd; szvilpa wer viel pfeift; i-timpas Ansatz zuai
Sprunge , timpa Sehne (des Körpers) ; üz-trinas Abmachsei ; trinka
Haublock; vyla Betrug; le wira Gekochtes, at^yrs Strudel; ät-viras
offen, at'Viromis adv. i. pl. f. offen; pä-virpas Losmann; zilas grau;
zirgas Ross; zlibas triefäugig; aUzvilga Rückblick. — 6. degas Feuer-
brand, le degas f. pl. ausgebrannte Stelle; dengä Decke; gema (?) Früh-
geburt; geras gut; le ap-^erbs Kleidung; gerdas Botschaft; le grefa
Wendehals; le zerps and zerpa Grasbüschel u. s. w.; melas Lüge;
menas Verständniss ; ap-metai Schergarn; mezgä Strickerin; Uwk-neszä
Gefäss zum Speisentragen (aufs Feld); le nü regas vom Sehen (von
Angesicht), nürega Scharfsinn; rentas Kerbe; retas dünn; selamis
schleichend; le serga Krankheit; änt-skrebai Krampe; nusteba Er-
staunen; le slengs trotzig; le teka Fusssteig, isz-ieka Mündung; ui^t^sas
Leichentuch, pror-l^sä Aufschub; nau-t;edd Bräutigam ; le welgs feucht.
Diesen mögen die wenigen Fälle mit e folgen: pri-dvesas dumpfig;
geda Scham; gelä heftiger Schmerz; le krßls Hahnenkamm, Mähne;
kvepä kurzer Athem (Dampf); le iBkas pl. Hei^schlag; praplesza Bruch.;
reka Schreihals; ap-sega (?) Einfassung; stebas Stab; pra-veiä Ge-
leise.
Nicht ganz so stark ist der Unterschied in der ei-Reihe, aber
immerhin deutlich genug, um die Bevorzugung der Stufen (X/i und i
gegenüber dem ei und e erkennen zu lassen, dt. le baigi Nord-
licht; pa-baigä Ende; pa-däigos Spielen; ap^-daira Vorsicht; draikas
lang gestreckt, pa-dräikos verstreutes Stroh; le ^aifra Faslerin; gaidas
Sänger, fem. gaidä; le gaida Erwartung; ap-graibomis handgreiflich;
le aifa Eisspalte, par-aiza Abnahmezeit des Mondes, isz^aizos Schlau-
ben; le klajsch geräumig; pa-klaidä Irrthum; kraikä Streu; pr kvaUa-
{quoits) Wille; le Iaidos pl. lange Reihen, at-laidä Erldiss; pä-laikas Rest;
le laipa Steg; prpa-laips Gebot; maigas Haufen; pr mai^a- (acc. maigun)
Schlaf; le e-naids Hass; le naiks heftig, auksztj-naika adv. rücklings;
nairomis schielend; le naifs^ naifa Krätze; paikas dumm; paisa Haufen
Gerste zum Abpuchen; paiszas Russ; le sur-raibs, le raU)a Verdruss;
ap^-raika Abschnitt; räiszas lahm; ät-raitas^ atraita Aufschlag (am
Aermel); at-sajä Strang; saikas Hohlmass; le skaida Span; le skaits
<65] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 427
Zahl; uT^sklaida Riegel, le sklaids glatt; le skrajsck undicht; \e slaids
abschüssig; smaigas f(ah\; le snaigs schlank; le spaids Druck; staigä
adv. plötzlich; pa-sträipamis stufenweise; ap-szvaita ^einheii ; j-taikas
was zu Gefallen geschieht, pa-taikä Müsse; pa-taisä Zubereitung;
vaizdai Brautschau, ap^-vaizda Vorsehung, vaidm Erscheinung; vaikas
Knabe; vaisä Fruchtbarkeit; vaisza Bewirthung; taihas Blitz; zaizdä
Wunde. — i (*)• di^gas Dorn, le dlgs Keim; drikä herabhangende
Fäden; le jfnfca Wille; Uiszas schiefbeinig; isz-krikas verstreut; ir-krypai
adv. mit halber Wendung; at-lyda Unterlass; pr$4ipa Anbau, pa-lipomis
stufenweise, le pe-lipi Angeklebtes; isz-lizos Zahnlücken; ät-migas
Nachschlaf, le tniga Lager eines Thieres; suntniszai adv. durchein-
ander; mitas Lebensunterhalt; le suriba Verdruss; le riks und rika
Bix>dschnitte; le schk'ihs schief; le sklida Schleife; le slidas pl. Schlitt-
schuhe, le slids glatt; äp-skritas rund; le sliga Pfad; paszvitai Schmuck-
sachen; \e par-tiks und "tika LehensunievhsAi; iszr-tisas gestreckt; tryda
Durchfall; pa-v^das Neid; porzibai Flitter. — € und ei: €, dSgas
Keim; isz-dr^as im blossen Hemde; porgetä Rache; Ukas unpaar,
ät-lätas, le atrlgka Rest; /&tfö mager; nezai Krätze; m^gas Schlaf;
mJSlas lieb; pSszas, pesza Russ; at-rSkai Abschnittsei; ätr-retas^ at-reta
Aermelaufschlag; le seks Gelreidemass ; snSgas Schnee; le speis Bienen-
schwarm; tesä Wahrheit, pra-tesas N Mast; treda Durchfall; zSbas
Blitz; iSdas Ring, Blüthe. — ei. le beiga Neige; le ^eiba Faslerin;
geida Verlangen ; pa-peika Tadel ; speigas starke Kälte ; pa-teikä Müssig-
gang; ai-teisa Entscheidung; vöidas Antlitz; veikas geschwind; pa-ieida
Verletzung.
In der et^Reihe kann altes eu von altem OU nicht geschieden
werden, da bekanntlich beide Formen litauisch in dU zusammen-
fallen, die folgende Aufzählung kann also auch Über das ursprüng-
liche Verhältniss der Vocalstufen nichts ergeben : ClU. le audi pl. Ge-
webe, at-atuiai, ataudos Einschlag; le augs Gewächs, augä Wachs-
thum, le alr-augas pl. Wiederwuchs; le auka Sturmwind; baudä
Strafe; i-braukai Füllwände, nu'-braukos Abschabsei; daubä Schlucht;
i padauküs entwei; daiisos Luft; le padaufs Lärmmacher, por-dauzd
Vagabund; le draudi Drohungen; draügas Genosse; le gatula Klage;
le glatida Glätte; gliaümas schleimiger Abgang (vom Schleifstein) ; le
grauds Korn ; gräuzas Kies ; le jaws Gemengsei ; le jauda Kraft ; le
jauks lieblich; pa-jautä Gefühl; le g-kawa Klammer; le kauka Sturm-
428 ACGDST LfiSKIEN, [466
wind; kaükas Beule, kaükos Drüsen; kaüpas Haufe, uz-kaupa Ueber-
gewicht; kiäuras durchlöchert; klausä Gehorsam; le kfawa Haufen;
le krauka Husten des Viehes; le kraupa Grind; krauszas Fels; lauzas
Ast, nulauza Bruchstück, le laufa Bruchstelle im Walde; le nu-mauks,
le nür-mauka abgestreifter Balg, le mauka meretrix; nauda Nutzen;
paütas Ei, papautas Schwiele; pa-plava Spülwasser; \e plauks Wisch-
tuch, le plaukas pl. Flocken, Fasern, pre-plauka Hafen; plauszai Bast;
raudä Wehklage; raüdas roth, raudä rothe Farbe; räugas Sauerteig,
le atnfaugas f. pl. Aufstossen; raükas Runzel, rauka dss.; raüpas
Pocke, le raupa Gänsehaut; saüsas trocken, sausa Trockenheit; pa-
slauga Hilfe; persmaukas Streifen; spauda Presse, pre-spauda Be-
drückung; le sprauga Zaunlücke; le snauda Schlummer; sravä Fluss
(menstrua) ; pa-szavä Beifaden u. s. w. (s. o. unter szäuli) ; szauton
Brühe; sq'szlavos Kehricht; le pd-slauka Abschaum; le tauks fett,
taukai Fett; per-traukas Wegegeld (Durchzug), pertrauka Zerstreuung.
— U (il). apj'Czupa adv. tastend; le drupas pl. Trümmer; düka Ra-
sender; düsas Seufzer; dzüvä Dürre; le gluds glatt; glümas hornlos,
le glums schleimig, glatt; le gHiwa eingefallene Erde; grüdcts Korn;
guba Heuhaufen, Schober; pa-juda Anregung; klüpomis kniend; le
klwB still ; kruvä krüvä Haufen ; le krups Kröte ; ktiiszä Hagel ; le al-
kusa Thauwetter; le nu-lüks Ziel; nür-lupa Abgeschältes; le nu-mükij
le nvr-muka abgestreifter Balg; plüszai Fasern ; le pa-puwa Brachacker;
putä Blase; rüdas rothbraun; isz^ügos Molken; rupas rauh; le rüpas
f. pl. Sorgen; rüsas^ le rüsa Kartoffelgrube ; skütds kleines Stück,
skulä Staub; mudä Schläfer; le sprüds Knebel; sriubä Suppe; sükais
(s. 0. unter sükti)^ ap-suka Wirbel; szliüzas Lab; le schnüka Nasen-
schleim ; le mti pl. Bähung, le suta dss. ; sur-trupos Schutt ; trimai
Schwanzfedern des Hahnes; Ükas caligo; prazuvas, prazuva Verlust.
Bei den ja-Suffixen (-w m., -ia-«, -e, -ja) lässt sich keine
festere Gestaltung bemerken, ich sehe daher von einer Aufzählung
der Beispiele ab, füge aber zum Schluss die Fälle an, wo in der
Nominalbildung O (Ä) erscheint bei -a- und -jo-Suffixen: 1) der
Reihen UI und IV: a) mit Suffix -a-, -ä-: dorä Eintracht; le gräms
Sodbrennen; lomä Ziel, Schicksal; le mäls Lehm; äp-motas Bewurf,
prUmota dss.; le närs Klammer; sq-noszai Zusammengespültes; oras
Luft; prölas Verstand; le räms^ lit. romüs sanft; skolä Schuld; sq-smoga
Meerenge; ped-sokas Fährte; isz-sprogas Schössling, sproga Spalt,
467] Der Abladt der Wdrzelsilben im Litauischen. 429
fliegender Funke; stöbas GewaM; svöras Gewicht (an der Uhr); i-toka
Mündung; ivorä Zaun; f-voda Wasserleitung; vöras Spinne, le sa-
wäri Querstangen der Egge, apy- vora Schanze; le wärs Suppe, m-
vora Suppe; pra-voiä tiefes Geleise. — b) Suffixe mit j: atö-dogei
Sommerroggen; üir-dom verscbliessbarer Raum; drohe Leinwand;
naktt-gone Nachthut; grobe Beute; groie Schönheit; prä-mone Er-
findung; le näre Klammer; le näscha Achseljoch; smögis, stnoge hef-
tiger Schlag ; pr tärin Stimme ; le tväre Zaun ; le wäls, wäle Waschr-
bleuel, Heuschwaden ; le if-iväres Ausgekochtes ; zole Gras. — 2) der
Reihe V: le gläba Lebensunterhalt, globa Umarmung; plökas Estrich,
plökis Hieb, le pläze Schulterblatt; slogai Presshölzer, slogä Plage;
paziöra Schein am Himmel. — 3) der Reihe VI: le bäls bleich; le
bäfis Senkstein am Netz; pa-korÜ Galgen; Honis niedrige Ackerstelle,
khni Pfütze; lobis Gut; le läsa, le läse Tropfen; moiis Wenigkeit;
ore Pflügezeit; skan-skonei Leckerbissen; szökis Sprung; pa-szolp
Nachtfrost; pnj-vole Bedürfniss; iödis Wort. — Endlich die O der
u-Reihe: le bl'äwa Schreihals; dzovä Dürre; griovä Schlucht; le käwi
Nordlicht, kovä Kampf; krovä Haufen; pa-liovä Aufhören; üz-mova
MuflF; piöve Schnitt, le pl'äwa Erntezeil; isz^plovos Spülwasser; srove
Strom; nu-szovis Stromschnelle.
III. Im abgeleiteten Verbum.
In den Grammatiken finden sich für die abgeleiteten Yerba
recht viele verschiedene Termini, theils nach der Bedeutung theils
nach der Ableitung gegeben : Denominativa, Causativa, Factitiva, Fre-
quentativa, Iterativa, Intensiva, Durati va, Deminutiva, Benennungen,
die nur zum Theil zutreffend sind; denominativ sind z. B. nicht nur
die gewöhnUch so bezeichneten Verba, sondern sehr viele, wenn
nicht ursprünglich alle Causativa, so wie die Deminutiva, durativ
sind an sich auch die meisten primären Verba, iterative und demi-
nutive Bedeutung sind oft zusammen. Ich möchte daher eine Ein-
theilung vorschlagen, die solche Vieldeutigkeiten vermeidet:
430 AuGCST Lbskien, [468
1) Factitiva: Verba, welche bedeuten, das machen, sich be-
schäftigen mit dem, was das zu Grunde liegende Nomen aussagt,
oder sein, wie dieses aussagt, z. B. davanöti {dovanä Geschenk)
schenken; gerinti {geras gut) gut machen, bessern; klastuti [klastä
Betrug) betrügerisch handeln; szykszte'ti {szfjksztas geizig) geizen.
Es sind also die gewöhnlich sogenannten Denominativa. Der Aus-
druck Factitiva ist ungenügend, in Ermangelung eines besseren mag
vorläufig diese Benennung bleiben.
2) Causa tiva, bedeutend, die Handlung des bezüglichen pri-
mären Verbums veranlassen, an etwas anderem hervorrufen, z. B.
täikinti zusammenpassen [tikti passen intr.).
3) Iterativa, die Wiederholung der Handlung des bezüglichen
primären Verbums bezeichnend, z. B. bradaü bradpi (zu brisli war-
ten). In diese Classe fällt, was man auch als Frequentativa, z. Th.
als Intensiva und Durativa bezeichnet. Mit der Iterativbedeutung
verbindet sich zuweilen die Deminuirung, z. B. tekine'ti oft ein wenig
hin- und herlaufen.
4) Intensiva. So möchte ich die intransitiven Verba nennen,
die ein gewissermassen energisches Verharren in einem Zustande
bedeuten, z. B. rjjmau rjjjfnoti dauernd aufgestützt dasitzen.
5) Deminutiva, mit verschiedenen Nebenbegriffen : der plötz-
lichen , dauernden , wiederholten Handlung , z. B. mirktereti einen
kurzen Blick thun ; särgaliüti fortgesetzt kränkeln ; begine'ti oft ein
wenig umherlaufen.
Die erste der angeführten Classen bedarf in Bezug auf den
Vocal der Wurzelsilbe keiner weiteren Auseinandersetzung, da es
sich von selbst versteht, dass sie die Vocalstufe der zu Grunde lie-
genden Nomina aufweisen muss. Die Classen der Gausativa und
Iterativa sind dagegen auch für unsern Zweck in Betracht zu ziehen.
Vergleichen wir sie auf die Bildungssuffixe hin, so fällt auf, dass
dieselben Suffixe für beide Gattungen von Verben dienen, femer,
dass die Factitiva (Denominativa) zum Theil wieder diese Suffixe
zeigen. Lehrreich ist in dieser Beziehung die Tabelle bei Bielen-
stein I, 446 mit ihrer statistischen Zusammenstellung, der ich das
folgende entnehme:
469] Der Abladt der WuRZELsaBSN m Litauischen. 431
Factitiva (Denom.)
Iterativa.
Gausativa.
-äju
-ät
58
65
4
-ttjtt
-M<
148
24
-eju
-et
80
14
36
~inu
-inät
SO
56
105
-u
-it
134
23
-u
-et
57
-iju
-tt
50
Im Litauischen
bildet
-Ol«
-Ott
Factitiva wie Iterativs
'inü Factitiva und Causativa, -au -yti Iterativa und Gausativa, um
nur die Hauptformen zu nennen. Der Grund dieser Uebereinstiminung
muss in einer inneren Bedeutungsgleichheit oder -Verwandtschaft
liegen und diese ist nicht schwer zu finden. Zunächst zwischen
Factitiven und Iterativen: wenn z. B. le waidät klagen zu waida
Klage als »Klage machen« übertragen werden kann, so lässt sich
gaudät, das Iterativum zu dem einfach durativen gauft klagen, genau
so zu gauda (Klage) beziehen und ebenfalls als »Klage machen«
fassen, walkät^ Iterativ zu wilkt ziehen, von walks, walka (Zug) ab-
leiten und mit »Zug machen« übersetzen. Nur muss man dabei im
Auge behalten, dass der Begriff des zu Grunde liegenden Nomons
in solchen Ableitungen nicht auf einen einzelnen Fall zu beziehen
ist, sondern in unbestimmter Begrenzung vorschwebt, so dass die
richtigere Erläuterung wäre: Klagen machen, Züge machen, woraus
sich die Bedeutung der wiederholten Handlung ergiebt. Besitzt die
Sprache ein wurzelgleiches primäres Verbum einfach durativer Be-
deutung, so wird eine solche Ableitung auf -ät zu dessen Iterativum,
wie hier walkät zu wilkt^ im anderen Falle kann man nur die Fac-
titivbedeutung empfinden. Die Yermittelung von Iterativ und Cau-
sativ und damit auch von Gausativ und Factitiv beruht ebenfalls auf
dem gemeinsamen Grundbegriff »sich mit dem und dem abgeben,
das und das herstellen«, z. B. le mainit tauschen gilt als Iterativ
von mit (tauschen), ist aber offenbar eine Ableitung von maina Tausch
und heisst nichts anderes als »Tausch machen, sich mit Tausch ab-
geben«. Dies als Vorbemerkung, die folgende Ausführung wird
diesen Gesichtspunkt weiter verfolgen. Da es sich aber hier um
die Frage handelt, wie der Wurzel vocal einzureihen sei, d. h. ob
die betreffende Yocalstufe diesen Bildungen als solchen angehöre,
432 August Leskien, [470
muss untersucht werden, wie weit die abgeleiteten Verba denomi-
nativ sind, wie weit nicht, also die Anordnung von den Suffixen
ausgehen, innerhalb deren erst die Bedeutungsclassen geschieden
werden.
1) lit. -^nu -inti] le -inu -inät; lit. Hneti. Im Litauischen
bildet 'inu -inti Factitiva und Causativa, Iterativa nur vereinzelt
(davon unten), die Iterativbedeutung (öfter verbunden mit Demi-
nuirung) hat -ineti; im Lettischen giebt -inu -inät sowohl Factitiva
wie Iterativa und Causativa (s. die obige Tabelle]. Zunächst ist hier
eine Regel in ihrem Werth zu bestimmen, die Schleicher Gramm.
S. 166 giebt: die Denominativa (Factitiva) »haben den Accent auf
der Stammsilbe, nicht auf der Endung, z. B. äuksinti (vergolden),
äuksasn u. s. w. Sie würde nur dann einen Werth haben für die
Frage nach der Auffassung der Causativverba , wenn die letzteren
den Hochton auf der Stammsilbe vermieden, das ist aber keines-
wegs der Fall, der Hochton steht bald auf dieser, bald auf einer der
folgenden Silben. Sieht man also davon ab, so wird man nicht
anstehen, zunächst die Möglichkeit denominativer Ableitung bei einer
Anzahl von Causativen zuzugeben, vgl. alsinti müde machen — alsä
Müdigkeit, alsiis müde; branginti theuer machen — brangüs theuer;
grasinti verekeln (eklig machen) — grasä Ekel, grasüs eklig; lakinti
fliegen machen — läkas Flug; marinti tödten — märas Tod; baugifUi
angstigen — batigüs ängstlich ; jaukinti gewöhnen, zähmen — jauküs
zahm; rauginti säuern — räugas Sauerteig (Säure); daigifUi keimen
machen — daigis das Keimen; läikinti fügen — taiküs passend;
vaiszinti bewirthen — vaisza Bewirthung u. s. w. Der Umstand nun,
dass von derselben Wurzel primäre Verba intransitiver oder über-
haupt nicht causativer Bedeutung vorhanden sind, macht die Bil-
dungen auf -in- zu Causativen dieser letzteren, also alsinti zum Cau-
sativ von iktü ikli müde werden, branginti von bringti theuer wer-
den, täikinti zum Caus. von tinkü Ükü passen u. s. f. Würde z. B.
bringti fehlen, so würde branginti einfach als Factitivum von brangüs
(theuer) erscheinen.
Eine weitere Frage ist, woher das Element -t»»-, und die Ant-
wort, dass diesen Verben zunächst abgeleitete Adjectiva auf -inas
"inis zu Grunde liegen; z. Th. lassen sich solche neben den Verben
belegen : äklinti blind machen — adv. aklinai gewisserm. »blindlings«
171] Der Ablaut der WüRZELsaaBN im Litauischen. 433
(dazu auch aMineü blind herumlaufen, s. u.); iiinti ausschlauben —
iiines Schlauben (subst. Adjectiv, von *izini8 schlaubig); kruvinti
blutig machen — kruvinas blutig; küpinti häufen — küpinas gehäuft;
paiszinti berussen — paiszinas russig (paiszas Russ); taükinti fetten
— tatikinis von Fett {tatskai Fett); trupinti bröckeln — trupinys
Brocken u. a. Von solchen Bildungen aus ist dann das -in- ver-
allgemeinert, zunächst in der Weise, dass von jedem Substantiv im
gegebenen Falle ein entsprechendes Adjectivum vorschwebt. Be-
grifflich ist aber das nothwendig, um den Verben transitive Bedeu-
tung, Beziehung auf ein Object zu geben, z. B. lakinti als unmittel-
bar auf läkas bezüglich gedacht würde »Flug machen« heissen, auf
ein Hakinas bezogen heisst es etwa »flüchtig machen« und wird so
Gausativum zu le'kti fliegen. Es ist dieselbe Verallgemeinerung wie
die der Verba auf -igen im Deutschen, wo sie aus demselben Grunde
geschieht: heiligen empfinden wir als Ableitung von dem vor-
handenen heüig und zwar als heilig machen, nicht als Heil machen,
betheüigen als Ableitung von Theil, obwohl es nicht Theü machen
heisst, sondern theilhaft machen bedeutet, weil ein ^theilig nicht
existirt, es ist aber klar, dass ein solches Adjectiv eben in dem
Sinne von theilhaft vorschwebt (eine gleichartige Verallgemeinerung
hat das Litauische auch im Suffix -in-^nkas, vgl. Wangininkas wer
theuer verkauft, obwohl kein "^branginas existirt). Ist die Sprache
einmal so weit, so wird der eigentliche Sinn der Ableitung vergessen
und das betreffende Ableitungselement beliebig weiter verwandt zu
Factitiven, z. B. von Adjectiven, wie beschönigen, wo ein beschönen
vollkommen geAügte. Genau so ist im Litauischen mit -iV verfahren,
z. B. tvirtinli {tvirtas fest) deckt sich ganz mit unserm fest^g-en,
ebenso tirsztinti dickflüssig machen {lirsztas). Was nun die Vocal-
stufe der bisher ins Auge gefassten Ableitungen betrifft, so ist es
selbstverständlich, dass sie dieselbe Stufe zeigen müssen, wie das zu
Grunde liegende oder voraussehbare Nomen. — Von den denomina-
tiven Bildungen schreitet aber die Sprache fort zur allgemein cau-
sativen Anwendung des -in-, d. h. zur Anfügung desselben an pri-
märe Verbalstämme, wie lipinti ankleben (trans.) zu limpü lipti an-
kleben intr., büdinti wecken zu bundü büsli aufwachen. Bielenstein
macht L 416 die Bemerkung, dass die entsprechenden lettischen
Causa tiva auf -inät mit Vorliebe die tiefe Vocalstufe zeigen, und ebenso
434 AcGi'ST Lbskiek, [47S
ist es im LitauiscbeD. Das beroht aber, was für unsere Betracbtung
des Ablautes von Wichtigkeit ist, oicbt auf einer altererbCen Verbin-
dung des -in^Suffixes mit dieser Stufe, sondern darauf, dass die
Verba auf -inr-ti vermöge der ihnen wirklich oder ideell zu Grande
liegenden Adjecliva auf "ina- das Versetzen in einen Zustand bedeuten,
folglich auch zu Anfang nur von solchen primären gebildet werden
konnten, die intransitiv einen Zustand oder inchoativ das Uebergehen
in einen Zustand bezeichnen. Diese Verba haben aber im Litaui-
schen, wie die Behandlung der primSiren Verba S. 381 u. ff. nachweist,
durchgehends die Tiefstufe, also auch die zu ihnen gehörigen Cau-
sativa, z. B. mirkmli (einweichen) eigentlich in den Zustand des Ein-
geweichtwerdens versetzen {mirkstü mirkti eingeweicht werden). Und
ferner beruht das fast gänzliche Fehlen von Verben auf -tfili mit der
Stufe e oder ei auf dem Umstände, dass die primären mit diesem
Wurzelvocal durchgängig Transitiva sind (die Causativbildung von
Transitiven geschieht durch -d-in-ti', vom d weiter unten). Eine Auf-
zählung der Causativa mit Tiefstufe ist nach diesen Bemerkungen
überflüssig, ich gebe daher zur Erläuterung nur noch eine Auswahl
von Beispielen: brinkinti schwellen machen — britikU schwellen;
dirginli in Unordnung bringen — dirgti in Unordnung gerathen ; iUinti
müde machen — ilsti müde werden; sirpinti reifen lassen — sirpti
reifen ; smirdinti stinkend machen — smirdeti stinken ; jüdinti rütteln
— jüsti sich regen; Mupinti stolpern machen — klupti stolpern;
kiürinti durchlöchern — kiürli löcherig sein (vgl. kiäarinti dss. zu
kiäuras löcherig); tükinü fett machen — tükti fett werden {taäkinti
— taukinis — taukai) ; miginli einschläfern — migü einschlafen ;
pjkinti böse machen — pijkü böse sein u. s. w.
Aus der oben auseinandergesetzten Grundbedeutung der Verba
auf "inti erklärt sich, dass dieselben im Litauischen fast nur als Cau*
sativa auftreten, das ist eben ihr ursprünglicher, aus der Factitivbe-
deutung entwickelter Sinn; fiielenstein L 416 meint sogar, dass im
Litauischen gar keine Iterativa dieser Form vorkämen, jedenfalls ist
ihre Anzahl verschwindend klein ; es gehören dahin Fälle wie szvilpinü
öfter pfeifen; skabinli iter. pflücken; snkinti iter. drehen {sidili);
drumstinli trüben [drümsti) und vielleicht noch eins oder das
andre. Die Iterativa des Litauischen, die in diesen Zusammenhang
gehören, haben durchweg die Weiterbildung -i«^ \{-ineju -tnefc*),
173] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 435
und diese Form erklart sich einfach aus denselben Adjectiven auf
-tn-, z. B. tökinas im Lauf, gewissermassen »läußsch«, tekineti »läußsch
sein« (vgl. szykszteti geizig sein, zu sz^ksztas)^ daher iler. zu leke'ti
laufen; dilbinas glupend, Gluper, dilbineti umherglupen (eig. »glupisch
sein«); stnüine'ti intr. iter. naschen (naschig sein), von einem vorschwe-
benden *8fnüinas] lakineti iter. fliegen (fluchtig sein), iter. zu lekti
fliegen; mirineli nach und nach hinsterben {mirti)\ lindine ti (zu listi
kriechen). Es liegt in der Natur der Bildung auf -eti^ dass sie zu-
nächst nur Intransitiva bildet, von diesen aus ist sie aber auf Tran-
sitiva übergegangen, vgl. pirkini'ti (zu pirkti kaufen), vagine ti (anzu-
sehen als Ableitung eines zu vagis Dieb gehörigen ^vaginis diebisch)
zu vogti^ ritini'ti (zu risti rollen) u. s. w. Der Begriff* der Deminui-
rung liegt nicht nothwendig in diesen Bildungen und ist auch nicht
immer vorhanden, stellt sich aber namentlich da leicht ein, wo das
-iniü, was im Litauischen recht oft geschieht, an sich schon itera-
tiven Verben angefügt wird, wodurch gewissermassen Iterativa zwei-
ten Grades entstehen, z. B. iarginUti zu zarg^ti, iter. zu zergti schrei-
ten; kraustinitti zu krätistytiy iter. zu kräuti häufen; piämtineti zu
piämtyti, iter. zu pidtUi schneiden ; kraipine'ti zu kraip^ti^ iter. zu kreipti
wenden; UUstine'ti zu Idislyti, iter. zu l&i giessen. Es bedarf keiner
weiteren Auseinandersetzung, dass kein selbständiges Yerhältniss zwi-
schen dem Wurzelvocal und dem Suffix -ine- besteht, sondern die
Vocalstufe des Yerbums abhängig ist von der des zu Grunde liegen-
den Wortes.
Im Lettischen entsprechen den litauischen Factitiven und Cau-
sativen auf -inu -inti die Bildungen auf -inu -inäl, diese haben aber,
wenn auch nur zum dritten Theil des Gesammtbestandes (vgl. oben
die Tabelle Bielensteins), doch häufig genug auch Iterativbedeutung.
Die Factitiva und Causativa erklären sich wie die litauischen auf
-tn(f, der lettische Infinitivstamm auf -inä- muss der Sonderenlwick-
lung dieser Sprache angehören, da Preussisch und Litauisch im -An^ti
übereinstimmen, vgl. pr swintint heiligen, pO'U\aidint unterweisen,
wartint wenden u. s. w. Vereinzelte Ansätze zu einer ungefc^ihr
gleichartigen Bildung zeigt auch das Litauische in Verben wie stip-
prinoju stiprinöti stärken, neben stiprinti (zu stiprus), oder linksminöti
erheitern, neben Rnksminti (zu Unksmas), der Unterschied vom Letr-
tischen ist die Behandlung des Präsens. Das lettische ä stammt von
436 Adgcst Leskien, [47i
den zahlreichen Factitiven und Iterativen auf dieses Suffix, von denen
unten die Rede sein wird, und es beruht seine Annahme auf der
Neigung zur deutlichen Erhaltung der charakteristischen Form, da
-Anti lettisch zu -it werden musste und dadurch ein Zusammen-
fallen mit der fast durch^ngig zur Iterativbildung verwendeten
Classe auf -u -it (lit. -au -^tt) eintrat. Die Verwendung der Bildung
im iterativen Sinne geht vom Factitivum aus. Vereinzelte Fälle der
Art besitzt auch das Litauische, z. B. lüpinli schälen, eigent. »Schalen
machen«, zu lupinai lüpinos abgeschälte Schale (von Früchten u. dgl.),
kann als Iterativ von lüpti gefasst werden, und daher die Iterativ-
bedeutung des lettischen lupinät; ßbinät blitzen gilt Bielenstein L
426 als Iterativ zu ßbt schimmern, ist aber in der That ein Facti-
tivum zu ßbim Blitz. Von dergleichen Fällen, die sich ,noch weiter
ausführen Hessen, geht dann die Bildung auf Beispiele wie brauzinät
oft abstreichen (zu braukl) über. Im Ganzen ist die Neigung zu
Iterativen dieser Bildung im Lettischen nicht gross, und von der
bei Bielenstein I. 424 gegebenen Liste dürften einige zu strei-
chen sein.
Das Resultat der ganzen Betrachtung ist also, dass sämmtliche
abgeleitete Verba mit -tn- im letzten Grunde auf Adjectiva mit dem-
selben Elemente zurückgehen, also ihre Vocalstufe nicht etwas für
sie selbst ursprünglich charakteristisches ist. Zu erwähnen ist noch,
dass das Lettische die Adjectiva auf -in- fast ganz aufgegeben und
durch andere Bildungen ersetzt hat.
2) -öju -oti, le -äju -ö/, bildet Factiliva und Iterativa. Die
Facti tiva wie z. B. päsakoti erzählen von päsaha Erzählung, byloU
reden von bylä Rede u. s. w. müssen natürlich die Vocalstufe des be-
treffenden Nomens zeigen. Die Iterativa dieser Form sind aber ebenfalls
Denominativa. Bei einer grossen Zahl ergiebt sich das einfach daraus,
dass ein Nominalstamm mit consonantisch anlautendem Suffix an der
Wurzel in ihnen vorliegt, vgl. kilnöti und kilsnöti iter. zu kSUi heben,
ersteres von kilna-s (altes Particip. prät. pass.) hoch, letzteres zu einem
alten Verbalsubstantiv ^kilsnor- Hebung ; kramsnöti (zu krimsti nagen) ;
mirkmioti blinzeln, vgl. mirkmis Blick (also eigentl. »Blicke machen«),
iter. zu mirkti\ girsnöti zu gerti trinken; vyniöti (zu v^ti wickeln),
vgl. kakla-vynijs Halsband; pirszlioti (zu pirszti werben), vgl. pirszlp
Frei Werber; r^pliöti kriechen, vgl. replomis kriechend adv. ; mirkUoti
47^] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 437
blinzeln, vgl. mirklp Blinzler, le mirklis Blick. Nach solchen Mustern
können dann Bildungen entstehen, ohne dass entsprechende Nomina
dazwischen liegen, vgl. tepliöti schmieren {tepti)^ metliöti werfen
[mesti). Ziemlich häufig sind solche Iterativa von Nominibus, die
ein (-Suffix enthalten, daher das Verbum auf -czoti, -szczoti lautet.
So wenig zweifelhaft es sein kann, dass z. B. bad-mirszczöii »vor
Hunger sterben, Hunger leiden« mit seiner Iterativbedeutung ein De-
nominativum von had-mirU! »Hungersnoth« ist, ebenso sicher gilt das
von Bildungen wie mirkczöti oder mirkszczöti blinzeln, räiszczoti iter.
zu riszii binden, U^ükszczoti zucken (auch trtikczoH; dasselbe bedeutet
trükmti) u. s. w. Der Ausgangspunkt der Bedeutung ist die facti-
tive »Blick machen«, »Zuckung machen« u. dgl. Ist das primäre
Verbum, zu dem diese Bildung bezogen wird, ein transitives, so
nimmt das Factitivum ebenfalls transitiven Sinn an, und es entstehen
so für unsere Empfindung reine Iterativa, wie kilnöti u. dgl. Etwas
weniger deutlich liegt die denominative Ableitung vor Augen, wo
das Nomen ein vocalisches, namentlich ä-Yocal enthaltendes Suffix
hat. Litauisch und Lettisch unterscheiden sich hier so, dass ersteres
j vor dem ä (o) bevorzugt, letzteres meist reines ä hat. Der Aus-
gangspunkt der Bildung sind die femininalen d^-Stämme, vgl. päscJca
— päsakoti. Ebenso muss man bei den Iterativen zunächst solche
Stämme suchen, vgl. le bräkät iter. schreien, brökä Geschrei, also
eigentl. Geschrei machen, daher iter. zu brikt; gaudät klagen, iter.
zu gauß, von gawla Klage; glaudät streicheln, zu glauft^ von glatida
Glätte, glaudas Liebkosungen; jaudät, vermögen, gibt Bielenst. I. 386
als Iterativ neben lit. judü judd'ti sich regen, es heisst aber eigentl.
»Kraft haben«, von jauda Kraft; kfawät packen zusammenraffen, zu
kfaut, von kfawa Haufen (also »Haufen machen«] ; alrvaugäie'S rülpsen,
von atr-raugas f. pl. Aufstossen, u. s. w. Die Verpflanzung dieses
so entstandenen ä auf die gleichbedeutende Yerbalableitung von
andern Nominalstämmen bedarf keiner weiteren Erläuterung, sie ge-
schieht wie bei den noch rein factitiv empfundenen (vgl. maität zu
Aas machen vom f. maita^ so g&dät ehren vom m. güds). Im Li-
tauischen sind die Bildungen ohne j bei iterativer Bedeutung selten,
vgl. lanköti (zu lenkti biegen) neben lankiöü; globöti (zu globti um-
armen); mit j z. B. dagiöti (zu de^M brennen); lakiöti [lekiü fliegen);
tdndioti, le lüdät und lufchät (zu lendü kriechen); pasziöti (zu peszti
438 August Leskien, [476
abreissen) ; ränkioü (zu renkü sammeln) ; razgioti (zu rezgü stricken) ;
tapioti (zu tepli schmieren); vadzöti^ le wadäl {vedü fuhren); sagidli
(zu segü heften) ; sakiöti (zu sekü folgen) ; slankioii {slenku schleichen) ;
välkioti^ le walkät {velkü ziehen) ; räiczoti (zu risti rollen) ; Uipioti
{lipn steigen); gyliöti (zu gelli stechen, vgl. gyla heftiger Schmerz,
Stechen, gyl^s Stachel) u. s. w. Diese Formation muss sich von
jä-Stdmmen aus verbreitet haben, vgl. rankd Lese zu ränkioli;
päine Verflechtung zu päinioti (iter. zu pinti flechten). Es scheint
dann allerdings, dass das -jo-ti wesentlich zur Bildung der als
solche schärfer empfundenen Iterativa im Gegensatze gegen die
in ihrer Sphäre verbliebenen Factitiva verwendet ist, wie sich
solche secundäre Unterschiede bisweilen ausbilden, ohne dass man
ihren Ausgangspunkt genau bestimmen kann. Mit der denominativen
Entstehung der ganzen Bildung hängt es zusammen, dass Formen
wie neszioti (iter. zu neszti tragen), die nun ohne Vermittlung eines
Nomens gebildet sind, selten vorkommen.
Charakteristisch für die Bedeutungssphäre dieser Verba ist die
Beschränkung auf den factitiven und iterativen Sinn. Dass sie nicht
als Causativa verwendet werden, beruht auf dem Mangel eines ad-
jectivischen Mittelbegrißes, vermöge dessen die Factitiva auf -iV zu
Causativen werden konnten.
3) -üju -ä/i, le -^ju -ut. Die Bedeutung ist factitiv und, viel
seltener (vgl. S. 431 die Bielenstein'sche Zählung), im Litauischen ganz
selten, iterativ. Die Ueberleitung der einen Bedeutung in die andere
bedarf nach den obigen Darlegungen keiner weiteren Ausführung
mehr, als Beispiel sei angeführt juku'ü als Iterativ zu j&'kti lachen,
das nichts anderes ist als das von jukas Lachen, Scherz abgeleitete
Factitivum, also »Lachen erregen, Scherze machen«, le laiput als
Iterativ zu lipt steigen ist Factitiv von laipa Steg, Steig, also eigent-
lich, wie es auch in der That übersetzt wird: Steige suchen, St^
machen. Die Bildung ist nicht anders als wie etwa äszar&ü^ le
asarut Thränen vergiessen, zu aszarä^ und es ergiebt sich von selbst,
dass die Vocalstufe der Wurzelsilbe dieselbe sein muss, wie die des
zu Grunde liegenden Nomens. Der Grund, weshalb diese Verba
nicht in causativem Sinne verwendet werden, ist derselbe, wie bei
denen auf "Oii.
4) le -äju -U. In der Verwendung dieser Bildung unterscheidet
477] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 439
sieb das Litauische vom Leitischen, ia jenem sind die Verba auf
^eju -eii^ abgesehen von den oben besprochenen Bildungen auf -tn^<t,
überhaupt nicht häufig; wo die Form vorkommt, bildet sie erstens
Factitiva wie ätAleti Kinderwärterin sein {äukli)^ baleti bleich werden,
güdd'ti'S gierig sein {g&das Geiz, Habsucht), ge^reti-s Wohlbehagen
ftthlen {geras), kereti staudenartig wachsen {k^as), kerpeti mit Moos
bewachsen {kirpe)^ kSteti hart werden {k'£tas), maloni'ti gern haben
{malonüs)^ seile'ti geifern [seile Geifer), seneti alt werden {setMs)^
trande'li von Motten zerfressen werden {trandis^ trande'), ^yg^'ti einen
Gang thun {i^gis)^ ap-st-imonHii mit Menschen [zmones) verkehren
n. a. d. A. Zweitens kommt eine kleine Anzahl von Verben vor,
die nicht als denominativ angesehen werden müssen und deren Be-
deutung theils deminuirend, theils iterativ oder vielleicht besser aus-
gedrückt intensiv in Bezug auf die Dauer der Handlung erscheint:
hifre'ti ein wenig streuen oder gestreut werden, kyUti ein wenig
heben, klydäti ein wenig herumirren, lüke'ti ein wenig harren, mir-
szeii nicht im Gedächtniss haben, siaute'ti anhaltend toben, skSndeti
im Ertrinken sein, sütJceti ein wenig schleichen oder rutschen, pa-
üge'ti ein wenig wachsen. Diese .Classe auf -e;u, -Hi ist von der
auf -w, -iw -eii übrigens nicht scharf trennbar. — Im Lettischen da-
gegen ist "^ju -H eine geläufige Factitivbildung, wie gaUt endigen [gaU
Ende), melH bepfählen {mets Pfahl), pratU klügeln [prats Verstand)
u. s. w. Der vom zu Grunde liegenden Nomen abhängige Wurzel-
vocal bedarf hier keiner weiteren Erörterung. Die Iterativbedeutung
(s. Bielenst. L 410) fehlt hier fast ganz, von den 13 Beispielen Bielen-
steins sind sicher noch einige zu streichen, wie geJbH helfen, kasH
husten. Dagegen wird eine etwas grössere Zahl (25 mit Abrechnung
der ein suffixales d enthaltenden, von denen unten) der Gausati v-
classe zugeschrieben (ebenda I. 408). Auch diese Zahl verringert
sich, wenn man die offenbaren Factitiva (Denominativa) , die darunter
stehen, ausscheidet, z. B. dldfst keimen lassen, in Keime legen, zu
dlg% Keim; dvb^t höhlen, zu dube-, jauzät gewöhnen, zu jauks] kw^H
räuchern, zu hwBpes Dunst; slapSt nass machen, zu slapjsch [szläpias)
nass; slipät schräge machen, zu sllps schräge. Bei Bielenstein er-
scheint slapöt nur deswegen als Causativum, weil litauisch ein in-
transitives szlampü szläpti nass werden vorhanden ist. Ausserdem
ist zu beachten , dass neben den Formen auf -6t mehrmals Neben-
Abhandl. d. k. S. Geaellech. d. Wissenscli. XXI. 30
440 AuGDST Lbskien, [479
formen auf -irUU existiren, z. B. audßnät neben audfst wachsen lassen,
aufziehen; balinät bleichen, bal€t; didßnät^ didfät; kaltinät dörren,
kaltät'^ karsinät erhitzen, karsBt. Mir erscheint daher die Sachlage
so, dass, weil Factitiva wie z. B. draudßnäl Freund machen, be-
freunden und draudßt dss. (zu draugs) gebildet werden können, ge-
legentlich auch ein Factitivum auf -H der Analogie des Anät in seiner
causativen Anwendung gefolgt ist. Jedenfalls liegt eine selbständige
Beziehung zum Wurzelvocal auch bei den Iterativen und CausaÜTen
nicht vor.
5) le -^ (primäre Präsensbildung) -H. Von einer Abtheilung
dieser Verba, so weit sie den litauischen primären auf -u (-tu), -et»
(wie smirdi'U u. dgl.) parallel laufen, war bereits S. 412 als einer
Classe der primären die Rede. Bielenstein führt I. 441 unter seiner
Abtheilung d Frequentativa (Iterativa, Durativa, Intensiva)a 43 Verba
als solche Bedeutung tragend auf (wobei die mit suffixalem d oder
andern Suffixen an der Wurzel abgerechnet sind). Will man aber
die Gattung »Iterativum« rein herausschälen, so müssen beträchtlich
viele abgerechnet werden, die entschieden keine Wiederholung aus-
drücken; ich führe hier nur an: nür-bäletj einfach Denominativ von
bäh (bleich), erbleichen; dusSt keuchen, lit. düse'ti; gribU wollen;
küpet rauchen; minH gedenken = lit. mine'ti; n€fH jucken = lit.
neiüti ; riUt rollen ; riUt dünn werden ; sausH trocken werden, denom.
von saüsas trocken, von Bielenstein als hierhergehörig, betrachtet,
weil es ein übrigens ebenfalls denominatives primär flectirtes saustu
im Litauischen giebt; smirdet =: lit. smirde'ti; spidH glänzen = lit.
spinde'ti ; ßbet flimmern = lit. iibi'ti ; dßrdöt = lit. girde'ti hören u. a.
Bei allen diesen kann von iterativer Bedeutung nicht die Rede sein,
und es ist mir beim Durchgehen des Bielensteinschen Verzeichnisses
überhaupt zweifelhaft geworden, ob darin ein im eigentlichen Sinne
iteratives Verbum enthalten sei. Jedenfalls ist ihre Anzahl sehr
unbedeutend. Im Litauischen giebt es in dieser Flexionsciasse eine
ziemliche Anzahl entschiedener Denominativa , vgl. baisi&'s baisi'tis
Abscheu haben {baisä^ baisüs), biaurd^ti-s dss. {biaurüs)^ laimiu
laimüti gewinnen {}aima Glück), nortu norüti wollen {noras Wille),
räisziu raiszi'ü lahmen [raiszas lahm), sausiü sausHii trocknen intr.
{saüsas trocken), at-siüliü, -siüle'ü besäumen {siüle Nath, von näti
nähen), süriü süre'ti salzig werden (^ro« salzig), sz/i^kszczu szykszli'ti
^79] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 441
geizen {sz^ksztm geizig); ebenso wird es sich wenigstens z. Th. auch
mit solchen verhalten, die im Präsenssuffix nicht j (i) zeigen, wie
badü hade'ti Hunger leiden {bädas), dülka didketi stäuben {dülkes Staub),
penü pene'ti mästen {p^nas Futter). Natürlich können Fälle wie pene'ti
und selbst nore'ti als primär angesehen werden.
6) 'ifju -^/ti, le -tju 'iL Ueber die Natur dieser Verba wird
man kaum mit Sicherheit ins Reine kommen. Unter den litauischen
Beispielen ist eine solche Menge slavischer Lehnworte, dass man
zweifeln kann, ob die ganze Bildung überhaupt ursprünglich dem
Litauischen zukommt und nicht die wenigen Beispiele, wo echt li-
tauische Worte zu Grunde liegen, wie dalpi theilen, von dalis Theil,
nur Nachbildungen der aus dem Slavischen aufgenommenen sind.
Jedenfalls ist die Zahl der Beispiele, deren nominale Grundlage
litauisch ist, gegen die Zahl der Lehnworte und der sonstigen Facti-
tivbildungen (auf -(hii, -Ur-ti^ An-ti) sehr gering. Bielenstein rechnet
die von ihm L 400 aufgezählten 50 Beispiele alle als Denominativa
(Factitiva in unserm Sinne). Das leuchtet bei vielen ohne weiteres
ein, z. B. müdtü ermuntern, zu mudrs munter, pelnü erwerben, nur
pelns Erwerb u. s. w., bei anderen aber keineswegs, z. B. rufilß-s
sich recken entspricht dem litauischen iterativen rqzyti recken, präs.
rqzau und kann ganz wohl sein Präsens r&fiju statt eines älteren
^rufu (=: lit. rqzau) einem Uebergang in diese Flexionsciasse ver-
danken, wie sich denn überhaupt im Lettischen -iju -it und -^ -U
nicht ganz scharf auseinanderhalten lassen, vgl. z. B. le dalu dalU
neben lit. dalyjü dalpi. Und hier tritt eben die Frage ein, wie das
lettische f eigentlich aufzufassen sei. So weit die Worte dem Litaui-
schen und Lettischen (ohne Fremd werte zu sein) gemeinsam sind,
hat das erstere entweder -au -yfo*, z. B. pelnaü pelnijü — le pelniju
pelnit; we'tau we'tyti worfeln — le wBltju wötit; oder -inti, z. B. gausinti
reichlich machen — le gausiju gaimi; szvinlinti heiligen — le switit\
oder -jyM -yft: romyju römyii castriren — le rämit; szirdyti-'S sich
zu Herzen nehmen, zürnen, le sirdUS-s. Da nun ein älteres gatmnti
auf normalem Wege der Entwicklung zu gautslt im Lettischen werden
musste, wir aber oben sahen, dass die geläufigen Factitiv- und Gau-
sativbildungen auf -4^1 späteren Ursprungs sind, so bleibt die Mög-
lichkeit, dass eine Anzahl dieser lettischen Verba auf -it ältere auf
•4nti in sich schliesst, die ganze Classe also eine Mischklasse aus
80»
442 AuGDST Leskien, [4^0
drei verschiedenen Bildungen (urspr. -au -yti; -inu -inti\ -jyti -yti)
»
darstellt. Die beiden letzteren Fälle sind jedenfalls Denominativa,
kommen also für die Betrachtung des Ablauts nur in Bezug auf die
zu Grunde liegenden Nomina in Betracht. Die Yerba auf hiu -j^lt
betrachten wir besonders.
7) lit. -a«- -yri, le -u --lt. Diese Form ist in beiden Sprachen
die geläufigste Iterativbildung, die namentlich im Litauischen die Zahl
der anderen Iterativformen bei weitem überragt. Daneben bildet sie
Causativa, aber z. B. im Lettischen stehen den 134 von Bielenstein
aufgezählten Iterativen eigentlich nur 7 Causativa gegenüber, da die
weiteren Beispiele (I, 435) durch Zusatz von d an die Wurzel ge-
bildet sind und besonders gestellt werden müssen. Im Litauischen
ist eine genauere Bestimmung über das Verhältniss der Bedeutungs*
classen (iterativ und causativ) sehr erschwert durch die fast allge-
mein eintretende Ersetzung der Form auf -inli durch -{11 (veranlasst
durch die Futura auf -fstu), was bei der z. Th. sehr mangelhaften
Ueberlieferung litauischer Worte nicht selten zu Verwechslungen mit
den Verben auf ursprünglich -^ti geführt und zur Gonstruction eines
Präsens auf -au veranlasst hat (so ist z. B. ein bei Nesselmann stehen-
des alsau alsyti neben dem gewöhnlichen alsinti, müde machen,
durchaus unsicher). Aber auch aus dem sicheren Material ergiebt
sich, dass die Causativa durchaus in der Minderzahl sind; dazu
kommt, dass manche von den sichrer belegten gebräuchlichere oder
ebenso gebräuchliche Nebenformen auf -41111 haben, vgl. grasaü-s
gras^ti-8 Ekel haben — grasinti verekeln; gesaü gesujü löschen trans.
— ge9%nU\ gramzdaü gramzdpi versenken — grarnzdifUi-, grüdau grü-
dyti härten (Eisen) — grudinti ; naikpi — natkinti vertilgen ; skand^
— skandinti ertränken u. s. w., so dass man zweifelhaft bleibt, ob
nicht ein lautlich mit skatidpi zusammenfallendes skahdiü in solchen
Fällen erst die Veranlassung eines skandaü gewesen sei.
Das formale Hauptcharakteristicum dieser Classe ist die Differenz
des Präsensstammes vom Infinitivstamm , ersterer lautet auf -o- (ä),
letzterer auf -1- (j/) aus: däng-o-^me, aber äang-^-ti; diese Bildungs-
elemente treten entweder unmittelbar an den Wurzelauslaut , oder
zwischen diesem und jenen steht st {däng-sUhme, dang-st^Ü). Die
Wurzelsilbe hat mit Ausnahme einer geringen Zahl von Fällen die
Hochstufe; mit Tiefstufe (z. Th. bei Nebenformen auf -init) kommen
4B:4] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 443
vor: brindau brindyti quellen machen; dilgyti mit Nesseln brennen;
dirgyti in Unordnung bringen (zu dirgstu dirgti in U. geratben);
gvildyti ausschlauben ; ftm/^j^ti anspannen; minkyti kneten ; mirkpi ein-
weihen; spirgyü braten; smilk^ti Dunst machen; tirj^ti schmelzen;
vilgyti anfeuchten ; zindyii säugen ; — gnidyti härten ; plukpi schwem-
men ; püszkyti plätschern ; sukyti in die Runde eggen ; — lip^ti kleben
trans.; tikyti zielen. Mit -str-: pilstytiiier. zu pilti; skirstyii iter. zu skirti;
ie iistlt iter. wickeln ; — dürstyti iter. zu dürti ; le güstü iter. haschen ;
le ktdstU iter. zu kult; Ie kurstU iter. zu kurt; pustyti stuhmen iter.
zu püsH; ukstyli-s sich beziehen (vom Himmel); — l^pstyti berühren;
le ristU schlingen iter. zu nt; v^styti wickeln iter. zu v^ti.
Bei den Bildungen, die in der Wurzelsilbe Hochstufe aufweisen,
wie skandaü skandpi^ liegt es ja nahe genug, eine Verbindung mit
der indischen Causativform zu suchen. Bei Schleicher (Comp.^ 330)
wird auch gelehrt, -o- des Präsens sei aus -o/o-, -y- des Infinitivs
aus demselben zu -iji- geschwächten -aja- entstanden, nachdem das
j ausgefallen. Dass dies lautliche Unmöglichkeiten sind, bedarf jetzt
keines Beweises mehr, es wird auch jene Ansicht wohl allge-
mein aufgegeben sein. Wir sind nicht im Stande, das präsentische
-0- weiter zu analysiren, ebenso wenig wie das infinitivische -y- und
zwischen beiden ist keine lautliche Beziehung herstellbar, so weit
unsre Erkenntniss der Vocalverhältnisse jetzt reicht. Das Slavische
legt den Vergleich mit seinen Denominativen (Factitiven und Itera-
tiven) wie moriti, nositi nahe, allein hier fehlt ebenfalls eine plau-
sible Erklärung des I, ausserdem hat das Präsens dasselbe l
{nosir-mz), lässt sich daher mit der litauischen Form nicht zusammen-
bringen. Bei dieser Sachlage hat man zunächst den Versuch zu
machen, ob diese Bildung sich aus dem Litauischen selbst erklären
lässt oder wenigstens ein Ansatz zu einer Erklärung gefunden wer-
den kann. Nun scheint es mir zweifellos, dass die zahlreichen Verba
dieser Glasse auf -sto-, -sty- (-szfo-, -szly-) reine Denominativa von
Nominibus auf -«fo- {'SZta-) sind, vgl. krapsztpi stochern (mit einem
spitzen Instrument) — krapsztas (eig. Kratzer) Kratzhamen; lankstpi
iter. biegen — lankstas Biegung; maksipi iter. flechten, stricken —
makstas Netzstricknadel {mezgü); ramstjliti stützen — rämstis Stütze;
vaUistpi iter. schleppen — le walksts Zug; baugsztjliü scheu machen
— batigsztüs scheu; raisztaü raiszbjti iter. binden — raisztas Binde;
444 August Leskien, [482
smaigstpi einstecken (in die Erde) — smaigstis Stange (also eig.
pfählen, Stangen). Von solchen Mustern aus sind die übrigen, bei
denen ein derartiges Nomen nicht nachweisbar ist, ausgegangen, wie
barstpi zu beriü streuen; dangstijti zu dengiü decken u. s. w., die
schliesslich zahlreicher geworden sind als diejenigen, bei denen die
Vermittelung eines Nomons noch erkennbar ist. Ist dieser Gesichts-
punkt richtig, so wird eine Wahrscheinlichkeit für die denominative
Abstammung auch der Verba dieser Classe auf -o — y- ohne -st- ge-
wonnen. Ich stelle nur als Thesis hin, dass diese Iterativa ursprünglich
Factitiva sind, bedeutend »dies oder das herstellen, sich mit dem und
dem abgeben«, woraus dann auf dem früher angegebenen Wege die
Iterativbedeutung hervorgegangen ist. So wäre also z. B. bradaü
{brädo-me) bradpi (iter. zu bristi waten) eine Ableitung von bradä
das Waten; dangaü [dängo-me) dangpi (iter. zu dengiü) von einem
'dangä {ap-dangä), also eig. »Deckung machen«, und ich bin der
Meinung, dass das -o- des Präsens ursprünglich von zu Grunde lie-
genden femininalen ä-Stämmen ausgegangen ist, genau wie das ä (o)
in den Iterativen auf -o;u, -o2t, von da aus sich aber, wie bei der
letztgenannten Classe, auf Ableitungen von Nominibus beliebiger an-
derer Form verbreitet hat, dass endlich Verba dieser Form auch
ohne Vermittelung eines Nomons auf der einmal vorhandenen Grund-
lage entstehen konnten. Was die Flexion des Präsens betrifft, so
besteht der Unterschied von den Präsentia der Factitiva und Iterativa
auf -oti darin, dass letztere als Präsenssufßx -jor- haben, bei den uns
hier beschäftigenden Verben aber die Personalendungen unmittelbar
dem Nominalstamm angefügt werden: dängo-^ne. Ich brauche kaum
hervorzuheben, dass die oben ausgeführte Hypothese so lange eine
sehr unsichere bleibt, als es nicht gelingt, den Infinitivstamm auf -jf-
befriedigend zu erklären. Was die Stufe des Wurzelvocals betriflO^ so
hätte sie ihren Grund in der durchgehenden Bevorzugung der Hochstufe
bei den betreffenden Nominalsuffixen. Ferner würde die gegebene
Erklärung, die diesen Verben facti tiven Sinn zuschreibt, den Grund
enthalten, warum sie durchweg in iterativer, nicht aber in causativer
Bedeutung gebraucht werden.
8) Die Bildungen mit dem Zusätze d an der Wurzel : Causativa
und Iterativa auf -dau^ -dyti, Schleicher's Beobachtung Gramm.
S. 1 58, dass diese Bildungen selten Iterativ-, meist Causativbedeutung
483] Dbr Abladt der Worzelsilbbn im Litacischen. 445
uad öfter geschwächten Yocal hätten, ist richtig ; bei einer grösseren
Zahl von Beispielen als Schleicher giebt tritt der Unterschied noch
stärker hervor. Im Lettischen sind bei Bielenstein unter 134 Itera-
tiven auf -ti U nur 13 mit d, dagegen unter 22 Causativen auf -u
"U 15 mit d. Da nun auch das Litauische überhaupt nur schwache
Neigung zur causativen Verwendung der Bildung auf -au -yti hat,
mit dem Bildungselemente d aber eine grössere Anzahl in dieser
Bedeutung besitzt, muss die causative Anwendung ursprünglich von
dem d abhängen. Charakteristisch ist fUr die Causativa die Tiefstufe
der Wurzelsilbe, während die Iterativa die Hochstufe zeigen, vgl.
a) Tiefstufe: i (der e-Reihe). Causativa: le birdit streuen {birti
ausfallen), dildyti abnutzen {dilti sich abnutzen), gimdpi gebären
{gimti geboren werden), girdyti tränken {gerti trinken), le irdtt reffein
{irti sich trennen), le zildit zu etwas bewegen (eigentl. »sich heben
machen«, kilti sich heben), pildau pildyti füllen (le pilt sich füllen),
szildaü szüdyti wärmen {szilti warm werden), tildyti schweigen
machen {tilti verstummen), Ivindyii schwellen machen {tvinti an-
schwellen), vimdyli erbrechen machen [vemti sich erbrechen), virkr-
dyti weinen machen {vei'kti weinen). Iterativa: le midit (zu minti
treten), spirdyti (zu spirti mit dem Fuss ausschlagen), le tirdlt forschen
{zntirti, vgl. lit. tirdine'ti iier. dem.). — U. Causativa: gtUdpi legen
{gulti sich legen), kliüdpi anhaken machen [kliüti anhaken intr.), klupdpi
stolpern machen {klüpti stolpern), plukdpi schwemmen {plukti schwim-
men), püdyti faulen machen [püti faulen), siüdyti nähen lassen {siüti
nähen), tupdpi hocken machen {tüpü hocken), trukdpi weilen machen,
aufhalten {irukti sich hinziehen, zögern), zudpi umbringen [iüti um-
kommen). — i, Causativa: le bidit in Furcht setzen [btte-s sich
fürchten), le didlt hüpfen machen (d^r hüpfen), g^^dyti heilen {g^ti
intr.), hjdyti schmelzen (eigentl. sich ergiessen machen, vgl. Ipi
regnen == sich ergiessen), lipdyti ankleben {lipti intr.), migdpi ein-
schläfern {migti einschlafen), püdyti zum Milchgeben reizen (eigent.
strotzen machen), le rldtt hetzen {ret bellen), le smldit lachen machen
{smgl lachen), ivigdpi quieken machen [ivigti aufquieken). —
b) Hochstufe: d. Iterativ: tdrdyti (zu tirii forschen), spar dyti
(zu spirtt), le tramdit »durch Trampeln scheuchen« {tremt). Causa-
tiv: ' Stabdpi aufhalten (vgl. ste'bti-s sich stemmen). Einige kann man
zugleich als causativ und iterativ ansehen: ardpi trennen iter. ist
i46 August Leskien, [1S4
Causativum zu irti sich auftrennen; nard^ii iter. zu nerti untertauchen,
caus. zu nirti intr. untertauchen; rämdyti beruhigen iter., caus. zu
rimti ruhig werden ; skdldyti iter. zu skelti spalten, caus. zu diilti sich
spalten. — (lU. Iterativ: spiäudyti (zu spiäuti speien), gäudyti
fangen (zu gäutt)^ szäudyti (zu szäuti schiessen). — ai. Iterativ: le
smaidll (zu smet lachen), skraidyti (zu skreti kreisen, fliegen). C au sa-
li v: baidpi scheuchen [bijöti-s sich fürchten). — Sehr selten sind andere
Yocalstufen: temdyti dunkel machen {temti dunkel werden), ieldyti
wachsen machen {zelti wachsen, grünen). Es ist nicht zu verwundern,
dass mit der Causativbildung auf -d- sich die gewöhnliche Causativform
auf -fV verbindet, und so Formen zu Stande kommen wie le birdinäl
(neben birdlt)^ smidinät neben smidlt^ lit. girdinti tränken neben
girdyti^ vgl. trimnd-inti zittern machen, stab-d-inti aufhalten, kliüdinti
anhaken machen, g^dinti heilen, l^dinti schmelzen, wozu zum Theil
oben die gleichbedeutenden Yerba auf -yti angeführt wurden. Femer
ist es begreiflich, dass im Lettischen bei seiner Verwendung des
-inät zugleich in iterativem Sinne bisweilen auch ein Iterativum auf
-dmä^ erscheint, z. B. jädimt reiten lassen und oft reiten. Bekanntlich be-
sitzt das Litauische fast unbeschränkt die Möglichkeit, von jedem beliebigen
Verbum vermöge der Anfügung von -din-ti ein Causativum zu bilden
in dem bestimmten Sinne unseres »das und das thun lassen«, z. B.
kirs-dinti »hauen lassen« {kertü, kirsti) ; sv^kinu (Factitivum zu »veütas
gesund) grüssen — sveikindinii grüssen lassen ; sverdinti wägen lassen
{ßverti wägen) u. s. w. Bei solchen Ableitungen von selbst bereits
abgeleiteten Verben versteht sich die Stufe des Wurzelvocals von
selbst, bei der Ableitung von primären ist die des Infinitivs mass-
gebend. Das Lettische kennt nun eine so weit gehende Anwendung
des d nicht, bei dem sonst gleichartigen Auftreten desselben ist es
daher sicher, dass im Litauischen dieser Gebrauch von einer Anzahl
ältererer, in ihrer Art mit den Lettischen sich deckender Fälle aus-
gegangen ist. Geht man die oben angeführten Beispiele durch, so
zeigt sich, dass durchweg das dem Causativ auf -dy-ti gegenüber-
stehende primäre Verbum ein inchoativ-intransitives oder einfach in-
transitives Verbum ist, also jedenfalls etwas Zuständliches bezeichnet,
vgl. iudpi umbringen — ziUi umkommen, püdyti — püti faulen,
g^^yti gjSfdinii zu g^ti (heilen intr.) u. s. w., woraus sich von selbst
der Sinn: umkommen, faulen, heilen lassen ergibt, und ich glaube.
485] D£R Ablaut der Wurzelsilben im Litauischen. 447
dass diese Beziehung der Anlass zu der allgemeineren Verwendung
des d gewesen ist. — Den Ursprung dieses d zu untersuchen ist
hier nicht meine Aufgabe, es milsste in weiterem Zusammenhange
geschehen. Nur darauf möchte ich hinweisen, dass in einigen hier-
her gehörigen Verben wohl sicher Nomina mit (2-Suffixen zu Grunde
liegen, vgl. le birdity birdinät streuen — birda Sprühregen (Streuung) ;
baidpi, le baidit baidinät — le baida Schreckniss; le dfemdät dfem-
dinüt gebären — dfemde uterus; le smaidlt (iter. zu smit) — le
smaida Lächeln; guldpi legen — üz-gulda Grundlage u. a.
9) Die Verba auf ^auju -auti des Litauischen. So weit die-
selben denominative Factitiva sind, wie sz^äuti Heumachen, karäuii
Krieg fuhren, keliäuti reisen u. s. w. zu szinas, käras, kelias bedarf
der Vocal der Wurzelsilbe keiner Erörterung. Daneben giebt es aber
eine geringere Anzahl von Iterativen, fast nur zu solchen Verben,
die einen Schall irgend welcher Art bezeichnen. In diesem Falle
hat der Wurzelvocal mit Vorliebe Tiefstufe und Länge, wo diese
eintreten kann, vgl. bliüvauti (zu bliüti brUllen), bubatUi dumpf brüllen,
düsauti seufzen, kl^kauti schreien, r^kauti jubeln, schreien, stügatUi
heulen, szükauti dss. {szaükti), virkauti weinen, szvüpatUi pfeifen,
ivingatUi wiehern u. a. d. A.
10) -au 'Oti, -sau -sott im Litauischen, bildet Intensitiva (s. o.
S. 430); charakteristisch ist die Tiefstufe des Wurzel vocals und
zwar die Länge, wo diese eintreten kann (vor einfachem Gonso-
nanten), vgl. i^ (der e-Reihe). bl^iau (plur. bl'^iome) bl^ioti ange-
schmiegt daliegen; br^dau brjjidoti im Wasser (nach Hineinwaten)
stehen; drj^bau dr^boti in Klumpen hangen; k^bau kijboti sich im
hangenden Zustand befinden; Itndau lindoti wo stecken (hineinge-
krochen sein) ; lingau lingoti schwanken ; njmau njmoti aufgestützt
liegen, sitzen u. s. w.; sti^au scroti steif dastehen; i^au tisoti aus-
gestreckt liegen. Mit s: dilbsaü dübsöti glupend dastehen; linksaü
linksöti gebückt dastehen ; mirksaü mirksöti eingeweicht liegen ; mirksaü
mirksöti mit halb ofienen Augen dastehen ; rinksaü rinksöii {ring-, rengiü)
gekrümmt sitzen; titnpsaü timpsöti ausgestreckt daliegen; vypsaü
vypsöti mit halb offenem Munde dastehen; iirgsaü zirgsöü mit ge-
spreizten Beinen dastehen. — Ü. glüdau glüdoti angeschmiegt da-
liegen; kiütau kitUoti dss.; klüpau klüpoti auf den Knien liegen. Mit
8: kniüpsau kniüpsoti gebückt dasitzen; niuksoti im Dunkeln daliegen;
448 August Lbskibn, [486
stügsau stügsoti steif dastehen. — %• dp'au d^roti glupend dastehen;
h^szau kijszoli irgendwo stecken; slijgau st^goti auf einer Stelle ver-
weilen; sz'^psaU'S szi/psoti'S grinsen. Gelegentlich verfallen diese
Verba im Präsens in die Flexion der Denominativa auf -oju -oH^
daher mögen umgekehrt so flectirte Verba, deren Vocal die Tiefstufe
hat, wie grizöti {-dju) schwanken, svyröti dss. ursprunglich hierher-
gehören.
Sehr selten sind andere Yocalstufen, z. B. derksaü derksaU
lümmelhaft (wohl eigentl. unfläthig) dasitzen (zu derkti); vepsaü vep-
söti (neben vypsöti) ; repsaü repsöti plump (eigentl. in Kriechlage) da-
liegen; szmgkszaü szmekszoti im Halbdunkel, gespensterhaft dastehen;
in tekszaü tekszöti lümmelhaft daliegen repräsentirt e die Tiefstufe.
Um das Yerzeichniss dieser «-Bildungen zu vervollständigen füge ich
noch die mir bekannten übrigen Beispeile hinzu, die theils in ihrer
Ableitung unklar sind, theils überhaupt keinen Ablaut der Wurzel-
silbe zeigen: branksaü branksoti emporstarren; dunksaü dunksöti da-
liegen ; kiurksaü kiurksöti eingehüllt dasitzen ; kumpsaü kumpsöti krumm
dastehen, -sitzen (kümpas krumm, kümpti krumm werden); niurksaü
niurksöü düster, brütend dasitzen; pampsaü pampsöti aufgedunsen da-
liegen (vgl. pämpti aufdinsen); sziurpsaü sziurpsöti aufgerichtet stehen
(von Haaren), zu sziürpti horrere; tursaü tursöti mit vorgestrecktem
Hintern stehen ; rqksaü roksöti plump dasitzen, -liegen ; vampsaü vamp-
söti mit offenem Munde dastehen (vgl. vamplp) ; iiopsaü ziopsöti dss.
(vgl. zioplp). Es möge endlich noch darauf hingewiesen werden,
dass eine Bildung mit s z. Th. gleicher Bedeutung mit e-Vocal be-
steht, Inf. 'Seti^ Präsens -su oder -^'ti, vgl. dilhm dilbsUti glupen,
mirksiu mirksefti blinzeln u. e. a. Die Zahl' dieser Verba ist indess
so gering, dass ein bestimmtes Verhältniss des Wurzelvocals sich nicht
ergiebt.
1 1 ) Iterativa mit gedehnter Wurzelsilbe. Die Dehnung des Vocals
wie in den slavischen Iterativen Hkati (zu tekq), birati (zu bhraU}^
sylati (zu szlati) u. s. w. findet sich ebenfalls im Litauisch-Lettischen,
wenn auch selten, z. B. ^. me'tau metyti, le metät werfen (vgl. sl.
milati), zu metü werfen; le n€8ät, zu nest tragen; le pdit schmähen,
zu pelt; le r^gätß-s sich umsehen, zu redfet^ lit. rege'ti sehen; le
schk'elel spalten (indess wohl Factitiv zu schkßle Spalt) von schk'elt
spalten. — %• le dirät schinden (vgl. sl. dirati zu derq dbrati)^ zu
487] Der Ablaut der Wurzelsilben im Litauiscben. 449
dirti; m^iotiy le mtnät^ zu mirUi treten (vgl. sl. minati zu mhnq);
tn^toti, zu trinti reiben. — Ü, le schl'ükäl gleiten, zu schlvkl\ le
küsäl aufthauen, zu hast.
12) Die mit verschiedenen Suffixen gebildeten, ursprünglich
sämmtlich denominativen Deminutiva haben selbstverständlich die
Vocalstufe des zu Grunde liegenden Nomens, daher a) die mit -ab-
gebildeten (vgl. oben S. 419) vorwiegend die Hochstufe, vgl. därba-
liuti arbeiten, gargaliuti röcheln, margaliüti bunt schimmern, särga-
liüti kränkeln, svämbaliuti baumeln, vartalioii wenden ; dugalüti schnell
wachsen; le straipal'ät taumeln, le staigal'ät hin und her gehen.
Dagegen le krltarät öfter ein bischen fallen, le pirkalät dem. zu pirkt
kaufen, mmbaliuti taumeln. — b) Die auf -ur-, -id- gebildeten be-
vorzugen die Tiefstufe, öfter mit Dehnung, vgl. k^burti hjburioti
zappeln; kniburioti kn^burioti Fingerarbeit thun, kniewein; le tipul'ut
trübe werden (sich beziehen) ; vingurioti krümmen ; virkulioti weinen ;
güduriuti jammern; krütulioti sich regen; lükurii lükurioti harren;
plüdurti auf dem Wasser treiben; ziburiuti flackern {iiburjjis); sklidi^
riüti gleiten, schwimmen. — c) Bildungen auf -ter- (daneben -tef-)
mit dem Nebenbegriff des schnellen, plötzlichen Geschehens ; sie sind
im Litauischen am häufigsten und haben als ursprüngliche Regel
wohl die Tiefstufe, zuweilen gedehnt, wo Dehnung eintreten kann,
vgl. gr{itereti ein wenig knicken, sich verdrehen; kimsztereti leicht
anstossen {kemszü kimszti) ; kirptereti (zu kerpü. kirpti schneiden,
scheren) ; kirstereti (zu kertü kirsti hauen) ; kripsztereti rascheln (vgl.
krapsztpi stochern) ; linMereti ein wenig mit dem Kopfe nicken {lenkti
biegen); mirktereli blinzeln {merkti die Augen schliessen); slinkt^eti
ein wenig rutschen {slenkü slinkti schleichen, gleiten); szvilptereti
pfeifen {szvilpti) ; tistereli {tisti sich strecken) ; trimlereti ein wenig
nachlassen (von Schmerzen; trimti); trinktereti erdröhnen {trinke'ti
dröhnen, trenkti stossen); ivilgtereti kurzen Blick thun [zvelgti).
— czüptereti und czüptereti zupfen; glüstereti sich leicht anlehnen;
krüptet'eti zusammenfahren; lükteliu ich zaudere; lüztereti ein wenig
einknicken; rügtereti ein wenig sauer werden; szüktereti etwas
schreien ; tnikteriti, trukteliu zucken ; iüptereti schnell kauern ; üglereti
schnell ein wenig wachsen. — d^gtereti Seitenstechen bekommen ;
drjjktereti sich plötzlich etwas herablassen {drj^kti herabhangen,
sich herabziehen ) ; drikstereti plötzlich reissen (zu demselben
150 AC4&lftT LCMIES, DfLM AmjUT »CB WcftZElÄlUD Ol LffACBCMKa. l^
drt^kti^ ; kffpUreü »ich äcbaell eia wenig wenden: pjkiereii etwas
ly>.^^ Herdeo: k^ztereti {ilotziich ein wenig stecken; zgbter^ü
iihtereli auch tehlereii^ dem, leachten. Von diesen Beispielen ans
g^^hl dann dai» -Inreli weiter, es ent^teben Biklongen wie ImstereU^
da» Deioinutiv vom Iterativ lauAyii zu /Si gieäs^i n. a. d A.
Verbessenmgen und Nachträge.
S. 270 Z.tf V. o. K anderen st. stammen.
8, 293 in der Ueberschhft füge nach au ein: at^.
H. t93 Z. IS V. o. 1. bUcrifnoM bUavikas; Z. 2« ▼. o. 1. brkkimas,
8. 940 anter Hs^fj ist einzafügen : ^ rifkssczei, r^ks:tesos ans Stricken geflochtene Hea-
trage.
9« 373 einzufligen: o* raiulM radaü räsU finden. — €U rödam rödyti zeigen (caaa. finden
machen).
H, 37S ZU vöffs ist das Cilat aosgeCallen and mir nicht mehr auffindbar, so dass ich für
die Richtigkeit der Form nicht einstehen kann.
8. 404 einzofilgen: fnaudiu maudiaü tnaüsU sehnlich verlangen [äp-mtmdas Yerdrass).
Inhaltsverzeichniss.
N -s -v'V'^
Seite
Vorbemerkung 865
A. Alphabetisches Verzeichniss der Beispiele.
Allgemeine Bemerkungen 268
l. i y S ei {y) ^' od (q/) 27«
II. u ü u au [av] ov 293
III». i i e i a o (ä) 320
IIP. e i a o [a] 360
\V. e a e [ä) 370
y. a 0 [a] 372
Anhang ö 378
B. Die Sphäre der einzelneii Vocalstnfen 38«
I. Im primären Verbum 381
1. Die Reihen 1— III 384
I. Im primären Verbum, dessen Nichtpräsensformen
keinen durch d oder o erweiterten Stamm haben . 381
A. Dieselbe Stufe im ganzen Formensystem 381
a. % der Reihe % y e \x, s, vf 384
1. Yerba mit inchoativer oder intrans. Bedeutung ... 384
a) Präsens auf -^« 384
ß) Präsens mit infigirtem Nasal 385
Y) Präsens mit Dehnung zu y 385
S) Präsens mit a [e~o) 386
8. Yerba ohne ausgeprägt inchoative u. s. w. Bedeutung 386
a) Präsens mit Suffix a 386
ß] Präsens mit Suffix Ja 387
b. u der Reihe t« « S u. s. w 387
4. Yerba mit inchoativer oder intrans.-pass. Bedeutung . 388
a) Präsens auf -^tf 388
A. Gonsonantisch auslaut. Wurzel 388
4. Yocal ü 388
2. Yocal ö 389
B. Yocalisch ausl. Wurzel 390
ß) Präsens mit infigirtem Nasal 390
452 August Leskkn, [490
Seit«
y) Präsens mit Suffix a 392
A. GoQSonantisch auslautende Wurzeln 392
B. Yocalisch auslautende Wurzeln 392
6) Präsens mit Suffix ja 393
2. Yerba ohne ausgeprägt inchoative u. s. w. Bedeutung.
a) Mit Präsenssuffix a 393
A. Gonsonantisch auslautende Wurzel 393
B. Yocalisch auslautende Wurzel 393
ß) Präsenssuffix ya 393
A. Durchgehend kurzer Yocal 393 |
* B. Durchgehend langer Yocal 393 j
C. Wechsel von u und ü 394
c. i der Reihe i y e u. s. w 394
1. Yerba mit inchoativer oder intrans.-pass. Bedeutung . 394
er) Präsens auf -tu 394
A. Gonsonantisch auslautende Wurzeln 394
4. Yocal durchgehend y 394
2. Yocal durchgehend i 395
B. Yocalisch auslautende Wurzeln 396
ß) Präsens mit Nasal 396
y) Präsens mit Suffix a 397
A. Gonsonantisch auslautende Wurzel 397
B. Yocalisch auslautende Wurzel 397
2. Yerba ohne inchoative u. s. w. Bedeutung 398
a) Mit Präsenssuffix a 398
A. Gonsonantisch auslautende Wurzeln 398
B. Yocalisch auslautende Wurzeln 398
ß) Mit Präsenssuffix ja 397
d. Yocal e, allein oder im Wechsel mit i 398
\, Yerba mit inchoativer oder intrans.-pass. Bedeutung . 398
a) Präsens auf -tu 398
ß) Präsens mit Nasal 399
y) Präsens mit Suffix ja 399
2. Yerba mit durativer oder transitiver Bedeutung ... 399
a) Suffix a 400
• ß) Suffix ja 400
4. e ohne Wechsel mit ä 400
2. e im Wechsel mit ä 402
A. Wurzelauslaut momentaner Consonant, Sibilant 402
B. Wurzelauslaut r, l, m 402
e. Yocal au 403
1. Yerba mit inchoativer Bedeutung 403
2. Yerba mit transitiv-activer oder durativer Bedeutung . 403
a) Suffix mit a im Präsens 403
ß) Suffix ya 403
4^4] Der Ablaut deb Wcbzelsilben im Litauischen. 453
Seite
A. Gonsonantisch auslautende Wurzeln 403
B. Vocalisch auslautende Wurzeln 405
y) Suffix na 405
f. Vocale e und ei 405
a) Präsens auf a 405
ß) Präsens auf ja 406
A. Gonsonantisch auslautende Wurzeln 406
i, Vocal ä 406
%. Vocal ei 406
B. Vocalisch auslautende Wurzeln 407
4. ä durchgehend 407
%. d' im Wechsel mit ei ej (lettisch) .... 407
B. Die Vocalstufen wechseln im Formensystem desselben Verbums 407
1. Die Reihe iy y, e u. s. w 408
8. Die Reihe i, e n. s. w 408
Allgemeine Sätze aus dem Bisherigen 408
Anhang. Die Stufen a ö o (der 6-Reihe) und ai im primären
Verbum . 44 0
4. Vocal a 410
8. Vocal 4 44 4
3. Vocal 0 [ä] 444
4. Vocal ai • • • ^^^
II. Verbalstämme auf e mit primärer Präsensbildung
auf a oder i {ja) : 442
A. Wurzelvocal i y (der Reihe ♦ e u. s. w.) 44 2
4. Präsens auf a 44 2
2. Präsens auf i {Ja) 44 3
B. Wurzelvocal uü 443
4. Präsens auf a 44 3
2. Präsens auf i {Ja] 44 3
G. Wurzelvocal i-e 44 4
4. Präsens auf a 44 4
a. Vocal i 44 4
b. Vocal e 44 4
2. Präsens auf i {Ja) 44 5
a. Vocal i 44 5
b.. Vocal e . 44 5
D. Wurzelvocal a (der e-Reihe) 44 5
2. Die Reihen IV und V 446
Wechsel von a-a; a-ö.
A. Präsens a^ sonst a 44 6
B. Präteritum o (ä), sonst a 44 6
G. Präsens a, Nichtpräsensformen o (ä) . . . . 44 7
II. In der Nominalbildung 44 7
Suffix i 447
454 August Lbskibn, Der Ablaut deb Wurzelsilben im Litauischem. [^ dS
8«it6
/-Suffixe 418
a. -tt/o-, -td/ct- 118
b. -ala- 419
m-Suffixe 419
a. -men- 419
b. -maSy -sma-8 u. s. w 419
»-Suffixe 420
Ä-Suffixe 421
^-Suffixe. . 424
a. -to-, -«te- u. s. w 421
b. -^ 422
-w- 423
-a-, -ö- 423
0 (ä) in der Wurzelsilbe bei Suffix -a-, -^Vi- 428
0 iD der t^-Reihe 429
in. Im abgeleiteten Verbum 429
1. -inu --intiy le -mu -inät\ -initi 432
2. -oju Ott, le -äju 'ät 436
3. 'Uju -4iti^ le -&ju -üt 438
4. le -eju -ei 438
B. le -M -^^ 440
6. -fffu -yti, le -yw -It 441
7. -au -yti, le -« -i< 442
8. Die Bildungen mit d an der Wurzel 444
9. -auju -auti 447
10. -au -Ott, -sau -sott 447
11. Iterativa mit gedehnter Wurzelsilbe 448
12. Deminutiva 449
itoiB—
CHRISTIAN REUTER
DER VERFASSER DES SCHELMÜFFSKY
SEIN LEBEN UND SEINE WERKE
VON
FRIEDRICH ZARNCKE
MITGLIED DER KÖNIGL. SACHS. GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
Abhandl. d. K. S. Gesellsch. d. Wiiisensch. XKl. 31
L Christian Benter.
Der Verfasser des Schelmuffsky gilt unseren Litterarhistorikern
noch immer als unbekannt: weder Koberstein, noch Gervinus, ob-
wohl dieser gerade auch hier seinen treffenden litterarhistorischen
Instinct bekundet, noch auch Goedeke und neuerdings W. Schcrer
wissen seinen Namen. So steht es nun doch nicht, der Name ist
bereits genannt worden, freilich so nebenbei und von einem so wenig
volles Vertrauen, zumal für eine nur beiläufige Erwähnung, ver-
dienenden Schriftsteller, dass man sich nicht wundern darf, wenn
die Forschung seine Angabe übersehen hat. Emil Weller ist es, der,
nachdem er 1853 noch den Schelmuffsky ausdrücklich für anonym
erklärt hatte % im Jahre 1856 zuerst das Pseudonymen des Ver-
fassers kennt^), sich dann 1858 unterrichtet zeigt von der Abfassung
des Schelmuffsky durch denselben^), 1864 sogar die persönlichen
Verhältnisse andeutet, die einem Theile der von ihm geschriebenen
Dichtungen zum Ausgangspunct gedient haben ^). Woher Weller seine
Kenntniss geschöpft hat, ist mir unerfindlich geblieben. Er selber
nennt in seiner flüchtigen Weise keine Quelle. Ob er irgend einer
alten Randnotiz seine Angabe verdankt? Dass er, direct oder in-
direct, die Acten gekannt habe, aus denen ein Theil der nachstehenden
Darstellung geschöpft ward, ist wenig glaublich, einmal weil die-
selben erst kürzlich aus ihrem Versteck ans Tageslicht gezogen wor-
den sind, sodann weil Weller 1853 bereits in der Schweiz lebte,
*) Vgl. Petzholdt's Anzeiger für Bibliographie elc. <853, S. 268, Anm.: »Den
Verfasser hat man nicht in Erfahrung gebracht«.
2) Im Index Pseudonymorura ^856 S. 72 unter Hilarius.
3) In: Die falschen und fingierten Druckorle, ^858, S. 29.
4) In seinen Annalen II (<864), 277, Nr. 3U.
81»
438 FsieDBicH Zai^cks, [^
aus der er nicht wieder nach Leipzig zarückgekehri ist^). Wie dem
sei, Weller's Angaben sind richtig, der Verfasser des Schelmuffsky
heisst, wie wir bei ihm lesen, Christian Reuter, sein Pseudo-
nymen ist Hilarius, er hat 1695 geschrieben, und das von Weller
namhaft gemachte Werk ist, wie es wenigstens ein Theil der Zeitge-
nossen aufTasste, wirklich gegen Eustachius Muller's Wittwe gerichtet').
Es ist das Verdienst des Ehrendoctors unserer philosophischen
Facultät, des gelehrten Buchhändlers und Geschichtsforschers A. Kirch-
hoff, die Acten in ihrer Bedeutung erkannt zu haben, die uns über
Christian Reuter und Über einen Theil seiner Werke zusammen-
hängende Mittheilungen bieten; sie waren ihm im hiesigen städti-
schen Archive bei seinen Studien über die Leipziger Bücher-Com-
mission durch die Hände gegangen, und er hatte die Freundlichkeit,
die weitere Erörterung derselben mir zu überlassen. Meine Aufgabe
ward es, das Angedeutete näher zu verfolgen, die persönlichen Ver-
hältnisse, die für das richtige Verst^ndniss offenbar eine grosse Be-
deutung hatten, möglichst genau festzustellen und so die schrift-
stellerische wie die ethische Persönlichkeit Reuter's klarer herauszu-
arbeiten. Das Kgl. Sachs. Hauptstaatsarchiv, das fULr den ersten Theil
der Untersuchung im Stiche Hess, gewährte dann unerwartete wei-
tere Ausblicke über den Dichter und seine Schriftstellerei. Leider
versagte unser Universitätsarchiv fast ganz, dessen Acten doch in
erster Linie hätten in Betracht kommen müssen: der wichtige Acten-
band über unseren Dichter, der an 150 Folioblätter umfasst hat, ist
spurlos verschwunden, auch viele der anderen gleichzeitigen Docu-
mento, die wenigstens beiläufige Angaben gewährt haben würden,
^) Wohl von Weller ist die Angabe entnommen in dem 131. Katalog von
Wllh. Koebner in Breslau, S. 35 und 32. Der Kataloge der eine Anzahl hand-
schriftlicher bibliographischer Reperlorien zum Verkauf bot, ward 1878 versandt
und als Sammler nannte sich mir Herr Hugo Hayn, Schriftsteller und Antiquar,
gegenwärtig in München. Ob die von ihm zusammengetragenen Notizen etwas zur
Sache enthalten haben, vermag ich nicht zu sagen (gegenwärtig werden sie sich
aus dem Nachlasse des Dr. H. U. im Besitze des Herrn Prof. M. B. in M. be-
finden], glaube es aber nicht: die Angaben von Weller und von Gervinus in
seiner Gesch. d. d. Dichtung genügen, um die Worte in dem Katalog zu erklären.
^) In Leipzig muss zu Gottsched*s Zeit noch eine bezügliche Tradition gelebt
haben. Er sagt im Nöth. Vorrath I, 259 : Es hat damals hier (in Leipzig] wirk-
lich solche Originale gegeben, die darinnen lächerlich gemachet werden.
^] Christian Reuter. iS9
fehlen uns*). Um so vortrefif lieber bewährten sich die Documenten-
schätze unseres städtischen Archivs, die Personallisten des hiesigen
Standesamtes und der hiesigen Kirchen, die fast immer die ge~
wünschte Auskunft ertheilten. Mancher Orten habe ich noch sonst
anklopfen müssen, Mancher hat mir Zeit und Mühe geopfert: ihnen
Allen bin ich dankbar, und doppelt dann, wenn ihre Bereitwilligkeit
einen Erfolg nicht ergab, ich sie also umsonst bemüht hatte. Zu
ganz besonderem Danke verpflichtet bin ich ausser Hr. A. Kirchhoff,
der auch im Verlauf der Arbeit manchen schätzbaren Wink aus sei-
ner reichen Kenntniss der alten Acten zu geben wusste, den Herren
Pastor H. Bilieb in Kutten, Archivrath Dr. Distel in Dresden, Dr. H.
Georges in Gotha, Oberbibliothekar und Director des städtischen
Archivs Prof. Dr. Wustmanu hieselbst, ferner den Vorständen der
Bibliotheken hier und in Berlin, Dresden, Gotha, Göttingen, Weimar,
Wolfenbüttel, die mich, neben Hr. Heinrich Hirzel dahier, ausgiebig
mit der einschlagenden Litteratur und mit mancherlei Auskunft ver-
sahen, wie auch der Direction des Kgl. Hauptstaatsarchivs in Dresden.
Ich meine nunmehr die Arbeit abschliessen zu dürfen, in der Hoff-
nung, dass, je früher ich der gelehrten Welt ihre Ergebnisse vor-
lege, es um so eher gelingen wird, die von mir gelassenen Lücken
zu ergänzen.
Christian Reuter ward am 9. October 1665 geboren, oder rich-
tiger getauft, in Kutten^), einem Pfarr- und Bauerdorfe in einer Thal-
^j Nach dem erst in diesem Jahrhundert angelegten Repertorium fehlt nur
das wichtige Actenhefl 6. A. IX, H5, das Allerlei über unseren Fall enthalten
haben wird; aber schon früher müssen grosse Verluste eingetreten sein, denn
G. A. IX, H4 führt die alte Bezeichnung 86, G. A. IX, 446 dagegen 4 44; es
fehlen also nicht weniger als 57 Fascikel, die Jahre 4 683 — 4 697 umfassend.
2] Diesen Ort festzustellen, gelang erst nach manchen Umwegen. Denn die
Relegationspatente nennen unsern Christian Guttensis Misnicus. Ich glaubte mich
also in erster Linie nach Guttau bei Bautzen gewiesen, und Herr Pastor Mättig
daselbst hat sich weidlich bemüht^ den Gesuchten in den dortigen Kirchenbüchern
aufzufinden. Dann rieth ich auf die beiden Gotta in der Nähe Dresdens, und die
Geistlichen dieser beiden Orte sind nur soeben der Gefahr entgangen, auch ihrer-
seits Zeit und Bemühung umsonst zu verlieren, indem ich gerade noch im rechten
Moment die Entdeckung machte, dass jene Eintragung ungenau sei, dass Christian
Reuter zwar meissnischer Unterthan war, aber aus dem Ghurkreise stammte, also der
Nation nach ein Sachse war, und dass sein Geburtsort Kutten heisse. Das Schwanken
von K und G wird erklärt durch den Dialekt und die falsche Nationalitätsangabe durch
(60
i^Dj^^Dkung jener Hügelkette, die sich dem östlichen Abhänge des
PeU^ti^M^rge» bei Halle vorlegt. Dieser letztere erhebt sich mit semer
alten Kirche maleriscb-romaDtÜKrh und grenzt in nächster Nähe den
weBtlichen Horizont ab. ChrLstians Vater, Sieflen, war ein wohlhabender
Bauer, d^^m von 1646 bis 1670, also durch einen Zeitiaom von 2i
Jahren^ 10 Kinder getauft wurden, 6 Knaben, von denen dn 1661
getKirener nach wenigen Wochen wieder starb, and 4 Mddchoi').
unser Christian war das achte Kind. Die Glieder einer so zahl-
reichen Familie waren wohl darauf angewiesen, zum Theil aosser-
balb des Ortes, in dem sonst viel Heimathsgefühl gewaltet zu haben
scheint, ihr Fortkommen zu suchen, eigene Neigung mag hinzuge-
kommen sein. Nur so erklärt sich, dass die Kttttener Kirchenbücher
wenig Aufschluss über ihren Verbleib gewähren. Im Jahre 1683
starb der Vater, ihm folgte 1691 die Mutter, wohl von einer epi-
demischen Krankheit dahingerafft, denn an demselben Tage, dem
31. August, ward ihr damals ältester Sohn Caspar mit ihr zu^eich
in dieselbe Gruft gesenkt; zu dieser Zeit war Christian schon lange
auswärts. Eine Tochter verheirathete sich, als unser Christian sechs
Jahre alt war, die jüngste erst viel später, als er längst die Heimath
verlassen halte. Im Jahre 1699 ist der jüngste Sohn, Stephan, der
Nachfolger auf der väterlichen Hufe^). Leichtes, zum Leichtsinn ge-
neigtes Blut mag in den Adern der Familie pulsiert haben ^).
die LandcMzugchÖrigkcit. Auch dem Auffinden in der Matrikel stand jene falsche
Angilbe im Wege, da ich den Namen lange nur unter den Meissnem suchte.
1] Alle dicMC auf Reuter^s Familie und auf Kutten bezüglichen Miltheilungen
verdanke ich Herrn Pastor Bilieb in Killten. Die 4 0 Kinder Steffen Reuter^s wa-
ren: UrHuia (get. 18. März 1646], Gottfried (get. 20. Juni 1648), Maria (get.
10. Januar 1650, verheirathet 1672 nach dem etwas südlicher liegenden Teicha),
Caspar (gel. 20. April 1657, f 1691), Andreas (get. 4. Juli 1659), Steffen (get.
12. Juni 1661, f d. 29. Juni), Dorothea (get. 14. Juni 1662), Christianus
(gut. 9. October 1665), Stephan (get. 22. Februar 1668), Anna Elisabeth (get.
8. October 1670, verheirathet im Orte 1696).
3) Noch heute giebt es eine Familie Reuter in dem Orte, aber sie hängt mit
der früheren nicht direct zusammen. ^
^) Vgl. die Einzeichnung im Kirchenbuche: »Anno 1696 am 4. Februar ist
llnns Brandt, llnns firandes Sei. gewesenen Einwohners allhier hinterl. Eheleib-
Hoher Suiin, mit Jgf. Anna Elisabeth, Steffan Reuters Sei. gewesenen inwohners
allhier hinter!. Eholoiblicheu Tochter, öffentlich getraut worden, Undt haben am
5. Aprilis einen Sohn tauffen lassen.«
"^j Christian Rbcter. 461
In Kutten scheint am Ende des 17. Jahrhunderts ein regeres
geistiges Leben vorhanden gewesen zu sein. Der Ortsgeisth'che, der
»wohlehrwUrdige und wohlgelahrte a Herr Johannes Rappsilber, der
von 1658 bis 1700 der Seelsorge waltete, entstammte dem Dorfe,
ebenso sein naher Verwandter, der Schulmeister Salomon Rappsilber,
der 1673, 20 Jahre alt, sein Amt antrat und bis 1719 verwaltete.
Des Pfarrers Sohn Christian studierte Theologie, und auch den Sohn
des Bauern Gottfried Median erwähnt das Kirchenbuch als Studenten.
Unser Christian scheint schon bei der Taufe dem gelehrten Stande
gewidmet worden zu sein, da sein Name allein von allen Kindern
die stolze lateinische Endung erhielt. Er führte ihn gemeinsam mit
dem damaligen LandesfUrsten , dem Herzoge Christian von Sachsen-
Merseburg. In den beiden Rappsilber haben wir zweifelsohne die
ersten Lehrer und geistigen Förderer des heranwachsenden Knaben
zu erblicken.
Ob etwa die Familie des Kirchenpatrons sich des jungen Spröss-
lings der kinderreichen Familie angenommen hat? Das Kirchen-
patronat führte, und führt noch, die Familie der Freiherren von Veit-
heim, und zwar die sogen, schwarze Linie, sesshaft auf dem be-
nachbarten Ostrau. Die Pfarre zu Kutten bewahrt noch heute manche
Erinnerungen an das Wohlwollen und die Liberalität der damaligen
Glieder dieser Familie, zumal auch die Bibliothek.
Wo er dann seine weitere gelehrte Ausbildung empfangen hat,
ist uns nicht überliefert. Aber entscheidende Gründe sprechen für
das Domgymnasium in Merseburg. Zörbig mit Umgegend, zu der
Kutten gehört, war 1 657 im Hauptvergleiche zu Dresden an Sachsen-
Merseburg gekommen ; hier residierten die geistlichen wie weltlichen
Oberherren des Dorfes, von hier aus ergingen alle höchsten Anord-
nungen; die Blicke der Ortseingesessenen waren, sobald sie sich
höher wendeten, gewiss zunächst nach Merseburg, und somit auf das
dortige, seit dem Jahre 1 668 neu organisierte Domgymnasium gerichtet.
Ja, der Landesherr verlangte dessen Besuch^); und schon 1695 beruft
^) So heisst es in der Schulordnung des Herzogs Christian von 1668 aus-
drücklich: »So wollen Wir, dass hinführo alle Unsere Landes Kinder im Stiefft
und Erblanden dieser orthe, wenn sie soweit kommen, dass sie auf Gymnasia zu
verschicken, in diese Unsere Landtschule gethan werden oder wiedrigenfalls künf-
462 Friedrich Zarngkb, [8
Reuter sich auf eine Erfahrung^ die er zu Merseburg gemacht habe.
Auch sehen wir später, dass er sich während der Zeit seiner Rele-
gation dort aufhielt; in der Umgegend finden wir ihn bekannt und
zu Gliedern der Sächsischen Nebenlinien scheint er in persönlichem
Yerhältniss gestanden zu haben, wenigstens war ihm der Herzog
Christian August aus der Linie Sachsen- Zeitz während seines Auf-
enthaltes in Merseburg behttlflich, die Zurücknahme der Relegation
zu erwirken.
War Reuter wirklich in Merseburg auf der Schule, so ist er
doch kaum noch unter dem Rector M. Heinr. Crazenstein (1668 —
1674) dort gewesen, sondern wohl erst unter M. Friedr. Hildebrand
(1674 bis 21. December 1687), der gegen Schluss seines Lebens
wegen Kränklichkeit durch M. Conrad Sittig vertreten ward. Unter
ihm wUthete die Pest in Merseburg und die Schule musste vom
3. Januar 1683 bis 19. März 1684 geschlossen werden, während
welcher Zeit denn auch Reuter wohl anderweit unterzukommen hat
versuchen müssen. Unter dem berühmten M. Christoph Cellarius,
der im Mai 1 688 als Rector eingeführt ward, hat Reuter dann noch
im Sommersemester die Schule besucht. Als Conrector fungierte
während der für ihn in Betracht zu ziehenden Zeit nur Georg Ilmer
(1671—1698), als Tertius Heinr. Kiesewetter (1667 — 1677) und
Nie. Kupfer (1677 — 1726). Ueber die damalige Methode des Unter-
richts vergleiche man F. Witte's Gesch. des Domgymnasiums in Merse-
burg, II. S. 25 fg. Wichtig ist, dass auch dem Deutschen besondere
Aufmerksamkeit zugewendet ward. Es heisst in der Schulordnung:
»Der Unterricht in den beiden oberen Classen soll, nächst der Ehre
Gottes und der gemeinen Wohlfahrt, die Fundamente der lateinischen,
griechischen und hebräischen Sprachen wohl legen, dabei aber die
Reinlichkeit der deutschen Sprache nicht hintenansetzen«. Ob bereits
damals bei den Schulactus auch deutsche Verse vorgetragen, oder
gar deutsche Schauspiele, in denen auch die komischen Personen
nicht fehlten, aufgeführt wurden, wie wir es vier Decennien später
finden, lässt sich nicht sicher feststellen. Beim ersten Jubiläum der
Schule 1 675 wurden auch deutsche Reden gehalten. Ob Reuter dies
tiger Beförderung in Unseren Landen verlustig sein sollen«. Witte, Gesch. d.
Domgymn. zu Merseburg 11, S. 56.
d] Christian Reutbb. 463
bereits mitgefeiert hat? Ob er als Currendaner auch, was damals lei-
der eingerissen war, in der Stadt und auf den benachbarten Dörfern
sich bei Hochzeiten, Begräbnissen, Kindtaufen u. s. w. herumgetrieben
hat? Wir wissen es nicht. Leider beginnen die Verzeichnisse der
Schüler, der Abiturienten etc. erst später, so dass alle Bemühungen
vergebens gewesen sind, darüber Gewissheit zu erlangen, ob und
wie lange etwa Reuter in Merseburg gewesen ist^).
Mit dem Jahre 1688 wird es wieder lichter. In diesem Jahre,
im Beginne des Wintersemesters, ward unter die Studierenden der
Universität Leipzig aufgenommen
Christianus Reuter, Küttensis Saxo.
Er erscheint in demselben Semester zweimal, einmal in der Zahl der
Depositi und dann sogleich auch in der Zahl der Jurati ; daraus geht
hervor, dass er noch auf keiner anderen Universität sich aufgehalten
hatte, sonst wäre die Deposition in Wegfall gekommen. Er bezahlte
beide Male 16 ggr. Das ist ein Zeichen, dass er sich in leidlichen
Vermögensverhältnissen befand. Eigentlich sollte jeder Act einen
Thaler kosten, aber man behandelte damals einen Jeden nach seinen
Kräften. Ganz arme Schlucker liess man wohl ganz umsonst herein
»propter Deum«; bei der Deposition, bei der man es oft noch mit
Kindern zu thun hatte, war man überhaupt nicht so strenge, hier
waren es eigentlich nur die Nobiles, die Equites, die ihren Thaler
voll bezahlten, die übrigen pflegten sich wenigstens auf 22 Groschen,
andere auf 18 und 16, einige wenige auf 8 herunterzuhandeln.
Strenger nahm man es mit der eigentlichen Immatriculation, hier hielt
man seitens der Universität gerne an dem Thaler fest, musste sich
freilich auch hier die Herabsetzung auf 20, 16, 12, ja auf 8 ggr.
und auf Gratisaufnahme gefallen lassen. Wenn also Chr. Reuter
1 6 Groschen zahlte, so kam er zwar nicht als Begüterter, aber doch
auch nicht als larmoyanter Hungerleider. Unserer Bibliothek frei-
lich, der damals jeder Ankömmling eine kleine, in sein Belieben ge-
stellte Summe verehren musste, die in der Regel in 4 ggr. bestand,
hat er nur 2 ggr. zugewandt. Die Liste dieser Beiträge bietet uns
*) Herrn Conreclor Prof. Dr. F. Wille, dem kundigslen Führer durch die Ge-
schichte der Schule, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet.
i64 Fbj£»ucb Zabücke. !<«
aeia dltCdteä Autographoo: mil klarer, zierlicher HandacbriA hat er
iseinen NameD eiDgetragen.
Das Studium, welches er ergriff, war zweifeläohne Theologie
^die Studentenverzeichnisse neaDea damals das Studium nodi nicht .
Nur »o sind die Worte in seinem Relegationspatente zu ¥erstefaen,
welche ihn mit den untreuen Dienern Gottes vergleichen, die an-
ders handelten als sie predigten und Andere lehrten; ja ich meine,
es geht aus diesen Worten sogar hervor, dass er schon einmal, und
zwar am Michaelisfeste, als Prdparande auf der Kanzel der Pauliner
Kirche gestanden haben muss. So würde auch die später von ihm
verfasste satirische Leichenrede ihre besondere Motivierung finden.
Auch der erste spöttische Brief an Götze verrdth den im geistlichen
Stil Geübten.
Aber bis ans Ende seiner Studien ist er nicht bei der Theo-
logie geblieben, denn 1697 nennt er sich »Stud. juris«. Ob die Theo-
logie die Schuld trug? Für aufgeweckte Geister war wohl die in
Leipzig herrschende starre, kampfsUchtige Orthodoxie wenig an-
sprechend. Wissen wir doch, dass auch Benjamin Schmolcke, der
bald darauf (Herbst 1694) nach Leipzig kam, in Gefahr gerieth, der
Theologie Valet zu sagen und Medicin zu studieren. Aber wir brau-
chen wohl bei unserem Reuter nicht der theologischen Facultät die
Schuld zuzuschieben: sie hätte besser sein können als sie war, und
er würde doch wohl kaum auf die Dauer für sie gepasst haben.
Als er ihr schliesslich officiell Valet sagte, stand es bereits so, dass
ihm in ihrem Bannkreise eine Aussicht nicht mehr geboten war.
Es war ein anderes Interesse, das ihn bald ganz gepackt zu
haben scheint, das fürs Theater. Theatralische Aufführungen waren
schon längst in Leipzig beliebt gewesen und Studenten spielten da-
bei eine Hauptrolle. Im Jahre 1669 ward der Polyeuctes von einer
»Htudicrcnden Gesellschaft« aufgeführt. Der Schauplatz war in dem
sog. FleiHchhausc, über den sog. Fleischbänken, d. h. in dem Hause
zwischen Naschmarkt (Nr. 2) und Reichsstrasse (Nr. 53/54), dessen
erste Etage ausser der Messe von Tanz-, Fecht- und Exercitien-
meistern benutzt ward, während der Messe zu Aufführungen diente.
Hier spielte auch, es ist unbestimmt wie oft, die »berühmte Bande«
dos Joh. Vclthoim oder Veiten (Bruder des bekannten Jenenser Pro-
fessors), die seit 1678 als Auszeichnung den Titel der Ghursäcbsi-
^^] Christun Rboter. 465
sehen Comödiantengesellschaft führte, und die nach Velten's Tode im
Jahre 1693 durch die Gebrüder Möller wieder zusammen gebracht
ward^). Epochemachend aber ward für Leipzig das Jahr 1693 da-
durch, dass in ihm am 8. Mai das von dem Dresdner Capeilmeister
Strungk in Gemeinschaft mit dem Dr. Glaser erbaute Opernhaus am
Brühl (auf dem westlichen Terrain der gegenwärtigen Allgemeinen
Deutschen Creditanstalt) eingeweiht ward; die Churfürstliche Con-
cession vom 13. Juni 1692 lautete auf die Aufführung »deutscher
Singspiele« zur Zeit der Messe. Als während der Michaelismesse
1699 das Beilager des Erbprinzen von Bayreuth mit der Herzogin
von Sachsen -Weissenf eis in Leipzig gefeiert ward und auch der
König von Polen Friedrich August mit zahllosen polnischen Magnaten
und sonstigem Adel sich auf mehrere Wochen einstellte, ward sogar
noch an einem dritten Orte, in dem Hause zu den 3 Schwanen
(Brühl Nr. 85), gespielt, und zwar hier von den »raren französischen
Gomödianten «. Trotzdem, dass die herumziehenden Truppen bereits
das Normale waren, wurden die Studenten immer noch sehr in Mit-
leidenschaft gezogen, und zwar nicht bloss für die Comödie, sondern
auch für die Oper. Strungk in einer Eingabe an den Stadtrath vom
Jahre 1 695 empfahl seine Opern besonders auch damit, dass dadurch
»auch manchem Studioso sein Unterhalt zuwüchse«, und noch 1725
sagt Iccander in seinem Galanten Leipzig S. 26: »Das grosse im
Brühl befindliche Opernhaus, darinnen alle Messen von denen unter
den Studenten befindlichen Virtuosen die schönsten Opern präsentiret
werden«. Wir sind vielleicht nicht zu kühn, wenn wir annehmen,
dass auch Chr. Reuter sich ums Jahr 1 695 mit unter den spielenden
Studenten befunden habe. Im Januar 1 695 hatte eine Merseburgische
Bande unter Hermann Heinrich Richter, auch sie hervorgegangen aus
der Velten'schen, gespielt: nach dem was wir oben über Reuter's
Aufenthalt in Merseburg vermuthen durften, wird es ihm vielleicht
nicht an directen Beziehungen zu dieser Truppe gefehlt haben.
Wie dem sei, wir werden annehmen dürfen, dass mit dem
Jahre 1693 Chr. Reuter's Hauptinteresse sich dem Theater, der Oper
wie dem Lustspiel, zuwandte. Er fand dabei einen Genossen an
^) Ich verdanke diese Sf ittheiluDg Herrn Dr. Wustmann ; gewöhnlich gilt noch
die Annahme, Veiten habe bis ins 18. Jahrh. gelebt.
166 Feieducb Zabbkxe. It2
dern SludenUfn Johann Grcl aus Rü£:enwalde in Pommem, deo die
Acten i»teLs fälschlich AKreli« scbrcit>en' . Er ward schon früher als
RcuU]*r, 9^;hon im Beginn d^^ Sommersemesters 1687. immatriculierL
Da er nicht erst deponiert zo werden braocbte, so war er bereits
anderweit deponiert, also schon auf einer andern Universität gewesen,
vielleicht in Greifswald, vielleicht auch in Frankfurt a. d. Oder. Mit
den Studien wird auch er es nicht eben genau genommen haben,
denn im Jahre 1700 unterzeichnet er sich noch als Studiosus. Da
er nur für ^inen akademischen Aufnahmeact Gebühren zu entrichten
hatte, so ward ihm Nichts erlassen: er zahlte einen vollen Thaler.
Mit diesem hat Reuter, wenigstens eine Zeit lang, zusammengewohnt;
die Welt sah beide als Complicen an und pflegte sie gemeinsam
für ihre vermeintlichen Schandthaten verantwortlich zu machen.
Ausserdem stand zu ihm in näherem Verkehr, der auch noch im
Jahre 1700 fortdauerte, ein Leipziger, Samuel Rudolph Behr oder
Biihr; er ward im Wintersemester 1690 auf 91 zugleich deponiert
und immatriculiert. Es scheint ein armer Geselle gewesen zu sein,
denn er zahlte nur 8 Groschen. Er wohnte bei dem Advocaten
Mor. Volkmar Götze. Für die Bühne, besonders fUr die damals sehr
beliebten Ballette, muss er sehr beanlagt gewesen sein; wenigstens
wird er mit Beziehung darauf im Jahre 1700 »der Täntzer« ge-
nannt. Ob er etwa mit dem Concertmeister Johann Bahr in Weissen-
fels zusammenhing, der 1 697 so lebhaft und so sarkastisch für Theater
und Musik gegen den Gothaischen Gymnasialdirector Yockerodt auf-
trat^, vermag ich nicht zu sagen. Zu Reuter's näheren Bekannten
gehörte spS&ter auch ein weit jüngerer Studierender, Christian Sieg-
mund W ticke aus der Gegend von Delitzsch (deponiert im Sommer
1692, immatriculiert erst im Sommer 1695), und Phil. Dan. Hugwarl
aus Sirassburg (ohne Deposition immatriculiert im Wintersemester
1695/96). Ob auch der fromme Benjamin Schmolcke (Schmolcky),
^j Sein richtiger Name ergiebt sich aus der eigenhändigen Unterschrift unter
den^ Schreiben an die Universität im J. 1700.
^) In drei » Pasquinaden « : Ursus murmurat; Ursus saltat; Ursus triumphat,
die mittels Colportage vertrieben wurden. Vgl. Opel, Kampf d. Univ. Halle gegen
das Theater, in Blätter f. Handel, Gewerbe etc. (Beiblatt zur Magdeb. Zeitung t88t)
Nr. 20. Der Angegrilfene nannte seinen, allerdings derb humoristischen Gegner
droistwcg einen Pasquillanten.
J
13] Christian Reuter. 467
der seil dem Winterseraester 1694 (nicht, wie gewöhnlich angegeben
wird, 1693) hier studierte, zu seinen Freunden gehörte, lässt sich
nicht entscheiden: aber die Wahrscheinlichkeit spricht eher für das
Gegentheil, denn Schmolcky erscheint mehr wie ein Angebeir als wie
ein Freund. Mit dem Dr. Weidling, der damals in Leipzig eine
grosse Figur machte, war er ebenfalls bekannt. Zu diesem älteren
Kreise seiner Freunde sehen wir in späteren Jahren einen neuen
Kreis hinzutreten, in welchem ausser einigen jüngeren Leuten der
Dr. von Ryssel und der damalige Inhaber von Aeckerleins Keller,
David Fleischmann, nebst dessen lebenslustiger Ehefrau eine Haupt-
rolle spielen^).
Von dem Leben Reuter's und seiner Genossen wollte man nicht
viel Gutes sagen; ihre Hauptforce bestehe im Trinken und Spielen;
es seien wilde verwegene Gesellen, vor denen Niemand sicher sei.
Gehen auch diese Urtheile meist von erbitterten Gegnern aus, so
werden wir uns angesichts der Acten doch wohl selber zu der Ansicht
gedrängt sehen, dass die Freunde offenbar keine akademischen Muster-
jünglinge waren, und dass ihr Auftreten nicht frei gewesen sein
wird von jenen herausfordernden und übermüthigen Formen, in
denen sich damals noch die Studentenschaft zu gefallen pflegte^).
^) Ob Reuter in diesen Jahren einmal in Hamburg gewesen ist» wo damals
das Theater so sehr in Flor war? Die genauere Localkenntniss von Hamburg und
Altona, und von den dortigen theatralischen Aufführungen, die Schelmuffsky's Reise-
beschreibung verräth, möchte dahin weisen ; von seiner Oper behauptet der Titel,
sie sei in Hamburg aufgeführt worden, was auf dortige Verbindungen hinzu-
weisen scheint. Freilich genügt zur Erklärung beider Umstände eine Bekannt-
schaft mit den reisenden Schauspieler iruppen. Auch Veitheim hatte ja in Ham-
burg gespielt [4 687/88 und 169S).
*^) Aus diesem Kreise dürfte jener Miscellancodex der Wiener Bibliothek
Nr. 13S87 herstammen, der ausser vielen und meist anzüglichen deutschen Liebes-
liedem> einigen lockeren lateinischen Vagantenliedem , einer obscönen Erzählung
U. ä. allerlei Satirisches und Dramatisches enthält, darunter Reuter's Hochzeit-
Schmauss und Kindbetterio-Schmauss , ferner: CantUena inscripta »Schelm Mufsky
Ehren-Gedichte Auff des Herrn Bruder Graffens Hochzeit«; Cantilena, qua Studio-
sus valedicit vii^inibus et Marti se dedicat. Speciell nach Leipzig weist Cantilena
inscripta »Abend-Music . . . Stephan Packbuschen ... am Tage seines Magisterii
. . 29. Januarii 1694 . . gebracht«. Auch dies Lied muss satirisch sein; allerdings
fand die Magistercreation 1694 am 89. Januar statt, aber unter den Creierten be-
findet sich nicht Steph. Packbusch; war der Angesungene etwa durchgefallen?
468 Friedrich Zarngkb, [U
Aber allzuviel dürfen wir auf absprechende ürtheile über Studenten,
selbst im Munde officieller Behörden, nicht geben: vergessen wir
nicht, dass auch Theodor Körner von unserer Universität relegiert
worden ist und dass das Relegationspatent auch ihn als einen Aus-
wurf der Studentenschaft behandelt.
Also deutsche Comödie und deutsches Singspiel war es, was
um die Mitte der neunziger Jahre in Leipzig das Interesse der auf-
geweckteren Geister beschäftigte.
Für die erstere boten sich zwei Muster, Christian Weise und
Mohäre, beide in ganz verschiedener Weise.
Christian Weise's Stärke liegt nicht in seiner Composition. Dazu
war er als Schuldirector zu sehr gebunden durch allerlei Rücksicht-
nahmen, dazu rausste er auch zu schnell schreiben. Ja, wer freie
Hand hätte, der könnte schon etwas Gutes machen, meint er. Aber
sein Hauptaugenmerk musste sein, dass jeder seiner Schüler eine Rolle
bekam, und zwar eine seinem Naturell anstehende, dass dann nicht
etwa der Vornehmere, wenn er auch weniger beanlagt war, kürzer
abgefertigt werde als ein Geringerer aber Talentvollerer. Dann durfte
auch der gelehrte Schulmeister keineswegs allzuviel Gewicht zu legen
scheinen auf so populäre und ungelehrte Dinge, wofUr deutsche
Dramen doch noch immer gehalten wurden. Weise ergreift jede
Gelegenheit, uns zu erklären, wie wenig Zeit er sich durch diese
Spiele rauben lasse, wie schnell und hastig er sie hinschreibe. Und
er hatte doch viel fertigzustellen: in jedem Jahre vier Spiele, ein
Stück aus dem alten Testamente, eins aus der Profangeschichte, eine
er promovierte erst am 34. Januar 1695, und kam am 8. April 4701 bei der
Bereitung von Weingeist um. Auch andere Gedichte weisen in die Umgegend
Leipzigs und wenigstens nach Sachsen. So Nr. 4 4 auf den Junker Adrian Steger
von und zu Plaussig (Ort bei Leipzig) ; gemeint ist wohl der Sohn des damaligen
Bürgermeisters, der wie der Vater Adrian hiess; freilich war Plaussig nicht im
Besitze der Steger, sondern der Sieber: vielleicht also ein Scherz?; Nr. 4 7,
Cantilena satyrica inscripta »Als die Gräfin von Rochlitz (Maitresse Job. Georgs IV,
f 4 694) mit einer jungen Tochter darniederkam a ; Nr. 4 8, Drama satyricum ver-
sibus expressum et inscriptum »Auff die Generalin Neutzschin (die Mutter der
Gräfin von Rochlitz), noch bey ihrem Leben verfertiget«; Nr. 49, Cantilena
satyrica in Polonos, praecipue nobiles eorumque feminas. — Ob von diesen Ge-
dichten das eine oder andere für Chr. Reuter in Anspruch genommen werden
dürfe, könnte nur das Resultat einer eingehenden Untersuchung sein.
^^] Christian Rectbr. 469
freie Erfindung und dazu noch ein lustiges Nachspiel oder ein
Zwischenspiel; die Spiele fanden an 3 Tagen statt, waren an jedem
Tage auf 5 bis 8 Stunden berechnet; im Druck pflegt jedes der-
selben über 200 bis über 300 Seiten einzunehmen. Dass da das un-
leugbare Talent, das Weise auch für die Composition und Charakteristik
besass, nur sehr wenig herausgebildet werden konnte, begreift sich.
Sein Hauptverdienst liegt in der Sprache. Hier steigt er ganz vom
Kothurn herab, nur die Fürsten und grossen Herren sollen rein hoch-
deutsch reden, für alle Uebrigen schreibt er ausdrücklich dialektische
Aussprache vor, die seine hochdeutsche Niederschrift temperieren
müsse. Daher beobachtete er die Rede des gewöhnlichen Lebens,
schrieb Gespräche und Scheltscenen nach, die er anzuhören Gelegen-
heit hatte, und verwandte das Beobachtete in seinen Dramen, zumal
natürlich in den Lustspielen und in den humoristischen Scenen, durch
die auch seine ernsten Dramen Abwechslung zu gewähren suchen.
So ist seine Sprache einfach und deutlich, absolut ohne gemachten
Schwulst, und voll von volksthümlichen Wendungen, wie sie dem
Verkehr der unteren Stände abgelauscht waren; diese sind es was
Reuter Proverbia oder Sprichwörter nennt. In dieser Beziehung ist
er Weise nachgegangen, und nicht bloss dessen Dramen, sondern auch
seinen Prosaschriften, hat ihn benutzt, mehr aber noch von ihm ge-
lernt und es ihm nachgemacht: seine Beobachtung der Rede des
täglichen Lebens ist noch frischer als bei Weise, noch weit charak-
teristischer für die einzelnen Personen nach ihrem Stande und ihrer
Stellung und nach der augenblicklichen Stimmung. Die Kunst der
Composition dagegen, die tiefere Begründung, die Zusammenfassung
eines Dramas unter einem bestimmten ethischen Grundgedanken,
das Herauswachsen jenes aus diesem, diese letzten Ziele der Kunst
fühlte Reuter mit richtigem Tacte aus Meliere heraus und ist in-
stinctiv bemüht gewesen, sie sich von ihm anzueignen, sie ihm nach-
zumachen. Christian Weise's Dramen bleiben, trotz des Talentes ihres
Verfassers und trotz ihrer Veröffentlichung durch den Druck, doch
immer, was sie waren, Schuldramen und gehören zunächst in die
Geschichte dieser. Reuter hat alle schulmässige Tradition abgestreift,
seine Dramen gehören ganz der öffentlichen Bühne an.
Von Weise lagen ums Jahr 1695 bereits mehr als 20 Dramen
gedruckt vor, manche bereits seit dem Ende der sechziger Jahre,
470 Fbiedbich Zarncke, [^^
auch Moli^re fing damals an auf dem Repertoire der deutschen Büh-
nen mehr und mehr beachtet zu werden. Im Januar und Februar
1690 wurden von den Dresdner Schauspielern in Torgau nicht we-
niger als neun verschiedene Stücke von ihm aufgeführt^). Auch im
Druck ward er früh verbreitet. Schon 1 670 war eine Anzahl seiner
Comödien in Frankfurt am Main in Uebersetzung herausgegeben^).
^) Mascarillas (L'etourdi), Die Verdriesslichen (Le Misanthrope) , Die Bläanei^
schule (L'öcole des maris), Der bürgerliche Edelmann (Le genlilhomme bourgeois).
Glückliche Eifersucht (Le cocu imaginaire) , Don Juan (Le festin de Pierre] , Die
gezwungene Heirath (Le mariage force), Der gezwungene Arzt (Le m^decin malgre
lui), Der betrogene Sicüianer (Le Sicilien) . Und unmöglich ist es nicht, dass un-
ter den übrigen Titeln (bei Fürstenau S. 307 fg.) noch ein oder das andere
Moli^re^sche Stück verborgen ist.
2j In der » Schaubühne Englischer und Französischer Comoedianten «, die 4 670
in Frankfurt a/M. bei Schiele in 3 Bänden erschien. Von diesen beginnt gleich
der erste mit dem erst 4 665 aufgeführten L'amour medöcin (Amor der Artztj ; er
enthält dann noch Les prccieuses ridicules (Die köstliche Lächerlichkeit] und Le
cocu imaginaire (Der Hanrey in der Einbildung ; in Prosa übertragen) ; der zweite
enthält Nichts von Moli^re, dagegen der dritte nach Gottsched*s Angabe im Nöth.
Vorr. I, 827 (ich habe nur Bd. 4 und i in Händen gehabt, in dem Exemplare
der Weimarer Bibliothek] den Geitzigen und den George Dandin, die erst 4 668
aufgeführt worden waren. Man sieht, wie bald man in Deutschland das Genie
Moli^re's zu beachten anfing. Die Uebersetzung ist recht frisch, man erkennt
die Bestimmung für die Bühne, während die spätere Uebersetzung von 4 691 (die
freilich bestimmt war, an ihr das Französische zu lernen, und die sich daher
weit mehr an den Wortlaut des Originals anschliessen musste) viel steifleinener
ausgefallen ist, und auch die Correctur von 4 695 meines Erachtens die Ueber-
setzung von 4 670 nicht erreicht. Ich will eine Stelle aus dem ersten Stück als
Probe geben; in der Uebersetzung von 4 694 habe ich die irgend wesentlichen
Correcturen der Ausgabe von 4 695 in Klammer beigefügt:
4670. 4694/95.
Sganarelle : Das seynd fürwahr lauter Sg. : Das sind fürwar lauter verwunderliche
gute Rathschltf ge , aber ich halte sie vor (sicherlich lauter vortreffliche) Rathschläge, al*-
ein wenig partheyisch, und finde, daß ihr lein ich halte sie vor ein wenig eigennützig, und
mir sehr wohl für euch rathet. Ihr seyd finde, daß ihr mir sehr wohl zu euren Nutzen
ein Goldschmied , Herr Josse , und euer rathet. Ihr seyd ein Goldschmid, Herr Joseph
Rath riechet nach einem, der gern seiner (Jost), und euer Rath riechet nach einem der
Waaren loß wttre. Ihr aber, Herr Guil- gerne seine Waar loß were. Ihr verkauiTet
leaume, verkauffet Tapetzerey» und es Tapezereyen, Herr Willhelm, und es scheint,
scheinet, als habt ihr einige, die ihr mir als habt (hättet) ihr einige Reyhen, die euch
gern anhencken woltet. Derjenige, den überl&stig sind. Derjenige, den ihr liebet,
ihr Hebt, Jungfer Nachbarin, trägt, wie meine [Frau] Nachbarin, hat, wie man sagt,
man sagt, eine Inclination zu meiner [etwan] eine Liebes -Neigung (Inclination) za
Tochter, deßwegen möchtet ihr gern se- meiner Tochter, und ihr möchtet gerne sehen,
hen, daß sie eines andern Frau würde. daß sie eines andern Frau würde, und was
47] Christian Reuter. 471
im J. 1694 erschien in Nürnberg eine neue Uebersetzung des grössten
Theiles der prosaischen Stücke von J. E. P. in 3 Bänden. In der
Zueignungsschrifl sagt der Verleger (Joh. Dan. Tauber], dass diese
Coinödien »mit einstimmiger Hochachtung durch gantz Teutschland
wären aufgenommen worden«, und dass sie »die meisten Hauptstätte
des Rom. Reiches in eine liebliche Verwunderung gesetzt hätten«.
Aber die, allerdings überaus steife Uebersetzung muss sofort hart ge-
tadelt sein, denn es erschien bereits im folgenden Jahre bei demselben
Verleger eine verbesserte, deren Verfasser seinen Namen, obwohl
diesmal die Vorrede von ihm selbst geschrieben ward, weder genannt
noch angedeutet hat. Seit Löwen's Geschichte des deutschen Thea-
ters (1766, S. 15) ist eine Vermuthung Eckhof 's als Thatsache in
unsere Litteraturgeschichten aufgenommen, Joh. Veiten sei der üeber-
setzer einer dieser beiden. Das ist unmöglich, denn seiner Autor-
schaft stehen bei der ersten Ausgabe die Chifiern des Namens ent*
gegen und die zweite kann nicht von ihm sein, da er 1693 bereits
todt war^) und diese verbesserte Uebersetzung doch erst nach Aus-
gabe der ersten entstehen konnte. Später ist dann auch noch ein
Und was euch belangt, mein liebes Bttß- euch anlangt, meine liebe [Frau] Baase, so bin
gen , so weiß man wol , daß ich nicht ich nicht willens, wie man weiß, meine Toch-
gesinnt bin, meine Tochter zu verheu- ter zu verheyrathen, es sey mit wem es wolle,
rathen , es sey mit wem es wolle , und und ich habe deßwegen meine Ursachen. Aber
ich habe meine Ursachen deßwegen. Aber der Rath, den ihr mir gebt, daß ich sie soll
der Rath, den ihr mir gebt, daß ich sie eine Nonne lassen werden, kommt von einer
soU ins Closter thun , kompt von einer Frauen her, die wohl hertzlich (aus christlicher
solchen her, diö wol wünschen möchte, Liebe) wünschen mögle, meine Haupt Erbin
meine Universal -Erbin zu seyn. Also zu werden. Also, meine Herren und Frauen,
ihr lieben Freunde, ob schon euer Rath obschon alle eure RKthe die besten von der
gar gut ist, werdet ihr mir doch nicht Welt wären, so werdet ihr gut heissen, wanns
vor übel auffnehmen, daß ich keinem euch gefällt, daß ich keinen folge. Die sind
folge. Das seynd nur (mir?) Alaroodische von meinen Alamodischen Ratbgebem (so wer-
Rathgeber. det ihr mich nicht verdencken, wann ich mit
eurer Erlaubnuß keinem folge. Sehet mir doch
diese meine Alamodische Rathgebere an).
Auch geht meines Erachtens aus der Vergleichung schon dieser Stelle hervor,
dass die Uebersetzung von 1694 die von 1670 gekannt hat. Wenn sie dennoch
Manches steifer wiedergab als diese, so ist schon erwähnt, dass jene besonders
in Ab.sicht hatte, dass man an ihr das Französische verstehen lerne. Also eine
ganz freie Wiedergabe war für ihren Zweck gar nicht gestattet.
^] Starb er 1692 in Hamburg? Vgl. die Anekdote bei Löwen a. a. 0. Der
Name der Truppe scheint sich , wohl unter seiner Wittwe , noch länger erhalten
zu haben.
Abliandl. d. K. S. Oesellrich. d. WittseoBch. XXI. 3)
472 Friedrich Zarncke, [^^
vierter Theil herausgegeben; auch er in Prosa ^). Der Verfasser der
verbesserten Uebersetzung weist, wie Gottsched sagt, auf einen guten
^) Da auch W. Greizenach noch in seiner d Entstehungsgeschichte des neueren
deutschen Lustspieles« (4 879, Leipziger Habilitationsschrift] über diese Ausgabe
nicht genau orientiert ist, so mögen einige Notizen über sie am Platze sein. Die
erste Uebersetzung erschien 1694 unter dem Titel: Derer Gomödien des Herrn
von Moliere, Königlichen FrantzÖsiscben Gomödiantens, ohne Hoffnung seines glei-
chen, Erster (Zweyter, Dritter] TheU u. s. w. Vgl. den ausführlichen Titel in
Baudissin's Uebersetzung (Leipzig 4 865], S. VHI, in dem nur die Zeilenabtheilung
nicht übereinstimmt mit dem mir bekannten Exemplare der Dresdner Bibliothek.
Diese Uebersetzung war verbunden mit einer Ausgabe des Originals, und es war
so eingerichtet, dass die Seiten des französischen Textes und der Uebersetzung sich
genau entsprachen, so dass man, wenn man wollte, beide durch einander binden
lassen und so Seite für Seite das Französische und Deutsche neben einander haben
konnte. Ein wirklich so combiniert gebundenes Exemplar habe ich aber nicht
zu sehen bekommen. Auch ist mir ein Gesammttitel, der doch vorhanden ge-
wesen sein muss, nicht vorgekommen. Die Uebersetzung muss nun sogleich har-
tem Tadel unterlegen sein, denn der Verleger entschloss sich sofort zu einem Neu-
druck derselben. Das geschah 4 695 (die Jahreszahl 4 694 bei Gottsched I, 257
ist ein Flüchtigkeitsfehler] unter dem Titel: Histrio Galliens Gomico Satyricus sine
exemplo u. s. w. auch in 3 Theilen. Vgl. den vollen Titel bei Baudissin S. YHI^
doch stimmt auch hier die Zeilenabtheilung nicht mit dem von mir benutzten
Exemplar der Berliner Bibliothek. Dieser Titel ist in 4®, war also, was auch
sein Wortlaut wahrscheinlich macht, der Gesammttitel. Diese neue Ausgabe der
Uebersetzung ist nun keineswegs eine ganz neue Arbeit, sie entspricht, wozu sie
schon das Verh'ältniss zu den Seiten des Originals zwang, Seite für Seite der alten
und hat nur Gorrecturen vorgenommen. Eine Vergleichung des Anfangs mag das
Verh'ältniss deutlich machen:
4694. 4695.
Es mag der Aristoteles und alle Welt- Aristoteles und alle Weltweise mögen
Weisen sagen was sie mögen, so ist doch sagen was sie wollen, so ist doch nichts
nichts dem Taback gleich, alle ehrbare Leute dem Toback gleich, alle reputierliche Leute
sehnen sich darnach, und wer ohne Taback sehnen sich darnach, und wer ohne To-
lebet, ist nicht werth, daß er lebe: Er er- back lebt, ist nicht werth, daß er lebe:
freuet nicht nur und reiniget das menschliche Er erfreuet und reiniget nicht nur das
Gehirne , sondern er unterweiset auch die menschliche Gehirn , sondern weiset noch
Seelen in der Tugend, und lernet ihnen, wie darzu die Seelen zur Tugend an, und leh-
sie mit ihm ehrliche Leute bleiben können. ret sie, mit ihme rechtschaffne Leute blei>
Sehet ihrs nicht, sobald man ihn ergreiffet, ben. Sehet ihr dann nicht, sobald man da-
mit was verbindlicher Weise man selbigen von nimmt, mit was verbindlicher Weise
mit jederman gemein habe, und wie erfreuet man sich damit bei Jederman aufführe,
man ist, denselben zur Rechten und Lincken, und wie sehr man erfreuet ist , denselben
überall wo man sich beflndet, mitzutheilen ? zur rechten und lincken, überall, wo man
sich befindet, mitzutheilen?
Es kommen viele Seiten vor, namentlich später, auf denen die vorgenommenen Ver-
änderungen noch weit geringfügiger sind, und die eingeschobenen Gedichte schei*
neu ganz unverändert geblieben zu sein; so z. B. das in Lotheisen's Moli^re S. 389
^9] Ghristun Reuter. 473
Freund hin, der die Dichtkunst besser in seiner Gewalt habe, und
von dem dann auch die versificierten Stücke übersetzt erscheinen
sollten. Ich gestehe, dass ich mich mit dem Gedanken beschäftigt
habe, ob nicht etwa diese beiden üebersetzer in unserm Leipziger
Freundespaar, Grel und Reuter, zu suchen seien; Verbindungen mit
Nürnberg lagen nicht so ferne, wanderten doch die Schauspieler-
gesellschaften besonders gerne zwischen Frankfurt, Nürnberg und
Leipzig; auch zeigen uns die Acten, dass Reuter und sein Verleger
Bekanntschaft mit dem Nürnberger Theater wenigstens vorgaben.
Aber andererseits bleibt jene Vermuthung doch eine ganz vage, und
ganz besonders spricht gegen sie auch der Umstand, dass die Nürn-
berger Uebersetzung, auch die von 1695, zum Französischlernen,
und nicht für die Aufführung bestimmt war. Viel schriftstellerische
Ehre ist ja auch durch sie für unsere Leipziger nicht zu erlangen.
Genug, von »Meliere und Christian Weise ward unser Reuter
ganz eingenommen, als er, dem in Leipzig erregten Interesse folgend,
als abschreckendes Beispiel aus der älteren Uebersetzung aufgeführte, u. a. Den-
noch hat diese Gorrectur den Text oft wesentlich verbessert. Baudissin hat dies
Verhältniss offenbar übersehen, wenn er, ohne Kenntniss der älteren Sprache,
über beide gleichmässig abfällig urtheilt. — Die Kupfer sind in beiden Ausgaben
dieselben, und zwar Nachstiche der französischen. Von den prosaischen Stücken
fehlten noch »Les amans magnifiques«, und von den ganz oder theilweise versiß-
eierten war noch kein einziges übersetzt. Die Ausgabe sollte also fortgesetzt wer-
den. Nach dem Messkataloge wäre bereits 4 696 ein vierter Theil erschienen,
mir ist nur ein Exemplar desselben vom Jahre M\0 auf der Weimarer Bibliothek
bekannt geworden : » Vierdter Theil der Weltberühmten Lust-Gomödien des unver-
gleichlichen Königlich-Frantzösischen Gomödiantens, Herrn von Moli^re«. Er ent-
hält 3 Stücke: »Die durchleuchtigen Verliebten«, »Die bezauberte Insel« und »Der
scheinheilige Betrieger«, an die sich noch ein Bruchstück der von Gherardi heraus-
gegebenen Harlekinade »Der Kayser in dem Monde« (Arlequin empereur] anschliesst.
Die Uebersetzung dieser Stücke, obwohl der Tartuffe ganz, und L'isle enchantce
zur Hälfte in Versen ist, ist doch durchweg prosaisch, was die Vorrede zu mo-
tivieren versucht. Von einer. Seite für Seite entsprechenden Ausgabe des Originals
ist nicht die Rede, doch scheint es auch eine solche gegeben zu haben, wenig-
stens enthält die Nürnberger französische Ausgabe auch die hier in den vierten
TheU aufgenommenen Stücke.
Damit aber war des Verlegers Lust und Muth zu Moli^re- Ausgaben und
Uebersetzungen erschöpft. Sein Unternehmen hat keinen Fortgang gehabt. Nur
das bereits Gedruckte hat er noch wiederholt herausgegeben ; ich vermuthe , es
werden alles nur Titelauflagen sein.
32*
474 . Friedrich Zarncke, [80
sich der Comödie und dem Singspiel zuwandte , und in der An-
schauung von dem Wesen der Comödie war es in erster Linie, wie
schon angedeutet, Moliöre, an den er sich anschloss. Wie ganz er
in seine Fussstapfen trat, werden wir sehen. Auch darin, dass er
wirklich beobachtete Schaden der menschlichen Gesellschaft zum
Gegenstande wählte. Damit war nun freilich auch bei ihm die Ge-
fahr gegeben, persönUch zu werden, wenigstens so zu erscheinen.
An dieser bedenklichen Klippe ist vielleicht sein reiches Talent ge-
scheitert.
n. Christian Benter nnd die MtQlerischen Erben.
1. Die FamlUe MflUeri).
Der Hallischen Strasse gegenüber an der Ecke des Brühls und
der Reichsstrasse befindet sich ein stattliches Gebäude, bereits 1542
und noch heute »zum rothen Löwen o benannt. Dies Haus ging
1 572 in den Besitz des Schwarzfärbers Eustachius, alias Stax, Müller
über und ist von da an 140 Jahre in dieser Familie geblieben. Es
war ein erwerbstüchtiges Geschlecht, zwar den Patricierfamilien nicht
angehörig, aber doch ofienbar nicht ohne Familienstolz. Durch eine
Reihe von Generationen führen alle Besitzer den Namen Eustachius.
Gegen die Mitte des 17. Jahrh. scheinen militärische Neigungen auf-
zutauchen, etwas BedenkUches in einer bürgerlichen Familie: der
1663 gestorbene Eustachius war »Defensions-Fendrich« oder, wie es
beim Tode seiner Wittwe 1672 heisst, »Churfürstl. Sachs. Defensions-
Lieutenant«, eine damals nicht unbedeutende militärische Charge.
Den dann folgenden Eustachius finden wir zwar wieder in bürger-
lichem Gewerbe, es mag aber trotzdem in der Familie etwas von
Hochstreberthum zurückgeblieben sein. Dieser Eustachius wird Bür-
ger und Gewürzkrämer genannt^), daneben betrieb er auch die
^) Ausser den officiellen Quellen (den Rathsbüchern^ den Personallisten etc.)
und den Acten (s. Anhang II) durften hier auch unverdächtige Andeutungen in
I Reuter's Comödien und im zweiten Theile des Schelmuffsky, wenn auch mit Vor-
I sieht und einiger Reserve, herangezogen werden, da die controlierbaren sich durch-
weg als wahr bestätigten.
*) So im taufbuche der Nicolaikirche.
21] Christian Recter. 475
Brauerei <), und zwar besass das Haus die Braugerechligkeit für sechs
verschiedene Arten Bier. Auch eine Gastwirthschafl wird wohl er
bereits gehalten haben; wenigstens führte seine Wittwe eine solche^),
und 1705 wird das Haus, damals noch in der Familie, geradezu
»der Gasthof zum rothen Löwen« genannt. Er verheirathete sich
1665 mit der »Erbaren und Tugendsamen Jungfer Anna Rosine, des
Ehrenvesten, Yorachtbaren und Wolgelarten Herrn Adam Groschens,
Hochedel Dieskauischen auf Knauthayn .... Wolbestallten Gerichts-
verwalters eheleiblichen Tochter«. Aus dieser Ehe entsprossten sieben
Kinder, 5 Knaben und 2 Mädchen, in den Jahren 1666 bis 1680^);
aber um die Mitte der neunziger Jahre lebten hiervon nur noch drei
Knaben und die beiden Mädchen. Als der Vater am 6. März 1685
begraben ward, war von diesen der älteste Knabe, Eustachius,
17 Jahre alt, Christian Eustachius etwas über 10, von den beiden
Töchtern die eine, Anna Rosine, etwas Über 8, die zweite, Johanna
Maria, etwas über 6, der jüngste Sohn, Johann Adam, etwas über
4 Jahre alt. Diese waren nunmehr allein der mütterlichen Pflege
und Erziehung überwiesen und dieser mag es an rechter Energie,
vielleicht auch an Willen und Yerständniss gefehlt haben ; die Kinder
waren der Mutter offenbar über den Kopf gewachsen. Ein so Allen
geöffnetes Haus wie ein Gasthof mit Brauerei und Detail-Laden war
wohl nicht der beste Ort für sorgfältige Erziehung; manche Zimmer
waren an Studierende vermiethet, was für die heranwachsenden
jungen Mädchen auch nicht unbedenklich sein mochte, um so mehr
als es der vom Lande hereingekommenen Mutter an Bildung und
Feingefühl offenbar gefehlt hat. Am besten gerathen zu sein scheint
Christian Eustachius; er ging seinen eigenen Weg und es gelang
ihm, sich in Halle eine Existenz zu gründen. Als »Ehrenvester und
Kunsterfahrener Chirurgus« verheirathete er sich dort 1698 mit der
^) »Bürger und Gramer, auch Brauer« heisst es bei seiner Beerdigung.
^) Im August 1697 wohnte der Zerbster Hausierer Joh. Ganso mit seiner Fa-
milie »in Eustachii Müiler's Erben Hause in der Reichsstrasse«, Archiv f. Gesch.
d. D. Buchh. Vm, 95, und Acten des Stadt. Archivs XLVI, «58. Vol. IL
3) Johannes Adam (get. 20. April 1666), Eustachius (get. 80. August 1667},
Johannes Peter (get. 16. Mai 1670), Ghristianus Eustachius (get. 86. Januar 1675),
Anna Rosine (get. 81. December 1676], Johanna Maria (get. 1. Januar 1678) und
Johann Adam (get. 13. November 1680, -bei dessen Geburt also der erstgeborne
Joh. Adam bereits gestorben sein musste).
476 Friedrich Zarncke, [^2
»Erbaren, Viel Ehr- und Tugendsamen Jungfer Dorothea, Herrn
Zachariae Kleinhempels , Chirurg! und Amtsbarbiers daselbst, nach-
gelassenen Tochter«. Die Barbierstube des seligen Schwiegervaters
wird wohl sein Erbtheil geworden sein. Für die Vorgänge in der
Leipziger Familie kommt er nicht weiter in Betracht.
In die übrigen Geschwister scheint der Hochmuthsteufel gefahren
zu sein, und hieran trug wohl nicht bloss die Schwäche, sondern
auch die eigene Neigung der Mutter die Mitschuld. Ein später zu
erwähnendes Bild, in dem man offenbar Portraitähnlichkeit erkannte,
stellt sie in der Thüre ihres Hauses stehend dar, eine starke, vier-
schrötige Person, frisiert, decollettiert und mit blossen Unterarmen,
eine goldene Kette mit Medaillon oder Kreuz um den Hals, ein
kürassartiges Corset tragend und hinten einen tief hinunterfallenden
Schoss; dabei hat das Gesicht einen unfeinen, ja gemeinen Aus-
druck, und hierzu stimmt, wie aus den Acten feststeht, dass es eine
gewöhnliche Betheurung von ihr war; »So wahr ich eine ehrliche
Frau bina. Auch passt zu dieser Erscheinung, dass man ihr wohl
vorwarf, sie denke daran, noch selber wieder zu heirathen und
spreche am liebsten von Hochzeitmachen. Der älteste Sohn, Eusta-
chius, war viel in der Fremde, auch er wird hoch hinausgewollt
haben, scheint, zurückgekehrt, »fremde gethan« und wohl gar das
vaterländische Wesen missachtet zu haben. Dass er hierbei in un-
geschickter Weise aufgeschnitten habe, lässt sich wohl denken: es
stimmt dazu der ganze Habitus der Familie, wie wir ihn uns skiz-
zieren können. Von den beiden Töchtern wird angedeutet, dass sie
als feine Modedamen in kostbaren Gewändern gingen, mit den Stu-
denten auf sehr freiem Fusse verkehrten und gegen die Mutter in
undankbarer Weise ankeiften. Die älteste muss ein Verhältniss mit
einem Doctor der Medicin Schönberg aus Schlesien gehabt haben,
auf den sie auch später noch gehofft zu haben scheint, obwohl die
Eltern den Consens verweigert und ihn in die Heimath zurückge-
rufen hatten. Der jüngste Sohn war offenbar das Nestküchlein. Man
darf es für der Wirklichkeit entsprechend halten, wenn als unziem-
lich erzähll wird, dass die Mutter den, Vierzehnjährigen noch bei sich
im Bette habe schlafen lassen. Schon als Kind trug er einen Degen,
mit dem er galant einherstolzierte, und als achtjährigen Knaben Hess
die Mutter ihn, im Herbste 1688, in die Matrikel der Universität
23] Christian Reuter. 477
eintragen, und hielt ihm dann, wie auch ihren Töchtern, Präceptoren.
Da der eine dieser von Reuter spöttisch »Herr Gerge« genannt wird,
so ist nicht zu bezweifeln, dass es der spätere Juris Practicus Johann
George Leib war, der wiederholt als Goncipient und Curator in den
Angelegenheiten der Familie auftritt, und der im Frühling 1699 die
älteste Tochter heimführte^). Er ward in diesem selben Jahre zu-
erst Licentiat, dann Doctor der Rechte, und es sind den Ehegatten
bis 1708 fünf Kinder geboren worden. Der jüngste Bruder konnte
offenbar die Zeit nicht erwarten, Vollstudent zu werden; schon im
Frühling 1696, erst 15 Jahre alt, wurde er unter die Jurati aufge-
nommen. Stolz zahlte er einen ganzen Thaler.
Die Verhältnisse der Familie konnten nicht nur für wohlhabend,
sondern für reich gelten. Wittwe und Kinder mögen darauf hin
übermüthig geworden sein, und dieser Uebermuth mag um so mehr
verletzt haben, als die Formen, in denen er sich äusserte, wohl un-
feine waren. Man sagte ihnen sogar nach, dass sie damit umgingen,
sich adeln zu lassen. Denkbar ist auch dies gar wohl, denn die
Sucht, in den Adelsstand erhoben zu werden, hatte sich seit dem
30jährigen Kriege mancher der reicheren Familien in Leipzig be-
mächtigt.
Am Donnerstag den 3. Juni 1697 starb die Mutter, ward am
Sonnabend beerdigt, die Begräbnissfeier aber fand erst am Dienstag
den 8. »hora tertia cum concionea statt. Es ward also an dem
vollen Gepränge einer vornehmen Bestattung Nichts gespart 2), gewiss
kein Zeichen einer bescheidenen Auffassung seitens der Familie.
Fortan interessiert uns wesentlich nur noch der Stammhalter
^) Die Trauung ist auswärts vollzogen, wohl um den damals vielfach vor-
kommenden Zudringlichkeiten der Studierenden bei den Hochzeiten sich zu ent-
ziehen, die in diesem Falle vielleicht doppelt zu befürchten standen.
2) Vgl. in Vogel's Annalen S. 933: »Den 4 9. August! noo . . beschloß . . .
sein Leben freudige sanft und selig Hr. Adrian Steger . . . aus einem in die 200
Jahre zu Leipzig ilorirenden und mit vielen vornehmen Familien befreundeten Ge-
schlecht entsprossen, vornehmer ICtus, der Stadt Leipzig hochmeritirter Bürger-
meister, des ganzen Rathstuhls ansehnlicher Senior, des Churfürstlichen Schoppen-
Stuhles vornehmer Assessor und der Kirchen zu St. Thomae hochverdienter Vor-
steher , dessen Gott geheiligter Leichnam den % \ . Augusti in sein Erb-Begräbniß
im Paulino eingesenket, der Leichen-Proceß aber den 26. dieses darauff in der
Kirchen zu St. Nicolai bei Volckreicher Versammlung gehalten vnirde«.
478 Friedrich Zarnckr, [24
der Familie, Eustachius^). Mit ihm nahm es keinen guten Verlauf.
Es scheint ihm an allen Eigenschaften gefehlt zu haben, durch die
eine günstige Vermögenslage erhalten und gesichert wird. Im An-
fang des Jahres 1699 setzte er sich mit seinen Geschwistern aus*
einander und erkaufte von ihnen das Haus mit der darauf haftenden
Braugerechtigkeit. Schon hierbei scheint er kopflos und leichtsinnig,
vielleicht nicht ohne Grossthuerei , gehandelt zu haben. Er über-
nahm das Haus für 10,000 Thaler, eine für damals enorme Summe,
die der Besitz sicher nicht werth war, da es noch 1675 und 1681
seinem Vater mit nur 4000 Fl. angerechnet worden war. Es zeigten
sich denn auch bald die Spuren zurückgehender Wirthschafl. Schon
1 700 verkaufte er einen Keller an einen Nachbar, was für den Be-
trieb der Brauerei kein günstiges Symptom war. Im Jahre 1703
im Mai suchte er, um eine grössere Reparatur ausführen zu können,
sich von einem gewissen Jacob Schmidt 1500 Thaler auf drei Jahre
zu borgen. Um das Geld zu erhalten, musste seine Frau dem Vor-
gehen ihrer Ansprüche entsagen , und in der Abmachung kommen
die folgenden dunklen aber bedeutungsvollen Worte vor: er hypo-
theciere sein Haus, »ohnerachtet daß solches der höchstnöthigen Re-
paratur wegen |: Wormit ich nun bereits im Begriffe bin :| Herrn
Schmieden allbereit stillschweigend verpfändet ist «. Dabei ist es auf-
fallend, dass er fast nie persönlich zugegen ist und sich meistens
durch seinen Schwager Leib vertreten lässt. So entschuldigt er sich
1701 mit »einer mir vorgefallenen unumbgänglichen Reise<y, 1705
einfach : » ich dagegen anderer Verhinderungen wegen dieser Confir-
mation persönlich nicht beiwohnen kann«. Es ging offenbar mit
ihm zurück. Auch sonst glückte es ihm nicht. Er hatte, schon vor
dem Juni 1703, sich mit einem blutjungen Mädchen, fast noch einem
Kinde, verheirathet. Sie hiess Dorothea Morsch 2) und ward erst
1713, nach seinem Tode, majorenn. Sie hat ihm drei Knaben ge-
boren, 1706, 1707 und 1709; alle drei erhielten den Namen Eu-
stachius, es war also jeder vor der Geburt des folgenden gestorben.
Auch der letzte starb, 10 Tage alt. Es berührt fast wehmüthig,
^) Es ist mir auch nicht gelungen, über die jüngere Schwester und den
jüngsten Sohn Weiteres festzustellen.
^) Wohl die Schwester des Gastwirthes Christian Morsch.
85} Chbistun Reoter. 479
wenn man so den Wunsch und das Bestreben hervortreten sieht,
das Geschlecht, wie seine Vorfahren, mit einem Eustachius fortzu-
setzen. Bald nach dem Tode des dritten Knaben muss der Vater ge^
sterben sein, denn als am 7. April 1713 der Minorennitätsvormund der
Wittwe, ihr Oheim Joh. Morsch, entlastet wurde, erklärt die Wittwe,
ihr Gatte sei bereits seit mehreren Jahren todt. Merkwürdiger Weise
fehlt jede Notiz über seinen Hingang, lieber seinem Vermögen aber
brach der Concurs herein und das Haus ward auf Betrieb der Gläu-
biger 1713 subhastiert. Lange dauerte es, bis einigermassen an-
ständige Gebote erfolgten; endlich erstand es der Kramer Senkeisen
für «000 Thaler.
So war die Familie der Eustachius Müller in Leipzig unter
Bankerutt schmählich zusammengebrochen und ihr Besitzthum in
fremde Hände übergegangen. Gewiss nicht ohne die Schuld ihres
letzten Stammhalters. Wir erblicken hier denselben Verlauf, den wir
bei so manchen reich gewordenen Familien eines städtischen Gemein-
wesens verfolgen können, wie eine, oder einige Generationen mit
ernstem Fleisse den Reichthum erwerben, eine, oder einige, in
den alten Traditionen fortlebend, ihn wenigstens noch zu erhalten
verstehen, bis dann die Jeunesse dor6e darüber kommt, die, über-
müthig und leichtsinnig, das Ueberkommene verzettelt. An diesen
besitzvemichtenden Eigenschaften, die wir heute mit jenem modernen
Namen Modernes bezeichnend zusammenfassen, wird sicher auch
der letzte Eustachius Müller zu Grunde gegangen sein. Seit dem
Tode des Vaters 1 685 war die Familie in Wirklichkeit auf abschüs-
siger Bahn angelangt.
Dem Auge der Welt freilich konnte diese Sachlage gar wohl
eine Zeit lang verborgen bleiben; ja die Zeiten des dem Fall voran-
gehenden Hochmuthes waren recht eigentlich angethan, den Blick
der Weiterstehenden zu täuschen. Zu diesen Zeiten müssen wir
nunmehr zurückkehren.
Wohl im Jahre 1694, als die Familie der Müller sich noch im
vollen Selbstbewusstsein bespiegelte, als Eustachius etwa 28, die
beiden Töchter resp. 1 8 und 1 6, der jüngste Sohn 1 i Jahre alt war,
bezogen Christian Reuter und Joh. Grel zwei Studenten wohnungen
im rothen Löwen. Ihr Leben mag nicht das solideste gewesen sein,
und wir dürfen gewiss der Angabe ihrer Wirthin Glauben schenken,
480 Friedrich Zarngke, [26
wenn diese später behauptet, sie habe keinen Pfennig Miethzins von
ihnen erlangen können und habe sie darum wieder aus ihrem Hause
entfernt. Das mag nicht in den zartesten Formen geschehen sein;
die eingebildete und ungebildete Frau, die ihrem Sohn, dem Student-
lein, einen Präceptor hielt, wird hochmüthig herabgeblickt haben auf
die jungen Leute, die mit Mitteln nicht reich ausgestattet waren:
jedesfalls zog sie sich den bitteren Hass ihrer beiden »Hau&-
burschea zu.
Es war damals ein beliebtes Mittel, sich an Gegnern durch
Pasquille zu reiben. Die Acten der Bttcher-Gommission hören nicht
auf, ttber solche Fälle zu berichten, ebenso handeln davon wieder-
holt die Acten der Universität: man drohte mit Pasquillen, um den
Gegner gefügig zu machen, gedruckt wie handschriftlich wurden sie
als ein mächtiges Mittel zum Angriff wie zur Abwehr angesehen.
Ja, Chr. Weise betrachtet sie geradezu als eine hergebrachte Art
studentischen Treibens, wenn er im Politischen Academicus (1684)
die »Pursch-Manier« definiert: »Daß man studentic£(; leben und den
Respect dieses löblichen Ordens mit Waffen und mit Pasquillen de-
fendiren soll«. Wie sehr dies Genre auch später noch beliebt blieb,
beweisen die Schriften von Liscow, von Rost u. A. Auch gegen
Damen wandte man diese Waffe an, man erinnere sich des Pasquills
auf die bekannte italienische Sängerin Salicola in Dresden, im Winter
1690/910-
Gewiss war die Absicht, an seiner Hauswirthin seinen Zorn
auszulassen, eine der Triebfedern bei Reuter, wenn er nun zu
einer satirischen Gomödie die Feder in die Hand nahm, aber sicher
nicht die einzige. Ganz von Moli^re erfüllt , bot sich ihm hier
ein Stoff, der zu einer Gomödie in dessen Weise wie geschaffen
war. Er hatte eine über ihren Stand hochmüthig hinausstrebende
Familie, und alle die Schwächen und Lächerlichkeiten, die dabei zu
Tage traten, kennen gelernt: es bedurfte nur einiger greller Lichter,
um die Effecte zu schärfen, es bedurfte nur der Abrundung und
poetischen Ausgestaltung, und die Nachbildung einer Moliere'schen
Gomödie war geschaffen.
^] Fürstenau, Zur Gesch. der Musik und des Theaters zu Dresden, I, 296
S7] Christian Reuter. 481
2. Die ehrliche Fraa zn Plissiiie.
Im Sommer des Jahres 1 695 schrieb Reuter seine erste Comödie
zusammen, in welcher er die Mitglieder der Müllerischen Familie,
die Mutter, die beiden Söhne und die beiden Töchter, die Köchin,
zugleich sich selbst und seinen Freund Grel als Personal verwendete.
Im Hinblick auf jene unfeine Betheurungsformel der Witlwe Müller
nannte er das Stück »Die ehrliche Frau«, sonst enthielt er sich aller
directen Hinweise; aus Leipzig ist »Plissine« geworden, woraus die
Stadt an der Pleisse doch erst errathen werden musste, aus dem
»rothen Löwen« ward ein »goldener Maulaffe«, die Mutter führt den
allerdings boshaften, aber nicht weiter durchsichtigen Namen » Schlam-
pampe«, die Töchter heissen Charlotte und Glarille, ebenso trifft kein
Name der übrigen Personen mit dem wirklichen der dem Verfasser
vorschwebenden überein. Er scheint sich anfangs allerdings diesen
letzteren noch näher gehalten zu haben, denn in dem auf uns ge-
kommenen Manuscripte steht noch ein paar mal der Name der altern
Tochter als »Rosette« aufgeführt, was gewiss der Rufname der Anna
Rosine war; aber auch diese letzte Spur ist getilgt.
Für die Herbstmesse war abermals das Eintreffen von Comö-
dianten angemeldet, wohl der Möller-Richter'schen Gesellschaft; denn
diese beiden PrincipalitSiten scheinen sich mittlerweile »conjungieret«
zu haben. Reuter trug sich mit der Hofbiung, sein Stück von ihnen
aufgeführt zu sehen.
Zunächst doch galt es einen Verleger zu finden. Er wandte sich
an einen jungen Anfänger, Martin Theodor Heybey, den er viel-
leicht schon kannte und der ihm in mehr als einer Beziehung als
der geeignete Mann erscheinen konnte. Heybey war in der Oster-
messe zuerst als Verleger aufgetreten, war also für Verlagsanträge
noch zugänglicher, hatte auch wohl von Anfang an zu den Studie-
renden genauere Beziehungen. Denn er verlegte eine Anzahl von
Schriften % die direct für den Nutzen und Gebrauch der Studenten
berechnet waren ^), darunter solche von Joh. Christoph Wentzel,
^] Diese und die folgenden Angaben sind den Leipziger Messkatalogen jener
Jahre entnommen.
^) Z. B. WentzeTs (er war Schuldirector in Altenburg) Concordantiae poe-
482 Friedrich Zarncke, [28
Welsch und Mencken. Es ist wohl nicht zufällig, dass diese sämmt^
lieh dem Theater, und auch besonders dem Leipziger Theater, ge*
neigt waren; ja Wentzel führte bekanntlich, wie der bereits oben
genannte Joh. Bahr, 1696 einen ernsten Kampf gegen Yockerodt in
Gotha zu Gunsten des Theaters und der Oper; er verfasste auch
selber Theaterstücke und Opern, und ward später bekanntlich Chri-
stian Weise's Nachfolger in Zittau. Dann verlegte Heybey Schriften
der beliebtesten Universitätslehrer und anderer angesehener Männer
der Stadt ^). Daneben aber suchte er auch belletristischen Verlag
zu gewinnen. Gleich zu Anfange debütierte er mit einer Schrift des
bekannten und damals vielgelesenen Vielschreibers Talander (Aug.
Bohse)^), dann gab er Ueberselzungen aus dem Französischen und
ticae, und desselben Gebetbuch für die studierende Jugend; Knauth*s Ghresto-
mathia Terentiana; Welsch*ens Tabulae anatomicae in gratiam medicinae tyronum
conscriptae; desselben Basis botanica; Henning Witten's Repertorium homileti-
cum und dessen Memoriae theologorum clarissimorum ; Frisii Anweisung zur
Physica; des Dr. Menckens Synopsis theoretico - practica pandectarum; des
Titius Specialen juris publici Romano-germanici ; Puffend orff^s Jus feciale di-
vinum; Hieron. DiceTs Paedia geographiae generalis in usum studiosae juveotulis
u. s. w.
^) Ausser den schon vorhergenannten Werken , die zu einem grossen Theile
von Universitätslehrern verfasst waren, gehört hieher des berühmten Stadtschreibers
Lünig Neueröffnete teutsche Reichskanzlei, Hieron. DiceTs Geographisches Dic-
tionarium; besonders aber die Schriften des Dr. Chr. Weidling, der der stu-
dierenden Jugend besonders nahe gestanden haben muss, und ^er offenbar auch
dem Zeitgeschmacke zu huldigen verstand. So verlegte Heybey von ihm ausser
der Philosophia juridica ac disputandi artificium zwei für jene Zeit charakteri-
stische Werke: <) Oratorischer Hoffmeister, wie ein Gouverneur seinen Unter-
gebenen die neue Hof-Oratoria practice wohl beibringen und ein Gavalier von
allen Stücken geschickt raisoniren, auch glücklich sich perfectioniren soll (das
Werk scheint früher im Verlag der Wittwe Heinichen gewesen zu sein, zu der
H. also in Verkehr gestanden haben wird; mit dem Factor der Wittwe sehen wir
den Reuter'schen Kreis ebenfalls in Verbindung) ; und %) Schatz-Kammer aller
politischen Discurse und heller Leitstern kluger Reisender . . . umb ohne alle
Mühe aus der neuen Historie, Zeitungen, Moralität einen gelehrten Discurs wohl
auszuwerfen und glücklich zu continuiren.
In diesen Kreis fallen auch: Curieuser Geschichts - Calender aller römischen
Päpste; Curieuser Geschichts-Calender des gewesenen Königs in Engelland, Jacobi H;
Geographischer Schauplatz curieuser und politischer Wissenschaft oder geographisch-
politisch-historische Erörterung der ganzen Welt.
2) D Allezeit fertiger Briefsteller«.
29] Christian Reuter. 483
pikaote Romane heraus: Die durchlauchtige Zulima oder die reine
Liebe; Der tapfere Zingis aus Tartarien, eine curiöse Liebesgeschichte;
Die rasende Liebe oder die aus den Schranken schreitende Eifersucht
der Italiener ; Die Liebe wechselnde Türkin oder die unkeusche Hat-
tiga ; Der Galanterie Artzt ; Der Gräfin d'Aunoy geheime Memoiren ;
Die unglückselige Moskowitin Abra Mule oder wahrhafte Liebes-
geschichte, welche noch viele merckwürdige Intriguen des türkischen
Serail vorstellet u. s. w. Mit der ausländischen Litteratur war er
offenbar vertraut. Selbst gelehrte französische Werke verbreitete er
wenigstens unter seinem Namen, so mit Roger in Berlin, dem spä-
teren Herausgeber der Werke Moliäre's, zusammen das Nouveau
Journal des Savans ; ja ein italienisches Buch Hess er auf eigene
Hand drucken: La Beatrice Prencipessa di Siria. Auch Werke von
Christian Weise hat er verlegt *) . Waren auch noch nicht alle diese
Werke im Sommer 1695 erschienen, so kennzeichnen sie doch die
Persönlichkeit des Verlegers, und zeigen uns, dass ein junger, den
studentischen Kreisen angehörender Schriftsteller, der an einen fran-
zösischen Autor sich anlehnte und der selber Pikantes zu bieten ver-
mochte, sich leicht veranlasst sehen konnte, bei Heybey anzuklopfen.
Dies that Reuter im August oder September. Heybey ging, wenn
auch zögernd, auf den Verlag ein und zahlte an Reuter 10 Thaler.
Anfangs scheint ihm dieser vorgespiegelt zu haben, er habe die
Comödie von Comödianten erhalten. Schliesslich aber muss auch
Heybey orientiert worden sein. Der Verfasser hatte sich hinter den
Namen »Hilarius« versteckt.
So ganz geheuer war doch beiden nicht bei dieser Mischung
von Comödie und Pasquill. Reuter wünschte ernsthaft, ungenannt
und unerkannt zu bleiben. Ueberhaupt sollten die Blicke von der
Entstehung des Stückes in Leipzig möglichst abgelenkt werden. Als
daher der Censor, der Professor der Poesie, M. Ernesti, zu dessen
1) Z. B. Augustini et Lutheranonim consensus. — Heybey ist früh gestorben.
Wie rüstig er vorwärts arbeitete, zeigen die Ziffern der von ihm verlegten Werke,
wie der Codex nundinarius sie aufweist, \ 695 : H ; \ 696 : t\ ; \ 697 : 20 ; \ 698 :
27. Fing er dann an zu kränkeln? Das Jahr 4 699 bietet nur noch 8 Yerlags-
werke, und Sonnabend den 4 0. Februar 4 700 starb er. Unter der Wittwe
Namen brachte der Ostermesskatalog noch 5 Werke, dann erlischt jede Erwähnung
seines Geschäftes.
484 Friedrich Zarnckb, [30
Ressort die belletristische Litteratur gehörte, Verdacht fasste und
Schwierigkeiten machte, suchten die beiden den jungen Sam. Rud.
Bahr zu bestimmen, mit Heybey zu Ernesti zu gehen und diesem
zu erklären, er, Bahr, habe die Comödie von fremden Gomödianten
erhalten. Aber Bahr lehnte dies ab. Ernesti liess sich beruhigen,
bemerkte zwar, dass ihm die Geschichte auf bestimmte Personen ge-
münzt zu sein schiene, er wolle nur hoffen, dass sich Niemand
dessen annehmen werde; und so ertheilte er schliesslich das Impri-
matur. Das geschah bald nach der Mitte des September. Mit ausser-
ordentlicher Schnelligkeit ward dann die Drucklegung betrieben. Um
den Ursprung noch mehr zu verhüllen, ward die Miene angenommen,
als sei das Drama aus dem Französischen übersetzt, ja es ward ein
französischer Titel, als sei dies der originale, voraufgesetzt, den das
von Ernesti censierte Manuscript noch nicht trug.
Es wird Anfang October gewesen sein, als die Comödie bei
dem Buchdrucker Brandenburger fertig gestellt war und nun dem
Leipziger Publicum, besonders der Studentenwelt , in die Hände ge-
geben ward.
Orientieren wir uns zunächst über den Inhalt des Stückes, von
dessen beiden ersten Acten uns das Originalmanuscript in den Acten
der Bücher-Gommission erhalten ist, ganz oder doch fast ganz von
Reuter selbst geschrieben.
Hinter dem Titelblatte, das auch die »Personen« enthält, folgt
eine Dedication an die Leipziger Studenten: »Denen Sämmtlichen
Herren Studiosis Auff der Weitberühmten Universitaet Leipzig, Meinen
insonders Hochgeneigten Gönnern und Patronen«. Darauf ein Gedicht
in Alexandrinern, das besonders auch darum wichtig ist, weil es —
in Form einer Entschuldigung des Autors, dass er keine Original-
arbeit geliefert habe — die Uebersetzung aus dem Französischen
abermals betont. In dem Quartmanuscript findet sich diese Dedica-
tion auf 2 Octavblättem geschrieben, sie ist also wohl erst später
nachgetragen.
S. T.
Allerseits Hochgeneigte Herren,
Werthgeschätzte Gönner etc. etc.
Was sonst Terentius und Plautus hat geschrieben,
Wird der gelehrten Welt wohl nicht seyn unbekand,
34] Christian Reuter. 485
Was vor Comödien in Franckreich übrig blieben,
Als Holliere starb, weiß fast das gantze Land;
Ja was noch andre mehr, die ich hier nicht wil nennen,
Von solchen Sachen aach der Presse anvertraut:
So wird doch Jedermann mit gutem Recht bekennen,
DaB er noch niemahls hat die Ehrlche^) Frau geschaut.
Ist die Historie gleich kundbar den und jenen.
Weil aus FranzOscher Sprach dieselbe ttbersetzt,
MuB doch der Klügste selbst zum Offtern etwas lehnen
Aus unbekanter Schrifft, woran er sich ergötzt.
Ich hoffe, man wird mir auch diB nicht übel deuten,
Daß ich biß weilen wo ein Sprichwort^) angeführt.
Indessen sey das Spiel hier denen braven Leuten,
Die man Studenten heißt, gehorsamst dedicirt.
Sie nehmens gütig auff, und bleiben doch geneiget
Mir, und der Ehrlchen Frau, das bittet zum Beschluß
In Unterthänigkeit, der sich stets dienstbar zeiget.
Und allezeit verbleibt
Ihr Knecht Hilarius.
Der Inhalt des Stückes ist nun der folgende.
In Plissine lebt die Frau Schlampampe, die Gastwirthin im gol-
denen Maulaffen, deren Gatte, der ein Handelsmann war, seit Jahren
todt ist; sie bat vier Kinder, einen Sohn, mit Namen Schelmuffsky^),
^) Solche Gontractionen sind damals nicht anstössig. Vgl. in Chr. Weise's
Verfolgtem Lateiner (4 695): Und wie viel Thaler wird das Hochtzt-Geschenke
machen.
2) Vgl. die Anmerkung zu dem Verhör Heybey^s am 5. October 4 695.
3] Bei dieser hybriden Bildung mit polnischer Endung erinnere man sich
daran, dass im Jahre 4 695 bereits die Beziehungen zu Polen begannen, und dass
man in Leipzig noch heute ähnliche Ableitungen mit slavischer Endung kennt, wie
0 Liederinsky a für einen Bruder Liederlich, »Poverinsky« für einen armen Schlucker,
»Buckelinsky« für einen Buckligen, »Schnüffelinsky« für einen Schnüflfler ; bekannt ist
Heine's »Eselinsky«. Besonders beachte man die beiden erlogenen Grafennamen in
Weise's Verfolgtem Lateiner (4 695), der Reuter schon bekannt gewesen sein kann:
» Hahnefusicolpilaminosicofsky « , und » Ziegenbeinicoelkoribicirkilausimufsky « . Später
in der » Alchimistengesellschaft o heisst der Handlanger i»Katzimurtzky«. — Ein arges
Versehen ist es, das Lappenberg in seiner Ausgabe des Ulenspiegel (Leipzig 4 854)
S. 327 begeht, wenn er sagt, die i^ handschriftliche Chronik des Dethlev Dreyer,
Prediger zu Seedorf im Jahre 4 634a erwähne bereits den SchelmuflGsky. Jener
Dethlev Dreyer war nicht Prediger zu Seedorf, wo 4 64 0 — 4 635 vielmehr Georg
Schalk die Pfarre verwaltete, sondern Lübischer Lieutenant, und er verfasste seine
Chronik in den Jahren 4 697 — 474 8, also nach Erscheinen des Schelmuffsky. Die
Stelle, wo er dieses gedenkt, ist noch nicht wieder aufgedeckt (bei Erwähnung
486 Friedrich Zarncke, [38
der auf Reisen ist, zwei Töchter, Charlotte und Glarille, und einen
jüngsten Sohn, Däfftle. Sie ist eine ungebildete Person, die gerne
der Flasche zuspricht und ihren eigenen Kindern gegenüber mit
Schimpfworten, wie Du Rabenaas, Ihr Rabenäser, Du Hund, Du lau-
siger Hund, Du Rabeth-Nickel, Du Schelm, Du nackichter Lauserumb
u. ä. sofort bei der Hand ist. Auch hat sie noch sonst manche
ordinäre Eigenschaften. So führt sie allerlei ungebildete und unver-
ständige Redensarten im Munde, wie die Betheurung: »So wahr
ich eine ehrliche Frau bin« und »bei den Göttern im Wolkena*) etc.
Auch wird es als etwas Widerliches und Unanständiges erwähnt, dass
sie in mütterlicher Affenliebe ihren jüngsten, doch schon heran-
wachsenden Sohn noch immer bei sich im Bette schlafen lasse. Auf
ihre Wohlhabenheit thut sie sich nicht wenig zu gut; dass sie aber
selber höher hinauswolle, kann man ihr nicht nachreden. Um so
mehr ist dies der Fall bei ihren beiden Töchtern, denen gegenüber
sie sich sehr schwach erweist, was diese mit Spott und schnödem
Undank ihr lohnen. Diese Töchter sind ganz in Hochmuth aufge-
gangen; Putzsucht und Leichtsinn ist ihr Wesen. Sie verlangen die
kostbarsten Kleider, ohne Rücksicht, ob die Mutter sie beschaffen
kann, stehen stets vor dem Spiegel und kleben sich Schönheits-
pflästerchen auf, neigen sich wohlgefällig und wollen nur einen
Baron oder einen Edelmann mit Federn auf dem Hute ^) zu Männern
haben. Dabei sind sie aber ebenfalls ordinär, werfen der Mutter
des Eulenspiegel steht sie nicht] ; es ist das auch ohne Werth. Schelmuflsky zu
erwähnen , konnte der Verfasser mancherlei Veranlassung haben , denn auch er
war viel, in der Welt herumgewesen^ hatte z. B. 4 666 — 1688 in spanischen
Diensten als Oberoffizier gestanden, auch in französischen. Vgl. auch Deecke,
Beitrage zur Lübeckischen Geschichtskunde, I^ S. 39 (Lübeck 4 835). lieber diesen
Thatbestand orientiert zu sein, verdanke ich den Herren Dr. G. Cnrtius und
W. Gläser in Lübeck, die auf meine Anfrage mir die ausgiebigste Belehrung zu
Theil werden Hessen. Die erwähnte handschriftliche Chronik (Chronicon Lubecense,
fol., 4489 Seiten) befindet sich im Besitze des Vereins für Lübeckische Geschichte
und Alterthumskunde. — Nach Obigem ist auch die Angabe in Goedeke^s Grund riss
S. 54 2 und bei Anderen, die ihm nachgeschrieben haben, zu berichtigen.
^) Mhd. daz wölken.
^) Diese Auszeichnung nahmen zum Verdruss der Studierenden die Edelleute
für sich in Anspruch. Bald nachher rief dies ärgerliche Scenen hervor. Vogel
in den Annalen S. 94 3 erzählt: Zu Ausgang des Monats Junii 4 698 entstund unter
der Noblesse und bürgerlichen Standes allhier Studierenden eine Uneinigkeit; es
33] Christun Reutbr. 487
gegenüber mit den rohesten Fluchen um sich, zanken unter einander
auf das widerlichste, sind auf den Wein so versessen, dass sie ihn
aus der Flasche hinunter zechen, und fuhren mit den Studenten ein
freies und frohes Leben: sie besuchen sie auf ihren Stuben, lassen
sich dort betrunken machen, und die eine hat einmal in trunkenem
Zustande einen Tag Über mit einem Studenten auf dessen Bette ge-
legen, und so haben sie gemeinsam ihren Rausch ausgeschlafen. Auch
sonst stehen sie in dem Rufe, dass man für eine Flasche Wein Zutritt zu
ihnen habe. Sie gelten dabei für »schmucke Dinger«, für ein »artiges
und galantes Frauenzimmer«, mit dem man schon sein Vergnügen
haben könne. Doch sind sie dumm, und man kann nichts Rechtes
mit ihnen sprechen. Von dem Widerspruche zwischen ihrem ordi-
nären Wesen und ihren Prätensionen haben sie keine Ahnung. Die
älteste hat vor längerer Zeit ein Verhältniss zu einem Dr. Feinland
aus der Stadt Schlesine gehabt, auf den sie noch hofft, obwohl seine
Eitern ihn zurückberufen haben. — In diesem Hause nun wohnen die
beiden Studenten Edward und Fidele, mit denen die Töchter, wie
schon erwähnt, allerlei Unziemlichkeiten treiben, denen sie auch
Geschenke machen, gestickte Bänder, ja ihr Portrait verehren, die
sie aber doch im Grunde als »geringe Kerle« verachten, denn sie
wissen, dass sie selbst »ihr gut Auskommen haben und ehrlicher
(oder vornehmer) Leute Kind« sind.
Dies sind die Voraussetzungen unseres Dramas. Dasselbe be-
ginnt den ersten Act mit einer Scene, die uns in lebhafter Charakter-
schilderung mitten in die Lage hineinfuhrt. Die alte Schlampampe
ist ausser sich, dass ihre Töchter wieder neue Kleider haben wollen,
sie weiss nicht woher das Geld nehmen, der Verdienst ist nicht gross,
die Studenten bezahlen keine Miethe: »Ach, wie glückselig muß doch
so eine Mutter leben, die gar keine Kinder hat«. Die Töchter treten
ein, es wird ein Gescheite und Gefluche durch einander, die Mutter
verdroß jene , daß diese Federn trugen ; beyde Partheyen kamen in ziemlicher
Menge unterweilen auf den Marckt und suchten Ungelegenheit ; doch als diese, so
Bürger-Standes und jenen an der Menge weit überlegen waren, nichts nachgeben
wolten , erdachten die von Adel diesen Fund : Sie legten ihre Federn ab und
ließen dieselben ihre Diener, Laqueyen und Jungen tragen, welche in solchem
AufTzuge ihren Herren nachtraten. Dieser Wechsel machte dem Streit bald ein
£nde.
Abhandl. d. K. S. OeHollsch. d. Wissensch. XXL 33
488 Friedrich Zarnckb, [34
klagt endlich: »will ich in meinem Hause einen Bissen Brodt mit
Frieden essen , so muß ich sehen , wie ichs mache , daß ich ihnen
welche schaffe«. Werden wir so mit Unwillen gegen die Töchter
erfüllt, so wird dieser noch gesteigert, indem wir sehen, dass die
eine von ihnen ein Liebespärchen, den Edward und die Melinde,
unter einander verklatscht hat. Eine Confrontation überführt Char-
lotten, und Edward hängt ihr ein derbes Schimpfwort an. Dies wird
dann die Ursache, dass die Mutter die Studenten aus dem Hause zu
entfernen beschliesst; aber vorbei' soll der eine bezahlt haben,
namentlich soll er für das böse (unterwerthige) Geld, das sie ihm
geliehen hat, erst gutes zurückerstatten; sie hat sich also eines
wucherischen Verfahrens nicht geschämt. Ein Candidatus juris aus
Marburg, Gleander, hat von dem galanten Frauenzimmer gehört, er
erföhrt, dass er durch eine Flasche Wein sich Zutritt verschaffen
könne, Fidele giebt ihm eine Schilderung des Lebens im Hause ; da-
bei erzählt er die folgende Geschichte:
Es sind ohngefähr 3 Jahre, so ging sie im Hause herum und schlug
die Hiinde immer über dem Kopffe zusammen, und sagte: Ja, daß Gott
im hohen Himmel erbarme! Ja, daß es den Göttern im Wolcken erbarme!
Als ich solches hörete, ging ich eiligst auff sie zu und vermeinte, es
wHre etwan ein groß Unglück vorhanden. Wie ich sie nun fragte, was
ihr wäre, gab sie zur Antwort: Er dencke doch nur, da haben sie eine
Ratte gefangen und haben sie wieder lauffen lassen; mein Praeceptor
schmeist mit dem Besen nach ihr, und schlägt fehl: so Uiufft sie meiner
Charlotte zwischen die Beine durch, und kömmt wieder davon. Ich ant-
wortete mit rechter Verwunderung: Ey, das ist erschrecklich! worauff
sie wieder antwortete : So wahr ich eine ehrliche Frau bin, es ist wahr,
sie hat mir ein gantz neu Seiden Kleid zerfressen.
Dann klagt Fidele über den Hochmuth der Töchter: »Vormahls
waren sie noch gut genug, aber nun sie ein bißgen steiff geworden
seyn, wollen sie schrecklich hoch hinaus . . . Künftlige Fastnacht
wollen sie 500 Thaler nehmen und sich dafür Adeln lassen«. Ver-
wundert ruft Gleander aus: »So werden sie zweiffelsfrey RitterSitze
haben«, und nun folgt mit schneidendem Spotte die Antwort: »Auff
dem Lande ist mir von keinem bewust; allein sie haben sich einen
im Hoff hinter dem Röhrkasten bauen lassen«. Gleander: »Ist das
möglich?« Fidele: »Mons. darff nur einen von den Zimmerleuten
dieser Stadt fragen, so wird derselbe ihn nicht anders berichten«^).
^j In der Opera (s. u.j heisst es von dem Rittersitz etwas ausführlicher:
•^^1 CuRiSTiAN Reuter. 489
Die Mutter rückt nun mit dem rothen Damastzeuge zu den
Kleidern an, das ihr volle 1 1 0 Thaler gekostet hat (» hätte ichs den
Rabenassem nicht gekaufift, So wahr ich eine ehrliche Frau bin, sie
hätten mich aus dem Hause gejagt«); aber schwer gelingt es ihr,
die Ael teste zu trösten; sie selbst ist ausser sich, »Man denke doch
(und so spricht sie zu Jedermann, wie uns später Fidele erzählt)
ein Mädgen, das ihr gut Außkommen hat und vornehmer Leute Kind
ist, von so einem gemeinen Kerl eine Hure geheissen zu werden!«
ja »wanns doch noch was rechts gethan hätte!« Schliesslich erntet
sie keinen Dank, sie wird nur schnippisch von den Töchtern be-
handelt. Da kommt ein Bote aus Hamburg, Laux, und bringt die
schlimme Nachricht, dass ihr Sohii von Seeräubern gefangen sei, und
wenn sie ihn retten will, so muss die fast in Verzweiflung gerathende
Mutter abermals 100 Thaler herausrücken. Dieser Bote hat die Rolle
des Pickelhärings. Er rühmt auch besonders das Bier im Hause:
Ich muß gestehn, das Biergen schinackte wie lauter Zucker, und
klebete einem recht an den Fingern, so gut war es; ja es war auch so
ein kräflliger Trunck, daß mans mit Fingern hätte mögen austitzschen.
Das Qvartier gefiel mir auch wohl, und hielten sich auch so ein paar
schmucke Dinger bey der Fr. Wirthin auf. Obs nun ihre Töchter waren,
das kunte ich nicht erfahren ^) u. s. w. Wenn ich ein junger Studente
wäre gewesen, ich hätte doch einer ein Schmätzgen gegeben; so dachte
ich: zurücke, Laux, es thut Dirs wohl ein geringer Höltzgen.
Im zweiten Acte wird der Bote abgefertigt, Oleander schickt
seine Flasche Wein, Mutter und Töchter fahren sich nahezu in die
Haare beim Vertilgen derselben, Cleander wird ins Haus eingelassen.
Als die Köchin ihn hinein compUmentiert, sagt sie: »Nun so beliebe
er mir zu folgen.« »Ich folge euch«, erwiedert Cleander, »und
sollet ihr mich auch gleich in des Frauenzimmers Bette führen.«
Und als er später zurückkehrt , erzählt er mit Erstaunen , wie
ordinär und feiner Sitte widersprechend ihr Betragen gewesen sei.
Cleand. : Wo kann man ihn denn schauen?
Fidele : Dort, wo man sonst die Nüsse runterschlagt,
Und wo die Pferde rasten,
Es ist im Hofe hinter dem Röhrkasten.
Sicher geht auch hieraus nicht hervor, was man sich darunter denken soll. Dass
ein solcher Bau inoi rothen Löwen angelegt war, beweisen die Worte der Wittwe
Müller in ihrer Vernehmung am 5. October 4 695.
^) Er meint, es hätten auch wohl verdächtige Mädchen sein können: so un-
fein also hatten sie sich betragen.
33*
490 Fkiedbich Zarncke, [36
Die eine der Töchter hat ihn, da sie ihn Tür einen Herrn vom Hofe
gehalten, um ein Schönheitsrecepi gebeten, für den Rigorismus stu-
dentischer Auffassung ein höchst strafbares Verlangen.
Den beiden Studenten hat Frau Schlampampe mittlerweile die
Wohnung aufgekündigt, von gemeinen Kerlen gesprochen, und so ist
für diese aller Grund zur Schonung fortgefallen'). Die Strafe, die
Rache naht. Schon Cleander deutet uns an, dass er den Schwestern
statt des gewünschten Schönheitsreceptes etwas sehr Garstiges auf-
geschrieben habe. Fidele und Edward bereden sich nun, wie sie
einen artigen Possen erdenken wollen, »damit die eingebildeten Töchter
wichtig prostituiret würden «. Ehe aber dieser Scherz uns vorgeführt
wird, completiert sich die Familie, der älteste Sohn Schelmuffsky
kommt in zerrissenem Reiserocke aus der Fremde zurück. Er affec-
tiert, als habe er die Muttersprache verlernt. Statt »Der Teufel hole
mich« sagt er mit englischem Accent »Der Tebel hol mertc, statt
»Baumöl« mit französischem »Bomolle, Bomolie« (d. i. Bomolje). Der
erste Keim der späteren »Reisebeschreibung« liegt bereits in den
Worten, mit denen er auftritt:
Der Tebel bohlmer, wie froh bin ich, daß ich Plißine wieder zu sehen
bekomme; ich hätte mirs nicht eingebildet, daß ich sobald aus der Fremde
wieder kommen solte. Es ist mir auf meiner Reise, der Tebel hohlmer,
sehr unglücklich gegangen, in Schweden brach ich ein Bein, in Holland
lag ich 4. gantzer Jahr kranck, in .Engelland hatte ich kein Geld, und als
ich wolle nach Spanien segeln, gerieth ich den Frantzöischen Gaper-Schiffen
in die Hände, alwo ich ein gantz halb Jahr habe müssen gefangen sitzen,
und auf der harten Erden geschlaffen. Der Tebel holmer, wenn mir meine
^j Hier kommt noch eine Anspielung, die im Manuscript (wahrscheinlich von
anderer Hand) nachgetragen ist, und die durch das Stück selber nicht erklärt wird :
Fidele (lies Edward) : Aber gedachte sie nichts weiter?
Fidele : Ich gab aufT alles so eigentlich nicht achtung. Doch wo mir recht ist,
so erwehnete sie auch etwas von Tauben.
Edw. : Was denn von Tauben?
Fidele: Wie gesagt, ich observirte die Albertäten nicht einmal alle.
Edw.: Ach, itzt besinne ich mich, der Handel fällt mir bey; warte nur, ich
will Dich Tauben, Du alte Schachtel Du.
Die Schilderung der Müllerischen Familie im zweiten Theil des Schelmuffsky (s. u.)
zeigt, dass wir es hier offenbar mit einer Anspielung auf wirklich Vorgekommenes
zu thun haben ; aber ausreichend klar wird sie doch nicht. Im Stück wird durch
ihre Erwähnung seitens der Schlampampe dem Fass der Boden ausgeschlagen.
Vielleicht war die Leipziger Sludentenwelt damals ausreichend unterrichtet; viel-
leicht wären auch wir es, wenn sich die Universitätsacten erhalten hätten.
37] Christian Reuter. 491
Frau Mutter kein Geld geschickt, ich wäre noch nicht wieder loß. Nun
will ich auch, der Tebel hohlmer, nicht mehr reisen, sondern bey meiner
Frau Mutter bleiben und die Zeit weil ich lebe mit faulen Tagen zu-
bringen.
Er klopft an, die Köchin erscheint, hält ihn für einen Bettler:
»Helf euch Gott, ich kan euch nichts geben, ihr seyd ein junger
starcker Flegel, ihr könnet wohl arbeiten«, und sie geht wieder
hinein. Nicht anders geht es der Mutter, als diese auf wiederholtes ^^^
Anpochen erscheint: »Ihr Leute, wenü man allen wolle geben; es
sind ihrer heute wohl hundert schon da gewesen. Ihr müsset zum
Allmosen Herrn gehn«. Dann aber erfolgt die Erkennungsscene, die
Mutter fällt ihm gutmüthig um den Hals, Schelmuffsky aber hat gleich
materielle Begehren : »Frau Mutter, was hat sie denn guts zum Besten?«
Es soll ihm gewährt werden, ein schöner Karpfen soll gesotten wer-
den. Dazu begiebt man sich ins Haus.
Die beiden Handlungen unseres Stückes, die eine, welche es
mit den Töchtern, und die andere, welche es mit Schelmuffsky zu
thun hat, bieten sehr verschiedene Chronologie. Für diese werden
eigentlich so viel Tage wie für jene Stunden beansprucht. Dennoch
ist es offenbar noch nicht die Absicht des Dichters, wie sie dann
im zweiten Theil der Reisebeschreibung hervortritt, die ganze Reise
für eine Aufschneiderei zu erklären: die Monologe des Boten wie
Schelmuffsky's legen dafür Zeugniss ab, denen gegenüber auch die
Worte des kleinen Däfftle nicht ins Gewicht fallen dürfen, wenn er
später den Renommagen des Bruders gegenüber die Bemerkung wagt,
er glaube, er habe nie ein Schiff gesehen.
Nun tritt der Rückschlag ein, die Kehrseite des Stückes; der
Racheplan der Studenten wird ins Werk gesetzt. Er besteht darin,
dass sie zwei Hüpeljungen (Brezelverkäufer), also Gassenläufer der
untersten Sorte, als Edelleute verkleiden, mit Degen und Federbarett
versehen, ein wenig auf die adlichen Manieren einüben, und so die
hoch hinaus wollenden Töchter aufs Glatteis führen, richtiger, auf
die Probe stellen, denn wir dürfen, um diesen Scherz richtig zu
beurtheilen und nicht einfach für eine Rüpelei zu erklären, nicht un-
beachtet lassen, dass er ja nur geUngen konnte, wenn wirklich die
Prätensionen der Töchter völlig unberechtigte waren, wenn sie näm-
lich nicht im Stande waren, die eingelernten Manieren der Gassen-
f
492 Friedrich Zarncke, [^^
jungen von wirklich adlichem Benehmen zu unterscheiden. Der eine
der Jungen, Lepsch, stellt den Baron von Hupelshausen, der andere,
Fleck, den Herrn auf Schreiban und Leschaus (termini der Wirlhs-
stube) vor^). Die Verkleideten sprechen in dem Gasthause der
Schlampampe um Quartier vor, ihre Kutschen und Pferde würden
gleich nachkommen. Die Familie ist gerade bei Tische, um den
Karpfen zu verzehren. Hier wird uns zunächst noch Gelegenheit
gegeben, durch den unfeinen Ton, der hier herrscht, abermals an-
gewidert zu werden. Die Töchter, die in den neuen rolhen Damast-
gewändern prangen, versichern, nur Herren von Adel heirathen zu
wollen, und verlangen nun auch Kutsche und Pferde. Schelmuffsky
unterstutzt das: »Der Tebelhohlmer, Frau Mutter, hat sie nun so viel
auff die Mädgen gcwand, so kan sie ihnen ja wohl eine elende
Kutsche und Pferde halten.« Als die Mutter Schwierigkeiten macht,
platzt wieder Alles aufeinander, und die Mutter schimpft auf den
eben angekommenen Sohn: »0 Du lausigter Hund, ich wolte, daß
ich Dich nur unter den Frantzosen hätte verzappeln lassen.« Der
Aerger steigert sich noch, als der naseweise junge Däflftle, das
»Hätschelchen« der Mutter, sich dieser annimmt und dem Bruder
respectswidrig und an der Wahrheit seiner Aufschneidereien zwei-
felnd begegnet. Als SchelmuflFsky ihm schliesslich eine »Presche«
giebt, flucht sie über ihn: möchten ihn doch die Läuse aufgefressen
haben, möchten doch die Götter sie von dem bösen Menschen be-
freien. Aber Pack schlägt sich. Pack verträgt sich, und als der
Karpfen aufgetragen wird, ist Alles wieder vergessen. Man lauscht
den Lügen des Schelmuffsky, gegen die nur der kleine Däfftle sich
wieder spöttisch kritisierend verhält. Eben ist er in Gefahr, eine
zweite Presche zu bekommen, da klopft es, die beiden Edelleute
werden von der athemlos herbeistürzenden Magd angemeldet.
^) Merkwürdig, dass eine ganz ähaiiche Verkleidungsgescbichle in Chr. Weise's
Verfolgtem Lateiner vorkommt. Hier verkleiden die beiden Studenten Balduin und
Donat zwei Feuermauerkehrer, Hasenfuss und Ziegenbein, als Grafen, mit denen
dann die beiden Bauerntöchter, die den Studenten einen Korb gegeben hatten,
sich verloben. Die Studenten zwingen sie dann, das Grafenhabit abzulegen. Da
die Vorrede zu der Ausgabe vom 28. December 1695 datiert ist, so kann man
schwerlich umhin, hierin eine Einwirkung der Reuter' sehen Gomödie zu erblicken.
Bei Weise ist der komische EtTect gesteigert, indem der eine der Essenkehrer alle
Augenblicke in Gefahr geräth aus der Rolle zu fallen.
39] Christian Reuter. 493
Nun entwickelt sich eine ergötzliche Scene, die beiden Hüpel-
burschen, die die Edelleute spielen sollen, auf der einen Seite, die
beiden Mädchen, die die Galanten zu spielen sich bemühen, auf der
anderen, natürlich unfeinste Verstösse hüben und drüben. Daneben
die grob ordinäre Mutter und der dummaufschneidende Schelinuffsky.
Als abgeräumt ist, werden Musikanten geholt, ein Tanz aufgespielt,
selbst die alte Schlampampe nimmt an ihm Theil. Es ist nur ein
deutscher, da die Hüpeljungen sich natürlich französische und andere
ausländische verbitten müssen. Auch wird der Tanz gewiss absicht-
lich recht hüpelmässig ausgeführt worden sein; wenigstens in der
später zu erwähnenden Opera figuriert er unter den komischen
Ballets als » Plißinischer Hüpel- Jungen- Tantz«. Da plötzlich treten
Edward und Fidele herein und brechen in lautes Gelächter aus. Die
beiden Mädchen, ganz berauscht von der gemeinten Erfüllung ihrer
höchsten Wünsche, zeigen mehr als je ihre Verachtung gegen ihre
Hauseinwohner. Charlotte sagt zu ihrem Herrn Baron: »Herr Baron,
er weise doch solchen geringen Kerlen nur die Wege!« Und als
Edward und Fidele sich erbieten mitzutanzen, antwortet sie höhnisch :
» Man nähme sich die Mühe, und machte sich mit solchen Kerlen so
gemeine!« Da ist ihr Mass voll, die Studenten lassen die Maske
fallen und präsentieren sich als die Herren der Herren Barone: »Fort,
ausgezogen! damit sie sehen, daß ihr Hüpel-Jungen seyd.« Nun na-
türlich Verwirrung, Zorn, bittere Vorwürfe. Da treten Fidele und
Edward mit der moralischen Nutzanwendung heraus:
Fidele: Hört, Frauenzimmer^), hieltet ihr euch euren Stande gemäß,
wäret von keiner Einbildung und ließet ehrliche Bursche ungetadelt, ieder-
man würde euch auffs höfflichste begegnen.
Edward: Der verfluchte Hochmuth wird euch noch in das euserste
Verderben stUrtzen.
Humor und Satire werden noch einmal aufgenommen, als nun
die Musikanten bezahlt sein wollen, und der Herr Baron, auf dessen
^) Das war damals eine sehr höfliche Anredeform. So begrüsst Charlotte die
Melinde mit den Worten: nihre Dienerin, Frauenzimmer«, und in der Oper (s. u.)
erzählt der Bote Laux von den Töchtern u. A. : )>So neigten sie sich immer, und
hiessen nur einander Frauenzimmer«. So viel zur Ergänzung des Deutschen
Wörterb. 4, 1, 86.
494 Friedrich Zarncke, [^0
Wunsch sie geholt worden sind, mittlerweile zu einem Hupel-Jungeo
geworden ist: natürlich zahlen schliesslich die Studenten. Alexan-
driner machen den Schluss: die Töchter bleiben bei ihrem Zorn, bei
Drohungen und Verwünschungen. Die Studenten wiederholen die
Moral :
Fidele: Lebt ihr fein ehrbar nur, und bleibt in euren Stande,
Legt allen Hochmuth ab und nehmt die Demuth an,
Edward: So lobt euch iederman hier an Plissinens Strande
Und bleibt euch alle Welt mit Freundschafll zugethan.
Däfftle und die Mutter sprechen den beruhigenden Schlussaccord :
DüfFtle: Frau Mutter, lasse sie uns nur zu Bette gehen,.
Und nehmet diesen Spaß nur nicht so gar genau.
Schlamp.: So kommt, ihr Kinder, fori. Was wollen wir hier stehen*?
Ihr bleibt doch, wer ihr seyd, und ich die ehrlche Frau>).
Man sieht, das ist eine Comödie ganz in Molierischer Manier,
ganz nach Molierischem Zuschnitt. Hier hat offenbar noch speciell
eingewirkt diejenige Comödie Moliere's, die eine ganz gleiche Ten-
denz verfolgt, Le bourgeois gentilhomme ; wie bei dieser macht auch
in unserer eine Maskerade den Schlusseffect aus, man muss sagen
bei Reuter den Anforderungen der Wahrscheinlichkeit entsprechender
als bei Moliere.
Uebrigens verräth sich Reuter's Werk als die Arbeit eines An-
föngers. Die einfache Düpierung zweier jungen Mädchen, wenn sie
eine solche auch reichlich verdient haben und man hoffen darf, sie
werde ihnen nützlich sein, ist doch nicht bedeutend genug, um die
eigentliche Handlung, das eigentliche Hauptinteresse eines Dramas
ausmachen zu können. Es hätte, wie das bei Moliere stets der Fall
ist, noch eine andere Handlung als die eigentlich positive hinzutreten
müssen. Anfangs glaubt man auch, dass es des Dichters Absicht
sei, indem er das Liebesverhältniss des Edward mit Melinden ein-
führt. Wäre dies etwa gestört worden durch den Hochmuth der
beiden Mädchen und mit der Demüthigung dieser zum Ziele gelangt,
so würde das Stück befriedigender ausgefallen sein. Die Scene, die
^) Die äussere Einrichtung der Bühue ist dieselbe, wie sie auch in den Chr.
Weise'schen Stücke vorausgesetzt wird. Die Hauptdecoration stellt den eigentlichen
»Schauplatz« dar. In der Mitte der Hinterwand ist die Möglichkeit angebracht,
einen »Prospect« zu entrollen, der Zimmer im Innern des Hauses, eine Grabcapelle
u. ä. vorzuführen gestattet.
41] Christian Reuter. 495
jetzt zwischen den beiden Liebenden spielt, erscheint überflüssig, sie
hatte auch durch eine Erzählung ihres Inhaltes ersetzt werden können.
Und dann, wie eng und beschränkt ist der Umkreis und die
Lebensanschauung des Verfassers. Wie ganz anders bei Moliere, der
in der Hauptstadt Frankreichs alle Stände überblickte und ihre Eigen-
heiten beobachtete, der dem Hofe und den vornehmsten Kreisen der
hauptstädtischen Intelligenz die ersten Inscenierungen seiner Dramen
vorzuführen hatte. Die Lebensanschauung und der Horizont Reuter's
ist doch nur der des Studenten, und so auch das Interesse, für wel-
ches er geschrieben hat, wie er denn ja auch mit richtigem Gefühle
sein Opus den Studenten widmete. Es ist jene Auffassung des sou-
veränen Studententhums, das erst in den letzten Decennien zu schwin-
den begonnen hat, das in früheren Zeiten so sehr geneigt war, allen
Vorkommnissen der menschlichen Gesellschaft gegenüber die Rolle
des Sittencensors , gleichsam des Chors in der Tragödie zu spielen,
eine Anmassung, die, oft in ganz ungebührlichen Formen hervor-
tretend, nur dadurch erträglich blieb, dass es in der That kaum
einen anderen Kreis giebt, in welchem die allgemeinen Gedanken
der Moral so ungehemmt durch Schranken der äusserlichen Verhält-
nisse zum Ausdruck gelangen können, wie in der Studentenwelt.
Und im vorliegenden Falle durfte die Studentenschaft allerdings das
moralische Urtheil um so eher darzustellen berufen erscheinen, als
dieselbe ja von je her den Unterschied der Standes- und Vermögens-
verhältnisse für nichtssagend erklärt und selbst zu solchen Zeiten,
wo jene allgewaltig herrschten, verachtet hat. »Es läßt sich doch«,
sagt Reuter in einem späteren Stücke, »kein Studente verachten.
Und wenn er gleich kein Hembde auf dem Leibe hätte, so will er
doch so wohl respectiret seyn als der vornehmste Stutzer.« Aber
der Ausdruck dieses Selbstgefühls bleibt doch immer ein einseitiger
und beschränkter*).
'j Chr. Weise schildert uns dies studentisclie Wesen seiner Zeit im Politischen
Academicus (4 684) S. 16: »Und man bedencke doch nur, wie irresonabel die
Studenten ihre Sachen anfangen. Ihnen soll alles frey stehen, sie wollen des Nachts
durch die Gassen schwermen ; wer ihnen mißfallet, der soll sich auf hunderterley
Art schimpffen lassen. Hingegen aber, wenn jemand anders wider die Studenten
ein zweifTelhaftig Wort entfahren last; da wacht die Pursch-Manier auf, da will
man Häußer und UäschcrlÖchcr stürmen, und wenn man den gantzen Plunder beyni
f
496 Friedrich Zarncke, [42
Haben wir aber diese beiden Beschränkungen zugegeben, so
können wir dem Werke volles Lob ertheilen. Eine so flotte Dar-
stellung, eine so frische, nur dem Gesammtinteresse dienende Folge
der Scenen, eine so treffende Charakteristik hatte bis dahin ein deut-
sches Originallustspiel noch nicht aufgewiesen. Reuter übertrifft darin
den Schuldramatiker Christian Weise weitaus. Nichts ist bei ihm
zusammengerechnet; seine Personen sind, wie sie es denn ja auch
wirklich waren, wie aus dem Leben gegriffen: eine jede spricht ihre
eigene charakteristische Sprache, man wird an Goethe's Gestallen
im Götz, im Egmont erinnert. Der Dichter bekundet ein unleug-
bares Talent für die Comödie.
3. Harlekins Uochzeits- und Kindbetterin-Schmaus, zwei Singe-Spiele.
Gleich bei der ersten Erwähnung, die Reuter von der Comödie
gegen Bahr that, schon Ende Juli 1695, gedachte er auch eines dazu
gehörigen Nachspiels. Possenhafte Naclispiele galten damals, nicht
bloss hinter Tragödien, sondern gerade auch hinter Comödien für
nothwendig. Statt des einen finden wir nun zwei, die freilich eng
zusammen gehören. In Betreff der Verfasserschaft könnten sich Zwei-
fel regen, Reuter sagt ja nicht ausdrücklich, dass er auch der Verfasser
sei. Aber bei dem zweiten nennt sich der Verfasser wie bei der
Comödie »Hilarius«, und in einer Strophe wird auf die »ehrliche Frau«
Bezug genommen. Das uns erhaltene Originalmanuscript zeigt freilich
in der Hauptsache einen anderen Ductus als das Manuscript der
Comödie, aber hie und da tritt auch in ihm Reuter's Hand ganz
deutlich hervor, und unmöglich ist es keineswegs, dass Alles von
seiner Hand herrührt. Jedesfalls ist es nicht die Hand seines Freundes
Grel. Es ist daher an Reuter's Autorschaft gewiss nicht zu zweifeln.
Anders könnte es mit dem ersten Nachspiel zu stehen scheinen. Von
ihm haben wir das Manuscript nicht, und der Titel nennt nicht den
Namen Hilarius; auch ist es in Entr6es getheilt, während das zweite in
Acte und Scenen zerfäillt. Aber dass das Manuscript vorhanden war
(nicht etwa ein schon gedrucktes Werk nur mit aufgenommen ward)
lichteQ besiehet, so hat man selbst die meiste Ursach dazu gegeben, und der ganlze
Handel ist nicht werth, daß man deswegen zum Fenster hinaus sieht, a
\
43] Christian Reuter. 497
und dass es nur zusammen mit dem des dritten Actes der Comödie ab-
handen gekommen ist, geht wohl sicher aus den beim zweiten Nach-
spiele vorhandenen Satzzeichen (s. u. die Bibliographie) hervor; der
Name Uilarius konnte leicht aus dem Grunde fortgelassen werden,
weil die Personenzahl eine so grosse war, dass für ihn auf dem
Titel kein Platz blieb; es ist endlich wohl denkbar, dass Reuter auch
im Nachspiel von der Eintheilung in Entr^es zu der in Acte und
Scenen überging, zumal, wenn er etwa das erste Nachspiel schon
vor der Comödie gedichtet hat. Auch eine kleine sachliche Differenz
möchte ich nicht hoch anschlagen: im ersten Nachspiel äussert Har-
lekin vor der Hochzeit den grössten Abscheu vor der ihm gegen
seine Neigung angetrauten Ursel, im zweiten kommt diese zu früh
in die Wochen und Harlekin muss Strafe zahlen, weil er sich vor
der Trauung mit ihr eingelassen habe ^) . Beide Male aber steht der
Dichter unter den Bedingungen des Effectes und kann sich so füg-
lich über diese kleine Differenz hinweggesetzt haben. So lange also
nicht bedeutendere Gründe * zum Zweifel geltend gemacht werden,
dürfen wir Reuter als den Verfasser beider Nachspiele annehmen,
die auch in der Form wie im ganzen Tone denselben Ursprung ver-
rat hen.
a. Harlekins Hochzeitschmaus.
Das Stück besteht seiner Bezifferung nach aus 1 7 Entröes, wirk-
lich aber nur aus 16, weil bei der Zählung IV übersprungen ist.
Es kennt nur Sl Strophenarten, die folgendes Schema haben:
I) ^6a
^6a
Alexandriner
II) ->4a
^3b^
für ^ 4 a auch
>
trochäisch 4 a
4 b
ausnahmsweise auch
^4 a
4 b
iambisch
^3b-^
^c^
4c
^c^
4c
^3a
^d^,
dreimal wiederholt.
^) Auch sonst kommt es uoserm Dichter auf so kleine Differenzen nicht an.
So wird in »der ehrlichen Frau Krankheit und Tod« von Schelmuffsky gesagt, der
Hausknecht habe ihn bei seiner ersten Heimkehr für einen Bettler gehalten, wäh-
rend es die Köchin war, da ja in der »ehrlichen Frau« ein Hausknecht gar nicht
vorkommt. Auch erzählt im Anfange der zweiten Comödie die Schlampampe die
Geschichte von den Hüpeljungen und dabei, was Alles Schelmuffsky zum Besten
f
498 Friedrich Zarngke, \S^
Der letzte Vers von I hört mit Entr. VIII Str. 3 auf zu reimen,
so dass die dann hie und da noch vorkommenden Reime wohl nur
zufällige sind. Der fünfte und sechste Vers erscheinen gleich zu An-
fang zweimal in abweichender Gestalt; die letzte Silbe ist hier das
eine Mal oder beide Male ein selbstständiges Wort und da reimt die
Hebung nicht mit: »Als hoff ich, Du wirst mich«, und »Er liebt Dich
recht herzlich«. — Der 'erste Vers in II hat in den ersten beiden
Strophen seines Vorkommens nur 3 Hebungen, später stets 4; der
letzte Vers besteht nur einmal, Entr. XII Str. 3, aus drei verschie-
denen Worten (Ihr Häscher, ihr Schelme, ihr Diebe), sonst wird stets
dasselbe Wort wiederholt. — Ausser diesen beiden Strophen kommt
noch in Entr. X eine Ständchen-Aria, und in Entr. XVII ein Hoch-
zeitsgesang vor.
Von den beiden Strophenarten, von denen stets mehrere Stro-
phen derselben Art auf einander folgen, ist die erste überwiegend
in Gebrauch, die zweite nur dreimal, in Entr. III — V (bekanntlich
fehlt IV) 7 Strophen, in Entr. IX 4 Str. und in Entr. XH 4 Str.
Es kommen also nur 15 Strophen in diesem Tone vor, während der
erste durch 64 Strophen vertreten ist. Dieselbe Strophe wird häufig
unter verschiedene Personen vertheilt, sogar dieselbe Zeile unter zwei,
ja drei. Von beiden Tönen möge ein Beispiel hier Platz finden:
I. Du liebes werthes Kind, vernimm itzt, was ich Dir
Aus wahrer Vater Treu und Liebe bringe für.
Meine Kräfte nehmen ab,
Auf mich wartet schon das Grab.
Die Augen
Nichts taugen,
Noch Alles was an mir.
II. Du Flegel, darffstu Dich mein Kind
zu schmähen unterstehen?
Erzbengel, lauffe nur geschwind,
sonst solstu blutig gehen.
Sie ist vor Dich viel zu gut,
Du verlauflFner FünfTzehn-Hut,
Haluncke etc. :/: :/:
gegeben habe. Darunter ist aber Mehreres, das zwar in der Reisebeschreibufig
stellt^ nicht aber in der ersten Gomödie, geschweige in der Scene mit den ver-
kleideten Hüpeljungen. Zur Oper stimmt es besser, aber auch nicht ganz.
*ö] Christian Rbuter. 499
Der Inhalt dieses Stückes, das dem damaligen Geschmack ge-
mäss mit manchen Unfläthereien gespickt ist, ist der folgende:
»Harlequin« liebt die hübsche Lisette, die aber von ihrem Vater
Teneso dem reichen Monsieur Lavantin versprochen ist. Lisette ist
zwar dem Harlequin gut , aber vor Allem will sie doch nur einen
Mann, denn »es juckt ihr die Haut«, und da Lavantin sie ernähren
kann, während dies von Harlequin. mehr als zweifelhaft ist, so willigt
sie in des Vaters Wünsche ein. Harlequin weiss es noch nicht, der
kleine »Bettschelm« liegt ihm gar in seinem Sinn; freilich zu einer
tragischen Stimmung lässt er den Zuhörer nicht kommen, wenn er
droht, er wolle sich, im Falle sie ihm nicht werde, mit dem Beile
erstechen u. ä. Um sie von seinem Reichthum zu überzeugen, singt
er ihr das ganze Inventarium seines Besitzthums vor: »ein blaues
Hochzeitkleid mit rothem Fleck geflickt«; »ein zinnern Bruntzgeschirr,
so gar noch nicht gebraucht, das dienet mir und dir«; »zwei Wiegen,
sechs Ziegen, ein schönes blindes Pferd« und andere derartige schöne
Dinge. Man wird nicht recht klar, aber es ist doch wahrscheinlich,
dass Lisette ihn nur zum Besten hat: sie will mit ihrem Vater spre-
chen, obwohl sie noch kurz vorher die Stunde nicht erwarten konnte,
wo sie mit Lavantin getraut werden soll. Harlequin, obwohl auch er
schon vorher einmal singt: »Ich wette, Lisette kriegt Lavantin zum
Mann«, hofft doch noch das Beste; jedesfalls beschliesst er, ihr, die
er zierlich schmeichelnd sein »Raben-Aas« nennt, ein Ständchen zu
bringen.
Aber in den Sternen steht es anders geschrieben. Während er
selber der niedlichen Lisette nachläuft, hat auf ihn die Ursel, des
Besenbinders Claus Klumpe Tochter, ein Auge geworfen, ein Abschaum
aller Hässlichkeit. Sie sucht ihn auf, um sich ihm an den Hals zu
werfen, und da entspinnt sich denn ein Liebesduett, welches das
folgende Thema variiert:
Ursel: Nimm diesen Kuß, mein Schatz, von meinen Lippen an.
Harlequin: Ich wolte, daß Dir war ein Dreck ins Maul gethan.
Nachdem Ursel vergeblich geschmeichelt hat und mehr als ein »Pfuy
Teufel« über sich hat ergehen lassen müssen, bricht auch sie in
Schimpfen aus. Dazu kommt der Vater, um den wüsten Spectakcl
noch zu vermehren, der dann in eine Prügelei ausläuft: »Ursel schlage
wacker drein. Brich dem Schelme Hals und Bein! Courage etc. (Sie
r
500 Friedrich Zarncke, [46
fallen über einander und machen ein Gepolter.)« Der Richter mit
den Hüschem bringt sie endlich aus einander. Aber Ursel ist ein-
mal »vom Kützel angefochten«; »der Dreck liegt ihr doch so nahe
bei dem Herzen«, klagt ihr Vater; »Kriegt sie nicht bald einen Mann,
Thut sie selbst ein Leid ihr an«. Und das Schicksal ist ihr günstig,
wie der Verlauf zeigt.
Harlequin erscheint mit Leiter und Laterne vor Lisettens Fenster,
steigt zu diesem empor und singt eine rechte Harlekins-Aria (»Lisette,
liebster Rosenstock, Meins Herzens Zucker-Stengel, Du meines Leibes
Unterrock, Mein Schatz und Tausendengel« . . . »Das Hertz in Hosen
zittert mir Aus lauter Liebes-Triebe«). Durch den Gesang aufgeweckt,
erscheint Teneso mit einem Jungen. Sie ziehen die Leiter weg, so
dass Harlequin in der Luft an Lisettens Fenster hängt. Die Häscher
werden gerufen. Nach einem humoristischen Terzett wird Harlequin
trotz seiner Proteste ins Loch, ins Hunde-Nest, abgeführt.
Hier suchen ihn Claus und Ursel auf. Claus hat vom Richter
die Vollmacht bekommen, den Harlequin aus dem Hundeloch zu li-
berieren, wenn er sich entschliesse, die Ursel zur Frau zu nehmen*).
Harlequin seufzt: »Noth macht aus Kuhdreck Milch, mir geht es ebenso.
Vor war sie mir ein Gifft, itzt muß ich werden froh. Daß mich dieses
Murmelthier Bringet an das Licht herfür.« Er wird nun befreit, Ursel
möchte sofort ins Ehebett; man geht zum Richter, Harlequin klagt:
»0 Jammer! 0 Jammer! Nun geht die Hochzeit an. « Die Scene beim
Richter ist natürlich wieder mit allerlei Scherzen angefüllt, zu denen
die wirkliche Tölpelhaftigkeit des Claus und die beabsichtigte des
Harlequin, zugleich auch der Gegensatz zwischen Ursel's Begehrlich-
keit und Harlequin's Verzweiflung den StoflF giebt. Dann geht die
Hochzeit wirklich an.
Der Hochzeitbitter ladet den Richter ein, rühmt das Mahl:
Bey dem Wirth zur güldnen LauB,
Da wird seyn der Hochzeit-SchmauB.
Die Wirthin steckt ihr Schild heraus, die Gäste stellen sich ein, auch
Lisette und Lavantin, es wird ein derbes Hochzeitslied gesungen,
man setzt sich, wobei es wieder an Tölpeleien der Bauern nicht fehlt.
*) Dies Motiv konnte Reuter Weise's Triumphierender Keuschheit (4 668) ent-
nehmen, wo Pickelh'äring in ähnlicher Weise mit der Melane verheirathet wird.
^7] Christian Redter. 501
Dann werden die Geschenke gebracht, ein neues Bruntz-Geschirr,
eine Wiege, ein Reibeisen, ein Kamm etc. Harlequin hat jetzt seinen
Kummer vergessen. Sie »sfngen und sauffen ein Rundacc. Darauf
geht das Tanzen an, zu welchem Zwecke Tische und Bänke Über
den Haufen geworfen und weggeschafft werden. Der Hochzeitbitter
dankt schhesslich den Gästen im Namen des Bräutigams und seiner
Braut, sich zugleich an die Zuschauer wendend:
Geht nun heim zu guter Nacht,
Denn die Braut wird schon gebracht
zu Bette.
Valete,
Und nehmet so verlieb.
Wer sich mit modemer Prüderie an den zahlreichen Derbheiten,
ja Unsauberkeiten stösst, die uns hier geboten werden, dem fehlt
es an geschichtlichem Verständniss. Was uns in dieser Beziehung
heute verletzt, was heute kaum noch Männer einander bieten, wurde
damals ohne Anstoss in den feinsten Gesellschaften von Damen und
Herren, von Frauen und jungen Mädchen belacht. Dass aber, von
der Form, in die sich der Witz kleidet, abgesehen, die Charaktere,
die Verhältnisse der Personen zu einander und die Situationen ko-
misch wirksame sind, wird man nicht leugnen können, und ein frisches
packendes Interesse wird gewiss der Aufführung nicht gefehlt haben.
So ist denn dieses erste Nachspiel öfter gegeben und öfter für
sich gedruckt worden. In Augsburg ward am Montag den 13. Sept.
1723 aufgeführt: Das lustige Nachspiel von dem singenden Arlequin
und dessen lustigen Hochzeitschmaus nebst einem lustigen Bauern-
tanz von 6 Personen^). In Hamburg ward es noch 1742 — 44 von
der Madame Schröder, und 1748 — 50 von Kuniger gegeben (»Harle-
kins singender Hochzeitschmaus, die alte Singposse«; »Arlequins
lächerlich singender Hochzeitsschmaus, wo freilich nicht der Schmaus,
sondern die Hochzeitgäste sangen«)^). Das Publicum verlangte das
Stück zu sehen. Auch mit Marionetten ward es gegeben. Gottsched
sagt in der 4. Auflage des Versuches einer kritischen Dichtkunst
(vom Jahre 1751), S. 756: So ist z. E. des Harlekins singender
^j Opel, der Kampf der Universität Halle gegen das Theater, in den Blättern
für Handel, Gewerbe etc. (Beiblatt zur Magdeburger Zeitung) 4 884 Nr. 24.
2) J. F. Schütze, Hamburgische Theatergeschichte S. 266 und 86.
f
502 Friedrich Zarngke, [48
Hochzeitschmaus, den wir einzeln vielmal gedruckt haben, und den
ich noch selbst habe singend auffuhren sehen . . .a
Gottsched's Worte sind auch dadurch für unser Stück von
Wichtigkeit, weil sie demselben eine historische Bedeutung zuweisen.
Die Stelle lautet im Zusammenhange : »Deutschland hat also die Ehre,
dass in Nürnberg zuerst die Kunst erfunden und ausgebeutet worden,
ganze musicalische Vorstellungen auf der Bühne zu sehen. Und ob
sie gleich durchgehends nach 6iner Melodie gesungen worden, wie
andere Lieder: so thut dies Nichts zur Sache. Denn wer weiss, wie
die erste wälsche Oper ausgesehen hat? Alle Dinge sind im Anfange
schlecht und einfach: allmählich geht man weiter. So ist z. E. des
Harlekins singender Hochzeitschmaus .... schon etwas künstlicher,
weil er aus zweyerley Strophen besteht und nach zweyerley Melo-
dien gesungen wird.« Gottsched stellt hier die Einrichtung unseres
Nachspiels den Singespielen des Jacob Ayrer gegenüber, nicht den
grossen durchcomponierten Opern, wie solche bereits seit Opitzens
Daphne 1 627 auch in Deutschland gang und gäbe waren. Ich muss
es hier unentschieden lassen, wie lange noch jene eintönigen Sing-
spiele sich erhalten haben, in deren Kreis der Gattung nach unser
Nachspiel gehört, und ob dieses wirklich zuerst eine Vermannig-
faltigung der Form eingeführt hat.
Nicht zum wenigsten Bedeutung kommt unserem Nachspiele zu,
weil durch dasselbe Goethe veranlasst wurde zum Entwurf seines
mikrokosmischen Dramas: »Hanswurst Hochzeit oder der Lauf der
Welt«. Goethe nennt sein Vorbild, also unser Drama, »ein älteres
deutsches Puppen- und Budenspiel«. Hierüber hat eingehend und
überzeugend gehandelt Reinh. Köhler in der Zeitschr. f. D. A. XX,
S. 1 1 9 fg. Er hat auch schon darauf aufmerksam gemacht, dass der
Name der Braut »Ursel« und zwei vollständige Verse, die oben an-
geführten: »Bey dem Wirth zur güldnen Lauß, Da wird seyn der
Hochzeit-Schmauß«^) aus unserem Gedichte in Goethe's Entwurf über-
gegangen sind.
^) Eine spätere Verwendung dieser Firma (bei Kiirz-Bernardon, also um die
Mitte des <8. Jahrh.) bat E. Scbmidt nacbgcwiesen in der Zeitscbr. f. D. A. XXV,
S. %K\. Reuter entnahm sie von Chr. Weise, der schon in den 3 Erznarren (bei
Braune, Neudrucke KtJKh, S. 4 87) schreibt: »Im Gasthoffe zur güldenen Lauß ist
ein Fuhrmann Karsten Frantze, der kan« etc.
^^] Christian Reuter. 503
b. Harlekins Kindbetterinschmaus.
Hier ist schon durch den Namen Hilarius die Autorschaft Reuter's
gesichert, und die Bedenken, die beim Anblick der Züge des Original-
manuscripts auftauchen möchten (s. o.), können daneben nicht be-
stehen. Auch findet sich hier eine Anspielung auf die Comödie;
Ursel singt (Act UI, Sc. 1):
Wer noch kein Wochen-Bett hat auf der Welt gesehn,
Der stehet allhier eins auff dieser Stelle stehn.
B^trachtt es nur fein genau,
Es war sonst der Ehrlchen Frau.
Das hab ich
Nur neulich
Derselben abgekaufft.
Der ursprüngliche Titel war »Kindtauffen-Schmauß«, aber bereits im
Manuscript ist dies geändert in » Kindbetterin-Schmauß «, wie es der
Druck bietet, wohl, weil ja eine Taufe nicht stattfindet.
Die Eintheilung ist, wie schon angegeben, nicht nach Entr^es,
sondern nach Acten (deren drei sind) und Scenen. Die Einrichtung
in Betreff der Strophenformen ist dieselbe wie bei dem ersten Nach-
spiel. Von Ton I kommen 39 Strophen vor; in ihrem fünften und
sechsten Verse findet sich die oben erwähnte Freiheit hier viel öfter
als im ersten Spiel: »Das schön ist, Und Quarck frißt«, »"^Da ich sie
An ihr Knie«, »Er schmeißt Dich Sonst vor sich«, »Wie stehst Du,
Hasts Maul zu«, »^Damit wir Bald von hier«, »Und helft ihr. Damit
wir«, »Je freilich. Er hat mich«, »So solt ich Doch eilig«, »"^Daß ich
kann. Als ein Mann«, »^Wenn man gleich, Flugs zu euch«, »So muß
ich. Wie billig«, »*Wenn ihr sollt. Und nur wolt«, »Das hab' ich
Nur neulich«, »"^Der nicht kan Als ein Mann«, »Drum thu ich Gantz
hoff lieh«. Die mit Stern versehenen 6 Beispiele gehen geradezu iLber
in die Betonung -^-. Von Ton U erscheint in Act I, 1 , in I, 2
und in I, 4 je eine Strophe. In Act H besteht Sc. 1 aus 6 derselben,
in n, 4 stehen zwei hinter einander, in H, 5 eine; in Act III, Sc. 1
(der einzigen, die der Act hat) finden sich 6 hinter einander und
dann noch an zwei Stellen je 2. Also im Ganzen St2 ; der Ton
kommt also häufiger vor als im ersten Spiele, aber viel sporadischer
vertheilt als dort. Im letzten Verse findet sich hier eine ähnliche
Freiheit wie bei Ton I im fünften und sechsten, der Uebergang in
Abliandl. d. K. S. Oesellsch. d. Wissensch. XXI. 34
504 Friedrich Zarncke, [50
die Betonung -^-, vgl. »Was du sprichst :/: :/:«, »So steht auf :/: :/:«,
»Was ich wil :/: :/:«, »Wenn ihr wollt :/: :/:«; auch »Ein Runda :/: :/:«
gehört wohl hieher, wenigstens hat die Versbetonung dieses Wortes
sonst den Accent auf der zweiten Silbe. — Daneben giebt es dann
noch Rundas und allerlei andere Gesänge bei dem Schmause.
Es war gewiss nicht beabsichtigt, dass beide Nachspiele je neben
einander sollten gegeben werden; schon das Abschiedcompliment am
Ende des ersten widerspricht einer solchen Annahme. So entschul-
digt sich denn auch der Widerspruch, in welchem die Sachlage des
zweiten Spieles zu der des ersten steht.
Ursel ist nämlich, wie schon erwähnt, etwas zu früh, bereits
4 Wochen nach der Hochzeit, in die Wochen gekommen, und Har-
lekin hat keinen Grund zu einem Verdachte, auch schimmert Nichts
mehr herein, als ob er die Ursel nur ungern genommen habe. Wir
finden ihn in der Nacht auf der Strasse, wo eben der Nachtwächter
gerufen hat, mit seinem Diener nach der Kind- Mutter, Frau Ilse,
suchend. Derbe Scherze werden gemacht, kleine Possen kommen
nebenbei vor, natürlich auch Schläge; der Nachtwächter moralisiert:
»Im Lande, 0 Schande, wiö wirds noch endlich gehn!«, was eben-
falls fast zu einer Prügelei führt. Endlich lässt sich Mutter Ilse am
Fenster sehen, und bald darauf erscheint sie, gewiss in wunderlichem
Aufzuge, mit einem »finstern Laternichen in der Hand«.
Nun werden — denn das Kindchen ist glücklich geboren —
die Pathen eingeladen, der Vater Claus, der Schulmeister Klanghosius,
auch der Richter. Bei diesem erscheint Harlequin, oder, wie er ge-
meldet wird, Herr von Harlequin, in eigner Person und ein wenig
verlegen, denn er hat ob der frühen Geburt kein gutes Gewissen.
Der Richter ist denn auch nicht wenig ergrimmt:
Reitet euch der Henckers-Enecht,
Ihr bösen Ehe-Leute?
Ey, das Ding das ist nicht recht.
Drum leget nur bey Zelte
Zwey neu Schöckgen Straffe her,
Das ist von euch mein Begehr,
Vors naschen :/: :/:
Harlequin möchte anfangs die Hälfte abhandeln; als aber der
Richter sich auf Nichts einlassen will, zahlt er geduldig die Strafe,
worauf denn auch der Richter milder gestimmt wird und mit vielem
^^] Christian Reuter. 505
Vergnügen die Einladung, Pathe zu sein, annimmt. Er schliesst das
Gericht, weil er sich noch fein ehrbarlich ankleiden muss.
Der dritte Act führt uns in die Wochenstube, in der die Wöch-
nerin im Bette liegt, aber nur zu Anfange zu Worte kommt. Von
Taufe ist nicht die Rede, von dem kleinen Weltbürger erfahrt man
Nichts. Dagegen ist das Mahl zubereitet und die Gäste setzen sich
um den Tisch, auch I^vantin und Lisette. Heiterste Laune herrscht,
es wird viel getrunken und gesungen. Die von Einzelnen und vom
Chor gesungenen Rundas und sonstigen Scherzlieder sind gewiss aus
den Kneipgewohnheiten der damaligen Zeit entlehnt, und werden für
eine Geschichte dieser von Werth sein. Auch für Improvisationen
ist Andeutung geboten: »Hier können sie nun allerhand lustige Runda
singen«. Dann möchte man tanzen, oder, wie es heisst, ein »Ehren-
Täntzgen gebn«. Aber der ehrensteife Klanghosius, weil er »Halb-
Geistlicher auch mit verpflichtet steht«, ist dawider: »Tantzen stehet
mir nicht an. Denn ich bin ein Ehren-Mann«. Also fangen sie ein
»Spielgen« an und schliessen zu diesem Zwecke einen Kreis. »Sie
spielen unterschiedliche Spiele, letzlich fängt Harlequin folgendes an :
(Harleqvin singet vor)
Nun faBet alle an,
Ich will euch lustig machen,
So viel ich immer kan.
Nun sehet all auff mich :
All die auff diesen Reihen sind,
Die thun also wie ich.
(Hier macht nun ein ieweder was lächerliches. Klanghosius bleibt
der Letzte, und will sich im tierumdrehen sehen lassen, verschüttet
aber unversehens die Hosen*), worüber sie anfangen zu lachen, und
daß Kreyß-Spiel sich endiget.)«
Hierauf folgt die Beschlussstrophe, die hier Harlequin selber ad
Spectatores richtet:
Weil nun das Spiel ist aus und Harleqvinens Schmauß,
So gehet insgesammt nur wiederum zu Hauß,
*) Man muss, um diesen Possen zu verstehn, sich erinnern, dass er gerade
dem ehrenfesten Klanghosius passiert, dem selbst ein gegangenes Ehren-Tanzchen
schon gegen seine Würde verstiess.
84*
506 Friedrich Zarncke, [52
Slellt euch morgen wieder ein,
Es soll die Lust verbessert seyn.
Valete,
Favete,
Und nehmt mit uns verlieb.
Ohne Zvsreifel ist dies Spiel schwächer als das erste. In den
Situationen und Charakteren liegt nichts Komisches, der Humor wird
f durch Possenreisserei erzeugt. Es ist denn auch dies Stück offenbar
auf dem Theater lange nicht so beliebt gewesen wie das erste.
4. Beater's erste Relegation.
Rabener hat, in dem Bestreben, die Grenze zwischen Satire und
Pasquill zu ziehen, sich wiederholt über seine eigene satirische Schrift-
stellerei ausgesprochen, wie er dieselbe stets angeknüpft habe an
bestimmte Urbilder, wie es dann aber seine Hauptbemühung gewesen
sei, alle erkennbaren Spuren dieser persönlichen Beziehungen zu ver-
wischen. Er sagt: »Die Satire soll die Laster tadeln, nicht aber die
Personen . . . ; dennoch halte ich auch diejenigen nicht für strafbar,
welche ihre Gedanken bei der Verfertigung der Satire auf eine ge-
wisse Person richten. Meine Begriffe, meine Ausdrückungen, meine
ganze Arbeit wird viel lebhafter seyn, wenn ich ein Urbild vor mir
sehe. Ich tadle alsdann nicht die Person, ich tadle das Laster,
welches diese an sich hat«*). Und an anderer Stelle: »Sobald ich
mit einer Abschilderung fertig war, war dieses meine erste Sorge,
daß ich sie gegen diejenigen Gesichter hielt, die ich kannte, um zu
versuchen, ob vielleicht zu viel Aehnlichkeit von ihnen in meinem
Gemälde wäre. Das Gemälde selbst zu entwerfen, kostete mich immer
weniger Mühe, als mich es kostete, solches durch neue Züge, durch
mehr Licht oder mehr Schatten unkenntlich zu machen« 2). Wir
müssen es Chr. Reuter nachsagen, dass er durchaus nach diesem
selben Grundsatze verfahren war. Er hatte an bestimmte Personen
angeknüpft, darauf hin lebensvolle Bilder zu entwerfen verstanden,
dann aber hatte er sich redlich bemüht, jede bestimmte Hindeutung
zu entfernen. Sein Werk war eine Comödie, eine Satire, nicht ein
1] Satiren (4. Aufl. 1759) I, S. U4.
2J Satiren IV, S. 4.
Ö3] Christian Reuter. 507
Pasquill. Aber die Entfernung der persönlichen Hindeutungen war
ihm doch nicht völlig gelungen. Seine Vorbilder müssen wegen ihrer
Übeln Eigenschaften bereits stadtbekannt gewesen sein, ebenso die
einzelnen charakteristischen Redewendungen, die Reuter beibehalten
hatte ; sein Verleger vollends denuncierte die persönlichen Beziehungen
direct, indem er ein Bild der Ehrlichen Frau als Titelkupfer bei-
fügte, in welchem der Leipziger sofort die Wittwe Anna Rosine Maller
in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit erkannte. Nun ging man
im Ausspüren noch weiter. Mit dem Dr. Feinland aus Schlesine
sollte ein Dr. Schönfelder aus Schlesien gemeint sein; gewiss hat
man auch für den Cand. juris Gleander aus Marburg ein Vorbild
genannt: aber in den Acten wird dies nicht erwähnt.
Genug, kaum war die Comödie ausgegeben und in den Händen
der Studierenden — die beiden Nachspiele kommen nicht weiter in
Betracht — so wies Alles mit Fingern auf den rothen Löwen und
seine Bewohner. Man übertrug auf ihn den Namen des güldenen
Maulaffen — und so hiess er fortan in der Studentenwelt — , nannte
die Wittwe Müller: die ehrliche Frau, ihren ältesten Sohn: Schel-
muffsky. Abends sammelte es sich um ihr Haus, man rief diese
Namen zu den Fenstern hinein. Jungen stellten sich davor und sangen
Spottlieder. Noch Schlimmeres war zu befürchten, wenn in nächster
Zeit der älteste Sohn, der zur Zeit noch in der Fremde weilte,
zurückkehrte.
So wandte sich denn, von ihrem Präceptor, dem Hrn. George Leib,
gedrängt, am 4. October 1 695 Frau Anna Rosine an das Universitäts-
gericht und klagte gegen ihre früheren »Hausburschen«, die sie in Ver-
dacht hatte, gegen Reuter und Grel. Am 5. October ward sie vor
den Rath citiert, weil in diesem Falle, wo es sich um ein Pasquill
handele, der Rath, d. h. die Bücher-Gommission, das richtige Forum
sei, und am 7. October wandte sie sich schriftlich an den Rath,
unter Denuncierung des Verlegers und Druckers. Bei ihrer Ver-
nehmung am 5. October hatte sie als ganz besonders auf sie ge-
münzt hervorgehoben, dass »in solcher (Gomödie) das in ihrem Hause
befindliche neue Gebäude überm Wassertrog ganz deutlich enthalten
wäre«. Also der »Rittersitz« der Comödie.
An beiden Stellen ward die Untersuchung eröffnet. Heybey
suchte anfangs um das volle Bekenntniss der Wahrheit herumzu-
508 Friedrich Zarngke, [54
kommen, er bemühte sich, Bahr zu ablenkenden Aussagen zu bestim-
men. Als ihm aber das nicht gelang, bekannte er Alles der Wahrheit
gemäss und lieferte das Originalmanuscript zu den Acten, erklärte aber,
dass ihm die persönlichen Beziehungen unbekannt geblieben seien
und dass er sich als Verleger durch die Druckeria ubniss des Censors
für gedeckt gehalten habe. Diese Ausrede nützte ihm aber Nichts,
der Verkauf der Schrift ward inhibiert, und Heybey von dem Leip-
ziger Schöppenstuhle wegen »Begünstigung« zu 1 0 Thaler Strafe uod
in die Kosten verurtheilt. Nach mancherlei Ausreden und Versuchen,
sich der Strafe zu entziehen, die man im zweiten Anhange nach-
lesen möge, zahlte er endlich am Sl. Januar 1696, bekam dann
i Thaler im Gnadenwege zurück, und verschwindet damit aus dieser
Angelegenheit. Gegen den Drucker Brandenburger ward keine Strafe
erkannt: er war durch den Verleger gedeckt. — Man sieht, auch
das Gericht sah die Comödie unter dem Gesichtspuncte des Pasquills
an, erkannte in ihr nur eine Schmähschrift gegen die Familie Müller;
Alles, was der Dichter zur Completierung und Abrundung der Cha-
raktere und der poetischen Fabel hinzugethan hatte, ward für lügen-
hafte, aus boshafter Absicht hervorgegangene Verläumdung erklärt.
lieber die Untersuchung gegen Reuter sind wir nur andeutungs-
weise unterrichtet, da, wie schon erwähnt, die betr. Universitäts-
acten, die an 150 Folioblätter enthalten haben, verloren gegangen
sind. Was wir wissen, ist das Folgende.
Am 12. October 1695 ward er verhört. Er bekannte sich als
Verfasser, und zwar als alleiniger, der Comödie, gestand zu, jene
Betheurung: »so wahr ich eine ehrliche Frau bin« öfter von der
Müllerin gehört zu haben, nicht aber von ihrem Sohne die dem
Schelmuffsky in den Mund gelegten, die derselbe denn doch wohl
auch gebraucht haben muss, und leugnete, dass seine Comödie gegen
die Müllerin und ihre Familie gemacht sei; er habe sie meistens
aus dem Meliere genommen, er könne beschwören, dass es eine
fingierte Handlung sei. Heybey hatte ausgesagt, dass Reuter gegen
ihn geäussert, er habe einige Proverbia (d. h. Redensarten, s. u.)
aus Chr. Weise entnommen.
Weiteres erfahren wir aus der Supplik der Müllerin an den
Churfürsten vom 20. Aug. 1696, in welcher sie mittheilt, dass der
Pasquillant Reuter, nachdem vorhero viele Indicia wider ihn sich ge-
5Ö] Christun Reuter. 509
äussert, bei der Universität in gefängliche Haft genommen worden
und wider ihn mit der Inquisition verfahren worden sei. Darauf
folgt die wichtige Nachricht, dass er sich nicht nur zu berührter
Schmähschrift als Autor bekannt, sondern auch eingeräumt habe,
dass darin auf ihre und der Ihrigen Beschimpfung sein Absehen ge-
richtet gewesen sei. Darauf sei ihm die Relegation auf einige Jahre
zuerkannt worden, allein die Execution dieses Urtheils sei von ihm
bis dato verhindert worden durch das Vorgeben, eine schriftliche
Defension wider dasselbe fuhren zu wollen.
Bei keinem Puncte ist der Verlust der üniversitätsacten mehr
zu beklagen als hier. Unglaublich erscheint es, dass Reuter je direct
sollte zugegeben haben, dass seine Schrift wirklich eine Schmäh-
schrift auf die Familie Mttller sei. Man wird ihn durch allerlei ver-
fängliche Hinweisungen in die Enge gebracht haben, aber dass er
selber durch ein solches Zugeständniss direct auf den Boden seiner
Ankläger sollte hinübergetreten sein, erscheint mir undenkbar. Wenn
wir ihn im Jahre 1700 um Revision seines Processes und Versen-
dung der Acten nach Wittenberg bitten sehen, so hatte er gewiss
damit eben die Absicht, seine Rechte als Dichter dem Stadtklatsche
gegenüber geltend zu machen.
Wann der Process verlaufen ist, wann Reuter incarceriert, wann
verurtheilt ward, wissen wir nicht. Doch geschah es wohl erst im
Jahre 1696, denn am 2. October d. J. sagt Wermann »als Hr. Reuter
unlängst in carcere gewesen« u. s. w. Hier sass er volle 15 Wochen
in Untersuchungshaft, wie wir aus der Bittschrift an den König vom
5. März 1 700 ersehen. Dass er auf Ansuchen der Müllerischen Erben
incarceriert ward, bezeugt das Klagschreiben derselben vom 27. Januar
1700. Reuter's Relegation lautete auf zwei Jahre, wie das spätere
Relegationspatent angiebt. Zur Execution derselben aber kam es
nicht, indem Reuter um Gestattung einer schriftlichen Defension bat.
Dabei scheint ihm der Advocat Mor. Volkm. Götze, bei dem, wie
angegeben, der junge Bahr seine Wohnung hatte, mit rechtlichem
Beistande zur Hand gegangen zu sein. Dass er diese Defension ver-
schleppt habe, wird ihm auch im erwähnten späteren Relegations-
patent vorgeworfen. Er verliess Leipzig und begab sich nach Kitzscher ^),
1] Vgl. das Schreiben der Müllerischen Erben vom 27. Januar 1700.
r
510 Friedrich Zarncke, [^^
nahe bei Borna. Vermuthlich besorgte ihm dort Aufnahme der spä-
tere Schwiegersohn des Dr. jur. WeidUng, der J. U. Doctor und
Practicus J. Fr. Krüner, der dort »hochadlicher Gerich tsdirector«
war. Ob auf dem Rittergute selbst, müssen wir dahingestellt sein
lassen. Kitzscher war damals (1694 — 1701) im Besitze des her-
zoglich Sachsen - gothaischen Hauptmanns Anton Wilhelm Treusch
von Buttlar, und in Pacht hatte die Güter wie die Gerichtsbarkeit
Herr Hieronymus von Dießkau^), Erb- und Lehnherr auf Audigast,
der am 4. Januar 1699 in Kitzscher starb, obwohl auch Treusch-
Buttlar auf dem Gute residierte, wo ihm am S1. Nov. 1696 ein
Knabe geboren ward, der am 6. April des folgenden Jahres wieder
starb und in der »hochadlichen Leichengruft « beigesetzt ward. Der
Pfarrer hiess seit September 1695 Joh. Cotta, dessen Schwieger-
mutter eine Schwägerin des Universitätsactuars Scheffler war. Mit
ihm stand also Reuter wohl schwerlich in Verkehr.
Durch diese Entfernung verstiess Reuter offenbar gegen die
Universitätsgesetze, da ihm, wie immer in solchen Fällen, zweifels-
ohne der sogen, weitere Arrest auferlegt worden war, d. h. die An-
weisung, den Bezirk der Stadt nicht zu verlassen. Zugleich wird er
haben versprechen müssen, seine pasquillarische Schriftstellerei nicht
weiter fortzusetzen.
Es drohten also noch manche Gewitterwolken über seinem
Haupte, die sich aber der leichtsinnige junge Mann — freilich da-
mals bereits 30 Jahre alt — nicht anfechten Hess, ja die er noch
zu vermehren beflissen war, wie die nun folgenden Vorkommnisse
uns lehren werden.
5. Schelmuffsky's Cariose Beisebeschreibnng^).
Am 15. August 1696 wandte sich Frau Anna Rosine Müllerin
mit einer de- und wehmüthigen Klage an den Churfürsten, indem
nun zu der Comödie von der ehrlichen Frau auch noch ein Pamphlet
^) Zu beachten dürfte sein, dass die Dieskau's auch Rnauthain in Besitz hatten
und auch in Merseburg eine hervorragende Stellung einnahmen. Hatte Reuter
etwa zu ihnen und schon früher Beziehungen?
^) »Curios« oder noch häufiger Dcurieus« war damals ein beliebtes Schlag-
wort auf den Titeln von Werken. Schon Chr. Weise hatte 1691 )>Curieuse Ge-
^7] Christian Reuter. 51 1
auf ihren Sohn unter dem Titel: » Schelmuffsky's Reisebeschreibung«
erschienen sei. Hier und in den folgenden Auslassungen wird als
selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Verfasser auch dieses Bu-
ches Christian Reuter sei. Da ein Widerspruch nirgends erhoben
worden ist (die directen Angaben Reuter's fehlen bekanntlich, da die
üniversitätsacten uns im Stiche lassen), so haben auch wir keinen
Grnnd, demjenigen, der die Figur des Schelmuffsky zuerst eingeführt
hatte, diese weitere Ausführung derselben abzusprechen.
Der Schelmuffsky ist in der Gestalt, in der wir ihn zu lesen
pflegen, eine der classischen Schöpfungen der humoristischen Poesie,
eine jener Typen, die, wenn auch einer bestimmten Zeit entstammend,
doch durch die geniale Abrundung, die bei ihnen dem Dichter gelungen,
ein unvergängliches Eigenthum der Phantasie aller Zeiten geworden
sind. Er stellt sich ebenbürtig neben den Don Quixote und neben
Falstaff. Man umzeichnet die Persönlichkeit des Schelmuffsky nicht rich-
tig, wenn man ihn hinabdrängt in den Kreis der Handwerksburschen ;
schon die Erzählung von seiner Geburt rückt ihn durch die Erwäh-
nung eines gelehrten Präceptors im Hause der Mutter und ebenso
die Erzählung von seiner Jugend in die Sphäre des wohlhabenden
Bürgerstandes. Diesen haben wir als den Ausgangspunct für ihn
anzusehen. Auch trifft man die Tendenz des Romans nicht richtig.
danken von deutschen Versen v, und »Gurieuse Gedanken von deutschen Briefen«
herausgegeben, desgleichen »Guriöse Fragen«. Talander (A. Bohse] schrieb )>Cu-
riöse und historische Reisen durch Europa«, ferner erschien um jene Zeit »Gurieuses
Reise-Journal eines, welcher ohnlängst die Welt zu sehen angefangen«. Besonders
ist hier zu beachten im Anfange 1696: »Des Herrn von Montconnis (auch Mon-
Connys} sehr curieuse Reis-Beschreibung in Europa, Asia, Africa, aus dem Fran-
zösischen übersetzt«. Ferner »Des curieusen Hoffmeisters geographisch-historisch-
politische Wissenschaft «, » Neue historische curiöse Gesprächslust von alierneuesten
denkwürdigen Geschichten«, »Der curiÖse und vollkommene polnische Staatsmann«,
1695: »Der curiose und kluge Gärtner«, »Der curiose Pfropf- und Oculirmeister«,
»Guriose Kunst- und Werkschule^ lehrend allerhand bewährte Feuerkünste«, »Gu-
riöse Staatsfragen, wer in Spanien der rechtmässige Successor sein solle«. Un-
zählig oft' erscheint das Wort in den Messkatalogen jener Jahre. Besonders be-
liebt waren die »Gurieusen Geschichtskalender«; für jedes Land gab es einen
eigenen. So gab allein Gledisch in Leipzig in der Ostermesse 4 697 nicht weniger
als 16 solcher curieuser Geschichtskalender heraus. Daran schloss sich »Gurieuse
Vorstellung des heutigen Papstthums, anstatt eines päpstischen Geschichts-Galenders «
u. s. w.
512 Friedrich Zarngkb, [^^
wenn man ihn in erster Linie gegen die Aufschneidereien der damals
im Schwange befindlichen Reisebeschreibungen gerichtet annimmt.
Allerdings werden diese mitgetroffen, wie denn ja gleich die Vor-
rede sich gegen sie wendet^), aber der eigentliche Reiz der (xostalt
liegt doch anderswo. Sie geisselt jenes Bestreben des über seine
Grenze hinausstrebenden Bürgerstandes, die Manieren der vornehmen
Welt anzunehmen, die »artigen« und gezierten Sitten des Adels,
r seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventuren, wie die
französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be-
streben, das gegen Ende des 17. Jahrh. fast epidemisch zu werden
begann^). Es konnte hiebei natürlich nicht ausbleiben, dass oftmals
der Zwiespalt in der Erscheinung krass hervortrat. Ein Pracht-
exemplar so hybrider Bildung führt unser Schelmuffsky uns vor. Ein
bürgerlicher Thunichtgut, von Natur dumm und rüpelhaft, spielt den
. galanten Aventurier, behauptet, wie auch er der Sitte des damaligen
Adels gemäss seine Bildungsreise, die sogen, grosse Cavaliertour, ge-
macht habe, nennt sich Signor Schelmuffsky, legt sich das adlige
»von« bei und schildert uns nun mit kecker Miene seine Erlebnisse.
Ueberall hat er durch sein galantes Wesen die Augen der Noblesse
auf sich gelenkt und Alles bezaubert, Fürsten und Potentaten hat er
imponiert, man hat ihn nicht genug zu ehren gewusst; alle Frauen-
zimmer der höchsten Stände haben sich augenblicklich sterblich in
ihn verliebt. Und wenn er uns nun erzählt, was und wie es vor
sich gegangen, so tritt der Widerspruch zwischen seiner prätendierten
Galanterie, Anmuth und Klugheit und seinem tölpelhaft horndummen
^) S. 7 : Es hat der Tebel hohlmer mancher Kerl kaum eine Stadt oder Land
nennen hören, so setzt er sich stracks hin, mid macht eine Reisebeschreibung
Zeilen Eilen lang davon her ; wenn man denn nun solch Zeug lieset, (zumahl wer
nun brav gereiset ist, als wie ich) so kan einer denn gleich sehen, daß er nie-
mahls vor die Stuben-Thüre gekommen ist, geschweige u. s. w.
2) Man erinnere sich der damals erschienenen zahllosen Werke, die diese
Kunst lehren wollten. Ich führe aus der Mitte der neunziger Jahre einige Titel an:
»Die recht veritable Kunst, galant, artig und wohl zu leben«, »Galant homme,
wie man sich in Worten, Werken, Geberden wohl aufführen und beliebt machen
soll«, »Der galante und in dieses Welt-Leben recht sich schickende Mensch«,
)>Der Arzt der Galanterie oder die Kunst, schön zu werden« u. s. w. Letzlere
Schrift erschien in Heybey's Verlage, der auch sonst ähnliche Bücher noch ver-
legte, wie z. B. Weidling's Anweisung für Hoffmeisler und Gouverneure. Vgl. oben.
59] Chbistian Redteb. 513
und unglaublich rUpelhafteu, ja säuischen Wesen, das er ahnungslos
verrälh, so drastisch hervor, dass ein komischerer Gegensatz nicht ge-
dacht werden kann ; die geographischen Aufschneidereien treten dem
gegenüber sehr in zweite Linie, so drollige Wunderlichkeiten freilich
auch sie zu Tage bringen. Dabei wird aber die Person des Helden
trotz aller Selbstgefälligkeit und Selbstbespiegelung doch nie wider-
wärtig; er erzählt so frisch und flott, so naiv und so ergötzlich, so
aus einem Gusse, so selbstzufrieden, und dabei im Ganzen doch auch
harmlos, dass man ihn, wenn er einem nur drei Schritte vom Leibe
bleibt, getrost gewähren lassen mag. Wer nicht, wie Gervinus, durch
vornehme Steifheit für den Humor und seine Mittel unzugänglich
geworden ist, der wird zu allen Zeiten die Gestalt des Schelmuffsky
als eine der genialsten Schöpfungen der komischen Muse zu schätzen
wissen. Mit besonderem Behagen aber und wahrer Schadenfreude
wird zu jener Zeit der Adel in ihm ein Abbild jener ihm wider-
wärtigen Richtung mancher Glieder des Bürgerstandes erblickt haben,
die sich zu seinem Aerger in seine Reviere einzudrängen suchten.
Wenn wir daher bald den Verfasser zu dem hohen Adel des Landes
in fast intimer Beziehung stehen sehen, so kann uns das nicht ver-
wundern.
Der Schelmuffsky ist also nicht ohne ethische Tendenz, wenn
auch ohne Spur von Moralisation , und diese ethische Tendenz ist
aufs nächste verwandt mit der, die in der ehrlichen Frau hervortrat.
Aber jene uns gegenwärtig vertraute Gestalt des Schelmuffsky
ist nicht die ursprüngliche desselben. Ich vermag eine erste Aus-
gabe nachzuweisen, der es noch nicht gelungen ist, das Bild com-
plet zu zeichnen, den Stil zu voller Abrundung zu bringen.
Von allem Anfange an musste es bedenklich erscheinen, dass
der für die Editio princeps geltende Druck in Octav war, denn bei
der Confiscation des Schelmuffsky am 27. Aug. 1696 wurden bei
dem Buchbinder Petri zwei Exemplare gefunden, an die ein Exem-
plar des sogen. »Bärtigten Frauenzimmers« angebunden war. Dieses
letztere Lustspiel, von nur einem Acte, ist aber in Duodez und ver-
schiedene Drucke desselben Jahres sind bei dem wenig bedeutenden
Inhalte nicht eben glaublich. Wie hätte nun ein Buchbinder diese
beiden Formate in einen und denselben Einband vereinigen können?
Als ich daher erfuhr, dass sich auf der Bibliothek in Gotha ein
5li
Friedkich Zarhcks.
6»»
Schelmuffsky io Duodez befinde, zweifelte ich nicht, dass in ihm
die Editio princeps erhalten sei, ond ich ein interessantes biblio-
graphisches Novum za bieten im Stande sein werde. Aber meine
Erwartungen wurden weit übertroffen, die Ausgabe erwies sich als
ein in wesentlichsten Dingen abweichender Text, gewissermassen nur
erst der Embryo der späteren Darstellung.
Schon der äussere Umfang beweist dies: die bisher einzig be-
kannte älteste Ausgabe umfasst 132 Seiten Octav, die Gothaer nur
120 Seiten klein Duodez. Der Inhalt der letzteren entspricht dem
des später sogen. Ersten Theiles; der Titel nennt diesen noch nicht,
aber die Schlusszeilen bezeichnen das Buch bereits so und weisen
auf das Erscheinen eines zweiten Theils hin. Der Veriauf der Er-
zählung ist im Ganzen derselbe. Nach der Geschichte von der Ratte
und von der Geburt des Helden wendet sich die Erzählung nach
Hamburg und Altena, von da nach Stockholm, nach Amsterdam, nach
Indien, dann durch das mittelländische Meer nach Engelland, nach
St. Malo und über Hamburg zunick nach Schelmerode. Aber im Ein-
zelnen ist in der späteren Bearbeitung kein Satz ungeändert geblieben;
zuweilen ist fortgelassen, meist aber ist zugefügt. Ueberall sind die
treffendsten humoristischen Lichter erst in der zweiten Bearbeitung
aufgesetzt worden. Jener formelhafte, typische, sich stets wieder-
holende Stil ist erst hier ganz durchgeführt worden. In der ersten
Gestall tritt weit mehr der aufschneidende Reisende hervor, wie denn
auch das Gothaer Exemplar mit mehreren Reisebeschreibungen nach
Indien, Persien und Nordamerika zusammengebunden ist, in der spä-
teren der als Galanthomme sich geberdende Rüpel. Erst in dieser
letzteren ist der Typus fertig. Einige Zusammenstellungen aus beiden
Ausgaben mögen das Gesagte illustrieren ; ich werde die wesentlichen
Zusätze und Abweichungen durch Gursivdruck hervorheben. Zunächst
die Geschichte von der Ratte:
A. Erste Ausgabe.
Als die grosso Ratte, welche mei-
ner Frau Mutter ein gantz neu sei-
den Kleid zerfressen, mit dem Be-
sen nicht hatte können todt ge-
schlagen werden, indem sie mei-
ner Schwester zwischen die Beine
durchlaulll, und unversehens in
B. Spätere Ausgaben.
Als die grosse Ratte, welche meiner
Frau Mutter ein gantz neu seiden Kleid
zerfressen, mit den Besen nicht hatte
können todt geschlagen werden, indem
sie meiner Schwester zwischen die Beine
durchläufft und unversehens in ein Loch
kömmt, fällt die ehrliche Frau deßwegen
64]
Christian Rbdtkr.
515
ein Loch kommt, fällt die ehrliche
Frau ^) deBwegen aus Eyfer in eine
solche Ohnmacht, daB sie gantzer
vier und zwantzig Tage da liegt,
und kan sich weder regen noch
wenden. Ich, der ich damals die
Welt noch mit keinem Auge ge-
sehen, und nach Adam Riesens
Rechenbuch vier gantzer Monat
noch im verborgenen hätte pausi-
ren sollen, war dermassen auch
auff die sappermentsche Ratte so
böse, daB ich mich aus Ungedult
nicht länger halten kunte, sondern
sähe, wo der Zimmermann das Loch
gelassen hatte, und kam cUso sporn-
streichs auff allen vieren in die
Welt gekrochen. Wie ich nun auff
der Welt war, lag ich 8 gantzer
Tage zu meiner Frau Mutter FttBen
im Bett-Stroh, ehe ich mich ein-
mal recht besinnen konte wo ich
war. Den neunten Tag erblickte
ich mit grosser Verwunderung die
Welt, SappermentI wie deuchtete
michs so alber und närrisch? matt
und durstig war ich, gehen kunle
ich nicht, meine Frau Mutter lag
da , als wann sie vor den Kopff
geschlagen wäre, niemand wolte
ich mich sonst sehen lassen, die-
weil ich noch nichts auff dem
Leibe hatte, und wüste also keinen
Rath, was ich anfangen solte. End-
lich dachte ich, du must doch se-
hen, wie du deine Frau Mutter er-
munterst. Ich versuchte es auff
allerley Art und Weise, bald zupffle
ich sie bey der Nase, bald machte
ich ihr einen Klapper-Storch, bald
krabbelte ich ihr an der Fußsohle,
bald zerrete ich ihr, wo ich zu
kam, ein Häärgen aus, sie wolle
aber nicht erwachen. Letzlich so
aus Eyfer in eine solche Kranckheit und
Ohnmacht, daB sie gantzer S4. Tage da
liegt und kan sich der Tebel hohlmer we-
der regen noch wenden. Ich, der ich
dazumcU die Welt noch niemals geschauet,
und nach Adam Riesens Rechen-Buche
4. gantzer Monat noch im Verborgenen
hätte pausiren sollen, war dermassen
auch auf die sappermentsche Ratte so
thüricht, daB ich mich aus Ungedult nicht
länger zu bergen vermochte, sondern sähe,
wo der Zimmermann das Loch gelassen
hatte, und kam auf allen vieren sporen-
streichs in die Welt gekrochen. Wie ich
nun auf der Welt war, lag ich 8. gantzer
Tage unten zu meiner Frau Mutter Füssen
im Bettstroh, ehe ich mich einmal recht
besinnen kunte wo ich war. Den 9ten
Tag so erblickte ich mit grosser Verwun-
derung die Welt, 0 sappermentI wie
kam mir ailes so umste da vor; sehr ma-
lade war ich, nichts hatte ich auf den
Leibe, meine Fr. Mutter hatte alle Viere
von sich gestreckt, und lag da als wenn
sie vor den Kopff geschlagen wäre,
schreyen wolte ich auch nicht, weil ich
wie ein jung Perckelgen da lag, und wolte
mich niemand sehen lassen, weil ich na-
ckend war, daB ich also nicht wüste, was
ich anfangen solte. Ich hatte auch willens
wieder in das Verborgene zu wandern, so
kunte ich aber der Tebel hohlmer den Weg
nicht wieder finden, wo^ ich hergekommen
war. Endlich dachte ich, du must doch
sehen wie du deine Frau Mutter ermun-
terst, und versuchte es auf allerley Weise,
bald kriegte ich sie bey der Nase, bald
krabbelte ich ihr unten an den FuBsoh-
len, bald machte ich ihr einen Klapper-
storch, bald zupffte ich ihr hier und da
ein Härgen aus, bald schlug ich sie aufs
Nollepützgen ; Sie wolte aber davon nicht
aufwachen ; letzlich nahm ich einen Stroh-
halm und ktttzelte sie damit in den Hncken
^j fett gesetzt.
516
Friedrich Zarncke,
(62
nahm ich einen Strohalm und kttt-
zelte sie in der lincken Knie-Kähle,
wovon sie eyligst aufffuhr, und
schrie: eine Ratte I eine Ratte!
Wie sie die Ratte erwehnete, war
es der Tebelhohlmer nicht anders,
als wenn einer ein Scheermesser
nehme, und ftthre mir damit unter
der Zunge weg; worauff ich ein
erschröcklich Auweh rufile, und
unten zu meiner Frau Mutter Füssen
mich weg machte^ und an ihr hinauff
krabbelte. Hatte nun die ehrliche
Frau zuvor nicht die Ratte erweh-
net, so schrie sie hernach wohl
tausendmahl eine Rattel eine Ratte!
als ich an ihr hinauff gekrochen
kam. Ich guckte aber gleich unter
dem Deckbette hervor und sagte:
Frau Mutter^ sie fürchte sich nur
nicht, ich bin keine Ratte, sondern
ihr lieber Sohn. Da hätte man
Freude gesehen, die meine Frau
Mutter über mir hatte, sie leckte
mich bald hinten und vorne, so lieb
war ich ihr : Wie sie sich nun so
eine Weile mit mir gehätschelt,
nahm sie mich in ihre Arme^ stund
mit mir auf, zog mir ein weiß
Hembde an, und ruffte die Leute
im Hause alle zusammen, daB sie
mich sehen solten. Da die Leute
nun kamen, und mich alle so an-
sahen, fieng ich mit einer lächelnden
Mine an, und sa^te : Ihr Leute, seyd
ihr dann gar Narren, daß ihr mich
alle so ansehet, ihr werdet ja euer
Nasen -Loche, wovon sie eiligst auffuhr
und schrie, eine Ratte! eine Ratte! Da
ich nun voti ihr das Wort Ratte nennen
hörete, war es der Tebel hohlmer nicht
anders, als wenn iemand ein Scheer-
messer nehm und führe mir damit unter
meiner Zunge weg, daß ich hierauf also-
bald ein erschreckliches Auweh ! an su
reden fing. Hatte meine Frau Mutter nun
zuvor nicht eine Ratte! eine Ratte! ge-
schrien, so schrie sie hernachmals wohl
über hundert mal eine Ratte ! eine Ratte !
Denn sie meinte nicht anders es nistelte
eine Ratte bey ihr unten zu ihren Füssen.
Ich war aber her, und kroch sehr artig
an meine Frau Mutter hinauf, guckte bey
ihr oben zum Deck-Rette heraus, und
sagte : Frau Mutter, Sie fürchte sich nur
nicht, ich bin keine Ratte, sondern ihr
lieber Sohn ; daß ich aber so frühzeitig
bin auf die Welt gekommen, hat solches
eine Ratte verursachet. Als dieses meine
Frau Mutter hörete, Ey sapperment! wie
war sie froh, daß ich so unvermuthet war
auf die Welt gekommen, daß sie gantz
nichts davon gewust hatte. Wie sie mich
dasselbe mal zuhertzte und zuleckte, das
will ich der Tebel hohlmer wohl keinen
Menschen sagen. Indem sie sich nun so
mit mir eine gute Weile in ihren* Armen
gehätschelt hatte, stund sie mit mir auf,
zog mir ein weiß Hembde an und rnSte
die Mieth-Leute im gantzen HauBe zusaro-
men, welche mich alle mit einander höchst
verwundernd ansahen und wüsten nicht,
was sie aus mir machen solten, weil ich
.schon so artig schwatzen kunte.
Ld)tage ein klein Kind gesehen ha^
ben? hatten sie mich zuvor nicht angesehen, so sahen sie mich allererst hernach
an, wie sie mich reden höreten, und verwunderten sich grausam wegen meines
klugen Verstandes, ja sie stunden auch alle in Zweiffei, ob ich meiner Frau
Mutter Sohn wäre, oder nicht?
Nicht immer ist der Vorzug auf Seiten der zweiten Bearbeitung.
So ist es z. B. weit passender, dass der Knabe seine Mutter in die
Kniekehle kitzelt, denn erst später kriecht er empor und schaut zum
63] Christian Redter. 517
Deckbette hinaus, was er doch schon mUsste gethan haben, wenn er
sie mit dem Strohhalm in die Nase kitzelte. Auch ist die Erzäh-
lung, dass er anfangt hinaufzukrabbeln und dadurch seine Mutter in
der Annahme bestärkt, es bewege sich eine Ratte zu ihren Füssen,
ganz angebracht. Endlich, wenn auch in B erwähnt wird, dass die
Leute sich darüber wundern, dass der Junge schon so artig zu
schwatzen verstehe, so ist es doch nöthig, dass er vorher auch in
ihrer Gegenwart geredet habe, wie in A, dessen Fassung auch noch
dadurch bewährt wird, dass es auch in B später heisst: »so glaubten
sie hernach allererst, daß ich meiner Frau Mutter ihr Sohn wäre.«
Auch sonst noch sind in B Stellen ausgefallen, die für den
Zusammenhang nothwendig sind. S. 96 heisst es in B:
»Als die Staadens Tochter mir nun dieses und jenes gozeiget, fing
sie zu mir an und sagte, ich solle sie doch immer nehmen, und wenn
ich ja keine Lust mit ihr in Amsterdam zu bleiben hätte, so wolle sie
ihr Lümpgen zusammen packen und mit mir forlwandern wo ich hin-
wolle, wenn gleich ihr Vater nichts davon wüste. Worauf ich ihr zur
Anlw^ort gab, wie daß ich der bravste Kerl von der Welt wUre, und es
könte schon angehen, aber es Hesse sichs so nicht flugs thun, ich wolle
es zwar überlegen, wie es anzufangen wäre und ihr ehister Tage Wind
davon geben. || Nach diesen ging ich wieder auf den Tanz-Platz und wolle
sehen, wo meine zukünfftige Liebste wäre, welche von mir auf der Gasse
so geschwinde weglieff; Ich sehe' mir bald die Augen aus den Kopffe nach
ihr um, ich kunte sie aber nicht zu sehen bekommen.«
Man sieht, vor dem letzten Satze »Nach diesen . .« fehlt etwas
im Zusammenhang; was bedeuten diese Worte, und wo ist erzählt,
dass seine zukünftige Liebste auf der Gasse von ihm' fortgelaufen sei?
A giebt uns die Antwort: es ist ein Stück der Erzählung ausgefallen.
Es heisst in A S. 92 (und man beachte, wie gross auch in dem
Zusammenstimmenden die Aenderungen sind ; von ihrem Antrage, sie
zu heirathen und heimlich mit ihr durchzugehen, ist in A bereits
vorher die Rede gewesen):
»Damit ich aber wieder auf des Staadens Tochter zu redön komme,
so gieng dieselbe nun in der gantzen Stadt mit mir herum, welches bei
den Leuten ein solch Aufsehen erweckte, daß Ichs nicht sagen kan. |[ Es
gieng mir aber der Tebelholmer auch unglücklich, obs nun angestellt war,
kan ich nicht wissen. Wie wir bald wieder an dem Hochzeit-HauB waren,
kamen ihrer drey gegangen, die fiengen im Vorbeygehen an zu wetzen^),
^j Die Klinge auf dem Pflaster wetzen war dazumal die studentische Manier
der Herausforderung.
518 Friedrich Zarncke, [64
und nahmen nicht einmal die Hüte vor mir ab. Sappermentl wie biB
ich die Zahne zusammen, und fieng an : was wolt ihr Kerl ? Die Kerl auf
mich hinein. Wie das meine Maitresse sähe, lieff sie von mir weg, und
habe sie auch die Stunde nicht wieder gesehen. Wie ich aber die Kerl
so zu schänden hieb, werden mir die damahligen Hochzeit^GSste noch die
Stunde müssen ZeugniB geben. Die Wache kam auch darzu, und wolle
mich in Arrest nehmen; der Bürgermeister sähe es aber, schickte flugs
jemand nach, und ließ den Kerlen sagen : sie selten sich an keiner Standes-
Person vergreiffen, und er wäre schon Mann dafür. Als sie dieses hörteOf
giengen sie wieder fort, und nahmen die, so ich gehauen hatte, noch darzu
mit. ]| Ich gieng hierauf wieder in das Hochzeit-HauB, und erzehlete die
ganze Sache kürtzlich, daB auch der Bürgermeister sagte: wenn ich sie
gleich alle drey todt gestochen, es hätte kein Hahn darnach krehen sollen^
warum hätten sie gewetzt? Es hatten mir etliche von den Hochzeitr-Leuten
zugesehen, die kunten nicht Wunder genug sagen, wie ich die Kerl exer-
ciret hätte. Als der Zorn sich nun so ein wenig bey mir geleget, fragte
ich nach des Staadens Tochter, mit welcher ich spatziren gegangen, die
weite nun niemand wissen.«
Vielleicht ging in B ein Blatt des neuen Manuscripts verloren.
An anderen Stellen ist der Grund der Weglassung in B erklär-
lich. So wenn in A S. 104 die Arie mitgetheilt wird, die Scbel-
muffsky bei dem Grossmogol singt, die ihm aus einer Hamburgischen
Opera bekannt gewesen sei; das erschien wohl später nicht mehr
wirksam genug. Auch wenn in A S. 07 fg. bei dem gelabberten
Meere nach dem Herzog Ernst erzählt ward, wie sich Einer in eine
Pferdehaut hätte nähen lassen und so vom Vogel Greiff ans Land
getragen wäre. »Wo derselbe Kerl hernach wäre zukommen, hätte
kein Mensch erfahren können. Als er nun seine Historie von dem
labberten Meer auserzehlet hatte, kamen wir unter die Linie. « Neben-
bei, die Anknüpfung in A ist wieder einmal origineller als die in B,
wo es nun S. 101 heisst: »Wie wir nun vor dem gelabberten Meere
vorbey waren, kamen wir unter die Linie.«
Noch einige Stellen zur Vergleichung. Die nächste Scene spielt
in Stockholm; ich habe bei dem Umfange der Abweichungen davon
absehen müssen, einzelne Verschiedenheiten hervorzuheben.
A S. 60. B S. 64.
Wie ich das verstor- Nach diesen LieBgen verliebte sich hernach eines
bene LieBgen nun so ein vornehmen Nobels Tochter in mich, dieselbe hieB
biBgen vergessen hatte, Damigen , und gab nun ebenfalls wieder Freyens
kam eines andern vor- bey mir vor. Es war der Tebelhohlmer ein unver-
nebmen Nobels Tochter gleicblich Mensche auch ! Mit derselben muste ich
65]
Christian Reuteii.
519
immer zu mir, mit der
muste ich alle Tage spa-
tzieren fahren, die hatte
nun eigene Kutsche und
Pferde, und fragte mich
auch, ob ich sie neh-
men wolte? Das Mensch
gefiel mir auch sehr wohl,
ich lieB mich da halb und
halb von ihr bereden, daB
ichs ihr zusagte, sie zu
heyrathen. Wie solches
geschehen , wurde ein
groB Spiel davon gemacht,
alle Leute redeten davon,
daB das Mensch so wohl
ankäme, und es wäre so
ein braver^) Kerl, den
sie kriegte. Solche und
dergleichen Reden er-
zehleten die kleinen Jun-
gen einander nun auf der
Gassen. Ich lieB aber al-
les gut seyn, und mochte
davon reden wer reden
wolte. Nun wüste ich
aber nicht, daß ein an-
derer Nobel auch bey
ihr in der Liebe lag und
wolte sie haben. Was
trug sich zu? Ich ftlhrete
mich einsmahls mit ihr
auf der Gassen, daB mich
die Leute doch auch se-
hen selten, wer ich wäre.
Wie ich sie nun so iin
Arme hatte und gieng
mit ihr, Sapperment!
wie sähe das YoldL zun
Fenstern heraus , und
verwunderten sich alle
über mich. daB ich so
ein braver Kerl war.
Der Nobel mag nun auch
alle Tage spatziren fahren und mich stets mit ihr
schleppen. Ob ich nun wohl der Nobels Tochter
sehr wohl gewogen war, und auch Vertröstung ge-
than sie zu nehmen, so hatte ich aber den Hand-
schlag dennoch nicht von mir gegeben , allein es
trugen sich alle kleine Jungen auf der Gasse mit
herum, das Jungfer Damigen eine Braut wäre, wie
das Mensche so wohl ankäme, und was sie vor so
einen vornehmen braven Kerl zum Manne kriegte,
an welchen auch flugs alles lachte, wenn man ihn
nur ansähe. Von solchen Spargement war nun die
gantze Stadt voll. Ich hatte mich auch gäntzlichen
resolviret sie zu heyrathen und hätte sie auch ge-
nommen, wenn sie nicht ihr Herr Vater ohne mein
und ihrer Wissen und Willen einen andern Nobel
versprochen gehabt. Was geschähe ? Damigen bath
mich einsmahls, daB ich mit ihr muste an einen
Sonntage durch die Stadt spazieren gehen, damit
mich doch die Leute nur sähen, denn sie hätten von
den Lust-Gärtner gehöret, daB ich so ein braver
vortrefflicher Kerl wäre, den nichts ungemeines aus
den Augen funckelte, und also trögen ihrer viel
groB Verlangen mich doch nur zu sehen. Nun
kunte ich ihr leicht den Gefallen erweisen; und sie
in der Stadt ein wenig herum ftlhren. Es war
gleich am Baltens-Tage , weicher dazumahl den
Sonntag einfiel, als ich. mit Damigen in der Stadt
Stockholm herumspatzieren gieng, und Sie bey der
Hand ftlhrete. Wie nun die Leute sahen, daB ich
mit meinen Damigen da angestochen käme, 0 Sap-
perment ! wie legten sie sich zu den Fenstern her-
aus I Sie redeten immer heimlich gegen einander,
und so viel ich vernehmen kunte, sagte bald hier
einer : das ist doch ein wunderschöner Kerl I bald
fing ein anderer in einen andern Hause an : Des
gleichen hab ich mein Lebetage nicht gesehen ! Bald
stunden dort ein paar kleine Jungen, die sagten zu
einander: Du, sieh doch, da kömmt das Mensche
gegangen , die den vornehmen reichen Juncker
kriegt, der draussen bey den Lust-Gärtner in Quar-
tiere liegt. Bald stunden an einer Ecke ein paar
Mägde, die sagten: Ach Ihr Leute! denckt doch
wie Jungfer Damigen so wohl ankömmt, sie kriegt
den Kerl da, der sie bey der Hand ftlhrt, das
1) Erst gegen Ende pflegt es auch in A zu heissen »brav Kerl«.
Abhandl. d. K. S. öeBellHch. d. WissenBcb. XXI. 35
520
Friedrich Zarnckr,
[66
etwan iin so einem Orthc
seyn , und sehen , daß
ich seine Maitresse im
Arme habe, und mich
auf der öffentlichen Gasse
mit ihr führe. Was hat
er zu thun? Er schleicht
sich heimlich hinter uns
her, und gibt mir der
Tebelhohlmer hinter-
rücks so eine Ohrfeige,
daß mir der Huth weit
vom Kopffe flog, und
lieff geschwinde in ein
HauB hinein. 0 mor-
pleul wie knirschte ich
mit den Zähnen. Sein
groß Glücke wars, daß
er lieff, ich hatte ihn
sonst der Tebelholmer
auf der Stelle erstochen.
Ich war ihm auch wil-
lens nachzulauffen, weil
mich aber meine Liebste
bath und davon abhielt,
ich solte es nur gut seyn
lassen , es möchte sonst
ein groß Auffsehens von
den Leuten erwecken,
so gieng ich mit ihr fort,
und that, als wenn mir
nichts drum wUre. Auf
den Morgen früh schickte
ich gleich des Lustgärt-
ners Jungen zu ihm, und
ließ ihm sagen etc.
Mensche ist ihn nicht einmahl werth. Solche und
dergleichen Reden murmelten die Leute nun so
heimlich zu einander. £s war auch ein Nachgesehe,
daß ichs der Tebel hohlmer nicht sagen kan. Als
wir nun auf den Marckt kamen und allda uns ein
wenig aufhielten, daß ich (1. mich) das Volck recht
•sehen solte, mag derselbe Nobel dieses gewahr wer-
den, daß ich Damigen (welche er zur Liebsten ha-
ben solte) nach aller Lust da herum führe ; ich ver-
sähe mich aber dieses nicht, daß der Kerl solch
närsch Ding vornehmen wird ; Indem mich nun die
Leute und mein Damigen mit grosser Verwunderung
ansahen, kam er von hinterrücks und gab mir der
Tebel hohlmer eine solche Presche, daß mir der Hut
weit von Kopffe flog, und lieff hernach geschwinde
in ein Hauß hinein. 0 Sapperment! wie knirschte
ich mit den Zähnen, daß sich ein Kerl solch Ding
unterstund, und wenn er nicht gelauffen wäre, ich
hätte ihn der Tebel hohl mer die falsche Quinte
gleich durchs Hertze gestossen, daß er das aufstehen
wohl vergessen sollen. Ich hatte auch willens ihn
zu verfolgen, wenn mich Damigen nicht davon noch
abgehalten hätte, die sagte : Es möchte so ein groß
Aufsehens bey denen Leuten erwecken, und ich
könte ihn schon zu anderer Zeit finden. Als Damigen
diesen Vorschlag that, setzte ich meinen Hut mit so
ßiner artigen Manier wieder auf, daß auch alle die
Leute, welche mir hatten hinterrücks sehen die
Presche geben , heimlich zu einander sagten : Es
müßte was rechts hinter mir stecken. Ob ich nun
wohl gegen mein Damigen mich erzeugte als wenn
mir nichts drum wäre, dennoch aber kunte ich das
Knirschen mit den Zähnen nicht lassen, so tolle war
ich, daß ich auch endlich Damigen bath, wenn sie
beliebete, so weiten wir wieder zum Lust-Gärtner
hinaus wandern, und uns da im Garten ein wenig
noch divertiren. Damigen gehorchte mir in allen,
wir giengen beyde mit so einer artigen Manier wieder zurück und immer
nach des Lust-Gärtners Hause zu, allwo ich mich in Garten mit meinen Da-
migen ins Graß setzte, und mit ihr berathschlagete, wie ichs anfangen wolte
mich an den Nobel zu rächen. Hierauf satzte sich Damigen in ihre Kutsche
und fuhr wieder in die Stadt nach ihrer Behausung zu. Den andern Tag
drauf, als ich mich nun erkundiget, wo der Kerl wohnete, welcher mir die
Ohr-Feige gegeben , schickte ich des Gärtners Jungen an ihn , und ließ ihn
sagen etc.
Der Schiffbruch, nachdem sie von Stockholm abgefahren sind,
67]
Christian Revtea.
521
wird in A und B ziemlich gleich geschildert, um so charakteristischer
sind aber die kleinen Zuthaten in B^ So heisst es hier, sie seien
etliche Wochen geschifft bis sie nach Bornholm gekommen seien,
während sie dann später in 3 Tagen auf dem Brette nach Amster-
dam schwimmen; der Tod der Charmante wird höchst stilvoll ge-
schildert und der ganze Erzählungston ist in der angedeuteten Rich-
tung gesteigert.
A, S. 74.
Es fuhr sich den einen Tag gut :
den andern Tag aber, wie es so
begunte finster zu werden , Sap-
permenti was erhub sich da vor
ein Ungestüm auf der See, daB der
SchifTmann der Tebelholmer kein
Stich sehen kuote, ob er gleich
zwey grosse brennende Lampen bei
sich hängen hatte. Wenn ich da-
ran gedencke, wie dasselbemahl
der Wind brausete, er schmieß die
Wellen der Tebelholmer die höch-
ste Thttrme hoch über das Schiff
weg, und wolte gar kein auff hören
seyn. Zu dem allergrösten Un-
glücke hatte der Schiffman den
Coinpas zu Stockholm im Wirths-
hause auf dem Tische liegen las-
sen, der kunte nun auch nicht
wissen, wo wir waren, ankern
wolte sichs auch nicht lassen, da-
rum muste er dem Schiffe seinen
Willen lassen, wo es Wind und
Wellen hintrieben. Wie wir nun
nicht weit von der Insel Bornholm
waren, so schmeist der Wind, ehe
wir uns solches versehen, das Schiff
an eine Klippe, daß es der Tebel-
holmer im Augenblick auff tausend
Stücken Sprung. SappermentI was
war das vor ein Zustand, da gieng
Schiff und Menschen alles caduc,
und wenn ich und mein Herr Bru-
der Graff nicht unversehens ein
Breit hätten zu fassen gekriegt, wir
wären der Tebelholmer auch rail
B, S. 84.
Wir schifften etliche Wochen sehr glück-
lich fort, und waren alle brav lustig auf
den Schiffe; als wir aber an die Insel
Bornholm kommen, wo es so viel Klippen
giebt, und wenn ein Schiffmann die Wege
da nicht weiß, gar leichtlich umwerffen
kan, £y Sapperment ! was erhub sich im
Augenblicke vor ein grosser Sturm und
Ungestüm auf der See, der Wind schmiß
der Tebel hohlmer die Wellen die höch-
sten Thürme hoch über das Schiff weg
und fing an kohl-bech-raben-stockfinster
zu werden. Zu dem allergrösten Unglücke
noch hatte er zu Stockholm in Wirthshause
den Compaß auf den Tische stehen lassen
und vergessen, daß er also gantz nicht
wusle wo er war, und wo er zufahren
solle. Das Wüten und Toben von den
grausamen Ungestümm wärete 44. gan-
zer Tage und Nacht, den funffzehenden
Tag, als wir vermeinten es würde ein
wenig stille werden, so erhub sich wie-
der ein Wetter und schmiß der Wind un-
ser Schiff an eine Klippe, daß es der
Tebel hohlmer flugs in Hundert tausend
Stücke sprang. Sapperment! was war
da vor ein Zustand auf der See ! Es ging
Schiff, Schiffmann und alles was nur zu-
vor auf den Schiffe war, in einen Augen-
blick zu Grunde, und wenn ich und mein
Herr Bruder Graf nicht so geschwinde ein
Bret ergriffen hätten, worauf wir uns flugs
legten, daß wir zu schwimmen kamen,
so wäre kein ander Mittel gewesen, wir
hätten gleichfalls mit den 6000. Seelen
müssen vor die Hunde gehen ; 0 Sapper-
35*
^
522
Friedrich Zarncke,
68
vor die Hunde gegangen ; nicht eine
eintzige Person wusle sich von den
6000. Seelen da zu retten, und war
also ein groß Glück, daß ich und
der Graff noch das Brett ergriefiFen.
Da musten wir nun aufi* solchen
ungestUmmen Wellen wohl über
iOO. Meilen schwimmen, ehe wir
an Land kamen. Nichts betaure
ich noch bey damahligem Schiff-
bruche, als daß meine Charmante
muste so unschuldiger Weise mit
drauff gehen ; denn es war immer
und ewig schade vor das Mensche,
sie hatte ein überaus gut Gemüthe,
und war auch von vortrefflichen
Verstände, allein was kunte ich
thun, ich muste sie doch vergessen.
ment! was war da von den Leuten ein
Gelamentire in den Wasser, nichts mehr
dauret mich nodh die Stunde, als nur
meine allerliebste Charmant«, wenn ich
an dasselbe Mensche gedencke gehen mir
der Tebel holmer die itzige Stunde die
Augen noch über. Denn ich hörte sie
wohl lOmahl noch im Wasser »Anmuthi-
ger Jüngling« ruffen, allein was kunte ich
ihr helffen, ich hatte der Tebel hohlmer
Selbsten zu thun daß ich nicht von dem
Brete herunter kipte, geschweige daß ich
ihr hätte helffen sollen. £s war immer
und ewig Schade um dasselbe Mensche,
daß es da so unverhofft ihr Leben mit in
die Schantze schlagen muste; Es kunte
sich auch der Tebel hohlmer nicht eine
eintzige Seele retten als ich und der Herr
Graf auf dem Brete. Als ich und mein
Herr Bruder Graf diesen Trauer-Spiele auf unsern Brete in der Ferne nun so eine
Weile zugeschauet, plätscherten wir mit unsern Händen auf denselben fort, und
musten wohl über hundert Meilen schwimmen, ehe wir wieder an Land kamen.
Schliesslich noch der Anfang der Erzählung von der Verferti-
gung des Hochzeitcarmens in Amsterdam. Man wird beachten, wie
viel zweckmässiger die Vertheilung und Darstellung in B ist als in A :
A, S. 80. B, S. 87.
In etlichen Tagen hernach, war Es wurde zu derselben Zeit bald eine
vornehme Hochzeit, worzu man mich und
meinen Herr Bruder Grafen auch invitirete.
Denn es heyrathete ein Lord aus London
in Engelland eines vornehmen Staadens
Tochter zu Amsterdam, und wie es nun
da gebräuchlich ist, daß die vornehmen
Standes-Personen, welche zur Hochzeit ge-
bethen werden, allemahl zu Ehren Braut
und Bräutgam ein Hochzeit-Carmen dru-
cken lassen , und sie damit beehren , als
wolte ich hierinnen mich auch sehen las-
sen, dz ich ein brav Kerl wäre. Es war
gleich um selbe Zeit bald Gertraute, daß der
Klapperstorch bald wiederkommen solte,
und weil die Braut Traute hieß, so wolle
ich meine invention von den Klapperstorche
nehmen, und der Titul sollte heissen:
eine vornehme Hochzeit, darzu
wurde ich und der Herr Bruder
Graff auch eingeladen. Ein Lord
aus Engel land kriegte eines vor-
nehmen Staadens Tochter, wel-
che Traute hieß. Nun ist es da
gebräuchlich, daß die Standes-
personen allemal Braut und Bräu-
tigam zu Ehren ein Hochzeit-
Carmen drucken lassen, und sie
damit beschencken. Ich wolte
mich hierbey nun auch sehen
lassen, daß ich ein braver Kerl
wäre, und beehrete sie auch da-
mit; weil die Braut aber Traute
hieß, und etwan noch acht Tage
im Calender auf Gertrude ^) war,
^) n. März.
69]
Christian Reuter.
523
daß der Storch kommen solle,
so nahm ich die Invention von
dem Klapper-Storche, salzte mich
dahin , nahm Feder und Dinte,
und fieng an zu schreiben, es
wolle mir aber selben Tag gar
nichts bey fallen. Ich fragte den
Herrn Grafen, ob er dergleichen
sonst gemacht hätte, er solle mir
was aufsetzen, ich wolle sehen,
wie mirs gefiele; auf dem Abend
salzte sich der Hr. Graff hin,
und wolle mir da ein Hochzeit-
Carmen dichten ; wie er etliche
Zeilen gemacht hatte, wollen sie
mir nicht gefallen; denn an statt
dessen, da er den Klapperstorch
setzen solle, hatte er die Lerche
genommen, und wo Gertrude ste-
hen solle, da stund Flora oder
sonst ein närrischer Nähme, wel-
chen ich mein Lebelage in kei-
nem Caiender gesehen hatte, hö-
ret nur, wie er anfieng:
Die Lerche hat sich schon in
Lüfflen praesentirt,
Und Mutter Flora steigt all-
mählich aus dem Neste,
Schläffl gleich die Maja noch
in ihrem Zimmer feste;
Daß also jetziger Zeil viel
Lust nicht wird gespürt.
Als ich die Verse nun gelesen
hatte, reimte sichs vors erste der
Tebelholmer nicht. Denn prae-
senlirt und Neste, wie schickt
sich denn das zusammen? Vor
das andere wusle ich auch der
Tebelholmer nicht, was Maja und
Flora heissen solle. Ich sagte
zum Grafen; Herr Bruder, zer-
brich dir nur den Kopff nicht
weiter, komm und laß uns zu
Bette gehn. Welches er auch
Ihal.
Der fröliche Klapper-Storch, etc.
Ich war her und salzte mich drüber, und
saß wohl über vier Stunden, daß mir doch
wäre eine Zeile beygefallen? Der Tebel
hohlmer nicht ein Wort kunte ich zu Wege
bringen, das sich zu den frölichen Klapper
Storche geschickt hätte, ich bath meinen
Hn. Br. Grafen, er solle es versuchen ob
er was könle zur Nolh herbringen, weil
mir nichts beyfallen wolle. Der Hr. Graf
sagte nun, wie er vor diesen wäre in die
Schule gegangen, so hätte er ein Bißgen
reimen lernen, ob ers aber würde noch
können , wüste er nicht , doch müsle ers
versuchen obs angehen wolle. Hierauf
salzte sich der Graf nun hin, nahm Feder
und Dinte und fing da an zu dichten ; was
er damahls nun aufschmierete waren fol-
gende Zeilen:
Die Lerche hat sich schon in Ltifflen
praesentiret.
Und Mutter Flora steigt allmehlig aus
den Neste;
Schläfll gleich die Maja noch in ihren
Zimmer feste.
Daß also ietzger Zeit viel Lust nicht
wird gespürt.
Dennoch so will —
Als er über diesen Zeilen nun so wohl eine
halbe Stunde gesessen, so guckte ich von
hinten auf seinen Zeddel und sähe was er
gemacht halte; wie ich nun das Zeug laß,
musle ich der Tebel hohlmer recht über
den Herrn Bruder Grafen lachen daß es
solch albern Gemachte war. Denn an statt,
da er den Klapperslorch hätte setzen sol-
len, halle er die Lerche hingeschmiret, und
wo Traute stehen solle, halle er gar einen
Flor genommen ; denn der Flor schickt sich
auch auf die Hochzeit I und darzu hätte
sichs auch hinten aus reimen müssen 1 denn
praesentiret und Neste, das reimt sich auch
der Tebel hohlmer wie eine Faust aufs
Auge. Er wolle sich zwar den Kopff weiter
darüber zubrechen, allein so hieß ichs ihn
nur seyn lassen und dafür schlaffen.
524 Friedrich Zarncke, [70
Man sieht, dass wir dringend einer Doppelausgabe des Schel-
muffsky bedürfen, die entweder so eingerichtet ist, dass beide Texte
in 2 Columnen neben einander (oder über einander) gedruckt wer-
den, oder die doch mit reichlichen Verweisungen von einem Texte
zum andern versehen ist.
Die Annahme, dass die zweite Bearbeitung gar nicht von Chr.
Reuter selber herrühre, und mit dem E. S. des Titels ein Anderer
gemeint sei, erscheint mir zu abenteuerlich, um ernsthaft in Erwä-
gung gezogen werden zu können. In den Buchstaben E. S. ver-
muthe ich die Worte: Eustachius Schelmuffsky. Es zeigen sich auch
im Druck einzelne Eigenheiten, die direct auf Reuter's Handschrift
hinweisen. Von der Verdrängung des adj. mask. Dativs durch den
Accusativ will ich nicht sprechen, diese war damals in Leipzig herr-
schend, aber Reuter hat z. B. die Eigenheit, die ich sonst nicht
wieder beobachtet habe, das Fragezeichen oft auch statt eines Aus-
ruf ungszeichens zu verwenden, und ebendiese Eigenheit hat auch
noch der älteste uns erhaltene Druck der erweiterten Bearbeitung.
Ob der zweite Theil früher erschienen ist als diese Umarbeitung
des ersten Theiles, ist nicht mit voller Bestimmtheit zu entscheiden.
Könnten wir sicher sein, dass die Jahreszahl 1697 auf dem uns erhal-
tenen ältesten Drucke jenes das Jahr des ersten Erscheinens bezeichne,
so wäre die Bearbeitung des ersten Theils vorangegangen, denn wir
haben von dieser einen Druck aus dem Jahre 1696. Aber in dem
Berichte- der Bücher-Commission an den Churfürsten vom 21. Nov.
1696 wird bereits der »andere Theil« als confisciert genannt. Aller-
dings ist die ganze Stelle wieder ausgestrichen, aber wie sollte man
auf jene Bezeichnung überhaupt haben kommen können, wenn für sie
noch gar keine Veranlassung vorlag? Auch ist es doch wahrschein-
lich, dass die älteste Ausgabe des zweiten Theils in demselben Format
erschien wie die des ersten, dass also der uns erhaltenen bereit«
eine andere vorausgegangen ist. Dazu kommt, dass der zweite Theil
sich gegenüber der Umarbeitung des ersten Theiles etwas winzig
ausnimmt (78 : 1 30 Seiten) , während er zu der ersten Bearbeitung
desselben ein ganz angemessenes Verhältniss haben würde (78 S. 8^ :
120 S. 12^). Ich vermuthe also, dass die erste Ausgabe des zweiten
Theiles, und zwar in Duodez, bereits im November 1696 vorhanden
gewesen ist; der erste ist ja schon im August nachgewiesen.
74] Christian Reutbb. 525
m
Dieser zweite Theil enthält eine Steigerung über die anfängliche
Tendenz hinaus, nach der an der Reise des Schelmulfsky weder in
der Comödie noch in der Reisebeschreibung gezweifelt wird. Nach
der Darstellung des zweiten Theiles aber ist Schelmuffsky gar nicht
in der Fremde gewesen, sondern hat in der Nähe auf einem Bier-
dorfe herumgesofl^n.
Ob bei Reuter's späterer definitiven Verurtheilung der Schel-
muffsky eine wesentliche Rolle gespielt hat, vermögen wir, weil uns
die Universitätsacten fehlen, nicht zu sagen. Für den ersten Theil ist
es kaum glaublich, da sich in ihm, der ganz in der Fremde spielt,
offenbare Beziehungen auf die Familie Müller nicht finden : nur der
Name und einige Fata des Schelmuffsky, die Erwähnung der »ehr-
lichen Frau« zu Anfang und zu Ende, und die Geschichte von der
Ratte bieten einen Zusammenhang mit der Comödie. Anders steht
es mit dem zweiten Theile. Hier kehrt Schelmuffsky heim ins Haus
der Mutter und Gelegenheit mindestens zu Argwohn liegt nahe. Man
erkennt auch gar leicht in den beiden liederlichen Muhmen die leicht-
sinnigen Schwestern wieder und in dem verzogenen Vetter den jün-
geren naseweisen Bruder. Nun möchte man vermuthen, es seien
ihnen hier die entfernteren Verwandtschaftsgrade nur um deswillen
beigelegt, weil der Verfasser sich gescheut habe, weiteren Anstoss
zu erregen. Aber ein solches Motiv war offenbar nicht vorhanden,
vielmehr hatte der Verfasser nur in Absicht mit doppelten Keulen
zu schlagen. Indem er sicher sein konnte, dass schon die Muhmen
und der Vetter erkannt werden würden, tritt er plötzlich gegen Ende
des Buches mit einer ganz directen Schilderung der Mülleriscben
Familie hervor. In der Universitätsstadt Padua kehrt er im Gasthaus
zum rothen Stier ein, und was er uns von den Bewohnern dieses
erzählt, ist ganz ein Abbild der Familie im rothen Löwen. Blosses
Rachegelüste ist freilich auch hier das Motiv nicht, es ist vielmehr
in der Disposition des Romans ein hoch genialer, dem Gesetze der
Steigerung entsprechender Zug, der Superlativ des Humors, schliess-
lich den Schelmuffsky sich selber gegenüberzustellen und die beiden,
aus demselben Urbilde herausgewachsenen Aufschneider, diese beiden
Doppelgänger, sich an einander reiben zu lassen. Die Stelle ist für
die bisher von uns gepflogenen Erörterungen zu wichtig, um nicht
ihrem wesentlichen Inhalte nach hier Aufnahme zu verdienen.
526 Friedrich Zarncke, [72
II. Theil, S. 46 fg. .
In derselben Stadt (Padua) kehrete ich mit meinem Pferde und gros-
sen Kober in einem Gast-Hofe, zum rothen Stier genannt, ein, allwo eine
wackere ansehnliche Wirthin war*)
Es hatte dieselbe Wirthin auch ein paar Töchter, die fUhreten sich
der Tebel hohlmer galant und propre in Kleidung auff, nur Schade war
es um dieselben Menscher, daß sie so hochmüthig waren, und allen Leuten
ein Klebe Fleckchen wüsten anzuhängen , da sie doch der Tebel hohlmer
von oben biß unten selbst zu tadeln waren. Denn es kunte kein Mensch
mit Frieden vor ihren Hause vorbey gehen , dem sie nicht allemahl was
auff den Ermel heffteten, und kißen sich einen Tag und alle Tage mit
ihrer Mutter, ja sie machten auch bißweilen ihre Mutter so herunter, daß
es Sünde und Schande war, und hatten sich an das heßliche Fluchen und
Schweren gewöhnet, daß ich der Tebel hohl mer viel mahl gedachte : Was
gilts? Die Menscher werden noch auff den Miste sterben müssen, weil
sie ihre eigene Mutter so verwünschen. Allein es geschähe der Mutter
gar recht, warum hatte sie dieselben in der Jugend nicht besser gezogen.
Einen kleinen Sohn hatte sie auch noch zu Hause, daß war noch der beste,
sie hielt ihm unterschiedene Präceptores, aber derselbe Junge hatte zu dem
Studiren keine Lust. Seine eintzige Freude hatte er an den Tauben, und
auch (wie ich in meiner Jugend] an dem Blase-Rohre, mit demselben
schoß er im Vorbey gehen, wenn es Marckt^Tages war, die Bauren immer
auf die Köpffe, und verstackte sich hernach hinter die Hauß-Thüre, daß
ihn niemand gewahr wurde. Ich war denselben Jungen recht gut, nur
des Blase- Rohrs halber, weil ich in meiner Jugend auch so einen grossen
Narren daran gefressen hatte.
Nun waren auch viel Studenten da im Hause, mit denenselben stun-
den der Fr. Wirthin ihre Töchter vortrefflich wohl. Sie lieffen des Mor-
gens immer zu den Studenten auff die Stuben, und quälten sie so lange,
biß sie musten ein gut Frühstück hohlen lassen. Wenn das Ding nun
gleich ihre Mutter sähe oder wüste, daß ihre Töchter die Studenten-
Stuben besuchten, so sagte sie ihnen der Tebel hohl mer nicht das ge-
ringste, sondern wenn sie gewahr wurde, daß die Studenten ein gut GlaB
Wein hatten hohlen lassen, so machte sie sich auch ein Gewerb zu sie,
und schnabelirte da so lange mit, biß es alle war. Hernach so ging sie
^) Der Verf. kann es nicht unterlassen, zugleich auch der Universität eioeo
Hieb zu versetzen. Er spottet über die Leichtigkeit der Promotion an derselben:
»Es sind bißweilen über dreißig tausend Studenten in Padua, welche in einem
Jahre alle mit einander zu Doctors gemacht werden. Denn da kan der Tebei-
hohlmer einer leicht Doctor werden, wenn er nur Speck in der Tasche hat, und
scheuet darbey seinen Mann nicht, a Sollten hiemit die Magisterpromotionen der
philosophischen Facultät gemeint sein, so dürfte dies durch das Jahr 1694 veran-
lasst sein, wo die Zahl derselben plötzlich von 4 9 und 25 der beiden vorauf-
gehenden Jahre auf 46 stieg, worüber vielleicht böswillig geredet sein mag.
73] Christian Reuter. 527
wiederum ihrer Wege und sagte zu den Töchtern : • Wenn sie genung hät-
ten, selten sie bald nachkommen, welches sie auch bißweilen thalen. Ich
kunte die Menscher aber niemahls um mich leiden, denn vors erste re-
deten sie kein klug Wort mit einem, und wer mit mir dazumahi reden
wolte, der muste der Tebel hohl mer Haare auff den Zähnen haben. Vor
das andere, so hatte ich vor denselben Menschern flugs einen Abscheu^
wenn sie mir nur etwas zu nahe traten, denn sie hatten einen erbärm-
lichen ttbelrUchenden Athem.
Nun kunten die guten Mädgens wohl nichts dafür, denn so viel ich
aus dem Gerüche abnehmen kunte, hatten sie wohl das Vitium von ihrer
Mutter gelemet, denn die Mutter kunte man der Tebel hohl mer flugs
rüchen, wenn man sie gleich nicht einmahl sähe. Es hätte auch diese
Wirthin so gerne wieder einen Mann gehabt, wenn sie nur einer hätte
haben wollen, denn der sappermentsche Huren-Sohn, der Cupido, mußte
ihr eine abscheuliche grosse Wunde mit seinen Pfeile gemacht haben,
daß sie in ihrem 60. Jährigen Alter noch so verliebt umb den Schnabel
herum aussähe. Sie hätte halt ich dafür wohl noch einen Leg dich her
bekommen, weil sie ihr gutes Auskommen hatte, so aber stunck ihrs so
lästerlich aus dem Halse , daß einen , wer sie nur von ferne sähe , flugs
aller Appetit vergehen muste. Den gantzen Tag redete sie von nichts
anders als von Hochzeitmachen, und von ihrem Sohne, welcher in der
Frembde wäre, und sagte : was derselbe vor ein stattlicher Kerl wäre.
Ich hatte halt ich davor noch nicht drey Wochen bey derselben Wir-
thin logiret, so stellte sich ihr frembder Sohn zu Hause wieder ein. Er
kam der Tebel hohl mer nicht anders als ein Kessel-Flicker aufigezogen,
und stunck nach Toback und Brantewein, wie der ärgste Marode-Bruder.
Ey sapperment, was schnitte der Kerl Dinges auff, wo er überall gewesen
wärcj und waren der Tebel hohl mer lauter Ltfgen.
Wie ihn nun seine Mutter und Schwestern , wie auch sein kleiner
Bruder bewilikommet hatten, so wolte er mit seinen Schwestern Frantzöisch
an zu reden fangen, allein er kunte der Tebel hohl mer nicht mehr vor-
bringen als ouy. Dann wenn sie ihn aufl" teutsch fragten : Ob er auch
da und da gewesen wäre? so sagte er allemahl ouy. Der kleine Bruder
fieng zu ihn auch an, und sagte: Mir ist erzehlet worden, du seist nicht
weiter als biß Halle in Sachsen gewesen seyn, ists denn wahr? So gab
er ihn gleichfalls zur Antwort : Ouy. Als er nun hierzu auch ouy sprach,
muste ich mich der Tebel hohl mer vor Lachen in die Zunge beissen,
daß ers nicht merckte, daß ich solche Sachen besser verstünde als er.
Denn ich kunte es ihn gleich an Augen absehen, daß er über eine Meile
Weges von Padua nicht muste gewesen seyn.
Wie ihm das Frantzöisch-Reden nicht wohl fliessen wolte, so fieng er
teutsch an zu reden, und wolte gerne frembde schwatzen, allein die liebe'
Fr. Mutter-Sprache verrieth ihn immer daß auch das kleinste Kind es
hätte mercken können, daß es lauter gezwungen Werck mit seinen Frembde
reden war. Ich stellte mich nun dabey gantz einfältig
Die Studenten so im Hause waren, die hiessen ihn nicht anders als
528 Fmemuch Zabücke, 7^
den FreroMeo, and. zwar ans deo ürsaebeo. weil er wolle fiberall ge-
wesen seyn. Man dencke nur was der sappennenlfiefae Keri^ der Freiubde,
vor zltscheullcbe grosse Lügeo vorbrachte O sappermeni! was
waren das wieder vor Lü|zeD von dem Frembden. und seine Schwestern
die glaubten ihn nun der Tebel hohl mer alles mit einander
über nichts kunte ich mich innerlich so hertzlich zulacfaen, als dafi des
Frembden sein kleiner Bruder sich immer so mit drein mengte, wann der
Fremfode Lflgen erzehlete, denn derselbe wolte ihn gar kein Wort nicht
glauben , sondern sagte allemahl : Wie er sich doch die Mfihe nehmen
kdnte, von diesen und jenen Ländern zu schwatzen, da er doch fiber eine
Meile Weges von Padua nicht gekommen wäre. Den Frembden verscfanupSte
das Ding, er woite aber nicht viel sagen, weils der Bruder war, doch
gab er ihn dieses zur Antwort: Du Junge verstehst viel von den Tauben-
Handel. Den kleinen Bruder verdroß das Ding auch, daß der Frembde
ihn einen Jungen hiesse, und von den Tauben-Handel schwatzte, denn
die Wetter-Krdte bildete sich auch ein, er wäre schon ein grosser Kerl,
weil er von dem 6ten Jahre an biß in das ffinffzehnte ') schon den Degen
getragen hatte. Er lieff geschwind -zur Mutter und klagte ihrs, daB ihn
sein fremlxler Bruder einen Jungen geheissen hätte. Die Mutter verdroB
solches auch, und war hier auff her und gab ihn Geld, schickte ihn hin
auff die Universität in Padua, daß er sich da muste inscribiren lassen
und ein Studente werden^).
Wie er nun wieder kam, so Bog er zu seinen frembden Bruder an
und sagte: Nun bin ich doch auch ein rechtschaffener Kerl geworden,
und trotz sey dem geboten, der mich nicht dafür ansieht. Der Frembde
sähe den kleinen Bruder von unten biß oben, von hinten und von forne
mit einer hönischen Mine an, und nachdem er ihn überall betrachtet hatte,
sagte er: Du siebest noch Jungenhafftig genug aus. Dem kleinen Bruder
verdroß das Ding erschröcklicb , daß ihn der Frembde vor allen Leuten
so beschimpffte. Er war her, und zog sein Fuchtelgen da heraus, und
sagte zu dem Frembden: Hast Du was an mir zu tadeln, oder meynesl,
daß ich noch kein rechtschaffener Kerl bin , so schier Dich her vor die
Klinge, ich wil Dir weisen, was Bursch-Manier ist. Der Frembde hatte
nun blut wonig llertze in seinem Leibe, als er des kleinen Bruders blos-
sen Degen sähe , er fing an zu zittern und zu beben , und kunte vor .
grosser Angst nicht ein Wort sagen, daß auch endlich der kleine Bruder
den Degen wieder einstackte, und sich mit den Frembden in Güte ver-
trug. Wie sehr aber der neue Academicus von den Hauß-Burschen und
andern Studenden gevexiret wurde, daß kan ich der Tebel hohl mer nicht
sagen. Sic hiessen ihn nur den unreiffen Studenten, ich fragte auch,
^) ergiebt das Jahr 1695.
3) Die VoUimmatriculatioD erfolgte im Sommer 4 696, und die muss gemeint
Kein, da ja die Doposition, die vorläufige, schon 1688, als Joh. Adam erst im
Achten Jahre stand, geschehen war.
75] Christian Rectbr. 529
warum sie solches thäten, so wurde mir zur Antwort gegeben: DeBwegen
würde er nur der unreiflTe Siudenle geheißen, weil er noch nicht tüchtig
auf die Universität wäre, und darzu so hielte ihn seine Mutter noch täg-
lich einen Moderator, welcher ihn den Donat und Grammatica lernen
müste. Damit aber der unreiffe Studente die Schande nicht haben wolte,
als wenn er noch unter der Schuhl-Rute erzogen würde, so machte er
den andern Studenten weiß, der Moderator wäre sein Stuben-Geselle.
Indem mir nun einer von den HauB-Burschen solches erzehlet hatte,
und noch mehr Dinge von den unreiiTen Studenten erzehlen wolte, so
wurde ich gleich zur Mahlzeit geruffen.
Über Tische fieng der Frembde nun wieder an von seinen Reisen
auffzuschneiden, und erzohlote, wie daß er wäre in Franckreich gewesen,
und bey einer Haare die Ehre gehabt den König zu sehen. Wie ihn nun
seine Schwestern fragten: Was vor neue Moden ietzo in Franckreich wä-
ren? So gab er ihnen zur Antwort: Wer die neuesten Trachten und Mo-
den zu sehen verlangete, der solte nur ihn fragen, denn er hielte biß
dato noch einen eigenen Schneider in Franckreich Ich kans
der Tebel hohl mer nicht sagen, wie der Frembde seinen Leib-Schneider
heraus strich, und verachtete darbey alle Schneider in der gantzen Welt,
absonderlich von den Schneidern in Teutschland wolte er gar nichts hal-
ten, denn dieselben (meynte der Frembde) wären nicht ein Schoß Pulver
werth, aus Ursachen, weil sie so viel in die Hölle schmissen. Nachdem
er solches erzehlet, und seine Jungfer Schwestern hierzu nicht viel sagen
weiten, so rufile er den Haus-Knecht, derselbe muste geschwinde in die
Apotheken lauffen, und ihn vor 4. gr. Mastix- Wasser hohlen
Nachdem der Frembde nun vor 4 Groschen Mastix-Wasser auff sein
Hertze genommen hatte, so ßeng er ferner an zu erzehlen von denen
Handelschaßlen und Commercien in Teutschland, und sagte : Wie daß sich
die meisten Kauffieute nicht recht in die Handlungen zu finden wüsten,
und der hunderte Kauffmann in Teutschland nicht einmal verstünde was
Commercien wären. Hin gegen in Franckreich, da wären brave Kaufl-
leute, die könnten sich weit besser in den Handel schicken, als wie die
dummen Teutschen. 0 sapperment! wie horchte ich, als der Frembde
von den dummen Teutschen schwatzte. Weil ich nun von Geburt ein
Teutscher war, so hätte ich ja der Tebel hohl mer wie der ärgste Bären-
häuter gehandelt, daß ich darzu stille schweigen sollen, sondern ich Geng
hierauff gleich zu ihn an, und sagte: Höre doch Du Kerl! Was hast Du
autr die Teutschen zu schmählen , ich bin auch ein Teutscher , und ein
Hundsfott der sie nicht alle vor die bravsten Leute ästimiret.
Daraus erfolgt eine grosse Schlägerei, endlich eine Herausforderung und
ein Duell. Ehe es zu letzterem kommtj heisst es noch:
Des unreifien Studenten Stuben-Gesellen aber koberte ich Gottsjämmer-
lich ab, und ich sage, daß ich ihn endlich gar hätte zu Tode gekobert,
wenn nicht des Frembden Mutter und Schwestern so erschröcklich vor
ihn -gebeten hätten , denn er stund überaus wohl bey den Töchtern und
der Mutter. Daß auch die Mutter, als nehmlich die Wirthin, offtermahls
530 Friedrich Zarncke, [76
zu den andern Hauß-Burschen sagte, Sie hätte noch niemals so einen
feinen Menschen zum Moderator vor ihren Sohn gehabt , als wie sie ietzo
hätte, und wenn er so bliebe, wäre er werth, daß man ihn in Golde
einfassete. Die andern aber, welche sie sonst gehabt, hätten sie allemahl
meistens betrogen, absonderlich erzehlete sie immer von einem im weissen
Kopffe, der hätte ihr so viel Geld abgeborget und keinmahl nichts wieder
gegeben, und von einem welcher alle Schlösser aufmachen können, und
ihr viel Sachen heimlicher Weise entwendet hätte, allein ich habe ihre
Nahmen wieder vergessen^).
Bei dem Duelle muss schliesslich dei^ Fremde versprechen : Daß er Zeil-
lebens keinen Deutschen wieder verachten wolle, sondern allezeit sagen:
Die Teutschen wären die bravsten Leute unter der Sonnen.
6. Der ehrllcheii Fran Krankheit und Tod.
Als sich Frau Anna Rosine am 15. August 1696 über das Er-
scheinen des Schelmuifsky beim Churfürsten beklagte, erwähnte sie
zugleich, dass nach gemeiner Sage noch zwei üppige und schänd-
liche Schmähschriften auf ihre beiden Töchter bereits unter der
Druckerpresse wären und nächstens herauskommen würden, wegen
deren Verfertigung wider den vorigen Pasquillanten Reuter auch
einige Indicia sich hervorthun wollten. Als darauf auf Befehl des
Churfürsten am 27. August Nachsuchung bei den Buchhändlern ge-
halten ward, wurden zwar nur Exemplare der Ehrlichen Frau und
von Schelmuffsky's Reisebeschreibung gefunden, aber am 21. November
konnte die Bücher-Commission an den Churfürsten berichten, dass
sich bei dem Kupferdrucker Jac. Phil. Schneider Exemplare einer
neuen Scartecke unter dem Titel »Der Ehrlichen Frau Schlampampe
Krankheit und Tod« gefunden hätten, derentwegen dann weitere
Inquisition in Aussicht gestellt ward^). Dass der Verfasser auch
dieser Comödie unser Reuter war, bedarf keines besonderen Beweises.
Verlegt war sie, wie auch die damals confiscierten Exemplare der
'] Die damals lebenden Leipziger werden die hier Gekennzeichneten wohl
erkannt haben.
^] Dass Schelmutrsky's Reisebeschreibung früher geschrieben ist als diese zweite
Comödie geht auch daraus hervor, dass jene in dieser erwähnt wird. Act III,
Sc. 5; Lorentz : »schade ists, daß wir die Tour a la mode nicht längstens ange-
stellt haben, so hätte sie Schelmuffsky können mit zu seiner gefährlichen Reise-
Beschreibung «. Auch die Worte auf dem Titel »von Schelmuffsky Reisse-
Gefährten« beweisen, dass die Reisebeschreibung schon vorlag.
"77] Christian Reuter. 531
Ueisebeschreibung des SchelmulTsky bei Röder in Frankfurt a/M.,
der in der Herbstmesse 1695 aufgetaucht war, gleich mehr als 12
Schriften herausgab und im Jahre 1696 wieder verschwindet. In
seinem Verlage nehmen sich diese Schriften allerdings recht ver-
wunderlich aus, denn er verlegte, von zwei populären historischen
Schriften abgesehen, sonst nur noch Fromm-Theologisches^).
Durch die Familie Müller war Reutern schwer zugesetzt worden.
Er hatte eine Behandlung erfahren, die seinem Gefühle nach un-
gerechtfertigt erschien, denn eine Comödie hatte er schreiben wol-
len, nicht eine Schmähschrift auf seine frühere Wirthin, die sich
eines solchen Apparates doch auch wohl kaum verlohnt hätte. Gewiss
hat nunmehr Zorn und Hass seine Feder gespitzt, und wenn er jetzt
abermals auf den früheren Gegenstand zurückgrifT, so möchte man
meinen, er sei nunmehr, nachdem Jedermann in der Schlampampe
und den Ihrigen die Müllerischen Erben erkannte, wirklich zu einem
Pasquillanten geworden. Ich will diesen Vorwurf auch nicht ganz
zurückweisen : gerathener w^äre es wohl gewesen, er hatte geschwie-
gen. Aber man übersehe doch auch einen anderen Gesichtspunct
nicht. Reuter hatte in seiner Comödie eine Anzahl komischer Typen
geschaffen, die aus deiQ Leben und den Lebensinteressen seiner Zeit
herausgegriffen waren und die daher allgemeinsten Beifall bei den
Unbetheiligten gefunden hatten. Es Hess sich über die durch sie
dargestellten Richtungen noch Vieles sagen, das er zu sagen ver-
stand: warum sollte er sich des Vortheils begeben, die dem Publi-
cum bereits vertraut gewordenen Typen weiter zu verwenden und
sich so von vorn herein ein gesteigertes Interesse für sein schrift-
stellerisches Opus zu sichern? Ein Pasquill war dies Werk in so
fern noch weniger als das erste, als die erzählten Thatsachen nun
gar Nichts mehr mit der Wirklichkeit zu thun hatten. In der That,
1) Z. B. Schmidts geistliche Predigten , Büttner's Christliches Gebet- , Büß-,
Beicht- und Communionbüchlein , Spener's Geistliches Lehr-, Büß-, Beicht- und
Communionbüchlein, Strobers geistliche Sonnenuhr, Alardin's geistliche Sonnenuhr,
Anmerkungen über das Hohe-Lied , Außlegung der Offenbarung Johannis, Zions
Klage und Rath, Vernünftiger zu Gott und der Seligkeit anführender Moralist, An-
leitung zum bessern Verstand des Heidelbergischen Catechismi u. ä. Die histo-
rischen Werke (»Neu eröffneter historischer Bilder-Saal«, und » Historischer Schau-
platz«} waren eigentlich Verlag von Buggcl in Nürnberg.
532 Friedrich Zarncke, ü^
diese zweite Comödie war eine Fortsetzung seiner Comödie, nichi
des darin gefundenen Pasquills auf die Müilerischen Erben. Freilich,
wer einmal den Standpunct eingenommen hatte, dass die erste Co-
mödie nichts weiter sei als eine verläumderische Schmähschrift, der
musste in der zweiten um so mehr eine Steigerung der Lügen und
YerlUumdungen erblicken, je weniger in ihr directe Beziehungen
vorhanden waren').
Orientieren wir uns nun über den Inhalt.
Das Personal ist dasselbe wie in der ersten Comödie: Frau
Schlampampe, Schelmuffsky , Charlotte, Clarille, Däfftle, Fidele und
Edward, Cleander; nur tritt statt der Köchin Ursilie nunmehr eine
Jungemagd Schnürtzgen auf, ausserdem noch ein lustiger Hausknecht
(ohne eine Pickelhüringsfigur ging es einmal nicht ab) Lorentz; auch
der Informator Dafiflle's, der früher nur erwähnt war, erscheint hier
auf der Bühne — er wird Lysander genannt — und eine redselige
Gevatterin der Schlampampe, Camille, die im Stück die Verpflichtung
hat. Alles gehörig unter die Leute zu bringen. Ein Medicus Cra-
tippo und ein Notarius Lerius assistieren am Krankenbette, der
Leichenbitter Holla und des Todtengräbers Söhnchen Purpe nach
dem Tode auf dem Gottesacker.
Die Handlung spielt einige Zeit nach der der ersten Comödie.
Die Geschichte von den Hüpeljungen hat lange Zeit das Gerede der
Leute gebildet, ist aber nun vergessen. Die geschwätzige Frau
Schlampampe nur erzählt sie in' der ersten Scene noch einmal ihrer
nicht minder redseligen Gevatterin Camille, die freilich den Nagel
auf den Kopf trifft, wenn sie der über ihre Kinder klagenden Mutter
erklärt: »Die rechte Wahrheit zu sagen, Frau Gevatterin, es gehet
mich zwar nichts an, ich sage es aber, wie ichs meine, sie hat
^) Als eine solche, früher noch nicht erwähnte Beziehung kann wohl die
nachstehende, völlig unverfängliche Angabe angesehen werden« Nach der verun-
glückten Adelsreise wünscht Charlotte, sich eine Zeitlang nicht vor den Menschen
sehen zu lassen; sie sagt zur Schwester: »Weist Du was! Die Erau Mutter soll
uns eine weile auf das Dorff thun, zu unserer Muhme, bis es erstlich ein bißgen
vergessen ist. a Damit ist wohl Knauthain gemeint , wo die Mutter herstammle
und noch Verwandte hatte. — Auch die Drohung der Schlampampe, sie wolle
den beiden Studenten einen Injurienprocess an den Hals werfen, und wenn es
auch erst in 30 Jahren geschehen sollte, mag auf Wahrheit beruhen.
7^] Christian Reuteb. 533
ihren Töchtern in der Jugend so sehre den Willen gelassen, nun
sie bey Jahren seyn, wollen sie sich nicht mehr ziehen lassen«.
Auch das Recept zur Schminke, das Cleander den gefallsüchtigen
Töchtern verschrieben, hat seine bösen Früchte getragen, wie wir
in einem Gespräche der Studenten erfahren. Es hat, statt sie schöner
zu machen, ihnen Blasen und Grind eingetragen, und wochenlang
haben sie die Fenster verhängen müssen, und haben sich zur
Verwunderung der Leute nicht zeigen und nicht angaffen lassen
können.
Man sieht, es ist wiederum einseitig der Standpunct des Stu-
denten, der hier hervortritt; denn der Witz mit dem Schminkerecepte,
der hier belacht wird, ist eine rohe Unart. Die erste Scene ver-
räth jenen Standpunct noch mehr. Frau Schlampampe meint, »man
müste doch ein Unterscheid machen unter vornehmer Leute Kinder,
die ihr gut auskommen haben, und unter gemeinen Kerlen (wie die
Mehrzahl der Studenten), die flugs manchmal nicht ein Dreyer in ihrem
Leben haben«, aber Frau Camille berichtigt sie: »Wenn gleich, Frau
Gevatterin; es gehet, so wahr ich ehrlich bin, nicht an; und wenn
ihre Töchter auch noch so vornehm und reich wären, und wollen
ihre eigene Hauß-Bursche verachten, und noch darzu übel von sie
reden, als wie sie es Herrn Edwardten und Herrn Fidelen gethan
haben: so stehe ich nicht hier, wenn sie nicht die Studenten-Jungen
(die Stiefelputzer) anhetzen, daß sie letzlich auf öffentlicher Gasse
mit Drecke geworffen würden«.
Die beiden Töchter haben sich durch die üblen Erfahrungen,
welche sie gemacht, in ihrem Hochmuth durchaus nicht stören lassen.
Sie wollen sich adeln lassen, und zu dem Ende sind sie im Begriffe
eine Reise dorthin zu machen, wo der Adel zu kaufen sei. Die
Mutter ist wenig damit einverstanden, hat aber keine Gewalt über
ihre Raben-Ässer. Die Jungemagd ist ein, wenn auch ganz unge-
bildetes doch verständiges Mädchen, oft von richtigem Instinct; um
so dümmer ist der Hausknecht Lorentz. Er ist mit vom Hochmuths-
teufel angesteckt, auch er will sich zum Cammerdiener adeln lassen,
und stolziert im Vorgefühle gravitätisch einher: »Und ich werde mich
auch keine Saue düncken, wenn ich geadelter Cammerdiener heisse«.
Auch Schelmuffsky will wieder auf die Wanderung, auf ganze
10 Jahre; denn er will noch Frankreich genauer kennen lernen.
534 Friedrich Zarngkk, [^0
Die xMutter suchts ihm auszureden, er spottet ihrer, und selbst ihre
guten Wünsche zum Abschiede lehnt er roh ab: »Ey sapperment!
ist das nun nicht ein Gewünsche und Wohlgegehen da! geht mirs
nicht wol, so geht mirs nicht wol, ich frage ja der Tebelholmer
nichts darnach«, so dass nun die Mutter selber ihn mit einer Ver-
wünschung entlässt: »Je, so gehe, und komme mir nimmer mehr vor
meine Augen wieder, Du gottloses Kind«, und ad spectat.: »Dächte
es nun wol ein Christen Mensche, daß eine Mutter von ihren Kindern
so könte gequälet und gemartert werden!« Ihre äffische Schwäche
gegen die Töchter, von denen sie doch auch hier übel behandelt
wird, tritt wieder gutmüthig hervor; denn kaum sind sie aus dem
Thore hinaus, so beauftragt sie schon den Präceptor, einen Brief an
sie zu schreiben, dass sie sich fein in Acht nehmen sollten.
Aber beide Expeditionen der Kinder finden ein schnelles Ende.
Die Kutsche der adelslustigen Töchter wirft in einiger Entfernung
von der Stadt in einer Kothlache um und ein Rad am Wagen bricht.
Der Kutscher, als er sieht, dass er dem Wagen nicht wieder auf-
helfen kann, reitet, ohne sich um die Frauenzimmer zu kümmern,
davon. Auch Lorentz, der noch am besten davon gekommen ist,
macht es nicht anders. Die Töchter kommen, in Kappen einge-
mummelt, zu Fuss zurück und haben sich fast wund gelaufen. Der
Mutter ists schon recht, dass es ihnen so gegangen ist. An das
Adlich werden denken sie nun auch nicht mehr, aber von dem ge-
schwätzigen Lorentz und der redseligen Camille wird die Geschichte
durch die ganze Stadt getragen, und sie sind nun von Neuem pro-
stituiert. Dätftle ist ganz damit zufrieden: »Ich gönne euchs gar gerne,
ich wolte, daß ihr von den Leuten nur wacker vexiret würdet, da-
mit doch euer verfluchter Hochmuth ein Bißgen gedämpfet würde«.
Auch Schelmuffsky ist bald wieder da. Schon nach 2 Stunden
erscheint er, ausgeplündert bis aufs Hemde. Er ist Soldaten in die
Hände gefallen und von ihnen so zugerichtet worden. Schwer fin-
det er Einlass ins Haus, denn sowohl der Hausknecht wie die Junge-
magd halten ihn für ein Gespenst und laufen mit einem »Alle guten
Geister loben« davon.
Aber der Hohn des Schicksals ist noch nicht zu Ende, er soll
der armen Schlampampe noch über den Tod hinaus folgen, und
wieder ist es hochmüthige Aufgeblasenheit und Eingebildetheit, die
^^] (Christian Rruter. H^Si
ihn hervoniift, diesmal freilich nur indirect durch sie und die Ihrigen
veranlasst.
Frau Schlampampe wird krank; zumal die Aufregung über das
Betragen ihrer Kinder ist es, was sie niederwirft. Dieser Ausgang
ist genugsam vorbereitet. Gleich in der ersten Scene sagt sie: »ich
grämte mich bald ein gantz halb Jahr drüber, daß ich auch biß Dato
keiner ehrlichen Frauen mehr ähnlich sehe.« Und weiter Sc. 7:
»Je, habe ich meine Plage nicht auf der Welt? Je, wenn ich so
manchmal dran gedencke, so härme ich mich auch so drüber, daß
ich flugs gantz kranck werde.« Als dann die Töchter sie wieder
ankeifen, wird sie wirklich krank: »So wahr ich eine ehrliche Frau
bin, ihr habt mich mit eurem schreyen gantz sterbenskranck gemacht. «
Auf dem Krankenbette sagt sie: »Ich gebe es nichts anders als der
Boßheit und dem Eyfer Schuld, denn wie vielmahl ich mich über
meine Rabenäßer Lebenslang erzürnet habe, das ist auf keine Kuh-
haut zu schreiben. « Auch jetzt noch sind die Töchter roh, in Gegen-
wart der Mutter wie nachdem sie sich hat ins Bette bringen lassen.
Charlotte: »Obs denn ihr rechter Ernst ist, daß ihr nicht wohl ist,
oder ob sie sich nur so stellet.« Ciarille: »Wer weiß was ihr ist,
sie hat etwan, weil wir sind aussen gewesen, mit dem Jungen ein
Bißgen zu viel getruncken, denn das Aß (DäfTtle?) war ja blind voll.«
Es folgen die Scenen vor ihrem Tode, das Herbeirufen des
Arztes, des Notarius. Dabei eine rechte Pickelhärings -Posse: der
Hausknecht wird mit dem Harnglase der Kranken zum Arzt gesandt,
und hat das Unglück, das Gefäss zu zerbrechen. Da hilft er sich
schnell, beschafft ein neues Glas, und »zapfft seine Jungferliche Tinctur
an statt der krancken Schlampampe ihrer hinein«. Er thut dann
dummerstaunt, als ihm der Arzt erklärt, dem Kranken fehle nichts,
er habe nur zu viel gesoffen. Schlampampe stirbt. Schelmuffsky,
der sein Erbe vorweg hat, heult: wenn sie nur noch so lange ge-
lebt hätte, bis sie ihm ein neu Kleid hätte machen lassen. Nun
muss er sich zum Begräbniss eins leihen.
Schon am Abende Qndet das Begräbniss in der »Sepultur« der
Schlampampe, die im Prospect dargestellt wird, statt; die feierliche
Gedächtnissrede soll später gehalten werden, nur eine sogen. Ab-
dankung an die Leichenbegleitung wird hier erwartet. Sie zu halten
hat der Präceptor übernommen. Cleander aber, »der lose Vogel«,
Abhandl. d. K. S. Oesellsch. d. Wissenscb. XXI. 36
536 Fbdsdbich Zabncke, [^2
der wieder von Marburg eingetroffen ist, erlaubt sich einen etwas
unfeinen Studentenspass. Er macht sich an den aufgeblasenen, gleich
der ganzen Familie vom Hochmuthsteufel besessenen Hausknecht, und
dieser hat kaum von einer Abdankungsrede ein Wort gehört, so
meint er, die müsse er halten; er entwendet dem Präceptor einen
Theil seines Manuscriptes und als nun die feierliche Bestattung vor
sich geht, tritt er hervor, macht »närrische Reverentzen« und fängt
seinen Sermon an. Kaum kommt er, unter zahllosen Wiederholungen
und radebrechenden Verdrehungen, über die Titulaturen, die damals
freilich ellenlang waren, hinaus; bei dem Eingang der Rede aber
»Daß der Tod, daß der grimmige Tod« bleibt er stecken und der
Leichenbitter weist ihn von seinem Platze weg, den nun Lysander,
der Präceptor , einnimmt. Der hält nun eine Rede , die sowohl ein
Pasquill auf die Trivialität und die lobrednerische Unwahrheit der
gewöhnlichen Leichenreden ist, wie auf die gelehrte, citatenliebende
Rhetorik jener Zeit. Der Grundton ist übrigens ganz im Geiste der
Abgeschiedenen, die äich auf ihre auskömmliche und vornehme Stel-
lung so viel einbildete, was also hier nochmals verspottet wird. Der
Eingang lautet:
Daß der grimmige Todt sowohl an vornehmer und reicher Leute Häuser
klopffe als an des geringsten und armseligsten Bettelmanns Thttre, bat
der vor viel hundert Jahren sehr wohlbekante Heyde Horatius folgendes
nicht unrecht gesprochen : Pallida mors aequo pulsat pede pauperum ta-
bernas Regumque turres. Und solte ja jemand, wie ich nicht hoffen will,
bey gegenwärtiger hochschätzbaaren Trauer-Versammlung, dieses Gedichtes
einen Beweißthum oder Exempel verlangen, so kan derselbe nur gegen-
wärtige verdeckte Todten-Baare sich zu einem genügsamen Exempel oder
Beweißthum dienen lassen, ich meine auf derselben die Weyland Wohl-
Edele, Hoch- Ehr und Tugend begabte Frau Schlampampe, gewesene Gast-
wirthin im Güldenen Maulaffen. War dieselbe nicht vornehmer und ehr-
licher Leute Kind? Hatte sie nicht ein stattliches und gutes Auskommen ?
Führte sie nicht allzeit den Titul einer Christlichen und aller Welt be-
kannten ehrlichen Frauen? Lebte sie nicht mit jederman in höchster
Vertraulichkeit und Freundschafft. War sie nicht eine vortreffliche Zuchl-
meisterin ihrer sehr wolgezogenen Kinder? Wurde dieselbe nicht wegen
ihrer allzugrossen Verschwiegenheit von jederman gerühmet und gelobet?
daß auch ein jedweder höchst Verlangen trug, in dero Bekantschaft zu
seyn, und musle gleich wol, leider, in der schönsten BlUthe ihrer Jahren,
als wie die elendeste und nothleidenste Bettel-Frau, dem grimmigen Tode
so unverhofft und plötzlich zu theile werden. Als dorten . . als dorten
jener Spanier (hustet), als dorten jener Spanier (hält etwas inne]
83] Christian Rbuter. 537
Damit geräth er ins Stottern, sucht vergebens im Concept, offenbar,
weil ihm der Hausknecht einen Theil desselben entwendet hat, und
springt auf Rath des Leichenbitters schnell zum Schlüsse über: »Als
dorten jener Spanier, als, sage ich, ist mir im Nahmen der höchst
Leidtragenden . . . dienstlich gehorsamsten Dank abzustatten befohlen
worden . . .« Unter den Leidtragenden befindet sich auch Schel-
muffsky: »Sieht er doch bald aus, wie der Kerl, der Eißleben sol
angesteckt haben«, sagt Cleander^). Mit 4 Alexandrinern schliesst
das Stück:
Weil demnach sanffte ruht die ehrliche Schlampampe,
So geht ihr Leute nur fein wiederum zu Hauß,
Und wenn der Tod auslöscht uns unsre Lebenslampe,
Hernach ists mit uns auch, wie dieses Schauspiel, aus.
Diese zweite Comödie verhält sich zu der ersten wie das zweite
Nachspiel zu seinem Vorgänger, sie ist, was Plan und Handlung be-
trifft, schwächer als jene. Von einer dramatischen Einheit kann nicht
die Rede sein, ebensowenig von einem in zusammenhängender Dar-
stellung zum Ausdruck gelangten ethischen Gedanken, wie das doch
im ersten Stücke der Fall war. Was das Stück an Werthschätzung
beanspruchen kann, liegt in der frischen und flotten Sprache des
Dialogs, in der charakteristischen Darstellung der Personen. Diese
Eigenschaften sind auch hier wieder vortrefflich. Jede Person spricht
ihre eigene Sprache; wir sehen sie lebendig vor uns, so individuell
ist ihre Redeweise. Ja die Scenen sind hier lebendiger und mannig-
faltiger als in der ersten Comödie; die Vermehrung der Personen
um die geschwätzige Camille und den aufgeblasenen Hausknecht in
seiner PickelhäringsroUe erweist sich sehr fruchtbar. Das Arrange-
ment fürs Theater ist entwickelter, und die letzte Sccne nächtlicher
Weile auf dem Kirchhofe ist, in ihrer Mischung von Ernst und Hohn
und bei der Menge der in ihr auftretenden Gruppen — es sind
sämmtliche Personen des Stückes zugegen — , falls sie zur Aufführung
gelangte, gewiss sehr wirksam gewesen.
^) ^689 d. 4 9. Juli war grosses Feuer in Eisleben. Es brannten, abgesehen
von den Scheunen und Slällcn, 127 Wohnhäuser nieder, darunter auch das Geburts-
haus M. Luthers. — Die Feinde Reuter's werden gewiss auch diese Schilderung
eines desperaten Aussehens als eine persönliche Beleidigung der Familie Müller
aufgefasst haben.
36*
538 Friedrich Zarncke, [^^
7. Letztes Denk- und Ehren-Mahl der ehrlichen Frau.
Ich füge dieses Opus hier ein, weil es die weitere Ausführung
eines bereits im voraufgehenden Stücke behandelten Motives ist, ob-
wohl es nicht nur später geschrieben sondern aller Wahrscheinlichkeil
nach auch spUter herausgekommen ist als die im nächsten Abschnill
zu besprechende Oper. Der Titel des Denk- und Ehrenmahles giebl
das Jahr 1697 an; am 30. April 1697 aber, als die Müller sich klagend
an die Bücher-Commission wandle, lag es wohl noch nicht gedruckl
vor, da der Bücherfiscal auf jene Klage hin nur den Auftrag bekam,
nach der »Opera« zu suchen; auch würde, wäre der Frau Müller
das Ehrendenkmal bereits bekannt gewesen, dies wohl besonders
hervorgehoben worden sein. Ob es überhaupt noch zu ihren Leb-
zeiten (sie starb, wie erwähnt, am 3. Juni 1 697) erschienen ist, lüssl
sich nicht sicher sagen. Dagegen wissen wir aus Reuter's Relcgalions-
patent, dass es noch bei ihrem Leben vorgetragen worden ist. Wir
werden auf diese Andeutung hin versuchen dürfen, einen näheren
Termin zu bestimmen.
Das Ehrendenkmal ist eine humoristische Leichenrede auf die
Frau Schlampampe, also gewissermassen jene Gedächtnissredc , die
in der zw^eiten Comödie noch in Aussicht gestellt wird*). Aus dem
Relegationspatent ersehen wir, dass es ein Hochzeilsscherz w^ar (ad
oblectamentum nuptialium epularum) , und aus dem Schreiben der
Universität an den König-Churfürsten vom 23. Dec. 1699, dass der
Sermon auf einer »adlichen Hochzeit auf dem Lande« vorgetragen
ward. Man denkt hiebei zunächst an Kitzscher, wohin sich Reuter,
wie wir ja wissen, nach seiner ersten Relegation begeben halte. In
der Familie des Besitzers des Rittergutes hat nun freilich in der hier
in Betracht kommenden Zeit eine Hochzeit nicht stattgefunden, aber
im November 1696 ward dort die Tochter des Dr. Weidling, in
welchen^ wir sicher einen warmen Protector Reuler's erblicken dür-
fen, mit ihrem Verlobten, dem Dr. jur. Krüner in Leipzig, der in
Kitzscher »hochadlicher Gerich ts-Director« war, getraut^). Vielleicht
^) Nicht etwa an der Bahre gehalten. Die Aria vor der Predigt sagt aus-
drückhch: »Die Ehrlche Frau ist todl, Man hat sie längst begraben«.
^] »Herr Jo. Friedrich Krüner, J. U. Doctor und Practicus in Leipzig, auch
85] Christian Reuter. 539
rüstete die Gutsherrschaft oder der adliche Pächter, Herr von Dieskau
(s. S. 510), die Hochzeit ihres Gerichtsdirectors aus, vielleicht waren
Besitzer und Pächter nicht zugegen und gestatteten ihm die Benutzung
des Schlosses zu seinem Feste. Diese Umstände sind ausreichend,
um die Bezeichnung »adliche Hochzeit« zu rechtfertigen; auch sonst
schon konnte »adlich« für » vornehm a gebraucht und gar füglich für
eine Hochzeit in einer so angesehenen Familie vei^wandt werden.
Jedesfalls befinden wir uns hier in der für den Vortrag des Sermons
angemessensten Gesellschaft. Ganz Sicheres würden wir natürlich
wissen, wenn die Universitütsacten erhalten wären.
Dieser Leichensermon ist zunächst dadurch von grossem Interesse
und sehr lehrreich, weil er uns zeigt, was an Unfläthereien eine
«
vornehme Gesellschaft, an der auch Frauen und Jungfrauen Theil
hatten, damals hinzunehmen und zu belachen im Stande war. Wir
müssen uns dessen bewusst bleiben, wenn wir die Mittel, deren sich
die Humoristen damals zu ihren Witzen bedienten, richtig bemessen
wollen. Nach unserem heutigen Geschmack darüber urtheilen, hiesse
ein litterarhistorisches Falsum begehen.
Die Rede wird dem Präceptor, Herrn Gerge, wie ihn schon Schel-
muiTsky's Reisebeschreibung nennt, in den Mund gelegt. Angehängt
ist eine »Aria vor der Predigt«, aus 5 sechszeiligen Strophen, und
eine »Aria nach der Predigt«, aus 4 fünfzeiligen Strophen bestehend.
Natürlich ist der Inhalt sarkastisch, voll bitteren Spottes. Den Red-
ner haben wir uns zu denken umgeben von der »Schule«, die den
Gesang auszuführen hatte. Wie es vom Text zur Traclatio über-
geht, heisst es:
liier Irinckt Herr Gerge einmal , und singen die Schüler
Rundä, seht doch Herr Gergen an^
Rundädinellulii,
Wie er so wacker sauffen kan,
Rundädtnellulü.
hochadcl. Gerichts- Director allhier wurde im November mit der Hoch-Edlea und
Tugendreichen Jgfr. Maria Ghristina, Herrn D. Weidlichs , ICli in Leipzig ältester
Tochter, in hiesiger Kirche auf schriftliche Concession des Leipziger Ministerii,
besonders Herrn Dr. Lehmanns, Superint. (er war dies seit 4 670), öffentlich ein-
gesegnet a. Kirchenbuch der Pfarre zu Kitzscher, dessen Einsicht ich der Gefällig-
keit des Herrn Pastor Teichgräber verdanlce.
540 Friedrich Zarncke, [^6
Die Rede beginnt, fast gotteslästerlich, mit den Worten: »In
aller alter Weiber Nahmen«. Dann die Anrede an die Zuhörer, und
nun die Einleitung: »Wenn alte Weiber tanzen, so machen sie einen
großen Staub. So lautet das schöne und nachdrückliche Sprichwort
unserer lieben alten Teutschen, womit sie uns dreyerley zu verstehen
geben, 1. Den Tantz alter Weiber. 2. Die Unlust, welche hiervon
entstehet, und 3. was die Ursach der Unlust sey«. Nun geht es
gleich zu Unfläthereien über, nach dem lateinischen Verse : Dum cur-
vatur anus, retro sibi sibilat anus; es wird von dem übel riechenden
»Hinter Capell« gehandelt, »das sich mit einem gefährUchen Canon-
Schusse hören last und so wohl mit dem entsetzlichen Knall als
Gestanck des alten Pulvers denen Umbstehenden Angst machet«.
Dann gehts so weiter: »von den Regimentern Flöhen und Pharaons
Läusen« etc. Die Scene ist nicht mehr in Plissine, sondern ist nach
Schelmerode verlegt; der verstorbene Gatte, Veit Schlampampius, war
»wohlbestallter Bruch- Holtz- und Schweinschneider«. Die »schönen
Worte, welche sich die liebe Ehrliche vor ihrem Hintritt zu einem
Texte des Leichen-Sermones selbst erwehlet«, sind »von dem Meister
des Reinckens-Fuchsens in seinem andern Buche im 7. Haubt-Theil
und lautet in unser teutschen Frau Mutter Sprache, wie folgt:
TEXTUS.
Alte Weiber und Enten,
Die schwimmen aufl* der See,
Und wenn sie nicht mehr schwimmen können,
So kehren sie den Steiß in die Uöh.«^)
Nach allerlei Vergleichen auf die »Natur und Beschaffenheit ver-
lebter Weiber« wird aus jenem Text das Thema genommen: »die
Beschaffenheit einer Ehrlichen Frau unter dem Bilde einer Ente«.
Nachdem Herr Gerge dann getrunken, beginnt die TRACTATIO. So
geht es darauf nach dem Schema einer Predigt fort. Anas wird mit
anus und dem griechischen avu> zusammengebracht, dann auch mit
änus, dem »RückPositiv des menschlichen Leibes«, »doch ist es
nicht nöthig, daß wir unsere Nasen in dieses Geheimnus stecken«.
1) Auch dies Citat ist nur ein Scherz. Im Reineke, auch in der, in so mannig-
faltigen Versmaassen gearbeiteten Ausgabe von 4 650, findet sich die angeführte
Stelle nicht.
87] Cbristian Reuter. 541
Dann wird der Vergleich der Ente mit der Frau Schlampampe weiter
gefuhrt, grösstentheils überaus unsauber; auch arger Kuppeleien,
selbst der »frantzösischen Krätze« wird gedacht; die Schilderung der
ünsauberkeit der Ehrlichen Frau ist so haarsträubend, dass man
wieder nicht begreift, wie so etwas einer anständigen Hochzeits-
gesellschaft hat geboten werden können. Gegen Schluss: »Hier ha-
ben wir ja ein klares, obwohl betrübtes Exempel an unserer lieben
Ehrlichen Frau Schlampampe, welche, nachdem sie viel Jahr auf der
See dieser Welt herumgesegelt und geschwommen (vorher war diese
See genannt: die nasse Brande- Wein, Bier- und Wein-See dieser Welt),
da sie manche Welle von guten Klebe-Bier und Weine über sich
gehen lassen, nunmehro des Schwimmens vergessen, und den alten
Steiß in die Höhe gekehret«. Dann wird envähnt, wodurch sich
die Situation abermals ganz von der Wirklichkeit entfernt, dass aus
Kummer über der Mutter Verlust nun auch Däfftle gestorben sei,
bei dessen Gedächlnissrede man »ein und andere nützliche Lebens-
Regeln zu behalten« bessere Gelegenheit haben werde. Jetzt »wol-
len wir allein den auffgereckten Steiß der Frau Schlampampe be-
trachten als eine Ehren-Pforten, welche Ihr der Tod zu stetem An-
dencken Ihrer Tugend und Verdienste zu guter Letzte auffgerichtet.
Und wie wir der lieben Mit-Schwester ihren Sieg gerne gönnen, so
wollen wir ihre Ehren-Pforte mit einer Fahnen bestekken, an welcher
dieser Denck-Reime mit goldenen Buchstaben geschrieben:
Die in dem Leben selbst ein Bild der Ente war,
Ist auch in ihrem Tod der Ente gleich geblieben :
Der abgezehrte Balg liegt auf der Todten-Bahr,
Doch hat Sie uns den Steiß zum Ehren-Mahl verschrieben.«
Setzen wir uns über das Widerstreben hinweg, mit dem wir
diese Mittel des Humors gelten lassen, so darf man nicht verkennen,
dass eine reich fliessende Ader schneidenden Witzes und drastisch
wirkender Komik dem Dichter zu Gebote stand, die in dieser paro-
dierten Predigt vielleicht schlagender noch sich offenbart als in den
Dramen.
Auf die Predigt und die Gesangs-Arien folgen mit besonderem
Titel die Begräbniss-Carmina. Alles schliesst sich auch hier wieder
den ernsten Sitten und Formen der Zeit an und wirkt durch diesen
scheinbaren Ernst um so mehr. Schon der Titel: »Wohlgemeinte
542 Friedrich Zarngke, ß^
Geüancken bey dem Grabe Der Weyland Hoch- Ehr- und Tugend-
begabteo Frau Schlampampe, Sonst Die Ehrliche Frau genannt: Wor-
mit Ihre Letzte Schuldigkeit Und Traurigs Beyleyd entdecken wollea
Dero Respective betrübte Kinder Und Hausgenossen. « Besonders
wirksam sind auch die Unterschriften, ganz im gewöhnlichen tri-
vialen Stil jener eiligen Machwerke gehalten und hier zu dem In-
halte möglichst wenig passend. Voran steht als der Aelteste- Signor
Schelmufl'sky:
0 Sapperment, 6 Todt! Du dürres Rabcn-Aaß,
Du hast ja wie ein Dieb an unserin liauß gehandelt.
• • • •
Nun ist es auch mit mir der Tebel hohl mer aus.
• • • •
Däfftle hat 3 Strophen von 6 Zeilen beigesteuert:
Ach helffl mir alle greinen,
Ja Rotz und Wasser weinen,
Mein Schlaff-Gesell ist tod.
. • . .
Die beiden Mädchen höchst frivol, zuerst die äUeste:
Nun thät ich was auff mich und unser Schclmerode,
Weil die Frau Mutter stirbt und alle Viere streckt.
Hier ist kein Heller mehr zu einer neuen Mode,
Ach daß doch unser Zanck solch Unheil ausgeheckt!
Zwar dort erschrack ich sehr, da zwischen meinen Beinen
Die große Ratte sprang, und in ein Loch entlieff:
Doch muß ich armes Thier jetzt noch viel ärger weinen.
Die weil das Todes-Loch der Mutter gar zu tieff.
Ey nun der Erste Kerl, der sich was mercken lasset,
Und wür er gleich von Stroh, der soll mein Liebster seyn.
Ihr Sorgen, schert euch hin, die ihr mein Hertze fresset.
Das Braut-Bett hilfft mich mehr, als kalter Leichen-Stein.
Durch diese Zeilen weite ihr schmertzliches
Mitleiden entworfen
Charlotte.
Nicht besser die jüngere:
Ich hütte nicht vermeint, daß sie so bald verreckte,
Da ihr das Klebe-Bier noch in der Gurgel steckte.
Was hilfils? Das Leben ist wie meine JungferschafFt,
Durch einen kleinen Stoß ist Beides hingerafll.
J
891 Christian Reuter. 543
Wer gibt mir künfTtig Geldt, die Röcke zu verbrehiDen,
Wo soll ich Slruinpff und Hemd, wo die FontaDge nehmen?
Ach Andres, lieber Herr, weil die Frau Mutter todt,
So gieb mir einen Mann und hilf! mir aus der Noth.
Aus obliegender Schuldigkeit schrieb solches mit
betrübter Feder
Clarille.
Dann folgen die Studenten Edward und Fidele, darauf Herr
Gerge, der Präceplor. Hier wird auf das» angespielt, was im zweiten
Theil des SchelmufTsky erzahlt wird, dass unter den Präceptoren der
Wirthin zum rothen Stier sich auch einer befunden habe, der ihr
die Schlösser zu öffnen verstanden hUtte. Das nimmt hier Hr. Gerge
auf sich:
Man gab mir immer Schuld, ich machte Schlösser offen,
Und lese mir nach Lust die nassen Wahren aus
• • • •
Jetzt war' es gut vor sie, wann ich die ehrrche Frau
Mit einem Dieterich aus ihrem Loch befreyte;
Doch weil sie mir sonst stets des Schlüssels wegen dräutC;
So denck ich, liege nur, du alte Gerber-Sau^).
Zum Schiuss die berühmte Ratte:
Die Katze war mir feind, noch feinder die Schlampampe,
Denn da ich ohngefähr ihr seydenes Kleid zubiß,
Da suchte mich ihr Zorn mit Besen und der Lampe,
Biß mir Gharlottgens Bein die sichVe Höhle wieß.
Nun, da sie selbst dem Tod zur Ratte werden müssen,
Kriech' ich aus meinem Loch zu meiner Sicherheit;
Die Falle schnappt nach ihr, ich bin dem Strick entrissen :
So zahlt das Unglück stets, was man dem andern dräut.
So weite ihre letzte Schuldigkeit erweisen diejenige
Ratte, welche die Ehre gehabt, der Frau Schlam-
pampen ihr Seiden Kleid zu zerbeissen.
In den Augen der Gegner Reuter's war mit diesem Opus dem
Fass der Boden ausgeschlagen, das Mass der Schändlichkeit erfüllt.
Und gewiss, ohne boshafte Schadenfreude wird der Verfasser diesen
neuen Liebesdienst fiir die Familie Müller nicht in die Welt geschickt
^) In dem zweiten Nachspiel wird die Ursel bald mit einer »Gerber-Sau«,
bald mit einer »Bäcker-Sau« verglichen.
544 Friedrich Zarngke, [90
haben : denn darüber konnte er nicht in Zweifel sein, dass alle Well
auf die Bewohner des rothen Löwen weisen würde. Aber doch ist
diese Satire wohl dazu angethan, zu zeigen, dass es dem Verfasser
in erster Linie auf die von ihm geschaffenen typischen Charaktere
ankam. Schlampampe war das Urbild eines ungebildeten, riipelhafleD
und unsauberen Frauenzimmers geworden, der Dichter knüpfte an
bereits bekannte Züge an, wenn er nunmehr aus ihr das Bild eines
unsäglich unfläthigen alten Weibes machte, an dem nun einmal
jene Zeit Gefallen zu haben verstand. Was ging die vornehme
Hochzeitsgesellschaft, zu deren Erheiterung er die Parodie schrieb,
wenn es auch Leipziger waren, die Wirthin zum rothen Löwen so
gewaltig an, dass sie in der Empßndung des Hasses gegen sie
eine besondere Befriedigung sollte gefunden haben? Es war offen
bar in erster Linie nicht Hass und Verläumdung, was dem Dichter
die Feder führte, sondern das witzige Bestreben, ein ergötzlich ab-
gerundetes parodistisches Charakterbild zu schaffen.
8. Die Oper.
Von der Oper ist wiederholt in den Acten die Rede. Am
15. August 1696 klagt die Wittwe Müller dem Churfürsten, nach
der gemeinen Sage sollten ausser dem Schelmuffsky noch 2 üppige
und schändliche Schmähschriften auf ihre Töchter bereits unter der
Presse sein. Bei der Confiscation am 27. August wird keine der-
selben aufgefunden. Am 9. September denunciert die Müller, der
Student der Theologie Benjamin Schmoicke, der seit Herbst 1694
in Leipzig studierte, habe ausgesagt, er wisse von dem Handelsfacior
Wermann im Geschäft der Wittwe Heinichen, zu der Heybey in
Beziehung gestanden zu haben scheint % dass Reuter im Carcer noch
eine Opera auf die Mtillerische Familie gemacht habe, die »sehr art-
lich solte gesetzt sein«, und von dem Studenten Ph. Dan. Hugwart,
es seien von dieser Opera bereits eine Anzahl Exemplare an einen
hiesigen Burschen zum Verkauf geschickt: mit schneidendem Hohne
hatte man hinzugesetzt, davon werde dieser so viel Geld für Reuter
einnehmen, dass was Reuter der Müller noch schuldig sei, voll-
^) Heybey übernahm von ihr den Verlag eines Werkes des Dr. Weidling.
94] Christian Reuter. 545
ständig davon gedeckt werden könne. Wermann berief sich am
2. October auf Wilcke, der am 1. December geschickt ausweichend
antwortete. Mittlerweile ward den 21. November von der Bücher-
Commission an den Churfürsten berichtet, dass von der »Ehrlichen
Frau Krankheit und Tod« Exemplare confisciert seien; da von eben
dieser auch an einen Studiosus 400 Exemplare abgeliefert waren,
so ist wohl zu glauben, dass die obige Angabe Hugwart's fälsch-
lich von dem Drucke der Oper ausgesagt war, sie in Wirklichkeit
die Comödie »Krankheit und Tod« meinte. Ob am 30. April 1697,
als die Müller sich abermals klagend an die Bücher- Commission
wandte, die Oper bereits gedruckt vorlag, ist zwar nicht sicher, da
die in der Supplik erwähnte »Beifuge« sich nicht bei den Acten er-
halten hat, aber nach dem Auftrage, den der BUcher-Fiscal in Folge
jener Klage am 1. Mai erhielt, »nach der Opera zu fragen, und wo
es anzutreffen, zu conQsciren« sehr wahrscheinlich. Geschrieben war
die Oper schon viel früher, denn Reuter dichtete sie auf dem Carcer,
von dem er im August 1696, nach 15 wöchentlicher Haft, bereit-s
seit längerer Zeit wieder entlassen war.
Mit dieser Oper, die später in den Acten nicht weiter erwähnt
wird, ist zweifelsohne gemeint:
Le Jouvanceau Charmant Seigneur Schelmuffsky
et rhonn^te Femme Schlampampe
representce par une Opera sur le Theatre ä Hambourg
Oder
Der anmuthige Jüngling Schelmuffsky
und die ehrliche Frau Schlampampe,
in einer Opera auf den Hamburgischen Theatro vorgestellet.
Hamburg, Gedruckt im gUldnen ABC.
Eine Jahreszahl ist nicht angegeben. Aus den oben angeführten
Angaben Sclimolcke's und W^mann's dürfen wir entnehmen, dass
Reuter die Oper nicht bloss gedichtet, sondern auch componiert hat.
In der Hauptsache ist die Oper, wie schon Reinhold Köhler ^
bemerkt hat^), eine Wiederholung der Ehrlichen Frau, in Verse ge-
bracht, wie es die Oper verlangte, und mit Gesangsstücken (Arien)
versehen. Als Beispiel möge die erste Scene der Comödie hergesetzt
werden, der Monolog der Schlampampe:
1) Zeitschr. f. D. A. XX, S. \t\.
546
Friedrich Zarncke,
92
(Comödie)
Nun, es glUubet mirs
auch kein Mensche, wie
ich von meinen Raben-
Äessern, meinen Mäd-
gon gequälet werde ; da
wollen sie bald dieses
und jenes von mir ha-
ben. So wahr ich eine
ehrliche Frau bin, wenn
ich dran gedencke, ich
möchte flugs Hörner
kriegen ! Ja, sie tribu-
liren mich auch, daß es
den Göttern im Wolcken
erbarmen möchte. Man
dencke doch nur, da
wollen sie ietzund wie-
der neue Kleider von
mir haben, wo soll ichs
arme Frau denn endlich
noch hernehmen? kein
Verdienst ist groß, und
von meinen Studenten
im Hause kan ich kei-
nen Heller Stuben-Zins
bekommen. So wahr ich
eine ehrliche Frau bin^
ich kans unmöglich län-
ger ausstehn. Ach, wie
glückseelig muß doch so
eine Mutter (!) leben,
die gar keine Kinder
hat; ich dächte, wenn
ich keine Kinder hätte,
ich weite die geruhig-
sten Tage aufT der Welt
haben, allein was kan
(Oper)
Nun, es gläubts kein Mensche nicht,
Wie mich meine Mädgen quälen!
Der Verdruß ist nicht zu zählen.
Welcher täglich mir geschieht.
Nun, es gläubts kein Mensche nicht,
Wie mich meine Mädgen quälen!
Man dencke nur!
Da soll ich nun den stoltzen Affen
Schon wieder neue Kleider schaffen,
Der Hencker fuhrt Sie doch auf solche Spur!
Nichts kan man groß erwerben,
Die Zeiten die sind schwer.
Die Gaben machen auch den Beutel ziemlich leer,
Und die Studenten, so bey mir zur Miethe,
Bezahlen mich auch niemals nicht mit Güte;
Das kräncket meinen Sinn!
So wahr ich eine ehrliche Frau bin.
Ich möchte flugs für Noth und Elend sterben.
Nun, es gläubts kein Mensche nicht,
Wie ich arme Frau geplaget!
Euch, ihr Wolcken, seys geklaget!
Rettet mich von solcher Gicht.
Nun, es gläubts kein Mensche nicht.
Wie ich arme Frau geplaget!
Wie glücklich muß doch eine Mutter leben,
Die stets von Kindern ist befreyt!
Ja, lebt ich noch in solcher Zeit,
Ich weite gleich was ehrliches drum geben.
So aber hat des Himmels Schluß
Die Rabenässer mir bescheret.
Und das Hauß ziemlich stark vermehret.
Die machen mir den Taglang viel Verdruß.
Nun, es gläubts kein Mensche nicht,
Wie mich meine Mädgen quälen!
ich thun ? der Himmel
hat mir sie einmahl bescheeret, ich muß doch sehen, auf was Art ich sie
als ehrliche Frau versorge.
Aber die Mannigfaltigkeit der Scenen ist vermehrt, indeni aus
der zweiten Comödie der lustige Hausknecht eingeführt ist, hier
Lerian genannt, der ein Liebesverhältniss mit der Jungenmagd hat,
93] Christian Reuter. 547
die, wie in der zweiten Gomödie, statt der Köchin Ursille auftritt,
hier aber den etwas obscön lustspielhaften Namen Schnilrtzgen mit
dem mehr für die Oper passenden Blandine*) vertauscht hat. Nicht
nur haben die Pickelhärings- und Liebes-Scenen der beiden Dienst-
boten an sich dramatisches Interesse (man vergleiche z. B. die Scene,
in der Lerian davon wandern will, und Blandine ihn warnt, nicht
unter die Soldaten zu gerathen; das tapfere Mädchen singt ihm da
die folgende Aria, die an eine Scene in Figaro's Hochzeit anklingt:
Ein Soldate muß sich wagen,
Und mit hunderten mm schlagen,
Weder Pulver, weder Bley
Muß denselben machen scheu.
Kriegt er auch gleich so viel Hiebe,
Daß er auf dem Platze bliebe,
Darff er darnach doch nichts fragen !
Ein Soldate muß sich wagen,
Und mit hunderten rumschlagen ! )^
sondern auch die übrigen Scenen werden durch die Mitwirkung der
Beiden reicher ausgestattet; so, als Schelmuflsky kommt, wird er
jetzt dreimal abgewiesen, indem zwischen die Scenen mit der Magd
und der Mutter sich nun noch eine mit dem Hausknecht einschiebt;
das Austrinken der Weinflasche wird durch die versteckte und offene
Beihülfe des lustigen Dieners und auch der Jungenmagd, indem beide
durch ein paar Bundas die Lust erhöhen müssen, mannigfaltiger u. s. w.
Ferner giebt das Vorhandensein des Hausknechts bei der Ankunft des
Boten Veranlassung zu einer lustigen, zum Theil an das erste der
beiden Nachspiele sich anlehnenden Scene. Die Aufschneidereien
Schelmuffsky's sind aus der Beisebeschreibung vermehrt, deren Her-
ausgabe ausdrücklich erwähnt wird^).
Auch das Verhältniss zwischen Edward und Melinde tritt hier
mehr hervor. Es giebt Veranlassung zu einem hübschen Auftritt,
zu einem Ständchen, das Edward mit etlichen Musikanten seiner
Geliebten bringt, wobei er eine recht ansprechende Arie singt:
^) Hat Goethe hierher dea Beinamea der Braut in Hanswursts Hochzeit?
2) Act V, Sc. 42: »Und daß ich bin in Schweden auch gewesen, Wird ieder-
man in der Beschreibung lesen^ Die ich gegeben an das Tageslicht«.
548 Friedrich Zarncke, [^4
Schlaff, Du Schönste von der Welt,
Laß Dich nicht die Saiten stöhren,
Welche heunte Dir zu Ehren
Ein getreuer Knecht bestellt.
Schlaff, Du Schönste von der Weltl
Schlaff, mein Trost, mein Augenliecht,
Mein Vergnügen, meine Wonne,
Schlaffe biß die göldne Sonne
Dich mit Freuden wieder sieht.
Schlaff, mein Trost, mein Augenliecht.
Auf des losen Fideles Anstiften schliesst sich dann daran eine Ratzen-
musik (»Katz- und Hunde-Messe«) für die Bewohnerinnen des gol-
denen Maulaffen. »Die Musicanten fangen iedweder eine närrische
Melodey an zu spielen. Fidele und Edward singen folgendes drein:
Lirum lärum Hafer-Stroh,
Ey wie sind die Katzen froh!
Miaul Miau! Miaul
Hört doch an die Gassen-Hunde,
Wie sie schreyen diese Stunde:
Haul Hau! Hau!
Die Musicanten niarchiren mit einem lustigen Gassenhauer nebst
Edwarden und Fidelen wieder davon.«
Aber mehr noch wird die Mannigfaltigkeit erhöht, indem Er-
eignisse aus der Reisebeschreibung des Schelmuffsky in die Oper
hineingearbeitet sind. Diese eröffnet sofort mit einer Seene, die an
Operneffecte unserer Tage erinnert und den Theatermaschinislen
jener Zeit alle Ehre macht. »Der Schauplatz zeiget die Spanische
See, allwo sich ein Last-Schiff präsentieret, welches mit geräucherten
Hechtzungen und Bomolie beladen ist; Schelmuffsky erzeiget sich auf
denselben mit seinen Reisegefehrten sehr lustig«. Nun folgen Chor-
und Einzelgesänge. Dann erblickt man ein Caperschiff herankommen;
Schelmuffsky fordert zu eiligster Flucht auf. »Unter währenden
Ritornello lässt sich ein Caper-Schiff sehen, welches auf das Last-
Schiff Feuer giebt, Schelmuffsky aber erschrickt vor den Schusse,
und versteckt sich in ein leer Bomolien-Faß , aus welchem er biß-
weilen mit dem Kopffe zum Spundlochc herausgucket. « Darauf entert
Jean Barth; ein gewaltiger Kampf beginnt, aber das Caper-Schiff be-
hält die Oberhand. Alles wird gefangen genommen, schliesslich
^^] Christian Rbuter. 549
SchelmufTsky aus dem Bomolien-Fasse bei den Haaren zum Spund-
loche herausgeschleppt; flehentlich bittet er um Pardon. Der zweite
Act fahrt uns in »das Gitadell zu Sanct Malo mit einem haßlichen
Gefängnusse, worinnen Schelmuffsky in blossen Hembde gefangen
liegt«. Clauditte, die Tochter des Kerkermeisters, kommt, speist und
tröstet den vom Ungeziefer Geplagten und Verzweifelnden. Alsdann
erscheint der Geist der Charmante und verspricht ihm, er solle bald
wieder zu seiner Freiheit gelangen.
Schelm.: Wer bist Du den? Geist: Ich bin Charmantens Geist,
Wenn Du Dich der Person noch zu entsinnen weist,
Die dorten bey Bornholm das Ungelttck betroffen,
Als mit Sechstausenden zu Schiffe sie ersoffen.
Dann kommt der Kerkenneister selber, der, wie bei Ayrer, Haltefeste
heisst. Es wird verabredet, dass ein Bote an die Mutter geschickt
werden solle, um Lösegeld zu holen. Dann wird dem Schelmuffsky
seine Befreiung angekündigt. Der Kerkermeister führt ihn aber nicht
etwa hinaus, sondern der Maschinist muss mit einem Operneffect nach-
helfen. Der Kerkermeister singt :» Springt , ihr Bande, springt ent-
zwey«, u. s. w. Dazu lautet die Bühnenanweisung »Es springet das
GefängnUß von sich selbst entzwey, daß Schelmuffsky gantz frey
da liegt.«
Um die Operneffecte noch zu vermehren, ist auch von dem
Ballet viel Gebrauch gemacht worden, wie das damals bei der Oper
überall, besonders auch in Hamburg, Sitte war^). Nachdem das Last-
schiff von den Capern besiegt ist, bestellt Jean Barth seinen Leuten
einen Tanz, und es folgt ein »Caper-Ballet«. Am Ende des ersten
Actes wird ein »Ballet von ehrlichen Weibern« angefügt; an Schel-
muffsky's Befreiung schliesst sich ein »Sclaven-Ballet« (Sclave = Ge-
fangener) ; beim Abgehen des Hamburger Boten ein » Hamburger
Bothen-Tantz«, später ein »Ballet von lustigen Haußknechten« und
endlich »Plißinischer Hüpel-Jungen-Tantz«, womit der Tanz der Herren
Barone mit den Töchtern der Schlampampe gemeint ist.
Wenn so die Veränderungen meist in humoristischen, ja scurrilen
*) Besonders auf Tanz war es neben dem Gesang und der Musik abgesehen.
Tanzen müssen die Winde, die Furien, die Cameellreiber , die Bauern, die in
Bethlehem die Schätzung bezahlen u. s. w. GefTken, die ältesten Hamb. Opern,
in der Zeitschr. d. Vereins f. Hamb. Geschichte III (4 851), S. 35 fg.
550 Friedrich Zarncke, ^^'
Zuslitzen zu bestehen scheinen, so ist dagegen der Schluss auf höhern
Kothurn gestellt. Während in der Comödie es die Studenten waren,
die die moralische Nutzanwendung etwas ubermUthig weise procla-
mierlen, erscheint hier die Humilitas, die Demuth, und spricht :
Befremdet euchs, ihr stoltzen Erden-Nymphen,
Daß euch der Himmel so laßt schimpffen?
Es ist verdienter Lohn,
Den ihr durch Spott und Hohn
Vor dieses mahl empfangen.
Und wo ihr werdet künfftig mehr so prangen,
Wie ihr bißher gethan,
So dencket nur daran,
Daß ihr mit SchimpfT zu Boden müsset liegen,
Wo Ihr Euch nicht zur Demuth wollet schmiegen.
Legt doch allen Hochmulh nieder.
Nehmt die edle Demulh an,
Jederman wird hin und wieder
Euch hinfort seyn zugethan.
Legt doch allen Hochmuth nieder,
Nehmt die edle Demuth an.
Der Stimme der Göttlichen kann sich Niemand entziehen. Schlam-
pampe wie ihre Töchter sind gerührt und geloben Besserung. Mit
voller Versöhnung schliesst das Stück:
Schlamp. Weil es der Himmel selber spricht:
Er hat es haben wollen,
Daß man euch so beschimpffen sollen,
So grämt euch nur deswegen nicht.
Und thut was Euch die Demuth hat geheißen.
Gharlott. f Wir wollen uns inskünflige befleißen
{
Clarill. I Zu thun, was sie uns angesagt.
Alle.
Was der hohe Himmel spricht:
Das geschieht und muß geschehen;
Weil er nun kan alles sehen,
Ey so trügt ja solches nicht:
Was der hohe Himmel spricht.
Das geschieht und muß geschehen.
Man wird aus dieser Fassung von Neuem sehen, wie nicht der
Hass und eine verleumderische Absicht gegen die Familie Müller der
Ausgangspunct und das Ziel der Dichtungen Reuter's war, sondern
97] Christian Rbuter. 551
das Bestreben, eine den Gesetzen der Kunst, soweit sie von ihm
erkannt waren, entsprechende Dichtung zu liefern.
Der freie Versbau, wie er damals für die Opern in Gebrauch
war, mit bunt verschränkten Reimen wird von Reuter mit Gewandtr-
heit gehandhabt; klar und glatt fliesst die Sprache in den Reimen
dahin, wenn auch nicht immer frei von Flickworten und einigen Noth-
reimen. Aber freilich, das packend Charakteristische, das seine Prosa
hatte, ist bei dieser Umreimung zu einem grossen Theil verloren ge-
gangen. Das konnte nicht anders sein, und brauchte nicht anders
zu sein bei einer Dichtung, die nur die Unterlage fUr die musika-
lische Composition sein sollte, welche, wie wir sahen, ebenfalls von
Reuter selber gesetzt war. Die recitativischen Stellen, die freilich,
namentlich gegen Ende, sehr überwiegen, sind im Stil kurz und frisch
gehalten, ein Componist hätte nicht Grund gehabt, sich über ihre
Endlosigkeit, wie Cousser über den Text des Bressand zur Ariadne,
zu beklagen. Von eigen tUchen Gesängen oder Arien kommen im
Ganzen nur 55 Strophen vor, und die weitaus meisten sind ein-
strophig. Es überwiegt der trochäische Silbenfali (trochäische und
iambische Verse sind strenge geschieden) und die Verse von vier
Hebungen; längere Verse finden sich gar nicht, wohl aber einige
Strophen mit bloss dreihebigen Versen, und eingeschoben sind zu-
weilen Verse von zwei und drei Hebungen. Stets kommen stumpfe
und klingende Reime zusammen vor (mit Ausnahme 6iner Strophe,
die nur klingende Reime hat), doch mannigfach gebunden, bald sich
kreuzend, bald sich umschlingend, bald neben einander. Auch Stro-
phen, die aus Daktylen bestehen, finden sich. Gemeiniglich wird der
Text des ersten, oder auch der beiden ersten Verse der Strophe am
Ende wiederholt, einmal sogar die ersten drei Verse. Die meisten
Strophen haben nur zwei Reime und nur vier Zeilen (von der Wieder-
holung abgesehen), doch giebt es auch eine Anzahl Strophen mit
drei Reimen und von fünf bis zu sieben Zeilen, in welchem letzteren
Falle einige Reime wohl Binnenreime sind (also Verse von der Form
2 b^ -f- 2 bv^, u. ä.). Es finden sich ausser der Kalzen-Hunde-Messe
und den Rundas 26 verschiedene Strophenbildungen, alle offenbar
sehr sangbar. Es scheint also auch das musikalische Talent Reuter's
und seine musikalische Ausbildung nicht gering gewesen zu sein.
Ob die Oper wirklich in Hamburg aufgeführt worden ist, wissen
Abhandl. d. E. 9. Oesellsch. d. Wissensch. XXI. 37
1
552 Friedrich Zarnckb, [98
wir nicht. Aber es ist nicht wahrscheinlich; genannt wird ihr Titel
unter den in Hamburg aufgeführten nicht und ein Hamburger Text-
buch derselben giebt es nicht ^). Jedesfalls hat sie eine erkennbare
Bedeutung in der Entwicklung der Oper nicht erlangt. Ihr Inhalt
war dem Zeitgeschmacke wohl noch zu fremd. Allerdings hatte man
in Hamburg, wo man unabhängig war von fürstlichem Einfluss, wo
also der Volksgeschmack sich freier entwickeln konnte, bereits i 689
einen Don Quixote, also doch gewiss eine komische Oper^), gegeben,
man hatte auch 1 692 in Bressand's Jason eine lustige Person hinein-
interpoliert (was wohl 1693 Bressand selbst bewog, in seinen Nar-
cissus den Rullo, einen lustigen Schuferknecht, aufzunehmen), schon
seit 1686 hatte man niederdeutschen Arien Zulass gewährt, aber
eine den ganzen Abend füllende komische Oper, die, wie die Co-
mödie, dem Leben und Treiben der Gegenwart entnommen war,
das war doch ein zu grosser Sprung von jenen auf hohem Kothurn
einherstelzenden Stoffen des Alterthums, wie Orpheus, Proserpina,
Semele, Semiramis, Achilles, Hermione, Theseus, Medea, Cecrops,
Hercules, Orontes, Cleopatra, Ariadne, Alceste, Jason, Narcissus,
Aeneas, Alexander, Perus, Andromeda, Circe, Scipio Africanus,
Xerxes, Crösus, Penelope u. s. w. u. s. w., die bis dahin das Haupt-
repertoire der Oper abgegeben hatten. An den Höfen war für Reuter's
Werk natürlich keine Aufnahme zu hoffen, und in Leipzig stand ihm
wohl schon der Klatsch entgegen, der sich an dasselbe heftete. Aber
auch in Nürnberg und Frankfurt a/M. scheint es nicht zur Aufführung
gelangt zu sein.
Dessenungeachtet können wir sagen, dass Reutern das Verdienst
zuzuweisen ist, zuerst den Versuch gemacht zu haben, eine dem
wirklichen Leben entnommene komische Oper zu schaffen.
1) Vgl. die Titel der Opern von 4 678 bis 1696 bei Geffken, in der Zeilschr.
d. Yer. f. Hamb. Gesch. IIT (4 854), S. 37 fg. und Mattheson*s Yerzeichniss von
4 678 bis 4 728| neu abgedruckt in der Allgem. Musik-Zeitung 4 877 Nr. 4 3 fg.
2) Auch die 4 679 in Hamburg aufgeführte Oper »Don Pedro oder die ab-
gcslrafle Eifersucht« hat doch wohl schon einen mehr modernen Charakter ge-
tragen. Aus dem Jahre 4 680 erwähne ich »Jodelet«, aus 4 684 »Das unmögliche
Dinger, aus 4 704 »Störtebeker und Jödge Michaela, aus 4 74 0 »Le bon Vivant oder
die Leipziger Messe«, aus 4 74 4 »Der angenehme Betrug oder der Garne val von Vene-
dig« u. s. w. Die beiden Theile des »Gara Mustapha« [4 686] gehören allerdings der
Gegenwart an; vergleichen sich aber sonst ganz jenen grossen pomphaften Opern.
99] Christian Reuter. 553
9. Beuter's zweite Relegation und Excluslon. Tersaehe der
Rehabilitation.
Alle diese Schriften lagen gedruckt vor, ehe Reutern die ihm
von seinen Feinden so sehnlich gewünschte Strafe ereilte, denn die
gegen ihn ausgesprochene zweijährige Relegation war ja nicht zur
Ausfuhrung gekommen, weil er sich eine schriftliche Defension er-
beten hatte. Bei Gewährung dieser ist ihm — so brachten es die
Bestimmungen der Statuten mit sich — aufgegeben worden, sich
weiterer Pasquille zu enthalten und das Gebiet der Stadt nicht zu
verlassen, um sich im Fall einer Citation sofort stellen zu können.
Beides hatte er nicht beachtet: er hatte frischweg weiter geschrieben,
hatte Leipzig verlassen, um sich nach Kitzscher bei Borna zu be-
geben. Als er daher im November auf Antrag der Bucher-Commission
vernommen werden sollte und nun natürlich am schwarzen Brett
citiert ward, war diese Citation erfolglos, und sein Bekannter Wilcke
erklärte am 1 . December, vielleicht gegen besseres Wissen, er kenne
den Aufenthaltsort Reuter's nicht. Dieser war also zweifelsohne den
Universitätsgesetzen nach schwer straffällig.
Dennoch scheint man nicht gleich gegen ihn vorgegangen zu
sein. Weshalb nicht, entzieht sich wieder unserer Kenntniss, da
die Universitätsacten fehlen: möglicherweise suchte man ihn ver-
gebens.
In der Studentenschaft Leipzigs erhielt sich noch immer einige
Erregung und offenbar zu Gunsten Reuter's, auch da noch, als am
3. Juni 1697 Frau Anna Rosine Müller gestorben war. Die Er-
regung spielte hinaus nach Knauthain, woher ja die Verstorbene
stammte und wo wohl noch Verwandte von ihr lebten. Die Affaire
Wettberg-Bleymilller , die sich dort am 3. Juli abspielte (vgl. den
zweiten Anhang) hängt offenbar mit Reuter und den Müllerischen Erben
zusammen. Auch der Dr. Weidling weist auf den Reuter-Heybey-
schen Kreis hin und die 60 Studenten-Jungen, mit deren Erscheinen
gedroht wird, zeigen, in wie weiten Kreisen man an der Sache An-
theil nahm.
Am 31. Juli finden wir dann die trockene Notiz in einem Me-
morial des Rectors: »Reuter incarceratus «. Jetzt war man also seiner
87*
554 FuKDucH Zabrcu, [^00
habhaft geworden. Aus seinem späteren Klageschreiben an den König-
Churfürslen vom 15. März 1700 ersehen wir, dass man roh mit
ihm umging. Er ward nicht auf das Studentencarcer, sondern in
das sogen. Banemcarcer gebracht. Dies war das Geföngniss fiir die
Inhaftierten aus den der Universitätsgerichtsbarkeit onterworfenen
Dörfern, also für gemeine Verbrecher der untersten Stände bestimmt,
allerdings ein Hundeloch, von dem dem Schreiber dieses von alten
Universitätsangehörigen noch allerlei Haarsträubendes berichtet wor-
den ist. Es ward beim Aufbau des Augusteums abgebrochen. Aach
an der Kost Hess man es fehlen: Reuter klagt in jenem Schreiben,
dass er damals so weit herabgekommen gewesen sei, dass er schon
um deswillen seine Defension nicht genügend habe führen können.
Hier sass er über acht Wochen. Am 4. September heisst es
»Reuter suchet Defension; commissa d. Rysselio«. Das war sein Freund
die Möglichkeit war ihm also gegeben. Weiteres erfahren wir nicht
es fehlen ja die Acten. Die Studentenschaft blieb ihm treu. Am
10. September fanden wieder ärgerliche Scenen statt, indem die
Müllerischen Töchter vexiert wurden (s. Anhang). Es scheint dabei
Reuter's parodistische Leichenrede Nachahmung gefunden zu haben
(vgl. die Worte »Geistliche Lieder in sensum obscoenum detorquere«),
vielleicht sang man die dem Denk- und Ehrenmahl beigeg^)enen Lieder.
Am 15. und 17. September waren dann, die grossen Studenten-
Tumulte, die mit dem Uebertritte des Churfbrsten zum Katholicismus
zusammenhingen, und bei denen selbst Menschenleben zu beklagen
waren. Nunmehr scheint man kurzen Process gemacht zu haben.
Am 27. September heisst es im Memorial des Rectors »Hr. Reuter
bittet gehört zu werden«. In seinem späteren Klagschreiben an den
König-ChurfUrstcn scheint er anzudeuten, dass ihm diese Bitte nicht
gewährt worden sei. Mit aller Hast ward er noch am 27. September
im Concilium professorum, auf Vorschlag des Concilium judiciale, auf
sechs Jahre relegiert. Nicht uninteressant sind die abgegebenen Vota,
die uns zufällig erhalten sind. Die verschiedenen Formen der Zu-
stimmung, auf die grosses Gewicht gelegt ward, zeigen, wie die
Einzelnen zur Sache sich verhielten. Besonders interessant ist, dass
Otto Mencke, der der Jugend und ihren Anschauungen näher stand —
wie denn auch sein Famulus später zu dem Bcuter'schen Kreise
gehörte — , sich der Abstimmung entzog, oder enthielt. Auch Ernesti
^01] Christun Reutbr. 555
und der junge Friderici stimmten in der milden Form: Fiat justitia,
während die Aelteren ihren Verdruss deutlich zu erkennen geben,
und der Dr. Petermann zu Protokoll giebt: »Exequantur sententiae,
und ie ehe ie beßer«. Der mit Reuter zugleich abgeurtheilte Gerber
war des Diebstahls angeklagt, seine Relegation ward aber noch auf-
gehalten, indem er um Gewährung schriftlicher Defension bat.
Reuter fand sich in sein Schicksal, er war wohl froh, dem
Bauerncarcer und der schmalen Kost zu entkommen und sich wieder
frischer Luft erfreuen zu können. Am 28. September ward er ent-
lassen und musste dem Gebrauche gemäss Urfehde schwören und
versprechen, innerhalb der sechs Jahre nicht nach Leipzig zurück-
zukehren. Bereits Sonntag den 3. October ward das feierliche
Relegationspatent angeschlagen, aus dem man ersieht, dass ganz be-
sonders die parodistische Leichenrede es war, die man ihm nicht
verzieh, zugleich aber auch, dass man alle seine Schriften einzig
und allein als Pasquille behandelte^).
In der Studentenschaft aber machte sich die für Reuter günstige
Stimmung noch weiter Luft. Am 17. October 1697 spielte sich am
Ende der Reichsstrasse vor dem rolhen Löwen wieder eine Scene
ab (vgl. den Anhang), die beweist, wie dieser nunmehr von der
Studentenwelt der Maulaffe genannt ward, und wie wenig günstig
man den Bewohnern desselben gesinnt war, trotzdem dass nunmehr
der jüngste Sohn als juratus inscribiert war, also selber dem' Kreise
der Studierenden voll angehörte.
Andererseits werden wir auch eine ablehnende Haltung gegen-
über Reuter und Genossen nicht verkennen können in den Mitgliedern
der frommen »Görlitzischen poetischen Gesellschaft«, die, ihren Ur-
sprung auf den 3. Januar 1 697 zurückführend, wohl noch im Laufe
dieses Jahres ihre Statuten entwarf. In diesen lautet § 5: »Den
Stoff zu den Versen kann sich Jeder nach Belieben wählen, doch
dürfen biblische Sprüche und Phrasen nicht mißbraucht, und un-
fläthige Sachen wie Buhllieder, femer Pasquille gar nicht verfertigt
werden. Wer dawider handelt, zahlt 4 Groschen Strafe.« Joh.
^) Das Patent enthält wohl einea Druckfehler, den die Hast der Herstellung
erklärt und entschuldigt. Statt » scripsit aut disseminavit « wird es heissen müssen
»scr. et dissem. «, denn an der Verfasserschaft sämmtlicher Schriften durch Reuter
selbst ist nicht zu zweifeln.
556 Fribdrigu Zarncke, [^^^
Burchard Mencke, der Sohn Otto's, stand zu ihnen in Beziehung;
dass er nicht ganz in ihrer Tendenz aufging, lässt sich doch nach-
weisen.
Wohin sich Reuter begeben hat, ist nicht sicher bekannt. In
der Umgegend Leipzigs ist er wohl geblieben, denn es wird später
behauptet, dass er mehrmals in Leipzig gewesen sei. Wahrschein-
lich ging er gleich nach Merseburg, wo er, mochte er nun dort
schon früher gewesen sein oder nicht, immerhin einige Aussicht
hatte, sich Unterhalt zu verdienen; denn dort war ein Hof, der
witzige Köpfe zu verwenden wusste, dort waren auch viele Winkel-
schulen, die ihm Gelderwerb bieten konnten. Auch konnte er dort,
in der Residenz seines Heimathlandes, am sichersten beurtheilen, wie
die Aussichten für seine Zukunft gestaltet wären. Diese scheinen
nicht die besten gewesen zu sein, denn er begann — und da finden
wir ihn sicher in Merseburg — Schritte zu thun, um seine Relega-
tion rückgängig zu machen. Hier scheinen ihm bereits vornehme
Gonnexionen zur Seite gestanden zu haben. Es glückte ihm, an den
Herzog Christian August von Sachsen-Zeitz zu gelangen, der 1695
zum Katholicismus übergetreten und im Jahre 1696 zum Bischof von
Raab ernannt worden war, und der zugleich Grosskanzler Friedrich
Augusts war. Dieser nahm sich seiner an und verwies ihn an den
Fürsten Anton Egon von Fürstenberg-Heiligenberg, der seit 1697
von dem nach Polen abgehenden König-Churfürsten als Statthalter
eingesetzt worden war. Nur dies eine Mal, behauptet Reuter, sei
er unerlaubt in Leipzig gewesen, um den Fürsten-Statthalter aufzu-
suchen, und da habe ihn der Advocat Mor. Volkm. Götze ausspio-
niert und der Universität denunciert. Denn mit diesem, der ihm
früher beiständig gewesen war und der auch zu dem Freundeskreise
Reuter's in gutem Verhältniss gestanden hatte, waren er und seine
Freunde etwa seit 1697 ganz zerfallen, und der Juris Practicus Götze
suchte nun auf alle Weise seinen Groll an ihnen allen auszulassen.
Genützt hat jener Besuch Reutern freilich Nichts.
Anfangs ist auf jene Wiederkehr Reuter's nicht weiter Gewicht
gelegt worden, das ganze Jahr 1698 hindurch finde ich keine Notiz,
dass das Universitätsgericht Veranlassung gehabt hätte, sich mit ihm
zu beschäftigen. Mit dem Jahre 1699 wird dies anders. Am
11. März heisst es: »in causa Reuthers Sollen die Zeugen abgehört
^03] Christian Rboter. 557
werden, v. Acta.« Oflfenbar reagierte jetzt das Universilätsgericht
auf eine Denunciation , dass er wieder in Leipzig gesehen worden
sei; war es noch die erste Götze'sche oder eine neue? Als sicher
behauptet Reuter, dass dieser ihn in der Marterwoche, also in der
Woche vor Ostern, welches Fest im Jahre 1699 auf den 9/19. April
fiel, fälschlich angezeigt, ja es dahin gebracht habe, dass die Stadt-
knechte ihn in Fleischmann's Wohnung, doch vergebens, gesucht
hätten^). Dennoch glaubte die Universität der Denunciation, und
jetzt entschloss man sich zu einer schnellen Aburtheilung. Auf die
Aussage der Zeugen (also wohl der älteren) hin ward Reuter Tür
eidbrüchig und meineidig erklärt und das Urtheil lautete nun : prorsus
exclusus. Bereits am Sonntag nach Ostern, den 16/26. April, erschien
das betreffende Patent am schwarzen Brette.
Damit war denn freilich die Zukunft Reuter's eine sehr bedenk-
liche geworden. Als perjurus und exclusus hatte er keine Aus-
sicht, irgendwo im Staatsdienste eine Anstellung zu finden. Er
musste also bemüht sein, das Urtheil der Universität wieder aufge-
hoben zu sehen. Er hoffte um so eher darauf, als ja das letzte
Urtheil ergangen war, ohne dass er überhaupt gehört worden war.
Mit der Theologie freilich, falls er dieselbe bis dahin noch sollte
festgehalten haben, war es nun definitiv zu Ende, er schrieb sich
daher fortan Juris Studiosus.
Nur durch hohe Verwendung konnte er sich Hoffnung machen
^] Dass diese Beschuldigung des Meineides schon damals als eine Härte an-
gesehen ward, die mit der Auffassung der Verhältnisse^ wie das Leben sie ge-
bildet hatte, nicht in Uebereinstimmung stehe, ergiebt sich daraus, dass noch in
demselben Jahre der Eid bei der Immatriculation abgeschaflt ward. Noch im
Sommersemester 1699 heisst es Jurati, . bereits im Wintersemester Promittentes.
Vogel in seinen Annalen S. 9S9 sagt: »Unterm dato d. 3i. Nov. ward durch ein
Königl. Rescript .... das solenne Jurament, welches hiebevor diejenigen, so sich
hier auflbalten weiten, bey der Inscription ablegen musten , allergnädigst remit-
tiret, und kam an dessen statt auf, daß einer nur durch den Handschlag promit-
tiren und angeloben muste, denen vorgeschriebenen Legibus Academicis nach aller
Möglichkeit nachzuleben. Zu solcher Veränderung haben vornehmlich die vielfältig
geschehenen perjuria oder Meineyde . . . Anlaß gegeben.« ]£s ist nicht unmög-
lich^ dass geradezu der Reuter' sehe Fall und seine Eingabe vom 10. October 1699
hiezu die Veranlassung gegeben hat. Jedesfalls sieht man deutlich, welch alberner
Uebertreibung sich seine Gegner schuldig machten, wenn sie ihn fortwährend als
einen meineidigen Schelm und Schurken behandelten.
\
558 Friedrich Zarncke, [^ö*
etwas zu erreichen, und er wählte den Zeitpunct, diese zu gewinnen,
sehr klug. Im October 1 699 während der Michaelismesse, die schon
so alljähriich die vornehme Welt in Leipzig zu versammeln pflegte, ward
in Leipzig, wie schon oben erwähnt, das Beilager des Erbprinzen
von Bayreuth mit der Prinzessin Sophie von Sachsen - Weissenfeis
gefeiert. Dazu kam bereits am 30. September der König aus Polen,
und es sammelte sich eine fast zahllose Schaar von polnischen,
sächsischen und thüringischen Magnaten, Grafen, höchsten Hof-
beamten und Edelleuten. Hier waren es Theater, Oper, Rcdoute,
die das ganze Interesse in Anspruch nahmen, hier war der Kreis
tonangebend, der auf Witz und Genie mehr Werth legte als auf
zahme Biederkeit der Gesinnung, hier sah man tief hinab auf die
Universität, ja man war wenig günstig für sie gestimmt; denn sie
galt als ein hauptsächlicher Schürer der Verstimmung wegen des
Confessionswechsels des Landesherrn. Man hatte ihr wohl die Un-
ruhen vom 15. und 17. September 1697 noch nicht vergessen^); ja
selbst Ritterschaft und StUdte suchten damals der Universität etwas
am Zeuge zu flicken^). Dass es Reuter gelang, in diesem Kreise
Gönner zu finden, können wir leicht begreifen, um so mehr als ja
die Tendenz seiner Schriften die volle Zustimmung gerade der ad-
lichen Kreise haben musste.
So richtete denn am 10. October 1699 Christian Reuter, Jur.
^) Die Veranlassung zu ihnen war bekanntlich die folgende gewesen. Der da-
mals weitberühmte Theologe Dr. Joh. Friedr. Mayer, ein geborner Leipziger, als
Pastor nach Hamburg berufen, hatte bei Gelegenheit eines wirklich vorgekommenen
Falles einen kleinen Tractat geschrieben: »Gesamiete Thränen einer herzlich be-
trübten Mutter wegen des erbärmlichen Abfalls ihres Evangelischen Sohnes zum
Papstthum«. Als nun der Churfürst Friedr. August im Juni 4 697 zur katholischen
Confession übertrat, ward jene Schrift, mit einer neuen Vorrede versehen, wieder
aufgelegt (wohl in Halle) und in tausenden von Exemplaren, zur höchsten und
peinlichsten Angst der Bücher-Commission , colportiert. Mayer war der Held des
Tages. Es war wohl nicht ohne Absicht, dass er gerade am 15. September, wo
in Krakau die Krönung des Ghurfürsten zum Könige stattfand, in Leipzig weilte.
Seine Anhanger, besonders die Studentenschaft, brachten ihm an diesem Tage eine
demonstrative Abendmusik , bei der bereits tumultuarische Störungen vorkamen.
Diese wiederholten sich am 4 7., »darüber es zu einem scharffen Scharmützel kam«r,
in welchem ein Stadtknecht erschossen, drei verwundet, von den Studenten meh-
rere übel zugerichtet wurden.
^) Am 94. Januar 1700 wird in den Verhandlungen des Concilium profes-
sorum erwähnt und berathen : Der Edelleute und Städte Schrifft wider die Academie.
105] Christian Reuter. 559
Stud., eine Supplik an den König, in der er bat, die geschehene
Relegation allergnädigst aufzuheben und diesfalls an die löbliche
Universität zu rescribieren. Am 23. December berichtete die Uni-
versität auf ergangene Anfrage hierüber an den König und bat, es
bei dem ergangenen Urtheil bewenden zu lassen. Der betreffende
Rath im Ober-Consistorium, der hierüber zu referieren hatte, hat
auch mit Bleistift unter den Bericht der Universität notiert: »Sollici-
tant, wenn er sich anmeldet, abzuweisen. « Aber die Stimmen inner-
halb des regelmässigen Instanzenzugs sollten in dieser Sache nicht
mehr die massgebenden sein. Am 4. Januar 1700 zur Neujahrs-
messe kam der König wiederum nach Leipzig und verweilte hier
mit kurzen Unterbrechungen bis zum 20. Januar. In dieser Zeit ist
es den Freunden und Gönnern Reuter's gelungen, in seiner An-
gelegenheit ein günstiges Resultat zu erzielen.
Es ruht ein Dunkel darüber, aber als sicher darf angenommen
werden, dass während jener Zeit der damals allmächtige Minister
Friedrich Augusts, der Graf Wolfgang Dietrich von Beuchlingen, sei-
nen Secrelär zum Universitätsactuar gesandt hat und diesem hat
mittheilen lassen, der König könne sich wegen Kleinigkeiten der
akademischen Disciplin nicht auf Rescripte einlassen, es müsse also
genügen, wenn er auf diese Weise der Universität kund thun lasse,
dass er die Relegation und Exclusion Reuter's zurückgenommen
wünsche. Das war freilich ein unerhörtes Verfahren, eine Rück-
sichtslosigkeit, die kaum glaublich erscheint, und man kann es wohl
begreifen, dass der Universitätsactuar Scheffler, wie behauptet ward,
es nicht für geboten erachtete, hierüber ein Protokoll aufzunehmen
und den Acten einzufügen. Andererseits war die Universität aber
auch wieder nicht mächtig genug, um so einflussreichen Leuten, wie
die gegenwärtigen Gönner Reuter's waren, thatsächlich entgegentreten
zu können. Man nahm also zwar die Relegation nicht zurück, aber
man Hess es auch ruhig geschehen, wenn nun Reuter sich wieder
ganz ungescheut in Leipzig blicken Hess. Dieser betrachtete seine
Exclusion als cassiert und erwähnte dies offen dankend in seinem
Schreiben an den König vom 15. März 1700.
m
Bei seinen Feinden in Leipzig, bei den Müllers und bei Götze,
erregte dies Ingrimm und Wuth. Die ersteren erliessen am 27. Januar
ein von albernen Uebertreibungen und directen Lügen strotzendes
/
»560 FuEDMicH Zabxces, -^06
Schreiben an den König, in welchem sie verlangten, Reuter solle
nochmals in Untersuchung gezogen und, wer weiss, wo möglich zu
Rad und Galgen verurtheilt werden. Der Concipient war der Prä-
ceptor George Leib, der allerdings von Reuter weidlich durch-
gehechelte Herr Gerge, der mittlerweile der Eh^atte der älteren
Tochter geworden war. Wir würden aller richterlichen Unparteilich-
keit entgegen handeln, wollten wir auf diese Supplik irgend etwas
zur Beurtheilung Reuter's geben. Auch der Advocat Mor. Yolkm.
Gülze rührte sich sofort. Am 19. Januar schon denuncierte er den
Reuter bei der Universität wegen eines Rencontres mit diesem io
Auerbachs Keller, aus dem selbst nach seiner parteiisch geförblen
Darstellung kaum ein Grund zu einer Anklage zu entnehmen ist.
Hier war jedesfalls die verächtliche Gesinnung nicht auf Seiten Reuter's.
Dieser muss nun den Gönnern, die er gefunden hatte, gefolgt
sein. Denn schon im März finden wir ihn in Dresden, wo er früher
offenbar noch keine Verbindungen gehabt hatte. Eine sichere Lebens-
stellung bot ihm dieser Aufenthalt anfangs doch noch nicht. Er
musste also immer noch den Makel seiner Relegation zu tilgen be-
müht sein. Er bat also am 5. März 1700 den König um Revision
seines Processes, und da er in Leipzig auf ein unparteiisches Ur-
theil nicht rechnen dürfe, so wolle er in Wittenberg weiter stu-
dieren und bitte daher, die Acten von der Universität Leipzig ein-
zufordern und nach Wittenberg zu senden. Den Bericht der Uni-
versität kennen wir nicht, aber die Acten wenigstens hatte sie noch
am 21. April 1700 nicht eingesandt. Darum wiederholte Reuter an
diesem Tage seine Bitte. Der Referent im Ober-Consistorium hat
mit Bleistift unter diese Supplik notiert: »Nach Leipzig an Hr. Dr.
Mylius zu schreiben«. Was aber weiter daraus geworden ist, wissen
wir nicht. Nach Wittenberg ist Reuter nicht gegangen, dort nicht
immatriculiert worden*).
In diesen selben Tagen trat vielmehr in der Lebenslage Reuter's
eine wesentliche Aenderung ein. Am 23. April erscheint er als
SecretUr Sr. Excellenz des einflussreichen altadlichen Cammerherren
Rudolf Gottlob von Seyffcrditz, der bald nachher in den Freiherrn-
') Freundliche Mittheilung des Herrn Prof. Opel in Halle nach Durchsicht der
Wittenborger Matrikel.
^07] Ghristun Reuter. 561
stand erhoben wurde. Spöttisch schreibt er an diesem Tage an
Götze und bietet diesem höhnend seine Protection an, wenn er der-
selben einmal benöthigt sein sollte, und an demselben Tage richtet
der Gammerherr selber ein hochmUthiges Schreiben an die Uni-
versität, in welchem er, hoch von oben herab, dieselbe warnt,
irgend etwas gegen seinen Secretär vorzunehmen, dem er, in Ueber-
einstimmung mit der hohen Intention Sr. Königl. Majestät, zur Er-
örterung der Wahrheit und Ausführung seiner Unschuld verhelfen
werde.
So hatte Reuter eine Stellung gefunden, wie sie damals witzigen
und talentvollen Köpfen, vor ihm und nach ihm, in Sachsen öfter
geworden ist, ganz entsprechend der Richtung, die damals am Hofe
und in der sächsischen Aristokratie herrschend war. Es war ja auch
sein Vorbild, Christian Weise, längere Zeit Secretär des Grafen von
Leiningen gewesen, es waren später Liscow und Rost nach einander
die Secretäre des Grafen von Brühl. Wir dürfen auch daraus wohl
entnehmen, dass wir uns in Reuter nicht einen bäuerischen Rüpel,
sondern einen feinen Kopf zu denken haben, der auch zu den For-
men des vornehmen Lebens sich wohl zu stellen wusste.
Wie aber hatten sich die Verhältnisse geändert! Jetzt sass Reuler
in der Residenz hoch zu Rosse, wie es schien völlig triumphierend
über seine Gegner, über die Müller, über den Präceptor Gerge,
über Götze, über die Universität.
III. Christian Reuter und der Advocat Moriz Volkmar Götze.
1. Persönliches.
Vom Sommer 1695 bis zum Frühling 1697 sehen wir Reuter,
selbst während seiner ersten dreimonatlichen Incarcerierung, eine
ganz ungemeine Productivität entfalten. Dann folgt seine 2 monat-
liche Gefangensetzung ins Bauerncarcer, seine definitive Relegation,
anderthalb Jahre darauf, im April 1 699, seine Exclusion. Waren die
Zeiten, die damit für ihn anbrachen, so traurige, dass sie ihm jede
Möglichkeit poetischer Thätigkeit raubten, oder haben wir nur noch
nicht wieder aufgefunden, was er damals geschrieben hat? Fast
scheint das Erstere der Fall gewesen zu sein, denn als Reuter im
562 Fribdrigh Zarncke, [^08
Januar 1700 sich als rehabilitiert betrachten durfte, begann auch
seine dichterische Ader wieder zu fliessen, und schon im Anfang Mai
trat eine neue satirische Gomödie von ihm ans Tageslicht. Aber so-
fort begannen auch die Anklagen und Behelligungen wieder, auch
dies neue Werk sollte nur ein Pasquill sein.
Diesmal war es sein früherer Beistand, der Advocat Mor. Volkm.
Götze, den er dem Gelächter und der Verachtung Preis gegeben
haben sollte. Dieser hatte früher zu seinem Kreise gehört, der junge
Bahr wohnte bei ihm, mit David Fleischmann, der am Markte (im
jetzigen Aeckerleins Keller) einen Laden hielt, war er befreundet
gewesen, Reutern hatte er in seinen Processen bei der Universität
zur Seite gestanden. Freilich klagt er, er habe niemals einen Gro-
schen von ihm pro labore erhalten. Ob dies oder was sonst die
Freundschaft in bittere Feindschaft verwandelt hatte, wissen wir
nicht, es ist auch wohl nicht der Mühe werth^ dies sicher feststellen
zu wollen. Aber Götze verfolgte nun seine früheren Bekannten mit
raffinierter Bosheit. Dass er Reuter denuncierte, wissen wir bereits,
aber auch Fleischmann und seine Frau wusste er in allerlei Processe
und Untersuchungen zu verwickeln. Wir dürfen glauben, dass eine
Untersuchung gegen Fleischmann wegen gefälschter und gepaschter
Waaren auf Götze's Denunciation hin eröffnet ward, ja er mischte
sich boshaft in dessen intimste Beziehungen und verhetzte sogar die
nächsten Verwandten zu Processen gegen einander. So finden wir
Fleischmann in einem Processe mit seinem Schwager David Ziegler,
und Fleischmann's Frau sogar gegen ihre Mutter vor Gericht er-
scheinend. Götze's grosses advocatorisches Geschick, seine gewandte
Beherrschung des processualischen Formalismus machten ihn zu einem
gefürchteten Gegner. Sein Ruf aber ist offenbar nicht der beste
gewesen, er war gewiss ein gemeiner Patron. Schon im Jahre 1694
war er, wie die Repertorien ausweisen, bei der Universität, zu deren
Verwandten er gehörte, in Untersuchung gewesen wegen »Anzüglich-
keiten gegen die Posemschen Gerichte«. Leider fehlen auch diese
Acten.
Andererseits war auch bei seinen nunmehrigen Gegnern wohl
nicht Alles ganz so, wie es sein sollte; gereichte ihnen doch schon
die frühere Genossenschaft des jetzt Gehassten nicht eben zur Ehre.
Auch mag ja die Anklage auf Wahrheit beruhen, dass Fleischmann
^ö^] Ghristun Rbctbr. 563
sich Zolldefrauden u. A. habe zu Schulden kommen lassen, wenn
auch die Menge und Gehässigkeit der Anklagen mindestens ebenso-
sehr dem Denuncianten zur Unehre gereicht wie dem Angeklagten.
Aber von besonderem Interesse wird für uns Fleischmann's Ver-
hältniss zu seiner in den Acten so oft, und von Götze stets mit
besonderer Malice genannten Ehefrau. Da es uns einen Einblick in
den Kreis der Freunde gewährt, so müssen wir ihm einen kurzen
Excurs widmen. Es ist wie ein kleiner Roman, der sich vor un-
seren Augen entrollt. Die Aufzeichnungen der Spergauer Kirchen-
bücher sind die Quellen, aus denen wir das Nachstehende zusammen-
stellen können^).
In Spergau, einem Dorfe bei Dürrenberg, eine Meile südlich von
Merseburg, besass Fleischmann ein Gut; es muss eine ansehnliche
Besitzung gewesen sein^). Hier wird er sich öfter. aufgehalten haben
und so kam er mit den Bewohnern des Dorfes in Verkehr. Der Orts-
geistliche war von 1678 bis Ende 1694, wo er starb, der Magister
Frohberger, aus Merseburg gebürtig, der bald nachdem er die Pfarre
erlangt, am 21. November 1678, sich mit Marie Christine, der Tochter
des Predigers Ziegler in dem nicht weit entfernten Poserna, vermählt
hatte. Von ihr wurden ihm in den Jahren 1680 — 1693 sechs Kinder
geboren, fünf Mädchen und ein Knabe, von denen nur das älteste
Mädchen jung gestorben zu sein scheint, so dass, als der Vater am
Weihnachtsabende 1694 verschied, die Mutter mit fünf Kindern,
deren ältestes, der Knabe Christian. Friedrich, erst ISViJahr alt war,
zurückblieb. Man könnte den Verdacht schöpfen wollen, dass das
Leben auf der Pfarre etwas verweltlicht gewesen sei; es fällt auf,
dass bei den vielen Kindern, ausser dem Grossvater bei dem älte-
sten, gar keine Geistlichen als Taufzeugen erscheinen, auch steht
^) Dem Herrn Pastor Brunner in Spergau bin ich zum innigsten Danke ver-
pflichtet für die unermüdliche Liebenswürdigkeit, mit der er alle meine Fragen
beantwortete, mir schliessUch auch noch zusammenhängende Einsicht in die Kirchen-
bücher gewahrte.
'''] Anfangs hielt er auf demselben einen Hofmeister, Martin HofTmann^ später
verpachtete er es an einen Heinr. Andres Velthem, der in dieser Eigenschaft
um 1700 im Kirchenbuche von Spergau mehrfach vorkommt. Eine Familie dieses
Namens war dem Orte fremd.- Sollte es ein Verwandter des Schauspieldirectors
Yeltheim (Veiten) gewesen sein, dessen sich Fleischmann aus persönlichem Inter-
esse für diesen angenommen hatte?
564 Friedbich Zarncke, [1^0
die junge Frau Pfarrerin mehrfach bei Militärtaufen und zusammen
mit Militärs Gevatter, so dass wir sie uns umworben denken könnten
von Jüngern des Mars, aber man muss doch vorsichtig sein, der-
artige Beobachtungen, die ganz unverfänglich sein können, zu einer
noch so geringfügigen Verdächtigung zu verwenden. Nach dem Tode
des Mag. Frohberger folgte auf der Pfarre für kurze Zeit ein Mag.
Polycarp Leyser, dann für lange Jahre der Pastor Metzcher. Neben
dem Prediger spielt^ offenbar der »Ludimoderator« Christian Pauli (seit
1683, vor ihm ein Hiller) eine grosse Rolle. Als er im Jahre 1698
seine Tochter verheirathete , rüstete er eine Hochzeit aus, von der
der Prediger im Kirchenbuche bemerkt, »dergleichen hier in 22 Jahren
nicht geschehen«. Nicht mit einem Sermon, sondern mit einer
Hochzeit-Predigt ward seine Tochter copuliert. Er war wohl musik-
verständig, vielleicht Organist, denn von den zahlreichen Rindern,
mit denen er, fast regelmässig jedes Jahr, die Welt beglückte, ward
ihm 1692 eine Tochter durch den bekannten Merseburgischen Hof-
und Stadt-Musicus August Quant aus der Taufe gehoben. So fanden
sich bei ihm wohl manche Berührungspuncte mit unserem Leipziger
Kreise. Am 7. Juli 1696 sehen wir denn auch Fleischmann (»Herr
David Flcischmann, ein Kaufmann aus Leipzig«) bei einer Tochter
Pauli's Gevatter stehen, und am 28. August 1701 den Jur. Utr. Can-
didatus Georg Welsch : zweifelsohne der uns aus den Leipziger Aden
von 1700 wohlbekannte theaterliebende Studiosus Welsch. Auch
Militär lag im Dorfe, ein Capitain des armes wird erwähnt, wieder-
holt Reiter, 1693 auch ein Zigeuner-Corporal. Also mochte der Ort
grosse Mannigfaltigkeit des Verkehrs bieten, der auch die munteren
Gesellen aus Leipzig anzog. Hier muss sich nun zwischen David
Fleischmann und der, trotz ihrer Kinderschaar vielleicht immer noch
jugendlichen und interessanten Wittwe des Magister Frohberger ein
Verhältniss entsponnen haben, das nicht platonisch gewesen ist und
das nicht ohne Folgen blieb. Götze spricht in seinem Schreiben
vom 19. Juni 1700 von der Zeit, als Fleischmann »mit seinem itzigen
Eheweibe verdächtig con versierte « , er erwähnt Acten, die gegen
beide aufgelaufen seien wegen »Vertuschung des Kindes«. Und wenn
wir auch annehmen dürfen, dass auch diese Untersuchungen wie
die oben erwähnten wegen Zolldefrauden etc. durch den boshaften
Menschen selber angezettelt wurden, so verlieren doch diese Anden-
^^^] Christian Reuter. 565
tungen damit nicht alles Gewicht. Vollends belastend aber tritt hinzu
die nachstehende Einzeichnung des Pastor Metzcher im Spergauer
Kirchenbuche: »Den 8. Novembris 1697 ist Herr David Fleischmann,
ein Handelsmann aus Leipzig, mit Frau Marien Christinen, Herrn
M. Froberger's, weyland Pastoris allhier, nachgelassenen Wittwe ohne
Sermon copulieret worden.« Die Wittwe seines Amtsvorgüngers
copuliert ohne Sermon! Da kann das Verhältniss der Verlobten vor
der Hochzeit kein reines gewesen sein. Auch ihr Process mit der
eigenen Mutter, dessen die Acten erwähnen*), mag auch hier bos-
hafte Zwischen trügerei, wie angedeutet wird, geschürt haben, ferner
die beleidigenden und obscönen Worte, die sie sich in offener
Gerichtssitzung gegen Götze erlaubte, indem sie ihn »einen alten
Rockseicher« titulierte, zeugen doch von einem Benehmen, das wohl
selbst dem damaligen Zartgefühl für eine frühere Frau Pastorin un-
fein erscheinen musste. Götze geht in seinen Anklagen und Ver-
dächtigungen noch weiter, er erzählt in dem gedachten Schreiben,
wie 1700 während der Pfingsttage Fleischmann, sein Eheweib, der
Kaffeeschenke Schmidt, Reuter, Dr. Ryssel und einige Leipziger Stu-
denten sich in Spergau »eingefunden und zu iedermanns ärgemuß
geschwelget und geludert« hätten, »wovon das ganze Dorff Sperga
^) Dass es ihre leibliche Mutter war^ geht aus dem Leichenstein des Vaters
[geb. 4 620, gest. 4 689) hervor, auf welchem es heisst: cum habuisset eum ec-
clesia dimicatorem per annos 37, matrimonium fldum maritum per annos 33. Er
war also bei seinem Tode 33 Jahre verheirathet, was doch gewiss nur von ^iner
Ehe verstanden werden kann. Nach einer Andeutung in Reuter's Graf Ehrenfried
hatte Götze Mutter und Tochter, auch wohl die Geschwister an einander gehetzt.
Dass Götze auch in Poserna Beziehungen hatte, sehen wir aus der Untersuchung gegen
ilm wegen der Beleidigung der Posemischen Gerichte 4 694, ja er mag selbst von
da her gewesen sein, wenigstens war Ziegler* s Praeantecessor ein Mag. Götze. —
Uebrigens mochte auch in der Ziegler'schen Familie viel streitbarer und kampf-
muthiger Sinn herrschen. Eine Darlegung der Pfarrverhältnisse seitens des Bartholoro.
Zieglcr vom 28. März 4 664, deren Mittheilung wie die der Grabschrift ich Herrn
Pastor Kieseriing in Poserna verdanke, zeigt ihn in wenig gutem Verhältnisse zu
seinen Beichtkindern, die an seinen Leiden keinen Antheil nehmen, ihm vielmehr
allerlei Aerger bereiten, selbst seiner Frau kleine Gefälligkeiten verweigern, kurz,
wie der Pfarrer sich ausdrückt, »bey ihren Posernischen eigensinnigen und hart-
nUckigten Köpfen « bleiben. Der Grabstein nennt ihn ausdrücklich : 'vere Bartho-
lomaeus, h. e. ßlius belli, bellator spiritualis strenuus; debellavit dum bellavit,
vicit dum vixit.
566 Friedrich Zarnckb, M^2
und die Benachbarten genug zu singen und zu sagen wissen.« Aber
wir dürfen uns durch solche Anschuldigungen von so verdächtiger
Seite her nicht zu schnell in unserem Urtheil über die Frau und
den sie umgebenden Kreis beeinflussen lassen. Ich bin im Stande,
ein sehr gewichtiges Entlastungsmoment geltend zu machen. Am
27. September 1701, also wenig über ein Jahr nach jenem Pfingst-
feste, an welchem die gewesene Frau Pastorin sich in ihrem früheren
langjährigen Wohnorte so sollte benommen haben, dass sie der ganzen
Gemeinde ein Aergerniss geboten hätte, lässt der Pastor Metzcher,
derselbe, der 1697 die Trauung ohne Sermon vollzogen hatte, sie
bei seinem Kinde Gevatter stehen, und das Kind bekommt den vollen
Namen seiner Pathin: Marie Christine^). Sollte der Pfarrer das ge-
than, sollte er das gewagt haben, wenn das Betragen der Frau
wirklich so übel gewesen wäre, wie man es nach Götzens Worten
annehmen müsste? Es mag ein Fehltritt ihr Leben verunziert haben,
und keck, resolut, zu leichtem Sinn geneigt mag sie gewesen sein,
aber eine ordinäre Person war sie gewiss nicht. Und indem wir
so sie gegen Götze's Anschuldigungen rehabilitieren können, rehabi-
litieren wir mit ihr den ganzen Kreis, der sich um sie bewegte.
Man begreift, wie gross der Hass gegen Götze auf Seiten der
Leipziger Freunde sein musste. Reuter's Ingrimm war um so be-
rechtigter als Götze durch seine boshaften Denunciationen gegen ihn
in der That die Hoffnungen auf Rehabilitierung zu durchkreuzen und
zu vereiteln drohte. So wie sich das Gerücht verbreitet hatte, dass
Reuter beim Könige um Wiederaufhebung der Relegation eingekommen
sei, wandte sich Götze am 19. Januar mit einer Klagschrifl gegen
Reuter, die doch etwas direct Gravierendes für diesen gar nicht ent-
hielt, an den Rector. Auch wird er es wohl gewesen sein, der die
Müllerischen anhetzte, zu diesem Zeitpuncte sich mit einer erneuten
Klage gegen Reuter an den Ghurfürsten zu wenden, die ebenfalls
nichts für Reuter direct Belastendes vorzubringen im Stande war.
Reuter's Freunde antworteten am 17. Februar in Auerbachs Keller
mit einer Realinjurie (nach einer späteren Angabe Götzens war Fleisch-
*) Die Eintragung lautet: »Die Edle Frau Maria Ghristina, Tit. Herrn David
Fleischmanns vornehmen Handelsmannes in Leipzig Eheliebsie.« Man bemerke,
wie viel zarter sich der Herr Pastor hier ausdrückt als im Jahre 1696 und 4 697,
wo er erst eben die Pfarre angetreten hatte.
^
1^3] CuaisTiAN Reuter. 567
mann der Thäter), und Reuter selbst mit einem schadenfroh höhni-
schen Briefe an Götze, der, wie dieser meint und wie wohl wahr-
scheinlich ist, in Leipzig selbst geschrieben^) und nur geschickt in
die Dresdner Post eingeschmuggelt worden war. Doch ist auch aus
diesem Briefe heraus zu fühlen, wie ernst Reuter damals seine Lage
noch auffasste. Götze bestürmte die Universität mit neuer Klage,
die ihm ja nach der Sachlage Nichts nützen konnte. Sein Schreiben
musste ad Acta gelegt werden.
Mittlerweile hatte Reuter sich auf andere, auf seine Weise, zu
rächen beschlossen, er entwarf ein neues Drama, und in diesem
sollte dem boshaften Feinde ein Ehrendenkmal gesetzt werden. Dies
Drama führte den Namen Graf Ehrenfried, und in ihm war in der
Rolle des Juris Practicus Injurius der Advocat Götze, wie er seinen
Gegnern erschien, abconterfeyt. Im Anfang Mai ward es ausgegeben.
Reuter war jetzt offenbar in Leipzig wieder voll angesehen.
Die Professoren waren ihm gegenüber machtlos, die Studenten
standen ganz und gar auf seiner Seite. Im grossen Fürs tencol leg,
dem Hauptsammeiplatze der Studierenden, wurde das Stück ausge-
boten. Der Pedell selbst mit Frau und Tochter unterzog sich dem
Verkaufe desselben, und als es am 13. Mai in dem Fleischhause und
bald darauf sogar im Opernhause zur Aufführung kam, da stand der
Pedell Werther an der Eingangsthüre und rief die Studierenden her-
bei, sie auf das Stück und seine Aufführung aufmerksam zu machen.
Der Inhalt dieses neuen Stückes hat uns nun zunächst zu be-
schäftigen.
2. Graf Ehrenfried.
Der »Graf Ehrenfried« ist in gewisser Beziehung der directe
Gegensatz zum Schelmuffsky. Stellt dieser einen Rüpel vor, der den
Vornehmen von Adel spielen will und nun in seinen Aufschneidereien
Zug um Zug die Gemeinheit seiner Natur und Bildung verräth, so
zeigt jener dagegen die Hohlheit, ja die Betlelwirthschafl einer unbe-
mittelten hochadlichon Existenz. Auch zu seinen früheren Comödien,
^) Der Brief ist datiert vom 18. Februar, während das Factum am 4 7. Februar
statt fand. Unmöglich konnte die Nachricht so schnell nach Dresden gelangen.
Abhandl. d. K. 9. Qesellscli. d. Wissensch. XIX. 88
568 Friedrich Zarncke, [H4
die das eilele Aufstreben des bemittelten BUrgerstandes geisselteo,
bietet das neue Drama die Kehrseite. Se. Excellenz und Hoch-
gräfliche Gnaden, Graf Ehrenfried, waltet in den Erblanden seiner
Familie. Er hat einen von Bediensteten wimmelnden Hofstaat, einen
Capitain-Lieutenant, der sein Geheimbder Rath ist, einen Hauptmann
und einen Fendrich (Lieutenant), einen Secretär und Stallmeister,
2 Cammerdiener, 2 Jäger, 2 Läuffer, 2 Heyducken und dazu noch
Mummelmürten , seinen Cammer- Jungen. Er ist voll Bewusstseio
seiner Hoheit, thut als erinnere er sich selber an Nichts, sondern
richtet immer erst die Frage an seinen Gapitain-Lieutenant. Seine
Gläubiger behandelt er mit indifferentester Nonchalance : »Sie müssen
doch warten bis ich Geld bekomme«; wenn sie meinen, das gegebene
Wort müsse doch gehalten werden, sagt er zu seinem Gapitain-
Lieutenant: »Die Leute seyn doch gar Narren; ich thue ihnen was
anders auf ihr Wort.« Er regiert als Gerichtsherr in voller Herr-
lichkeit, lässt seine Leute nach seiner Laune in den Bock spannen
und karbatscht sie dann selber ab u. s. w. Aber es fehlt eben am
Besten, am baaren Gelde. Um dies zu beschaffen, ist nach und
nach Alles versetzt worden, — durch Vermittelung einer alten Trödel-
frau, Klunte mit Namen — , die Möbeln, Karossen, die Betteu, die
Wäsche, Alles was nicht niet- und nagelfest war. Der Herr Graf
schläft mit seinem ganzen Hofstaate auf einer Streu, und man deckt
sich mit den Röcken zu ; ein hölzerner Lehnstuhl ist noch vorhanden,
der dem angewiesen wird, der Nachts die Wache hat; freilich pflegt
dieser am sanftesten zu schlafen. Aber der Graf ist ein wunder-
licher Herr, der seine gute Laune darob nicht verloren hat. Ihn
amüsiert seine Lage selber, die er mit halb heiterer halb barocker
Selbstironie behandelt. Obwohl er, als er zwei neue Jäger anstellt,
nicht weiss, woher er einen Pfennig Besoldung für sie hernehmen
soll, müssen doch beide ihre Hof-Prädicate bekommen ; der eine wird
als Cammer- Jäger, der andere als Hof- und Feld- Jäger angestellt.
Auch heisst es stets »bei Hofe«, »zu Hofe«, »in meinem Staate«. Da
zu Pulver, um die Geschütze zu laden, kein Geld vorhanden ist,
und doch das Auftreten eines so hohen Herrn mit Böllerschüssen
geehrt zu werden verdient, so hat er es eingeführt, dass bei
passender Gelegenheit er selber »Puff« schreit, worauf sich dieser
Ruf wie ein Pelotonfeuer im Kreise seiner Untergebenen fortsetzt.
\x
^^^] Christian Reuter. 569
Für solche Lage hat er sich noch im Range erhöht, indem er sich
spasshaft als »Herzog von Tolle (f einführt. Ein Witz ist ihm Alles
werth, auch wenn er gegen sein Interesse gerichtet ist. »Ei, das
ist eine erschreckliche Schraube!« »Ei, das war eine Schraube!«, so
ruft er dann seelenvergnügt aus. An volksmässigen Curiositäten hat
er seine Lust, besonders ergötzt ihn der Finkenritter. Seinen Gläu-
bigern räth er mit Gleichmuth und Laune, sie möchten die ver-
pfändeten Sachen nur verkaufen und ihm »das Uebrige rausgeben«.
Er selbst ist ,oft des Morgens vor Thau und Tage auf, aus reiner
Laune, und wehe dem seiner Diener, der sich nicht auch sofort er-
hebt: ohne Gnade wird er von den höchsteigenen Händen des Herrn
Grafen mit kaltem Wasser übergössen. Abends aber lässt er sich
von seinem Gammer -Jungen die Fusssohlen krauen, um sanflest
einzuschlummern. Auch tolle Streiche liebt er. Einmal hat er dem
Nachtwächter, wie dieser erzählt, sein Hörn genommen und durch
alle Gassen geblasen; »wie er aber an das Schloß kam und da so
ein abscheulich Geblase anfieng, so kam einer mit einer Karbatzsche
zum Schlosse heraus, und zukarbatzschte da meinen Herrn Grafen
braun und blau. Ey, wie kam er hernach so still schweigend wie-
der zu mir und gab mir mein Hörngen wieder.« Auch bei Hofe
ist er als Kauz bekannt. Als er keine Karosse und keine Sänfte
mehr zur Verfügung hat, lässt er sich auf einer »Zoberstange« nach
Hofe tragen. Erzählt wird, dass er einmal mit dem Könige im
Schlafpelze und mit einer Federmütze auf dem Kopfe, und ohne Schuh
und Strümpfe auf die Jagd geritten sei , und allerlei anderes närri-
sches Zeug soll er vorgenommen haben. Man dient ihm dafür auch
vom Hofe aus gelegentlich, und er findet sich mit gutem Humor
darein. Seine Leute, die natürlich, namentlich der Mummelmärten,
sich indirect schadlos zu halten suchen, durchschaut er gar wohl;
jenem hat er selbst den Namen »Hausdieb« gegeben, den er spass-
haft verwendet.
In das Schloss dieses humoristischen Lord Lump in der Resi-
denzstadt führt uns gleich die erste Scene. Zwei neue Jäger sollen
angenommen werden, denn der bisherige konnte kein Wild mehr
schiessen, vielleicht, meint der Graf, kam es daher, weil er nicht
mehr sehen konnte; wenigstens hatte er wenige Tage vorher einen
Esel statt eines Rehes an den Flof geschleppt. Die neuen Candidaten
3*8*
570 Friedrich Zarncke, i4<6
empfehlen sich durch echte JägerlUgen. Der eine hat einmal auf
einen Schuss 1 7 Rebhühner geschossen, leider nicht mehr, denn der
Schuss versagte das erste Mal und in Folge des Abschnappens flogen
die meisten davon. Der andere traf auf 6inen Schuss drei Hasen:
»und wenn ich dazumahl nur gut Zündkraut hätte auf der Pfanne
gehabt, daß es geschv^inde wäre loß gegangen, so hätte ich auch
wohl noch ein paar Füchse mit ergattern wollen; so aber brannte
es langsam ab, und als die schlauen Füchse das Feuer rochen,
marchirten sie fort, die 3 Häßgen aber musten Haare^ lassen.« Das
klingt wie SchelmufTsky , aber der eigentliche SchelmufiTsky ist hier
in den Fendrich Friedenschild gefahren. Dieser wirft mit »der Tebel
hol mer« und gewaltigen Aufschneidereien um sich, obwohl er den
langen Stoss-Degen nur auf 3 mal herausbekommen kann. Bei der
Eroberung von Namur z. B. ist er »mit einer Falckenel-Kugel auf
die Hertz-Cammer geschossen worden, daß es der Tebel hol mer
gepufft hat.« Und wäre nicht durchgegangen? »Nein, Monsieur. €
Auch kein blauer Fleck? »Nicht das geringste war zu sehen; son-
dern ich langte die Kugel ohne eintziges Verletzen aus dem Busen
heraus, daß sidh auch alle meine Cammeraden darüber verwunderten.«
Im Weinkeller prahlt er, im nächsten Frühlinge wolle sein Graf
einige Begimenter anwerben, um seine Veslungen gehörig defendieren
zu können u. s. w.
In einem der folgenden Auftritte erlässt der Graf eine Ordon-
nanz an seine Unterthanen. Schon der Eingang ist drollig genug:
»Ehrenveste, liebe Getreue. Wenn Ihr alle noch frisch und gesund
seyd, höre ichs theils gerne, und auch theils nicht gerne. Gerne
höre ichs, daß Ihr Eure Frondienste noch alle thun und verrichten
könnet; denn wenn Ihr kranck wäret, so müßte es wohl unler-
wegens bleiben. Theils höre ichs auch nicht gerne, daß Ihr alle
noch wohl auf seyd und mir aus meinem Gehege so viel Haasen
wegschiesset; denn wenn Ihr an einem hitzigen Fieber läget, so
liesset Ihr solches wohl bleiben, u Noch drolliger ist die Scene, die
sich dann abspielt. Der Secretär bringt den Befehl, sauber mundierl;
er wird unterschrieben, nun soll er auch untersiegelt werden. Der
Secretär bittet den Grafen um das Petschaft. Der Graf fragt den
Capitain-Lieutenant. Die Antwort lautet: »(heimlich) Ihr. Excellenz,
es stehet mit versetzt.« Nun wird Umfrage gehalten. Niemand aber
^^7] Christian Reutbr. 571
hat ein Petschaft; entweder führen sie überhaupt keins oder sie
haben es nicht bei sich. Der Graf indess ist unverlegen: »Hört,
Secretair, weil ich mein Cantzeley-Siegel oder Hochgräfl. PetschaflPt
nicht bey mir habe, so nehmt nur einen gantzen Groschen und
siegelt damit, es ist vor meine Unterthanen gut genug.« Aber nun
kommt es darauf an, den Groschen zur Stelle zu bringen:
Hasenius (Secretär) : Wollen Ihr. Excellenz mir einen Groschen geben
lassen ?
Ehren fried : Habt Ihr denn kein Geld nicht?
Hasenius : Ihr. Excellenz, ich führe selten Geld bey mir.
Ehrenfried: Herr Gapilain-Lieutenant, gebt doch dem Secretair einen
gantzen Groschen.
Fortunatus (der Cap.-Lieut.) : Ihr. Excellenz, ich werde wohl von
Gelde gar nichts bey mir haben.
Ehrenfried: Und ich habe auch nichts eintzeln bey mir; Herr Haupt-
mann, habt ihr kein eintzeln Geld?
Feuerfax (der Hauptmann] : Ihr. Excelienz, ich werde wohl gar nichts
haben.
Ehrenfried: Hat denn keiner kein Gold bey sich?
(Suchen alle in den Schübesäcken.)
Mummel Märten (der s. g. Hausdieb] : Da hab ich noch einen Groschen,
Ihr. Excellenz. (Giebt dem Grafen einen Groschen.)
Ehrenfried: Du bist doch noch ein braver Kerl; wenn keiner kein
Geld hat, so hast du welches.
Mummel Märten : Ja , was hülffe mich denn mein stehlen , wenn ich
keinen Groschen Geld haben wolte.
Ehrenfried : Ey, das ist eine erschreckliche Schraube 1
Nun wird der Graf zum Königlichen Hofe befohlen. Da aber kann
er ohne Geld Nichts anfangen. Also wird die alte Klunte wieder
citiert. Sie verspricht gegen Pfand in einer Stunde reichlich Geld
zu schaffen. Aber woher noch ein Pfand nehmen? Das Einzige von
Werth ist noch des Grafen verschammerierter Rock. Also fort mit
ihm. Aber ohne Rock bei Hofe? Der Capitain-Lieutenant muss den
seinigen hergeben. Und dieser? der mag ihn sich einstweilen vom
Cammerdiener geben lassen, und dieser »kann ja leichtlich einen Tag
oder was hinterm Ofen sitzen, biß ich ein wenig zu Gelde komme. «
Nun gehts zu Hofe, dort wird mit gezecht und gespielt, hier nun
aber auch dem Grafen ein derber Possen gespielt. Vier maskierte
Personen bemächtigen sich plötzlich seiner und schleppen ihn fort.
All. sein Rufen, Donnern und Fluchen nützt ihm Nichts, so zahlreich
572 Friedrich Zarncke, [H8
sein Hofstaat ist, keiner der Helden ist zur Stelle. Man schleppt
ihn in ein Schwitzbad, und dort wird er entkleidet, begossen, ge-
schröpft und gemartert, »gleich als ob er in den Bock gespannt wäre«.
Dann stürzen seine Diener herbei, halten nun bald diensteifrigst deo
eigenen Herrn statt der Feinde getödtet, und übertreffen einander
in albernen Entschuldigungen wegen ihrer Abwesenheit; in Wirklich-
keit haben wir sie selbst in den voraufgehenden Scenen im Wein-
keller beobachtet.
Bei Hofe war ein sogen. GlUckstopf, d. h. eine Lotterie, gehalteo
worden. Das hat dem Grafen gefallen. Er ahmt es nach, und m'ii
feierlichem Pomp, mit Trommeln und Trompeten, sehen wir ihn dud
auch einen solchen Glückstopf veranstalten. Allerlei Lappereien kom-
men als Gewinnste zur Yertheilung. Aber seine Vermögenslage iiit
dadurch nicht gebessert worden, denn er hat fast gar keine Nieten
in den Glückstopf geworfen, und steht nun erst recht mit leeren
Händen da. Und nun beginnt die Ausreisserei unter seinen Leuten;
dabei wird der Mummelmärten mit all den gestohlenen Sachen
von seinen Mitdienern ertappt, und muss schliesslich armselig davon
gehen.
Der Graf hat unterdessen durch einen Salto Mortale für sein
.Bestes gesorgt. Hier muss man sich der damaligen Verhältnisse in
Sachsen erinnern, um den Eindruck zu begreifen, den dieser Zug auf
die Zuschauer machen musste, die ähnliche Vorkommnisse, selbst
in der Königlichen Familie, kannten, z. B. bei dem Vetter des Königs,
Christian August (s. S. 556). Er ist katholisch geworden und sofort
zum Abt avanciert. Wir sehen ihn im schwarzen Habit, umgeben
von dem Reste der Sein^en, auch alle in langen schwarzen Mänteln,
und er declamiert:
Ade, Du Wollust-Welt, mit allen Deinen Schätzen,
Mein Wandel soll hinfort ein frommes Leben soyn.
Ade, Du Königs-Hoff, Du vormahls mein Ergötzen,
Ich werde hinfort nicht mehr bey Dir sprechen ein.
Das Schicksal hat mich nun geführt in einen Orden,
Wo Nichts als Frömmigkeit und Heiiges Wesen ist,
Dem Himmel sey gedanckt, daß ich bin Apt geworden,
Dieweil mein Hertze nun das Zeitliche vergißt.
Den Seinigen, die ihre Verwunderung aussprechen über die »plötzliche
Veränderung«, antwortet er, wohl nicht ohne Ironie: »Saget mir
119] Christun Rbuter. 573
doch, wie ichs auflF der Welt besser haben könte, als so? Ich habe
ja mein schönes Auskommen von so vielen Klösler-Intraden u , und
er verspricht ihnen: »es soll kein halbes Jahr ins Land gehen, so
solt ihr alle mit einander Patres seyn.« Aber hinter dem Allen
lauert der Schalk und der drollige Kauz. Schon Courage, der lustige
Diener, tröstet: wenn der Graf nun auch ein Pietiste geworden sei,
so solle man es sich nur nicht leid sein lassen, denn er werde das
Ding schon nicht lange treiben. Plötzlich wirft er denn auch die
Grille wieder hin: »Nein, der König möchte auch dencken, ich wäre
gar ein Bärenhäuter und hätte kein Hertz im Leibe. Fort, laßt uns
den Habit wieder ablegen ! (schreyet) puff! Alle: Puff! puff! (gehen
ab.)« Gewiss bedurfte das protestantische Publicum Sachsens damals
keiner tieferen Motivierung dieses Schrittes, um sich durch ihn völlig
befriedigt zu fühlen.
Aber dies ist noch nicht der Schluss in der Rolle des Grafen,
vielmehr zieht sich noch eine andere Nebenhandlung, die ihn betrifft,
durch das Stück. Der Graf hat nämlich einer gewissen Leonore,
die das Personenverzeichniss »eine Närrin, in Graf Ehrenfrieden ver-
liebt« nennt, ihre jungfräuliche Ehre »recht abgestohlen«; sie will
dafür entschädigt werden, und wenn er ihr üicht geben will, was
sie verlangt, so will sie's an den König gelangen lassen und will
ihn »knall und fall auf die Ehe anklagen«, denn er hat ihr so ge-
schworen, dass ihm die Schienbeine knackten. Zu dem Zwecke hat
ihr ein Advocat eine Supplik gemacht, und, wir wollen kurz vorweg
nehmen, obwohl viel Anzügliches darin gestanden hat^), so hat der
König doch das Gesuch genehmigt und den Grafen bei seiner höch-
sten Ungnade und Verbietung des Hofes verurtheilt, die Leonore
zu ehelichen, wohl denkend, dass der Narr und die Närrin zusammen
gehören. Ihr Hochzeitszug macht das Ende des Stückes aus. Bei
demselben sollten eigentlich die Stücke losgebrannt werden, aber da es
auch jetzt an Pulver fehlt, so muss der Herzog von Tolle sich wiederum
mit seinem und seiner Leute Puff, Puff begnügen. Ein junges Pär-
chen schlüpft bei dieser Hochzeit zugleich mit unter, Courage, der
^j Er hat^ doch gegen den Willen der die Ehe begehrenden Braut , »Zeug
hinein gesetzt , und den Grafen so herunter gemacht , daß es die Schweine nicht
einmal gefressen hatten. «
574 Fbiedrich Zarnckb, J^O
lustige Diener, und des Grafen Köchin Grethe, die beide in einer
Reihe verliebter und zum Theil recht drolliger Scenen während des
ganzen Stückes zur Abwechslung und Erheiterung beigetragen haben.
Doch jene Supplik der Leonore giebt dem Dichter nun Veran-
lassung, eine Charakterrolle in sein Lustspiel einzuführen, die Figur
eines Winkel-Advocaten und Rabulisten, des Fleckschreibers Injurius.
Das ist ein »rechter Ungerechtsmacher«, ein Mann, der allen Leuten
dient, sie mögen nun Recht oder Unrecht haben, wenn es ihm nur
Geld einbringt; besonders ist er auch Frauenzimmern bedient, die
ihre Ehren-Kränze verloren haben, somit für Leonore gerade der
richtige Mann. Er ist ein Meister der »Intrüschen«, d. i. »solcher
subtiler Cäußgen, womit man die Leute prav schieret«, und er ist
»auf lauter GUußgen und Practiqven« abgerichtet. Obwohl ein stein-
alter Mann, der schon auf der Grube gehet, ist er noch immer in
artige Mädchen »verschammeriret«, eine hat er einmal in gelben Damast
gekleidet, die hat ihm dafür aber auch nicht einmal eine »charmante
Mine « gemacht. Einmal soll der alte Sünder nach einer Bären-Musik
nackend um einen »Dannen-Baum« herumgetanzt haben, »welches
ihm diese Stunde noch übel ausgeleget würde«. Von einem Frauen-
zimmer ist er daher einmal in öffentlicher Gerichtsstube »ein alter
Rockseicher« geheissen worden, und die ganze Stadt ist ihm »fast
zuwider«. Freilich hindert das nicht, dass er als Advocat sehr viel
zu thun hat. »Könte man doch«, meint Courage, »von diesem Fleck-
Schreiber eine perfecte Comoedie machen.« Er ist Stammgast in
dem Weinkeller des lustigen Weinschenken, Herrn Johannes; dort
treffen wir ihn. Er »singet sein Leib-Stückgen und klimpert mit
den Händen dazu:
Ach Dannen-Baum, ach Danncn-Haum,
Du bist ein edler Zweig etc.«
Völlig trunken taumelt er dann aus der Weinstube hinaus, und noch
auf der Gasse singt er forttaumelnd und »bestialisch vollgesoiTen«
sein : Ach Dannenbaum etc. Bei der Gelegenheit ist er aber, freilich
durch seine Schuld, weidlich abgedroschen worden, zur Freude der
Stadt, und wir werden nun eingeweiht, auf welche Weise er durch
Verführung zu falschen Eiden und durch andere Künste den Thäter
ins Unglück zu bringen versuchen will, während in einer folgendefl
Scene Courage und Grethe, die guten Leutchen, ihrer Entrüstung
^24] Christian Reuter. 575
über einen solchen Schelm Luft machen und noch manche schlimmen
Züge zu seiner Charakteristik beibringen. Auch Leonorens Dank hat
er sich nicht verdient, weil seine Supplik voll Beleidigungen für ihren
lieben Grafen gewesen ist, und sie meint, »daß doch solchen Practiqven-
machern flugs die Hälse gebrochen wären mit ihren vermaledeyten
Intrüschen«. Nur die persönliche Gnade des Königs hat über den
Übeln Eindruck der Supplik hinweggesehen. So ist also der Fleck-
schreiber, Herr Injurius, von aller Welt gehasst und verachtet.
Mit diesem Injurius kommen wir in die Weinstube des »lu-
stigen Johannes « mit seinem dicken Eheweib Walpe ^) . Eine Ge-
stalt, sicher ganz aus dem Leben gegriffen. Er steht mit seinen
Gästen auf Du und Du, ist grob gegen die, welche Bier trinken statt
Wein, führt eine Anzahl stehender Redewendungen im Munde, nennt
seine Gäste »Monflere«, und dichtet und singt, was freilich meist
weder gehauen noch gestochen herauskommt. Er wird von seinen
Gästen denn auch wacker aufgezogen, ist aber auch seinerseits nicht
blöde. In die Geheimnisse seines Wein- und Bierkellers werden wir
eingeweiht, und zum Schlüsse fehlt auch er als lustige Person nicht
beim Beylager des Grafen, indem er diesem noch die Rechnung über
ein »Restgen von 16 Kannen Weins« zu präsentieren hat. Diese Sce-
nen im Weinkeller sind munter und frisch geschrieben und wohl ein
nicht unwichtiger Beitrag zur Culturgeschichte des Kneipens: das Vor-
und Nachkommen, das Improvisieren, das Rundasingen wird uns hier
lebendig vorgeführt. Zwei Studenten , Jucundus und Leander, sind
hier ausser dem Injurius, mit dem sie jedoch Nichts zu thun haben,
Stammgäste, aber auch die Diener des Grafen kehren hier ein, und
haben Gelegenheit, uns in der Weinlaune einen Einblick in ihr Leben
und Treiben zu gewähren.
Man sieht, es handelt sich in dieser Comödie nicht um eine
durchgeführte Handlung, es sind eine Anzahl aneinander gereihter
parodistrscher Scenen, die gewiss damals den Zuschauern in ihren
witzigen Beziehungen noch verständlicher, also auch amüsanter er-
schienen als uns heute. Dass mit dem Injurius eine bestimmte Person
angedeutet wird, errathen wir bald; ganz gewiss ist ebenso der
*) Der Name ist von Chr. Weise entlehnt.
576 Friedrich Zarncrb, [^22
lustige WeiDScheDke eine in Leipzig stadtbekannte Persönlichkeit ge-
wesen, und auch in Betreff des Grafen bezweifle ich nicht, dass man
dazumal sein Vorbild hat errathcn können. Hierin bestärkt mich
eine Anspielung, die sonst innerhalb des Stuckes ganz unmotiviert
bleibt. Der Capitain-Lieutenant sagt: »Ich will mich meiner Quali-
täten halber zwar nicht rühmen, und es meinem Herrn Grafen auch
nicht vorgeworffen haben, dennoch aber muß Er selbst gestehen,
daß ich Ihn vor etlichen Jahren unter den Luneburgischen comman-
diret habe. Er war anfänglich mein Musqvetirer, hernach meyn ge-
freyter Corporal, und ich war sein Fendrich. Itzund aber ist Er
mein gnädiger Herr, und ich bin sein getreuer Capitain-Lieutenant.
Was er itzund mir befiehlt, das muß ich thun. « Vielleicht durfte
es einem mit der sächsischen Adelsgeschichte jener Zeit genau Ver-
trauten auch heute noch gelingen, jenes Vorbild nachzuweisen.
Ist meine Vermuthung richtig, so ist jedesfalls der Betroffene so
klug gewesen, sich nicht zu melden. Auch Herr Diez, denn so dürfte
der lustige Weinschenke geheissen haben ^), ist fein still geblieben.
Anders Herr »Mauritius Volcmarus Götze«, der sich in dem Fleck-
schreiber Herrn Injurius getroffen fühlte. Verblendet durch Hass und
Zorn auf seine Feinde, war er so unverständig, sich selber als Vor-
bild zu der Rolle des Injurius zu verkünden, und so sich selber an
den Pranger zu stellen, während doch die in dem Drama verwendeten
Züge noch nicht stadtkundig waren, sondern in den Process- und
Untersuchungsacten, die Götze veranlasst hatte, verborgen lagen.
3. Anklagen and Gegenanklagen.
Es ist nicht meine Absicht, hier in die Einzelheiten der sich
nun entspinnenden gegenseitigen Chicanen Götze's und Reuter's ein-
zutreten. Der zweite Anhang bringt eine vollständige Mittheilung des
Actenmateriales: schon dies wird Manchem des Guten zu viel schei-
nen. So ganz erquicklich ist's weder hüben noch drüben. Aber
jedesfalls war hier Reuter der Angegriffene, der Verfolgte, von allem
Anfang an. Seine Rache, da es sich nicht um stadtkundige Dinge
handelte, sondern um Actengeheimnisse, war eine sehr massige, und
! «) Vgl. Götzens Brief vom «6. Juni HOO, § 8.
423] Christian Reuter. 577
die Thorheit Götze's, der, statt still zu schweigen, sich erst recht in
der Leute Mund brachte, geradezu unverständlich.
In der zweiten Woche des Mai ward der Graf Ehrenfried in
Leipzig ausgegeben. Der Titel gab an — so weit war es gekommen — ,
dass der Druck erfolgt sei »mit allergnädigster Special-Bewilligung
Ihrer Königl. Majestät in Polen und ChurfUrstl. Durchlaucht zu Sachsen, u
Dadurch war das Buch dem Forum der BUcher-Commission entzogen.
An diese konnte sich daher Götze nicht wenden, dagegen richtete
er schon am H. Mai ein Schreiben an den Rector, voll wilder An-
klagen und mit der Drohung, sich alle seine Rechte vorzubehalten
gegen diejenigen, die ihm richterliche Hülfe zu leisten unterlassen
sollten. Freilich hatte den klugen Mann diesmal sein blinder Eifer
doch zu Kopflosigkeiten hingerissen, er fing an, sich in seinen ei-
genen Stricken zu fangen. Das Forum, bei dem er klagte, war nicht
mehr die zutreffende Instanz: auf seinen Betrieb war ja Reuter in
perpetuum excludiert, er gehörte also unter die Stadtgerichte, nicht
mehr unter das Universitätsgericht; und dann, um als Kläger zu er-
scheinen, musste er doch zunächst nachweisen, dass er verletzt sei,
d. h. er musste den Beweis liefern, dass und welche Stellen in dem
Lustspiele auf ihn zu beziehen seien, eine allerdings höchst empfind-
liche Aufgabe.
Beides hielt ihm die Universität mit aller Ruhe entgegen. Dem
Pedell (vgl. S. 567) verbot sie den Verkauf des Stückes, ohne den-
selben doch, auch nur im eigenen Hause, hindern zu können.
Da erschienen Donnerstag den 13. Mai am schwarzen Brette
und in den Strassen Leipzigs gedruckte Theaterzettel angeschlagen,
in denen angekündigt ward, dass an diesem Tage Nachmittags punct
3 Uhr »Graf Ehrenfried« präsentieret werden würde. Studenten wa-
ren es, ihrer dreissig, wie wir erfahren, die die Aufführung betrieben
und selber die Darsteller abgaben. Nun schäumte Götze wie ein
angeschossener Eber. Alles Nachdenken schien ihn verlassen zu
haben. Er wandte sich wieder an die Universität, als ob ihm diese
Hülfe zu bringen im Stande gewesen wäre : diese sollte auf dem der
Stadt gehörenden Fleischhause die Aufführung eines öffentlichen Schau-
spieles untersagen!
Am 1 4. Mai folgten noch zwei Klagschreiben, Fast möchte der
aufs Aeusserste erregte Mann uns dauern. Hastig, kaum nothdürftig
578 Friedrich Zarngke, [<24
stilisiert, sind die Schreiben hingeworfen, zumal das zweite. »So
muß der Belrängte zu Gott schreien«, ruft er, und wieder droht er
zum Schlüsse: »Ich reservire mir aber ob denegatam justitiam mich
an höheren örtern zu beschweren.« Eine Anzahl Articuli hatte er
sofort formuliert beigelegt, über die ein Stud. Köhler vernommen
werden sollte. Das Gonclusum des Senats lautete wieder: »Soll
vor allen Dingen darthun, daß das Scriptum ein Pasquill und auf
ihn gemacht sei. « Götze wand und krümmte sich wie ein getretener
Wurm. In zwei neuen Klagschriften (vom 29. Mai und 2. Juni),
es waren die siebente und achte, suchte er nochmals auszuweichen.
Die letzte Schrift schlügt wieder einen tragischen Ton an: »So muß
ichs Gott und dem Richter anheimstellen, welches er in seiner letz-
ten Todesstunde und am jüngsten Gerichte bei dem höchsten Richter
*
aller Welt zu verantworten wissen muß.« Wiederum war die Dro-
hung beigefügt, ob denegatam justiciam sich höhern Orts beschweren
zu wollen, und beiden Schreiben lagen wieder formulierte Articuli
bei, über die bestimmte Personen verhört werden sollten und durch
die er der eigenen Aufzählung seiner schimpflichen Thaten überhoben
zu sein wünschte.
Es nützte ihm Alles nichts, die Universität verlangte vor Allem
Beantwortung der Vorfrage, wenn sie auch nur gegen die Studie-
renden, die die Comödie gespielt hatten, vorgehen sollte. Reuter
blieb nach wie vor ausserhalb ihrer Competeuz, denn sie hatte ihn
nicht rehabilitiert.
Jetzt hielt es dieser, der über den Gang der Acten durchweg
gut und schnell auf dem Laufenden erhalten sein muss, für gerathen,
auch seinerseits nicht länger zu ruhen, nicht länger dem Gegner allein
das Feld zu lassen ; er erinnerte sich wohl des alten Spruches, dass die
beste Deckung der Hieb sei, und ging nunmehr auch seinerseits zur
Anklage über. Bei Gelegenheit des schon erwähnten ausgelassenen
heiteren Pfingstaufenthaltes der munteren Gesellschaft in Spergau am
30. und 31. Mai scheint der Plan ausgeheckt zu sein zugleich mit
noch manchen anderen Verhöhnungen gegen Götze. Reuter richtete
nun zwei Denunciationsschreiben an das Akademische Concil, und
das eine versah er, in offenbarem Hohne gegen seinen Feind, nun
ebenfalls mit Articuli, über die bestimmte Personen abgehört werden
sollten; es waren genau ebenso viele, wie Götze formuliert hatte,
^25] Christun Reuter. 579
nämlich 16. Er wollte ihm Nichts schuldig bleiben. Die eine De-
nunciation lautete auf Blasphemie, die andere auf Injurie.
Als Götze noch mit Fleischmann auf gutem Fusse stand, hatte
er einmal in dessen Gewölbe, während er bei ihm d einige Gläslein
Brantewein verschlucket«, ganz gotteslästerlicher Weise geflucht;
ein frommer Student der Theologie, der auch gerade in dem Keller
gewesen war und der auch eine Bibel bei sich geführt hatte, hatte
ihn zur Rede gestellt, ihn auf die Verbote der heiligen Schrift ver-
wiesen, ihm die Stellen aufgeschlagen. Da war Götze herausgefahren
mit den Worten: »Gehet weg mit diesem Teufelsbuche, ich scheuße
Euch was auf Euer Buch.« Das war schon lange her, jetzt aber
ward es hervorgesucht, um einen vernichtenden Trumpf gegen den
rabulistischen Advocaten auszuspielen.
Die Injurienklage bezog sich auf die massenhaft von Götze gegen
Reuter in seinen Eingaben an die Universität gebrauchten Beschul-
digungen, indem er ihn einen Meineidigen, einen s Schelm u. s. w.
genannt hatte, sodann — und dies ist von drastischer Komik -r-
darauf, dass er Reuter's Drama für ein Pasquill erklärt habe. Er
verlangt, dass Beklagter in die Processkosten zu verurtheilen sei,
und vor Gericht eine christliche Abbitte und Ehrenerklärung zu thun
habe, »die Bestrafung an Staubbesen, zeitlicher und ewiger Landes-
verweisung oder Gefängniß« aber wolle Kläger »dem richterlichen
Ermessen anheimstellen«. Das Alles war in strammem juristischem
Stil abgefasst, unterzeichnet: »Christian Reuter mpr. Secretarius bei
Ihr. Excellenz, dem Cammerherrn von Seyfierdiz.«
Zugleich hetzte man dem Feinde noch andere Gegner auf den
Leib. Aus dem Schreiben der Marg. Elis. Frobergerin vom 19. Juli
ersehen wir, dass auch diese mit Anklagen gegen Götze hervorgetreten
und dass hierauf hin wirklich die Inquisition gegen denselben be-
schlossen worden war. Dass es eine Verwandte des verstorbenen
Gatten der Frau Fleischmann war, die so der Sache Reuter's und
seiner Freunde sich annahm, zeigt, dass die Verwandten Froberger's
der Wittwe desselben nicht zürnten und zu ihr in einem freund-
lichen Verhältniss standen. Auch dies spricht zu Gunsten derselben.
Am 1 1 . Juni reichte auch Grell (Krell) eine Injurienklage gegen
Götze ein. Die Lage dieses nahm nunmehr einen recht ernsten
Charakter an.
580 Fribdrigh Zarngkb, [^^^
In wunderlichster Lage aber befand sich die Universität. Da
wurde sie angegangen von beiden Gegnern, von beiden unter An-
rufungen und Bedrohungen aufgefordert, ihnen zu ihrem Rechte zu
verhelfen, darunter von dem Manne, den sie vor Kurzem in perpe-
tuum cum infamia excludiert hatte.
Wie sollte sie in dieser Lage sich helfen? Es blieb ihr nur
das Mittel, sich an den Landesvater zu wenden. Und das that sie
in einem demüthigen Schreiben vom 14. Juni. Sie bat, Reutern des
aligemeinen Aergemisses wegen zur Ehre der Universität den Auf-
enthalt in der Stadt zu verbieten, Götzen aber wegen der in dem
Schreiben an die Universität gebrauchten Anzüglichkeiten und wegen
der Gotteslästerungen in Untersuchung zu ziehen. Die Injurienklage
Reuter's ward nicht weiter beachtet.
Das Schreiben der Universität war noch nicht abgegangen, als
am 16. Juni Götze mit einer neuen Elagschrift — es war nunmehr
die neunte — bei der Universität einkam. Er hatte sich jetzt wirk-
lich dazu entschlossen, den ihm auferlegten Beweis, dass er gemeint
sei, zu erbringen. Das Schreiben ist im Anhange in extenso abge-
druckt, sammt seinen Beilagen, es sind dort auch aus dem Lust-
spiele alle die Stellen ausgezogen, auf die sich Götzens Anführungen
beziehen. Daher begnüge ich mich, auf jenes Schreiben zu ver-
weisen. In diesem hatte der importune und aufdringliche Mann von
Neuem pathetische Drohungen gegen die Universität erhoben, so dass
diese am 19. Juni ihrer Eingabe an den König noch ein Inserat hin-
zufügte, in welchem sie abermals um Schutz gegen denselben bat.
Aber schon am 26. Juni lief ein neues Klagschreiben Götzens
(es war das zehnte) bei der Universität ein, abermals voll aufdring-
licher Anklagen, über welches sofort der Rector wieder an den
König berichtete, nunmehr auf schleunigste Resolution dringend.
Damit hören die Acten auf, wir wissen nicht, wie die An-
gelegenheit weiter verlaufen ist und welches Ende sie genommen hat.
Zwei Stücke aus ihnen sind aber noch der Beachtung werth.
Einmal das schon erwähnte Schreiben des Joh. Grell (Krell) an
das Akademische Concil vom 11. Juni. Schon die Wittwe Müller
hatte ihn als Mitarbeiter Reuter's behandelt und ebenso jetzt Götze.
Jenes Schreiben weist diese Yermuthung auf das Bestimmteste zurück
^27] Christian Reuter. 581
und beweist so von Neuem, dass wir alle besprochenen Schriften als
Reuter's alleiniges Eigenthum zu betrachten haben.
Sodann der Anhang zu Götzens Schreiben vom 16. Juni, in
welchem er den Kreis der Freunde und Bekannten Reuter's vorführt.
Wir erblicken Reuter in sehr guter Gesellschaft. Da steht voran der
Dr. Glaser, dem gewiss in erster Linie die Erbauung des Opernhauses
in Leipzig verdankt wird, sodann der Dr. Welsch, einer der vor-
nehmsten Patricier Leipzigs, der Besitzer des grossen Hauses am
Markte, des sogen. Königshauses (jetzt Nr. 17), in welchem bereits
damals der König abzusteigen pflegte und in welchem noch 1813
Napoleon sich nach der Leipziger Schlacht von dem Könige von
Sachsen verabschiedete; auch Welsch finden wir unter den Protectoren
des Theaters. Die Doctoren Friese, Schwendendörfer und Hölzel ge-
hörten ebenfalls zu den Vornehmen der Stadt, der Dr. jur. Ryssel zu
einer Familie, die nicht bloss hochangesehen war (sie war in den Adel-
stand erhoben worden), sondern die auch auf dem Gebiete der Kunst
der Stadt tüchtige Vertreter geschenkt hat: so waren damals zwei
Glieder dieser Familie, Wilhelm von Ryssel und Jacob von Ryssel, als
Baumeister berühmt. Ueber den Advocaten Seiflfert und M. Germer
bin ich nicht weiter unterrichtet. Dass zu dem Kreise auch der In-
haber von Aeckerleins Keller, ferner der Kaflfeeschenke Schmidt, der
Fechtmeister Eichel und der Ballmeister Schrecker nebst einer An-
zahl Studierender gehörten, charakterisiert ihn und vervollständigt
unsere Anschauung von ihm, gewiss ohne sie herabzusetzen.
IV. Schlnss.
Ich stehe am Schlüsse, nicht meines Gegenstandes, aber meines
Wissens. Was ist fernerhin aus Reuter geworden? Ich vermag keine
Auskunft darüber zu ertheilen. Wir verlieren ihn aus den Augen in
einer angesehenen Stellung und im Begriffe, eine Revision seines
Processes zu erlangen, bei welchem Bemühen ihn sein Chef zu unter-
stützen verspricht. Hat er sie erlangt? Sind noch irgendwo Acten
vorhanden, die darüber Auskunft ertheilen? Nach Wittenberg freilich
ist er nicht gegangen, diese Absicht ward wohl durch seine An-
stellung bei dem Hr. v. Seyferditz hinfällig: im Wittenberg-Haller
Universitütsarchive würde man also vergebens nach ihm suchen.
582 Friedrich Zarnckb, I'^^
Und was ist sonst aus ihm geworden? Ist er plötzlich ver-
stummt? ist der witzige, boshaft launige Mensch ins bürgerliche
Philisterium gerathen? hat er die Aufwallungen seiner Jugend bereut
und ist sein ferneres Leben fein sittsam verlaufen und lautlos ver-
klungen? Oder hat er anonym weiter gedichtet? Aber was von der
Litteratur der folgenden Jahre auf ihn hin angesehen werden durfle,
lehnt seine Verfasserschaft ab*).
Oder ist er bald darauf gestorben? UnmögUch ist dies nicht.
Warum sind die sauber gehefteten Acten des Hauptstaatsarchivs ohne
Schluss? Es würde sich erklären, wenn sie gegenstandslos geworden
wären durch den Tod einer der beiden Widersacher. Der »alte ab-
gelebte« Advocat Götze aber hat das Feld noch nicht geräumt. Er
*j Ich habe mein Augeamerk besonders auf drei Dramen gerichtet gehabt:
4) »Das bärtigte Frauenzimmer«, von dem einige Exemplare 4 696 zu-
sammen mit dem SchelmuOsky confisciert wurden. Es hat zum Gegenstande eiae
Neckerei, die sich der Hof des Herzogs von Nunquam Novi mit Don Quixote und
seinem a Schildknaben Sanche Panchec erlaubt, indem man ihnen einbildet, dass
sie , mit verbundenen Augen , auf einem hölzernen Pferde durch die Luft auf-
fahren, um einen Riesen zu bekämpfen, und herabstürzen^ ohne Sehaden zu neh-
men. Also ein NovellenstofT. Angehängt ist ein gewöhnliches Possenspiel »Der
alte verliebte und verachte Freyer Jean Henn. « Diese beiden Stücke, zumal das
letzlere, könnten immerhin von Reuter sein^ sie verrathen deutlich den Eioflass
Christian Weise's, aber eine besondere Wahrscheinlichkeit ist keineswegs vor-
handen.
Sj »Die durch seltsame Einbildung und Betriegerei Schaden brin-
gende Alchymisten-Gesellschaft«. Ich fasste sie besonders ins Auge wegen
des Kupferstiches, der der Ausgabe der beiden Harlekinaden von 4 730 (s. unlen)
vorgesetzt ist. Aber schon die Unterschrift der Vorrede »Nordhausen, 17. Dec
1699« und die Buchstaben J. D. K. , hinter denen der Verfasser sich verbirgt,
machen Reuters Autorschaft unmöglich. Ein Blick in den breiten, individualiliils-
losen Dialog bestätigt dies einfach.
3j »Der schlimme Gausenmacher, Leipzig 1701«. Hier möchte ich
einen Zusammenhang mit Reuter*s Abschilderung des Advocaten Götze nicht in Ab-
rede stellen. Das Stück ist wohl angeregt durch das Reuter's. Aber von Reuter selbst
ist es nicht. Ja, wenn man den frischen, flotten Lustspielton dieses Schriflslellers
sich recht klar machen will, so vergleiche man ihn mit den lendenlahmen Sce-
nen des Causenmachers , der sich übrigens einiger Berühmtheit erfreute. Noch
1726 wird er bei einer neuen Auflage von Chr. Weise's Bäurischem Machiavell in
der Vorrede als eine »artige ComÖdie« besonders gerühmt. In Betreff des Stoffe
vgl. Goedeke's Grundriss S. 523 Nr. 3B2.
Beide letztere Stücke haben mehr von Christian Weise als von Heuler, «'^
schon die Personen Verzeichnisse und die didaktische Vorrede darlhun.
^29] Christian R£€ter. 583
starb 1706 am Donnerstag den 21. October, erst 58 Jahre alt, in
seiner Wohnung auf dem Neuen Kirchhofe und ward am Sonntage
darauf beerdigt und von der »ganzen Schule« zu Grabe geleitet,
also als angesehener Mann bestattet; folglich war er auch wegen
Blasphemie und Injurien weder zu Staupbesen noch zu Landesver-
weisung verurtheilt worden. Sollte also Reuter ausgeschieden sein?
Sein spöttischer Brief an Götze vom 21. April 1700 erwähnt eines
in Leipzig verbreiteten Gerüchtes, dass er gestorben sei. War wirk-
h'ch zu einem solchen Gerüchte eine Veranlassung durch sein Be-
finden gegeben? Kränkelte er? Ist er dann gestorben?
Vergebens habe ich mich nach einer Antwort auf diese Fragen
umgesehen. Die Familie der von Seyferditz in Sachsen und auch
der von ihr abgeleitete Zweig in Bayern ist ausgestorben. Schon
Reuter's Chef Rudolf Gottlob starb, ohne Kinder zu hinterlassen.
Schon damals wird mit seinen Briefschaften und Acten wohl nicht
sehr sorgsam verfahren sein. Auf den Gütern, die ihm gehörten,
Nachfrage zu halten, bot keine Aussicht, da Reuter sein Privatsecretär
in Leipzig und Dresden war, vielleicht in den Acten der Güter gar
nicht hervortrat. Die wenigen Glieder der preussischen und öster-
reichischen Linie mit Anfragen zu behelligen, erschien mir unhöflich,
weil absolut aussichtslos.
Es ist also ein grosses Fragezeichen, auf das meine Arbeit hin-
ausläuft. Möge es der Forschung Anderer oder einem glücklichen
Zufall gelingen, es zu erledigen.
Ziehen wir nun aber aus dem, was uns vorliegt, die Summe,
so dürfen wir, von Reuter's gewiss etwas dissolütem Lebenswandel
füglich absehend, wohl sagen, dass wir in ihm einen witzigen
Kopf von hervorragender Bedeutung und von ganz ungewöhnlicher
Gabe der Charakteristik kennen gelernt haben, der zuerst in Moliere's
Weise eine in das Leben der Gegenwart hineingreifende Comödie
mit moralischem Grundgedanken, aber ohne schulmeisterliche Ten-
denz, zu schaffen versucht hat. Wären die Verhältnisse, in denen
er lebte, grössere und mit ihnen sein eigener Standpunct ein höherer
und freierer gewesen, so hätte er vielleicht das Talent besessen,
uns eine wirklich bedeutende Comödie zu schenken. So aber beweist
Abhandl. d. K. S. Oesellsch. d. Wissenscli. XXI. 39
584 Fr. Zarncke, Christian Reuter. [^30
auch seia Schicksal von Neuem, dass nicht das Talent allein es ist,
was in der Geschichte der Litteratur Hervorragendes und Muster-
gültiges schafft, sondern dass noch eine Reihe anderer Factoren in
günstiger Verbindung hinzutreten müssen, um Epochemachendes, zu
Stande zu bringen.
Unvergi&nglich aber wird sein Name fortleben als der eines der
genialsten humoristischen Erzähler, die unsere Nation aufzuweisen hat.
Nachträgliches*
Im Begriffe, diesen Bogen in die Presse gehen zu lassen, finde ich noch
zwei verworfene Actenfascikel, die zu den durch Gotze veraqlassten Processen
gegen die Fleischmannsehen Eheleute gehören, und die, wenn sie auch
wesentlich Neues nicht gewähren, doch hier noch einen Platz finden mögen.
Beide gehören dem Universitätsarchiv an und liegen in dem Gonvolut ein-
zelner Actenstüeke, das mit G. A. IX, i\9 bezeichnet ist.
Am \. September 4698 Abends war unserm Götze »aus einer Wind-
Büchse oder Gerüste« Schrot in eines seiner Fenster geschossen und
dieses dadurch zerschmettert worden. Er hatte die Fleiscbmanns mit An-
hang und den Dr. Ryssel in Verdacht und verlangte die Vernehmung des
Letzteren und einer Hermannin, der Putzmacherin der Frau Fleischmann.
Das Stadtgericht ging darauf ein, obwohl es sich nicht eben beeilte, und
sandte am 24. Nov. die »Articul«, in denen wir sofort Götzens Stil wieder-
erkennen, an die Universität. Beider Zeugen Aussagen lauteten durchaus
ablehnend, Dr. Ryssel erwähnt noch ausdrücklich, er habe vielmehr Fleisch-
manns, bei denen er eine Zeitlang zu Mittage gespeist, öfter klagen gehört,
»daß Götze sie so verfolge«.
Am 43. October 1699 wendet sich das Stadtgericht wieder an die Uni-
versität und bittet, einen Stud. Küttner zu vernehmen. Wiederum ist Götze
der Verfasser der »Articula, diesmal zweier verschiedener Reihen. Wir be-
kommen hier einen Einblick in den Process der Mutter gegen die Tochter,
welcher letzterer auch der Bruder David feindlich gegenüber steht. Der
Zeuge soll aussagen, dass er gehört, wie die Fleischmann sich am 29. Juli zu
einer Trödelfrau beleidigende und rohe Reden über ihre Mutter erlaubt habe.
Sie habe diese eine alte Diebin gescholten, die bereits bei ihren Eltern ge-
stohlen ; sie habe geäussert, ihre Mutter und ihr Bruder wären werth, dass
sie den Staupbesen bekämen, der Donner und Hagel solle ihre Mutter und
ihren Bruder in die Erde schlagen, auch eine alte Hure habe sie die Mutter
genannt, was freilich damals ein recht oft gebrauchtes Schimpfwort war, bei
dem an den wirklichen Sinn des Wortes nicht mehr gedacht ward. Der
Zeuge behauptet, Nichts davon zu wissen, aber er giebt doch zu, dass jene
Trödelfrau geäussert habe, »es wäre doch nicht recht, daß die Fleischmann
mit ihrer Mutter so verführe«. Also, wohl nicht bloss die Posern ischen Bauern
hatten »eigensinnige und hartnäckige« Köpfe (vgl. oben S. 565 Anm.), sondern
auch die Zieglerischen Familienglieder auf der dortigen Pfarre.
JV
ERSTER ANHANG.
Bibliographie.
Es ist sehr zu bedauern, dass sich die den Acten beigeschlossen gewesenen
Originalausgaben mit Ausnahme des j^Graf Ehrenfried fk nicht erhalten haben.
Es würde dadurch jeder Zweifel in Betreff der jedesmaligen Editio princeps
ausgeschlossen worden sein, die nun bei der i> Ehrlichen Frauoi nicht einmal
erhalten, wenigstens bisher nicht bekannt geworden ist.
Bemerkt zu werden verdient, dass von den sämmtlichen nachstehend auf-
geführten Werken in die Messkataloge kein einziges Aufnahme gefunden hat.
Es verdient dies um so mehr beachtet zu werden, als dieselben sonst die belle-
tristische Litteratur keineswegs ausschlössen^).
I. Die Ehrliche Frau
«
und
Harlelüns beide Schmause.
Von Anfang an gehörten beide Partien , als Hauptstück und als Nachspiele y
zusammen. So bietet sie denn auch das Originalmanuscript und von den Drucken
wenigstens noch einer.
1. Das Originalmannscript.
Dasselbe befand sich in den Acten des Leipziger Stadtarchivs , Repert. XLYI,
Nr. 452 Vol. II (Büchercensur 4694—4705), und ist gegenwärtig der Stadtbibliothek
einverleibt unter der Rubrik ' Libri prohibiti'.
^j Allerdings sind nur die Leipziger Messkataloge benutzt, die absichtlich von
Aufnahme dieser Schriften mögen abgesehen haben, weil sie als Pasquille verboten
waren, während die Frankfurtischen solche Rücksichten nicht zu nehmen hatten. Aber
mit unsrer Keimtniss dieser steht es bekanntlich für jene Zeit übel. Die Bibliothek
des Waisenhauses in Halle besitzt noch ein Exemplar des Herbstmesskataloges von
4695, worin etwa die yy Ehrliche Fraua aufgenommen sein könnte; doch ist dies
nicht wahrscheinlich, da das Stück für den Frankfurter Katalog zu spät erschien,
überdies speciell für die Leipziger Studierenden berechnet war. Dann sind erst wie-
der Exemplare aus den Jahren 4746, 4720 und 4723 bekannt, die hier nicht mehr
in Betracht kommen.
39*
586 Friedhich Zarnckb, [<32
!Dic I ^xlxäft grau ju PUrTme | in | einem | 8uft ®p\tie \ loorgefteHet, ,
unb I au« bem gtanjöift^en (sie, wie auch noch öfter) überfe^t | Don | Hila-
rio. I Darunter die eigenhändige Censumotiz: Legit M. Ernesti PP*); dam,
vielleicht erst später hinzugefügt: \ 5Rebenft annod^ beigefügten | HarieqviDs
^oöfi^iU unb ^inb ^ 2!auffen | ©d^mauffe. | Dann folgte anfangs : ©ebrudft in
ber XxndtXttf, dies aber ward durchstrichen und darunter gesetzt: ©ebtttdt
JU PlilTine im 95ften Saläre.
44 Bll. Papier 4^ [nur BL 58 und 59 in 8^].
a. Die Ehrliche Frau.
Bl. 4 — 25 ; die Blätter sind aber verbunden, indem BL 45 — 48 sich an BL i3
anschliessen sollten; ausserdem gehören noch die Octflvblätter 58 und 39 [doch in
umgekehrter Ordnung) hieher, die die Widmung und das Dedicationsgedicht an die
Studiosen enthalten. Das Manuscript umfasst nur noch die beiden ersten ActCy der
dritte fehlt. Es ist in der Hauptsache von derselben Hand mit vergilbter Tinte ge-
schrieben, doch auf BL 45 — 48 und hie und da auch sonst möchte man eine andere
Hand vermuthen, die sich aber derselben Tinte bedient. Die Haupthand ist zweifels-
ohne, wie sich aus der Vergleichung mit unterschriebenen Briefen ergiebt, die Christian
Reuter" s selber, eine schräg fallende, in den Zeilen aufwärts strebende Schrift. Aber
offenbar kannte und übte Reuter daneben auch eine steilstehende Handschrift, tind es
ist daher, zumal bei der Hast, mit der die Züge grossentheils hingeworfen sind,
schwer zu sagen, ob wirklich verschiedene Hände vorliegen. Unmöglich wenigstens
erscheint es nicht, dass Alles von Reuter selbst herrühre. Dann sind von verschie-
denen Händen Correcturen eingetragen. Zunächst von der Hand des Verfassers
selbst, schon während der Anfertigung [so wenn z, B. mehrmals statt ursprünglich
geschriebenen oder nur begonnenen Rosetten geändert wird Gharlottgen), doch hie und
da scheint auch die etwaige zweite Hand innerhalb des von der ersten Geschriebenen
zu ändern. Eingreifender sind die Aenderungen und Zusätze einer zweiten, resp.
dritten Hand, die sich schwärzerer, aber blasser, Tinte bedient, derselben, mit der
die zweite Harlekinade schliesslich geschrieben ist. Schon auf dem Titel rühren in
der letzten Zeile die Worte ju Plissine von ihr her, dann hat sie im Personenver-
zeichniss BL 4^ zu: Fr. Schlampampe hinzugefügt: Die ehrliche Frau und Gast-
wirthin im goldenen Maulaffen, hat BL 6^ aus Serbelse zweimal gemacht Scblesine
(ebenso BL 22^, nicht Schlesien)^ Ursel verändert in Ursille [wohl um sie von der
Ursel in dem Nachspiele zu unterscheiden) , Bl. 48^ auf leer geliehener Seite ein
längeres Stück zu Bl. 47^ eingeschoben, desgleichen auf BL 2Cf* am Rande u. s. tv.
Ob auch dies die Hand des Verfassers selbst ist? Bei der grossen Mannigfaltigkeit
der Züge, die damals dieselbe Hand anzunehmen vermochte^ ist die Unmöglichkeit nicht
zu behaupten; der Augenschein freilich spricht dagegen. Dann rührten diese Stellen
nicht direct von Beider her. Einige Correcturen gehören, nach dem ersten Eindrucke^
noch einer anderen Hand, die sich einer besonders schwarzen Tinte bediente; sie hat
BL 6^ aus Gutland gemacht Feinland, Bl. 4^ geändert, aber das Geänderte toieder
ausgestrichen.
*) d, i, Professor Poeseos; als solchem stand ihm die Censur der poetischen
Schriften zu.
^^^<3
433] Christun Rbuter. 587
Alle Correcturen sind im Druck berOcksichiigt, lagen also während desselben
bereits fertig vor. Wo einmal eine unberiicksichtigt geblieben isty wie BL 43^ unten,
ist sie nur übersehen, wie denn bei dem im Ganzen sorgfältigen Satze doch auch
sonst Kleinigkeiten der ursprünglichen Niederschrift übersehen sind, z, B. BL 7^
med, u. ö.
b. Harlekins Hochzeit- nnd Kindbetterin-Schmaiiss.
BL 24 — 44, mit Ausnahme der Octavblätter 38 und 39 [s. o.]. Auch hier
sind einzelne Blätter verbunden : BL 24 und 25 gehören hinter BL 27. Die Blätter
sind von alter Hemd [s. ti.j richtig (mit Auslassung der Ziffer 4 = BL 26] mit
Rothstift 2 — 46 beziffert. Die Handschrift enthält nur das zweite der Nachspiele,
mit besonderem Titel, BL 26^:
Harleqvins | Äinbbcttcrin [corrigiert aus ftinMauffenl-Sd^maufe | in einem ]
©inge ®J>ieIe toorgeftcüet | J)on | Hilario. Darunter die eigenhändige Censur-
note: Vidit M. Ernesti PP., die sich auch am Schlüsse, BL 44^ wiederholt.
Scheint von der Hand geschrieben , die in der Ehrlichen Frau als zweite be-
zeichnet ward. Doch auch hier treten daneben andere Hände auf, BL 25^ möchte
ich die erste, also- Reuter^ s eigene, erkennen, und eine ganz neue setzt auf BL 35^
ein. Auch dieses Stück scheint unter den Augen des Verfassers, ja tvährend der Ab-
fassung geschrieben zu sein. Die letzten Blätter hat, der Tinte nach zu urtheilen,
vielleicht wieder Reuter selbst geschrieben. Hier zeigen auch die Correcturen am
deutlichsten die Entstehung während der Abfassung. Die letzte Partie ist überaus
hastig hingeworfen.
2. Die Drucke,
a. ohne Ort nnd Jahr.
Der einzige mir bekannt gewordene Druck, in welchem die Ehrliche Frau und
die beiden Nachspiele noch als zusammengehörig beieinanderstehen, ist der folgende :
V Honn^te Femme | Dber bie | (S^rUd^e ^avi \ gu $(igine, | in | Sinem |
Suft*®)>ie(e, | r>t>Xit\UM, | unb j aud bem grang&ifd^en | äberfe^et j t)on |
HILARIO, I yitizn\t Harleqvins ^od^jeit« | unb Sinb^Settettn« | Sd^maufe !
[schwarzer Strich) \ ^liginc, | ©ebrucft in biefcm Oal^re. [8^).
Auf der Rückseite des Titels steht das Verzeichniss der Personen ; mit dem Titel-
blatte hängt zusammen das Blatt , auf dem das nicht eben fein ausgeführte Titel-
kupfer sich befindet: eine starke, corpulente Frau steht in einem, aus einen Steinbogen
gebildeten Portale, an dem zu beiden Seiten Steinsitze angebracht sind, une man sie
bei den älteren Häusern in Leipzig so oft findet ; die Frau geht aiisgeschnitten und trägt
um den Hals ein Halsband mit Medaillon; sie stemmt, selbstbewusst , fast heraus-
fordernd, die Arme in die Seite. Die Haare sind frisiert. Das Gesicht zeigt ge-
meine Züge. Darunter sind die Worte gestochen: @o Xodf)X ii) eine C^tl^C ^rau
bin. — Hinter dem Titelblatte folgt auf 2 unbezifferten Blättern die Dedication und
das Widmungsgedicht an die Studenten. Diese 4 Blätter sollen den ersten Bogen (S)
repräsentieren. Damach beginnt mit S3 die Bezifferung und das erste Stück selbst,
S. 4—64, 33—6.
1
588 Friedbich Zarnckb, [434
Hieran schliessen sich die beiden Nachepiele, jedes für sieh paginiert md mü
einem besonderen Titel versehen , der aber nicht die ganze Seite, sondern nur den
oberen Theil derselben einnimmt, während der übrige Theil durch das PersoMtk-
verzeichniss. ausgefüllt wird. Voran:
S)ed I HARLEQVINS | ^o6)izxt^®äfmavi%, \ 3n einem | ®inge«®)>te(e |
))orgefteUet.
30 bezifferte Seiten, eigentlich nur 28, denn es beginnt die Bezifferung gleich auf
der Rückseite des Titels bereits mit 4, und die Signatur auf der Vorderseite mit.a (a) 2.
Ueberdies enthält dieser Bogen nur 6 Blätter (zählt also bis S. 44) , er hätte <Uso statt
mit S. 4 mit S. 6 und mit der SigncUur a 3 beginnen sollen. Wie es mit den feMenden
beiden Blättern steht, wird sich unten ergeben. Der zweite Bogen ist h signiert. Damach:
S)e« I HARLEQVINS | ftinbbetterin«®c^mau6 | 3n einem | ©inge^Spiele 1
bcrgerteffet | SSon | HILARIO
25 bezifferte Seiten [auf der Rückseite des Titels mit 2 beginnend). Auf der
Rückseite von 25 steht ein Lied in vierzeiligen Strophen: SRetn etnjiger @(^a(
auff (Erben, Str, / — 5, und dann folgt noch ein Blatt, welches die Fortsetzung die-
ses Liedes, mit neuer Sirophenbezifferung 4 — 5 giebt. Signatur aa und 66, letzterer
Bogen aber hat nur 6 Blätter.
Auf der Rückseite des letzten Blattes steht: 99ert(!^t 9n 93tt^btnber« 3)erX(tu(
jnr (S^rlt(^en f^au fammt bem ftu))fer'93[at an $arleqt)tn9 $o^)ett«@(^mau6 inu§
aBgefc^nittcn, unb »orl^ero anö crftc ?Hpl^a6ct gebrati^t »erben. Beide Blätter comple-
tierten also den nur aus 6 Blättern bestehenden Bogen a (a) . Man darf wohl vermuthen,
dass die beiden Blätter mit der Widmung an die Studierenden (s. o.) die fehlenden
Blätter des Bogens 66 abgegeben haben und so der Bogen [%) zu Stande gekommen ist.
Wenn auf dem Titel zu dem ersten Nachspiel der Name ' Hilarius* fehlt j $o
darf das nicht grosse Bedenken in Betreff des Verfassers erregen; die Personensahl
zu. diesem Stücke war eine sehr umfängliche und so fehlte es an Platz für den
Verfassemamen. Etwas bedenklicher könnte der Umstand erscheinen, dciss der Hochseit-
schmauss in Entrees, der Kindbetterinschmauss in Acte und Scenen getheilt ist. Aber
schwerwiegend ist aiich dies Bedenken nicht. Der Verfasser konnte im Verlauf seiner
Arbeit aus der älteren Weise zu einer ihm angemessener erscheinenden übergehen.
Ein Exemplar der drei Stücke in Berlin und ein zweites im Besitze des Herrn
Heinrich Hirzel in Leipzig, dem nur Titel und Kupfer zur Ehrlichen Frau fehlen; bei
dem Berliner hat der Buchbinder, verleitet durch die zwiefache Bezifferung des Liedes,
die zweite Hälfte desselben (also auch die Notiz für den Buchbinder) abgeschnitten und
hinter das erste Stück (die Ehrliche Frau) geklebt, — Ein Exemplar der beiden
Nachspiele findet sich auch in Dresden, richtig gebunden, aber nicht an die Ehrliche
Frau, sondern an die aus diesem Stücke gemachte Opera Le jouvanceau charmant
(s. u. V) angehängt. Der 'Bericht' für den Buchbinder ist daher mit Bleistift durch-
strichen worden; Titel und Titelkupfer zur Ehrlichen Frau sind natürlich unbenutzt
geblieben.
Es ist dies, wie gesagt, der einzige mir bekannt gewordene Druck, in welchem
die drei Stücke so, wie es schon der Titel des Manuscriptes angiebt, neben einander
stehen, und ich habe ihn darum hier voranstellen müssen. Aber jener älteste Druck,
^35] Christun Rbcter. 589
der bei Brandenburger ausgeführt und von Heybey verlegt ward, ist es nicht. Das
ergiebt sich *auf folgende Weise. In dem Manuscripte des zweiten Nachspiels sind
mit demselben Rothstift, der diese Partie paginierte, die Anfänge der einzelnen
Seiten des, natürlich doch ersten Druckes angegeben. Da heisst es bei Scene 2,
mit der also das zweite Blatt begann {und auch im eben besprochenen Drucke beginnt)
$ 3/445, d. h. Seite 5 des Bogens $, und Seite 445 des Ganzen, und so geht es
fort bis 3 42/440. Die erste Ausgabe zählte also das Alphabet durch und war
weitläufiger gesetzt als die uns vorliegende ; in dieser enthält das Stück nur 25 Seiten,
in jenem Drucke enthielt es 28 (^ 4 = 445 bis 3 /2 = 440), also 5 Seiten mehr.
Wir dürfen schon hieraus vermuthen, dass es mit dem ersten Nachspiel ebenso ge-^
standen hat und dass dieses in dem ersten Drucke statt 28 Seiten deren 32 enthielt,
also die Bogen ^ und @ füllte. Ebenso legt sich die Vermuthung nahe, dass das
erste Stück , das Lustspiel , die Bogen X — @ =: 80 Seiten statt der jetzt von ihm
eingenommenen 64 füllte. Und dass ein, so von uns erschlossener Druck wirklich
existiert hat, beweist das von Rh. Köhler in der Zeitschr. f, D. A. XX, S. 424 f.
beschriebene Exemplar der Berliner Bibliothek, das freilich nur die beiden Nachspiele
enthält. Das erste Nachspiel beginnt, auch hier ohne besonderes Titelblatt, mit der
Ueberschrift :
De« I HARLEQVINS | 5)o^gcit-®d^mau6, | 3n einem | ©inge • ®t>iele |
t^orgeftedet.
Es hebt an mit S. (84) und endigt S. 442, die Signaturen sind ^ und ®. Dann folgt:
!Ded I HARLEQVINS | ^nbbetterm*®(^mau6 | 3n einem | ®tnse«®)>ie(e |
t)orgefteaet | i^cn | HILARIO.
Bl, 443 — 440 mit der Signatur $) und 3. Auch stimmen viele , Einzelheiten
genauer zum Manuscript als der oben beschriebene Druck. Nur ein geringfügiger
Umstand erweckt mir noch einiges Bedenken. Im Manuscript steht qv, und ebenso
in der obigen Ausgabe, in der vorliegenden aber meistens qu. Sollte also auch
sie ein späterer Druck sein, so würde derselbe doch sich genauer und Seite für
Seite an dcis Original angeschlossen haben; denn Alles stimmt zu obiger Rothstift"
bezifferung.
Natürlich wurden die ersten 80 Seiten von dem Originaldrucke der Ehrlichen
Frau, oder doch einem ganz ähnlichen, eingenommen. Da nun Weller in seinen Annalen
II, 277 eine Ausgabe mit der Jahreszahl 4695 anführt, die sich, wie angegeben, auf
dem Titel des Manuscripts findet, auch sonst in seinen Angaben Eigenes hat, was darauf
schliesse.n lassen darf, dass er wirklich eine Ausgabe benutzte, so dürfen wir vielleicht
annehmen, dass er die Originalausgabe kannte und dass diese sich im Titel noch ge-
nauer an das Manuscript angeschlossen hat, als die uns jetzt vorliegehde, die also nur
ein Nachdruck ist. Diese Originalausgabe wird auch ein besseres Titelbild gehabt
haben, als die uns vorliegende, und wir werden annehmen dürfen, dass der Kupfer-
stich der gleich zu verzeichnenden Ausgabe von 4750 dem Original näher steht als
der uns jetzt erhaltene. — Das Lied 3Retn einziger @(l^a( steht hier nicht, wie es
denn ja auch im Manuscript sich nicht findet.
Die Doppelbezifferung in den Rothstiftnotizen des Manuscripts lässt übrigens ver-
muthen, dass man gleich anfangs diese Nachspiele atich einzeln, mit selbstständiger
Paginierung, herausgab.
690 FmiBDBica Zaehckb, [136
b. Dnck ieg LwUpielt, Fraikfut oi Leipug 1750.
Zusammen mit 11/, 2 nDer Ehrlichen Frau Krankheit und Tod* etc., s. unten IV, i.
c. Dnek iei enten lachsf ieb, Haiifeirg o. J.
MONSIEVR : le | HARLEQVIN \ Dfccr ©€« HARLEQVIXS ( ^ot^jcit,
3ii einem ; Singe « ©piele | Dcrgeftettet. ; [Zierleiste] j (SebrucCt | }U ^tbnrg
im $)od^}eit<$aufe | in fciefem 3a^r. .
54 Seitm (letzte Seite leer) 89, d. t. 2 Bogen, signiert % und 9. Der Druck
also in der splendideren Weise des Originaldruckes, aber bereits im Alphabet tind
in der Bezifferung selbstständig, auch keineswegs Seite für Seite stimmend, Exem-
plar in Berlin, Vgl, Rh. Köhler in der Zeitschr, f. D. Ä, XX, S. 420, Wem hxt
die Entrees richtig angegeben sind {XVt;, während in den übrigen Ausgaben die IV
iibersprungen ist, also XVII gezählt werden, so wird das wohl eine Correctur sein.
Der Originaldruck kann es jedesfalls nicht sein, da gleich auf der ersten Seite ein Yen
ausgelassen ist, der sich in allen anderen Drucken findet. — Gottsched erwähnt oui-
drücklich, dass diese erste Harlekinade vielmal gedruckt sei. Vgl, Zeitschr, f. D, A.
XX, S, 449 Anm, Für die Aufführungen scheint sie den Namen ii Harlekins sin-
gender Hochzeitschmauss (i geführt zu haben. Vgl. oben S. 504, Einen Druck mit
diesem Titel kenne ich freilich nicht, wohl aber eine Abschrift in dem Wiener Miscellan-
codex Nr, 45287, von dem schon oben S. 467 Anm. 2 die Rede war, Bl, 5ö*— ^5*.
Drama musicum inscriptum ' Der singende Harlequin in septendecim sccenis [also der
Fehler der Zählung nicht verbessert] , Ob auch die von Goedeke S, S53 unter Nr, 55i
angeführte Oper »Der lustig singende Harlequin oder die Pickelhärings-Hochzeita o. 0.
und J. 8^ hieher gehört, vermag ich nicht zu entscheiden ^ doch erscheint es recht
wahrscheinlich. Vgl. auch Rh, Köhler a. a, 0, S, 422,
d. Druck beider Nacbspiele, Durlach 1716.
Zu diesem Jahre führt Gottsched im Nöth. Vorrath S, 290 unter den Opern an:
^orlequin« ftint)bettcrin«©d^niou§. ©urfad^.
Vgl. auch Rh, Köhler a. a. 0. S. 422. Exemplare sind mir nicht bekamt
geworden.
e. Druck derselben, Freywald 1730.
De« I HARLEQYINS | $od^jelt* I unb | ßinbtauffen^©c^mau6 | 3n einem |
©in8e-®<>iete | öotflefteCet. | (Vignette ^ einen Paukenschläger mit 2 Pauken
vorstellend, dann ein langer schwarzer Strich) \ gre^lpatb, j 1730.
,52 Seiten und 2 unbezi/ferte Blätter, grösseres 8^y Signatur ä — ^D [von letzr
terem nur ein halber Bogen). Das erstere Stück hat keinen besonderen Titeln «
geht bis Seite 28; auf Seite 29 beginnt das zweite Nachspiel mit eigenem Titel,
mit dem des obigen Drucks {also hier wieder Ätnb6cttertn*©(J^maug) übereinstimmend.
Man beachte, dass der Haupttitel zurückgekehrt ist zu dem zuerst beabsichtigten vnd
einfacheren r^Kindtauffen-Schmaufin, der wohl nur deshalb in den schwerfälligeren
437] Christian Rbuter. 591
» Kindbetterin^Schmauß (i geändert ward, weil ja in Wirklichkeit in dem Stücke von
der Taufe gar nicht die Rede war^). Auf dem letzten unbezi/ferten Blatte steht das
Lied »SRetn ein^'ger @d^a|j auf Srben«.
Das erste unhezifferte Blatt enthält ein Titelkupfer, das aber zu keinem der
beiden Nachspiele gehört. Es stellt das Zimmer eines Apothekers, wie es scheint,
vor. Auf einem grossen, mit einer Decke bis unten auf den Fussboden verhängten
Tische stehen und liegen allerlei Geräthschaften , Flaschen, Retorten, Mörser, eine
Wage, Scheere, Messer {zum Pflaster schmieren, wie es scheint). Durch das Zimmer
schwebt ein Mercur mit dem Stabe in der Rechten und einer langen Papierrolle in
der Linken. Hinten in den Ecken sitzen auf Consolen in mittlerer Mannshöhe zwei
Menschen, von denen der eine mit dem andern zu disputieren scheint. An den Wänden
zur Seite hängen Spiegel. Vorne wird die Tischdecke von einem darunter versteckten
Manne mit einer Brille auf der Nase in dii Höhe gehoben und er dadurch sichtbar ;
von seinem Munde gehen die Worte aus: Mundus decipitur opinionibus. Wofür war
dieser Stich ursprünglich bestimmt?
Exemplar in Berlin,
f. Drack derselben, Freywald 1735.
De« I HARLEQVINS | $)od^jeU* [ unb | ftinbtauffcn*®d^mau6 | 3n einem
@inge»©piele | »orgepeüet. | gte^molb, | 4735.
Neue Auflage der Ausgabe von 4730 und genau mit ihr übereinstimmend. Exem-
plar in Weimar. Vgl. Rh. Köhler in der Zeitschr. f. D. A. XX, S. 424.
Wahrscheinlich werden noch mehr Drucke existiert haben.
II. Schelmuffsky's Reisebeschreibung.
1. Die Editlo princeps (?), St. Malo 1696.
©d^ebnuff^h; j (Suriofe | unb | ®e^r geföl^rlid^e | Steige* | (efd^reibung |
ju I ffiaffer unb 8anb. | {langer Strich) \ ©ebrudt ju St. Malo. | «nno 4696.
420 [mit Ausnahme des Titelblattes, also von 3 an) bezifferte Seiten 42P, sig-
niert Sl — 6. Mit Seite 445 oben beginnt kleinerer Satz, um mit dem Bogen aus-
zureichen. Auf der Rückseite des Titels die Dcdication an den ®roffcn MOGOL,
S. 3 — 5 [die letzten 6 Zeilen mit kleineren Typen) der Brief an denselben; S. 6 — 9
die Vorrede: Un bcn cutiofen Scfcr. Mit S. 40 beginnt !Da8 I. Saj)itc(. Das For-
mat ist dem Papiere nach dasselbe mit dem des Sättigten fjrauen äi'WnicrS [Vif, 4),
nicht aber dem Satze nach: der des Schelmuffsky ist schmaler {um 4 Millim.), aber
höher {um 5 Millim.). Es fragt sich, ob dies die Ausgabe gewesen ist, an die bei
der Conßscation am 27. August 4696 Exemplare jenes Druckes sich angebunden
^j Den ursprünglichen Titel führt das Stück auch in dem erwähnten Miscellanband
der Wiener Bibliothek Nr. 43287, Bl. 79^ — 92^ : Drama musicum inscriptum » Har-
lequins frühzeitiger und unverhoffter Kind-Tauffen-Schmaus in einem Singespiele vor-
gestellet und gegeben zur Frauenburg in der Wochenstube a, in septendecim sccsnis.
Letztere Angabe wird eine Verwechselung sein mit dem i> Hochzeitschmauß a, denn mehr
als 40 Scenen giebt das Stück in seiner gedruckt vorliegenden Gestalt nicht her.
592 Friedrich Zarncke, [^38
fanden. Ganz sicher ist es natürlich nicht, und ich habe daher oben die Angabe^ es sei
die Editio princeps, mit einem Fragezeichen versehen. Die etwas ordinäre Her-
stellungsweise könnte auch an Nachdruck denken lassen.
Ob der Originaldruck des ersten Theiles von Räder in Frankfurt a/M. her^
gestellt ward, wird dadurch zweifelhaft, dass bei Erwähnung des Namens desselben
im Concept anfangs der zweite Theil genannt war.
Am Schlüsse wird auch in dieser Ausgabe auf das Erscheinen eines ti^ andern
Theils<i hingewiesen und der vorliegende Druck als querster TheiU gekennzeichnet.
Man darf daher wohl annehmen, dass es auch einen ersten Druck des zweiten TheUs
in diesem Format gegeben hat, von dem aber bisher noch kein Exemplar wieder
aufgefunden worden ist.
Exemplar in Gotha.
In dem Auctionskataloge der Gottsched' sehen Bibliothek (Leipzig, 4767) , wird
S. 449 Nr. 3289 eine Ausgabe »2 Theile. 695. 8« angeführt; aber diese Angabe
wird tüohl nur flüchtig von der vom angebundenen n ehrlichen Fraufi hergenommen
sein, von der Gottsched [wie der Nöth. Vorr. I, 259 beweist) umsste, dass sie 4695
gedruckt sei. Für den zweiten Theil würde 4695 absolut nicht passen.
2. Schelmerode, Padua 1696/97.
a. Erster Theil.
Sd^e(muffdl);^ | SBal^r^affttge | Sutiöfe unb fe^r gefä^rlid^e | 9{eifebefc!^ret'
i^H I B^ I Gaffer unb Sante | I. Xf^nl, \ Unb smat | S)te .at(er))o(tIontenfte
unb accutatcftc | EDITION, | in 5)o(]f^tcutfd^cr grau SKuttcr ©prac^c^) | eigen*
^änbig unb fc^r ottig an ben i 3:ag gegeben | Don | £. S. | {9 Sterne in Form
eines auf die Spitze gestellten Vierecks) \ ©ebrudt ju ©d^efmetobe, | 3m ^afjx
1696.
432 Seiten kl. 8^, das Titelblatt mitgezählt, aber unbeziffert. Alphabet ?[ — 3 ;
% zu 6 Blättern, ^ zu 4 Blättern. Um mit dem Raum auszukommen ward etwa
von der Mitte der vorletzten Seite eine beträchtlich kleinere Schrift geu)ählt. Auf
der Rückseite des Titels die Anrede an den Grossmogul, dann 2 Blätter mit dem
Brief an ihn, darauf 2 Blätter: An ben Suriöfcn Scfct. Dann (S. 44) beginnt der
Roman. Dem Titel voran steht ein Doppelkupfer: Links Schelmuffsky , abgerissen,
die Schuhe über dem Arm, mit Pelzmütze, im Hintergrunde die See mit einem grossen
und kleinen Schiffe; über ihm auf einem Bande: Der Xtbtl l^olc mcr. Rechts in
einer Hausthüre ein feister Weinschenke mit einem Käppcheh auf dem Kopfe und
einem grossen pokalartigen Trinkgefässe in der Linken, während er dem Heran-
kommenden die Rechte reicht; darüber auf dem Thürbogen: Mon Frere Du Icbcji*
^j Es ist dies ein Lieblingsausdruck von Joh. Gottfried Zeidler, der ihn fast
auf allen Titeln verwandte, vgl. Flügel, Gesch. d. kom. Litt. 3, 450 fg. Aber
gewiss entlehnte dieser den Ausdruck erst vom Schelmuffsky, denn die älteste Schrift,
in der er sich desselben bedient, die auf die Metaphysica, nennt als Druckjahr:
»drei viertel Jahr vor dem neuen Seculoa, d. i. also entweder 4699 oder 4700^
jedes falls später als die Umarbeitung des Schelmuffsky. Dagegen darf Chr. Weise
darauf Anspruch erheben, den Ausdruck schon früher verwandt zu haben, in der
Verkehrten Welt schon 4683 (S. 43) und in der Comödienprobe 4695 (S. 250).
Vgl. auch D. Wörterbuch s. v. IV, 4 S. 90.
439] Christun Reuter. 593
Es machte dies Doppelbildy so scheint es, die beiden an dem Bogen 3( fehlenden
Blätter atis, wie auch der Vergleich mit dem zweiten Theile zu beweisen scheint,
obwohl es allerdings recht auffallend ist, dass die Erzählung von Schelmuffsky keine
Anknüpfung gewährt, vielmehr der Weinschenke erst im Grafen Ehrenfried 4700
seine Erklärung findet. Das E. S. auf dem Titel möchte ich, wie oben gesagt, als
Eustachius Schelmuffsky deuten.
Exemplare in Dresden, Berlin und Göttingen.
b. Zweiter Theil.
®<^e(muffdl^^ I euriöfer | unb | fel^r gefährlicher | iReife^Sefd^reibung |
3u ?Baffcr unb Sanbe | änbcrer SE^eil. | {langer schwarzer Strich) \ ©ebrucft
)U $abua eine l^aKe ©tunbe | )>on Stern, j 9e^ $eter SD^artau, | 4697.
78 Seiten kl. 8^, die ersten beiden Blätter mitgezählt aber nicht beziffert. Al-
phabet ä — S ; U zu 7 Blättern, indem das Titelkupfer (s. u.) das erste Blatt aus-
macht (aber es wird nicht als 3( \ gerechnet) . Die Rückseite des Titels enthält die
4 Alexandriner auf den Räuber Barth mit der Unterschrift 3E. ^» 3- ^^^^^ '^ *
enthält die Anrede »Sin ben aUejett curtöfen Sefer*« Mit 31 3 beginnt die Reisebe-
Schreibung. Das Titelkupfer stellt Schelmuffsky dar, wie er, von drei Räubern bis
aufs Hemd ausgezogen, davon flieht, lieber Schelmuffsky stehen senkrecht die Worte :
Der £e6cl l^olmcr Äinb tft ba» Sollte es statt Äinb nicht gcinb heissen? Im Hinter-
grunde mitten im Meere, von Schilf umgeben, eine Stadt, darüber Roma^ je ein Schiff
vor und hinter derselben. Links herings-fang. Daneben duellieren sich zwei. Rechts
auf einem hohen steilen Felsen eine Stadt, darüber Yenetig. ^ Ich weiss nicht, wo-
her E. Weller die Kenntniss entnimmt, Peter Martau bedeute an dieser Stelle i^Bielcke
in Jenav, Annalen II, 396 Nr. 322^). Noch weniger wahrscheinlich ist Goedeke's
Angabe im Grundriss S. 512, P. Martau sei eine fingierte Hamburger Firma.
Exemplare, dem ersten Theile angebunden , in Dresden , Berlin und Göttingen,
doch fehlt dem Berliner das Titelkupfer.
Ob es der erste Druck ist, wird um so zweifelhafter, als in einer, freilich
wieder ausgestrichenen, Stelle eines Berichts der Bücher-Commission an den Chur-
fürsten bereits am 24. Nov. 4696 von ti> Schelmuffsky Reisebeschreibung anderer Theil (n
als confisciert die Rede ist^). Vgl. S. 524.
^) Sollte Weller auf seine Angabe durch eine Combination gekommen sein? In
der Vorrede zum 2. Theil des Schelmuffsky versichert der Verfasser : » daß ich künf-
tiges Jahr, wenn ich nicht sterbe, von meiner hier und dort vergessenen Reise, wie
auch von anderen denkwürdigen Sachen was rechts schreiben loill und solches unter
dem Titel iDcuriöser Monaten herausgeben. « Nun erschienen bei Bielcke in Jena 4692
in 8^: y> Monatliche nutzspielende Lust-Fragen, (n Das können aber, wie die Jahres-
zahl beweist, nicht die gemeinten sein, höchstens mag der Verfasser durch sie zu
jenem Titel veranlasst worden sein; aber auch Thomasius gab schon 4688 in Halle
r> Lustige und ernsthafte Monats-Gespräche a heraus. Dass von den im Schelmuffsky
in Aussicht gestellten curiösen Monaten je etwas erschienen sei, lässt sich nicht nach-
weisen.
2) Kein Werth zu legen ist auf die folgende ungenaue und fehlerhafte Angabe
in dem » Verzeichniss der Klaeden* sehen Bibliothek. Zu verkaufen durch J. A. Star-
gardt.(L Berlin 4868, S. 68 Nr. 4653:
Schelmuffsky^s Reisebeschreibung zu Wasser und Lande I. Pet. Martea in
594 Fribdrich Zarncus, [^40
3. Frankflirt und Leipzig 1750.
©^etouffdtt)^ I »a^rl^af tige , curiSfe unb fe^r | gefä^rüd^e | SRetfe« | SÖt^
fii^reibung | ju SBaffer un\) Sanbe | in ^xoctftn ^txUn j curtöfen Sieb^bem
tiox älugen I geleget, | unb mit S^t^^n \ Suft« unb 2;rauet'@)>ie(en | Derfe^en.' |
{Doppelstrich) \ grondfutt)^ unb Seipjig, 1750.
6 unbezifferte Blätter 8^ {signiert >C), die vielleicht durch den voranstehenden
Doppelkupferstich, einer Copie des oben {FI, 2, a) beschriebenen, zu 8 completiert umr-
den; Rückseite des Titels leer, dann Dedicationsblatt, dessen Rückseite abermals leer
ist, dann 2 Blätter mit dem Brief an den Grossmogul und darauf 2 %n Den SuTtofen
Sefet» Dann folgt die Reisebeschreibung, 460 Seiten 89, signiert Ä — ft, die letzten
Zeilen mit kleinerer Schrift, um mit dem Bogen auszukommen. Die auf dem Titel
angeführten zwei Lust- und Trauerspiele {offenbar ist gemeint die Ehrliche Frau und
der Ehrlichen Frau Krankheit, Tod und Begräbniss) fehlen in den mir bekannten
Exemplaren, Es ist aber nach Typen,, Format und Ausstattung nicht zu bezweifeln,
dass die unter I, 2, b ; IJI, 2 und IV, 2 aufgeführte Ausgabe gemeint ist. Ob es etwa
von dieser Drucke gab, die die Bezifferung des Schelmuffsky fortsetzten, wage ich
nicht zu entscheiden, glaube es aber kaum; sie konnten einfach angeheftet sein.
Exemplare in Dresden, München und im Besitze des Herrn Heinrich Hirzel in
Leipzig,
4. 0. 0. (Düsseldorf ?) 1818.
@(!^eünuffdl^d mol^r^aftige cutteufe unb fe^r gefä^rUci^e 9{etfe«SBef(i^reibung
)U SBa^er unb p Sanbe ; auf bad 9leue an bad Sid^t gefteUt, uxmt^fd unb ux*
be^ert but^ Jucundum Hilarium. 4848. {nach Kayser: in Düsseldorf bei Dänzer),
Titelblatt und 89 Seiten 8^ {fälschlich steht als letzte Ziffer 57 gedruckt) . Auch
nach Goedeke GR. S. 542 ist diese Ausgabe in Düsseldorf erschienen. Sie bietet eine
durchaus freie Bearbeitung ; so ist z. B. gleich die Geschichte von der Ratte fort-
gelassen, trotzdem sie sich im Original wie der rothe Faden durch die ganze Er-
zählung hindurchzieht.
Ein wunderlicher Zufall ist es, dass der Herausgeber sich hier denselben Falsch-
namen beilegt, hinter dem sich Christian Reuter in seinen ersten dramatischen Wer-
ken versteckte, — In einigen Exemplaren dieser Ausgabe findet sich ein Titelkupfer,
das eine Gruppe von 4 Köpfen darstellt, die unten bezeichnet werden als: 4) der
Papa der Charmante, 2) die Charmante, 5) Schelmuffsky, 4) der Herr Bruder Graf.
Sie sind aus W. HogartKs Kupferstich Noon {25. März 4758) entnommen {doch um-
d, Jahre. dar[aQ:]. Anderer Theil, gedr. z. Padua. Prachtexemplar der ersten
Ausg. Prgmtbd. (Heyse 8 Ih) 6 th.
Die Ausgabe in Heyse's Bücherschatz, auf die hingewiesen wird, ist zweifelsohne die
Hassenpflug'sche, und auch Klaeden's Exemplar wird es gewesen sein; man übertrug den
Namen des Druckers vom 2, Theil auf den Titel des ersten. Auf eine Ausgabe auch
des ersten Theiles vom Jahre 4697 möchte man schliessen aus der Angabe in "ttFr. A,
Helms Preiskatalog, Halberstadt Jan. 4850q. S, 425 Nr. 4044 :
Schelmuflsky's cur. u. gef. Reisebeschreibuog, % Theile 4 697.
Aber man darf auf die flüchtigen und oft ungenauen Angaben der Antiquariats- und
Auctionskataloge nicht zu viel geben.
U1] CeRisTUN Reuter. 595
gedreht) , auf dem sie die Gruppe rechts ausmachen ; nur sind die Köpfe auf unserer
Copie etwas näher aneinander gerückt, namentlich ist der des Kleinen ganz in die
Nähe der drei andern gebracht. Oben darüber steht: zu Schelmuffsky's Reise-
Abentheuem. Da diese Bezeichnung nicht genau zu dem Titel des Buches stimmt
und da auf diesem sich keine Hinweisung auf das Kupfer findet, auch viele Exem-
plare dasselbe nicht enthalten , so kann man zweifeln, ob es von vornherein mit
dieser Ausgabe verbunden gewesen ist. Auch kommt ja ein Vater der Charmante
gar nicht vor; dies wird eine Verwechslung mit dem Vater der Geliebten in Stock-
holm oder Amsterdam sein.
5. Berlin 1821.
©d^cfmuffdft^'d feftfame äbcntcuer itnb {Reifen ju SBaffer unb ju Sanbe, nebft
ber ©egebenl^eit t)on ber {Ratte unb feiner »unbetbaten (Seburt. herausgegeben
bon SWelfter Äonrab ®»>ät, genannt grül^auf. ©erlin, bei (g. $. ®. ß^riftiant
1821. — Am Ende: SBerlin, gebrucft betj ®. ^a^n.
XXIV, 246 Seiten kl. 8^. Enthält nur den ersten Theil und ist ebenfalls eine
modernisierte aber viel weniger cästrierte Bearbeitung, als die Ausgabe von 4848,
zu der sie sich gleich auf dem Titel in Gegensatz stellt, indem sie das Vorhanden-
sein der Geschichte von der Ratte ausdrücklich erwähnt, die ja, tvie angegeben, 4848
fortgelassen war. Nach Goedeke hiess der Herausgeber E. Gerle.
6. 0. 0. n. J. (Kassel um 1823).
Sd^etmuffdli)« | SBal^r^afftige | (SuriSfe unb fel^r gefa^rltd^e i {Reife*
befd^reibung | gu | SBaffer unb Sanbe | ßrfter SE^ei(, | unb gtt)ar | bie-
aüerboü!ommenfte unb accuratefte | Edition | in | l^od^teutfdjfer grau SKutter
®))ra(!^e | eigenl^änbtg unb fe^r artig an ben { 2:ag gegeben | Don | £. S. (beide
roth) I [langer schwarzer Strich) \ ©ebrucft JU ©d^elmerobe in biefem Sal^r.
[Das Gesperrte ist roth gedruckt).
6 unbezifferte Blätter ohne Signatur, 460 Seiten 8^, ä— Ä. Rückseite des Titels
leer ; das zweite Blatt enthält die Ueberschrift an den Grossmogul, die dann folgenden
2 Blätter den Brief selbst, die letzten 2 Blätter des Vorbogens den Brief an den
curiösen Leser. Hierzu gehört gleich der zweite Theil:
©d^elmuffSl^S I curiöser | unb | Jel^r gefäl^rlid^er | {Reife^öefd^rei*
b u n g I gu ffiaffer unb Sanbe | anbcrcr i^eit | (schwarzer Strich) | ® e b r u d t
gu $abua eine l^albe ©tunbe { ))on {Rom | be^ $eter SDtartau | in
biefem Sal^r.
2 unbezifferte Blätter, den Titel, die Alexandriner und den Brief an den alle-
zeit curiösen Leser enthaltend, dann 84 Seiten 8^, 81 — S und 2 Blätter 5> ««/
denen der Druck etwas compresser gehalten ist. Hieran schliessen sich 48 unbezifferte
Blätter (®, ^, 2 Blätter Q), eine alphabetische Sammlung von Redensarten ent-
haltend, mit dem Titel : SBaS üor galande {RebenSartcn in bicfcr meiner fc^r gcfal^r*
ticken 9?eifebef(^reibung gu finben fmb, loirb l^ter {Regiflertoeife fe^r artig aud^ gu (efen
fe^n» Die letzte Seite giebt die Titulaturen Schelmuffsky's: 3Bie id^ bin tituliret
Sorben ^ait id^ bem gfinfligen Sefer fel^r artig auc^ l^erfe^en kooUen.
Diese Ausgabe ward 4825 [ungenau Jac. Grimm in der Einleitung zum Deutsch.
596 Friedrich Zarncke, [442
Wörterb.: um 4825) angeregt durch den Kreis, welcher sich um den Preikerm
A, von Haxthausen in Westfalen zu sammeln pflegte, und ausgeführt durch Hassen-
pflüg (Schwager der Brüder Grimm und später kurfürstlich hessischer Minister].
Sie ward in Kassel in der Druckerei des reformierten Waisenhauses gedruckt und,
wie es scheint, gar nicht durch den Buchhandel, sondern nur als Geschenk verbreitet ;
wenigstens erwähnt keins der bibliographischen Hülfsmittel, nicht der Messkatalog,
nicht Heinsius, nicht Kayser das Buch. Der Anhang, die galanten Redensarten und
die Titulaturen enthaltend, gehört nicht der alten Ausgabe an, sondern ist von
Hassenpflug , Hr. von Haxthausen, auch den Gebrüdern Grimm zusammengestellt.
Uebrigens ist der Abdruck ein ziemlich genauer, nur ist sowohl das Arrangement
des Titels wie die Vertheilung des Textes auf die Seiten völlig unabhängig von einer
alten Vorlage. Die Typen sind alterthümlich gewählt und geben dem Drucke das
Ansehn, als stamme er noch aus dem 48. Jahrh. ^). Er hat denn auch Manche ge-
täuscht; auch bei Goedeke im Grundriss S» S42 ist die unter a vorangestellte Aus-
gäbe der Hassenpflugsche Wiederabdruck.
7. 0. 0. n. J. (Leipzig 1848).
Im Jahre 4848 veranstaltete der Buchhändler Georg Wigand in Leipzig durch
den Dr, Klee, der bald darauf Director der Kreuzschule in Dresden ward, einen
neuen Abdruck der von Hassenpflug besorgten Ausgabe. Der Titel
stimmt, auch in den Farben des Druckes, genau überein, nur sind die Typen auf
ihm wie auch später im Texte nicht so alterthümlich wie bei der Vorlage. Uebri-
gens enthielt auch der neue Abdruck im ersten Theile 6 unbezifferte Blätter und dann
460 Seiten, die, abgesehen von den 5 ersten, genau zur Vorlage zu stimmen pflegen.
Ebenso enthält der zweite Theil, bei ganz gleichem Titelarrangement, 2 unbezifferte
Blätter und dann 84 Seiten Reisebeschreibung; auch hier pflegen die Seiten genau
mit der Vorlage zu gehen. Mit den galanten Redensarten hört die genaue Ueber-
einstimmung auf, indem man beabsichtigte, den Inhalt auf 2 Bogen (® und $) zu
bringen, und noch überdies für die Druckernote ein eigenes Blatt zu gewinnen suchte
(3!)ru(! t>on S3rcitIopf unb $ärtel in i^cipjtg). So beginnt hier die letzte Seite mit:
3crjaufcn, einen wichtig, II. 63. — Nach den Geschäftsbüchern der Druckerei
ward der Druck am 46. November 4848 geschlossen.
^) Diese von Hassenpflug besorgte Ausgabe ist in demselben geistreichen Kreise
[vgl. [v, d. Osten] Franz Ludw. Aug. Maria Freiherr von Haxthausen. Ein photo-
graphischer Versuch von Freundeshand. Als Manuscript gedruckt. Hannover 4868
auch noch die Veranlassung zur Abfassung eines dritten Theiles von Schelmu/fsky's
Reisebeschreibung geworden. Derselbe führt den Titel:
S^clmuff«!i?e I SBa^tHttfler | 6uriöfer unb fc^r flefa^rli^ct | «eifcie'
fcj^retbunß j ju | SBaffer unb 8anbc | S)ntter I^eil, | glci^ | bcm (Srpcn unb
Anbeten Steile | in | l^oc^tcutfci^cr grau 3»utter ®pra(!^c | fcl^r luftig ju lefcn. i
[Strich] I ©ebtudt im SBcflp^älinger Ü?anbe | in bicfem 3a^r, (59 S. Ä^j.
Verfasser ist Herr V. von Str. und T — y. Das muntere und geistvolle Büchlein ent-
stand im Anfang der sechziger Jahre d. Jahrh., ist aber nur in sehr wenigen Exem-
plaren unter den eingeweihten Freunden verbreitet worden. Die feine und wohl-
gelungene Nachahmung würde indess auch weitere Kreise zu interessieren wohl im
Stande sein.
^*3] Cbeistun Reutbk. 597
8. Mflnchen o. J. (1883),
®(i^elmuff«iv« I ©a^rl^aff tigc , curiöfc unb fc^r flcfä^xlid^c | {Reife-
frcfc^reibung | gu- 1 ©äffet unfc 8anbe, | unb jtDar | bte aHcrbottlommenftc
unb accuratefte | Edition [ in | l^oc^beutfd^et grau aRuttet ©prad^e | eigetil^änbig
unb fel^r artig an ben SEag gegeben j bon | E. S. {beide roth) \ {Zierstrich) \
• SRfind^en, | ®ibaogra^)^ifd(f^artiftifd^e« 3nftitut.
Darnach sind die beiden Theile mit besonderem Titel versehen:
©dj^etntuff«!^^ | curiöser | unb | fe^r gefal^rlid^er | {Reife«5Befd^reibung | ju
©affer unb Sanbe | (Srfter Z^zH. \ {Zierstrich) | ©ebrudt gu ©d^etnterobe | in
biefem 3a^r.
Titel des Grossen Mogul {doch ohne den Brief) und die Vorrede an den cu-
riösen Leser machen mit jenen beiden Titelblättern einen unsignierten und unbeziffer-
ten halben Bogen aus. Darauf die Erzählung 404 Seiten 8^, Dann:
©(i^elmuff^I^^ I curiöser | unb je^r gefäl^rliti^er | Steife * SBefd^reibung | ju
SBaffer unb Sanbe i änberer Ziftii. \ {Zierstrich) \ ©ebrudt ju ?abua eine l^albe
©tunbe bon Stent | be^'^eter SRartau | in biefem 3a^r.
Auf der Rückseite des Titels die Verse auf den Räuber Barth, dann der vor
dem ersten Theile fortgelassene Brief an den Grossen Mogul; darauf die Vorrede
an den allezeit curiösen Leser, Diese Stücke machen einen unsignierten und unbe-
zifferten Halbbogen aus. Damach die Erzählung 5S Seiten 8^. Letzte Seite leer.
Die wunderliche Verschiebung des Briefes an den Grossen Mogul ist wohl vor-
genommen, weil die beiden unbezifferten Halbbogen als Bogen zusammen gedruckt
wurden* und der Bequemlichkeit wegen jedem der beiden Theile ein Halbbogen vor-
m
gesetzt weYden sollte. In Schwabacher Schrift. — Der Abdruck scheint wörtlich
und genau zu sein, wie ich glaube nach der Hassenpflugschen Ausgabe; nur ist das
m der Dative durchgeführt. Die Versendung des Buches erfolgte 4883.
lil. Der Ehrlichen Frau Krankheit und Tod.
1. 0. 0. 1696.
La Maladie ^^ la mort \ de Fhonnete Femme. | ba^ ift: | >Der el^rtid^en
grau I ©d^(ann?ani^)e | Stanf^eit unb Siob. | 3n einem | 8uft* unb Iraner*
®pxtk ))orgefteQet, | unb | 3(ud bem gran^öfifc^en in bad 2:eutfd^e { äbergefetjt,
ton I ©d^elmuff^ft^ Steiffe* | ®ef Sorten. | {kleiner Zier stock) | ®ebrudt in biefem
4696 3a^r.^
78 Seiten 89, letztes Blatt leer, also 5 Bogen, signiert 8 — S. Auf der Rück-
seite des Titelblattes stehen die Personen, dann, mit % 2, beginnt die Bezifferung
mit 4, springt aber von 2 auf 5 über; und ebenso später von 44 auf 47, wo-
mit S3 beginnt. Mit dem ersten Sprung wird die Nichtbezifferung des Titelblattes,
mit dem zweiten die Nichtbezifferung des Titelbildes wieder eingebracht. Dieses, ein
Kupferstich, stellt das Krankenzimmer der ehrlichen Frau vor. Sie liegt in ihrem
Himmelbette, neben ihr ihr jüngster Sohn; an einem Tische schreibt ein Notar das
Testament, ein Arzt in Allongeperrüke beschaut das Hamglas, die beiden Töchter stehen
598 Fbiedrich Zarncke, [Ui
hinter dem Notar; die eine weint. Schelmuffsky liegt im Hemde auf dem Ftu^>odm
und heult, neben ihm das Hündchen der Mutter. Im Hintergrunde in der geöffneten
Thüre der Hausknecht und die Jungemagd. Auf einem herabhängenden Blatte oben
steht der Titel wiederholt: La Maladie et la morl de Tbonnete Femme. 4696.
Exemplare in Dresden und Göttingen, und im Besitze des Herrn Buchhändkn
Heinrich Hirzel in Leipzig.
Ich möchte nicht bezweifeln, dass dies der von Wolfg. RÖder in Frankfurt alM,
nach Leipzig geschickte und hier von Joe. Phil. Schneider {s. Anhang II) mit dm
Titelkupfer versehene Originaldruck ist. Von dem oben beschriebenen Drucke da
Schelmuffsky weicht er in vortheilhafter Weise ab ^ was denn auch dafür sprechen
dürfte^ dass der, ja ebenfalls von Röder eingesandte Originaldrück des Schelmuffski
noch nicht wieder aufgefunden ist.
2. Frankfurt nnd Leipzig 1750.
Zusammen mit der ersten Comödie (/, 2, b) etc., s, unten IV, 2.
IV. Das Denk- und Ehrenmahl.
1. 0. 0. 1697.
Se^ted I !Z)en(!« | unb | (£^ren«9Ra]^(, | !Z)er | tt>e)^(anb gemefenen | &ßiß
^avi I @d^(am^Qm)>e, ! dn | (Stner | ®eb5d^tnüg«®ermone, | aufgertc^tet | Don
$)enn ®ctflcn, | {Strich) \ Uf Special-Scfcl^t ber @ecKg'85crftorbcncn | gebru*
im 3a^r 4697.
42 bezifferte Seiten 8^ incl. Titelblatt, dessen Rückseite leer, dessen bei'de Seiten
aber mitgezählt, nur nicht beziffert sind., Signatur % — S, doch enthält ä nur S,
ß 7 Blätter. Hinter (5 t folgt ein neues Titelblatt, dessen Rückseite leer istj und
für das die Ziffern 33 und 34 ausgespart sind. Es hängt durch den Custoden SJc^l«
mit den voraufgehenden Blättern zusammen.
SBol^tgemetnte ®etanden, | (e^ bem @xaht \ S)er | SBe^Ianb ^od^^ 6^'
unb Xugcnb' | begabten | gJRaU | ®d)lam}fampt, \ ©onft | Die e^rßc^e grau '
genannt : | SBormit | S^re Sefete ©d^utbtglett | Unb | Jraurige« SBe^Iel^b | ent*
beden »oKen | 35ero | Refpectiv^ betrübte Sinber | Unb | ^au^genoffen. | («»#
kleine Verzierungen in horizontaler Linie) \ ©ebrudt im ^ofyc, ba bie ©d^bw*
|>am]pe | t>erfd^ieben ^) mar.
Der erste Theil enthält eine prosaische boshafte Leichenrede, danach eine Am
üor ber $rcbtgt, und Aria na(^ bcr $rebtgt. Der zweite Theil bringt 8 Leichen-
carmina, meistens in Alexandrinern, unterzeichnet Signor Schelmuffsky^ Daefllle, Char-
lotte , Clarille , Edward , Fidele , $en ®erge, bicicnige SRattc, toctd^c bie C^ie i^
\)Qit, ber Srau ®(!^(am)}am))en il^r ®eiben ^leib }u jerbeiffen.
Exemplar im Besitze des Herrn Heinrich Hirzel in Leipzig,
^) d. h. gestorben.
^^^] CHRigTUN Beuter. 599
2. Frankfurt and Leipzig 1750.
Zusammen mit den beiden Comödien, doch nur die SBol^Ijcmemteil ©ebaitdetl.
VIE I LA MALADIE ET LA MORT | DE L'HONNETE FEMME | {Strich) \
®a« ift : I ®er d^rltd^en grau | ®äfiampampe \ SeBcn, ftrand^eit | uub Zoi, \
in S^tt)tn \ Suft« unb 2;rauer « ®))te(en | DotsefteQt, | unb [ flM bem f$ran^5«
[x\6ftn In bad Scutfd^c | fiberfcfet | öon | ®6ftlm\i^bf Keifcflcfa^rtcn. | [Strich) \
gtandfurt^ unb Sciwtg. 1750i).
458 Seiten grösseres 8^, signiert a — f, also 40 Bogen. Die Bezifferung stimmt,
da das Titelbild zu dem ersten Stücke auf das erste Blatt des Bogens a gedruckt ist.
Das Bild entspricht dem oben besprochenen Drucke (I, 2, a), ist aber charakteristischer
und besser ausgeführt, so dass man ein besseres Original, als es jenes sein unirde,
als Vorlage voraussetzen möchte. Auf S. 70 schliesst das erste Stück, das keinen
besonderen Titel hat. Mit der unbeziffert gebliebenen Seite 74 beginnt das zweite
Stück, das seinen eigenen Titel hat: 2)er | &)xliiitn grau | Qö^lamlfavxpt \ ^and*
^ett unb ÜTob | 3^^^^^ Slfc^anblung, | Xud bem Stan^öflfti^en tn9 2:eutf^e | fiberfe^t.
Zu ihm ist ein Titelkupfer eingeklebt, eine ziemlich gute Copie des Titelbildes des
oben angezeigten Druckes (III, 4) , — Auf Seite 455 folgt : Anfang | tool^lmcJjncnbet
©ebanden | betet l^intetBUebenen | ^nbet unb $auggenof[en | be^ bem @ta6e | bet |
t^au <Zö}lampampe, \ fonjl | S)te el^rlt^e ^au | genannt* Dieser Anhang besteht aus
den oben schon erwähnten boshaft humoristischen 8 Trauergedichten.
Exemplare in Berlin und im Besitze des Herrn Heinrich Hirzel in Leipzig, dem
nur das eingeklebte zweite Titelkupfer fehlt.
V. Die Opera, Hamburg o. J.
Le Jouvanceau Charmant | Seigneur Schelmuffsky , | Et | L'Honn6te
Femme | Schlampampe, | represent^e \ par une | OPERA | sur le Theatre
ä Hambourg. \ Ober | Der anmutl^tge SüngKng | ©d^etmuff«!^, | unb | Die
e^rlt(!^c grau | @ci^(amj)am<)c, | 3n einer | OPERA | auf ben ^amburgifd^en
Theatro | öorgefteHet. | (Strich) \ Hamburg, | Oebrudt im gütbnen 8UBS.
80 Seiten 8^, schon die Rückseite des Titels mit 2 beziffert, signiert ä — (S.
Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass dieser Druck die Editio princeps ist, die gar
nicht wieder aufgelegt worden zu sein scheint.
Exemplare in Dresden und in Berlin, und im Besitze des Herrn Buchhändlers
Heinrich Hirzel in Leipzig.
^) Wäre Gottsched ganz zu vertrauen, so müsste bereits im Jahre 4699 eine
solche Sammelausgabe erschienen sein. Im Nöthigen Vorrath II, S. 265 führt er
unter dem Jahre 4699 als Zusatz zu I, S. 267 an:
Der el^tßc^en grau ©ci^Iampampe Seben, Ätanfl^eit unb lob, in jtoe^ 8ujl*
unb Stauctfpielen , iebe« öon 3 $anblungen, in ^xo\a, emjctn* gtanifutt unb
Selpätg.
Aber Jedes falls hat der Titel die Jahreszahl 4699 nicht enthalten, denn das giebt
Gottsched sonst stets ausdrücklich an. Immerhin darf man annehmen, dass es schon
vor dem Jahre 4750 eine solche zusammengedruckte Ausgabe gegeben hat.
Abhandl. d. K. S. Gesellsch. d. Wissensch. XXI. 40
600 Friedrich Zarngke, [^6
VI. Graf Ehrenfried.
®raf I e^tenfrteb, | in einem | Suft«®pte(e | DorgefteUet, | unb | aRit 3^i:
ft5nig(. SRaieftät | in ^o^ten :c. k. nnb S^urffitftt. | S)nrd^t. }u ©ad^fen k. tc.
oQergnäbigften | S/^eciaZ -JBemidigung | unb ^ttfytii \ gum üDrud befitbert. ;
(em Blumenkorb, darunter ein langer Strich) \ Anno M.DGG.
428 bezifferte Seiten 8^, signiert % — ^, die letzten Seiten enger und kleiner
gesetzt, die Rückseite des Titels leer. Voran ein Kupferstich in Quer 4^, links m
Rechtsgelehrter mit Allongeperrüke und breitem Hut auf dem Kopfe, mit sehr coit-
0
fiscierter Physiognomie, einen Degen an der Seite, in der Rechten einen Stab, in
der Linken ein beschriebenes Blatt haltend mit der Ueberschrift Intröschen. Unter
ihm steht Injurius bet ^Ud*(S6^xAbet» Hinter ihm zu seiner Rechten [also links vom
Beschauer) ein Schreibsecretär, auf dem viele beschriebene Blätter über einander lie-
gen; darüber: Falsche DeDunciations- Sachen, item Injurien und Huren Processe.
Die Hälfte zur Rechten des Beschauers stellt einen Mann mit einem grossen Kelch-
glase in der Hand dar , offenbar denselben, den bereits das Bild zum Schelmuffskii
bietet. Darunter: $err Johannes ÜDer (ufltge 3Betn«®^en((e. lieber ihm: j£op! 3)n
(e6eß! in SDetnen SJal^me. Zwischen beiden Personen steht ein Säulentischehen, auf
welchem wieder viele beschriebene Blätter liegen, darüber : (anter Intrüschen. — Zu
Bogen % gehört ein Quartblatt mit 2 Kupferstichen in 8^. Der eine, wie drüber
steht, zu Pag. 8S, stellt ©raf (Sl^renfriebd 9ab«(StuBe dar: in einem geuxilbten, in
der Mitte durch eine Säule gestützten Gemache mit getäfeltem Fussboden wird der
Graf von 5 Personen geschröpft und mit Wasser begossen, während 4 Männer in
Allongeperrüke und breitkrämpigem Hut daneben stehen. Das andere Bild, zu Pag. 91
stellt dar ®raf Sl^rcnftieb« Stac^tlaacr: in einem gewölbten Räume schläft der Capitain-
Lieutenant, der die Wache hat, sitzend in einem Lehnstuhle, während der Graf tmd
6 Diener auf einer Streu liegen. Ein Kind (wohl Mummelmärten) im Hetnde kriecht
auf dem getäfelten Fussboden, und kraut dem Grafen die Fusssohlen [nach dem
Stücke freilich soll auch er schlafen),
Fkcemplar bei den Acten, Königl. Sachs. Hauptstaatsarchiv, Loc. 9708, Acta
das von Christian Reutern verfertigte Lustspiel pp. 1700, Fascikel A, Bl. 4 fg.
4^7] Christun Reuter. 601
VII. Dramen, die möglicherweise noch fOr Christian Reuter oder
seinen Kreis in Anspruch genommen werden l(Onnten.
1. Das bäiügte Franenzimmer.
X)ad I SSrtigte | Stauen« | ^m^x, | äJotgefteUet in einer | luftigen | So
ntöbie I (Zierleiste j dann Strich) \ ©ebrucft im 3a^r 4696.
Nach Seite 76 beginnt ein neues Stiick:
$offenf)>ieI, | !Z)er | Sitte tyttliAit unb | beraci^te | ^e^er, | 3ean ^nn.
(Strich) I Anno 4696.
448 Seiten 42^, 5 Bogen, signiert % — S. Riickseite des ersten Titels leer.
Zum Bogen 9 gehört auch das der Bezifferung sich entziehende Titelkupfer, eine
schlanke, stattlich geputzte und frisierte Dame mit lang herabwallendem Kinnbart
und kräftigem Schnurrbart. Die beiden letzten Seiten sind, um mit dem Räume
auszureichen, mit kleineren Typen gesetzt.
In den Acten heisst dies Drama »die s. g. großbärtigte Jungfrau«. Das war
also die Benennung, mit der das Buch im Volksmunde bezeichnet zu werden pflegte,
Exemplare in Berlin und in Weimar [aus Gottsched' s Bibliothek),
2. Die Alchymistengesellschaft.
S)ie I iCurd^ fett jame (Sinbilbung | unb SSetriegere^ | ©c^aben Brin*
genbe l Alchymiften« | ©efeüfd^afft, | 9iad^ | i^ren gemö^nlid^en
9R er dm al^' | len unb (Sigenfij^afften, XDtiöft fle bon ftd^ | f^ül^ren (äffen, nebft
9(nfä^rung einiger Difcurfe, toad | bon ber Alchymie }u l^alten, xok aixäf (Sx*
}e^iung et« | (id^er untüd^tigen ProcefTe: SBorbe^ andf bie(e in | Converfation
gebräud^Iid^e ^dffßd^e Sieben, unb | unterfd^iebßd^e @rg9^(igleiten }ubefinben, | in
einen | nfiftlid^en . 8uft*®lpiele | borgefteCet bon | J. D. K. \ (Darunter ein
Druckerstock, ein anderer am Schlüsse des Buches).
22!7 bezifferte, aber falsch bezifferte Seiten 42^. Rückseite des Titels und letzte
Seite leer. Der erste Bogen (44 Bll.) trägt die Signatur dC, der zweite beginnt mit ^,
und so geht es fort bis S, Jener erste Bogen, zu dem auch das Titelkupfer gehört, hat
(ausser diesem und dem Titel) 8 unbezifferte Blätter mit der Vorrede und dem Personen-
verzeichniss. Auf dem achten Blatte rückwärts beginnt die Bezifferung mit 4 und
setzt sich auf dem ersten Bogen bis 9 fort, so dass immer die geraden Zahlen auf
der Stirnseite stehen. Mit S springt die Bezifferung auf 43 über und geht von da
regelmässig weiter. Die Vorrede ist unterzeichnet : »dienen ÜDieuen ßan« und »9torb«
l^aufcn bcn n. Dec. | 4 699.«
Das Titelkupfer stellt eine sich weit hin erstreckende Bühne [also den sogen.
Prospect) dar, vor der eine Menge vornehmer Zuschauer stehen, meistens dem Beschauer
den Rücken zuwendend. Die Bühne präsentiert vorne den Harlekin und einen Mann
40*
602 Fr. Zarncke, Christun Reuter. [U8
in vornehmer Kleidung , der einen Geldbeutel in der Hand hält und sich im Kopfe
krauet. Im Prospect vorne ein Arzt mit dem Hamglase, ganz hinten ein Aldtymist
im Ofen ein Decoct umrührend,
Exemplar in Berlin.
Nach Gottsched^s Angaben im NÖth. Vorrath /, 269 ist im Jahre 4700 in Leipzig
eine neue Ausgabe erschienen, die mir nicht bekannt geworden ist.
3. Der schlimme Cansenmacher.
!Cer fd^ßtnme | Saufentnad^er, | 33enen red^tfd^affenen | SlbDocaten, j
Unb fonftcn | einem teben curiofen Sieb^aber | jur ©elufttgung, | Denen ©ofen
aber | gurSSSamuns, | 3n einem |@(]^au«®))ie(e| artig botgeftellet. | (Drucker-
stock) I Sei^jig, brudtd 3mmanue( Xie^e, | Anno 1704.
460 richtig bezifferte Seiten 8^, Signatur ä — S. Rückseite des Titels leer. Die
5 Blatt einnehmende Vorrede ist noch unbeziffert; dann beginnen die Zahlen sogleich
mit 45.
Exemplar in Berlin.
ZWEITER MHMG.
Auszüge aus den Acten.
Lange habe ich geschwankt, bis zu welchem Umfange ich die Auszüge aus
den Acten zum Abdrucke bringen solle, bin aber schliesslich zu der Ueberzeugung
gelangt, dass es sich empfehle, lieber etwas zu viel als zu wenig mitzutheilen,
um so mehr als uns ja die Hauptacten, die bei der Universität ergangenen,
welche die Denunciationen, Verhöre, Verurtheilungen Christian Reuter's enthielten,
gänzlich fehlen. Was ich im Folgenden mitgetheilt habe, ist vollständig gegeben,
einschliesslich selbst der Adressen, der Anreden und Subscriptionen. Auch diese
gehören zur Veranschaulichung der Verhältnisse, oft {für den, der sie zu lesen
versteht) auch der augenblicklichen Situation, und so konnte ihnen der wenige
Raum, den sie einnehmen, wohl gegönnt werden.
I. Christian Reuter und die INüllerischen Erben.
1695/96.
A. Leipziger StadtarchlT XLYI. 152. (Bficfaercensnr- Acten,
Yol. n. 1691—1705).
(Nr. 4—6.)
1 . October S — 7 : Vernehmung der Wittwe Müller, Heybeifs und Brandenburger* s.
Den 5. Octobr, 4695.
Fr. Anna Rosina, Eustachij Müllers nachgelaßene Witwe,
Erschien auf erfordern und ward ihr vorgehalten, wasmaßen E. lobl. Uni-
versität E. E. Hochedl. Rathe hinterbringen laßen, daß sie sich alda wegen
einer in Druck herausgekommenen Gomoedie beschweret, Dahero Wolgedachter
Rath vor nöthig erachtet hätte, weil diesfalls bey Ihm nichts gesuchet wor-
den, sie, was es damit vor Bewandnis habe, und warum sie es nicht aufn
Rathhause gesuchet, zu vernehmen.
Worauf dieselbe Zur Antwort gab, daß sie sich zwar obbemelter Go-
moedie nicht angenommen, noch dieserwegen einigen Verdacht auf iemand
gehabt, nachdem aber bishero des Nachts nicht allein etliche Personen vor
ihr Haus gekommen und sowol vor als auch gar zum Fenster hinein geruffen
'^
604 Friedrich Zarncke, [150
hätten »ach die ehrliche Frau«, und diese Worte »Schelmufskyd) darbey
gebrauchet, überdies des Abends Jungen vors Haus getreten und darvon
gesungen, sondern auch Griebner, Herrn L. Griebners Sohn, gestern
mit ihrer Kinder Informatorn davon geredet, und daß solche gedruckte Go-
moedie auf sie 'gemachet sey vermeldet, mit weiterer Anführung, als ob in
solclier das in ihrem Hause befindliche neue Gebäude übern WaBertrog ganz
deutlich enthalten wäre, hiemechst auch an dem sey, daß zweene Studenten,
nahmendlich Kr eil und Reuter, bey ihr gewohnet, welche sie aber, weil
dieselben keinen Pfennig Miethzins entrichtet, nicht länger bey sich leiden
wollen, und sie dahero dieser Gomoedie halber einigen Verdacht auf dieselben
gehabt, so hätte sie dieses bey E. löbl. Universität denunciret, es würde
auch noch iezo daselbst gedachter Praeceptor deswegen vernommen. Bran-
denburger habe imterschiedliche Exemplaria von solcher Gomoedie ver-
kaufil, bitte daß ihm dergleichen untersaget werden möchte, indem sie
gar sehr besorge, wofeme diesem Geschrey an ihrem Hause nicht gesteuert
würde, daß dadurch leichtlich gros Unglück entstehen möchte, indem ihr
ältester Sohn heute oder morgen heimkommen und es nicht leiden würde.
Martin Theodor Heybey, Buchhändler alhier.
Erschien auf gleichmäßiges erfordern und meldete auf befragen, dafi er
vorherbeniemte Gomoedie, nachdem selbige von Herrn M. Em est i vor U.
Tagen censiret worden sey, bei Brandenburgern habe drucken lafien,
wie denn auch das geschriebene Exemplar mit der Censur bey selbigen
annoch befindlich wäre. Solches hätte er anfUnglich von einem Purschen
in blauer Kleidung, der bey dem Advocaten Hm. Gözen sich aufhalte, deBen
Namen er nicht wiße, bekommen, und habe derselbe darbey gesagt, daS
sie es von einem Comoedianten empfangen , und daß solche Gomoedie be-
reits zu Nürnberg gespielet worden sey; es wäre auch ein ander Student,
namens Reuter, bey obgedachten Purschen gewesen, als ihm diese Go-
moedie zu drucken gebracht worden, der jenen wol würde zu nennen wiBen.
Wie er, Heybey, diese Gomoedie censiren laßen, hette Herr M. Ernesti
gesagt, es schiene, als ob solche iemand beträffe, doch hoffe Er, daß sich
niemand deßen annehmen würde. Er habe deren bereits 400. Exemplaria
verkaufft, und düncke ihm nichts anzügliches darinne zu seyn als etliche
Proverbia^), dergleichen Hr. Weiße in seinen Schrifften öffters gebrauche.
^) Nur dies eine Wort ist zu Protokoll genommen; vielleicht ward auch noch
»Der Tebel hohl mera, )>£i sapperment« u. A, gerufen,
2) Dafür heisst es in Heyhey' s Aussage vom 22. October » Sprichwörter«, d. h.
Redensarten, hier volksthümliche Wendungen, nicht Sprichwörter in unserem Sinne.
Vgl. in Weise's Markgraf von Ancre : »Carl, Wo ist endlich der Görper blieben?
Leo, Nirgends und allenthalben. Carl, Der Herr Bruder versucht mich heute
mit dunkeln Sprichwörtern«. — So ist z. B. von Weise das »Wirthshaus zur gül-
denen Laus«, die »Frau Mutter Sprache«, vielleicht auch die beliebten Scheltworte
Rabenaas, Bärenhäuter u. ä., die Eselswiese, Redewendungen wie »Zeit hat Bhre«,
»Wer läßt fragen?« »Was giebts Junges?« u, s. w. , manche Namen wie Ursel,
Blandine, Courage ; ja selbst in Betreff der für Reuter besonders bedenklich gewor-
denen Redewendung »So wahr ich eine ehrliche Frau bin« hätte er sich auf^^"
^^^] Chhi8tian Recter. 605
Hierauf ward ihm angedeutet, daß er ein Exemplar mit dem darauf
befindlichen Holzschnitte^) herauf geben solle.
Johann Christoph Bandenburger
Gestehet auf befragen, daß er mehrbemelte Gomoedie von Heybey em-
pfangen und gedrucket, produciret zugleich das geschriebene Concept hier-
von, samt Herrn M. Ernesti darauf befindlicher Censur, saget darbey fer-
ner, daß der Autor ein Student sey, und Heybey solchen wol kennen
würde. Es wären 600 Exemplaria von ihm, iedoch die wenigsten mit dein
vorne anstehenden Holzschnitte, gedruckt worden.
Den 6. Octobr. 4695.
Ist in Namen derer Herren Bttcher-Commissarien dem Buchhändler Martin
Theodor Heybey durch mich endesbenanten angedeutet worden, daß er
bis auf weitere Verordnung von obbeniemter Gomoedie femer kein Exemplar
verkauffen solle. Welches demselben in seinem Buchladen selbst vermel-
det habe.
Joh. Andr. Ruh tisch NPG & jur. Begistrator mpr.
Den 7. Octobr. 4695.
Wurde Martin Theodor Heybey anderweit aufs Rathhaus erfordert, und
nochmals befraget, ob er nicht wüste, wie diejenige Person in blauer Klei-
dung, welche diese Gomoedie ihm zum Druck ofiferiret, mit Namen heiße?
Worauf er zwar solches anfänglich mit nein beantwortet, endlich aber, nach-
dem er sich eine Weile besonnen , vermeldet , wie ihm iezo beyfalle , daß
derselbe Bär heiße, und ist sodann das ihm gestriges Tages beschehene Ver-
bot, solche Gomoedie weiter niemand zu verkauffen, de novo wiederholet
und er also dimittiret worden.
Joh. Andr. Ruh tisch NPG d: jur. Begistrator mpr.
2. October 7 : Klagschrift der Witiwe Müller an den Stadtrath.
Denen Magnificis, Hochedlen, Vesten, Großachtbahren, Hochgelahrten,
Hochweisen, deß Hochlöbl. Stadt Regiements zu Leiptzigk Hooh-
verordneten Herren Bürger Meistern und Rathsmännem, Ihren
Hochgeehrten gebietenden Herren.
Praes. d. 7. Octobr. 4695.
Magnifici, Hochedle, Veste, Großachtbare, Hochgelahrte,
Hochweise, Hochgeehrte gebietende Herren.
Bey E. Hochedl. und Hochwdl. Rath kan ich ungerüget nicht laßen, wie
von einigen meinen wiederwärtigen auf mich und meine Kindere alhier ein
düngen bei Weise ^ berufen können. So z, B. im Bäurischen Machiavell: »So will
ich keine ehrliche Gerichts-Scholtzia sein, wo Euch nicht« u. s. w, , und in der
Verkehrten Welt: »Ists nicht wahr, ich bin die ehrlichste Handels-Frau in der
Stadt?«
^) Das ist hier wie in Brandenburger' s Aussage ein Versehen für Kupferstich;
in dem Klagebriefe der Wittwe Müller und in Reuiefs wie Heybey's Aussagen findet
sich die richtige Angabe,
I
606 Friediich Zarnckb, [452
schimpffliches Pasqvill, so in unterschiedlichen Bogen Pappiere bestehen soll,
mit einem Kupfferstttck, darauf mich alB eine weibes Persobn abbilden und
darunder diese werte sagen laßen ^@o xsi^x a(g vSs^ eine e^rüd^e ^m Bin^
welches, wie verlauten will, Johann Christoph Brandenburger alhier
Buchdrucker gedrucket, und Martin Theodorus Heubein Buchftthrer albier
in groBer menge albereit, mir und denen Meinigen zum höchsten Schimpff
öffentlich und ohne scheu verkauffet haben soll, und aber ich so schlechter
Dinge hinter solche Pasqvillanten zu kommen nicht vermag, ehe und bevor
so wohl der Buchdrucker Brandenburger, wer ihm solches zu drucken
bracht, alß auch der Buchführer Ueubein, wer solchen Schimpffiichen
Pasqvills Verleger, und zwar ieder mit seinem £yde anzeigen mufi, flber-
diß mir zu Ohren kommen, wie nicht nur solches Pasqvill noch häuffiger
gedrucket und divulgiret , sondern auch diso Michaelis MeBe gar durch die
angelangende Comoedianten gespiehlet werden solte;
Wann aber. Hochgeehrte Herren, ich solchen großen Schimpff, so mir
durch solches Pasqvill angethan wird, zuverschmertzen nicht vermag, hin-
gegen die Pasqvillanten nicht nur, sondern auch die Pictores, Sculptores et
Typograpbi librorum famosorum , so solche drucken und zum verkauff be-
fördern, gleichfalls secundum constit. Crim. Carol. V und GhurfÜrstl. Sachs.
Constit. exemplarisch zu bestraffen;
Alß wil Ew. Magnific. Hochedl. Großachtb. und Hochwdl. ich demüthigst
angesuchet haben, Sie geruhen großgünstig, solchen Buchdruckern Branden-
burgern nicht nur, daß Er also bald den Autorem, wer ihm solches zu
drucken bracht, mit seinem cörperlichen Eyde, auch alle und iede Eiem-
plaria, so er noch etwann unter der Preße oder sonst noch liegen haben
möchte, alsofort ohn allen Verzug anzeigen und herausgeben, alß auch den
Buchführer Heübein, daß er gleichfalls, den Verleger, und was Er noch
an Exemplaren von solchem Pasqvill in seinem Buchladen in Druck liegen
habe, jurato darstellen, auch so fort beyderseits in Persohn sich sistirea,
über solche unternommene höchst straffbare Begünstigungen rede und ant-
wort geben sollen , citiren , sodann solche confisciren , auch an die auf die
ietzige Michaelis [meße] angelangende Comoedianten, daß sie dergleichen Pas-
qvill in ihrer Comoedia nicht exerciren, noch ferner durch den Kauff divul-
giret werden solle, bey hoher Straffe an allerseits inhibiren zulaßen, wie ich
dann dise höchststraffbare Pasqvill Sache E. HochEdl. Hochwdl. zur Inqui-
sition und Bestraffung hiermit anheim stellen und übergeben thue. Geben,
Leiptzigk am 7 Octobr. 4 695.
E. HochEdl. Hochwdl. Baths
Demüthigste
Anna Bosina Moll er in W.
Hierauf hat E. E. Hochw. Bath dieser Stat über das an Martin Theodor
Heybeyen schon gelhane Verbot auch unterm Bathhause, das geklagte Werck
nicht zu verkauffen, Verbot thun laßen, am 8 Octobr. 4695.
^53] Christian Redtbr. 607
3. October IG — 22: Vernehmung Bähr's, Reuter* s und Heybey^s.
Den 10. Octobr: 4695.
Samuel Rudolph Bahr,
Erscheinet und saget auflf Befragen, vor 8. oder 9. Wochen were Reuther
zu ihm kommen und gesaget, er hette eine Comoedie und Nachspiehl,
ob die Comoedianten herkähmen, die könten es agiren, es were ein artlich
Ding. Hernach were er mit Heubeinen zu ihn in blauen Engel kommen
und gesaget, er hette die Comoedia Hr. M. Ernesti zur Censur gebracht,
er wolte es aber nicht censiren, er, Bahr, solte mit hingehen und spre-
chen, er hette Sie von Comoedianten bekommen, er, Reuther, wolte es
nicht gerne wißen laßen, daß er Sie gemachet. Er were aber nicht mit^
gangen, sondern Reuther und Heubein. Dieser, als er vom Rathhause
kommen^], hette gesaget, daß er ausgesaget, daß er, Bahr, die Comoedie
von Comoedianten bekommen ; er hette diesen wiedersprochen und zu H e u -
b einen gesaget, daß er solches nicht als ein ehrlicher Mann geredet. An-
iezo were Reuther hier in Collegio gewesen und zu ihn gesaget, er solte
nicht sagen, daß die Comoedie von ihm herkähme, sondern als wenn er sie
von Comoedianten bekommen. Heubein hette gestern zu ihn gesaget,
Reuther hette gedacht, daß er diese Comoedie vermehren wolte.
Actum ut supra.
Christophorus Scheffler mpr. Acad: Actuarius.
Den 12. Octob: 1695.
Christian Reuther,
Erscheinet auff Erfordern und saget, es were ihm die Comoedie Don
ber e^rßd^en ^^Vi bekant, gestehet, daß er selbige gemacht, hette Sie fin-
giret und auf niemand gemacht. Gestehet, daß er bey der Müllerin im
Hause gewohnet, und daß er ie zuweilen von ihr gehöret, daß Sie gesaget
»fo XooifC td^ eine d^rltd^e grau 6in*, es weren lauter nomina ficta und eine
Begebenheit, so nicht vergangen, sondern von ihm fingiret; von dem ältesten
Müllerischen Sohne hette er den Schwur nicht gehöret, sondern von einen
zu Merseburgk, welcher 4. Wochen weggewesen, und als er wiederkommen
frembde reden wollen. Von dem Kupffer wüste er nichts und mttste davor
der Buchführer Red und Antwortt geben; die Comoedie hette er allein ge*
macht und ihm Niemand geholffen, hette Sie aus den MoUiere meistens ge*
nommen. Negiret, daß nach der Censur er ein und anders darzugebracht.
Negiret, daß er solche Comoedie auff die Müllerin und ihre Töchter ge-
machet, sondern könte mit guten Gewißen seh wehren, daß alles fingiret;
negiret, daß er durch den Doctorem Medicinae Feinlanden Dr. Schönfelder
aus Schlesien gemeint.
Actum ut supra.
Christophorus Scheffler mpr. Acad: Actuarius.
1) Doch wohl am 7. October, vielleicht schon am 5, October, wo freilich Heybey
Bähr's Namen noch nicht genannt hatte.
608 FitiEDRiCH Zarngkb, [154
Den 28. Octobr. 4695.
Martin Theodor Heybey
Erschien auf erfordern, und ward nochroahis wegen der Comoedie, bie
el^rltd^e f$rau tituliret, vernommen. Sagte darauf aus: Es wäre an dem, daB
er die Comoedie von Reutern bekommen, habe sie zwar erstlich nicht an-
nehmen wollen, nachdem ihm aber Reuter versichert, daß niemand darinne
benennet, auch niemand sichs annehmen würde, so hette er es zu Hr. M.
Ernesti zur Censur geschickt, der ihn aber selbst zu sich begehret und
nur wegen des angehenglen Ätnbtauffcn'Sd&mauffc^ etwas erinnert *) , Im tlbri-
gen aber das Werk censiret, und er darauf Reutern 10 Thlr. davor be-
zahlet, und es zu drucken gegeben, weil ein Verleger die Sachen nicht ver-
stünde, und wenn etwas censiret, es daran genug zu seyn vermeinte.
Reuter habe erstlich vorgegeben, er habe die Comoedie von Gomoedianten
bekommen; Gestehet nicht, daß er vorgegeben. Rar habe die Comoedie
gemacht, noch auch daß Reuter dieselbe vermehren wollen ; Gestehet, daß
er das Rild vor sich darauf machen laßen, damit es desto beßer abgehen
möchte, wie insgemein vor Romanen allerhand inventiones pflegten gemacht
zu werden. Gestehet, daß er nach dem Verbot Exemplarien an Buchftthrer
gegeben; was wären ihm selbige sonst nüze gewesen, weil er doch ein-
mahl die Kosten drauf gewendet gehabt, Wil nicht wißen, daß Reuter
gesagt, er weite nicht gerne wißen laßen, daß er die Comoedie gemacht;
Reuter habe gesagt, er wolle ihm davor stehen. Er 2} habe etliche Sprich-
wörter hineingsezet, die er sonst gehöret.
Joh. Andr. Ruh tisch NPC & jur. Registrator mpr.
4. Nov./ß. December: Urtheü der Leipziger Schoppen, Heybey betr.
Denen Ehrenvesten Großachtbahren Hoch- und Wohlgelahrten, Hoch
und Wohlweisen Herren ßürgemeister und Rathe zu Leipzigk
Unseren günstigen Herren und guten Freunden.
Unser freundlich Dienst zuvom, Ehrenveste Großachtbahre,
Hoch und Wohlgelahrte, Hoch und wohlweise, günstige
Herren und gute Freunde,
Als Dieselben Uns gehaltene gerichtliche registraturen Martin Theodor
Heybeyen betreffendt benebenst einer Frage übergeben, und sich des
rechten darüber zu belemen gebethen haben.
Demnach sprechen wir Churfürstliche Sächsische Schoppen
zu Leipzigk darauf vor recht,
Daraus so viel zu befinden, daß Martin Theodor Heybey seiner Be-
^) Vielleicht ward auf sein Verlangen der Zusatz im Personenverzeichniss zu
Harleqvin »FreyHerr zu Narrenshaußen « als für den Adel anstössig getilgt. Sonst
finde ich im Manuscript keine Correctur, die auf den Censor zurückgeführt werden
könnte.
2) Doch wohl Reuter ; denn unmöglich kann sich Heyhey hier ganz unnötkig als
Mitarbeiter hinstellen, während er oben ausdrücklich erklärt hat, dass ein Verleger
von diesen Sachen Nichts verstehe.
455] Ghkistian Reuter. 609
gttnstiguDg halber umb Zehen Thaler zu bestraffen, sowohl zu Erstattung
derer verursachten Unkosten, nach vorgehender Liqvidation und richterlicher
ErmdBigung, anzuhalten. Von rechts wegen. Zu Uhrkundt mit unsem In-
siegel versiegelt.
M. Novembr. 4695.
Churfttrstliche Sächsische Schoppen zu Leipzigk.
Den 6. Decembris 4695. h. X. audita ist dieses Urthel Martin Theodor
Heybeyen publiciret, vorgelesen und demselben nachzukommen andeutung
gethan wx)rden.
Gotfried Gräve, Oberstatschr. mpr.
5. December 9: Reclamation Heybey^$.
Denen HocbEhrwürdigen, Magnificis, HochEdlen, Vesten, Hoch- und
Wohlgelahrten auch Hochweisen Herrn Valentine Alberti, der
H. Schriffl Hochberühmten Doctori, des Chur- und Fttrstl. S. Con-
sistorii alhiero hochverdienten Assessor!, wie auch P. P. des Großen
FttrstenCoUegii Collegiato, Decemviro und derer Stipendiaten
Ephoro daselbsten,
so wohl
Des Hochlöblichen Stadt Regiments Hoehansehnlichen Herren Bürger
Meistern undRath, Churfürstl. Sachs, gnädigst verordneten Bücher-
Commissarien p. p. Meinen HochgeEhrtesten Herren und Großen
Patronen p.
Praes. d. 9. Decembr. 4695.
HochEhrwürdiger , Magnißci, HochEdle, Yeste, Hoch-
und Wohlgelahrte, auch Hochweise, HochgeEhrteste
Herren und große Patroni.
Ew. HochEhrwürden, Magnificenz-HochEdi. Herrl. und Hochweißhl. haben
auff eingehohltes rechtl. Erkänntnus am 6. dieses, dieweil ich wieder verboth
das Buchl., bte (Sl^xßd^e SratD 3^ $(egtne benahmt, verkaufft haben solte, mir
40 Thl. Straffe, nebenst allen veruhrsacheten Unkosten zu erlegen angedeutet.
Wann aber 4.) das Buchl., wie albereit dargethan, censiret worden, und
dahero 2.] in solchen Fall es das Ansehen hat, als ob ein schlecht verboth
so harte nicht binden kOnte, sondern 3.), ehe mit der Schärffe zu ver-
fahren sey, eine poenal prohibition vorhergehen müße, so aber in dieser
Sache niemals geschehen; sonsten auch 4.) nach dem verboth ich mich aller-
dings und zwar dergestalt vorgesehen, daß ich an Niemand Hiesigen und
dem die darinne mir anfangs ganz unbekannte, nachgehends aber durch ge-
wisser Persohnen auff sich selbst gerichtete application erst public gemachte
historie wissend, etwas weiter verlassen, hingegen 5.) nichts straff bahres
begangen haben werde, wann nach albereit beschehenen Geständnüs ich
etwas weniges an einen auswärtigen Buchführer, der keine Wissenschafil
von gedachter historie gehabt und hier nichts wieder verkaufft, verthan,
sintemahl diese distrahirung zu Niemands Beschimpfung angesehn gewesen,
610 Fbiedrich Zajuicke, [136
bey welcher Bewandnüs 6.) animo et occasione iojuriandi cessante auch ver-
both und Straffe cessiren wird, zu dem ich doch 7.), obwohl mit Fremden,
dem iezigen Anführen genias, ohne negligirung des schlechten Verboths,
wegen der Yerlagskosten , zu handeln ich vermeinet^ weiter nichts vor-
genommen und von allem ferneren Handel aus respect gegen die gnädigst
verordnete BttcherCommission abgestanden, und also 8.) lieber Schaden leyden
als ungehorsahm seyn wollen, welches dann 9.) mich sehr unvermögend ge-
machet, die angesonnene Straffe und Unkosten zu erlegen, dabey aber
40.)^) hoffen lasset, es werde mein Zustand, der bey mir als einen jungen
Anfänger, dem eher Mittel, sich recht zu Stabiliren, vorzuschießen als zum
baldigen min durch Straffen zu entziehen seyn wollen, so schlecht ist, daB
ich manche Woche kaum mit meiner Einnahme an das qvantum der dictirteo
Straffe gelangen kann, in hohe Consideration genommen und die Schärffe
des strengen Rechtens durch sorgfältige Lindigkeit überwogen werden, Ge-
stalt denn dieses Alles und noch viel anderer wicht{ig]er motiven Hochgeneigt
zu überlegen, hingegen dieses mein vielleicht einzig und allein aus allzu-
weniger Erwegung herrührendes und erstes wenige Versehen nicht so hoch
zu exaggeriren, und mich mit Abforderung einiger Straffe und Unkosten vor
diesesmahl mild richterlich zu verschonen ich gehorsabm bitte , darneben zu
allen respect und genauer Observanz derer mir künfitig zukommenden Befehle
und Verordnungen mich verpflichte und in Versicherung erfreulieber re-
solution iederzeit verharre
Ew. HochEhrwürdl: Magniflcenz- HochEdl.- Herrl.- und
Hochweißl.
Datum Leipzigk Martin Theodor Hey bey mpr.
Den 9. Decemb: 4695. Buchhändler
Rl. sol die Straffe erlegen, hernach bitten. Dieses ist Martin Theodor
Heybeyen auf dem Rathhause mündlich angedeutet, am 46. Decembr. 4695.
welcher bis auf die Meße um frist gebeten, und so dann die Straffe za er-
legen versprochen.
6. Januar 20: Abermalige Reclamation und Bitte Heybey's.
Denen Magnificis, Hoch und WohlEdlen, Vesten, Hoch- und Wohi-
gelahrten. Hoch und Wohlweißen Herren Bürgermeister und Rath
der Stadt Leipzig p. Meinen Hochgeehrtesten Herren und großen
Patronen Leipzig.
Praes. d. 20 Januarij 4696.
Magnifici, Hoch und WohlEdle, Veste, Hoch und
Wohlgelahrte, Hoch und Wohlweiße
Hochgeehrteste Herren, Große Patroni.
Ob ich wohl in der gänzl. Meynung gewesen ^ Ewr. Magnif. und Hoch-
Adel. Herrl. würden meiner neulichsten Supplic hochgeneigt deferiret haben,
^) geschrieben steht nochmals 9,
4^7] Ghristun Reuter. 611
und die mir zuerkante vermeinte Straffe, in Ansehung ich ein junger An-
fänger, das wenige so ich in Vermögen habe, von ehrlichen Leuten erborget,
erlaBen haben, So muB ich vor iezo dennoch nicht ohne sonderbahre 6e-
mttths-Kränkung vernehmen, wie daß ich nicht nur wegen Erlegung ob-
benandter Straffe citiret, sondern auch überdies ein Expens Zettel von
4 Thlr. 40 gr. zugeschicket worden. Nun ich zwar vermeinet, meine an*
geführten Ursachen würden relevant genug seyn zu tilgung dieser zuerkandten
Straffe, sintemahl das Tractl. von Tit. Herr M. Ernesti censiret, und also
nicht mir zu imputiren, sondern derjenige solte es verantwortten , durch
deBen ZulaBung und permission es ist gedruckt worden; damit ich aber
dennoch meinen schuldigen gehorsam beweise, so erbiethe mich zu erlegung
der Uncosten , die zuerkandte Straffe aber werden Ewr. Magnif. und Hoch-
Edl. Herrl. mir in ansehung obangeführten Ursachen hochgeneigt erlaBen.
Welche hohe Gnade ich zeit Lebens werde rühmen und dafür verharren
Ewr. Magnif: und Hochadel. Herrl.
gehorsamster
Leipzig d. 20 Januarij Martin Theodor Heybey mpr.
1696. Buchhändler.
Den Sl. Januarij 1696 hat Martin Theodor Heybey die zuerkanten
1 0 Thlr. straffe nebst denen GerichtsgebUren erlegt, und sind ihm auf sein
Bitten von der Straffe vier Thaler zurück gegeben und erlaBen worden.
1696/97.
B. Leipziger Stadt-Archiv XLTL 157. (Commission Acta Annen Bosineii
Möllerin wegen einiger schimpfliehen Schrllfteii auf ihren Sohn und
Tochter betr. Anno 1696.)
(Nr. 7—17.)
7. August 15: Klagsdirift der Wittwe Müller an den Churfürsten.
Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friderico
Augusto, Herzogen zu Sachßen (folgt der ganze Titel) Meinem
Gnädigsten Herrn
Praes. d. 20. Aug. 4696.
Durchlauchtigster Churfürst ,
Gnädigster Herr,
Eure Churfürstl. Durchl. geruhen gnädigst Ihr von mir mit betrübnis-
vollen gemüthe in aller Demuth unterthänigst hiermit vortragen zu laBen,
wie daB ohnlängst ein so genanter Studiosus, nahmens Christian Reuther,
nach Art einer Comoedie und unter dem Titul bte (Sl^rßd^e i^au eine üppige
und höchst schimpfifliche Schmähschrifft und Pasqvill auf mich und meine
Rinder, nebst andichtung schändlicher Zunahmen, zu unserer grösten Be-
schimpfung nicht nur in Schrifften verfertiget, sondern auch selbiges ver-
mittelst eines heimlichen Verlegers, iedoch |: wie alle PaBqvillanten Pflegen :
612 Friedbigh Zarngkb, [<58
ohne BeyfttguDg seines^ ingleichen des Truckers und des Verlegers Nahmeos.
auch auBenlaBung des Orihes, gar zum öffentlichen Truck befördert und
verkauffen laßen; Nun ist zwar obgenanter Pasqvillante , nachdem Yorhero
viele indicia wieder ihn sich geäußert, bey hießiger Löbl. Universität in
gefängliche Hafft genommen und wieder ihn mit der inqvisition verfahren,
auch nach dem Er zu oben berührter SchmähSchriffl sich als autor bekennet,
und daß darinne auf meine und derer meinigen Beschttmpffung Er sein ab-
sehen gerichtet, eingeräumet, Ihm die relegation auf einige Jahre zuerkant
worden, alleine es hat die execution solches Urthels der Pasqvillante unter
den praetext, eine defension wieder selbiges zu fuhren, biß dato gehindert,
da dann inzwischen eine auf meinen in vorigem Pasqvill unter den schimpff-
lich angedichteten Nahmen Schellmuffsky eingeführten Sohn gerichtete ander-
weitige Schmähschrifft unter dem Titul ©ci^eQmuffdlV Steifebefd^reibttiig mit
gleichmäßiger Verschweigung des autoris , Truckers u. Verlegers nicht nur
bereits in öffentlichen Truck gekommen und hin und wieder vertrötelt wor-
den , sondern auch gewiße Nachricht eingelauffen , und biemächst die ge-
meine sage ist, daß noch zwey üppige und schändliche schaiähschrifften auf
meine beiden Töchter bereits unter der Trucker Preße wären und ehestens
herauskommen würden, über welcher Verfertigung wieder den vorigen Pas-
qvillanten Reuthern auch einige indicia sich hervorthun wollen;
Wann dann so wohl das Verfertigen und Dichten, alß auch das Truckeo
und Verkauffen derer Schmäh-Schrifften in denen Rechten
L. un. Cod. de famos, libell.
Ordin. Crim. Carol. V. Art. 4 40.
Recess. Imper. Zu Speyer de anno 4529.
dito zu Augspurg de anno 4530
dito zu Regenspurg de anno 4544
dito zu Erffurth de anno 4567
und andere mehr bey leibes und anderer hohen straffe verbothen , auch so
dießen pasqvillanten ohn gebührliche ernstliche Straffe länger zugesehen
werden solle, viel unheyl mit boßer Nachfolge von anderen und sonst daraus
entstehen würde;
Alß gelanget an Eure Churfürstl. Durchl. mein demüthigstes bitten, Sie
wollen , und zwar, weilen derer beeden annoch unter der Preße sich be-
findenden schmähschrifften [halber] periculum in mora , derer bereits ver-
fertigten und verkaufften halber aber, bey der von Trucker, Verleger und
Verkauffer verwürckten Straffe Eur Churfürstl. Durchl. hohes Cammerinleresse
versiret, förderlichst an hießige Herren Bücher-Commissarien, daß solche
nicht nur unverzüglich in allen Truckereyen allhier visitiren, was von oben
erwähnten Pasqvillen sich befindet, hinwegnehmen, sondern auch die
hießigen Buchhändler, die von denen verfertigten in ihren Verkauff habenden
exemplaria eydtlich anzeigen und ausantworten laßen, wieder die darunter
befindlichen Verbrecher mit verdienter Bestraffung und, wo vorhero nötbig,
mit der Inquisition verfahren, zu dem Ende die von mir angebende indiciB
und zeugen untersuchen und abhören, auch zu beobachtung Eur. Gburfürstl<
Durchl. hierbey versirenden Cammer Interesse , von allen ausführlichen Be-
4 59] Christian Rbutbr. 613
rieht erstatten sollen, gnädigst zu rescribiren geruhen. Hierdurch vollbringen
Eur. ChurfUrstl. Durchl. ein Werk heylsamer Justiz, ich aber verbleibe dafür
lebenslang
Eur. Cburfürstl. Durchl.
Datum Leipzig, In aller Demuth Unterthänigste,
den 45. Augl. anno 4696. Anna Rosina Möllerin, Wittib.
Conc. Dr. Pfaffe.
8. August 21 : Befehl des Churfürsten an die Bücher-Comtnission.
Dem Würdigen und Hochgelahrten, Unsem lieben Andächtigen und
getreuen, Herrn Yalentino Alberti, der heiligen Schrifift
Doctorn , Professorn , des Consistorij Assessom , auch dem Rath
zu Leipzig.
Praes. 27. Aug. A. 96.
Von Gottes gnaden Friedrich Augustus, Herzog zu
Sachßen, Jülich, Cleve und Berg, auch Engern und
Westpfalen p. Churfürst p.
Würdiger, Hochgelahrter, lieben Andächtiger und getreue^). Welcher-
gestalt sich Anna Rosina Möller in, Witbe, zu Leipzig, daB eine schimpff-
liche Schrifil aufif sie und ihren Sohn, unter dem Titul : üDte &fxliäft Stau p.
und ®äftümvi^ihf dteigebefc^retbung p, in Druck gegeben und zum öffentlichen
Verkauff gebracht worden, auch noch zwey andere der gleichen Schmäh-
schrifiPten auff ihre Töchter unter der Preße sein selten, beschweret, und
was sie dahero demüthigst gebethen, das ist aus dem Inschluß zu ersehen.
Darauff ist hiermit Unser Begehren, Ihr wollet die bereits vorhandene
Schritten in den Buchläden weg- und in Verwahrung nehmen, auch ob und
was annoch von den andern Zwey SchriSten unter -der Preße seyn soll, Er-
kundigung einziehen , nach befinden den Druck inhibiren , und Uns der
Sachen beschaffenheit, mit wiedersendung des Inschlußes^) unterthänigst be-
richten. Daran geschieht Unsere meinung. Datum Dreßden d. 21. Augusti
4 696.
Andreas Beyer mpr.
9. August 37 : Confiscationen.
Nachdem auff ergangenen gnädigsten Befehl von denen Herren Bücher
Commissariis verordnet worden, die so genannte (Sffxliäfe f^rau p. und @6ftU
mn^ih) dleigeSefd^teiiung zu confisciren, So habe in die allhiesigen Buch-
läden, wie auch zu einigen derer Buchbinder mich begeben. Und als bey
denen Wohlfarthen^j in Pauliner Collegio von bemelter &)xixd)tn Stauen
2. Exemplaria, von ©d^clmuff^l^ SRcißc ©efd^retbung 3 Stück, hiernechst bey
*) Die Singulare in der Anrede kommen nur dem Dr. Alberti zu, die Plurale
zugleich den Mitgliedern des Stadtrathes.
^) Ist also, da er noch jetzt bei den Acten sich befindet, nicht geschehen.
^) Es gab in Leipzig zwei Buchhändler dieses Namens.
614 Frisduch Zaknckb, j60
Arnold Petri, einem Buchbinder, welcher seine Bute an Auerbadis Hoff
hat, von dem letztern 4 Exemplaria, an deren zweyen die so genaimte
®rog(arttgte 3ungfer^), sonsten aber nirgends etwas angetroffen, So habe
bemelte Exemplaria zu mir genommen und selbige wohlgedachter Commission
einzuliefern nicht ermangeln sollen. Leipzisk am 27. Augusti Anno 4696.
David Bittorff Bttcher Fiscal.
40. September 9: Klagschrift der Wittwe Müller an die Bücher-Commissm.
An Sr. ChurfUrstl. Durchl. Zu SachBen Wohl verordnete Herren Bücher
Gommissarios zu Leipzig Ehrenscbuldiges Memorial.
Praes. 40. Sept. A. 96.
Magnifice, HochEhrwUrdiger und Hochgelahrter
auch
Magnifici, Hoch- und WohlEdle, Veste, Hoch- und Woblgelahrte,
auch Hochweise HochgeEhrte Herren.
Selbigen ist unentfallen, wie Se. Churftlrstl. Durchl. zu SachBen auf mein
demUthigstes suppliciren nicht nur die unter den Titul ^ie (S^rßc^ S^oo
und ©(i^eUmuffdt^ Steige JBefd^teiBung von einem BoBhaftigen PasqviUant«a
bereits in Druck und zum öffentlichen Verkauff gebrachten Zwey schmäfa-
schrififlen in denen Buchl&den weg und in Verwahrung zu nehmen, sondern
auch von denen andern Zwey schmähschriflften , so unter der Prefie seyn
sollen^ den Druck zu inhibiren gnädigst anbefohlen. Wann dann nadi
ferner von der Sache eingezogener erkundigung ich so viel in erfahrung
bracht, daB derer auf die meinigen femer zusammengeschmierten und an-
noch unter der PreBe liegenden Pasqville halber, auch von derer Autoren
und Orte, wo solche gedruckt werden sollen, der Frau Heinichen Diener
und Herr Philipp Daniel Hugwart gute wiBenschaft haben sollen, maßen
jener jüngsthin,
daß noch eine Opera auf die Mttllerische Familie herauskommen
solte, und hätte Beut er selbige in Garcer gemacht, solte aucii
sehr artig gesetzt seyn,
gegen Hrn. Benjamin Schmolcken Theol. Stud. gedacht, ingleichen hat
dießer Hr. Philipp Daniel Hugwart
daß von der erwehnten Opera eine anzahl exemplaria an einen
gewißen Purschen anhero zum Verkauff würden geschickt wer-
den, wovon er so viel geld, alß Beuter mir schuldig wäre, zu
nehmen und mir also zu meiner bey Beutern habenden Sciiuid
zu verhelffen,
gleichfalls gegen gemelten Hm. Schmolcky gedacht und versprochen, wo-
durch sie beederseits von denen noch künffligen Pasqvillen und von deren
Verfertigung gute Wißenschafft zu haben zur genüge angezeuget, Alß habe
solches meinen in gebühr hochzuebrenden Herren zu beßerer beförderung
*) So also pflegte man das Lustspiel VII, 4 [s, o.) zu nennen.
164] Christian Reuter. 615
gnädigst anbefohlener Erkundigungseinziehung ich berichten sollen, mit an-
gefügter demUthiger Bitte, so wohl Hm. Schmolcky alB auch Hrn. Hug-
warten, beederseits Stud., und der Fr. Heinichin BuchftthrsDiener über
obige vorhin von ieden gegen Hrn. Schmolcken ausgestoßene reden vor
iedes Obrigkeit vermittelst Eydtes umbstandiglich articuls weiße vernehmen,
und sie zu entdeckung ihrer hiervon allenthalben habenden Wißenschafft
ernstlich anhalten zu laßen, auch hierauff der wegen des Druckes genädigst
anbefohlenen Inhibition halber, allenfalls per subsidium, gehörige Verfügung
zu treffen. Solches gereichet zu handhabung heylsamer Justiz, ich aber
bleibe dafür
Meiner in gebühr Hochzuehrenden Herren
Datum Leipzig, Ehrenschuldigsle
den 9. September Anna Rosina Möllerin, Wittib,
anno 4696.
41. September 19: Zweite Klag- und Bittschrift der Wittwe Müller an den
Churfürsten,
Dem Durchlauchtigsten Fürsten und .Herrn, Herrn Frid^rico
Augusto, Herzogen zu Sachßen, Jülich, Cleve u. Berg (folgt
der ganze Titel) p.
Meinem gnädigsten Herrn.
Praes. d. 22. 7br. 4696.
Durchlauchtigster Churfürst,
Gnadigster Herr.
Eur. Ghurfürstl. Durchl. ruhet annoch in gnädigsten Andencken, was Sie
auf meine wegen auf mich und die meinigen, so wohl bereits in Druck ge-
gebene alß auch noch unter der Preße vorhandenen Schmühschrifften be-
schehenes demüthigste Suppliciren an hiesige Herren Bücher Commissarien
untern 24 . Aug. jüngsthin gnädigst anbefohlen.
Wann aber bey einziehung gnädigst anbefohlner erkundigung derer
annoch unter der Preße vorhandenen zwey schmähschrifRen halber die Ab-
hörung einiger unter hießiger Löbl. Universität und anderer Obrigkeiten
Jurisdiction unterworffenen Zeugen nöthig seyn will, gemelte Hrrn. Bücher
Commissarien hingegen an solcher Zeugen ordentliche Obrigkeit gehörige
Reqvisitoriales jener abhörung halber auszufertigen dahero, weilen der tenor
Ihrer obhabenden gnädigsten Gommission auf dergleichen actus sich nicht
erstrecke, bedencken tragen ;
Alß gelanget bh Eur. Ghurfürstl. Durchl. mein in aller unterthänigkeit
demüthigstes Bitten, Sie wollen mehrbesagten hießigen Herren Bücher Gom-
missarien, daß zu bewerkstelligung in obberührter Schmähschrifft Sache
gnädigst anbefohlner Erkundigung und solcher Einziehung Sie förderlichst
von denen bereits angegebenen Zeugen und auch so ich noch angeben
möchte, die so ihrer Jurisdiction unterworffen, über von mir angerügte umb-
stände selbst vernehmen. Dem andern und auswärtigen halber aber ihre
ordentliche Obrigkeit umb gehörige abhörung reqviriren , die aussagen ad
Abfaandl. d. K. S. Oesellscli. d. Wlasenscli. XXI. 44
616 Friedrich Zarnckb, [462
acta bringen und solches alles zu beobacbtung meiner ferneren Nothdurfil
darbey mir communiciren, auch endlich Eur. Churfttrstl. Durchl. zu fernerer
gnädigsten Verordtnung ausführlichen Bericht erstatten, und weiln bei jüngst
geschehener confiscation derer bereits von mir und denen meinigen in Druck
vorhanden gewesenen Schmahscbrifften bey denen Buchhändlern sehr wenig
exemplaria gefunden worden, mir gleichwohl, dafi einer und der andere
deroselben einen ziemlichen Yorrath davon gehabt, und bey der Visitation
verhöhlet, diejenigen, so ich dieBerhalben angeben werde, die exemplaria
erwehnter schmShschrifften vermittelst eydlicher Specification zu ^iren an-
halten sollen, gnädigst zu befehlen geruhen. An solchen allen vollbringen
Eur. ChurfUrstl. Durchl. ein Werck heylsamer justitz, ich aber verbleibe
dafür lebenslang
Eur. Churfürstl. Durchl.
Datum Leipzig,
den 49. 7ber. anno 4696. In aller unterthänigkeit
demüthigste
Conc. D. Pfaffe. Anna Rosina Möller in wittb.
42. ßeptember 33 : Zweiter Befehl des Churfürsten an die Bikher-^Commümn,
Dem Würdigen und Hochgelahrten, Unsern lieben Andächtigen und
getreuen, Herrn Valentine Alberti, der heil. Schrifft Doctorn,
Professom, des Consistorij Assessom, und dem Rathe zu Leipzigk.
Praes. 30. Sept. An. 96.
Von Gottes gnaden Friedrich Augustus, Hectzog
zu Sachßen, Jülich, Cleve undt Berg,
. auch Engem und Westpfalen p. Churfürst p.
Würdiger, Hochgelahrter, lieben Andächtiger und getreue, Euch ist
erinnerlich, was wir euch auf Annen Rosinen Möller in, Wittiben in
Leipzigk, demüthigstes ansuchen wegen der wieder sie und* die ihrigen
herausgegebeneu schimpff liehen Schrifften unterm 84 . Augusti jttngsthin an-
befohlen haben. Wann sie dann mit dem InschluB anderweit einkommen
und nochmahls demüthigst gebeten, wie daraus zu ersehen, Alfi ist hiermit
Unser begehren, ihr wollet Unß, wie obgedachter Unser befehl expediret
worden, mit beyfügung der weggenommenen Exemplarien förderlichst be-
richten, auch im übrigen gebührende Verfügung thun. Daran geschieht
Unsere meinung. Datum DreBden am 23. Septembris 4696.
H. C. Rnoch mpr.
43. October 2: Vernehmung Wermann^s.
Den 2. Octobr. 4696.
Christoph Wermann, Handelsfactor bey dem Heynichischen
Buchhandel
Erschien auf erfordern und sagte auf befragen aus, als Hr. Reuter
unlängst wegen der sogenanten &fxlväfm Stau im carcere gewesen, hätten
unterschiedliche Studiosi in dem Heinichischen Buchladen von demselben
463] Christun Rbctbr. 617
scripto geredet, und unter anderen einer Namens Wilcke, der bey
Leischnern in der Niclasstraße die Stube habe, zu Zeugen gesagt, daB
bemelter Reuter im carcere noch eine andere Opera^) gemacht, welches
er, Wilcke, selbst gelesen und sehr artig befunden, so daß man sie kaum
vor Hr. Beuters arbeit halten sollen. Die Namen der andern darbey ge-
standenen Personen, wie auch die eigendliche Zeit wären ihm nicht bewust.
H. November 6 : Ansuchen der Bücher^Commission bei der Universität , Wilcke
und Reuter zu vernehmen. (Ckmcept.)
An E. lobl. Universität alhier.
Magnifice Domine Rector,
HochEhrwttrdige, WohlEdle, Vesle, Grosachtbare,
Hoch u. Wolgelahrte, Hochgeehrte GrosgUnstige Herrn
und Freunde.
Als bey dem Durchlauchtigsten Churfttrsten zu Sachßen und Burggrafen
Zu Magdeburg p. p. Unsern Gnädigsten Herrn p. sich Anna Rosina Mollerin,
witwe alhier, wegen einer schimpflichen Schrifft auf Sie und Ihren Sohn
unter dem Titel : !£)te &)xtx6ft %xa\x p. und ©d^ebnufdlV 9}etfebef^retbung, auch
noch zwo anderer dergleichen SchmähschriflUen , so auf ihre Tochter unter
der Preße seyn selten, demüthigst beschweret, so haben J. Churfl. Durchl.
Gnädigst uns in der Sache commission aufgetragen, wie beygefttgte ab-
schrifften sub A. u. B. mit mehrern besagen.
Wann wir dann bey deßen gehorsamsten expedition in erfahrung bracht,
daß ein Studiosus, namens Wilcke, der bei Leischnern in der Niclas-
straße die Stube habe, unlängst im Heinichischen Buchladen alhier sol er-
zehlet haben, daß Reuter, als er neulich wegen der so genanten &fxlxäftn
f^au in carcere gesessen, noch eine andere Opera gemacht, die Wilcke
selbst bey ihm gelesen und gar artig befunden hätte.
Als ersuchen vigore commissionis E. Magnific. und die Herren wir hier-
mit, Sie wollen so wol besagten Wilcken als Reutern förderlichst des-
halben vernehmen, von wem und auf weßen Verlag, auch unter was Tituln
die Schrifften gedruckt worden, und was sich vor umstände mehr an Hand
geben werden, befragen, Ihre außage niederschreiben, und uns darvon be-
glaubte abschrifft ad acta zu des Gnädigst Anbefohlenen ferneren bewerk-
stelligung ausfertigen laßen; wir verschulden es bey ereignender begebenheit
ebenmäßig; und sind E. Magnif. und denen Herren annehmlich zu dienen
willigst. Signatum Leipzigk den 6. Novembris 4696.
Ew. Magnific. und derer Herren
dienstgeflißene
V. A. D.2)
^j Ursprünglich stand: ein anderes scriptum auf die MÖllerischen. Wahr-
scheinlich beim Vorlesen auf Betrieb Wermann*s corrigiert.
2) d. Ä. Valentin Alberti Doctor, der Vorsitzende der ßücher-Commission,
3) d. h. Der Rath zu Leipzig.
618 Freedbich Zarngke, [^64
45. November 24 : Bericht der Bücher-Commission an den Churfiirsten,
[Concept.)
Durchlauchtigster ChurfUrst, Ew. Churf. Durchl. sind unsere unter-
thänigste gehorsamste dienste ieder Zeit zuvor.
Gnädigster Herr,
Welcher gestalt bey £. Churf. Durchl. sich Anna Rosina Möllerin,
witwe alhier, wegen zwo auf Sie und ihren Sohn, unter dem Titui: 'Jk
(S^rUd^c grau p. und ©(ä^clmuf^l^ 9icifcbcfd^rcibung p. gedruckten und öffendlich
verkaufften auch noch zwey anderer dergleichen auf ihre Töchter gefertigter,
unter der Preße stehender Schmähschrifilten demüthigst beschw^eret, und
wie darauf E. Churf. Durchl. Gnädigst, daß wir die bereits vorhandene
Schrifften in den Buchläden weg und in Verwahrung nehmen, auch ob und
was annoch von den andern zwo SchrifHen unter der Preße sey Erkundigung
einziehen, nach befinden den Druck inhibiren und der sache beschaffenheit
mit Wiedersendung des Inschlußes unterthänigst berichten sotten, sab dato
den 21. Augusti jüngsthin , dann ferner unterm folgenden 23. Septembris,
daß wir, wie obgedachter befehl expediret worden, mit Beyfügung der weg-
genommenen exemplarien förderlichst berichten, auch im übrigen gebtirende
Verfügung thun solten, uns anbefohlen, deßen geruhen Sich E. Churf. Durchl.
in Gnaden zurück zu erinnern.
Diesem zu gehorsamster Folge haben wir alß fort des tages, als der
erste gnädigste befehl uns zukommen, an den Bücher Fiscal Verordnung ge-
than , die exemplarien erwehnter Schrifften in denen Buchläden ungesäumt
aufzusuchen, wegzunehmen und den Verlauf zu melden. Worauf zwar der-
selbe, seiner erstatteten relation nach, die Schrifften gesucht, aber mehr
nicht als von der sogenanten &)xi\ä)zn grau 2 Exemplarien, von ©d^efmuf^ft)
JRcifcbcfd^reibuna 3 exemplarien bey denen Wolfahrten im Pauliner Gollegio,
dann bey Arnold Petri, einem Buchbinder, von dem leztern noch 4 Sltlck
gebunden, an deren zweyen noch eine andere Schriffl unter dem Namen
ba« Bärtid^tc grauen 3tntnter angehefftet, angetroffen, welche alle zusammen bey-
gefügt gehorsamst eingeschicket werden. Damit man nun hinter die andern,
wie auch den autorem und Drucker kommen möge, haben wir nicht allein
vor uns leute abgehöret, sondern auch die Universität zu gleichmäßiger ab-
hörung anderer Ihrer Jurisdiction zugehöriger gebürend reqviriret, und tlber-
dies, weil die Möller in sich beklaget, daß der Schmähschrifften immer
mehr werden weiten, wir, der Rath, die Sache unseren Statgerichten zur
inqvisition untergeben, da sich dann
(alte Fassung) [neue Fassung)
bey einem Kupferstecher wieder einen Kupferdrucker, Namens Jacob Philipp
Namens Jacob Philipp Schneider starcker Verdacht ereignet, auch end-
Schneider exempla- lieh so viel herausgekommen , und er selbst gestan-
rien einer Neuen Scar- den, daß ihm von ©d^etmuf^ft^ {Rcifcbcf^reibung 500
tecke mit dem Titul : 35er Exemplarien von Wolfgang Ködern, Buchhändler
(S^rtid^cn grau ©d^Iam* zu Franckfurth, zugeschicket worden, die er auch
pampe Äranl^cit unb Job, distrahiret, ingleichen daß er auf i 200 von demselben
165] Christian Rbctbr. 619
■
ingleichen ®d^e(mufdß^ empfangener exemplarien einer Neuen Scartecke
9ietfe6ef($retBuns anbetet mit dem Titul !Det &)xixäftn %xaxL ©dfiampampt
S^^eU gefunden, deshal- fttand^ett unb- %oh, wovon ein par Exemplarien
ben nunmehr weiter in- hiermit beygeleget sind , das kupferblat gedruckt
qviriret wird, und wil und dieselben gleichfals verkaulR bis etwan auf
verlauten , ob solle ein 400, die er auf eines Studiosi Stube in ein ander
BuchfUhrer zu Franck- Haus geschaffet, alwo solche die Universität auf der
furth der Verleger seyn« Statgerichte reqvisition weg nehmen und in die
Gerichte liefern laßen. Es ist hierauf zu fernerer
inqvisition anstalt gemachet, von dem kupferdrucker aber um Verstattung
einer defension pro avertenda gebeten worden, darauf es annoch beruhet.
Was sich nun allendhalben weiter eusern wird, davon soll hiernechst
E. Ghurf. Durchl. unterthänigster Bericht eingesendet werden, und haben in-
zwischen, hOchstangeftthrten gnädigsten Befehlen zu pflichtschuldigsten ge-
horsam dieses in unterthänigkeit nicht verhalten sollen, E. Churf. Durchl. zu
gehorsamsten treuesten diensten iederzeit so bereitwilligst als pflichtschuldigst
geflißen verbleibend. Signatum Leipzigk, den 21. Novembris A^ 1696.
E. Churf. Durchl. Unterthänigste gehorsamster V. A. D. und !X)9}3S-
16. December 1 : Abschriftliches Protokoll der Vernehmung Wilcke^s.
Praes. den 7. Januarij 1697.
Den Ersten Decemb: 1696.
Christian Sigismund Wilcke
Erscheinet auf erfordern und wurde über derer Herren Bücher -Commis-
sarien abgelaßenen Schreiben vernommen. Saget: Er hette zwar bey Reu-
ther in Carcere geseßen, aber keine Opera, so dieser auf die Müllerin
und ihre Töchter gemachet, bey ihn gesehen, hette es auch in Heinichischen
Buchladen nicht geredet. Desgleichen hette er von Reuthern nichts ge-
höret, könte bedürfl'enden Falß alles eydiich bestUrcken.
Actum ut supra.
Christophorus Scheffler mpr.
Aead: Actuarius p.
17, April 30, 1697 : Abei^nuüige Klage der Wittwe Müller bei der Bikher-
Commission,
An Die Churfürstl. Sächßl. Herren Bücher-Gommissarien Zu Leipzig
Ehrenschuldiges Memorial.
Praesent. 1. May A. 97.
. Magnifice , HochEhrwürdiger und Hochgelahrter,
auch
Magnifici, Hoch- und WohlEdle, Veste, Hoch- und
Wohlgelahrte, auch Hochweise, Insonders HochzuEhrende
Herren Bücher Commissarii,
Es hat die bißhero wieder die Pasqvillanten zum theil bey etlichen
gäntzlich unterbliebene, zum theil aber stetswehrend verzögerte gebührende
620 Friedrich Zarncke, [^66
bestraffung leider so viel causiret und veranlaßet, daB die bdfieD leute mit
Verfertigung mehrerer Schmähschrifilen, wie beyfuge weiBet^), fortgefahren
und hier öffentlich verkauffen laßen. Wie nun schieiniger confiscation der-
selben, ehe es vollent in aller Welt sich ausbreite, gegen meine in Gebühr
HochgeEhrte Herren ich mich versehe, auch darumb flehendlich bitte und
anselbst recht ist, also verharre ich dafür.
Meiner in Gebühr HochgeEhrten Herrjen
Datum Leipzig Ehrenschuldigste
den 30. Aprilis, anno Anna Rosina MOllerin^].
4697.
Hierauf ist dem Hrn. Bücher-Fiscal am \. Maij aufgetragen, nach der
Opera zu fragen, und wo es anzutreffen, zu confisciren.
[Hiermit schliessen die Acten; am S. Juni starb Antia Rosina).
C. Aaszfige ans den Uniyersltftts-Acten.
(Nr. 18—22).
48. Notizen und Protokolle aus dem Jahre 4697.
4. Juli, 5. Sonntag nach Trin. hör. 1 k mer.
Christian Wettberg, Verwalter in Knauthahn, bittet, daB Bleymttllern
möge auferlegt werden, seines Gutes zu Knauthahn, nebenst denen andern,
welche er mit zu bringen gedrohet, sich enthalten solle. Daselbst berichtet,
daB er gestern, alß d. 3. Jul. abends gegen 7 Uhr nebenst seinem Schwager,
dem SchöBer Christian Seidler, nach Knauthahn in seine Wohnung kom-
men, vnd so bald er in die stube getreten, von der Wand ein par Pistolen
und Sebel genommen vnd gesagt: Du hund solt kein gewehr in Deinem
Hause haben ; wäre auch an daB fenster getreten vnd eine daselbst stehende
geladene Flinte loB geschoBen, vnd gesagt, er solte kein geladen gewehr
in seinem hause haben. Wie er nun druff gesagt, es gienge ihm nichts an,
er müste solches haben zu defension seines hauses vnd viehes, hette er mit
einem Span. Rohr ihn 2. mahl auf den lincken arm geschlagen vnd gesagt,
auf ein andermal wolte er schon stärker kommen, mit etlich 60. bursen,
welche er bey Hr. D. Weidlingen gleich haben könte; die soUen ihm
schlage vnd maulschellen genug geben , vnd alles gewehr mit gewalt zum
hause hinauBwerffen, seinen schwager, den SchöBer, auch in Posseß ein-
setzen. Vermöge des kauffcontracts hette Hr. Wettberg biB Michaeliß
die posses.
^) Leider findet sich Nichts bei den Acten. Es war wohl le Jouvanceau char-
mant, fvie die Resolution zu beweisen scheint.
^) Die Züge sind nicht genau so wie bei den früheren Unterschriften. Unter-
zeichnete etwa eine der Töchter statt der damals wohl schon erkrankten Mutter? oder
der jüngste Sohn, was mir den Zügen nach das Wahrscheinlichste dünkt.
4^7] Christun Reuter. 621
Eustachius Müller bittet Bleymttller zu inhibiren, weil er sich ver-
lauten laßen, [nun stand anfangs: wen er Reuter sie nicht geschimpft,
durch Correctur ist daraus gemacht:) wen die Müllerschen nicht geschimpft,
weite er es noch ärger machen, durch die Studenten Jungen etc.
bittet, ihm aufzulegen, daß Er sich an die Eust. Müllerschen erben in
keine wege vergreiffen solle.
Nach der vesper berichtet der famulus Wert her, daß, alß er Bley-
müller citiren wollen, er von Hr. D. Weidlings gesinde erfahren, daß
Hr. Bleymüller mit dem Hr. S.^) weggefahren.
Unterm iß, Juli ist notiert: Bleymüller Wettbergen zu Knauthahn
geschlagen, 3. Juli, negat. Weite^^es über diese Angelegenheit finde ich nicht.
G. A. IX j 328. [Protocollum Rectoris während des
Sommers 4697.)
34. Juli. Reuter ad carc. gebracht, pridie Kai. Augusti.
Ebenda unter den Multae am Ende.
Der Name Reuter noch öfter notiert^ so unterm 34. Juli, 5. August [unter
den Incarcerati] , 20. Sept., 24. Sept.
4. Septembr. Reuter suchet defension; commissa d. Rysselio.
Ebenda.
44. Septembr. Hr. Müller, Eustachi! Sohn, citandus wegen des vexirt
[dann darüber geschrieben: agirten] FrZ. [d. i. Frauenzimmers] am 40. 7br.
nach der damaligen Leiche^].
Hr. Schnitze bey Hr. Rittern am 30. Augusti, als Münchrot in
arest genommen, an die fensterläden geschlagen, geschrien, folgendes tages
gedrohet, Steinerten die Fenster einzuwerfen, mit pasqvillen Hr. Scuren
zu verfolgen, einen desperaten Praeceptor geheißen.
Wo er in der Niclaßkirche zu stehen pfleget?
ob er nicht daß Fr. Zimmer, sonderlich die Müllerischen tOchter,
mit minen vnd posituren zu agiren pfleget? (Nachträglich dazwischen ge-
schrieben: Geistl. Lieder in sensum obscoenum detorqvere].
ob er solches nicht gestern in der Vesper giethan? mit Unterschlagung
des Stabes [drunter zugesetzt beines] oder degen ihren gang zu hindern ge-
suchet?
Muthwillen in der Kirche verübet?
auf der Gaße zu abend grttßlich geschrien?
Ebenda.
*) doch wohl Seidler.
^) Am 40. Sept. um 5 Uhr ward Joh. Joe. Kesens, des Königl. Oberpostmeisters
und Vornehmen des Rathes, 44jährige Tochter, Regina, von der Katharinenstrasse
aus beerdigt.
; I
622 Feibdrich Zarngkb, [<68
27. Sept. Hr. Reuter bittet gehört zu werden.
Darunter mit ungewöhnlich gi^osser Schrift: Relegatus Reuter ad sei-
ennium, Gerber ad octennium, d. 28. 7bris, pridie festi Michaelis.
Dem entsprechend am Ende unter den Multae, im Anschluss an die Ein-
tragung, die oben unter dem 31. Juli angeführt ist: 6. jabr relegat. Auch in
dem Brouillon der Tagesordnung zum Concilium Professorium am S7. Sept.
heisst es : Reuters 6 iährige (relegation) .
Ebenda.
Das Protokoll über die entscheidende Sitzung ist enthalten im ProtocoUum
Professorium, Repert. -z^ Nr. 7. Sectio /.
Concilium Professorium d. 27. Sept. 4697*).
Magnificus Dn. Rector proponit
I. Ghristfried Gerbers und Ciiristian Reuthers Urthel.
Die Vota der Abstimmenden lauten: Hr. D. Carpzovius Theo!.: exe-
qvantur Sententiae; Hr. Dr. Mylius: fiat Executio; Hr. Dr. Friese: con-
sentit; Hr. D. Bohne: exeqvantur Sententiae; Hr. D. Petermann: exe-
qvantur Sententiae, ie ehe ie beßer; Hr. D. Rivinus: fiat Executio; Hr.
D. Ittig: consentit; Hr. L. (Otto) Mencke: nichts notiert ; war er noch nicht
zugegen, oder enthielt er sich der Abstimmung? Hr. Prof. Pfautz: bat seine
Richtigkeit; Hr. L. Rechenberg: consentit; Hr. L. Cy'prianus: con-
sentit; Hr. L. Schmied: relegentur. Hr. Prof. Ernesti: fiat justitia; Hr.
Prof. Fri derlei: fiat justitia.
49. Gedrucktei^ Anschlag am schwarzen Brett, die Relegation Realeres betr.,
vom 3. Octobei\ Doppelfolio. In den Acta Rectorum, Rep. G. A. IV, 40.
UNIVERSITATIS LIPSIENSIS
RECTOR
ET CONCILIUM PERPETUUM.
Summus Optimusque vitae Magister Christus mavult partes corporis no-
biles maximeque necessarias, manum pedemque abscindi & abjici, ocuium erui,
quam ad mala ministeria adhiberi, Matth. XIIX, 8. 9 Si ergo cu-
piditas bona aliena habendi exstimulat, Si ira ad laedendum alium impellit;
amputanda manus est. Si petulantia ad dicacitatem, cavillationes <& conviiia,
si amarulentus maleve affectus animus ad^nocendum aegreque faciendum
aliis invitat, lingua est exscindenda, manus praesecanda. Si commessatio-
num, ludorum prohibitorum, aliarumque levitatum suavitates proritant cupi-
ditatem, quasi pedes non habeamus, quibus eas consectemur, gerere nos
oportet. Si mundi fastus & luxuria placere incipit, si libido incendit, ocu-
lus erui debet, aut oculi avertendi sunt, ne videant vanitatem
*) Also am 27. ward der Beschluss gefasst , am 28. Reuter aus der Stadt
hinaus gewiesen.
169] Chbistian Reuter. 623
Haec non solum omnes Cbristiani in Religionis instilutione audiunt, verum
etiam Theologiae Studiosi, dum ad ministerlum ecciesiasticum se praeparant,
in Festo Archangeli Michaelis, Pericopen Evangelii ex suggestu explicantes,
aliis tradunt et inculcant. Non pauci tamen ex bis turpes sunt Doctores,
quos culpa ipsos redarguit, Roman. II, 21.^) Utinam
CHRISTIANUS REUTER, Guttensis^) Misn.
linguam manumque sibi abscidisset, cum quacunque de causa cogitatio meu-
tern subiret, dicacitate seenica & scurrili familiam hujus Urbis, per ora ho-
minum traducendi. Sic enim labeculas, quibus vix ullus hominum caret,
si quas animadvertisset , ex debito charitatis Ghristianae obtexisset, aut de
illis idoneo loco <& tempore amice monuisset, non circumstantiis multis vesti-
visset, non alias ineptias aut vitia finxisset, non ex illis omnibus fabulam
consarcinasset, in qua veluti inepti, fatui, pessime morati prae aliis homini-
bus agnoscerentur et publice irriderentur. Utinam idem homo ob crimen
istud in carcere detentus et ad relegätionem biennem damnatus, cum hls
conditionibus diroitteretur , ut defensione, quam sibi concedi petierat, sen-
tentiam in se latam mitigaret, ut citatus judicio se sisteret, ut ab omnibus
convitiis in familiam dictam abstineret, linguam sibi anle praecidisset quam
eas se servaturum jurasset. Nam posthac vagus et mentem injuratam tenens
non comparuit citatus, causam suam neglexit, libellos alios famosos scripsit
aut disseminavit, concionem veluti funebrem, in foeminam adhuc vivam, ad
oblectamentum nuptialium epularum alicubi juxta methodum, qua sacrae
orationes fiunt, ceremoniiscjue consuetis adhibitis, sed ludicram, scurrilem,
impiam ad opprobrium sacri ministerii habuit. Qui cum istis se hactenus
delectarunt, eos participes convitiorum contra proximos suos temere effuti-
torum Religio Ghristiana corripiat. Nos nunc Ghirurgos imitati, qui membrum
putridum et corruptum resecant, ne partes sincerae trahantur,
GHRISTIANUM REUTERUM, ad sexennium
a Corpore Academico proscribentes separamus. Alios autem Studiosos ju-
venes sedulo adhortamur, ut cupiditatem'pravam, cum actum parit, eniti
prohibeant: Sic enim ipsa abortum faciens peribit. P. P. Dominica XVIII
a Festo SS. Trinitalis Anno Chrisliano MDCXCVIP).
Am 15, October ward der Anschlag der Schwester-Universität Wittenberg
communiciert.
^) Qui ergo alium doces, te ipsum non doces: qui praedicas noii furandum
furaris: qui dicis non moechaadum moecharis etc.
2) In einer ziemlich mit diesen Ereignissen gleichzeitigen Hs, Indiculus civi-
tatum et pagonim [Univ.-Bibl. MS. 1351^^) findet sich Güten bei Köthen angegeben
womit wahrscheinlich auch Kutten gemeint ist.
3) d. i. am 5. October 4697.
624 Fribdbich Zarncke, [HO
20. Auszug aus dem Protocollum JudtcicUe 4697, Rep. G, A. /X, 446.
19. Octobr. Heinrich Rademin^) : Er were Sonntag 2) abends mit bey
der Music gewesen. Müller: Es bette Rademin gesaget, Sie selten nicht
auff ihre') seite, denn sich sonst die Maulaffen einbilden dürften, es würde
ihnen gemachet. Rademin: Es were beschloßen worden, mit der Music
unten im Brühl inne zu halten. Wie Sie nun dahin kommen, hette er Sie
erinnert , daß Sie stille seyn selten , wüste nicht , daß er von Maulaffe ge-
redet; wüßte nicht anders als daß Sie das Hauß so heißen; negiret, daß er
ihn positiv^ einen K.^) geheißen. Er bette verhindert, daß er nicht mil-
Hon Schläge bekommen und ihnen nicht die fenster eingeworffen worden;
hette gesagt , er hielte ihn vor einen :c. , wenn er ihn nicht verklaget.
Schertzer: Er hette Müller nicht geschimpffet, hette auch nicht gehöret,
daß Rademin dergleichen gethan. Müller: Saget, Schertzer hette ihn Dicfals
gethan, sondern er hette ihn als einen Zeugen angeruffen. Eckarts Söhne,
dte Kauffleuthe betten es auch mit angehöret. Rademin: Erklähret Mal-
lern vor einen rechtschaffenen Kerl, desgleichen thut dieser jenen auch, und
geben einander die Hände.
1699.
21. Auszug aus dem Protocollum Judiciaie. Rep. G, A, JX, 448.
41. Martii. in causa Reuthers
Sollen die Zeugen abgehöret werden, v. acta.
22. Gedruckter Anschlag, Reuter^ s Exclusion betr., vom 46/26. April. Doppd-
folio. Acta Rectorum, Rep. G. A. IV, 40.
RECTOR
ET CONGILIUM PERPETUUM
ACADEMIAE LIPSiENSlS.
Nondum licet dememinisse infaustae pugnae, nondum delere memoriam
internecivi tumultus, qui hanc urbem anno MDCXCVII proxime ante festum
Michaelis inquietabat^), dum supersunt adhuc, in quos ea de causa animad-
vertendum est. Nemo vero etiam hac vice exspectabit, ut pugnam iilam
cum ea, quam Michaeli et angelis ejus cum Dracone et sociis esse Jobannes
vidit et memoravit, conferamus. Neque enim qui Angelos bonos in conflictu
^) Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass dieser Rademin derselbe ist, der nadi
Löwen (S. 45) nach Wien ging und das dortige deutsche Theater, »too nicht grün-
dete, doch gewiss in bessere Ordnung brachten. Kam durch ihn das Ms. 45287 dorthin?
2j ^^ /7^ October. » Müller a ist natürlich der jüngste Sohn Johann Adam.
^) doch wohl der Müllers.
*) Die Schimpfworte schrieb man nicht aus. Es wird z. B. st€Ut »Hmdsfottt
in den Acten geschrieben » Hunds IC. « So mag denn etcetera auch in der Rede als
Schimpfwort gebraucht sein. Vgl. bei Chr. Weise, Zwey fache Poetenzunft: „3)ctinB|
too^I ein etcaetra fein, S)cr eure ^itx t>tta^i".
5) 47. Sept. 4697.
^74] Christun Reuter. 625
eo repraeseniare queant invenimus [folgen dann RelegcUio-
nen zweier bei jenem Tumult Betheiligter) .... Quibus jungimus duos alios
Studiosos, qui cum Angelos quoque imitari possent et deberent, maloruDi
geniorum modo erga alios se gerere maluerunt. Unus eorum .... (folgt
der Name) . . . puerum periculose vulneravit. Alter
Christianus Reulher, GuUensis Misnicus,
quod familiam in hac urbe fabulis compositis et sarcasmis consarcinatis tra-
duxisset et ludibrio publice exposuisset, Anno MDGXCVII. Dominica XVIII.
a Feste SS. Trinitatis in sexennium ex hac Academia relegatus fuit. Sed
instar daemonis impuri, qui in Pericope Evangelica adjuratus dicitur exivisse
ex homine, et cum loca arida pervagatus requiem nullibi invenisset ad do-
mum veterem rediisse, et ipse in hanc urbem, ex qua auctoritate Magistratus
sui ejectus erat, aliquoties recurrit. Hos veluti malos genios, illum in qua-
tuor annos relegamus, hunc prius relegatum, perjurum nunc prorsus exclu-
dimus. Discant omnes, quotquot in hac tabula scripli sunt juvenes noscere
Draconem, sub cujus signis militarunt atque moniti ocyus se proripiant d
ad castra Archangeli Michaelis, quae perfidi deseruerunt, redeant. Stipen-
dium militantibus Draconi opprobrium, mala conscientia, aetema pernicies;
Michaelem qui sequuntur, üs merces, honor, tranquillitas animi, perpetua
felicitas. P. P. Dominica in Albis, d. 26. Aprilis^), Anno Christiane MDGIG.
Am 30. April ward der Anschlag der Schwester -Universität Wittenberg
übersandt.
D. Ans dem Kgl. Säclis. HauptstaatsarehiT , Loc. 9708 ^ Acta, das yon
Christian Kentern y erfertigte Lustspiel^ Graf Ehrenfried genannt ^j.
(Nr. 23—28).
23. Bittschreiben Reuter' s an den König-Churfürsten , vom 40. October (No-
vember?).
Dem Allerdurchlauchtigsten GroSmächtigsten Fürsten und Herrn,
Herrn Friederich Augusto König in Pohlen (u. s. w.) . . .
Meinem allergnädtgsten Könige, Ghurfürsten und Herrn.
19. Nov. 1699 — Praes. d. 28. Nov. 1699 3).
AlterDurchlauchtigster GroBmachtigster König u. Ghurfürst;
Allergnädigster Herr,
Ew. Königl. Majestät geruhen allergnädigst zu vernehmen, wie daß ich
wegen eines Scripti : ©ie cl^rüc^c grau genannt, bey der Universität Leiptzigk
^) Entweder ein Druckfehler für 46., denn damals galt noch der alte Kalender,
oder es ist versehentlich bereits der neue Kalender benutzt worden. Die Anzeige
nach Wittenberg rechnet noch nach dem alten Stil.
^) Dieselben bestehen aus 4 Fascikelchen, bezeichnet Q, X, B, C. Im Folgenden
ist nicht auf jedes speciell verwiesen; C aber ist == Nr. 39, B = Nr. 40.
3] Schon das erste Datum , welches noch auf der Adresse steht, bezeichnet die
626 Friedrich Zarncke, [ili
vor zwey Jahren auff fünff^ Jahr lang relegiret worden bin. Nachdem aber
diese Straffe mir wegen so eines geringen Verbrechens allzu hart geschienen,
habe ich bey Ihr. hocbfdrstl. Durchl., den Herrn Bischoff von Raab vor
andertbalben Jahren, als Er Zu Merseburgk gewesen, Hülffe gesuchet, welche
mich nach Leiptzigk an Ihr. Durchl. dem Herrn Statthalter gewiesen, reisete
derohalben auff obgedachte HocbfUrstl. Durchl., des Herrn Bischoffs Yoq
Raab hohen heiß nach Leiptzigk, Ihr. hochfürstl. Durchl. dem Herrn Statt-
halter umb Cassation der beschehenen relegation deswegen unterthänigsl an-
zugehen 2) , wurde aber von einem meiner Feinde Nahmens Moritz Yolckmar
Götzen ausspioniret und bey der Universität Leiptzigk angegeben, welche
mich darauff ungehöret gleich in perpetuum relegiret. Weiln aber hierdurch
meine Fortun Zeit meines Lebens gehindert würde, und ich als ein Landes
Kind hier in Sachßen nicht fortkommen kOnte, Alß falle ich Zu Euer Königl.
Majestät Fußen, allerunterthünigsl bittende, diese beschehene relegation aller-
gnädigst auff zu heben, und dißfalls an die löbl. Universität Zu rescribiren.
Ich werde solche hohe Gnade lebenslang mit allerunterthUnigsten Daock er-
kennen, und verharre
Eür: König!. Majestät und Ghurfttrstl. Durchl.
Merseburgk d. 10. Octobr.^) allerunterthänigster
4699. Christian ReUter mpr.
Juris Studios.
24. December 23: Bericht der Universität an den König-Churfürsten.
Dem Ällerdurchl. Großmächt, u. s. w. Friedrich Augusto^ König
in Pohlen u. s. w. Unseren Aller Gnädigsten Herrn.
Praes. d. 8. Jan. 4700.
Ew. Königl. Majestät und ChurfUrstl. Durchl. sind unser andächtiges
Gebeth und aller unterthänigste Dienste, in pflichtschuidigslen
Gehorsamb, treuesten Fleißes, eusersten Vermögens nach, ieder-
zeit anvor,
AUergnädigster Herr.
Ew. KönigL Majestät und Churf. Durchl. haben Uns auff Christian
Reuthers wegen Auff hebung seiner Relegation beschehenes hierbey zurück-
gehendes allerunterthänigstes Suppliciren :
Ankunft des Briefes, das zweite vielleicht die Vorlage des Schreibens im Ober-Con-
sistorium,
^) Ungenau, es waren ja 6 Jahre.
2) Nur im Anfang October 4698 waren zu gleicher Zeit der Bischof von Rao^
in Merseburg und der Fürst Statthalter in Leipzig. Dann wäre freilich die Angak
anderthalb Jahre sehr ungenau. Letztere Angabe würde auf den Aufenthalt des Bischofs
in Leipzig vom 30. April 4698 an passen, von wo aus er wohl auch nach Merse-
burg hinübergekommen sein wird. Damals aber ist nicht bekannt , dass der Filrsi
Statthalter in Leipzig gewesen sei, wo er vom 42. bis 46. Januar verweilte,
•*) Sollte dies nicht verschrieben sein für November?
^73] Christun Recter. 627
Wir solten, was es umb sein Verbrechen und die beschehene
Relegation vor Bewandntts habe, förderlichst allerunterthänigst
berichten p.
in Hohen Gnaden rescribiret und anbefohlen. Hierauff nun sollen Ew.
König]. Majestät und Churf. Durchl. wir allerunterthänigst nicht verhalten,
welchergestalt besagter Reuther beygelegtes sehr schimpffliche Scriptum
sub Ä.ij bie el^rKd^e f^rau ju $ߧtna auff Eustachü Möllers nachgel. Witbe und
Kinder alhier gefertiget und ihnen darinnen nicht allein allerhand Laster,
sondern auch grobe Verbrechen beygemeßen, weshalben ihm 2. Jahr Re-
legation und hernach, als wir ihm sub poen^ Exclusionis cum Infamie mit
dergleichen Schrifften nichts zu thun zu haben, aufferleget, er aber dennoch
das Lust- und Trauerspiehl sub B.^) gefertiget und auff einer Adelichen
Hochzeit auffn lande die Schrifft sub C.^) als eine Leichen Predigt höchst
ärgerlich gehalten, eine 6. jährige Relegation dictiret, welche auch an ihm
exequiret worden, darauff er kurze Zeit hernach, besage der eydlich ab-
gehörten Zeugen Außage wieder seinen geleisteten Eydt öfflers alhier in
Leipzigk sich wieder eingefunden, weshalber Wir vermöge unserer Statuten
sub D.4) mit der Exclusion wieder ihn verfahren. Gleich wie nun hieraus
allenthalben zur Genüge zu ersehen, daß Supplicant die ihm zuerkante
^Straffe sehr wohl verdienet, er sonsten auch ein liederlich Leben geführet
und schwerlich eine Beßerung zu hoffen , sondern vielmehr zu befahren,
daß, daferne seinen Suchen statt gegeben werden solte, er dergleichen ferner
sich unterstehen und andere ehrliche Leute mit solchen Schand Schrifilen
zu durchziehen trachten, insonderheit auch dieses darumb, weil angeregtes
Scriptum weit und breit bekant worden, ein sehr groß Ärgernüs nach sich
ziehen und andern solchen ingeniis zu Außübung ebenmäßiger Verbrechen
Anlaß geben dtirffle, Alß zweiffein wir nicht, Ew. Königl. Majestät und
Churfürstl. Durchl. werden es bey unsern Verfahren allergnädigst bewenden
und zu Erhaltung guter Disciplin supplicanten mit seinen ungegründeten
suchen abweisen laßen, inmaßen wir darumb allergehorsambst bitten, und
verharren
Ew. Königl. Majestät und Churfürstl. Durchlaucht
Leipzigk allerunterthänigste, pflichtschuldigste, getreueste
d. 23. Decembr. Rector, Magistri und Doctores der Universität daselbst.
1699.
Hierunter mit Bleistift: Sollicitant wann er sich anmeldet abzuweisen.
^) liegt nicht mehr hei.
2) fehlt desgleichen. Gemeint ist natürlich: S)er e^tti(^en tJrau Ar anfielt unb Job.
3) fehlt auch. Gemeint ist ®aö ®en!* unb Sl^rcnmal^l.
*) befindet sich bei den Acten : eine Abschrift des betreffenden Paragraphen aus
dem Statutenbuche,
628 FftiBBUGa 7.A»nm, '*
1700.
45. Januar 17 : Kloijtchreihen der Mülierischen Erben an dem Eonig -C^ --
für$tm.
Dem AUerd. und GroSm. u. i. ic. Friedrich Aogosto . . -
Unserm aliergnadigsien König und Chnrfklrsten p.
pr den 45. Martij. 1700.
Allerdurchlaucbtigster und GroBmachtigsler König und Charftlrst«
Allergnädigster Herr.
Ew. Königliche Maj. und Churfttrstl. Durchl. können wir allcronter-
thänigst und demttthigst vorzutragen nicht unterlaBen, was maSen vor einigez:
Jahren ein abgefäumter Bösewicht, Nahmens Christian Re fiter, unsere Fa-
milie, als des seel. Eustachii Möllers, weyl. HandelsManns alhier, Wittbe
und hinterlaBene Kinder, sonder unseres Verschulden und ihme darxa ge-
gebenen AnlaB mit den allerärgerlichsten , auch schändlichsten Pasqvillen
und Schmäh'Karten angegriffen, solches auch solange practicirel and damit
angehalten , bis er endlich von hiesigen Wohllöbl. Goncilio auf unser An-
suchen zur Inqvisition und endlichen Verhafll gebracht, und weil er sein^
SchmähSchrifl'ten halber überwiesen, ihme, besage der vor Wohlgedacfateo
Concilio wieder ihme ergangene Inqvisitions Acta fol. 62. Zwey Jahr Re-
legation zuerkandt worden. Es hat aber hierauf dieser ErtzPasqvillant den-
noch mit seinen Schmähschrifillen nicht aufgehöret, sondern hat diesen ohn-
erachtet neue SchmahKarten ^) , als eine Opera , bad S)end« ttnb (E^renma^I p.
wieder uns verfertiget, darüber ihme auch endlich fol. 424 Sechs Jahr Re-
legation zuerkandt und an ihme vollstrecket worden. Und weil Rettter
dieses auch nicht geachtet, sondern diesen ungeachtet in Leipzig sich w^ieder
eingefunden, ist er zuletzt von hiesiger Universität vermöge derer Statuten
cum infamia excludiret worden. Es hat aber der ErtzPasqvillant diese
Exclusion so wenig geachtet als die Relegationes, sondern hat sich dennoch
diesem allen und seinen gethanen Uhrpheden zu wieder nach Leipzig be-
geben, gehet auch alhier noch bis diese Stunde herumb ohne alle Scheu,
und ziehet seinen liederlichen Anhang von neuen an sich, und fängt sein
ehemahliges Pasqvilliren und lästern von neuen an, inmaßen an verwichenen
Sontag, als den 21. Jan. c. a., solche einer von uns Schwestern, als solche
des Nachmittags aus der Kirchen nach Hause gehen wollen, von Hm. M.
Carpzovs Stube, aus dem auf der Niclasstraßen gelegenen Bosse rischen
Hause mit vollen Halse unzehlichmahl : @^(am)>am^e nachgeschrien. Wenn
also, Allergnädigster König und Churfürst, dieses lästern und Pasqvillirens
kein ende bleibet, wir auch solchergestalt unseren Gottesdienst vor diesen
Meyneidigen Schelmen und seinen Anhang nicht mehr sicher und mit frieden
abwarten können, dieser Schelm auch unzehliche Meineyde begangen, indem
er 1.) den Studenten Eydt, welchen er nach hiesigen Statuten hat ablegen
*) Anfangs war geschrieben Schmähschrifllten.
^^^] Christian Reuter. 629
iDttBen, nicht gehalten, sondern hat testantibus Actis seinen Arest muth-
wiilig deseriret und seinen reiegationen zuwieder sich ohnzehlichmahl wieder
hier betretten lassen, - 2.) hat er auch in der wieder ihn formirten ratione
libellorum famosorum Inqvisition in specie geschwohren, nicht auszuweichen,
sondern sich auf erfordern allezeit zu stellen. Er hat sich aber diesen un-
geachtet laut seines eigenen Geständnisses fol. 80 auf Kitzscher begeben,
und sich nicht gestellet. Ingleichen hat er 3.] fol. 34 und 4.) fol. 404 bey
ietzgedachten abgeschwohmen Eyde zu zweyenmahlen vor hiesigen wohl-
löblichen Goncilio angelobet sich iederzeit auf erfordern zu stellen, aber
dieses so wenig gehalten, wie das andere. 5.) hat bey der Relegation dem
Uhrpheden abgeschworen, aber diesen gleichfalls zu wieder besage der in
denen Actis befindlichen Zeugen Aussage und seinem, in dem de dato Merse-
burg den 40 Octobr. 4699 Ihro Königl. Maj. und Churfttrstl. Durchl. über-
reichten supplicato eigenen GeständtnUB nach zum öfiftern^) nach Leipzig
gemachet und also deßen boßheit hieraus sattsam abzunehmen, Als bitten
wir daher allerunterthänigst und demüthigst, Ew. Königl. Maj. und Ghur-
fUrstl. Durchl. wolle uns als Dero unterthanen, die jährlich ein ansehnliches
an Contributionen und Steuer richtig erlegen, vor diesen Meineydigen Schelm
allergnädigst schützen, und an hiesiges wohllobl. Goncilium diese Verfügung
thun, daß dieser Meineydige Schelm und ErtzPasqvillant wieder zur Yer-
hafft gebracht und nach eingeholten rechtlichen wegen seiner unzehlichen
Meineyde, welche nie von einen Christen erhöret worden, andern zum Ab-
scheu gebührendt bestraffet werden solle, damit wir so wohl als Dero treue
Unterthanen unter Ew. Königl. Maj. und Churfl. Durchl. allergnädigsten
Schutze sicher leben, als auch die heilsame Justitz, welche iederzeit in diesen
Landen floriret, ferner befördert werden möge. Und wie dieses billig, also
werden wir solches auch mit allerunterthänigsten und demüthigsten Dancke
lebenslang rühmen und erkennen, verharrende
Ew. Königl. Maj. und Churfürstl. Durchl.
Leipzig, d. 27. Jan: alleruntertbanigste und demüthigste
4700. Eustachius Möller p.
Concepit D. Joh. George Leib. Johanna Maria Mollerln
Johann Adam Möller.
26. Mär^i ö : Abermaliges Bittschreiben Reuter* s an den König -Chur für sten.
Dem AUerDurchlauchtigsten u. s. w. Herrn Friederich Augusten
u. s. w. Meinem allergnädigsten Könige , ChurfUrsten und Herrn.
pr. den 45. Martij 4700.
Allerdürchlauchtigster, Großmächtigster König und Churfürst,
Allergnädigster Herr,
Gleichwie ich Eur. Königl. Majestät allerunterthänigst dancke, daß Die-
selben mich wieder die bey der Leipziger Universität beschehene unver-
schuldete exclusion allergnädigst geschützet, und solche aus landesfürstl.
^) Ist doch erlogen.
630 Friedkich Zarncke, [116
Hoheit cassiret haben, Alß kan ich im gegentheil Eur. Königl. Majestät ailer-
unterthänigst nicht verhalten, daß eben Derjenige, welcher mich in dieses
Unglück gebracht, nemlich Moritz Yolckmar Götze, ein alter abgelebter'
Advocate zu Leiptzigk , mir diese Gnade nicht gegönnt , sondern hat neoe
ungegrtindete Dinge bey der Academie daselbst wieder mich eingegeben.
und dadurch Selbige dahin verleitet, daß Sie wieder mich einen Bericht an
Eur. Königl. Maj. eingesendet^), allermaßen ich mir wohl einbilden kan, daS
derselbige mehr wieder mich als Vor mich seyn wird, weil ich vermnthen
muß, daß Diejenigen, welche ordentlich in den Goncilio sind, und die Acta
dirigiren , mir zuwieder sein, und zwar daher 4) weil ich ohne genugsaiDe
Ursache und bloß wegen privatinjurien, welche doch ohne Grund gewesen,
einmahl fttnffzehn wochen, das andere mahl neun Wochen incarceriret worden,
2) weil Sie mich das letztere mahl in Ihr Bauer Carcer gesteckt, und da-
rinnen fast crepiren laßen, da doch sonsten Vor die Studiosos ein anderer
locus custodiae gewidmet ist, 3j Weil Sie mich durch schlechte Alimentalios
dahin gebracht, daß ich meiner Defension wieder die inculpirten Injurien,
welche doch sonsten nicht per modum inqvisitionis tractiret werden sollen.
renunciren und also Ihrer relegation tanqvam inauditus pariren mttBen.
i) Weil Sie mich auff Götzens falsches Angeben exciudiret, da Ihnen docli
wohl bewust, daß sonderlich Er, als alle seine abgehörten Zeugen meine
Feinde sind , 5) Weil Sie mich meines öfftem schrifftlichen Ansucheos od-
erachtet, nicht hören wollen, 6] Weil Sie mich mit der Exclusion solcher-
gestalt Übereilet, daß auch einige Ihrer Assessorum davon nicht ehe etvss,
als nach geschehener Sache, erfahren können. Ob ich nun wohl, Aller-
gnädigster König und Herr, mich mit Eür. Königl. Maj. mir erwiesenen Be-
gnadigung vergnügen kan, so will doch meine zeitliche Wohlfarth erfordern,
daß ich das falsche angeben meines Boßbafften Denunciantens zu Rettuns
meiner Unschuld an den Tag bringe, als welcher mich beschuldiget, daß icfa
tempore relegationis wieder meinen geleisteten Uhrfehden gehandelt und ein
perjurium begangen hätte , da sich doch eineslheils die Sache gantz anders
verhalt, anderntheils aber der boßhaffle Denunciant gewisse falsche Zeugen
wieder mich suborniret und auffgebracht, welches beydes ich ftlr einen
unpartheyischen Richter auszuführen bereit bin. Weil ich aber solches ^or
der Universität zu Leiptzigk wegen oben angeführten Ursachen zu thun roicb
scheue, auch allenfalls das Juramentum perhorrescentiae zu schweren bereit
bin, und mich darzu offerire, Alß gelanget an Eur. Königl. Majestät mein
allerunterthänigstes Bitten, Eür. Königl. Majestät geruhen zu Beförderung der
Wahrheit meiner Unschuld und Zeitl. Wohlfarth die in der Sache ergangenen
Acta Von der Universität Leiptzig abzufordern , und nacher Wittenbergk an
die Universität daselbst, welche ich dißfalls zum Judice allerunterthänigsl
ausbitte , zu geben , woselbst ich dasjenige , was ich mir auszuführen be-
1) Er starb 1706, 58 Jahre alt, zählte also 4700 erst 52 Jahre, mag fr(^
lieh ein wüstes Leben geführt haben.
2, Von einem solchen Berichte toissen die uns erhaltenen Acten Nichts.
^''71 Chbistian Beuter. 631
düngen habe, gebührend an den Tag legen will, der ich vor diese König).
Gnade lebenslang verharre
Eur. König]. Majestät in Pohlen und Ghurfttrstl. Durch!, zu Sachßen
DreBden, den 5. Mai-tij 1700. allerunterthanigster
Christian Reuter mpr. Jur. Studiosus.
27. Api^il 21 : Drittes Bittgesuch Reutei^'s an dm Kmig-Churfürslen,
Dem Allerdurchl. Gr. u, s. w, Friedrich Augusto u. s, w. Meinem
allergniidigsten Könige Churfürsten und Herrn.
Praes. d. 21 April 1700,
Aller Durchlauchtigster GroBmachtigster König und ChurfUrst,
AUergnädigster Herr,
EUr. König]. Maj. erinnern sich allergnädigst, welchermaBen ich Dieselbe
in aller unterthäniglLcit gebethen, mir allergnädigst zu verstatten, daB ich
vor der Universität Wittenberg, weiche ich mir zum Richter allerunterthUnigst
ausgebethen, meine Unschuld wieder die vor und von der Universität
LeiptziglL wieder mich angebrachte Beschuldigungen ausführen könne. Weil
nun vermöge bereit angezogener Motiven hiervon mein Zeitlich Glück de-
pendiret, noch ich, weil ich zu Wittenberg meine Studia proseqviren will,
zu Leiptzigk mich femerweit auffhalten kan, AlB trage ich keinen Zweiffel,
Eür: König]. Maj: werden mir umb so viel mehr hierinne allergnädigst zu
willfahren geruhen, und weil die Universität zu Leiptzigk mit dem aller-
unterthänigsten Berichte die wieder mich ergangenen Acta nicht zugleich
mit eingesendet, ungeachtet an dieselbe aus den hochlöbl. Ober Consistorio
deßentwegen schon vor langer Zeit allergnädigster Befehl ergangen, AlB wird
allerunterthänigst gebethen, Eür: König]. Maj. geruhen, die hohe Verfügung
ergehen zu laBen, daB die Universität angezogene Acta förderlichst einsende,
wofür ich Zeitlebens verharre
Eür. König]. Maj. und GhurfUrstl. Durchl.
DreBden den 21 April allerunterthänigster
1700. Christian Reuter mpr.
Hierunter steht mit Bleistift: Nach Leipzig an Hr. Dr. Mylius zu schreiben.
28. April 35: Schreiben des Kammerherm Rudolph Gottlob von Seyffertitz
an die Universität.
Dem Magnifico, Hoch und WohlEhrwürdigen, WohlEdlen, GroBacht-
bahren, Hoch- und Wohlgelahrten Rectori, Magistris und Doctoribus
der Universität Leipzig, Meinen geehrten Herren.
Praes. d. 29 April 1700.
Magnifice Academiae Rector,
Hoch- und WohlEhrwtirdige, WohlEdle, GroBachlbahre,
Hoch- und Wohlgelahrte, Geehrte Herrn.
Erinnern sich dieselben gutermaBen , wie daB Ihre König]. Majestät in
Pohlen und Churfürsll. Durchl. zu SaehBen p. mein allergnädigster Herr,
Abhandl. d. K. S. Oegellsch. d. Wisscnscb. XXI. 4S
632 Friedkicb Zabxcke, <>
leztverwicbene Neujahr MeBe l>ey dero hoben Anwesenheii zu Leipzigi meliru
Secretariam , Herrn Christian Reuter, auflf sein beinregliches Vorstrin,
solchergestalt perdoniret, daß Sie die von Ihnen vormahls wieder ihn dt-
cretirte Relegation und Exclusion allergnädigsi cassirel und aofigeholi^L
wiBen wollen, und dero Gebeimbden Rath Excellenz Herrn WolflT Dieirk l
von Beucblingen anbefohlen, daß er durch seinen Secretarium dero alitrr-
gnädigsten Willen und Meinung hiervon der Universiiäi zu erkennen iielnri
solle, indem Ihre Königh Majestät in dergleichen Academischen DiscipÜL-
Sachen insonderheit ad inferiores Magistratus specialiter zu rescribiren Dicht
gesonnen sind. Weil aber den Vernehmen nach der ÜDiversitäts Aduariib
dasjenige, was Ihre Königl. Majestät dero Academie und Rectori mandiicb
anbefehlen laßen , nicht ad Acta registriret haben soll , im Gegentheii aber
wie ich berichtet werde, ein unruhiger und unnlizer Kopff zu Leipzigk
wieder angezogenen meinen Secretarium Lermen machet und ihm mit andern
den allergnädigsten KOnigl. Perdon mißgönnet, da man doch aus denen Actis
mehr als zu wohl perfundiret ist, daß die angegebene sogenante fiegünsli-
gungen theils nicht so wichtig, daß man einen Academicum und junsifo
Menschen ^) deswegen seine zeitliche Wohlfarih hemmen solle, theils auch er
durch den modum procedendi solchergestalt Ubereiiet und mit seiner Notb-
durfft, worumb er doch inständigst angesuchet, nicht gehöret werden wollen.
daß die falsche Denunciation dadurch bis dato unerörtert geblieben \si
Wenn ich dann [meinem] Secretario auff alle Wege geholffen wißen und Ineine^
Theils schUzen will, solches auch der hohen Intention Ihrer König!. Majestüi
gemäß ist, Als wird man zu Erörterung der Wahrheit und AusftlhruDg seinei
Unschuld zulängliche Messures faßen, da in Gegentheii ich nicht iwelüe.
Dieselben werden ihres Orths demjenigen, was Ihre Rönigl. Majestät in
hohen Gnaden anbefohlen , in aller Unterthänigkeit nachgehen und zugleich
gebührender maßen ad Acta nachricbtlich registriren laßen, allermaBen sieb
Selbige wiedrigenfalß großer Verantworttung hierunterziehen würden, welches
ich wohlmeinend Denenselben nicht verhalten kan und in gegentheii verharrr
Dreßden Meiner geehrten Herren
den 23. Aprilis Dienst- und bereitwilliger
1700. Rudolph Gottlob von Seyffertiti
^) allrrdings bei der Relegation fast .52, bei der Exclusion 53^2 Jahre
alt.
^79^ Christian Reuter. 633
II. Christian Reuter und Moritz Voickmar Götze*).
1700.
29. Januar 19: Klage Götzens über Reuter und Genossen.
An Tit. das löbl. Concilium der Vniversität Leipzigk.
praes. d. 19. Jan. 1700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwürdige, HochEdle, Veste und Hochgelahrte
Insonders Hochgeehrte Herren p.
Es ist bekanndt, daß Christian Reuthcr wegen des ofTenbahren be-
gangenen Meineydes in verwichenen Jahre von dieser lübi. Universität Leipzigk
excludiret und durch öffentlichen Anschlag pro perjuro declariret worden.
Nachdem ich nun gestriges Abendts gegen 8 Uhr von meiner Reise nacher
Hause kommen, und wegen erlittenen Frostes bey dem Auerbacher Keller
abgestiegen und unten in der Stube ein halb Nösel Wein zu meiner Ge-
sundheit mir geben lasen, und mich an einen Orte alleine gesezet, hat mich
Hr. Johann Zehme wegen einer gewisen angelegenheit ersuchet und sich
zu mir gesez«t und seinen Zustandt referiret, ist bald darauf Hr. Dr. Glaser
mit Davidt Fleischmannen und Christian Reuthern benebst den bekanndten
Sinner gleichfalß an diesen Ort kommen und sich betruncken gehabt, sich
gegen mir übergesezet, da denn bald darauf so wohl Reut her alB
Fleischmann mit Hunds etc.: Schelmen und Bährenhäutern um sich ge-
worffen und der Studiosus Welsch sich gleichfalß zu diesen gemachet, deren
Injurien approbirt und allerhandt Ungelegenheit und Zanck an mir gesuchet,
daß ich die umstehenden Bötticher und Jungen zu Zeugen anrufifen müßen,
und zu dem Ende auf die Wache provociret, daß ich zu Verhütung Unglücks
endlichen davon gehen müßen. Wenn denn gleichwohl an dem, daß dieser
excludirte MeinEyde Reuther bei Sr. Königl. Majestät in Polen und Chur-
fUrstl. Durchl. zu Sachsen Allergnädigste abolition suchet und restituiret seyn
wil , und von der Aufsuchung , so bey Fleischmannen geschehen , gar
schimpflich geredet und auf seine vormahls gebrauchte Irrwege lezo wiederum
kömet und ehrliche und unbescholtene Leute schimpflichen tractiret, die er-
kanndte relegation auch , worüber er den Urpheden abgeleget , noch lange
nicht vorbey, sondern in summa contumacia versiret, welche ihme schwer-
lich von gewisenhaßlen Richtern conniviret wird, Alß wil ich solches hier-
mit der löbl. Vniversität hinterbracht und anbey unterdienstlichen angesuchet
haben, mich wieder diese übel aifectionirte Turbatores ambtswegen zu
schüzen, zu dem Ende ich Hr. Dr. Glasern und den Studios. Welsch, in
gleichen die sämbtlichen Bötticher und Jungen wie auch Hr. Zehmen zu
^) Alle hier mitgetheilten Actenstiicke gehören den oben S. 625 Anm, 2 ange^
führten Fascikeln des Kgl, Sachs. Hauptstaatsarchivs an.
4i*
634 Friedrich Zarncke, i1^<'
Zeugen angegeben haben wil, damit ich nicht an böhern örtern zu be-
schweren Ursach nehmen muß, bevorab da Reuther bey diesem Conveotf
gestanden, daß er Zeit wehrender relegation bei Fleischmann und der
Reich in sich aufgehalten.
Leipzigk Mauritius Volcinanis Göz.
den 19. Jan. 1700.
ponatur ad Acta. Goncl. d. 20 ej.
30. Februar 48 : Spöttischer Brief Reuter^ s an Götze.
Dem Edlen Großachtbarn und Rechtswohlgelahrten Herrn Mauritiu
Voickmar Götzen, berühmten Juris Practico zu Leipzigk uod
GerichtsSchreiber in den Flecken zu Ranstelt, Meinem Hochge-
Ehrten Herrn
fr. Leiptzigk
auff den Barfüßer Kirchhofe
zu erfragen
Edeler, Großachtbahrer und Rechtswohlgelahrten
HochgeEhrter Herr Götze,
Ich habe mit nicht geringer Verwunderung vernehmen müßen, wie daB
Derselbe mich bey der löbl. Universität Leiptzigk abermahl fälschlich ao-
gegeben, und in seiner lügenhafften Denunciation mir solche falsa aufiTbUrden
will, die gantz wieder alle VernunfTl lauffen, und Er wieder das achte Ge-
both gröblich gesUndiget. Liebster Gott ! was hat Er denn davon , daß Er
seinen neben Christen so fälschlich verfolget und denselben suchet in Schaden
und Unglück zu bringen? Will Er ein Christ heißen und den Ruhm haben,
daß Er ein Christliches leben ftlhret, ey so muß Er sich bey herannahenden
Alter gantz anders auffführen, sonst dUrffte wohl dermahleins seine arme
Seele den grösten Schaden dabey leiden. Der Herr examinire nur seinGe-
wißen, und betrachte, wie viel 1000 Seuffzer und Thränen Er durch sein
unnöthiges processiren auff sich geladen. Gewiß (wofenie er anders ein Ge-
wißen hat) so wird Er befinden, daß Ihn gantze Centner Lasten tä'g/icji
q Villen und plagen und weder Tag noch Nacht Ruhe laßen. Der Herr muß
gewiß nicht fleißig beten und seinen Gott für Augen haben; denn wenn
dieses wHre, so würde Er als ein Christ sich gegen seinen Nächsten ganz
anders erzeigen ; so aber kann man nicht anders schlüßen, alß daß der böse
Feind sein Hertze recht regieren muß, welches denn Tag und Nacht dichtet
und trachtet, wie es Diesen und Jenen schaden und verfolgen möge. Er
hat mir zwar viel Dampff unverschuldeter Weise angethan, und das löbl.
Concilium zu Leiptzigk wie auch E. UochEdien Rath daselbst mit solchen
Lügen berichtet, welches Er schwerlich bey Gott wird verantwortten könne».
indem Er fälschlich angegeben, ich wäre am verwichenen 4699. Jahre in
der Marterwoche zu Leiptzigk in Hr. David Fleischmanns seiner ß^
hausung gewesen, und es dahin gebracht, daß auf reqvisition der löbl-
Universität Leiptzigk E. IIochEdler Rath mich daselbst mit denen Sladl
Knechten suchen laßen , da ich doch in contrarium erwiesen , daß sein an-
f
i-V
*8I] Christian Keutbr. 635
geben falsch und Er dadurch mich und den ehrlichen Fleischmann nur
zu beschimpffen gesuchet. Allein weiß Er auch, daß Gottes Slrafl'e nicht
außen bleibet? und ist auch, wie ich vernommen, nicht außen geblieben,
indem mit gestriger Post alhier fama Kund machte, der alte Advocat Götze
wäre in den sogenannten Auerbachs Keller so zerbläuet worden , daß Er
mit verwundeten Kopffe und blauen Fenstern fein säuberlich wäre nach
Hause gegangen, lieist dieses nun nicht recht: Israel, Du bringst Dich
selbst in Unglück? und nun fragt sichs, wer Mitleiden mit Ihn haben wird.
Wohl kein Mensch. Warumb? Denn Er hats darnach gemacht. Darumb
gebe ich Ihn diesen Rath. Er kehre umb, beßere sein Leben, verfolge
seinen neben Christen nicht fälschlich, bete fleißig, und laße sich seine be-
gangene Sünden leid seyn, so wird Ihn Gott wieder gnädig seyn. Welches
aus Christlicher Schuldigkeit von Hertzen wündschet
Dreßden d. 18 Febr. 1700. Christian Reuter.
31. März 6: Zweites Klagschreiben Götzens an die Universität über Reuter
und Genossen,
An Tit: Das löbl. Concilium der Vniversität Leipzigk.
praes. d. 6. Martij, 17001)
Magnifice Academiae Rector
IlochEhrwürdige, UochEdle, Yeste, Großachtbahre und Hochgelahrte
Insonders HochgeEhrte Herren.
Ew. Magnificenz und Herrl. geruhen hochgeneigt, sich unterdienstlich
erinnern zu laßen, welcher gestalt ich bereit in Monath Januario die Unfug,
so der excludirte Christian Reuter wieder mich gesuchet, den löbl. Con-
ciiio hinterbracht. Ob ich nun wohl dazumahl in gewiße Erfahrung kom-
men, daß itztberührter Reuther ein allergnädigstes Rescriptum, denselben
wiederum zu recipiren, übergeben und dißfalß ein allerunterthänigster Be-
richt ergangen seyn soll, So laß ich solches alles dahin gestellt und habe
mich darum gar wenig zu bekümmern, er erlange seine intention oder nicht,
gleichwohl aber kann ich anderweitig eurer Magnificenz und Herrl. zu hinter-
bringen nicht umhin, wie ich am 17. Febr. jüngsthin von einen bekandten
bösen Buben , so aus der Reutherischen Gesellschafil ist , unvermuthet
meuchelmörderischer Weise und ohne Wortwechslung angefallen und ver-
wundet worden bin, habe ich gestrigen Tages in meiner Unpäßlichkeit bey-
geschloßenen BriefP sub A^) von der Dreßdner Post erhalten, und alß ich
solchen eröffnet, bin ich gewahr worden, daß solcher von den Meineydigen
Christian Reuthern, der an Gott zum Mamelucken worden und deßhalbcn
durch öffentlichen anschlag als ein Meineydiger von dieser Universität ex-
cludiret, unterschrieben und dolose mir solchen durch die Post überbringen
laßen, da er doch von der verstrichenen Meße an allhier sich bey Davidt
*) Man vergesse nicht, dass im Jahre 4700 in Leipzig der neue KalenH
geführt ward und man vom 18, Febr, auf den 4, März übersprang.
'-^j Es ist das eben unter .>0 abgedruckte Schreiben.
636 Friedrich Zarncke, 18!
Fleischmann aufgehalten, in Trebsens UauB in der Pelerstrafie bey
dem also genannten Knopf Tobiasen auf(?) auch öfilersten eingefuDdeo,
auch in angezogener Missiv nicht alleine auf die in Monath Januario ein-
gegebene denunciation provociret und von den meuchelmörderischen anüali
in allen gute WißenschalTt hat, sondern auch mich darinnen schimpflichen
traduciret. Wann aber, hochgeEhrte Herren, dieser Reut her wegen seiner
SchandtThaten halber relegiret und wegen des begangenen Meineydes von
dieser löbl. Vniversität excludiret, deßen übriges Leben und Wandel ieder-
raännigl. bekandt, wie er sich iedesmahl liederlich aufgeftthret, nichts red*
liches alß Schandtschrifften auszustreuen gelemet und seine meiste Profession
von Spielen gemachet, hin u. wieder Schulden caussiret und bald diesen
bald jenen aufgesezet, seine Bibliothek meistentheils in Karthen und Schand-
SchriSten bestehet, und bloB alB ein inutile terrae pondus et ignis faiuus
sein leben und Wandel gefUhret und vor nichts anders alß einen undanck-
bahren Menschen zu halten, maßen er denn allen denjenigen, so ihme Wobl-
thaten erwiesen , bösen Lohn giebet , und da ich diesen undankbahrcn Ge-
sellen , da er wegen seiner SchandSchrifften und anderweitig oOeobabr
begangenen Meineydt allhier captiviret, viele SchrifUten verfertiget, ich ihm
gedienet, er mir nicht ein groschen pro labore gereichet, sondern izt sta(t
diesen mir mit seinen sociis den lohn dafür giebet, diese und dergleichen
böse subjecta sind nun keinesweges unter ehrlichen Leuthen zu dulten,
sondern ihres steten ärgernüßes halber, wohin sie schon condemniret und
also Meineydige zu considcriren , fortzuschaffen seyn, bevorab, da dieser
Reuther seine Intention in keinem stücke noch zur Zeit behauptet, AlB
wil ich dieses alles nochmahlen dem löbl. Goncilio deferiret und anbeini-
gestellet haben, ob diese unfertige Handel und committirte falsa, so dieser
excludirtc Reuther zeitwehrender gesuchter reception iedermännigl. zum
öffentl. scandalo vorgenommen, Ihre Königl. Majestät und Ghurfürstl. Dcbl. in
aller unterthänigkeit nicht zu hinterbringen und mir alß einen ehrlichen
Manne wieder diesen bösen Menschen mit Richterl. Hülfe nicht zu Hülfe zu
kommen sey, und ist allen ansehen nach, weil er von dem facto allenthalben
Wißenschaft hat, solches communicato consilio zugleich mit ihm vorgenommen.
Ich zweifflc nicht, es werde dieses löbl. Gerichte mir hierinnen allenthalben
Gerechtigkeit mittheilcn, und diese falsa und Betrug solchen Meineydigen
Menschen nicht verstatten, sondern, was dergleichen Lcuthe durch Meineyde
begangen , gebührendt derer zuerkandte poen zu exeqviren , zu dem Ende
ich solches deferiren und in übrigen verharren wollen
£w. Magnificenz und Herrl.
Lüipzigk unterdienstschuldigster
d. 6. Martij 1700. Mauritius Volcmarus Göie.
Weil Reuther sich alhier nicht befindet, ponatur ad Acta.
*83] Christian Reuter. 637
32. April 21 : Zweiter spöttischer Brief Reuter^s an Götze.
Dem Wohl Edlen Großachtbarn und Rechls-Wohlgelahrten Hern Moritz
Volckmar Götzen,' berühmten Juris Practico in Leiptzigk p.
Meinem HochgeEhrten Herrn.
francö Leiptzigk
auff den neuen Kirchhofe
zu erfragen.
WohlEdler, groBachtbahrer und RechtsWohlgelahrter
Insonders Hochgeehrter Herr Götze,
Wenn Dieselbe noch wohl auff ist, so höre ichs gerne; meines orths
betreffende, so bin Gottlob auch noch wohl auff, und wundert mich sehr,
daß man in Leiptzigk ausspargiret hat, ich wäre allhier gestorben, da doch
in Leiptzigk mein vergnügtes Auffseyn (Gott sey Danck) Vielen bekandt ist.
Der allerhöchste erhalte sowohl mich als meinen Hochgeehrten Herrn ^) noch
ferner. Vor ungefehr 44 Tagen passirete ich durch Leiptzigk und nach
Weißenfelß, alwo ich in einer gewißen Affaire was zu verrichten hatte, bey
welcher retour ich Denselben auff der Grimmaischen Straße gehen sähe, und
mich von Hertzen recht freute, daß deßen vormahls in den WeinKeller em-
pfangene Wunden wieder geheilet waren. Ich wünschte selbiges mahl nicht
mehr als nur mündlich zu seiner reconvalescenz meine schuldigste gratulation
abzustatten. Weil aber der*Postilion sich nicht lange auffzuhalten hatte, so
muste ich wieder meinen willen Deßelben Gegenwarth veriaßen und also
nur durch diese Zeilen Denselben schrifftlich gratuliren. Hat mein Hoch-
geEhrter Hr. sonst was in Dreßden zu expediren, so bitte, solches nur sans
vacon an mich zu recommandiren. Bey den Cammer Herrn Von Seyfferdiz
bin ich engagiret, woselbst ich iederzeit anzutreffen, und so ich Denselben
sonst bey Ihr: Excellenz Hocherwehnten Gammer Herren was dienen kan,
so versichere sich Derselbe, daß Er iederzeit einen treuen Freund an mir
finden soll. In übrigen recommendire mich zu deßen beharrlichen Affection,
und verharre
Dreßden, d. 21 April Meines HochgeEhrten Herrn
1700. allezeit dienstl. Christian Reuter mpr.
33. Mai. 11 : Drittes Klagschreiben Götzens an die Universität, über Reuter^ s
Comödie, deren Verkauf und Aufführung.
(Ohne Adresse.)
praes. d. 13. Maij 1700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwürdige, HochEdle, Veste, Hochachtbahre, Hoch und Wohlgelahrte
Insonders HochgeEhrte Herren.
Ew. Magnificenz und Herrl. ist bekandt, wie ich bereit in verstrichener
Neujahr Meße wieder den meineydigen excludirten Christian Reuther und
*) meint spöttisch Götzen.
638 Friedrich Zarncke, [^^^
seinen sociis Beschwerung wegen vorgenommener Tbütligkeit gefubret, aber
biB dato keine hUlffe erlanget, hat inzwischen dieser Reuther communicato
consilio seiner Adhaerenten und aliwo er sich. bey Fleischmann biß daher
aufgehalten, ein Pasqvill unter den praetextu Königl. und Churfürstl. vor-
gegebener Bewilligung herauBzugeben unterstanden, solches mit Krelicn
zusammen getragen und durch diesen letzten und studioso Welschens
öffentlich distrahiren laßen, absonderlich aber die SchmähSchrifl^ durch den
geschwornen Pedelln Werthern öffentlich in dem großen Fttrsten Collegio
verkauffen laßen und darinnen unterandern was Johann Jacob von Rysel
Dr. in Actis Davidt Fleischmann ctr. Herrn Davidt Zieglern fol. 428
dolose zusammen fingiret, wieder mich höchst unverantwortlicher weise an-
bracht, und. ich nach erlangeten allergnädigsten special Rescripto solches
durch gebührende Rechts Mittel wieder ihn ausgeführt, Derselbige in dieses
Pasqvill gebracht, und selbige entweder heutiges Tages oder kUnfnigen
Freutag zu iedermänniglichen anschauen zu meiner grösten BeschimpfuDfs
und Beschmuzung meines ehrl. Nahmens und guten Leumuthes vorgestellcl
werden soll. Ob ich nun wohl dahin gestellet seyn laßen muB, daß biß
anhero der durch öffentl. Anschlag vor mei'neydig declarirte Reuther,
welcher nach eingehohlten Rechtsspruch durch den begangenen Meineydt alß
ein Unmann verworffen, zum öffentlichen Scandalo aller Herren Sludiosorum
gedultet und gehauset worden, wordurch er Gelegenheit genommen, ehr-
licher Leute Nahmen und guten Leumutb vermittelst famoser Schrifllen zu
concutiren und (vermittelst) schnöden gewinnst halber ehrlicher Personen
Nahmen in der Welt gottloser Weise hin und wieder spargirel, und hier-
durch hoher officianten Nahmen mißbrauchet, wie solches seine eigeDhändi£;e
Missiv sub Q [d. i. Nr. 32) besaget. So überläse ich solches alles dem Richter
seinen schweren Pflichten anheim, ob ein solcher Meineydiger zu dulten, und
ehrlicher leuthe Nahmen zu verfälschen, zu mißbrauchen und hierdurch geld
zu schneiden nachgelaßen sey ; So bedinge ich mir wieder den Distrahenlen
Werthern, weil dieses Factum wieder seine Pflicht und sich gleichfalB
hierdurch des Mcineydes theihafiXig machet, solches auszuführen, wil zu
dem ende solches diesem löbl. Judicio, was angeführet, zur Untersuchung
deferiret und um unterthänigsten Bericht an Ihre Königl. Majest. und Chur-
fürstl. Dchl. devotissime angesuchet, anbey aber inständigst gebethen haben,
die Exemplaria von Werthern abzunehmen, demselben zur eydl. speciG-
calion, wie viel er derer noch bey sich habe und wie viel sein Eheweib
verdistrahiret anzuhalten, und um Inhibition sub poena nelegationis an die
Interessenten 1) , so dieses Pasqvill [zu spielen beabsichtigen?], welche in
etliche 30. Personen bestehen sollen. Worunter i) Samuel Rudolph Bahr;
"i) Thomae der Studiosus, welcher sich bey Posch en vormahls auf-
gehalten; 3) Grabner, Hr. Lic. Menckens Famulus; 4) Hr. Dr. Päkels
Schreiber; 5) der Pasqvillante Kroll, welcher dergleichen Famos Schrifllen
^) damals die Bezeichnung für die Mitspielenden, so auch stets bei Weise, 5. B.
» Gestalt meinen Hochgeschätzten Anwesenden die sämmtlichen Interessenten zu be-
harrlicher Gunst-Gewogenheil anbefohlen werden« und so öfter.
185] Christian Reuter. 639
doD Meineydigen Reuthern hilfft zusaium tragen, auch anbey Grabnern
in conlinenli eydi. zu befragen, unterdienstlichen gebethen wird, wer die
übrigen Studiosi, benebst Werthern, der gleichfalB hiervon gute Wißen-
schafll haben mag, eydl. abzuhören, inzwischen aber sich Reut hers Person
zu versichern dienst], angesuchet. Gleich wie ich nun zu hintertreibung
solcher bösen Thaten mich rechtl. Hülfe versehe, Also wil ich mir meine
zustehende jura wieder einen ieglichen in Unterlaßung richterl. hülffc aus-
drücklichen vorbehalten haben, welche auch auf diesem Fall einen ieglichen
seine Ehre zu retten nachgelaßen. Leipzigk den 11. May. 1700.
Ew. Magnificenz und Herrl.
unterdienstschuldigster
Mauritius Volcmarus Göze.
Weil Reuthcr nicht mehr unter die Universität gehörig, so muß, was
seine Person betrifll, es bey denen Stadtgerichten gesuchet werden; in
übrigen aber soll Hr. Götze vor allen Dingen bcybringcn, daß das ange-
zogene Scriptum ein Pasqvill sey und Er dorinne gemeinet. Goncl. de 15.
ejusd.; inzwischen aber ist am obigen praesentato Werthern, dergleichen
nicht zu verkaufen, angedeutet worden. Ghr. Scheffler mpr. Actuarius p.
34. Mai 13: Viertes Klagschreiben Götzens ah die Universität j die Comödie
und deren Aufführung betr.
An Tit: Das löbl. Concilium der Vniversität Leipzigk.
praes. d. 13. Maij 1700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwürdige, HochEdle, Veste, Hochachtbahre, Hoch- und Wohlgelahrte
Insonders HochgeEhrte Herren p.
Ew. Magnificenz und Herrl. erinnern sich hochgeneigt, wie ich des Mein-
eydigen Re uth er s Pasqvill, so von den Pedellen Werthern vorkaufft wor-
den, und sonsten hin und wieder spargiret, auch heute nach beykommen-
den Anschlag sub B. öffentlich in loco publice vorstellen wil, der löbl. Vni-
versitHt zur Untersuchung deferiret und um poenal Inhibition an die Inter-
essenten angesuchet, So wil ich hoffen, weil ohne dem einen Richter in
conscientia oblieget, solche böse Thaten zu hintertreiben, bevorab da die
Pasqvillanten die allergnädigste Bewilligung mit keinem Worte dociret, wes-
wegen um soviel destomehr dieses Werck wohl untersuchet werden und mir
Richterliche hülfe wiederfahren laßen. Gleichwie ich nun an der gesuchten
inhibition nicht zweiffle, also verharre ich dafür
Ew. Magnißcenz und Herrl.
Leipzigk d. 13. Maij 1700. unterdienstschuldigster
Mauritius Volcmarus Göze.
Daneben, bezeichnet mit B, ein Theater^-Zettel, Doppelfolio, gedruckt [ist mit
Kleister angeklebt gewesen] :
®raf I e^rcnfrtcb | in einem | «uft*®|>ietc | öorgeftcüet | unb | 5Kit 3^v.
Sönigf. aWai: in ^ol^Ien :c. unb 6^ur* | fürftl. 'iDure^L 3u ©ad^fcn, k | aüer*
<
640 Friedrich Zarngk£, [<86
gnäbtgften | SPECIAL-SBctoiaigunfl | unb | grcJ^^cit jum ©rud bcfdrbcrt, | SBBirt
$eute üDonnetftag ald ben 13. May praesenriret. (sie) \ (Zierleiste) \ 'Der ®c^n^
$(a<; tft anf (sie) bem t$(etfd^'$aufe unb toirb puncte 3. U^r angefangen.
35. Mai 14: Fünftes Klagschreiben Götzens an die Universität, die Com&die
betr.
An Tit: Das löbl. ConciJium der Vniversität Leipzigk p.
praes. d. 44. Maij, 1700.
Magnifice Academiac Rector
UochEhrwttrdige, HochEdlc, Veste und Uochgelahrle
Insonders HochgeEhrte Herren.
Ich habe bereit zu unterschiedenen mahlen wieder ihren Faaiuluin Aca-
demicum Werthern, daß er des Meineydigten exciudirten Rcuthers ver-
fertigtes Pasqvill um schnöden gewinnst willen öffentl. wieder seine Pflicht
distrahiret und wegen seines Eydes zum Mamelucken worden, um inhibilion
angesuchet, auch wieder die andern Gommoedianten , welche sich alB Stu-
diosi in loco publice gebrauchen laßen, ansuchung gethan, absonderl. aber
wieder des Herrn Professoris Lic. Menckens Famulum *) Inhibition ge-
suchet, aber nicht die geringste hülfe erlanget. Nun wird es der löbl. Yni-
versitäl bcy denen auswärtigen ein schlechter Ruhm seyn, daß sie so schlechter
dinges ihren Pedell öffentliche Pasqville verdistrahiren laßen, noch zum höch-
sten ärgernUß ihren unterthanen einen meineydigen, worvor sie durch öffent-
lichen anschlag solchen declariret, anhängen zu laßen, ehrliche und unbe-
scholtene Leuthe hierdurch beschmizet werden, und solchen alle rechtliche
hülfe versagen, So muß der Beträngte zu Gott schreyen, bevorab da die-
jenigen, so in gewißen Zeiten obrigkeits Stelle vertreten, ihre bedienten zu
solchen Ärgernüß brauchen laßen , und weiln der Verdacht auf seilen des
Pedells sich noch ferner hervorthut, daß er gar dieses Pasqvill mit Krelln
und Reuthern öffentlich benebst den Patent drucken laßen und zu dem
Ende bey dem Buchdrucker Gözen sich biß dahero eingefunden, von die-
sem Wercke deliberiret und was sonsten in dem Gerichte verschwiegen seyn
sollte, von denen unschuldigen Gefangenen^] alles propaliret, So wird hier-
mit gebethen, den Buchdrucker Gözen allenthalben umständlich dorüber
eydl. vernehmen zu laßen , auch dem Pedell schon gebethnermaBen , wie
viel er von den Exemplarien bis daher verdistrahiret, von wem er und die
Seinigen solche enthalten, auch was darinen von meiner Person schon läng-
sten aus denen Actis sub B. fol. 128 Nachricht gehabt, eydl. anzeigen zu
laßen, und mit der Inqvisition wieder ihn zu verfahren und mir gleich an-
dern rechtl. Hülfe mitzutheilen , auch hiernechst Grabnern zugleich über
das ausgeübte Factum allenthalben zu vernehmen. Ich reservire mir aber
*) Nach der Angabe im Voraufgehenden war es der Stud. Grabner, der d€Mn
auch unten mit Namen genannt wird.
^) W^<w für Gefangene gemeint sein mögen j ist mir nicht bekannt. Studenten
auf dem Carcer?
\
\
^8*7] Christian Recter. 641
ob denegatam juslitiam mich an höhern örtern zu beschweren, und durch
gebührende Rechts-Miltel solches auBzuführen. Verharre inzwischen
£w. Magnificenz und Uerrl.
Leipzigk unterdienstschuldigster
den 14. Maij 4700. Mauritius Volcmarus Göze.
36. Mai 14: Sechstes Klagschreiben Götzens an die Universität, die Comödie
betr.
An Til: Das löbl. Conciiiuui der Universität Leipl .<en hoch-
geehrten Herrn.
praes. d. ii Maij 1700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwürdige, HochEdelc, Veste vnd üochgelahrte
Insonders Hochgeehrte Herrn ^).
Obgleich [von] Ew. Magnifc, auf beschehene Denunciation deß von dem
Meineydigen exciudirten Reut her verfertigten Pasqvills vndt deßen öfent-
lichen verdistrahiren, dem verpflichteten Pedell Inhibition geschehen, sich
deßen zu enthalten, So hatt er sich doch daran nicht gekehret, sondern noch
gestriges tages dasjenige Exemplar, so ich gestern in das gerichte einliefern
laßen, abermahl in dem Großen Fürsten Collegio gegen erlegung 8. gr. ver-
kaufen laßen. Ob ich tiun mir keinesweges einbilden kan, daß so ein hohes
vornehmes Gerichte durch ihre eigene verpflichtete Vnterthanen sich vexiren
vndt ihre inhibitiones so an den nagel hangen laßen werde, vndt im vbri-
gen frey laßen wolle, daß propter lucrum gottloßer bößer gewißenloser leuthe
Ehrlicher Persohnen (vndt) guter leumuth concutiret vndt verkaufet werden
soll, viel weniger der distrahente, so sich des criminis falsi et famosi libelli
theiihafllig gemacht, vnsuspendiret laßen werde; So trage ich bedencken
hinführe, biß er sich von der Inquisition entbrochen vndt mir allenthalben
satisfaction geschehen , nicht das allergeringste ahnzunehmen ^j , worwieder
ich einmahl vor allemahl höchst feierlichst protesliret haben will; vndt da-
mit er sich nicht entschuldigen könne, so wird hiermit gcbelhen, denjenigen,
durch welchen ich das ad acta insinuirte Patent bey ihn erkaufen laßen,
vber nachgesezte Articul ohne vcrzug eydlichen zu examiniren, vndt alßdenn
so wohl wieder diesen als andere interessenten mit der Inquisition gebtth-
rendt [zu] verfahren, damit ich mich ob denegatam justitiam zu beschweren
nicht ursach nehmen muß. Gleichwie ich nun an Recht vndt gerechtigkcit
nicht zweifele, alß verharre ich dafor
Ew. Magnfc. vndt Ilerl.
Leiptzgk d. 4 4. Maij 4700. vnterdienslschuldigster
Mauritius Volcmarus Götze.
^) Der Brief ist hastig hingeioorfen^ sehr undeutlich f auch stilistisch nicht correct.
Man beachte übrigens j wie Götze j der hier selber schreibt, noch der alten Ortho-
graphie folgt, die sonst damals bereits abgethan war. Er schreibt noch vndt, vn etc.
2) fehlt etwas?
/
642 Fribdrich Zarncke, 1^
Soll vor allen Dingen darthun, daß das Scriptum ein PaBqvill und auff
ihn gemachel sey. GoncL den 45. ej.
Darnach: Articuli , worüber Herr Köhler Studiosus eydiieh zu exami-
niren. Es sind acht, darunter der letzte: Wer die Persohnen vndt Studiosi
gewesen, so gestern die Comoedia mit auf dem Fleischhause gespicJet habeo.
37. Mai 29 : Siebentes Klagschreiben Götze' s an die Universitüt, mit der BiiU.
über bestimmte Articuli ein Verhör anzustellen.
An Tit. Das löbl. Goncilium der Universität Leipzigk, Meinen hoch-
geehrten ilerrn.
praes. d. 29. Maij, 1700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwUrdige, llochEdele, Yeste, iloch vndt Wohlgolahrte,
Insonders Hochgeehrte Hl.
Demnach der Meineydige Christian Reuther so wohl in seinen vher-
gebenen schrifTten als gedruckten Pasquill vorgegeben , als wenn ihme ni-
tione exclusionis vngtttlich geschehen , vndt sein Verbrechen dadurch coio-
riren vndt sowohl den Magistrat als auch andere Interessenten dießfals bey
hoher Obrigkeit denigriret, damit nun dcBen vnverschämtes böfies vorgeben
wiederleget werden kan, so gelanget an Ew. Magnif. vodt llerrl. meio
vnterdienstl. suchen vndt bitten, Sie wollen Hochgeneigt geruhen, über bey-
kommende Articul Herrn Christoph 1mm igen Not. Publ. Caes. eydiich i\i
oxaminircn vndt deß aussage ad acta registriren zu laßen, mir aber her-
nach deßen deposition in forma probante wiederfahren zu laßen; worfür
man verharret
Ew. Magnif. vndt Herrl.
Leipzig d. 29 Maij vnterdienstschuldigstcr
1700. Mauritius Volcmarus Götze.
P. S.
ingleichen wird gcbethen, Hr. Herrmann vermittels der Stadtgerichte
alhier eydlichen befragen zu laßen, das sich Reuther zeit wehrender
relegation (sich) bey ihm alhier eingefunden vndt wie ofTt.
Auf der Rückseite und weiter folgen 16 (15) Articuli.
Art. 1 : Wie Zeuge heiße, wer vndt wie alt er seye.
Art. 2: Ob Zeuge Christian Reuthern, geweßenen Studiosum kanne
vndt vmb deßen leben vndt wandel gute wißenschafll habe.
Art. 3: Wahr, daß dieser Reuther vor kurzen Jahren wegen vnferliger
Hendel vndt gemachter Comoedien wieder die Müllerischen Erben von
der Universität Leipzigk relegiret worden.
Art. 4 : Wahr, daß solches durch einen öfentlichen getruckten anschlag
alhier geschehen.
Art. 5: Wahr, daß dieser Reuther lange alhier incarceriret ge»escD
vndt daß bei seiner relegation bey der dimission den Urpheden ablegen müBen.
Dieser articul wirdt mit den Art. Inquis. dociret (?).
\
<89] Christian Reuter. 643
Art. 6: Wahr, daB ermeldeter Reuther, da er bereit relegiret vndt
angeschlagen gewesen, zum öfftersten sich in Leipzigk , den abgelegten Ur-
pheden zuwieder, (sich) aufgehalten, vndt bey Hr, Herrmannen dem
Seidensticker eingekehret.
Art. 7: Wahr, daß Zeuge den relegirten Reuther bey gedachten
Herrmannen selbst gesprochen vndt geredet.
Art. 9 (sie): Wahr, daB Zeuge Reuthern gewarnet vnd solcher re-
monstriret, wie er wieder seyn Eydt sich alhier aufhielte vndt wenn es
Kundt wehre er vngeiegenheit davon haben könte.
Art. 40: Wahr, daB Hermann vndt die seinigen hiervon allenthalben
gute wißenschafTt haben.
Art. 14: Wahr, daB sich offtberührter Reuther auch aniezo seinem
Eyde zuwieder aufheldt, Eeit wehrender relegation eine dergleichen Comoe-
dia in truck gehen vndt solche sowohl auf dem Fleisch- als Operen HauBe
spielen laBen.
Art. 42: Wahr, daB dieser Meineydige Reuther Hr. Moriz Volckmar
Götzen, Advocaten alhier, darinnen vielfaltig aufgefUhret vndt zu deB Be-
schimpfung solches pasquill so wohl auf dem lande als alhier distrahiren
laBen vndt sich dadurch viel geld in den beutel gemacht.
Art. 43: Wahr, daB in solcher Comoedia vndt Pasquille gedachter Götze
böBlich an seinen ehren vndt guten leumuth gekräncket vndt vor ieder-
menniglichen beschimpfet worden.
Art. 4 4 : Wahr vndt muB Zeuge wahrhafftig bekennen , daß dieser
Reuther sein eydt gebrochen, vndt so lange Zeuge ihn gekandt, sich lieder-
lich aufgeführet vndt von Kartenspiel vndt Pasquillen vndt anderen schimpfF-
Hchen schrifllen wieder ehrliche leuthe profession gemacht.
Art. 45: Wahr, daB dergleichen vornehmen wieder alles Rechte, vndt
iedcrman dadurch geärgert wird.
Art. 46: Wahr, daB dergleichen Ehrliche vndt vnbescholtene leuthe
vnverschuldet in schimpf vnd spott gesezet werden.
38. Juni 2: Achtes Klagschreiben Götzens an die Universität, mit der Bitte,
über bestimmte Articuli ein Vei^hür anstellen zu lassen.
An Tit: Das löbl. Concilium Der Yniversität Leipzigk.
praes. d. Sl. Junij 4700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwUrdige, HochEdle, Veste, Uochachtbahre und Hochgelahrte
Insonders HochgeEhrte Herren p.
Ew. Magnificenz und Herrl. ruhet annoch im hochgeneigten Andenken,
wie ich dasjenige Pasqvill, so der Meineydige Reuther und sein Correus
Kr eil, welches so wohl diese alB auch ihr Socius Wehrter der Pedell
allhier offentl. distrahiret und auf den Theatro so wohl auf den Fleisch- alB
opernhause mit ihren MitCommoedianten zu meiner grösten beschimpffung
zu iedermänniglichen anschauen vorstellen laBen, zur Untersuchung deferiret
und in der Hoffnung gelebet, duB sothanes unzuläBliches factum untersuchet
I
/
644 Friedrich Zarncke, ^^'
werden solle ; So ist doch solches biß dato nicht geschehen , sondern idi
bin mit einer nichtigen Entschuldigung, so zu Rechte nicht zulänglich, ab-
gewiesen worden ; mit den Vorgeben, daß ich vor allen dingen beybriogeo
soll , ob ich darmit gemeinet. Nun habe ich bereit zu removirung dieser
resolution unterschiedene Zeugen angegeben, welche aber bißdato nicht al>-
gehöret worden. Wenn denn hierdurch die Gerechtigkeit supprimirt und
die illicita nicht abgestraffet, sondern ehrliche unbescholtene Leute an ihreo
guten Leumuth mercklichen gekräncket werden, welches v/ohl schwerlich
zu verantworten seyn wird. So muß ichs Gott und dem Richter anheini
stellen, welches Er in seiner lezten TodesStunde und am jüngsten Gerichte
bey dem Höchsten Richter aller Welt zu verantworten wißen muß. Es sind
ja die Acta uf allen Blättern voll, absonderlich aber diejenigen Acta wieder
Dr. Johann Jacob von Ryseln, welcher anizo .eben dieser an mir an-
schuldig ausgeübten Leichtfertigkeit halben oondemnirt, anizo in dieses Pas-
qvill gebracht, und dahero, was notorium und die Acta fast in allen Judiciis,
so mit diesen beschuldigungen angefüllet, publiqve und dahero die Probs-
tion cessiret. Zum Ueberfluß, daß ich hierdurch gemeinet, undt dasjenige
Factum, so der Socius Fleischmann d. 47. Febr. 4700 an mir ausgeübei
und denen StadtGerichten alhier denunciret, sind die zugefügte Wunden
darinen enthalten , so provocire ich auf diese Acta , und diBfalß abgehörte
Zeugen ; nechst diesen werden bey kommende Articul übergeben, die dorinen
benahmbte Zeugin, so dero Jurisdiction unterworffen, darüber ohne Verzug
eydl. zu vernehmen, und mir zu meinen Rechte allenthalben zu verhelffeD,
auch den Lauff der heilsamen Justiz mir nicht hemmen, damit ich nicht
wieder meinen Willen genöthigt werde, mich ob denegatam Justitiam durch
gebührende RechtsMittel an höhere Obrigkeit zu beschweren noch zustehende
Action anzustellen. Gleichwie ich nun an Mittheilung Recht und gerechtig-
keit nicht zweifle. Also verharre ich dafür
Ew. Magnificenz und Herrl.
Leipzigk unterdienstschuldigster
den 2. Junij. 4700. Mauritius Volcmarus Göze.
Eingelegt ein Bogen Articuli, Worüber Johanna Eleonora Fetlin eydl.
zu befragen.
art. 4 : Wie Zeugin heise, wer und wie alt sie sey?
art. 2: Ob Zeugin Christian Reuthern, so vor kurzen Jahren wegen
öffentlichen begangenen MeinEydes von der Vniversitat Leipzigk ausgeschloßen
worden, kenne?
art. 3: Wahr, daß izt besagter Meineydiger Reut her und Studiosus
Kr eil eine also genannte Commoedie biß dahero in Druck gehen und durch
den Studiosura Welschen verkauffen laßen, diese Commoedie auch Zeugin
bey gedachten Welschen gesehen und ihr würcklich gezeiget worden?
art. 4 : Wahr, daß in solcher Commoedie unterschiedenes enthalten, so
theils der Tänzer Bahr theils auch was Dr. Rysel falschlich wieder Gözen,
daß in seinen Hause vorgegangen seyn solle, vorgebracht, darinen eni-
halten t
194] Christian Reuter. 645
art. 5 : Wahr , daß solche Commoedie in jüngst verwichener Meße all-
hier auf den Fleischhause öffentl. gespielel worden, Zeugin auch selhsten
solche mit angehöret und angesehen?
art. 6 : Wahr, daß in solcher Commoedie niemandt anders alß bemelter
Göze vorgestellet?
art. 7: Wahr, daß WahrhafiUg izt berührter Göze damit gemeinet, und
solches zu seiner höchsten beschimpfung vorgenommen worden?
art. 8: Wahr, daß Zeugin bey Gözen ein Jahr lang im Hause gewohnet?
art. 9 : Wahr und muß Zeugin bey ihren gethanen schweren Eyde wahr-
haffiig wahr sagen, daß Göze mit den seinigen in seinen Hause ein ordentl.
ehrliches Leben und Wandel führet, und alles aufrichtig und ehrlieh in sei-
nen Hause wiße.
art. 10: Wahr, daß, alß Zeugin aus Gözens Hause verzogen, Dr. Johann
Jacob von Rysel Zeugin wieder Gözen zum falschen Eyde bereden wollen?
art. 14: Wahr daß izt bemelter Rysel von Zeugin verlanget zu sagen,
was sie von Gözen wiße, er wollt ihr zu einen stück-geld verhelffen?
art. 42: Wahr, daß dergleichen Beredung Samuel Rudolph Bahr bei
Zeugin vorgenommen, sie zu bereden, aus zu sagen, was sie wider Gözen
wiße?
art. 43: Wahr, daß dieser Bahr sich gleichfalß bey der articulirten
Commoedie auf den Fleisch- und opern Hause eingefunden, und sich alß
einen Tänzer aufgeführet?
art. 44: Wahr, daß dieser Bahr sich bey Reuthern und Ereilen
eingefunden und solche Commoedie wieder Gözen mitspielen helffen?
art. 45: Was Zeugin sonsten mehr von dieser Commoedie bevvust, so
darinen zu Gözens Beschimpfung angeführt worden?
39. Juni 2: Denunciation Reuter^ s gegen Götze wegen Blasphemie^).
An Tit^ Das Hochlöbl. Concilium Der Universität Leiptzigk, Meinem
hochgeehrten Herren.
praes. d. 8. Junij 4700.
Magnifice Academiae Rector
HochEhrwürdige, Hoch und WohlEdle, Veste, Großachtbahre, Hoch und
Wohlgelahrte, HochgeEhrte Herren,
Ich kan Denenselben nicht verhalten , weichermaßen ich in Erfahrung
gekommen, daß Moritz Voickmar Götze, Advocatus allhier, kurtz zuvor,
ehe er mit Herr David Fleischmann zerfallen, alhier in seinem Gewölbe
am Marckte unter Herr Hetzners Hause ^), als er bey ihm daselbst einige
^) Diese Denunciation macht Fascikel C der oben aufgeführten Acten des Haupt-
Staat sarchives aus.
'^) Es ist das Haus Nr. 44 am Markte , das von 4674 bis 4708 in Metzner-
schem Besitze tvary von da an in den der Hohmann's überging. Das Gewölbe unter
demselben ist also der jetzt s. g. Aeckerleins Keller.
646 Friedrich Zarngke. ^^^
Gläßiein Brantewein verschlucket; gantz Gotteslästerlicher Weise gefluchet,
und ungeachtet ihn ein Studiosus Theologiae Nahmens Hr. Nicolaus Limmer
davon ernstlich abgemahnet und erinnert, daß sothanes Gotteslästem und
Fluchen der Heil. Schrifft und deme darinnen auffgezeichneten Worte Gottes
zuwieder wäre, hat er solches dennoch in Wind geschlagen und negiret,
bis angezogener Herr Limmer die Heil. Schrifft, davon er ein Exemplar
zugegen gehabt, auCTgeschlagen , darinnen Götzen das Göttliche Yerboth
und die angehengte Straffe wieder die Flucher und Gotteslästerer zu lesen
vor Augen geleget, woraufi^ aber Götze gantz erschröcklicher Weise Gott zu
lästern und gegen den Studiosum Theologiae mit diesen Worten herauszu-
fahren sich unterstanden: »Habt Ihr dieses Teuffels Buch auch? gehet weg
mit diesen Teuffels Buche, ich scheuBe Euch was auff Euer Buch«, so gar,
daB sich nicht aliein dieser Studiosus theol. sondern alle Anwesende darüber
wie billig zum höchsten geärgert.
Wenn ich denn diese groBe Gotteslästerung, sobald ich solche vernom-
men, nicht verschweigen kan, alB habe ich Selbige Zu Bestraffung Denen-
selben denunciren und zum Zeugen oben angezogenen Herrn Limmer an-
geben wollen, welcher auff befragen derer noch mehr, so dabey gewesen,
nahmhafftig machen muB, allermaBen ich auch zum fundament beykommende
Articul, worüber der angegebene Zeuge eydlichen zu vernehmen übergebe
und nicht zweiffeie. Dieselben weixlen sich bey Untersuchung dieser Sache
ein rechter Ernst seyn laßen, und diese Denunciation-Schriffb zu denen de-
nunciationibus bringen, welche wieder diesen Gottes Lästerer und Verbrecher
bereits vor Dero Hochlöbl. Judicio eingegeben worden sind^). Deren Unter-
suchung damit die delicta bestraffet werden können, meine HochgeEhrten
Herren billig oblieget, ich aber verharre
Meiner HochgeEhi*ten Herren
dienstwilligster
Leiptzigk den 2 Junij Christian Reuter mpr.
1700. Secretarius bev Ihr. Exceil: den Camnierherrn
von Seyfferditz.
Ein Bogen ist eingelegt mit folgenden
Articuli, worüber Herr Nicolaus Limmer Studiosus Theologiae eyd-
lich abzuhören.
Art. 1 : Wie Zeuge heiße, wie alt und wes Standes er sey?
Art. 2: Ob Zeuge Moritz Yolckmar Götzen, Advocaten in Leiptzit^k,
welcher auff den Barfüßer, oder iczo sogenannten neuen Kirchhofe wohnet,
kenne?
Art. 3: Ob nicht dieser Götze ehedem, da er noch mit Herr David
Fleischraann, hiesigen Handelsmann, in guten Vernehmen gestanden,
sein Gewölbe, so am Marckte unter Herr Metzners Hause liegt, fleißig
besuchet ?
*) Mir aus den Acten nicht bekannt. Etwa die Anklage der Frobergerin?
193] Christian Rbdteii. 6i7
■
An. 4: Ob nicht Zeuge einsmahls Götzen daselbst einige Gl^figen
Brantewein verschlucken sehen?
Art. 5: Ob nicht Zeuge gehöret, daß Götze daselbst beym Brantewein-
sauffen Gotteslästerlich gefluchet?
Art. 6: Wie diese Flüche, welche Götze ausgestoßen, geheißen?
Art. 7: Wie lange solches ohngefehr sey?
Art. 8: Ob nicht Zeuge Götzen, als er von ihm diese Gotteslästerung
gehöret, verwiesen und davon abgemahnet?
Art. 9 : Auch ihn erinnert, daß sothanes Gotteslastern und Fluchen der
Heil. Schrifft und den darinne auflgezeichneten Wortte Gottes zu wieder wäre?
Art. 10: Ob nicht Götze solches alles in den Wind geschlagen und
gar negiret?
Art. 44: Ob nicht Zeuge darauff die heil. Schriffl zur Hand genommen,
auflgeschlagen und Götzen darinnen das Göttl. Verboth und die angehengte
Straffe wieder die Plucher und Gottslästerer zu lesen vor Augen geleget?
Art. 4SI: Ob nicht darauff Götze gegen Zeugen mit diesen Gottesläster-
lichen Reden herausgefahren: Habt Ihr denn dieses Teuffelsbuch auch ? gehet
weg mit diesen Teuffelsbuche, ich scheuße euch was auff euer Buch?
Art. 43: Oder wie die Wortt sonsten geheißen?
Art. 44: Ob nicht Götze durch diese Wortt die Heilige Schrifft ver-
standen?
Art. 45: Wen Zeuge angeben könne, der damahls im Gewölbe zugegen
gewesen, und diese Gotteslästerung mit angehöret?
Art. 46: Was Zeugen sonsten wieder Moritz Volckmar Götzen straff-
bares bewust sey?
40. Juni 5 : Anklage Reuter^ s gegen Götze wegen Injurien [Fase. B der Acten).
An Tit* Das Hochlöbl. Concilium der Universität Leiptzigk, Meinem
HochgeEhrten Herren.
praes. d. 8. Junij 4700.
Magnifice Academiae Rector,
HochEhrwürdige, Hoch und WohlEdle, Veste, Großachtbahre,
Hoch und Wohlgelahrte, HochgeEhrte Herren,
Es ist Denenselben bestermaßen bekandt, welcher gestalt lhr:^Königl.
Maj: unser allergnädigster Herr bey Dero Hohen Anwesenheit in lecztver-
wichener NeujabrMeße meinen HochgeEhrten Herren allergnädigst anbefehlen
laßen , daß Sie wegen der wieder mich beschehenen ehemaligen exclusion
und relegation, weil mir Ihr: König]. Maj: solche allergnädigst erlaßen, wei-
ter nichts vornehmen selten; Weil ich nun hierüber meine Unschuld, und
daß mir durch Moritz Volckmar Götzens falsches Angeben ratione der Ex-
clusion zu viel geschehen, gehöriges Orths auszuführen in Begriff bin, aller-
maßen, wie die bey Denenselben ergangene Acta bezeugen, ich dieserwegen
niemahls gehöret worden, so hätte ich nicht gemeynet, es würde Jemandt,
insonderheit nach erlangter Königl. allergnädigsten Begnadigung, sich an mir
zu reiben, und die erlangte Königl. Gnade zu mißgönnen suchen, welchen
AbhMdl. d. K. S. GeBelUcb. d. WisaesBch. XXI. 48
6i8 Frigmrkji Zarncke, ^^^
aber ungeaclilel aufgezogener Götze wieder mich auffgestanden , und in
hohen und Niedern Judiciis^) mich in Schrifflen grausam aDzugreiffen und
zu prostiluiren sich unterstehen dUrfl'en. Gleichwie ich mir nun, sobald k\\
deren communication erlangen werde, gebührende Vindicalion expresse re-
servire, alB werde ich genöthiget wieder diesen Erzc<iluninianlen uml
Verleumbder meinen Hochgeehrten Herrn beykommende injurien Klace
schuldigstermaßen Zu übergeben, mit dienstl. Bitte, mir wieder Beckl. Herht
und Gerechtigkeit wiederfahren zu laßen, solche anzunehmen, den Pnx*ex^
zu eröffnen, Beckl. die Klage zu communiciren und benebst mich legaliter
vor sich fordern zu laßen. Gleichwie ich nun den Process durch einen le-
galen Advocaten iederzeit fortzusezen bedacht seyn werde, alB erklähre ich
mich, weil ich meiner iezigen Dienste halber nicht allezeit in Leiplzig gegen-
wärtig seyn kan, daß ich zufrieden seyn will, wenn die folgende cilationes
an mich^j, meinen caventen ad domum insinuiret werden, also als wenn
sie mir ad Domum insinuiret worden würen, der ich sonst iederzeit verharre
Meiner HochgeEhrten Herren
dienstwiüigster
Leiptzigk den 3 Junij Christian Reuter mpr
1700. Secrelarius bey Ihr Exceil: den Cammerherm
von Se y fferdiz.
Angefügt ein Bogen:
Höchst abgenöthigte Injurien Klage Christian Reuters Klügers undln-
juriatens an Einem contra Moritz Voickmar Götzen, Advocaten in Leiptzigt
Beckl. und boßhaften Injuriantens und caiumniantens, andern Theil.
Kläger saget Zu Anbringung seiner Klage kürzlich : Obwohl in Rechten
heilsamlich versehen, daß niemand dem andern an seinen Ehren Leymulh
und Nahmen anzugreiffen, zu injuriren und zu beschimpffen sich unterstehen
soll, auch disfalls denen Verbrechern den Staub-Besen, Zeitl. und ewige
Landesverweisung, Gefiingnüß und andere Willkührliche Straffe dicliren, so
hat sich solchen ungeachtet dennoch Beckl. Moritz Voickmar Götze l>oBba£f)er
Weise unterstehen dürffen , Klägern in einem dem Concilio Academico zu
Leiptzigk übergebenen und den ^i. May 4700 datirten Schreiben heutig zu
injuriren, zu diffamiren und zu beschimpffen, und indem er Vorgegeben:
Daß sich der Täntzer (Herr Baren meynendte) bey den Meyneydigen
Reute rischen distrahirten Pasqvill (sich) befinde, Klägern nicht allein Vor
einen Meyneydigen sondern auch das gefertigte und gedruckte LuslSpiel
Graf Ehrenfriedt genannt, ein Pasqvill zu schelten, da doch Klüger nieniahls
den beschwornen Uhrfehden dolose gebrochen, sondern vielmehr beckl. Gölze
durch falsches Angeben es dahin gebracht, daß Kläger in seiner Ahwesen-
heit mit der Exclusion übereilet worden, wie nicht weniger das angezogene
Lust Spiel mit Ihr: Königl. Maj: allergnädigsten Special Bewilligung und Frej-
*) Mir Nirhts weiter bekannt.
*) an mich gehört zu citationes , meinen caventen ist der Dativ. Gemeint i» |
woht der legale Advocat.
<9^] Chbistian Reuter. 649
heit nach AnleiluDg beykommenden Exemplars zum Druck befördert worden,
und also Beckl. sich an Ihr. Königl. Maj: dadurch gröbl. vergriffen. Wann
sich dann Kläger die große Injurien billig zu Gemüthe gezogen, und noch
ziehet, als ist er zu Klagen genöthiget worden, fordert dannenhero hierüber
von Beckl. allenthalben deutliche und richtige Antwort, bittet hierauff zu
erkennen, daß Beckl. Klägern allenthalben Zu Viel gethan, dahero er ihm
mit Erstattung der Process-Unkosten vor Gerichte eine Christliche Abbitte
und Ehrenerklärung zu thun, Kläger aber überläßet die Bestraffung an Staub-
Besen, Zeitl. und ewiger Landes Verweisung oder Gefängnüß dem Richter-
lichen Amte, und bedinget sich nach beschehener Einlaßung den Grund der
Klage allenthalben gebührendt binnen der in Rechten nachgelaßenen Frist
zu bescheinigen und bey zubringen , und imploriret pro Administratione Ju-
stitiae nobile Judicis officium mit reservation anderer Rechtl. Nothdurfft.
41. Juni 11 : Schreiben GreWs an die Universität, seinen Antheil an der Co-
mödie spöttisch ablehnend.
Memorial an das Hochlöbl. Concilium.
praes. d. 12. Junij 1700.
Magnifice Rector,
HochEhrwUrdige, HochEdle, Hochachtbahre,
Veste und Hochgelahrte,
Insonders Hochzuehrende Herren und Patron i.
Es ist mir glaubwürdig berichtiget, welchergestalt der Advocat Göze
in Actis contra N. Reutern unverschemt vorgegeben, ich habe die Comoedie,
so verwichene Meße auf allergnädl. Befehl allhier repräsentirt worden, ver-
fertiget, sey auch der Autor totius negotii. Wenn nun gleich die Verfaßung
des gedachten Spiels nichts Unrechts, sondern, weil selbige darzu a Sere-
nissimo concedendo approbirt worden, ich mir, wenn pro autore passiren
solte, Höchl. zu gratuliren hette, so will dennoch, in erwegung Götze mich
nur dadurch zu denigriren suchet, solcher unverdienten gloir müßig gehen
und die dißfals mir zugefügten Anzüglichkeiten per expressum vindiciren.
Gelanget auch dahero an Ew. Magnif. und Hochlöbl. Concilium mein unter-
dienstliches Bitten, Sie geruhen entweder die Reuterischen Acta in loco
judicij propter allegatum interesse und damit ich sehen möge, qvae, qvales,
qvantae injuriarum expressiones , auch ob ihn Injurianten darob Rechtl. in
Anspruch nehmen könne, mir vorzulegen, oder aber das injurienvolie Schrei-
ben in forma probante zu meiner Nothdurfft zu extradiren. Es ist dieses
denen Rechten gemäß und ich verharre dafür
Ew. Magnif. und Hochlöbl. Concilii
unterdienstlicher
Leipzig Johann Grell Studiosus
den 41. Junij 1700. ipse concepit.
43*
/
650 Fbiedbich Zam?i€ke, P^»
42. Juni 14 : Klttgich reiben der Universität an den König-Churfürsten soyco^ö
über Reuter wie über Götze.
Dem Ailenlarchlauchtigstcn , GroBmächtigslen Fürsten und Dern,
Herrn Friedrieb Augusto, König in Fohlen u. s. w. . . .
ünserm Allergnädigsten Herrn.
Praes. d. ^i Junii 1700.
Allerdurehlauehtigster, Großmächt igst er Kdnig und Cburfürst,
Ew. Königl. Majestät und ChurfUrstl. Durch! . seind onser andächtiges
Gebeth und allerunterthänigsle Dienste in pflichlscbuldigsten Ge-
horsamb, Treuesten Fleißes, eußersten Vermögens nach, jeder-
zeit anvor,
Allergnadigster Herr.
A]B der von Uns einiger Verbrechen halber anfangs relegirle und her-
nach excludirle Christian Reuter alhier sich dennoch wieder eingefunden
und das in beykommenden Acten sub A. >) befindliche sogenante Lustspiel
Öflentlich zu unterschiedenen mahlen gespielet, so hat Moriz Voickmar Götze
in dict. Actis sub A. darüber bey Uns sich beschweret und daß denen Stu-
diosis, die bey selbigen sich gebrauchen ließen, ingleichen den Pedell, durch
deßen Eheweib er es verkauffte, nicht allein dieses iuhibiret, sondern auch
wieder selbigen und wieder Reutern mit der Inquisition verfahren wer-
den möchte, gebethen. Nachdem wir aber besagten Götzen, so viel das
wieder die Studiosos und den Pedell beschehene Suchen betreffe, dafi er
vor allen Dingen, daß obermeltes Scriptum auff* ihn gemacbet sey, anzeigen
solle, fol. 48., zur Resolution ertheilet, auch darneben, wasmaßen Wir Ober
Reutern, als einen exclusum, die Jurisdiction nicht zu exerciren hetten,
sondern solcher des Raths Bothraäßigkeit nunmehro unterworffen were, h^
schieden, hat nicht allein dieser damit nicht zufrieden seyn wollen, indem
er das fol. 22. befindliche Schreiben eingegeben, auch darinne
Daß die Gerechtigkeit supprimiret und die illicita nicht abge-
straffet, sondern ehrliche unbescholtene Leute an ihren guten
Leumuth mercklich gekräncket würden.
Ingleichen :
Er müste Gott und dem Richter anheim stellen , welches er in
seiner lezten TodesStunde und am jüngsten Gerichte bey dem
höchsten Richter aller Welt zuverantwortten,
angefUhret; Sondern es ist auch darauff gedachter Reuter eingekomroen
und hat sowohl wieder ermelten Götzen die fol. 1 in Act. sub B befind-
liche Injurien-Klage ängestellet, als auch wieder denselben, daß er bedenck-
lieber Reden sich vernehmen laßen, sub C. denunciret.
Dieweil nun, Allergnadigster König und Churfürst, Wir, ehe und bevor
Götze, daß er in den sogenanten Lustspiel gemeinet, wieder die Sludiosos
und Pedell aus Mangel der Indieien etwas anzuordnen nicht vermocht, bocd
*) Liegt bei.
\
I
197] Chbistian Rbotbr. 651
weniger aber wieder Reutern, als einen exclusum, zumahl wegen des Schrei-
bens fol. 9 (Nr. S3) etwas vornehmen können, und gleichwohl zu befahren,
daß von Götzen Wir ferner belästiget, von Reutern aber, wenn er also
ungescheut hier bleiben solle, ein sehr groß Ärgernüß bey dieser Universildt
gestifilet werden dürfllie, Älß haben Ew. Königl. Majestät und Churfürstl.
Durch!. Wir die ergangene Acta in alier Unterthänigkeit übersenden und
Deroselben lediglich anheim geben wollen, ob nicht Reuter dahin, daß er
diesen Orth gänzlich meiden raüste, anzuhalten, wieder Götzen aber wegen
der wieder Uns gebrauchten AnzUgligkeiten und bedencklichen Reden, wenn
dieser letztem halber zuvorhero der angegebene Zeuge eydlich abgehöret,
mit der Inqvisition zu verfahren. Was nun Ew. Königl. Majestät und Chur-
fürstl. Durchl. hieraufT allergnädigst verfügen werden. Demselben werden
wir in aller Unterthänigkeit nachkommen, auch stets bleiben
Ew. Königl. Majestät und Churfürstl. Durchl.
Leipzigk Allerun terthänigste, pflichtschuldigste und getreueste
den 44 Junij 1700. Reclor, Magistri und Doctores
der Universität daselbst.
43. Juni 16: Neuntes Klagschreiben Götzens an die Universität mit Anhang
und Beilagen.
An Tit: Das löbl. Concilium Der Vniversität Leipzigk p.
praes. d. 19. Junij 4700.
Magnißce Academiae Rector
Hoch Ehrwürdige, HochEdle, Yeste, Hochachtbahre und Hochgelahrle
Insonders HochgeEhrte Herren.
Ob ich gleich das bekandle Pasqvill, welches so wohl allhier auf den
Fleisch- alß Opernhause öffentlich agiret worden, dem löbl. Concilio zur
Untersuchung deferiret, und darbey vorgestellet, wie 1.) der Conciptente
solcher famosen Schriflft, der meineydige und excludirte Reuther, und der
bekandte Krell, stud. , mit seinen HelfTersHeltfern conjunclis viribus et
communicato consilio Dr. Rysels, Davidt Fleisch manns, deßen Ehe-
weibes, Dr. Glasers, Stud. Welschens, welcher solches distrahiret, aus
denen Actis publicis, absonderlich aber aus denen Actis Davidt Fleisch-
nianns wieder Hr. Davidt Ziegiers sub B. fol. 138 seqq., it. aus denen
Actis wieder die Fleischmann bey den löbl. Stadtgerichten nach bey-
kommenden Extract sub 0 et J)» i^* ^^^ denen Inquisition Actis bey denen
Stadtgerichten wieder Davidt Fleischmann u. deßen Eheweibes, theils
wegen Vertuschung des Kindes, theils wegen verfälschter Wahren, theils
wegen Unterschleiffs des herein parthirten Bieres und andern Victualien,
theils mit seinen Cameraden Dr. Rysein an der Fr. Arnold in ausgeübten
Concussion zusammen getragen, und in dieses Pasqvill gebracht; So habe
ich doch keine andere resolution alß nachfolgende, daß ich vor allen Dingen
heybringen soll, daß ich durch dieses libellum famosum gemeinet, und sol-
ches ex Actis «deduciren soll, erhalten. Nun ist ex Jure genugsam bekandt,
daß derjenige, welchen der Beweiß auferleget, hingegen die That manifest.
i
\
652 Friedrich Zarngkb, [198
daß er mit den BeweiB zu verschonen. Es ist manifest, daß der iöhl. YdI-
versität eigener Bedienter, der Pedell Wert her, öffentlich solches Pasqvill
umb gewinnst willen distrahiret und die studiosos hey den Opernhauß hierzu
convociret, wie hiervon Hr. Dr. Bdckel Nachricht geben muß. Es ist ferner
bekandt, daß ich zu behauptung der Inqvisition und wie in dem Pasqvill
einzig und alleine meine Person zur beschimpfung aufgefuhret, einige zeu-
gen angegeben, aber keine Mittheilung der Gerechtigkeit darauf erfolget,
sondern vielmehr der Lauff der heilsamen Justiz mir verkürzet worden; So
provocire ich \] bey diesem wahren Umstände auf Gott und deßen heiliges
Gerichte, wie solches nicht den Menschen auf dieser Welt, sondern dem
Herrn aller Welt gebalten werde (juxta 2. Paralip. 39.) , und daß im Ge-
richte kein ansehen der Person, er sey auch wer er wolle, vorgenommen
werden soll (Deut: 4) , Und dieses heiHge Geseze kan kein Mensch aus-
krazen, viel weniger ohne Verlezung der Pflicht bey seite gesezet werden.
Damit aber nichts desto weniger der ertheilten resolution eine Genüge ge-
schehe, So werden 2) sub 0 et 3 ^'^ ''^ ^^^ Pasqvillo §.^) 56. angefUhrleu
Verba, daß ich gemeinet, dociret und behauptet, daß Maria Christina Fleisch-
mann in solches vorgenommen und sub ^ ^^^ Urtheil darauf erfolget, her-
nachmahls aber diese Worte den meineydigen Reuthern und Kreileo,
mit ihrem Ehemanne, in dieses Pasqvill zu bringen verleitet, auch das Wort
Mnjurius^ in denen Actis, woraus dieser Extract genommen, benebst andern
Umständen enthalten, worvon sie bey der Inqvisition femer Rede und Ant-
wort zu geben schuldig, auch die sämtl. hinten angegebene Zeugen jurato
attestiren werden, daß meine Person in den Pasqvill gemeinet und aufge-
führet worden. 2) 2) ist fol. 27^^) in solchen Pasqvill, was von meiner Person
zu halten, nach ihrem bekändniß iedermänniglichen vorgeslellet^). 3) ist
die subscription des Concipientens dieser Schrifft falsch und fingiret, indem
dergleichen Person nicht in rerum natura, sondern dem Ryslischen Sl)Io
gemäß concipiret worden, allermaßen den 4) nach anleitung des dati solcher
Brieff in Sperga*) verfertiget, da denn dieses ganze Consorlium, Dr. Rysel,
*) Gemeint sind hier und im Folgenden die Seiten des Lustspiels. Auf S. 56
heisst es: Leon. Die Wirthin sagte mir, wie daß er einmahl ein paar Partheyen
in einander gehetzt, über welches Unrecht dieser Fleck-Schreiber von einem Frauen-
zimmer in Öffentlicher Gerichts-Stube wäre ein alter Rock-Seicher geheisseo wor-
den. Cour. Was hätte er denn darzu gesaget? Leon. Was solte er gesageJ
haben? Er hatte solches zu registriren gebethen, allein wegen anderer AfTain^o
hattens die Gerichten nicht gehöret, und war also dieses Frauenzimmer noch so
mit einem blauen Auge davon gekommen, sonst hätte er ihr unstreitig einen In-
jurien Proceß an den Hals geworffen. — 0 und J) sind die Zeichen, unter denen
die Acten über diesen Fall in Abschrift angehängt sind [s. u.) , die denn freilich
die Verurtheilung des » Frauenzimmers (a beweisen.
2) so fortan falsch gezählt.
^) Geht auf die Acten, Leider geht utis die Kenntniss derselben ab und es ist
daher das Folgende nur halb verständlich.
*) Am Rande von der Hand des Univ.-Actuars: Videantur Acta judicialia bey
den löbl. Stadtgerichten, da die Ehrenerklärung erkandt.
*) d. f. Spergau bei Dürrenberg, südlich von Merseburg.
499] Chkishan Rbutbr. 653
Da vidi Fleiscbmann, dcßen Eheweib, Scbrnidt der Caffi^e Schencke,
unterschiedene Studiosi als Mithelffer des Pasqvills, darunter sonderlich der
meineydigc und exeludirte Reut her, diese heil. Pßngstfeyertage ^) sich
eingefunden und zu iedermanns ärgernuB geschwelget und geludert, und
dieses Pasqvill zur HUlffe genommen^), worvon das ganze Dorff Sperga und
die Benachbarten genug zu singen und zusagen wißen. So hat auch 5)
Fleischmann und deßen Eheweib ferner §56 dasjenige Factum, so sie
an mir judicialiter zu meiner beschimpfTung ausgeübet, in solches Pasqvill
bringen laßen, und in der Fol. S7 ad Acta gebrachten Schrift solches wieder-
höhlet und zugleich hierdurch die Gerichte mit eludiret und öffentlich be-
schimpftet 3) . 6) Die bey solchen §. befindlichen Worte: *Ach! wenn ichs
nur nicht vergeßen hette^ It: ^der süßen Nächte', it: Mer Fleckschreiber' p.^j
zu meiner Beschimpfung vorgebracht. Was nun die ^«üßen Nächte' betrifft,
ist des Pasqvillantens eigenhändiger Brieff, so Fleischmann dazumahl.
als er mit seinem izigen Eheweibe verdächtig conversiret, selbst geschrieben
und von Medern Fuchß' und dessen ^ Abreitung', wie auch 'süßer Nächte'
gedacht wird, welche dieser böse Bube auf mich dolosd appliciret, und fol.^)
in Actis bey diesem Judicio sowohl Davidt Ziegler alß deßen Frau Mutter
Acta contra die Fleischm annin zu befinden und ad Acta gebracht werden
soll. So ist auch 7j durch den Fleckschreiber daher vorgestellet , weil ich
zu Marckranstädt das Actuariat und Stadischreiber Ambt vertrete, und sowohl
durch ^} jener alß meiner Person höchste Beschimpffung in solches Pasqvill
gebracht. § 57 finden sich diese Worte 'Ach! Tannenbaum'^ welche einsten
von mir gegen Rysel in loco publice und in beyseyn Fleischmanns jocose
erwehnet, hernachmahls aber von diesen in solches Pasqvill gebracht. 8) Der
Weinkeller ist zu meiner Beschimpffung angeführet, da ich doch zeit meines
Lebens und in die 30 Jahr allhier gewesen, hiebevor aber 2 oder 3 mahl
mit frembden Leuthen nicht zu Diezen kommen. 9) ist das Wort 'Fleck-
schreiber' § 75. 77. 78 s) und in den ganzen Pasqvill zu meiner Beschimpfung
angeführet. 10) it. §75 wird solches wiederbohlct und DenuncianlenTruncken-
heit beigemeßen. Dieses hat Fleischmann durch seinen MitPasqvillanten
*) Pfingsten war 4700 am 30. Mai.
^) soll wohl heissen: den Erlös aus diesem Pasquill.
^) Am Hände ix)n der Hand des Univ.'-Actuars : vide Acta judicialia, da die
Ebren-Erklährung.
^) S. 56 : Ach wenn ichs nur nicht vergessen hätte , was mir die Wirthin
alles von den süssen Nächten, und noch andern Streichen, so dieser Fleck-Schreiber
soll vorgenommen haben, erzehlet hat.
^) unausgefüllt gebliehen. Leider fehlt uns auch dieser Brief.
^) durch also hier noch = wegen, zwecks.
') Die Stelle ist oben S. 574 mitgetheilt. Weil Markranstädt nur ein Flecken
war, so toird Fleckschreiber spöttisch = Stadtschreiber gebraucht. Dass das Wort
wirklich so verwandt wäre, ist mir nicht bekannt : es umrde dann auch seine Spitüe
gegen Götze verlieren.
' 8) S. 75 wird vorgestellt, wie Injurius trunken aus der Weinstube auf die Gasse
taumelt ; S. 77 giebt eine Schilderung seines unwürdigen Gebahrens mit » Intriischen,
Cäußgeti a u. s. w. ; ebenso S. 78.
654 Fbibdrich Zarngkb,
und gewiBenlosen Mann in Actis sub ]it: B. fol. 438 seqq. Fleischmann«/-
Zieglern bey der löb]. Yniversität vorgerttcket. it: was § 54 von ^artigen
Frauenzimmer* und * Damasten Kleide 'i) daselbst angefttbret, zu seiDeo
höchsten Nachtheil benebst andern ßngirten lästern in dici. Actis sub B.
ihm aufgebürdet, Worfür aber desen Advocat, nachdem er Sachföllig worden,
in eine ansehnliche Straffe condemniret, und weiln diese Feindseligen dort
nicht fortkommen können , solches mit in dieses Pasqvill bringen laBen.
14) § 55. von ^nackenden tanzen '^j, dieses hat der allgemeine Landt Betrüger,
so gleichfalB wie die Historia, in Pasqvill angeführet, aus seines bösen Goo-
ciplentens und Ehrenschänders in Fleischmannischen Einbringen wieder
Zieglem in allegat: Actis sol B. fol. 138 seqq. anbringen laßen, welches
Geseze binnen wenig Tagen benebst den eingehohlten Urthel förderlichst
ad Acta gebracht werden soll^j. Was 12) die ^Wunden*, so § 103 an-
gefUhret, und ^verbundenen Kopff' betrifft^), dadurch wird augepschelDÜrh
die leichtfertige That/ so den 17. Februarius in dem Auerbacher Keller,
woselbst Fleischmann Denuncianten, besage derer Inqvisition Acta, oacb-
getrachtet, ausgettbet, vorgestellet, und §. 106. die ^ Wund Zeddul'^), so von
den Barbier ad Acta gebracht, anhero repetiret. 13) Der in § 106 au^
geführte 'Bauer mit 6fl.'^) ist Martin Hoffmann, Davidt Fleischmanos
^) S. 54: Leon. Sie erzehlte mir, wie daß derselbe Mann so ein vortreff-
licher Liebhaber von Frauenzimmer wäre. Cour. Ist er denn noch jungt Leoo.
Ey, es ist ein Stein-alter Mann, der schon auf der Grube gehet. Cour. Was
hat er denn nun mit dem Frauenzimmer gemacht? Leon. Er soll sich roög' \sir'}
in ein artiges Mädchen verschammeriret gehabt haben, und dasselbe hätte er aach,
weil er so hefflig in sie verliebt gewesen, in gelben Damast kleiden lassen, uod
hernachmahls nur das Rübsen-Stücke geheissen. Cour. Ey warum nicht gar das
Schoten-Stücke ? Hat aber dasselbe FrauenZimmer den alten Gourtisan auch Gegen-
Liebe bewiesen? Leon. So viel ich von der Wirthin vernahm, so hätte sie ibm
nicht einmahl eine charmante Mine gemacht, vielweniger, daß sie ihm für das ge-
schenckte Damastene Kleid sonsten seinen Willen erfüllen sollen. Cour. Ja, es
geht bißweilen so, wenn alte Männer mit jungen Mädgen löffeln wollen, allein
es geschieht ihnen gar recht, wenn sie hernachmahls für ihre Spendagen ins Fäust-
gen nein ausgelacht werden.
2j S. 55: Leon. Ein artiges Histörgen erzehlte mir die Wirthin von diesem
so genandten Fleck-Schreiber. Er hätte einsmahls auf einer Hochzeil nach einer
Bären-Music mit Frauenzimmer nackend um einen Dannen-Baum beramgetaatzel,
weiches ihm diese Stunde noch übel ausgeleget würde. Cour. Ey, das kann icb
mir leicht einbilden. Nackend zu tantzen ! es kömmt gar zu ärgerlich heraus. Wenns
doch noch im Hemde gewesen wäre.
3) Am Rande von der Hand des Univ .-Actucnrs : vide sub J) . VgL S. 658.
*) S. 405 erscheint Injurius mit verbundenem Kopfe und in den boshaften Plä-
nen, die er gegen seine Gegner entwirft, zeigt sich die ganze Gemeinheit seines
Charakters.
^) S. 406 : Job. Hast Du denn auch einen Wund-Zeddel eingegeben? Injur.
Ich habe auff eine iedwede Wunde den Barbier einen Zeddel machen lassen.
•) S. 405 fg. Injurius will den Johannes zum Meineide verleiten. Jöh. Vichi
tausend Ducaten weite ich nehmen, hohl mich Gottl nicht 10. tausend. Aber
Momflere weistu was, laß den Bauer wieder holen, der über jenen dorte, wie
Du wohl w^eist , vorm Jahre falsch geschworen hat , und gieb ihn noch eii
201] Ghbistian Rbutbr. 655
gewesener Hoffmeister zu Sperga; denn weil man diesen nicht alleine zur
Bescheinigung des Unterschleifls des herein parthirten Bieres und Victualien
sondern auch wegen Reuthers begangenen Meineydt zum Zeugen adhi-
biret, So haben die Pasqvillanten selbigen unter den praetextu einer Cor-
ruption aufgefUhret >) . 14) in § 120.^) von denen Intraden des Glosters allu-
diren die Pasqvillanten auf das fol. 438 in Actis sub B. befindliche Fi ei seh -
mann ische Einbringen , wordurch der Verleumbter, der Fleischmann ische
Advocalus, Dr. Rysel, Sachfallig worden. 45} das Kupfer dieser Pasqvilles
concernirende , hette solches billig ad Acta gebracht werden sollen , weiln
es aber der Denunciante nicht habhafft werden können , so ist solches aus
Davidt Fleischmanns und deBen Eheweibes Inqvisition Actis allhier ge-
nommen; allermaBen der fol. 428. (^ falsche Brieff 3), so Peter Paulj^) MeBe
4697 Denuncianten im Nahmen Herrn Lauren tij Arnolden dolose von Dr.
Ryseln, Fleischmann und deBen Eheweib concipiret und fol.^) in Actis
in originali foL 428 (^f zu befinden, auoh dem ansehen nach durch Fleisch-
m^nns Jungen, Peter Volckeln, geschrieben und Denuncianten von der Post
aberschicket worden, worinen des Denunciantens Statur von denen Pasqvil-
lanten beschrieben und von dort zu deBen Beschimpfung in solches Pasqviil
gebracht^). So sind auch 46) die Worte 'Intrttschen' zu Denunciantens
Beschimpfung in die famosd Schrifft gebracht , welche einsraahles nur jocos^
angefUhret worden. Was 47) die Worte in § 424 'Practiqvenmacher' it.
in § 446 'Schelmfinger klopfen' und sonst in § 76 angeftlhret '') , so in denen
6 fl., er thuts schon. Injur. Ja, was weiß derselbe Mann von dieser AfTaire?
Johao. Wariimb hatte er aber über jenen geschworea, vor 6 fl., und falsch? Nu?
1) Am Rande von der Hand des Univ.-Actuars: vid. Acta Inqvisil. fol. 132
sub Ht'- Davidt Fleischmaüns und deßen Eheweib; femer vid. Denunciation
Acta Christian Reuthers.
^) Diese Anführung ist auffallend, denn jene Worte spricht im Stücke nicht In-
jurius, sondern Graf Ehrenfried, während er Abt ist, S. 420: Ehrenfried. Sagt
mir doch nur, mein Herr Gapitain-Lieutenanl, wie ichs auff der Welt besser haben
könte, als so? Ich habe ja mein schönes Auskommen von so vielen KlÖster-Intraden,
das ich bey Hofe nicht habe.
^) Auch dieser Brief fehlt uns,
*) Das Fest dieser fällt auf den 29, Juni, Damals war also bereits Feindschaft.
^) Nicht ausgefüllt.
•) Am Rande von der Hand des Univ.-Actuars : vid. Acta der Fleischmannin
die abbitte betr. fol. 492 per verba iiyurius.
^) S. 124 sieht die Klage und die Veruninschung der Leonore, daß ihr der
Practiqvenmacher solch Zeug in die Supplik gesetzt hibe [s, S. $7$), und daß
solchen doch allen flugs die Hälse gebrochen werden möchten. S. 44S: Cour.
Mich wundert, daß von der hohen Obrigkeit so einem Practiqvenmacher seiner
unverantwortl. anzüglichkeiten halber, nicht mit ernstlicher Strafl'e auf die unnützen
Schelm-Finger geklopft wird. — S. 76 Warnung an Injurius, er möge sich nicht
in der Dunkelheit auf die Strasse wagen, er könne angefallen werden, und wäre es
auch nur aus Irrthum, Cour. Man kan nicht wissen, trug sichs doch neulich
auch zu, daß einer den andern gerne in die Haare wolte, und in der grossen
Bosheit und Trunckenheit sabq er nicht einmal, mit wem er zu thun hatte, und
kriegte also eben auch einen unrechten beym Kopffe. Injur. Das ist viel ein
anders; denn wenn man truncken ist, so kan man sich wohl leichte irren; Ist
r
656 Fbiediiicu Zabncke, 'pl
Fieischmannischen Inqvisition Aciis^ alB Denunciant •/- Fleiscbmann
und deßen Eheweibe, haben die Pasqvillanten ßngiii. Nun wird nichts
hindern, daß die Pasqvillanten sich bey dem Titul mit einer special Bewilli-
gung; behelffen wollen (angesehen solche eines Theils noch nicht beyhraebt,
anders Theils wäre solche per et sub obreptionem erschlichen, indem
sie meine Person unter andern fingirten Nahmen bey solcher Concession
dolose verschwiegen) , dass solches Pasqvill einzig und allelne auf meine
Person abgeziehlet gewesen, da dorch Fleisch mann, defien EheWeib,
Dr. Rysel und sämtl. Adhaerenten Theils wegen des Reutherisdieo
Meineydes Theils auch wegen der von ihm und seinen Advocato Dr. Ryseln
an meinen Principalen Hr. Laurentij Arnoldens Eheweibes ausgeübten
Coneussion sich revangiren wollen^).
Wann aber, HochgeEhrte Herren, das Gerichte dem Allerhöchsten Well-
Richter und nicht den Menschen gehalten wird , und (wie schon oben ao-
geführet) solches ex lege divina genugsam bekandt, daß ohne Ansehen
der Person einem iedweden Gerechtigkeit mitgetheilet werden soll, so grttqde
ich mich auch auf dem Göttlichen Rechtsspruch, und habe das gute Ver-
trauen zu Ew. GroBachtbarl. Herrl. , Sie werden nach bekandten Ruhm,
in majoribus delictis et scandalosis, worunter auch die famosen Libelle zu
annectiren seyn, mir in diesem stücke, gleich wie Sie mir iederzeit nach
anleitung der Rechte Richter]. Htilfe geleistet, gleiche Gerechtigkeit mit-
zutheilen geruhen und an den Lauff der heilsamen Justiz nicht hinter-
lieh seyn , bevorab da sich diese Pasqvillanten ihrer übeltbat , so sie ao
. mir ausgetlbet, noch rühmen, und wie sie mit mir umgangen, in öffenl-
lichen Truk befördert 2), worinnen mir in allen stücken vor Gott und aller
Welt das groste Unrecht geschiehet, auch weil ich und die Meinigen
dadurch in unwiederbringlichen Schaden gesezet worden, wohl zu pondireo
und da das Interesse Fisci und Richterliche Respect hierunter versiret, wohl
zu observiren, in dem auch an und vor sich selbsten dasjenige, was durch
Urthel und Recht ein mahl ausgcführet, keinesweges in öffentl. Pasqvilie za
bringen, noch von privat Personen zu traduciren nachgelaßen ist, und weil
solches toties qvoties in Schrifln^en wiederhohlet , wird solches um so viel
desto mehr zu untersuchen, auch solches crimen famosi libeHi nach deBen
in Rechten gesezier Poen andern Pasqvillanten zum Abscheu zu bestraffen
seyn, zu dem Ende ich solches alles wieder Fleischmann und deBen
Ehe Weib hiermit denen Gerichten deferiret haben wil. Mit Ritte, solche
darüber zu vernehmen und denen bereit formirten Inqvisition Actis, worauf
man sich fundiret, einzuverleiben, und dieses um so viel desto mehr, H'eil
sowohl Davidt Fleisch mann wegen vielen Mißethaten die Inqvisition
mirs doch unlängst ebenfalls so gegangen, daß ich einem Unrechten in die Haare
ßel, allein das geschähe im Wein-Keller, und nicht auf öfTentlicher Gasse.
^) Am Rande von der Hand des Univ.-Actuars : vid. Denunciat: Acta Christno
Reuthers. — vid. Inqvisit: Acta Davidt Fleischmanns u. deßen Eheweibes
da ihnen die special Inqvisition zuerkandt.
2) wo, ist mir nicht bekannt geworden, Oder ist eben das' Drama gefneuH*
203]
Christian Reiitkb.
657
auch deßen EheWeibe solche glcichfalB in specic wegen Parthirerey mit
Herr Homniel und Herbstens Jungen zuerkanndt und vou Ihrer Königl.
Majestät und ChiirfUrstl. Durehl. p. Unsern allergnüdigsten Herrn p. confir-
fniret worden , und aUso allhier allenihalben dieser beyden Personen vila
anteacta gar schlecht beschaflen, nach Eydl. AuBage sub J)j welches denn
mit nechsten ferner adminieuliret werden soll, Voriezo nur ganz unter-
dienstlich gebethen haben, solches alles wohl zu untersuchen, und beyde
Pasqvillanten über angezogene Facta zu vernehmen, und nachbelinden auf
bedUrffenden Fall darüber rechtl. erkennen zu laßen. Ich reservire mir
wieder die sämtlichen Interessenten und Distrahenten , er sey auch wer
er wolle, meine zustehende Action ausdrücklichen bevor. Leipzigk den
16. Junij 4700.
Ew. HochEhrwUrdigen Magnificenz und Ilerrl.
unterdienstschuldigster
Mauritius Volcroarus Göze mpr.
Zur Behauptung dieser Sache, daB Reut her und Krell dieses Pas-
qviil mit Genehmhaitung und Approbation Davidt Fleisch m an ns, deBen
Eheweibes und Dr. Ryseln geschehen, welche obigen Beyden , so stets bey
Fleisch mann aus- und eingangen, die materia zum Grunde dieses Pas-
qvills aus denen Actis zugebracht, auch Rath und That so wohl zu agirung
dieses Pasqvills alB deBen verdistrahirung darzu geben , werden nachgesezte
Zeugen angegeben.
Herr Dr. Glaser*)
Hr. D. Welsch
Hr. D. Friese
Hr. D. Schwendendörffer
Hr. D. Holze 1, welcher ebenfalB da-
von Wißenschafft hat und ein Exem-
plar verschicket.
Hr. Seiffert, der Advocatus, wird
Zeugnuß geben, daß ich dadurch
gemeinet.
Hr. M. Germer.
Hr. Eichel der FechtMeister und deßen
Eheweib
Welsch
Bellwitz, Hr. Dr. Zipfels
Schreiber
Ho ff mann aus Merseburg
Studiosi <
Studiosi
G rabner, Hr. Lic.Menckens
gewesener Famulus.
Hoff mann von Cbemniz
Bock aus Merseburg
Thomae Capitt (Capsit?)
Gambe
Schmidt Gaffte Schenke, welcher an-
fängl. das Pasqvill gehabt.
Schrecker der BallMeister, so dieses
Pasqvill in den Wirthshäusern mit
sich gefuhret und auf gewiesen.
Wohlfahrt der Jüngere
Christian Laube
Peter Völckel, Fleischmanns
Crahm-Junge.
Christian Froberger, Fleisch-
manns StififSohn.
Fleischmanns izige Köchin p. p.
*) Dieser Dr, Glaser ist bekannt durch sein Interesse für das Leipziger Theater.
Er war es, der 4695 gemeinsam mit Strungk den Contract auf die Erbauung des
Opernhauses einging. Vgl. Blümner, Gesch. d. Theat. in Leipzig, S. 55,
658 Friedrich Zarncke, [204
Q Den 22. Seplembr. 4 699.
Nachdem heutiges Tages Fr. Margaretha Zieglerin mit deren Tochter,
Frauen Marien Christinen Fleisch mannin, vor Gerichte in einen Process,
da jene wegen einer Schuld Forderung diese belanget, erschienen, und bey>
den Theilen, sich vor der schweren Straffe des Meinfiydes (denn es soll die
Fr. Zieglerin das Juramentum Calumniae, die Frau Fleischmannin aber
den Haupt Eydt ablegen) in Acht zu nehmen, zugeredet wird , Worbey den
mehrgedachter Fr. Zieglerin Gurator, Hr. Moriz Voickmar GÖze, gleich-
falß einige Erinnerung thut und ihn die Fr. Fleischmannin einen
'alten Rockseicher'
heißet, So suchet derselbe an^ solches zu registriren, welches auch verordnet
worden.
Davidt Bittorff Geschbr mpr.
J) Uosern freundlichen Dienst zuvor. EhrenVeste, Hoch und Wohlge-
lahrte, Hoch und Wohlweise, günstige Herren und gute Freunde.
Alß dieselben Uns die wieder Marien Christinen Fleischmannin
ergangenen Acten benebst einer Frage übergeben und sich des Rechten
darüber zu belernen gebethen haben,
Demnach sprechen wir Ghurfürstl. S: Schoppen zu Leipzigk darauf
vor recht,
Darauß so viel zu betinden, daß ermelte Fleischmannin Moriz
Voickmar GÖzen wegen derer vor Gerichte wieder ihn ausgestoßenen
schimpflichen Reden eine Ehren Erklährung zuthun, sowohl die verur-
sachten Unkosten, daran die fol. 5^ liqvidirten Gebühren sub A auf 1. Thir.
zu moderiren , der baare Verlag sub B. aber ohne Abgang zu passireo,
abzustatten schuldig, und wird hierüber um fünfl* ThIr. billig bestraffet.
Von Rechtswegen, zu Uhrkundt mit unsern Insiegel versiegelt.
Churfürstl. Sächß. Schoppen zu Leipzigk.
M. Nov. 1699. 4 ThIr. 4 4 gr.
Daß vorstehende beede Abschrißten in denen Mir vorgelegten, contra
Maria-Christinen Fleischmannin Anno 4 699 für denen Edl. Stadt-Gerichten
Zu Leipzigk ergangenen Original-Actis fol. 4 et 7 von Wort zu Wort also zu
befinden, wird hiermit glaubwürdigst be-attestiret.
Christophorus I mm m igen mpr.
Not. publ. Caes. jur. ad hoc reqvisitus.
A4. Juni 19: Inserat der Universität zu dem Klagschreiben an den König-
Churfürsten (Nr. 42) j sich über Götze beschwerend.
Allerunterlhiinigstes Inserat.
Auch
Allergnädigster König und Churfürst,
Geruhen Dieselben ferner in Hohen Gnaden zuvernehroen, wie daß ob-
gedachter Götze, bereits nach beschehener Mundirung dieses allerunter-
thänigsten Berichts, und da Wir solchen fort zu schicken in Begriff gewesen,
erst mit dem Schreiben fol. 27 seqq. (iVr. 45) eingekommen und in selbigen
zwar nunmehro, worinnen die durch das Reuterische Pasqvill ihm angethane
Beschimpffungen bestehen solten, angegeben, daneben aber die vorhin wie-
der Uns gebrauchten sehr harten Anzttgligkeiten auff diese maße:
5105] Christian Reuter. 659
Es isi ferner bekant, daB ich zu Behauptung der Inqvisition und
wie in dem Paßqvill einzig und allein meine Person zur Be-
schimpflung auffgefuhret, einige Zeugen angegeben, aber keine
Mittheilung der Gerechtigkeit daraufT erfolget, sondern vielmehr
der Lauff der heilsamen Justiz mir verkürzet worden, So provo-
cire ich 4.) bey diesem wahren Umbstande auff Gott und deßen
Heiliges Gerichte, wie solches nicht den Menschen auff dieser Welt
sondern dem Herrn aller Welt gehalten werde (juxta S. Paralip.
19.) und daB im Gerichte kein Ansehen der Person, er sey auch
wer er wolle, vorgenommen werden soll (Deut. 1j , und dieses
heilige Geseze kan kein Mensch auskratzen, viel weniger ohne
Yorlezung der Pflicht bey Seite gesezet werden p.
vviederhohlet und also nichts gewißers denn daß er mit selbigen femer wie-
der Uns continuiren möge, zu befahren, Derowegen Ew: Königl. Majestät
und ChurfUrstl. Durchl. unib Dero milchtigen Schutz wir in allerunterthanig-
keit zu bitten unumbgünglich genöthigt werden, verharrende
Ew. Königl. Majestät und ChurfUrstl. Durch!.
allerunterthänigste, pflichtschuldigste,
Leipzigk getreueste,
Den 49. Junij, 4700. Rector, Magistri und Doctores der
Universität daselbst.
45. Juni 26: Erneutes Klagschreiben der Universität über Götze,
Dem Allerdurchlauchtigsten , Großmachtigsten u, s. w. Friedrich
Augusto u. s, w. Unserm Allergnädigsten Herrn.
praes. d. SIS. Junii 4700.
Allerdurchlauchtigster, Groß mächtigster
König und GhurfUrst,
Ew. Königl. Majestät und Churfttrstl. Durchl. seind unser'
Andächtiges Gebeth und allerunterthänigste Dienste, in pflicht-
schuldigsten Gehorsamb, Treuesten Fleißes, eußersten Vermögens
nach, iederzeit anvor,
AUergnädigster Herr.
Es hat Mauritius Volckmar Götze in einem nur heut Ubergebenen Schrei-
hen sich abermahls folgender Wortte wieder Uns zugebrauchen unterstanden :
p. p. In Betrachtung da biß anhero majora delicta et scandalosa
theils 40. fache falsa, theils zweyfache Concussiones , theils mani-
festa scripta famosa bey diesem Judicio zu bestraffen vorhanden,
auch theils solche Personen, welche die famose Schriflten vor-
sezlich wieder Gerichtl. Yerbothe distrahiret, ganz impun^ ge-
litten werden, hingegen der beleidigte Theil obiger delictonim
halber in unwiederbringlichen Schaden seiner Ehre und guten
Leumuth höchst unverantworttlich gesezet und welchen es con-
cerniret, defraudiret und betrogen wird pp.
660 Fr. Zarncke, Christian Reuter. ^^06
Dieweil nun die Continuation dieser höchst seh impif liehen Injurieo, mit
welchen Wir iniuitu officii angegriffen werden, zu besorgen, Also wollen
wir uinb schleunige Allergnädigste Resolution auff unsere albereit ems^e-
schickte Berichte allerunterthänigst gebethen haben, verbleibende
Ew. Königl. Majestät und Churfürstl. Darchl.
allerunlerthanigste , pflichtschuldigste,
getreueste
Leipzigk Rector, Magist ri und Doctores der Universität
den 26. Junij 1700. daselbst.
46. Juli 19: Anklage der Frau Froberger gegen Götze.
Dem Aller Durchlauchtigsten Groß Mächtigsten u, s. w. Friedrich
Augusto u. 5. w. Meinem allergnädigsten Herrn.
praes. 23. Julij 1700.
AUerDurchlauchtigster Groß mächtigster
Kdnig undt ChurFttrst p.
Allergnädigster HerrI
Ewl: Königl: Maystl: undt Churfürstl: Durchl: geruhen Sich allergDüdigsI
zu erinnern, welcher gestalt ich wider Moriz Yolckmar Gozen, AdvocateD
in Leipzig, dem Conciüo Academico einige von Ihme begangene Strafbahre
Verbrechen anzugeben im Begriff bin, allermaBen zu solchem ende Ewl.
Königl. Maystl: undt Churfl. Durchl. der Universität zu Leipzig allei^nädigsl
anbefohlen , daB Sie deBwegen wieder Ihne mit der Inqvisition verfahreo
solte , weil mir nun bey so gestalten Sachen die angegebene Verbredien
gebUhrendt zubescheinigen oblieget, unter denen selbigen unter andern auch
dieses ist, so Er seine Obrigkeit auf das ärgste durchgezogen undt geschmähet,
Dergleichen Begünstigung aber von Ihm nur jüngsthin in gewissen Memo-
rialien, welche auB den Hochlöbl. OberConsistorio in das höchst PrelBliche
Geheimbde Raths Collegium gegeben worden, begangen worden sein soll;
AlB gelanget an Ewl: Königl: Maystl: undt Churfürstl: Durchl: mein aller-
unterthänigstes Bitten, Dieselben geruhen allergnädigst zu solchem ende mei-
nem Advocato sothane Acta ad extrahendum Vorlegen zu laBen. Ich verharre
vor die allergnädigste Verfügung
Ewl. König]. Maystl: undt Churfürstl: Durchl:
Leipzig allerdemüthigste
den 19 Julij. 1700. p. Margarelha Elisabelha Frobergerin.
Dr. K. Friese (concepit).
InhaltsYerzeichniss.
Seite
I. Christian Reuter 457
11. Christian Reuter und die Müllerisc hen Erben.
1. Die Familie Müller 474
t. Die ehrliche Frau zu Plissine 48 4
3. Harlekins Hochzeits- und Kindbetterin-Schiuaus 496
4. Reuter*s erste Relegation 506
5. Schelmuflsky's Curiose Reisebeschreibung 510
6. Der ehrlichen Frau Krankheit und Tod 530
7. Letztes Denk- und Ehren-Mahl der ehrlichen Frau .... 538
8. Die Oper 544
9. Reuter*s zweite Relegation und Exclusion. Versuche der Re-
habilitation 553
III. Christian Reuter und der Advocat Moriz Yolkmar Götze.
1. Persönliches 561
2. Graf Ehrenfried 567
3. Anklagen und Gegenanklagen 576
IV. Schluss 581
Erster Anhang, Bibliographie 585
Zweiter Anhang, Auszüge aus den Acten 603
DIE GENESISBILDER
IN DER KUNST DES FRÜHEN MITTELALTERS
MIT BESONDERER RÜCKSICHT AUF DEN
ASHBURNHAM - PENTATEUCH
VON
ANTON SPRINGER
MITGLIED DER KÖNIGL. SACHS. GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN.
Abhandl. d. K, S. Gesellscli. d. Wissenscb. XXt. 44
In der Abhandlung über den Utrechtpsalter ^) habe ich das
Dasein einer selbständigen Kunstrichtung in der karolingischen Periode,
soweit es sich um die Illustration der Psalmen handelt, bewiesen.
Wenn auch die einzelnen Handschriften des Abendlandes sich von
einander in der Auffassung des Textes, in der Komposition und der
technischen Durchführung unterschöiden , nach Familien geordnet
werden müssen, so verknüpft sie doch alle der scharf und deutlich
ausgesprochene Gegensatz zu den byzantinischen Psaltern. In der
Studie über die »deutsche Kunst im zehnten Jahrhundert« habe ich
sodann die literarischen und künstlerischen Zeugnisse züsammenge-
stellt^), welche den engen Zusammenhang der Kunst der Ottonischen
Periode mit dem karolingischen Zeitalter darthun. Die stetige innere
Entwickelung der abendländischen Kunst vom neunten bis tief in das
elfte Jahrhundert erscheint auf diese Weise gesichert. Noch bleibt
aber eine andere Aufgabe zu lösen. Die karolingische Kunst ist
keineswegs dem Boden entwachsen, auf welchem sie sich ausbreitet.
Sie wurzelt vielmehr vorwiegend in üeberlieferungen, welche bis auf
die altchristliche Zeit zurückgehen. Dieses gilt selbstverständlich von
den Gegenständen der Darstellung, welche den christlichen Gedanken-
kreis wiedergeben. Keineswegs kann es so unbedingt, ohne weitere
Beweise, von der Form und Gestalt der künstlerischen Schilderung
angenommen werden. Wird doch z. B. von den altirischen Minia-
turen vielfach behauptet, dass die Figuren der Evangelisten, der
Madonna, die Darstellung der Kreuzigung ebenso wie die Ornamente
Werke einer ursprünglichen, rein nationalen Kunst sind. Jedenfalls
verdient die Frage, ob auch eine Fortpflanzung . formaler Traditiotien
*) Abb. der phil.-hist. Classe der kgl. Sachs. Ges. der Wiss. Bd. VIII.
2) Westdeutsche Zeilschrift f. Geschichte u. Kunst. Trier «884. S. %0\
44*
666 Anton Springer, i
stattgefunden habe und auf welchem Wege sie sodann bis zu den
Kunstlern der karolingischen Periode vordrang, einer eingehenden
Prüfung. Erst wenn diese Frage im bejahenden Sinne gelöst ist,
wird man die Kette der Entwickelung schliessen dürfen und über
den wahren Verlauf der früh-mittelalterlichen Kunstgeschichte volle
Klarheit erlangen.
Die Prüfung vorzunehmen, verhinderte bis jetzt die grosse Sel-
tenheit von Denkmälern der abendländischen Kunst aus den Jahr-
hunderten zwischen der altchristlichen und karolingischen Periode,
also aus dem sechsten und siebenten Jahrhundert. Auf solche
müssen wir zunächst das Augenmerk richten, da sie uns den un-
mittelbaren Weg zeigen, auf welchem sich künstlerische Traditionen
bis in das karolingische Zeitalter forterben konnten. Erst in den
jüngsten Tagen wurde die Schwierigkeit der Untersuchung einiger-
massen dadurch erleichtert, dass wir die Hand auf ein hervorragen-
des Werk abendländischer Kunst des siebenten Jahrhunderts legen,
also wenigstens in einem Falle einem sicheren Wegweiser vertrauen
dürfen. Herr Dr. 0. von Gebhardt hat die Bilder des längst be-
rühmten, aber bisher niemals genau geprüften Ashburnham-Pen-
tateuch in musterhafter Weise herausgegeben^), die Miniaturen sorg-
fältig beschrieben und soweit es die Natur des Codex und die Mittel
des Lichtdruckes^) gestatten, dieselben in treuer Nachbildung weiteren
Kreisen zugänglich gemacht. Dem verdienstvollen Herausgeber Jag
die kunsthistorische Würdigung der Handschrift erst in zweiter Linie.
Er verzichtet ausdrücklich auf eine kritische Vergleichung der Minia-
turen des Ashburnham-Codex mit älteren und jüngeren illuslrirten
Handschriften der Genesis. Diese Vergleichung durchzuführen und
auf diese Weise die Stellung des Ashburnham-Pentateuch in der
Kunstgeschichte zu bestimmen, ist das Ziel der folgenden Abhandlung.
Ueber die Herkunft und die Schicksale des Ashburnham-Penta-
teuch ist in den letzten Jahren viel gesprochen und geschrieben
*) The miniatures of the Ashbumham Pentateiich edited by Oscar von Geb-
hardt. London 4 883. Asher u. Co. Folio. Mit 20 Tafeln.
^] Nur ein Blatt ist auch in wohlgelungenem Farbendrucke reproducirt.
^] Die Gbnesisbilder. 667
worden, das endgiltig richtige wohl von dem gelehrten Director der
Nationalbibliothek in Paris, Leopold Delisle. Nach Delisle's wie-
derholt abgegebenem Gutachten^) stammt die Handschrift aus dem
Kloster Saint-Gatien in Tours und kam in der Revolutionszeit in den
Besitz der Municipalbibliothek in Tours. Daselbst blieb sie, mehr-
fach beschrieben, bis zum Jahre 1842, verschwand um diese Zeit,
uro 1846 in der Sammlung des berüchtigten Bucherdiebes Libri auf-
zutauchen. Libri, welcher die Handschrift öfter gesehen hatte und
ihren Werth genau kannte, benutzte die auf der Bibliothek in Tours
herrschende Unordnung, stahl dieselbe oder liess sie stehlen, und
verkaufte sie einige Jahre später an einen Londoner Buchhändler,
Namens Road, von welchem sie Lord Ashburnham für 200,000 Fr.
erwarb. Um zum Ankaufe zu locken, erhöhte Libri willkürlich das
Alter der Handschrift und versetzte sie in das fünfte Jahrhundert;
um die Spuren des Diebstahls zu verwischen, fälschte Libri (fol. 1 1 6^)
eine Inschrift und behauptete die Herkunft des Pentateuch aus dem
Basilianerkloster Grottaferrata bei Rom. Ueber die Unwahrheit der
letzteren Behauptung, über die Identität des Ashburnham-Pentateuch
mit dem Codex in Tours kann nach Delisle's und Gebhardt's Unter-
suchungen kein Zweifel bestehen.
Leider ist auch der Ashburnham-Pentateuch, wie so viele unserer
ältesten illustrirten Handschriften nur als Torso erhalten. Das fünfte
Buch Moses fehlt vollständig und auch die anderen vier Bücher zeigen
mehrfache Lücken. Der Codex besteht aus 142 Blättern (c.-37.5
cent. h. und 32 cent. br.) ; der Text ist in zwei Columnen zu 28
Zeilen, ohne Wortabtheilung in rohen Uncialen auf wenig sorgfältig
zubereitetem Pergament geschrieben. Der Character der Schrift weist
nach dem übereinstimmenden Urtheil der zu Rathe gezogenen Paläo-
graphen^) auf das siebente Jahrhundert hin. Für die ersten drei
Linien eines jeden Buches und fUr die erste Linie eines jeden Kapitels
wurde rothe Farbe benützt, die Initialen erscheinen etwas grösser
als die anderen Buchstaben, zeichnen sich aber sonst weder durch
Gestalt noch durch Schmuck aus.
^) Les tr^s anciens manuscrits du fonds Libri dans les collections d' Ashburnham
Palace. Gommunication falte ä rAcademie des inscriptioDs^ le 22 fcvrier 1883
und: Rapport a Mr. le minisire de Finstruction publique le tS Juin 1883.
2) Vgl. Palfflographical Society pl. 239.
668 Anton Springer, [6
Mit Ausnahme von drei Blältern füllen die Miniaturen (das Titel-
blatt eingerechnet 20 an der Zahl) stets die ganze Seite. Sie sind
von einer einfachen rothen Linie eingefasst, von welcher an den
Ecken kleine spitze Blätter an kurzem Stiele auslaufen. Jedes Minia-
turbild umfasst mehrere Soenen. Diese sind nicht in regelmässigen
Reihen übereinandergeordnet, oder durch ornamentale Streifen ge-
trennt, sondern je nach dem Räume, welchen sie in Anspruch nehmen,
auf dem Blatte vertheilt. Um sie von einander zu unterscheiden,
empfängt gewöhnlich der Hintergrund einer jeden Scene eine andere
Farbe.
Wie verhalten sich nun die Miniaturen des Ashburnham-Penta-
teuch zu den älteren und jüngeren Darstellungen der Genesis, zu den
altchristlichen und altbyzantinischen einerseits, zu den karolingiscben
und spätbyzantinischen andererseits. Die Untersuchung stösst inso-
fern auf grössere Schwierigkeiten, als der Künstler bei den Genesis-
bildern eng an den Inhalt der Schrift gebunden ist, die letztere ihm
die Komposition, die Scene, die Personenzahl u. s. w. ziemlich genau
vorschreibt. Verhältnissmässig frei durfte sich der Illustrator des
Psalters bewegen. Der Text gestattete eine mannigfaltige Auffassung.
Der Maler konnte denselben wörtlich nehmen, oder den tieferen
Sinn, welchen die einzelnen Verse bergen, zum Ausgangspunkte
seiner Schilderung wählen. Auf diese Weise entstanden mehrere
scharf von einander getrennte Familien von Psalterillustrationen,
welche sich bereits durch den Inhalt der Darstellung von einander
unterscheiden. Die Genesisbilder dagegen zeigen eine viel grössere
Verwandtschaft, besitzen zahlreiche gemeinsame Züge. Wie wenig
bleibt bei der Wiedergabe des Sündenfalles, des Auszuges aus der
Arche u. s. w. der Freiheit des Künstlers überlassen? In der Haupt-
sache decken sich alle gleichnamigen Bilder. Nur durch sorgfältige
Prüfung aller Einzelheiten, selbst der unscheinbaren Nebendinge, ver-
mag der Forscher das Maass der Selbständigkeit zu erkennen; ins-
besondere wird er durch den Nachweis, dass in der Wahl der
Gegenstände eine Verschiedenheit waltet, in den Stand gesetzt, auf
eine bestimmte Richtung der Phantasie zu schliessen. Mag auch
vorläufig keine Sicherheit geboten sein, ob man auf diesem Wege
zum Ziele gelangt, so musste er doch als der einzig mögliche ein-
geschlagen werden. Die Bedeutung der einschlägigen Fragen für
7J Die Gbnesisbilder. 669
die Kunstgeschichte des Mittelalters ist zu gross, als dass nicht der
Versuch der Lösung allen Schwierigkeitön zum Trotze gewagt wer-
den sollte.
Zur Vergleichung mit dem Ashburnham-Pentateuch wurden fol-
gende Bilderkreise der Genesis herangezogen.
1) Die griechische Handschrift der Genesis in der Wiener
Hofbibliothek. Auf Purpurpergament mit Gold- und Silberbuchstaben
geschrieben, reiht sich dieses Bibel-Fragment — denn nur 24 Blätter,
vom 3. bis zum 49. Kapitel reichend, haben sich erhalten — den
Prachtcodices an, über deren maasslos prächtige Ausstattung der h.
HieronyfiQus in der Vorrede zum Buche Hieb Klage führte. Früher
in das Constanlinische Zeitalter versetzt, wird jetzt die Wiener Genesis
dem Charakter der schweren Unoialbuchstaben entsprechend, dem
sechsten Jahrhundert zugeeignet, lieber den Ursprung des Codex
ist nichts näheres bekannt, nur dass sich derselbe im vierzehnten
Jahrhunderte noch in Italien befand, wird glaubwürdig vermuthet.^)
Der Miniaturenschmuck dehnt sich über alle Seiten der Handschrift
aus, steigert demnach die Summe der Bilder auf achtundvierzig. Die-
selben füllen stets die untere Hälfte der Seite, zeigen leider die
Farben vielfach abgerieben, gestatten immerhin den Schluss auf eine
kunstgeübte Hand, welche auch technisch an den antiken Traditionen
festhält. Gold ist ausgeschlossen, die Färbung im Ganzen hell, mit
feinen Uebergängen von Licht zum Schatten. Sämmtliche Bilder sind
in dem bekannten Werke von Peter Lambeck über die Wiener Hof-
bibliothek ^), wenn auch mit arger Missachtung der stilistischen Eigen-
heiten, in Kupferstiche reproducirt worden.
2) Der Codex Geneseos Cottonianus im Britischen Museum.
*
Zwei griechische Bischöfe brachten die Handschrift als Geschenk für
König Heinrich VUI. nach England mit dem Vorgeben, sie sei iden-
tisch mit dem Exemplar, welches der h. Origines besessen. Leider
ging der Codex bei dem Brande der Cotton-Bibliothek 1731 beinahe
vollständig zu Grunde, so dass nur wenige Blattfragmente in halb-
verkohltem Zustande sich erhalten haben. Einige der noch kennt-
lichen Miniaturen wurden in den Vetusta monumenta der Londoner
^) PalaBOgr. soc. pl. 178.
^) Lambecii Gomment. de G. Bibliotheca Yindob. Über tercius. Wien 4 670.
670 Artox SnuüGBB^ *
Antiquarischen Gesellschaft 1750 reproducut, das Bild Gott Ta>5;
mit Adam in Westwood's Palaeographia sacra nacbg^iildeL b^
Codex zdblte ursprünglich 250 Miniaturen, während x^r jetzt bup:
16 Umrisszeichnungen zur Yerg^eichung heranziehen kOnneiu
3) Die karolingischen Bilderbibeln. Selbständige illostrirte Hand-
schriften der Genesis aus der karolingischen Periode haben sich nich;
erhalten, wohl aber erfreuen sich in den grossen Prachtschriften der
Vulgata die ersten Abschnitte des alten Testamentes r^felmassig eiiie$
reicheren künstlerischen Schmuckes. Die Anordnung der Bilder hat
in der Zeit eine durchgreifende Aenderung erfahren. Wahrend a
den altchristlichen Handschriften die Einzelbilder vorherrschten, vrer-
den jetzt mehrere Scenen, in Reihen übereinander g;ezeichnet, auf
einem Blatte vereinigt, gewöhnlich so, dass am Anfange eines jedeD
Buches des alten Testamentes (wie vor jedem Evangeliom) die da-
selbst erzählten Ereignisse wie in einer anschaulichen UebersichU-
tafel zusammengefasst werden. Die wichtigsten Denkmäler, welcfae
in Betracht gezogen wurden, sind ausser den AIcuinbibeln im bri-
tischen Museum und in der Bamberger Bibliothek (jene aus dem
Schweizer Stifte Moutier Grandval stammend, diese seit Jahrhunderten
in Bamberg befindlich, beide im S. Martinskloster in Tours im Qteo
Jahrhundert geschrieben) folgende:
a. die Bibel K. Karl des Kahlen in Paris, von Vivianus und
seinen Brüdern (in Tours) dem Frankenkönige überreicht und
b. die sog. Bibel von S. Calixt, jetzt in der Bibliothek der
Benediktinerabtei S. Paul bei Rom bewahrt, deren reichen Bilder-
schätz ich 1882 eingehend geprüft habe. Obschon die Bibel von
S. Calixt noch den korrupten Text der Vulgata vor Alcuins Ver-
besserung enthalt, muss sie dennoch mit Rücksicht auf die Natur der |
Ornamente und der Bilder dem Schlüsse des neunten Jahrhunderts
(oder noch später?) zugeschrieben werden. Mehrere Anzeichen
sprechen dafür, dass die Pariser Bibel Vivian's etwas früher geschrieben
und illustrirt wurde.
4) Eine besondere Stellung nimmt die »Metrical Paraphrase«
Caedmon's ein. Der Codex in der Bodleiana, in seinem kiinsü^
rischen Schmucke unvollendet, enthält 48 Minialuren verschiedener
Grösse, bald Einzelbilder, bald mehrere Scenen auf einem Blatte
übereinandergestellt und wurde im 10. Jahrhundert geschriebeo. W^
L
9] Die Genbsisbildbr. 671
Vorlage des Künstlers, welcher leider über eine sehr ungelenke Hand
gebot und der Natur niemals scharf in das Auge geblickt hatte, war
nicht die Bibel, sondern eine theilweise aus apokryphen, vielleicht
rabbinischen Quellen schöpfende Dichtung. ^) Seine Illustrationen
stehen daher nicht auf gleicher Linie mit den streng biblischen Bil-
dern, immerhin verdienen sie besonders ßlr die Geschichte Noah's
und Abraham's Beachtung, weil sie den Unterschied zwischen ofß-
cieller und privater Auffassung klar legen und auch zeigen, welche
Darstellungen sich einer gewissen Volksthümlichkeit erfreuten.
5) Der Untersuchung würde der rechte Abschluss fehlen, wenn
sie nicht auch auf die byzantinischen Schilderungen sich ausdehnte.
Findet ja noch immer der angebliche Einfluss der byzantinischen
Kunst auf das Abendland im frühen Mittelalter manche Gläubige.
Abgesehen von Einzeldarstellungen in Homilien und Psaltern habe
ich keine umfassende Illustration der Genesis zu Gesichte bekommen.
Die beiden Handschriften des Octateuch in der Yaticana scheinen
nur ältere Codices kopirt zu haben und keinen selbständigen Werth
zu besitzen. Die Zusammenstellung griechischer illustrirter Hand*
Schriften in westeuropäischen Sammlungen — und nur über diese
kann man vorläufig gebieten — legt die Yermuthung nahe, dass von
Evangelien und Psaltern abgesehen die spätere byzantinische Kunst
sich vorwiegend mit der Ausschmückung erbaulicher Schriften be-
schäftigte. Einigen Ersatz bietet das bekannte Malerbuch vom Berge
Athos. Mag dasselbe auch nur für die späteren Jahrhunderte (vom
12. herwärts) und selbst für diese nicht immer kanonische Geltung
besitzen, so lehrt es uns dennoch den durchschnittlich herrschenden
Bilderkreis kennen. Ergänzend treten die Schilderungen der Genesis
in dem ausgedehnten Gemäldecyclus der Capeila Palatina in Palermo
und in der Kirche zu Monreale hinzu. Schon die Ausführung in
iMosaikmalerei deutet das Beharren bei älteren Ueberlieferungen an.
Die musivische Technik hängt auf das engste mit einer Kunstanschau-
ung zusammen, welche im zwölften Jahrhundert längst ihren Höhe-
punkt überschritten hatte und langsam sich bereits auslebte. Ihre
^) Thorpe, Caedmon*s metrical Paraphrase, London 1832. Vgl. Archaeologia,
published by the society of Antiquaries of London Vol. XXIV und Westwood,
Palaeographia sacra. Vgl. A. Ebert: Zur angelsächsischen Genesis in Anglia V.
p. 124.
672 Anton Spbinger, [^0
Anwendung zeigt konservative Gesinnung, Die Palermitaner Mosaik-
bilder vertreten nicht allein eine ältere Richtung, sondern sind auch
offenbar unter bvzantinischem Einflüsse entstanden. Mochte das
arabische Culturelement auf Sicilien reiche Blüthen entfalten, nament-
lich auf die Bausitten der normanischen Eroberer vielfach befruch-
tend wirken, im Kreise der Malerei waren demselben selbstverständ-
lich enge Grenzen gezogen. Hier musste die byzantinische Kunst-
übung aushelfen. Dadurch erscheint es gerechtfertigt, wenn auch
diese Werke trotz ihres späteren Ursprunges zur Vergleichung heran-
gezogen werden. Die Vergleichung soll übrigens nicht auf jedes
einzelne Bild und auf jede einzelne Scene der zahlreichen Bilder-
kreise sich erstrecken. Aus äussern und innern Gründen empfiehlt
es sich, die Scenen zu grösseren Gruppen zusammenzufassen und
einander gegenüberzustellen. Solche Gruppen sind : die Schöpfungs-
geschichte, die Geschichte Adam und Eva's, die Sündflulh, die Ge-
schichte der Patriarchen Abraham, Isaak, Jacob und Joseph und end-
lich die Anfänge der Thätigkeit Moses. Die Grenzen des Buches
Genesis werden dadurch allerdings nicht strenge innegehalten. Die
Rücksicht auf den Ashburnham-Pentateuch bedingte aber die Ueber-
schreitung und wird den Fehler, dass sich Titel und Inhalt der Ab-
handlung nicht vollständig decken, in Fachkreisen entschuldigen.
1. Die SchöpfongsgescMclite.
Die Schwierigkeilen bei der bildlichen Wiedergabe der Welt-
schöpfung, welche erst Michelangelo in glorreicher Weise besiegt hatte,
mögen wohl die wesentlichste Ursache gewesen sein, dass dieser
Vorgang so selten zur Darstellung gelangt. Die altchristliche Kunst
kennt ihn nicht, er fehlt in der Wiener Genesis, ebensowenig
kommt er in den karolingischen Bibeln vor. Auch das Malerbuch vom
Berge Athos reiht dem Sturze Lucifers unmittelbar die Erschaffung
Adam's an. Einen hervorragenden Platz nimmt dagegen die Welt-
schöpfung in dem Ashburnham-Pentateuch ein. Ihre Darstellung füllt
ein ganzes Blatt und zerfällt in vier Scenen. Gott scheidet die Erde,
einen braunen rechteckigen Streifen von dem Himmel, sein Geist
schwebt zugleich in der Form einer blauen Wolke über dem (als
t
41] Die GENEsiseaDER. 673
grüne Welle gezeichneten) Wasser; er scheidet ferner das gelbe
Licht von der dunkelblauen Finsterniss, beide als unregelmässige,
dem Oblong sich nähernde Streifen dargestellt, er trennt weiter das
Wasser unter der Feste (abermals eine grüne aufgebauschte, ge-
streifte Fläche) von dem Wasser über der Feste und theilt endlich
das Land, steile braune Felsen von dem Wasser, grünen Wellen.
Wie in der Darstellung der unbelebten Gegenstände nur die dürftigste
Naturbeobachtung sich kundgibt, ihre Bedeutung immer erst errathen
werden muss, so offenbart die viermal wiederkehrende Gestalt Gottes
den Mangel an künstlerischer Tradition. Er ist überall gleichmässig
mit langem braunen Haar, in braunem Mantel und Sandalen an den
Füssen wiedergegeben. Wichtig ist, dass die stets ausgestreckte
Hand übermässig gross gezeichnet ist, hier also bereits die Sitte,
das bei der Thätigkeit besonders wirksame Körperglied durch Grösse
auszuzeichnen, anklingt. Wir dürfen wohl vermuthen, dass für alle
diese Scenen keine Vorbilder vorlagen, dieselben vielmehr von dem
Zeichner selbständig aber mühselig erfunden wurden.
Längere Zeit verstreicht, ehe wir wieder auf eine ausgedehnte
Schilderung der Schöpfungsgeschichte stossen. Diese ist so seltsam,
fällt so vollständig aus dem Rahmen der biblischen Erzählung her-
aus, dass sie in der Reihe der Bibelillustrationen kaum mitgezählt
werden kann. Die Miniaturen in der »Metrical Paraphrase« beginnen
mit der Darstellung, wie Gott (mit dem Kreuznimbus) auf dem Throne
sitzend die Huldigung der Cherubim und Seraphim empfängt. Das
nächste Blatt beschreibt in vier Abtheilungen den Sturz der rebelli-
schen Engel. Ihr Anführer, mit Krone und Stab, steht vor einem
Prachtbau, in dessen geöffnetem Inneren man einen Thron erblickt
und ladet seine Anhänger ein, diesen neuen Himmel zu betreten.
Vier grössere Engel neigen sich ehrerbietig vor ihm, vier andere,
kleinere, immer durch riesige Flügel charakterisirt , bringen ihm
Kronen dar. Die Huldigungsscene wiederholt sich in der nächst
unteren Abtheilung. In der Mitte steht ein grösserer Engel, mit
dem Diadem geschmückt und empfängt aus den Händen sechs klei-
nerer Engel Pfauenfedern. Die beiden noch folgenden Abtheilungen
des Blattes gehören zusammen. In der oberen schleudert Gott, von
Engeln umgeben, einen Bündel Pfeiler auf die Abtrünnigen, welche
kopfüber in die Tiefe stürzen; in der Hölle, einem fischartigen Rachen,
II
674 Anton Spunger, J:
liegt bereils Lucifer angekettet. Erst auf dem dritten Blatte wendt;
sich der Künstler der eigentlichen Schöpfungsgeschichte zu. NaiL
der Beiscbrift scheidet hier Gott das Wasser von der Erde. UeUr
dem Wasser schwebt ein Engel, welcher sich mit dem Gewandt
das Antlitz verhüllt. Darüber auf dem Scheitelpunkte eines Halb-
kreises sitzt Gott, jung und unbärtig; er blickt nach unten and hält
die Rechte ausgestreckt. Ein zweiter Halbkreis wölbt sich über
Gott, ein Engel schwebt innerhalb desselben mit einem runden Ge-
fässe in den Händen, aus welchem ein Strahlenstrom aof Gott sicti
ergiesst.
Vier Halbkreise sind auf dem vierten Blatte übereinander ^
zeichnet, hn obersten steht Gott in der Mandorla, ein Buch in der
einen Hand, die andere zum Segen erhebend. In dem zweiten er-
blicken wir auf dem Boden einen grossen Vogel und einen Hirsch
zwischen Pflanzen ruhend. Der dritte Halbkreis zeigt ein ähnliches
Bild wie Blatt 3 : Gott, unbärtig jung, mit dem Buche in der Eani
über ihm ein Engel, Strahlen ausgiessend. In dem untersten Halb-
kreise erscheinen oben Sterne, unten auf einer festen Linie einzeloe
dünne Bäumchen.
Die Frage, ob d^r angelsächsische Maler sich an eine künst-
lerische Ueberlieferung hielt oder auf Grund des vorliegenden Textes
selbständig die Scenen ordnete und die Formen erfand, muss zu
Gunsten der letzteren Annahme entschieden werden. Wir haben es
nicht mit schlimmen Nachbildungen einer schlecht geschulten Hand,
sondern mit Versuchen einer ursprünglich wirkenden Phantasie zu
thun, selbst in den Bildern, welche den biblischen Text wieder-
geben und nicht wie der Engelsturz, spätere poetische ErfinduogeD
0
illustriren. Herrscht eine Verbindung zwischen den Miniaturen des
Pseudo-Gaedmon und einem weiteren Kunstkreise, so kann sich diese
nur auf die angelsächsische Schule des 10. Jahrhunderts beziehen.
Deutliche Anklänge an diese zeigen ausser der Architektur die Art,
wie die Ausgänge der Gewandfalten gezeichnet sind, und dieFon»,
welche dem Höllenrachen gegeben wurde.
Eine weitere Illustration der Schöpfungsgeschichte aus der
karolingischen Periode kann nicht nachgewiesen werden. Dass sie
aber der Phantasie des Zeitalters nicht ganz fremd war, beweisen
die »Versus ad picturas domus domini Mogontinae«, welche
43] Die Genesisbilder. 675
Ekkehard lY. aus St. Gallen für den Erzbischof Aribo am Anfange
des XI. Jahrhunderts dichtete^). Selbst auf den Engelsturz wird in
den ersten Versen dieses Programmes für Wandgemälde im Mainzer
Dome angespielt:
Principio rerum lux primo facta dierum^
Arida cum coelis, magnum genus et Michaelis,
Luciferum verbis temerantem sceptra superbis
In primo flore plasmator nudat honore.
Die Darstellungen der Schöpfungsgeschichte treten im frühen
Mittelalter so sporadisch auf, dass es bisjetzt wenigstens unmöglich
ist, die Wege anzugeben, auf welchen sich die Typen von Geschlecht
zu Geschlecht vererbten. Die Schöpfungsbilder in der Capeila Pala-
tina und im Dom zu Monreale treten uns unvermittelt entgegen. Wir
sind nicht im Stande, die überlieferten künstlerischen Vorbilder nach-
zuweisen, können freilich auf der anderen Seite die Behauptung nicht
erharten, dass wir es mit neuen, selbständigen Schöpfungen eines
Malers aus dem 12. Jahrhunderte zu thun haben. Die byzantinischen
Anklänge, in den Genesisbildern übrigens schwächer als in den
grossen Einzelgestalten Christi, der Apostel und Heiligen und selbst
in den Scenen aus dem neuen Testamente, welche andere Theile
der beiden Kirchen schmücken, treffen zunächst nur die Zeichnung.
Dass auch die Wahl der Gegenstände, die Anordnung und Gruppirung,
die Komposition unmittelbar der byzantinischen Kunst entlehnt wor-
den sei, dafür fehlen sichere Anhaltspunkte.
Die Schöpfungsbilder in der Capella Palatina bedecken die
rechte Wand des Mittelschiffes über den Bogen. Gott, im Brust-
bilde, steht innerhalb eines gezackten Kreises, von welchem Wasser
»
herabfällt, das sich unten in einem Wellenstrome sammelt. Gott, wie
hier immer, in violettem Mantel, in ganzer Figur, schafft die Pflanzen,
und im dritten Bilde Fische, Vögel und die vierfüssigen Thiere, welche
paarweise ihre Wanderung antreten.
In Monreale, gleichfalls an der rechten Wand des Mittelschiffes,
so dass jede Scene von der anderen durch das Fenster getrennt ist,
nimmt die Schilderung der Schöpfung einen breiteren Raum ein.
Von der Halbfigur Gottes geht ein Strahl aus, an dessen Spitze die
Taube schwebt. Unten sind grünlich weisse Wellen gemalt, aus
^) Fr. Schneider, der h. Bardo. Mainz 4 87K
676 Anton Springer, [^^
welchen ein grosser Kopf auftaucht. Die lateinische Beischrift lautet:
in principio Dens creavit coelum et terram. Gott, in ganzer Figur,
sitzt auf einer Kugel, welche mehrere Farbenschichten, von weiss,
durch grün und blau bis zu schwarz zeigt. Flammenzungen gehen
von ihm aus, Engel stehen mit ausgestreckten Armen adorirend vor
ihm. Der Scheidung des Lichtes von der Finsterniss folgt unmittel-
bar die Schöpfung der Pflanzenwelt. Vor dem sitzenden Gottvater
erhebt sich ein Hügel mit Blumen, unten ist Wasser angedeutet. In
der nächsten Scene sitzt er, mit einer Rolle in der Hand; an dem
Firmamente, einer Kugel, erscheinen Sonne, Mond (in der Form von
Kreisen) und Sterne. Auf einer Kugel, die im Wasser (?) schwebt^
thronend, stellt ihn das folgende Bild dar; das sechste und letzte
Mosaikgemälde, welches der Schöpfung der Welt gewidmet ist, zeigt
in der Ecke den sitzenden Gottvater, in der Mitte einen grünenden
Hügel und darunter Wasser, in welchem Fische und Vögel, u. a. eine
trefflich gezeichnete Ente schwimmen.
Die Zahl der Schöpfungsbilder in Monreale erscheint, mit jenen
in der Capella Palatina verglichen, verdoppelt. Zur grösseren Summe
gesellt sich auch ein grösserer Reichthum an Einzelnheiten, z. B. in
der Zeichnung der Hügel, der Pflanzen und Thiere. Die Anschau-
lichkeit der Schilderung ist gewachsen, ohne freilich den eigentlichen
Schöpfungsakt den Sinnen näher zu bringen.
Noch wäre die Darstellung der Schöpfung in dem aus Elfen-
beintafeln zusammengesetzten Altarvorsatze im Dom von Salerno
aus den XII. Jahrhundert zu erwähnen. Je zwei Scenen, durch eine
Säule getrennt, füllen eine Tafel. Auf der einen (oberste Reihe
links) steht Gottvater, mit der Rolle in der linken, die Rechte zum
Segen über vier Engel, welche sich tief zur Erde beugen, erhebend.
Links von der Säule schwebt die Taube über Wellen. Zwei Kreise
darüber enthalten die Iiischriflen : lux und nox. Die andere Tafel
zeigt Gottvater, von zwei Engeln in langen Gewändern begleitet, wie
er Pflanzen (einen mit Blüthen und Früchten beladenen Baum) schaSl,
daneben streckt Gott die Hand gegen das Firmament aus, einen
Kreis, in welchem sich zwei kleinere Kreise mit den Halbfiguren von
Sonne und Mond, und viele Sterne befinden. Der Ursprung dieser
Reliefs ist ofienbar nicht weit von den Palermitaner Mosaikbildern
zu suchen.
t
1^] Die Genesisbilder. 677
2. Adam nnd Eva. Süiidenfall nnd Brudermord.
Während die Bilder der Weltschöpfung, der Werke Gottes in
den ersten fünf Schöpfungstagen sich zu keiner zusammenhängenden
Reihe verknüpfen lassen, von einer Entwickelung, einem allmäligen
Wachsen und Sich ausbreiten der Bildmotive nicht gesprochen werden
kann, die einzelnen Scenen vielmehr von Fall zu Fall immer neu
erfunden scheinen: geht die Schilderung Adam's und Eva's auf eine
lange, bis in die altchristliche Zeit zurückreichende Tradition zurück.
Besonders gilt dies von dem Stindenfalle. Bereits unter den Ka-
takombenbildern stossen wir wiederholt auf Adam und Eva, unter
einem Baume stehend und von der Schlange verführt. Die Darstel-
lung bietet geringe Abwechslung. Ein schematisch gezeichneter Baum,
um dessen Stamm sich eine Schlange ringelt, bildet die Mitte der
Scene. Adam und Eva, zu welcher letzteren sich gewöhnlich die
Schlange wendet, bedecken entweder mit beiden Händen die Scham
oder halten auch nur mit einer Hand das Blatt darüber, während
dann Eva mit der anderen Hand nach dem Apfel greift und Adam
den Arm zur Gegenrede gegen Eva erhebt. Die Beispiele dafür
finden sich in dem Cubiculum der h. Cäcilia (Garrucci t. 34, 5), im
Coemit. S. Marcellini et Petri (Garr. t. 53, 2, t. 55, 2), in der Katak.
der h. Agnes (Garr. t. 63, 1, t. 64, 2). Auch auf altchristlichen
Goldgläsern, z. B. in jenem im Museum Borgianum der Propaganda
(Garr. t. 172, 1) und in dem anderen, welches die Vatikanische
Bibliothek bev^^ahrt (Garr. t. 172, 8), kommt die gleiche Darstellung
vor. Auffallend ist es, dass in den beiden letzteren Fällen Eva mit
Armbändern und einem Halsband geschmückt erscheint und eine hohe
Frisur, wie sie in den Miniaturen seit dem 6. Jahrhundert vor-
kömmt, trägt.
Eine noch wichtigere Rolle spielen Adam und Eva in der alt-
christlichen Sarkophagskulptur. Ausser dem Sündenfalle wird uns
noch die Menschenschöpfung und sodann eine eigenthümliche, später
nie wiederkehrende Scene, Christus zwischen Adam und Eva, wel-
eher sie nach dem Sündenfalle in das neue Leben einweist, vorge-
führt. Unter den Darstellungen der Menschenschöpfung ist jene am
Sarkophag aus S. Paolo fuori le mura, jetzt im Lateranmuseum (Garr.
t. 365, 2), die berühmteste. Die Dreizahl der mit der Schöpfung Eva's
678 Anton Springer, [H
beschäftigten Personen hat mannigfache Erklärungen hervorgerafen
und zu scharfen Controversen Anlass gegeben. Auf einem Lehnstahle
sitzt eine bärtige Gestalt in langem Mantel und erhebt die Hand zum
Segen. An den Stuhl lehnt sich in der Ecke ein gleichfalls bärtigef
Mann an, während der dritte, gleich gebildete die Hand auf den
Kopf einer kleinen nackten aufrechtstehenden Figur legt. Eine zweite
nackte Figur liegt starr ausgestreckt zu den Füssen der erstereo.
Die Schwierigkeit der richtigen Deutung liegt zunächst in der Ueinen
liegenden Figur, welche offenbar einen Todten und nicht den schla-
fenden Adam darstellt, auffällig an den Todten in der Wiedei^
der Vision Ezechiels 37, 5 — 10, welche auch unter den Sarkophag-
reliefs (Garr. t. 312, 1 und t. 318, 1) vorkommt, erinnert. Dann in
der Dreizahl der schaffenden Personen, gewöhnlich auf die Trinitöt
bezogen. Die Theilnahme Christi an der Menschenschöpfnng bätle
nichts auffallendes. Der h. Basilius nimmt (Hexaemeron IX. 6] aus-
drücklich für Christus die Mitschöpfung des Menschen in Anspruch.
Dadurch wurde aber gerade die Unterscheidung Christi von Gott-
vater durch Gestalt, Alter, Bartlosigkeit gefordert, da die Gleich-
stellung mit Gottvater die Lehre unverständlich macht. Dürfte man
die Gestalt hinter dem Stuhle zu den blossen Füllfiguren des -Hinter-
grundes rechnen, wie sie so oft an Sarkophagen, auch an dem Sar-
kophage von S. Paul vorkommen und die Handlung theilen: Golt
weckt Adam zum Leben und Gott beseelt durch Handauflegen E^
so böte die Deutung keine Schwierigkeiten.
Die Erschaffung des ersten Menschen stellt auch das Reliefbild
an einem südfranzösischen Sarkophage dar (Garr. t. 301, 1). B"
bartloser Jüngling in langem Gewände, eine Rolle in der Linken tritt
aus einem Gebäude (durch eine Säule angedeutet) heraus und legt
einer kleinen nackten Gestalt, welche vor ihm steht, die eine Hand
gegen ihn ausstreckt, die andere dagegen an die Brust drückt, und über
welcher eine Taube schwebt, die Rechte auf den Kopf. Es wieder-
holt sich hier dieselbe Action wie am Sarkophage von S. Paul. Ite
die Menschenschöpfung durch Christus gemeint sei und die Säule
die Paradiesesp forte vorstelle, unterliegt keinem Zweifel.. Eine ver-
wandte Schilderung zeigt ein bei Teramo in den Abruzzen gefundenem
Sarkophagfragment (Garr. 399, 7). Ein bärtiger Mann auf dem Throne
berührt mit der Hand die Brust einer vor ihm auf einen Sockel
47] Die Genesisbilder. 679
gestellten kleinen nackten Figur. Hinter dem Thronenden steht eine
unbärtige jugendliche Gestalt in langem Mantel, mit leicht erhobener
Rechtep.
Die Bilder des Sundenfalles auf den altchrisllichen Sarkophagen
unterscheiden sich von jenen in den Katakomben wesentlich durch
zwei Dinge. Adam und Eva haben neben sich eine Aehrengarbe
und ein Schaf stehen. Gott, bald als bärtiger Mann bald als unbär-
tiger Jüngling aufgefasst, spricht warnend das Elternpaar an. Bei-
spiele des letzteren Vorganges bieten Sarkophage im Lateranischen
Museum (Garr. t. 318, 1 und t. 383, 5), femer Sarkophage in Syra-
kus (Garr. t. 365, 1), Saragossa (Garr. t. 381, 5) und ein im Coemet.
S. Lucina ausgegrabener Sarkophag (Garr. t. 372, 3), auf welchem
Gott unbärtig und jugendlich dargestellt erscheint. Noch häufiger
tritt uns auf den Bildern des Sündenfalls die Garbe und das Schaf
zu Füssen des Baumes, jene stets neben Adam, wie das Schaf neben
Eva, entgegen, so an zwei Sarkophagen im Lateran (Garr. t. 314, 1
und t. 383, S), am Sarkophage des Junius Bassus in den Vaticanischen
Grotten, einem anderen in Saragossa (Garr. t. 381, 6) u. a. Als
Variante mag noch ein Sarkophag in Verona (Garr. t. 333, 3) an-
geführt werden, wo zu beiden Seiten des Baumes Körbe mit Aepfeln
gefüllt aufgestellt sind. Fallen schon die letzteren Bilder aus dem
Kreise einfach historischer Schilderungen heraus und streifen sie an
das Gebiet symbolisch-lehrhafter Darstellung, so gilt das in noch
höherem Grade von den Reliefs, in welchen Christus (auf dem Sar-
kophage zu Saragossa als solcher ausdrücklich durch das Monogramm
bezeichnet) zwischen Adam und Eva steht, mit einem Bündel Aehren
in der einen, Adam zugewendeten Hand, während er mit der anderen
ein aufspringendes Schaf festhält. Beispiele dieser Scene finden sich
an römischen Sarkophagen (Garr. t. 310, 1; t. 313, 4; t. 367, 2; t.
396, 3). Ob sie auch an südfranzösischen und spanischen vorkom-
men, bleibt weiterer Untersuchung vorbehalten. Den letzten Anklang
an diese Scene entdecken wir in einer Miniatur in den Homilien des
Gregor von Nazianz aus dem IX. Jahrh. (Paris), welche einen Engel
darstellt, wie er eine Hacke Adam überreicht. Die symbolische Be-
deutung der Bilder ist offenbar schon in Vergessenheit gerathen.
Die älteste Illustration der biblischen Geschichte von Adam und Eva
bietet uns die Wiener Genesis. Zwei Tafeln sind derselben gewidmet.
Abhandl. d. K. S. Gesellsch. d. Wissensch. XXI. 45
680 Ahtoh SnmiGEi, [l^
1) Adam und Eva stehen links zwischen drei Bftmnen, in m-
lUrlicher Haltung, den einen Ftiss vor den anderen setzend. Bbtter
benachbarter Baumzweige decken wie zufällig ihre Scham. Eva
mit längeren Haaren und rundlichem Gesichte reicht Adam den Apfel.
In der Mitte schreiten Adam und Eva, mit grossen abgerisseaen
Blättern die Scham bedeckend, mit gesenkten Köpfen dicht bei ein-
ander einher. Rechts ragen ihre Köpfe aus dem Gebüsche, in wei-
chem sie sich verborgen halten, empor. Oben erscheint bis zam
Ellenbogen sichtbar die Hand Gottes in einem Halbkreise. Die drei
Scenen sind von dem Künstler offenbar als ein einheitliches BilJ
komponirt. Die Gruppen halten gleichen Abstand; in regelmdssigeo
Zwischenräumen werden Bäume über den ganzen Hintergrund Ter-
tbeilt, die Hand Gottes in der Mitte des Blattes angebracht, obgleich
sie sich auf eine Seitenscene bezieht. Naturwahrheit kann man von
der Zeichnung der Bäume nicht rühmen. Sie haben dünne Stämme.
wenige Zweige, endigen in grosse, bald gezackte, bald spitzzu-
laufende Blätter. Die letzteren treten zuweilen zu einem Büschel
zusammen. Die Früchte, Aepfel und Birnen, erscheinen im Verhält-
niss zu den Blättern und Zweigen viel zu gross. Dagegen zeigt sich
in den nackten Gestalten noch deutlich eine feste künstlerische
Ueberlieferung. Sie sind wenn auch nicht vollkommen lebenswahr,
doch mit grosser Sicherheit, in den Maassen und Bewegungen richtig,
im Ausdrucke deutlich entworfen.
2) Die zweite Tafel enthält links einen Baum mit grossen Aepfelo
und gezackten Blättern, um dessen Stamm sich eine. Schlange ringelt.
Nebenan wandern Adam und Eva, in kurze, ärmellose Tuniken ge-
kleidet, an einer Palme vorbei aus dem Paradiese. Die Grenze des
letzteren bildet eine perspektivisch schlecht gezeichnete, scbrani-
artige Thüre, durch ein flammendes Rad versperrt. Zur Seite des-
selben steht in langem Gewände, mit gesenkten Armen ein Engel.
Rechts ziehen Adam und Eva, in ihren Geberden, das auf die Hand
gestützte Antlitz, den Schmerz deutlich ausdrückend, von einer
grösseren weiblichen Gestalt, der Reue, begleitet, von dannen. ^^
lernen hier zum ersten Male den Gebrauch allegorischer figoren,
um mit ihrer Hilfe eine Seelenstimmung zu versinnlichen, kenneD.
Eine Zusammenstellung derselben von dem Codex Rossanensis, »o
aTuaYifeXia den h. Marcus inspirirt, bis zu den Bildern in der flimffl^'^
4 9] Die Genbsisbilder. 681
ieiter des Job. Klimakos aus dem XI. Jahrhundert würde ihre weite
Verbreitung und lange Dauer beweisen, ttberdiess darthun, dass sich
in ihnen die antiken Ueberlieferungen am reinsten erhielten.
In eine ganz andere Kunst weit, sowohl was die Gegenstände
der Darstellung, wie die Form ihrer Wiedergabe betrifft, werden wir
versetzt, wenn wir den Blick von der Wiener Genesis zum Ash-
burnham-Pentateuch wenden. An die Stelle wohlgeordneter Kom-
positionen treten bunt durcheinander geworfene Scenen, deren Zu-
sammenhang und richtige Aufeinanderfolge erst mühsam enträthselt
wird. Die Erschaffung Adam's und Eva's, der Sündenfall fehlen;
erst das Leben nach der Vertreibung aus dem Paradiese, das Schick-
sal der ersten Familie fesselt die Aufmerksamkeit des Illustrators.
Mehr noch als Adam und Eva erscheinen Kain und Abel als die
Hauptpersonen. Die Erzählung beginnt mit der Darstellung Adam's
und Eva's, welche in kurze Felle gekleidet neben einander unter
einem Laubdache stehen. Unter einem ähnlichen von dünnen Stäm-
men getragenen Laubdache sitzt Eva, welche einmal Abel die Brust
reicht, das anderemal den erstgeborenen Kain auf dem Schosse hält,
während Adam mit einem Ochsengespanne den Acker pflügt. Er
treibt mit einem Stachel die Thiere an. Es folgt dann die Schilde-
rung, wie Abel auf einem Hügel sitzend Schafe weidet, Kain den
Pflug führt, wie die Brüder Gott, dessen Hand in der Höhe sicht-
bar, Opfer bringen, Kains Opfer zurückgewiesen wird (Abel bringt
Gott ein Schaf und einen Becher Wein dar, Kain, welcher die Hände
sinken lässt, zur Erde blickt, ein Brod), wie Kain den Bruder mit
einer Axt erschlägt und von Gott angerufen wird. (Kain hebt die
Hände gleichsam um sich zu bergen über den Kopf empor.)
Gegen die einfache Tracht der Männer, den kurzen hellfarbigen
Aermelrock und Kniestrümpfe sticht das schmuckreiche Gewand Eva's
ab. Sie trägt einen violetten Rock mit rothen Unterärmeln, das auf-
gebundene Haar mit einer Art von Perlen durchzogen. Ausdruck
empfangen die einzelnen Gestalten nur soweit derselbe durch be-
stimmte Bewegungen der Gliedmaassen wiedergegeben werden kann,
z. B. durch gehobene oder gesenkte Arme, sonst sind alle Köpfe
gleichmässig, d. h. gross und rund gebildet. Die Ochsen, mit wel-
chen Adam und Kain pflijgen, erscheinen besonders in den Köpfen
richtig gezeichnet, weniger kann man es von Abels Herde rühmen,
45*
682 Artoü Spmugbb. >
am wenigsten von den Bäumen. Aus einem dünnen Stamme wachsen
regelmassig drei Zweige heraus, welche in Blatlwerk (theils langt
spitze, theils zu runden Büscheln geordnete Blätter] aaslaafen. Em
Ausnahme allein bildet die Dattelpalme. Ihr Stamm veijflngt sich \^ie
in der Wirklichkeit nach unten, ebenso entsprechen Blätter und
Früchte der letzteren. Die grössere Treue in der Wiedergabe der
Dattelpalme wiederholt sich in vielen anderen dem Norden aDgd)ü-
rigen Codices. Es gebt daher nicht an, daraus den Rückschluss auf
unmittelbare Naturbeobachtung und weiter auf die Heimat des lüo-
strators zu ziehen. Der Zeichner der Londoner Alcuinbibel hat ge-
wiss nicht Palmen mit eigenen Augen gesehen. Es scheint viehnebr.
dass die allerdings auffallende und dem Auge sich leicht einprägende
Gestalt dieses in der Bibel typischen Baumes älteren Mustern nach-
gebildet wurde. Zu seiner Naturumgebung stand der Maler des
Ashbumham-Pentateuch so, dass er wohl die kleinem Einzelheileo
für sich der Wirklichkeit ablauschte, aber noch nicht die Fähi^eit
besass, dieselben zu einem wahren Ganzen zu vereinigen.
Die beiden Alcuinbibeln in London und Bamberg zeigen deut-
liche Spuren gemeinsamer Abstammung, gehören offenbar zu einer und
derselben Familie. Der Verwandtschaft der SchrifLzüge steht eine
grosse Uebereinstimmung in den lUustralionen zur Seite. Gold spielt
auch bei den letzteren eine grosse Rolle. Nicht bloss empfangen die
Bäume, ihre Blätter und Früchte Goldfarbe, auch an den Figuren
finden Goldlichter, selbst Goldflächen reiche Verwendung. Die Form
der Köpfe, die Maasse der Körper, der Wurf des Gewandes bei Golt
Vater ist in beiden Codices, obscbon sie nicht von einer Hand her-
rühren, dieselbe. In der Londoner wie in der Bamberger Alcuin-
bibel füllen die Darstellungen aus der Genesis ein Blatt, in vierAt>-
tbeilungen, welche durch Purpurbänder mit Goldschrift (rustica capi-
talis) getrennt werden.
Die erste Abtheilung in der Londoner Bibel schildert die
Erschaffung Adam's und Eva's; die zweite stellt dar, wie Eva von
Gott ihrem Gatten zugeführt und beiden das Verbot, von den Früchten
des Baumes zu essen, verkündet wird ; die dritte erzählt die Versuchung
und den Fall der ersten Eltern, ihre Scham vor Gott; die vierte
endlich beschreibt die Vertreibung aus dem Paradiese, und wie Adam
die Erde hackt, Eva ihr Kind säugt. Die einzelnen Scenen werdea
21] DiB Gbnbsisbildbr. 683
stets durch Bdume getrennt. Aehnlich in der AIcuinbibel in Bam-
berg. In der obersten Abtheilung werden folgende zwei Scenen
vorgeführt. Gott in langem Gewände, mit der Rolle in einer Hand
streckt die andere Adam entgegen, welcher auf der Erde sitzt und
von Gott Leben empfängt. Gott, jung und unbärtig gebildet, sitzt
rechts in der Nähe eines Baumes, ihm gegenüber steht Adam, zwi-
schen beiden weiden zahlreiche Thiere, alle golden, welchen Adam
den Namen gibt. Die grössere Naturwahrheit in der Zeichnung der
Thiere, besonders des Schweines, wurde schon von Jäck in seiner
Beschreibung der Bibliothek zu Bamberg rühmend -hervorgehoben.
Zweite Abtheilung: Auf dem Boden liegt Adam (gold mit hell-
rothen Umrissen) starr ausgestreckt, über ihn beugt sich Gott, um
Eva aus der Rippe zu schaffen. Gott führt Eva ihrem Gatten zu.
Neben dem goldenen Baume, um dessen Stamm sich eine Schlange,
halb gold, halb schwarzgrttn, wie in der Londoner Bibel, windet, steht
Eva; sie hält in der einen Hand die Frucht und reicht mit der
anderen einen zweiten Apfel Adam. Adam und Eva unter einem
dicht belaubten Baume bedecken mit grossen goldenen Blättern die
Scham.
Dritte Abtheilung: Gott wirft Adam und Eva den Ungehorsam
vor. Adam weist auf Eva, diese auf die Schlange, welche am Boden
unter einem phantastisch gezeichneten Baume kriecht. (Der Londoner
Codex enthält mit leichten Aenderungen dieselbe Scene.) Ein Engel
mit gezücktem Schwerte in der Rechten, berührt mit der Linken
Adam's Schulter und treibt das erste Menschenpaar, welches kurze
graue Röcke und goldverbrämte Hosen tragen, aus dem Paradiese.
Ihre Schicksale nach der Vertreibung erzählt die letzte Abtheilung.
Adam gräbt links in der Ecke mit einer mächtigen Hacke die Erde,
rechts hält Eva, auf einem Holzstuhle sitzend, auf ihrem Schoose ein
Kind. Ueber ihnen kommt aus einer grünen Wolke die goldene Hand
Gottes hervor. Bäume trennen die beiden Figuren von der mittleren
Scene, wo Kain den wie eine Mumie eingewickelten Abel mit einer
Hacke erschlägt.
Wie die beiden AIcuinbibeln , so müssen auch die Bibel Karl
des Kahlen, die sogen. Vivianbibel und die Bibel von S. Paul zu
einer Gruppe zusammengefasst werden. In beiden Codices ist dem
Buche der Genesis eine Miniatur, das ganze Blatt füllend, voran-
684 Anton Springer, [28
gestellt, welche in drei Abtheilungen die Schicksale der ersten Eltern
erzahlt. Die Yivianbibel beginnt mit der Erschaffung Adams. Gott-
vater, unbärtig, wie in allen Bildern der karolingischen Periode, in
hellblauer Tunika, rothem, mit Goldlichtern besetzten Mantel, welcher
den einen Arm frei lässt, hält in der einen Hand einen Stab, und
streckt die andere Adam entgegen. Adam mit langen herabwalien-
den Haaren steht vor ihm und beginnt, wie die eine leicht bewegte
Hand andeutet, Leben zu athmen. Ein Engel in Halbfigur breitet
staunend über den Vorgang die Hände aus. Daneben liegt Adam
unbewegt, die Arme fest an den Leib gepresst, auf dem Boden.
Gottvater neigt sich über ihn, um Eva zu schaffen. Rechts steht
Gottvater von besonders jugendlichem Ansehen und führt Eva dem
Gatten zu. Adam ist merkwürdiger Weise kleiner als Eva gezeich-
net, diese von dem Manne nur durch zwei Punkte auf der Brust,
welche den Busen andeuten sollen, unterschieden.
In der mittleren Abtheilung, von der oberen und unteren durch
einen Purpurstreifen mit Goldschrift getrennt, sehen wir zuerst den
Sündenfall. • Um den Baumstamm windet sich die Schlange, einen
Apfel im Rachen, welchen Eva empfängt, während sie einen zweiten
Adam, der verlegen (eine Hand vor den Mund haltend) neben ihr steht,
überreicht. Ein grosses Goldblatt vor der Scham, treten dann mehr
nach rechts Adam und Eva, sichtlich zagend, gebückt, dem zürnen-
den Gottvater entgegen. Die unterste Abtheilung endlich schildert
die Vertreibung aus dem Paradiese. Ein Engel mit kurzem Haare,
in der Gewandung sonst Gottvater ähnlich, in der einen Hand einen
langen Stab, der in einer Lilie endigt, haltend, berührt Adams
Schulter und treibt ihn und Eva vor sich her. Beide haben ein
Tuch über die Schulter geworfen, Adam ein kürzeres, welches die
Beine freilässt, Eva ein längeres. Sie presst, wie es seitdem in der
ganzen mittelalterlichen Kunst üblich wurde, um den Schmerz aus-
zudrücken, die Hand an die Waüge. Rechts sitzt Eva zwischen
2 Bäumen, auf einem Mooshügel mit dem nackten Kinde auf dem
Schooss. Sie trägt über dem Unterkleide einen Mantel, welchen sie
über den Kopf gezogen hat. Neben ihr hackt Adam in kui*zeni
Rocke, sonst nackt, die Erde.
Die Miniaturen in der Bibel von S. Paul verrathen eine minder
geschulte Hand. Dieses zeigt sich besonders deutlich in der Zeich-
23] Die Gbkbsisbildeb. 685
nuDg der Köpfe. Ad die Stelle des Ovals tritt eine mehr eckige
Form, dadurch hervorgerufen, dass die Wangenlinie gegen das Kinn
gerade verläuft, ohne rundliche Schweifung. In Bezug auf das Co-
lorit bemerkt man folgenden Vorgang. Die Umrisse werden in roth-
brauner Farbe aufgetragen, mit Ziegelroth ausgefüllt, auf die Nase
und über den Augenbrauen weisse Lichter aufgesetzt. Das Gewand
Gottvaters besteht aus einem hellblauen Rocke mit goldenen Streifen,
worüber ein dunkelrother mit Goldlichtern gehöhter Mantel geworfen
ist. Die nackten Körper des Eltempaares erscheinen in den Maassen
arg vergriffen, offenbaren aber doch eine kräftige Muskulatur. Der
Hintergrund wird durch Bäume, Berge, der Vordergrund durch zahl-
reiche Pflanzen belebt. Die letzteren sind rein dekorativ behandelt.
Auf rothe dünne Linien oder weisse Stengel werden goldene Punkte
oder spiralförmig gewundene Kreise gesetzt. Für die gleiche Schule'
des Zeichners mit dem Miniator der Vivianbibel spricht besonders
die identische Bildung der Zehen. Sie sind in beiden Codices über-
mässig lang und wie Finger beweglich.
Die drei Felder des Blattes (fol. 7. o.), welche die Genesis illu-
striren, werden von einander durch Purpurstreifen mit Goldschrift
getrennt. Im obersten Felde links liegt Adam am Abhänge eines Hügels
ausgestreckt, Gottvater neigt sich über ihn, um ihn zu beleben. Mehr
in der Mitte steht Adam bereits aufgerichtet, ihm gegenüber Gott-
vater, mit einem Buche in der Hand. Links ruht Adam, auf der
Seite liegend, den Kopf auf die Hand gestützt. Gottvater neigt sich
über ihn und zieht ihm ein Fleischband' aus der Hüfte. Das mitt-
lere Feld zeigt Eva schlafend, an einen Hügel angelehnt, von dem
sich vorbeugenden Gottvater berührt und zum Leben erweckt. Eva
wird dann weiter von Gott, der sie an der Schulter gefasst, Adam
zugeführt. Rechts stehen Adam und Eva zu beiden Seiten des
Baumes, um welchen sich eine blauweisse Schlange ringelt. Beide
bedecken bereits mit Feigenblättern die Scham. Adam hält einen
goldenen Apfel in der Hand, hinter Eva erhebt Gottvater drohend
den Arm. In der unteren Abtheilung vertreibt ein Engel etwas er-
höht stehend, in blauem Rocke und röthlichem mit Goldlichtern ge-
schmücktem Mantel, ein goldenes Schwert in der Hand, das Eltern-
paar aus dem Paradiese. Die Bewegung der letzteren ist hastiger
als in der Vivianbibel, die Mimik Eva's, welche die Hand an das
686 Anton Spbinger, [^4
Antlitz fuhrt, die gleiche. Neu ist, dass Adam leicht Eva's Schulter
berührt, gleichsam um sie zu trösten. Rechts wird durch zwei
Stangen, welche oben durch Blattwerk verbunden sind, eine Art
Laube (vgl. Ashburnham-Pentateuch) gebildet. In derselben sitzt Eva,
in einen kurzen Pelzrock gehüllt, mit dem Kinde am Busen, währeDd
Adam, gleichfalls mit einem Fell bekleidet, die Erde hackt.
Die unzulänglichen Kunstmittel fallen in dieser Handschrift aus
dem Grunde stärker in die Augen, weil die Ziele offenbar höher
gewachsen waren. Der Zeichner strebt eine grössere Naturwahrheil
an. Während in der Vivianbibel z. B. der Busen Eva's einfach darch
einen Punkt angedeutet wurde, wird er hier der Wirklichkeit genaoer
nachgebildet. Der Versuch fällt freilich scheusslich aus. Die Be-
wegungen der einzelnen Personen sind heftiger und mannigfacher.
Gemeinsam ist beiden Codices die symmetrische Anordnung der
Bäume im Hintergrunde.
Die »metrical Paraphrase Pseudo-Caedmon's« lehnt sich
sowenig wie in der Schöpfungsgeschichte in der Erzählung von Adam
und Eva an den biblischen Text. Indem sie die Schicksale Adam
und Eva's mit Vorgängen im Himmel und in der Hölle verknüpft,
bringt sie ein völlig neues Element in die Schilderung und verleiht
derselben eine ungewöhnliche Ausdehnung. Dieselbe bis zum Morde
Abels fortgeführt füllt 20 Blätter. Gleich die erste Scene, welche
Eva's Erschaffung darstellt und zwar abweichend von der gewöhn-
lichen Sitte, indem zuerst Gottvater (bärtig) sich über den schlafeodeQ
Adam beugt, um ihm die Rippe auszuziehen und dann Eva allein
auf einem Hügel sitzend durch die Berührung Gottvaters (unbärtig)
zum Leben erweckt wird, fügt einen Vorgang im geöffneten Himmel
hinzu. In dem Thore desselben steht Michael, eine Leiter verbindet
den Himmel mit dem Paradiese. Die folgenden Blätter schildern die
Glückseligkeit der ersten Eltern im Paradiese und sodann die Qualen
Satans, welcher angekettet im HöUenschlunde schmachtet. Um sich
zu rächen entsendet er in Engelgestalt einen Höllenboten in das
Paradies, um Adam und Eva zu verführen. Triumphirend kehrt
dieser in die Hölle zurück, während das Eltempaar die Strafe des
Ungehorsams erleidet und von einem Engel, der mit dem Schwerte
in der Hand das Thor bewacht, aus dem Paradiese vertrieben wird.
Adam trägt eine Schaufel und einen Feuerkessel und wendet den
^^] DiB Genesisbilder. 687
Blick noch einmal zurück, während Eva, in einen langen Rock ge-
kleidet, ein Schleiertuch um den Kopf, ruhig neben ihm schreitet.
Parallelen zu den eigentlichen Bibelhandschriften zu ziehen, ver-
hindert die Verschiedenheit des Inhaltes. Erst das Blatt, welches
von Kain und Abel handelt, gestattet eine Yergleichung. Die Aus-
wahl der Scenen, ihre ungeordnete Vertheilung auf der Fläche er-
innert lebhaft an den Ashbumham-Pentateuch. Oben links hilft
Kain seinem Vater die Erde hacken, rechts bringen Kain und Abel
Gott Opfer; tiefer unten weidet Abel Schafe. Mit einem Knüppel
holt Kain zum Schlage aus auf den vor ihm liegenden Abel. Ganz
unten endlich erblicken wir bis zur Brust in die Erde eingegraben Kain,
welcher von Gottvater angerufen wird. Während in allen früheren und
auch in den weiter folgenden Blättern die verschiedenen Scenen stets
wohlgeordnet, durch Säulen, Bogen getrennt, übereinander entworfen
werden, verzichtet hier der Zeichner auffallender Weise auf diesen
Vortheil. Erwägt man, dass die Komposition gerade dieser Vorgänge
reichere Kunstmittel verlangt, so ist der Schluss erlaubt, dass der
Zeichner auf eine Vorlage den Blick warf, welche dem Ashburnham-
Pentateuch verwandt war,^)
Noch bleibt die Prüfung der Darstellungen in der späteren by-
zantinischen Kunst übrig. Das Malerbuch vom Berge Athos zählt
zahlreiche Scenen aus dem Leben Adam's und Eva's auf; einzelne
decken sich mit den bisher betrachteten Schilderungen, andere offen-
baren eine verschiedene Auffassung. Bei den ersteren darf man
annehmen, dass sie auf einer gemeinsamen, in die altchristliche Zeit
zurückgehenden Tradition fussen. Die wesentlichsten Unterschiede
sind folgende: Im Malerbuch berührt die Schlange mit dem Kopfe
Eva's Ohr; bei der Vertreibung hält ein feuriger Engel mit sechs
Flügeln feurige Schwerter in den Händen; die Thüre des Paradieses
wird von einem feurigen Schwert (wohl missverständlich für das
feurige Rad) bewacht; Eva spinnt, während Adam mit der Hacke
die Erde gräbt; bei der Geburt Kains und Abels ist Adam hilfreich
thätig, wiegt Kain, badet Abel; Kain tödtet seinen Bruder mit einem
^) Verschieden im Inhalt (Gottvater selbst vertreibt das erste Menschenpaar
aus dem Paradiese; ein Engel hilft Adam und Eva die Erde hacken) aber ver-
wandt in der Form erscheinen die Illustrationen in Aelfric's angelsächsischem
Heptateuch In der Cottoniaoa (Claudius B. 4) aus dem XI. Jahrh.
688 Anton Springek, [^^
Messer. Am meisten weicht die Darstellung des Opfers von der
bisher üblichen Weise ab. Die abendländischen Codices nähern sich
der Schilderung auf den altchristlichen Sarkophagen, lassen Kain und
Abel ihre Gaben in den Händen tragen. Nur ist an die Stelle Gott-
vaters die Hand Gottes getreten. Das Malerbuch schreibt dagegen
zwei Altäre vor, auf welchem die Opfergaben brennen. Kain schlägt
die Flamme in Bogen in das Gesicht, Abel hebt die Hände gegen
den Himmel empor.
Die Mosaiken in der Capeila Palatina und in Monreale
binden sich keineswegs an diesen angeblichen Kanon byzantinischer
Kunst. Sie weichen in wesentlichen Punkten von ihm ab und be-
weisen, dass der Eiofluss byzantinischer Technik nicht noihwendig die
Abhängigkeit der Komposition bedingte. In der Capeila Palatina wie
in Monreale wird die Erschaffung Adam's so dargestellt, dass vom
Munde Gottvaters, einer stattlichen, vollbärtigen Figur in iangein
braunrothen (ursprunglich wohl purpurnem) Mantel, ein Strahl auf
den auf einem Felsblocke (in Monreale auf der Erde) sitzenden Adam
ausgeht. Beiden Gemälden liegt dasselbe Motiv zu Grunde, nur wird
es in Monreale reicher, um einen Grad lebendiger ausgeführt. Adam
stützt sich mit einer Hand auf den Boden, hält die andere Gott ent-
gegen, während er in der Capella Palatina beide Arme gleichmässig
ausstreckt. Es folgt dann die Schilderung, welche bereits Ekkehard
in seinem Versus ad picturas gegeben hat:
Sabbaia stant sancta, requiescunt et sibi cuncta
Tanquam lassatus factor sedet ipse quietus.
Gottvater sitzt auf einem Thronstuhl (in Monreale auf einer Kugel)
zwischen Bäumen und ruht von der Arbeit aus.
Auch in den nächsten Scenen beobachtet man in der Capella
Palatina ein gedrängteres Zusammenfassen der Vorgänge, in Mon-
reale eine breitere Ausmalung der Scenen. Gottvater und Adm
stehen in der Capella Palatina zu beiden Seiten eines schematisch
gezeichneten Baumes. Der erstere spricht Adam an und führt ihn
in das Paradies ein. Adam's Beine sind hier, wie auch sonst, eines
dem anderen vorgesetzt um die Schamtheile zu verdecken, sie stehen
im Profil, während der Oberkörper die volle Breite zeigt. Daneben
in der Ecke, wo das Mittelschiff an die Westwand anstösst, li^
Adam schlafend, den Kopf auf den Arm gestutzt auf der Erde; Eva
27] DoB Gbnbsisbilder. 689
steigt aus seinem Leibe empor; Gottvater steht unbeweglich vor
ihnen. Ausführlicher ist die Schilderung in Monreale: Gottvater hält
den vollbärtigen , braunhaarigen Adam bei der Hand und leitet ihn
in das Paradies, welches durch drei Bäume angedeutet wird. Adam
steht zwischen zwei Bäumen, (die Beine in Profil, Oberkörper en
face) und blickt empor. Die Beischrift lautet: Adam requievit in
Paradiso. Gottvater sitzt unter einem Baume auf einer Kugel, ihm
gegenüber schläft Adam, den Kopf auf die Rechte gestützt, die an*
dere Hand lässig auf den Boden gestellt. Seinem Leibe entsteigt
die blondhaarige Eva. Gottvater hält Eva an der Hand und führt
sie Adam zu, welcher auf einem Felsblock sitzt und mit dem Finger
auf seine künftige Gefährtin weist. Trotz des geringen Naturstudiums
macht sich doch in der Bildung Evas das Streben nach Wiedergabe
gewinnender Anmuth bemerkbar.
Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradiese offen-
baren in beiden Bilderkreisen geringe Unterschiede, nur dass in
Monreale dem Sündenfalle noch die Verführung vorangeht. Neben
dem Baume, um dessen Stamm sich die Schlange windet, steht Eva,
den Arm nach der verbotenen Frucht ausstreckend, durch einen Baum
von ihr getrennt, weiter Adam in voller Breitensicht. Die Scene,
in welcher Gottvater die Gefallenen anspricht, unterscheidet sich da-
durch, dass in der Gapella Palatina vor Gottvater, welcher den
Typus Christi trägt, Adam und Eva stehen, die Scham mit einem
grossen Blatte bedeckend, in Monreale die letzteren bis zur Hüfte
vom Blattwerke bedeckt sind. Die Vertreibung ist da und dort, von
der reicheren Verzierung der Paradiesespforte in Monreale abgesehen,
identisch dargestellt. In der Pforte steht ein vierflügeliger Cherubim,
vor derselben ein Engel in weissem Gewand. Mit der Schilderung,
wie Adam in ein ärmelloses kurzes Fell gehüllt die Erde hackt, Eva
in gleicher Kleidung auf einem Felsblocke sitzt, schmerzerfüllt, den
Kopf mit der Linken stützend, schliesst die Erzählung von Adam und
Eva. Die Bilder des Brudermordes bieten weitere Zeugnisse dafür,
dass die Mosaicisten in der Palatina und in Monreale nach demselben
Programme ihre Werke entwarfen, die Grundzüge der Komposition
nicht änderten, nur in Einzelheiten von einander abwichen, die Figu-
ren z. B. im Gegensinne zeichneten. Die grössere Ausführlichkeit
690 Anton Spbinger, [^
und ein regeres Naturgefühl bleiben immer auf der Seite der Ge-
mälde in Monreale.
Die Darstellung des Opfers — Abel und Kain, zu beiden Seiten
eines Altars stehend, reichen ihre Gaben (Abel in Monreaie mit Ter-
deckten Händen) Gott dar, welcher einen Strahl auf Abels Opfer
fallen lässt, — geht wahrscheinlich auf byzantinische Einflösse zurück,
auch einzelne Theile der Gewandung, z. B. der an der Schulter be-
festigte kurze Mantel deuten eine ältere Kunsttradition an. In der
Capeila Palatina wird der Mord, durch ein Beil vollführt, mit- der
Anrufung Kains in einem Bilde vereinigt, in Monreale, wo Kain einen
knorrigen Knüppel gebraucht, der blutende Abel den einen Arm noch
zur Abwehr erhebt, erscheinen die beiden Scenen getrennt. Noch
mit dem Knüppel im Arm steht Kain vor Gott, dessen Frage nach
dem Bruder mit einer verneinenden Geberde der Rechten beant-
wortend. Im Hintergrunde bemerkt man eine kleine nackte Figur
(Eva?), welche klagend die Hände empor hebt.
Am Altarvorsatze in Salerno wird die Geschichte Adam's und
Eva's in vier Reliefs, in abgekürzter Weise erzählt. Die Erschaflfung
Eva's ist den Palermitaner Mosaiken nachgebildet, bei dem Sünden-
falle tritt bereits Gottvater strafend an Adam heran, während Eva
nach dem Apfel am Baume der Erkenntniss greift. Mit beiden
Händen stösst ein Engel Adam und Eva, welche wieder an die Dar-
stellung in Monreale erinnern, aus dem Paradiese. Adam und Kain
bearbeiten gemeinsam mit dem Spaten die Erde.
Die Ereignisse, von welchen die Genesis nach Abels Mord bis
zur Sündfluth berichtet, boten nur ausnahmsweise dem Illustrator
Anlass, seine Kunst zu zeigen. Am ausführlichsten erzählt dieselbe
der Pseudo-Caedmon. Er führt uns die Nachkommenschaft Adams,
die Beschäftigungen TubaFs und Tubalkain's, das Begräbniss Macha-
laeFs und Enoch's Scheiden von der Erde vor die Augen. Auch der
Thurmbau von Babel wird nicht vergessen. Werkleute sammeln sich
innerhalb einer Ringmauer, mit Aexten bewaffnet, um den Bau zu
beginnen. Gottvater auf der Spitze des Thurmes zerstreut die
Völker, welche nach verschiedenen Richtungen ausziehen. Die letz-
tere Scene kommt auch im Cod. Gotton. vor, während die spätere
mittelalterliche Kunst z. B. in den Mosaiken in Monreale, auf dem
Altarvorsatze in Salerno den eigentlichen Thurmbau in anschaulicher
SO] Die Gbnbsisbildsr. 691
Weise beschreibt. Werkleute stehen auf den Leitern des Bauge-
rüstes, andere mischen Kalk, behauen Steine u. s. w. Im Allgemeinen
wenden sich die Bilderkreise aus der Genesis gern von der SUnd-
fluth unmittelbar zur Geschichte Abrahams.
3. Noali.
Nur wenige Bilder aus dem alten Testamente haben in der alt-
christlichen Kunst eine so weite Verbreitung gefunden, wie Noah's
Kettung aus der SUndfluth. Höchstens Moses, welcher das Wasser
aus dem Felsen schlägt, macht Noah den Vorrang in der Katakomben-
malerei und der Sarkophagsculptur streitig. Noah dankt diese Be-
liebtheit der Beziehung auf die Auferstehung des Leibes, welche der
gläubige Sinn in seiner Rettung aus der Sundfluth entdeckte.
»Libera animam servi tui, sicut liberasti Noe de diluvio« heisst es
in den uralten Sterbegebeten der katholischen Kirche. Noah gehörte
zu den sepulcralen Typen, welche in den Katakombenbildern und
Sarkophagreliefs begreiflicher Weise die reichste Verwendung fanden.
Die Darstellung des Vorganges ist ganz einfach und immer die gleiche.
Noah steht in einem viereckigen Kasten und blickt auf die Taube
aus, welche den Oelzweig im Schnabel herbeifliegt. An dem be-
kannten Sarkophage in Trier aus dem fünften Jahrhunderte (Garr. t.
308) erblickt man die Erweiterung des ursprünglichen Motives. Der
Kasten ist so gross geworden, dass Noah's ganze Familie, sieben
Personen stark, in ihm Platz findet. Auf dem Rande desselben stehen
viele kleine Thiere, Vögel, ein Pferd, ein Schaf, ein Löwe; ausser-
halb des Kastens ist noch ausser der herbeifliegenden Taube auf
dem Boden ein Vogel angebracht. Ein einziges Mal, in der Kata-
kombe des h. MarceUinus und Petrus, steht der Kasten in einem
Schiffe, dagegen nimmt er in der Katakombe S. Trasone e Saturnino
die Gestalt einer runden, mit Masken geschmückten Brunneneinfas-
sung an.
Vom sepulcralen Bilde wenden wir uns zu der chronikartigen
Schilderung. In der Wiener Genesis wird die Geschichte Noah's
in vier Bildern vorgeführt. Das erste stellt die Sundfluth dar. Aus
einer dunklen Wolke strömt Regen, den ganzen Hintergrund füllend,
durch dicke graue Striche angedeutet, herab. Die Mitte des Raumes
692 Ahton SpiiNGsm, [^
nimmt die Arche in Form einer abgestuften Pyramide ein. Sie ist
ringsum von Wasser umgeben, in welchem Menschen und Thiere.
die ersteren stark verkürzt, mit den Wellen kämpfen. Die Versinn-
lichung der psychischen Affekte ist dem Künstler besser gelungen
als die Wiedergabe der äusseren physischen Bewegungen. Die Fi-
guren schwimmen nicht, sondern schweben auf dem Wasser, oder
erscheinen theils ganz, theils zur Hälfte aus demselben gehoben.
Dagegen ist die Verzweiflung, die Hilflosigkeit deutlich ausgedrückt,
besonders in dem Paare, welches sich eng umschlungen hält und
in dem Jüngling, welcher die Hände gegen den Himmel erhebt.
Der Auszug aus der Arche und Noah*s Opfer werden auf ein^n
Bilde vereinigt, die Spaltung in zwei Scenen aber dadurch wiiicsam
gemildert, dass ein Felsen aus der unteren Abtheilung in die obere
hineinragt. Auch hier zeigt die Arche die Form der abgestuften
Pyramide, nur reicher gegliedert als auf dem vorhergehenden Blatte.^
Der oberen Oeffnung der Arche entfliegen Vögel, die weiterhin lustig
durch die Lüfte flattern. Aus der rechteckigen Thüre sind die Vier-
füssler und Noah's Familie herausgetreten. Obschon jene dem Texte
gemäss paarweise einherschreiten, sind sie doch, die grossen Thiere
hinten, die kleinen vom so geordnet, dass sie eine geschlossene
Gruppe bilden. In der unteren Abtheilung steht rechts ein Brand-
altar, vom antiken Typus ganz entfernt, der Arche ähnlich, nur mit
vielen Oeffnungen versehen. Neben demselben verrichtet Noah das
Opfer. Er hat ein Schaf auf einen Stein gelegt, beugt sich über
dasselbe und stösst ihm ein Messer in den Nacken. Das Blut wird
in einem Kelche aufgefangen. Mehrere Opferthiere, ein Rind, ein
Schaf, ein Truthahn, Tauben liegen todt auf dem Boden.
Den Bund Gottes mit Noah stellt das nächste Blatt dar. Ein
mächtiger Regenbogen spannt sich im Halbkreise, in dessen Mitte
Noah und seine drei Söhne in langen Mänteln stehen, nach oben
blickend, wo die Hand Gottes aus einer Wolke hervorkommt.
Drei Handlungen umfasst das folgende Bild. Die rechte Hälfte
desselben nimmt ein durch Wände abgegrenzter Raum ein. In der
^j Eine ähnliche Form zeigt di^ Arche in dem Vaticaniscben Codex des Kos-
mas Indicopleustes. Dagegen erscheint sie in dem Fragment des Cod. CottoniaDos
wie Gitterwerk behandelt.
^-^^^^^-_
34] Die Gbnesisbildbr. 693
offenen Thüre steht Cham, wie seine Brüder nur in eine kurze ärmel*
lose Tunika gekleidet und weist auf Noah hin, welcher halbnackt
auf einer Lagerstatte ruht. Sem und Japhet haben das Gesicht von
ihm abgekehrt und halten hoch Über ihre Schultern ein Tuch, um
den Vater zu bedecken. Links unter einem Baume sitzt Noah auf
einem Holzschemel und segnet die zwei Söhne, welche mit einer
Frau und einem Kinde ihm gegenüberstehen. Der Baum, nach den
Trauben, welche er trägt, zu schliessen, ein Weinstock, neigt die
Zweige so stark nach rechts, dass ihre Spitzen die Wand des Ge-
maches, in welchem Noah ruht, berühren. Offenbar lag es in der
Absicht des Zeichners, die Komposition dadurch abzurunden, dem
Bilde eine geschlossene Einheit zu verleihen.
Im Codex Cottonianus ist die Verspottung Chams nur fragmen-
tarisch erhalten. Der Rest einer Miniatur enthalt die zwei .Söhne,
welchen Cham den trunkenen Vater gewiesen hat, darunter Japhet,
mit abgekehrtem Gesichte Noah bedeckend. Die Figur des letzteren
fehlt. Aus der Art und Weise, wie in dem Codex sonst Schlafende
dargestellt werden, in schräger Lage, den Kopf auf einen Arm ge-
stützt, während der andere Arm lässig den Leib entlang herabfällt,
darf man muthmassen, dass auch Noah ähnlich gezeichnet wurde.
Dann entspräche seine L^ge vollkommen derjenigen in der Wiener
Genesis, wie denn auch die anderen Figuren verwandt erscheinen,
die gleiche Kunstrichtung verrathen.
Das Bild der Sund fluth im Ashburnham-Pentateuch zeichnet
sich durch den auffallend grossen Maassstab aus. Ausnahmsweise
füllt diese Scene das ganze Blatt. Oben hebt sich vom grünen
Hintergrunde die Arche ab, ein mächtiger, runder, gestreifter Holz-
kasten, auf gedrechselten Füssen ruhend, mit Nägeln beschlagen, in
einen umgebogenen Rand auslaufend. Die viereckige Thüre und die
drei Fenster sind mit Laden geschlossen und diese durch getriebene
Eisenbänder geschützt. Unter der Arche schwimmen ausser einem
Pferde, einem Esel und anderem Gethier zwei Menschen und zwei
Riesen. Die letzteren liegen mit ausgestreckten Armen horizontal
im Wasser.
Im Gegensatze zu dem Bilde der Sündfluth, wo eine Scene den
ganzen Raum füllt, vereinigt das folgende Blatt eine ganze Reihe von
Handlungen, welche alle in der Arche ihren gemeinsamen Mittel-
694 Anton Springer, [32
punkt haben. Der Deckel der Arche ist ia die Höhe gezogen,
Fenster und ThUre stehen offen. Aus dem einen Fenster lässt Noah
den (naturwahr gezeichneten) Raben fliegen, welcher nicht mehr
zurückkehrt, an dem zweiten Fenster fängt er den rückkehrendeD
Raben (in der Bibel ist es die Taube) wieder ein, am dritten, dem
mittleren streckt er der Taube, welche den Oelzweig im Schnabel
trägt, die Arme entgegen. Unter dem aufgezogenea Deckel der
Arche hat sich Noah's Familie wie auf einer Galerie versammelt.
Rechts empfängt Noah von Gott, durch die Hand angedeutet, den
Befehl zum Verlassen der Arche. Weiter links, sehen wir ihn mit
Weib, Söhnen und Schwiegertöchtern auf den Augenblick, in wel-
chem der Austritt möglich sein wird, harren. Die Männer tragen
weisse Gewänder, die Frauen sind durch hohen Kopfputz ausgezeich-
net. Sie schreiten dann aus der geöffneten Thüre heraus, nachdem
schon die anderen Geschöpfe die Arche verlassen haben und paar-
weise (Löwen, Schlangen, Scorpione) in das Weite ziehen. Links
unten bringt Noah mit seiner Familie das Dankopfer. Auf einem
weissen Stufenaltar stehen drei goldene Kelche, über welche Noab
die Hand hält. Ein Regenbogen in der rechten Ecke oben, grüa
mit rothem Rande, verkündet den Abschluss des Bundes.
Gemeinsam ist den bisher betrachteten Darstellungen der Sünd-
fluth die Kastenform der Arche. Jede bestimmte Andeutung des
Materiales fehlt in den griechischen Handschriften, deutlich als Holz-
bau ist die Arche im Ashburnham-Pentateuch gedacht. Die Schiffs-
form empfängt sie zuerst im Pseudo-Gaedmon, wo Noah's Ge-
schichte eine überaus reiche Illustration erfährt. Wir sind zunächst
Zeuge, wie Gottvater Noah den Befehl zum Baue der Arche ertheilt
und Noah mit der Axt ein Schiff mit hohen Schnäbeln zimmert.
(Noah trägt eine engärmelige kurze Tunika und Strumpfhosen, Gott-
vater in langem flatterndem Mantel ist mit einer Krone geschmückt).
Die vollendete Arche zeigt sich dem Auge als ein hochbordiges
Schiff, dessen Schnabel in einen Drachenkopf ausläuft. Auf dem
Schiffe erhebt sich ein mächtiger thurmartiger Bau mit Seitenthür-
men, welche mittelst Ketten mit dem Mittelbau verbunden uad an
der Spitze mit einem Hahn geschmückt sind. Grosse Ruderschaufeln
setzen die Arche in Bewegung. Der Künstler, über sein Werk sicht-
lich erfreut, zeichnet die schwimmende Arche noch zweimal. i
^
33] Die Genesisbilder. 695
So heimisch im Schiffbau er sich zeigt, so fremd steht er dem Wein-
bau gegenüber. Noah pflanzt nicht Reben, sondern pflügt mit einem
Ochsengespann das Land. Auch sonst weichen die Schilderungen
von dem biblischen Texte vielfach ab. Gottvater schliesst und öffnet
die Arche. In jugendlicher Gestalt nimmt er das Opferthier, wel-
ches Noah mit verhüllten Händen darbietet, entgegen. Der Opfer-
altar ist fortgefallen. Auch für die Verhöhnung Noah's durch Cham
mangeln ihm die klaren Züge. Er stellt Noah halbnackt auf dem
Bette liegend dar, vor ihm steht Cham mit ausgebreiteten Händen.
Unter dem auf reich ornamentirten Pfosten ruhenden Bette unter-
reden sich die Brüder, ohne dass der Ausdruck der Köpfe und das
Geberdenspiel ihren verschiedenen Charakter andeutete. Dagegen gibt
er den Schmerz Japhet's und Sem's bei dem Tode des Vaters gut
wieder. Beide knieen vor dem sterbenden Noah, welcher den Kopf
auf die Hand stutzt, ihn zur Seite neigt, und verhüllen das Antlitz
mit grossen Tüchern.
In der byzantinischen Kunst tritt uns die Sündfluth zuerst in
den Homilien des Gregor von Nazianz (Paris N. 510) entgegen. Die
dreizehnte Rede vom Frieden wird durch die Arche, aus welcher
Noah die Taube fliegen lässt, versinnlicht. Unten schwimmen im
Wasser mehrere Leichname. Es erscheint demnach hier die Sünd-
fluth und die Rettung aus derselben vereinigt; nur die Elemente der
Komposition sind der altchristlichen Weise entlehnt, ihre Zusammen-
setzung (auch die Tracht der Ertrunkenen) dagegen muss dem Maler
des neunten Jahrhunderts gut geschrieben werden.
Erst das Malerbuch vom Borge Athos gibt der Arche die Form
des Schiffes und leiht der ganzen Schilderung reichere Farben; so
gleich in der Darstellung des Baues der Arche. Noah's Söhne kal-
fatern das Schiff; die Frauen sind bereits in die Arche eingezogen,
während aussen Leute trinken und musiziren. Der Ausflug der Taube
ist ähnlich wie in Gregor von Nazianz komponirt. Die Scene der
Verspottung durch Charn zeigt nach der Beschreibung grosse Ver-
wandtschaft mit dem Bilde in der Wiener Genesis, nur wird sie da-
hin erweitert, dass nebenan Noah aus einem Becher Wein trinkt.
Mit den Miniaturen im Ashburnham-Pentateuch deckt sich das by-
zantinische Programm in keiner Weise. Dagegen stehen mit dem letz-
Abhandl. d. K. S. UeHoUsch. d. WisHensch. XXI. 45
>^ J
696 Anton Springer, [34
teren die Mosaikgemälde in Monreale^) vielfach in engerer Be-
ziehung. Sieben Bilder sind der Geschichte Noah's gewidmet.
1) Noah, in langem blauen Uebergewande und ^veissgrünlicheß]
Mantel, streckt die Hände nach oben empor, wo ihm die Haod
Gottes aus Wolken erscheint.
SS) Noah, eine stattliche Figur, an die antiken Philosophen in
der Haltung erinnernd, befiehlt den Bau der Arche. Zwei Männer
(viel kleiner von Gestalt) richten mit Beil und Hamnoier Balken zu.
andere sind mit Sägen beschädigt. Auf einem Bocke i*uht die Arche
in Form eines Schiffes mit krummen Schnäbeln, aus welchem sieb
ein zweistöckiges dachloses Haus erhebt.
3) Die Mitte des Bildes nimmt die Arche ein, ein Giebeliiaus
im Schifie, mit zwei Treppen, auf welchen die Thiere in die Arche
steigen. Aus den drei Fenstern der letzteren blicken Männer
heraus.
4) Noah lässt aus der Arche die Taube fliegen.
5) Die Arche strandet zwischen zwei Hügeln. Die Thiere
ziehen aus derselben heraus, einzelne weiden bereits wieder auf dem
festen Lande.
6) Noah in weissem Gewände an der Spitze seiner Familie
steht vor dem Altar, einem viereckigen Steinblocke, auf welcheui
ein Schaf liegt. Die Hand Gottes aus einem blauen, weissgeränder-
ten Halbkreise herauskommend schwebt über dem Altar, von wel-
chem sich ein Regenbogen bis zu Noah's Kopfe zieht.
7) Noah in weissem Gewände sitzt links und presst aus einer
blauen Traube den Saft in eine goldene Schale. Rechts liegt erenl-
blösst im Schlafe, eine Flasche zur Seile. Ein Sohn steht an der
Kopfseite, Japhet und Sem halten einen Mantel empor, um ihn iw
bedecken.
Eine unmittelbare Ableitung dieser Mosaiken von den Vorschriften
des Malerbuches muss dennoch zurückgewiesen werden. Keine einzige
Scene wiederholt sich so genau, dass an ein förmliches Muster, welches
dem Künstler in Monreale vorlag, gedacht werden könnte. Dagegen
gestattet die Verwandtschaft einzelner Bilder (Bau der Arche, Noabs
Opfer) die Annahme einer gemeinsamen Tradition.
M Die gleichnamigen Mosaiken in der Capeila Palatina sind modernisirl udo
können daher nicht zur Vergleichung herangezogen werden.
35] Die Gbnesisbilder. 697
Wie in früheren Fällen, so bieten auch dieses mal die Elfenbein-
reliefs in Salerno eine abgekürzte Redaction der Scenen, welche sich
im wesentlichen an die Mosaiken in Palermo anlehnt. Dieses tritft
insbesondere bei dem Bau der Arche zu. Die Darstellung Noah's,
welcher die mit dem Oelzweige rückkehrende Taube begrüsst, er-
innert an die altchristliche Weise.
4. Abraham.
Die Wandlung in den künstlerischen Anschauungen, welche im
Laufe des vorigen Jahrtausendes allmählich vor sich ging, kann mit
besonderer Deutlichkeit an den Bildern aus dem Leben Abraham'»
verfolgt werden. Die altchristliche Kunst verwerthete für ihre Zwecke
nur Isaak's Opfer. Wir stossen auf dasselbe sowohl in den Kata-
komben wie an den Sarkophagen. Die Darstellungen zeigen
immerhin so viele Abweichungen, dass man in den meisten Fällen
auf eine selbständige Komposition auf Grund des biblischen Textos
schliessen darf. Bald steht Isaak mit ausgebreiteten Händen neben
Abraham (Garr. t. 24), bald kniet er mit rückwärts gebundenen
Händen nackt auf Holzscheiten (Garr. t. 4SI), bald führt Abraham
Isaak, der auf den Schultern Holz trägt, an der Hand zu dem Opfer-
altare (Garr. t. 67, 2). Aehnlich in den Sarkophagreliefs, wo gleich-
falls, Isaak's Stellung, Abraham's Tracht, die Form des Altars wechseln.
(Garr. tav. 310, 4; 318, 1; 324, 4; 327, 4; 328, 3; 334, 3; 358,3;
364, 2; 366, 2 und 3; 367, 2; 369, 4; 376, 8; 378, 4). Zuweilen
steht neben Abraham noch ein jugendlicher Mann (Garr. tav. 322, 2;
379, 2). Am nächsten läge die Deutung auf den Knecht Abraham's.
Diesem widerspricht aber das lange Gewand und an dem Sarko-
phage in Arles, vielleicht noch aus dem vierten Jahrhundert (Garr.
tav. 379, 2) die Rolle in seiner Hand. In beiden Reliefs ist übrigens
auch noch die Hand Gottes, welche den Streich Abraham's abwehrt,
sichtbar. Vollends^ schwerverständlich erscheint die Darstellung an
einem Sarkophage in Toulouse (Garr. tav. 312, 3). Eine stattliche Frau,
im Begrilf, den Schleier vom Antlitz zu entfernen, steht Abraham
zur Seite, welcher sich drei Jünglingen zuwendet. Ihre Dreizahl
und der Umstand, dass sie alle Schriftrollen in der Hand tragen,
regen nur allgemeine, unsichere Vermuthungen an.
698 Anton Springer, 36
Beschränkte sich die aitch ristliche Kunst auf eine Scene aus
Abraham's Leben, so greifen die biblischen Bilderkreise mit Vorliebe
auf die Thaten des Erzvaters zurUck. Die Wiener Genesis wid-
met ihm eine grössere Reihe von Blattern. Sie beginnt mit der
Schilderung der Zusammenkunft Abraham's mit dem Könige von
Sodoma. Beide Männer schreiten in derselben Richtung. Abrabaiij
folgen seine Familie (die Frauen mit Kopftüchern) und seine Heenien.
Ein Theil der letzteren zieht einen felsigen Abhang herab und ver-
mittelt auf diese Weise für das Auge die obere Scene mit der
unteren, in welcher Abraham mit verhüllten Händen eine Henkel-
kanne von Melchisedek in Empfang nimmt. Hinter Melchisedek er-
hebt sich ein offener viersäuhger gewölbter Bau. Der aufgezogenf'
stemengeschmückte Vorhang gestattet einen Blick auf den bedeckten,
viereckigen Altar. Die Säulen ruhen auf quadratischen Sockeln.
sind von Spiralen umwunden und tragen korinthische KapiUile. M
Gewölbe ist mit Kassetten ausgelegt.
Schärfer als in dem eben beschriebenen Bilde sondern sich die
Scenen der folgenden Miniatur ab. Oben ruht Abraham auf wei-
chem Lager, über ihm schwebt in einer Wolke die Hand GoUes.
Ein Bettschirm stellt die Wand vor und scheidet das Gemach vom
Felde, auf welchem Abraham mit verhüllten Händen steht, zuni
Sternenhimmel emporblickend (Gen. 15, 5). Die Form des Beltes
verdient besondere Beachtung. Vier zierlich gedrehte Füsse stützen
das gepolsterte Lager. Vor dem Bette steht ein Schemel, hinter
ihm erheben sich zwei SUulen, um deren Knäufe sich der faltig^'
Vorhang windet.
Sodoma's Untergang erzahlt die neunte Tafel. Eine Rundmauer,
von hohen viereckigen Thürmen unterbrochen, schliesst einen mil
drei kleinen Häusern gefüllten Raum ein, in welchem überdiess z>>ri
mit Lot redende Engel sichtbar werden. Rechts von der Stadl
treibt ein Engel die Familie Lofs zur eiligen Flucht an. In ^^^
unteren Abtheilung strömt Feuerregen auf Sodoma herab. Noc'i
hastiger lenkt Lot's Familie die Schritte von der Brandstätte hinweg
Sie verdecken mit Tüchern oder Händen Mund und Nase, um nicht
den Schwefel athmen zu müssen. Nur Lot's Weib hat sich zurück-
gewendet und steht bereits halb versteinert, in den Zügen unkennt-
lich geworden da.
37] Die Genesisbildbr. 699
Glücklich erdacht und wirksam in den Rahmen eines geschlos-
senen Bildes gebracht erscheint die Scene Lot's und seiner Töchter.
Terrassenförmig steigt ein Fels in die Höhe. Am Fusse desselben
erhebt sich eine Säule, die Stadt Zoar andeutend. Lot ruht auf der
untersten Stufe der Felsenterrasse und hält zwei vor ihm stehenden
Töchtern eine Schale entgegen, damit sie aus der zierlichen, lang-
halsigen Flasche, welche die eine Tochter hält, mit Wein gefüllt
werde. Weiter oben lagern Lot und eine Tochter auf einem Polster
in engster Umarmung, während zwei Töchter vor der Gruppe stehen
und mit den Fingern auf sie weisen. Neben dem Lager ist auf
einem Brette der weingefüllte Kelch sichtbar.
Die Wiener Genesis tibergeht Isaak's Opfer, schildert dagegen
den nächstfolgenden Vorgang (Gen. 22, 15). Ein Engel in horizon-
taler Lage schwebt innerhalb eines Halbkreises, wie in der Regel
die Wolke wiedergegeben wird, und spricht zu Abraham, welcher,
ehrfurchtsvoll sich beugend, mit verhüllten Händen unten steht. Die
weiteren Darstellungen auf dem Blatte ülustriren nicht unmittelbar
den Bibellext, sondern umschreiben die Worte: xal xaxcoxYjaev 'Aßpad|x
BTul ih cppsap ToG Spxou in anschaulicher Weise. Abraham spricht zu
zwei Knechten, welche auf dem Gipfel eines Felsens sich niederge-
lassen haben. Im Gegensatz zur Herrentracht Abraham's, dem langen
Mantel, tragen sie kurze Röcke und darüber ein Manteltuch lose ge-
worfen, ausserdem Schnürstrümpfe. Unten sitzt Abraham vor einem
Zelte am Ziehbrunnen, in Unterredung mit zwei Knechten begriffen.
Am Fusse des terrassirten Felsens ist ein zweites Zelt aufgerichtet.
Die nächste Darstellung lehnt sich dagegen unmittelbar an den
Bibeltext an. Der älteste Knecht legt beide Hände unter die Hüften
Abrahams und schwört ihm Gehorsam. Links zieht der Knecht mit
einer bepackten Kamelheerdo ab, das vorderste Thier an einer Halfter
führend. Unten lagert er mit den Kamelen an einem Ziehbrunnen,
in der Nähe der Stadt Nahor, welche gerade so wie Sodoma durch
eine mit Thürmen bewehrte Ringmauer, im inneren Räume durch
einige Giebelhäuser belebt, symbolisirt wird. Das folgende Blatt
liefert einen neuen Beweis, wie geschickt der Künstler zwei Scenen
im Räume zu vertheilen versteht, so dass sie ein einheitliches Bild
bieten. Rebecca schreitet aus der Stadt einen mit Grenzsteinen ein-
gefassten Weg entlang, den Krug auf der Schulter, an einer Quell-
700 \mon Spkihgbb, ^^
ny m|ihe ' vorfiel, welche halbnackt auf der Erde ruhl , eine Urae zur
Seite, fuit der Rechten den Kopf stützend und gelangt unten an
einem Wassertroge an. Sie hat aus deniselben geschöpft und reicht,
den einen Fuss auf den Rand des Brunnens setzend, den Krug deoi
Knechte, welcher mit seinen Kamelen nach einem frischen Trünke
lechzt.
Auch in der Scene, in welcher Rel>ecca sich als BethueFs Tochter
7M erkennen giebt und von dem Knecht mit der goldnen Spange
l>eschenkt wird, macht sich das Streben, die zwei Abtheilungen de»
Bildes einander räumlich zu nähern, geltend. In der oberen Ali-
thcilung drängt sich die Handlung in der Mitte des Blattes zusam-
m(;n, wo ausser Rebecca und dem Knechte die Kameelherde lagert.
In den Ecken sind links die Brunnennymphe, rechts ein Baum ge-
zeichnet. In der unteren Abtheilung dagegen erscheint die Mitte
leer, links spricht Rel>ecca mit dem sitzenden Knechte, rechts er-
zählt sie in einer Kammer den Eltern ihr Erlebniss. Auch die Linie,
welche beide Abtheilungen trennt, wird wirksam unterbrochen.
Links ragt ein Felsen, rechts die Kammer in die obere Abtheilung.
Nahezu in die gleiclie Zeit mit der Wiener Genesis föllt der
(^odex Cottonianus und ebenso dürfen als beinahe gleichalterig die
musivischen Bilder in S. Maria Maggiore in Rom zur Vergleichung
herangezogen werden. Der Unterschied von wenigen Jahi-zehnten
hat keine stilistischen Acnderungen bewirkt, eher der verschiedene
lokale Ursprung solche hervorgerufen. Soweit die spärlichen Frag-
mente des Codex Cottonianus ein Urtheil gestatten, ist hier noch
mehr als in der Wiener Genesis die Darstellung stets auf den Kern
der Handlung eingeschränkt, alles Nebensächliche streng ausge-
schlossen. Dadurch nähern sich die Illustrationen den altchristlichen
Bildern. Auf der anderen Seite wird ähnlich wie in der Genesis
das Familienleben der Erzväter mit Vorliebe geschildert. Die erhal-
tenen Fragmente erzählen folgende Scenen:
Ein Knecht packt einen Saumsattel, um ihn auf den Esel zu
laden, auf Geheiss Abraham's, als dieser nach Kanaan auszieht (Gen.
12, 5).
Abraham spricht seine mit Rundschildern bewaffneten Knechte
an, ehe er in den Kampf gegen die vier Könige zieht (Gen.
U, 11).
39] Die Genesisbilder. 701
Nach dem Siege über den König von Sodoma zählt ein Knecht
die zu seinen Füssen liegende Beute, ein anderer Knecht führt die
erbeuteten Pferde Abraham vor. Von der letzteren Darstellung hat
sich nur die Gruppe eines Mannes, mit dem Speere in der Hand,
welcher ein Ross führt, auf zwei andere hinweist, erhalten. Die
Deutung ist deshalb unsicher (Gen. 14, 17 und 24).
Dem schlafenden Abraham erscheint die Hand Gottes. Die Scene
stimmt mit jener in der Wiener Genesis vollkommen überein; auch
die männliche Gestalt in der unteren Abtheilung kehrt wieder (Gen.
15,12?).
Abraham führt Hagar an der Hand in sein Haus, dessen Thüre
offen steht (Gen. 1 6, 4). (Welche Handlung in dem Bilde geschildert
wird, wo vor einem gesäulten Giebelterapel ein älterer Mann die
Uände eines Paares in einander legt, ist nicht klar.)
Die drei Engel, alle mit Nimben versehen, silzen an einem
runden Tische. Sarah steht im Hintergrunde in der offenen Thüre
(Gen. 18, 15). Das letzte Bild illustrirt das 19. Kapitel der Genesis.
Ein Engel zieht Lot an der Hand in das Haus zurück, vor welchem
ein Haufe Sodomiter stürmisch die Auslieferung der Gastfreunde
fordern. Zwei Männer liegen wie todt auf dem Boden.
Was die musivischen Bilder in S. Maria maggiore betrifft, so
spricht aus einem, der Huldigung Melchisedek's, ein entschieden
kräftiger Sinn und gute Bekanntschaft mit Reiterfiguren. Mehr noch
als Melchisedek, welcher mit beiden Händen eine hohe Schale dar-
bietet, sind Abraham und seine Genossen der spätrömischen Kunst
verwandt. Die beiden anderen Bilder aus Abraham's Leben: Abra-
ham scheidet sich von Lot und die Bewirthung der drei Engel zeigen
den Miniaturen verwandtere Züge. Die abgekürzte Form für die
Wiedergabe einer Stadt, die gedrängte Gruppenbildung in dem einen
Bilde, die Anordnung des anderen in zwei Abtheilungen über ein-
ander stimmen in beiden Fällen überein. Die Bewirthung der Engel
auf den Mosaikbildern in S. Vitale in Ravenna ist der Scene in S.
Maria maggiore auffallend ähnlich, nur wird dort noch das Opfer
Isaak's hinzugefügt..
Sowohl in der Wahl der Scenen, wie in ihrer Wiedergabe
unterscheidet sich der Ashburnham-Pentateuch von den älteren
Codices. Oben links in der Ecke brennen die beiden Städte Sodoma
r
1 '
702 Anton Si'binger, S^
und Gomorrah. In gelben Streifen regnet Feuer vom Himmel herab.
Eine Ziegelmauer umringt jede Stadt, welche im Innern eine grössere
Zahl von Häusern einschUesst. Riesenköpfe mit geschlossenen AugeD
zwischen den Bauten deuten das Verderben an, welches die Be-
wohner ereilt hat. Darunter ist ebenfalls eine Stadt (Segor) gezeich-
net, ein dichtgedrängter Haufen von Kuppel- und Giebelbauten, dif
letzteren öfters als offene Säulenhallen gedacht. Aus dem Thon-
treten Lot mit seinen Töclitern heraus, welche wir oben rechtj> aber-
mals in einer Felsenhöhle erblicken. Der bartlose Lot sitzt mit ge-
kreuzten Beinen (eine Stellung, die sich bei den meisten Sitzenden
wiederholt) auf einem Polster und greift nach dem Becher, welcheo
ihm eine Tochter auf einem Teller reicht.
Die folgenden Scenen gehen dann wieder auf Abraham zurück
Inmitten einer reichen Architektur, welche einen Hofraum vorstellen
soll, ruht Abimelech auf einem hohen Prunkbette, über ihm wird die
Hand Gottes sichtbar, neben dem Lager stehen die Königin und
Sarah in reicher Tracht. Der Vollzug des göttlichen Befehles \Mrd
nebenan geschildert. Abimelech sitzt auf einem Faltstuhle und über-
giebt Abraham die bisher vorenthaltene Gattin. Abraham fasst inil
beiden Händen Sarah's Hand und schickt sich an, mit den Knechten
und Mägden und seiner Heerde Aegypten zu verlassen. In der
Mitte des Blattes rechts erblicken wir noch einmal Abraham vor
einem Säulengange sitzend, vor ihm Sarah und Hagar, die erstere
besonders reich geschmückt. Die beiden zu Sarah's Füssen sich
balgenden Knaben geben Auskunft über den Inhalt der Scene.
Die Darstellungen aus Abraham's Leben zeigen mit der Wiener
Genesis verglichen eine grosse Selbständigkeit der Auffassung. Di^*
Wahl hat andere Ereignisse getroffen ; bezeichnend für die veränderte
Sinnesrichtung des späteren Künstlers ist der Wegfall der Umarrauns
Lot's und seiner Tochter. Die Architektur entfaltet einen ^'^^
Reich th um von Motiven , doch fehlt die Uebersichtlichkeit, von den
perspektivischen Fehlern ganz abgesehen, und der unmittelbare Bezug
auf wirkliche Bauten. Man darf wohl annehmen, dass diese Archi-
tektur einfach durch übertreibende Erweiterung älterer gemalter
architektonischer Hintergründe entstanden sei. Die Behandlung der
Gewänder Abraham's und Abimelech's offenbart den gleichen Febk/"-
Während die Mäntel in der Wiener Genesis verrathen, dass der
41] Die Genesisbilder. 703
Zeichner lebendige Trachten vor Augen hatte, hält es gegenüber den
Gewändern im Ashburnham-Pentateuch schwerer, dieselben auf dem
Leibe wirklicher Personen zu denken. Auch hier dürften gemalte
Gewänder das Vorbild abgegeben haben. Dieses alles föllt um so
mehr auf, als ein gewisser naturalistischer oft derber Zug der Dar-
stellung nicht abgesprochen werden kann. Bemerkenswerth sind
endlich der reiche Schmuck der Frauen z. B. die langen Ohrgehänge
Sarah's und die deutliche Kenntniss des Ziegelbaues und der Holz-
schnitzerei.
Der Pseudo-Caedmon gewährt für Abraham's Geschichte nur
eine geringe Ausbeute. Die Beischriften mangeln, aus den lUustra-
tionen selbst lässt sich der Inhalt schwer deuten. Wir errathen in
dem einen Falle, wo Gottvater mit Abraham spricht, in der offenen
Hallenthüre eine Frau steht, dass die Verheissung der Nachkommen-
schaft gemeint sei. Die Ereignisse aber, welche den Bildern Abra-
ham's, der mit einem Speere bewaffnet, an der Spitze seiner Knechte
gegen eine Stadt zieht, oder mit einem Beile in der Hand zwischen
zwei Häusern steht, zu Grunde liegen, können wir nicht mit Sicher-
heit angeben. Mit diesen Bildern schliessen übrigens die Illustra-
tionen im Pseudo-Caedmon. Das Malerbuch vom Berge Athos führt
neben anderen Scenen aus dem Leben Abraham's auch das Opfer
Isaak's an, welches in der Wiener Genesis und im Ashburnham-Pen-
tateuch fehlt. Dasselbe kommt dagegen in älteren byzantinischen
Codices, wie (neben der Bewirthung der Engel) im Chludoffpsalter
aus dem zehnten Jahrhundert und in den Homilien des Gregor von
Nazianz vor.
Eine ausführlich eErzählung der Schicksale Abraham's bieten die
Mosaiken in Monreale. Sie beginnen mit der Erscheinung der drei
Engel, vor welchen Abraham in die Kniee sinkt und schildern weiter
ihre Bewirthung. Sie sitzen vor einem halbrunden, mit Linnen be-
decktem Tische auf einer Bank, der weisshaarige Abraham trägt
Speisen auf; in der mit einer Kuppel gekrönten Thüre steht Sarah.
Es folgt sodann Sodoma's Untergang. Zwei Engel sitzen in dem
Inneren eines Hauses, in dessen offener Thüre Lot steht, um die
andringenden Sodomiter zurückzuweisen. Sodoma brennt, Dächer
stürzen ein, zwischen den Trümmern sind mehrere Todtenköpfe sicht-
bar. Lot's Weib mit zurückgewandtem Kopfe, ganz weiss, ist bereits
r
704 Ahton Springe», if
halb erstarrt, während Lot und die Töchter eiligst flieben. Die Fort-
setzung der Mosaiken an der linken Wand des Hauptschiffes erzählt
den Befehl Gottes, Isaak zu opfern. Abraham in langem weisdeo
Gewände horcht auf Gott, der vor ihm, in ganzer Figur, in hell-
blauem Mantel über dem golddurchwirkten Purpurgewande in der
Luft schwebt. Es folgt Isaak's Opfer. Isaak liegt auf dem Altar mit
gebundenen Händen, vor ihm steht Abraham mit der einen Haod
den Sohn am Schöpfe haltend, in der anderen das Messer zückeod.
Abraham wendet den Kopf zurück und bückt aufwärts, wo ihm in
einem Halbkreise ein Engel erscheint. Im kleinen Maassstabe sind
ausserdem zwei Knechte in der Ecke angebracht, im Vordei^ruode
weiden ein Esel und zwischen Strauchwerk ein Widder. Die beiden
letzten Scenen sind Uebecca gewidmet. Drei Knechte, von welchen
einer am Stocke ein Bündel trägt (ähnlich wie Joseph auf der Flucht
nach Aegypten), sind mit ihren Kamelen bei dem Brunnen angelangt.
Kebecca, den Kopf mit einem weissen Tuche umwunden, giesst aus
(iiner Amphora Wasser in den Trog. Im letzten Bilde sitzen ein
Knecht und Rebecca, die nach Weiberart reitet, auf Kamelen. Ein
anderer Knecht, mit dem Bündel am Stocke, geht voran und leitet
die Thiere an einem Stricke, ein dritter folgt.
Dem Betrachter fiillt sofort die strenge Gliederung des Stoffes
auf. Je zwei Bilder hilngen inhaltlich zusammen und sind demsel-
ben Ereignisse gewidmet. Die Wahl der Gegenstände folgt keineif-
wegs dem Programme im Malerbuche; einzelne Scenen fehlen, aodere
neue werden in den Kreis der Darstellungen aufgenommen. Drei
Bilder zeigen in der Komposition deutliche Anklänge an das iMaler-
buch: das Opfer Isaak's, die Bewirthung der Engel und der Brand
Sodoma's. Der letztere erinnert Uberdiess an die Miniatur im Ash-
burnham-Pentateuch und beweist die zähe Lebenskraft einzelner
Motive.
Die Mosaiken in der Capeila Palatina (Lot's Flucht, Opfer Isaak's
und Rebecca am Brunnen), sowie die Reliefs in Salerno (Gottcö
Unterredung mit Abraham und Isaak's Opfer) hängen enge mit den
Bildern in Monreale zusammen.
^3] Die Genesisbilder. 705
5. Isaak und Jacob.
Die Wiener Genesis beginnt die stattliche Bilderreihe aus dem
Leben Isaak's und Jacob's mit der lllustraticmd es 25. Kapitels, 27 — 34.
Der jugendliche Esau kehrt von der Jagd heim. In kurzem Rocke,
in Schnürstiefeln, die Beine mit zottigen Fellen umwickelt, leitet er
einen bepackten Esel am Stricke; ihm folgt ein Knecht, welcher zwei
Hunde an der Leine führt und über der Schulter an einem Stocke
die Jagdbeute, einen gut gezeichneten Hasen trägt. Unten links steht
Jacob vor einem runden Herde, einen Henkel topf und Löflel in den
Händen und wendet sich Esau zu, welcher einen Napf hält und den
Bruder um Speise anspricht. Nebenan sitzt Esau an einem hölzer-
nen Tische und greift in die Schüssel, auf welche Jacob mit beiden
Händen als auf den Preis der Erstgeburt hinweist.
Durch grossen Figurenreichthum zeichnet sich das nächste Blatt
aus. Rechts erhebt sich ein gewaltiger viereckiger Thurm, welcher
auf seiner Plattform ein flachgedecktes von einer vorspringenden Galerie
umschlossenes Häuschen trägt. Eine mit Statuen (nackten Männern)
geschmückte Mauer, von vier Rundthürmen flankirt, umgibt ihn. Als
Eingang dient ein Vorbau, dessen Giebel auf zwei Säulen ruht. Von
dem Fenster des einen Rundthurmes blickt Abimelech herab auf
Isaak, welcher Rebecca umarmt. Gegenüber hält Abimelech über
Isaak Gericht. Er sitzt auf einem einfachen Stuhle, von zwei Schild-
trägern umgeben, ihm gegenüber steht, sich demüthig neigend, in
kurzer Tunika Isaak, hinter ihm das Gefolge des Königs, alle in
langen Mänteln.
Als Landschaftsbilder dürfen wir die folgenden Darstellungen
aus dem Leben Jacob's auffassen. Jacob dient bei Laban um Rahel.
Hirten mit ihren Heerden füllen regelmässig den Vordergrund. Der
Boden steigt gewöhnlich auf einer Seite in die Höhe, läuft in Hügel
aus, auf welchen die Hirten ruhen, dem Spiele der Schafe zusehen
oder von Stäben die Rinde schälen. Die Bäume sind nicht zahl-
reich, gewöhnlich schematisch gezeichnet, sodass dem Stamme drei
Zweige entspriessen, welche an ihrem Ende ein Blattbüschel oder
eine schirmartige Blüthe tragen. Selbst bei Scenen, welche eigent-
lich in menschlicher Handlung ihren Schwerpunkt haben, überwiegt
die landschaftliche StafiTage. So dort, wo Laban den entflohenen
y
706 Anton Spbingbb, ii
Jacob auf dem Berge Gil('ad ereilt und die gestohleneo Götzen zu-
rückverlangt. In Zelten sitzt Jacob's Familie, das einemal in deiu
einen Zelte Loa allein, in dem anderen Kabel, das anderemal sind
die Zelte näher aneinander gerückt und eine grössere Meuscheozahl
vor und in ihnen versammelt. (Die Götzen sind offenbar in eineiu
Behälter, über welchen sich Rahel beugt, versteckt.) Vor den Zellen
steht Jacob und ihm gegenüber Laban mit zwei Knechten, in Ie[h
hafter Unterredung begriffen. Der weitaus grösste Raum ist mil
weidenden Schafen, Rindern und Kamelen, mit angebundenen Pferden
u. s. w. ausgefüllt.
In den bisher beschriebenen Blättern ist Jacob jugendlich auf-
gefasst, stets in einen kurzen Rock gekleidet; von der Scene an, in
welcher er Boten (vom Künstler als Engel mit Flügeln und Stäben
aufgefasst) an Esau absendel, verwandelt er seine Gestalt und wird
alt, bärtig, in einen langen Mantel gehüllt dargestellt. Die Mehraahl
der Blätter begnügt sich mil der Wiedergabe einer einzigen Hand-
lung; aber selbst wenn mehrere Handlungen in einem Rahmeo ver-
einigt werden sollen, gibt sich auch hier das Streben nach geschlos-
sener Wirkung kund. Das beste Beispiel dafür liefert die Schilde-
rung des Auszugs Jacob's. Die Karawane, die Frauen auf Eseln
reitend, Jacob an der S|)ilze schreitend, bewegt sich oben von links
nach rechts und überschreitet eine Brücke, welche auf Bogen er-
richtet sich so windet und dreht, dass sie den oberen Plan mit de«)
unteren verbindet. Reitesel und Packesel, dann ein Mann, welcher
neugierig über die Brüstung in das rauschende Wasser blickt, be-
leben auf der Brücke die Scene. Unten aber wird der Ringkampf
Jacob's mit dem Engel und die Segenspende erzählt. Dann bewegt
sich die Karawane wie oben, nur in umgekehrter Richtung vonvärts.
Was hier gleichsam nur als Episode vorkommt, die Ertheilung de^
Segens an Jacob, wird auf dem nächsten Blatte ausführlich geschil-
dert. Man sieht rechts noch einen Theil der Brücke. Ein bärtiger
Mann legt die Hand segnend auf Jacob's Haupt, daneben spricht Jacob
mit einem unbärtigen Jüngling, unten aber wird der Vers 31 des
32. Kapitels illustrirt. Eine riesige Strahlensonne erscheint in der
Ecke, Jacob mit aufgebauschter (hinkender) Hüfte steht vor ihr und
hält die Hand zum Schutze gegen die Blendung vor. Diese letzte
Scene fesselt desshalb unsere Aufmerksamkeit, weil sie sich vollständig
J
^^] Die Gknesisbilder. 707
mit einer Miniatur im Codex Cottonianus deckt und so Zeugniss für
den nahen Zusammenhang zwischen den beiden griechischen Codices
ablegt. Nur wird sie hier auf Genesis 15, 1 bezogen.
Die Bilderreihe aus Jacob's Leben schliessen der Raub der
Götzen, ihre Bergung unter. den Wurzeln einer Linde, der Tod De-
borah's, der Amme Rebecca's, die Geburt Benjamin's, das Begräbniss
Rahel's und der Tod Isaak's. Mannigfache Bauten lernen wir in
diesen Blattern kennen. Neben der fast grotesk gezeichneten Gruppe,
welche sich auf Jacob's Geheiss reinigt und die Kleider wechselt
(der eine hält ein Kleiderbündel in den Händen, der andere zieht
das Gewand gewaltsam über den Kopf, der dritte hat das Gesicht
fast ganz in den Mantel vergraben und trocknet sich offenbar den
Kopf) steht ein Rundtempel, wie im Durchschnitt gezeichnet. In
Nischen und auf den Mauerzinnen prangen Statuen (nackte Männer),
von welchen eine von einem Manne heruntergerissen wird. Neben
der Eiche, unter welche Jacob die Götzen vergräbt, steht gleichfalls
ein offener Rundbau, nur zur Hälfte sichtbar, aussen von Säulen
getragen, innen in Stufen aufsteigend. Endlich das Grab Rebecca's:
ein schmaler Rundthurm über einem quadratischen Unterbau. Bei
allen Zeichenfehlern klingen doch wirkliche Bauwerke an und er-
scheint die phantastische Willkür ungleich mehr als im Ashburnham-
Pentateuch ausgeschlossen. Das Bild einer kleinen Stadt auf hohem
Felsen neben einer Eiche (Sichem) wirkt beinahe stimmungsvoll; das
hohe Giebelhaus auf dem Hügel, an dessen Fusse Heerden weiden
und Jacob die Zelte aufgeschlagen hat, beruht vollends auf unmittel-
barer Naturanschauung. Um so mehr fallen dann die verschiedenen
Maassverhältnisse der einzelneu Gestalten auf einem und demselben
Bilde auf: Rahel, wie eine Mumie eingewickelt, wird auf den Schul-
tern zweier Knaben zum Grabe getragen. Das Trauergefolge, Jacob
mit seinen Kindern, sind wieder kleiner gehalten als nebenan die
Gruppen, wo Rahel auf einem Polster ruht und eine Wartefrau den
kleinen, eingewickelten Benjamin auf dem Schosse hält.
Die Illustrationen zu Jacob's Leben im Codex Cottonianus haben
sich nicht erhalten. Dagegen gestatten die Mosaiken in S. Maria
Maggiore den Schluss auf eine verwandte Richtung mit der Wiener
Genesis. Vor einem von Säulen getragenen Giebelbau ruht Isaak
und ertheilt Jacob den Segen. Rebecca steht zur Seite, nebenan
V
708 Ahton Spuhgek, S^
scheint Esau Yogelnelze get>tellt zu haben. Rahel eUl der Heerde
voran, um ihren Eltern Jacob's Ankunft zu verkünden. Er wird
von Laban umarmt, von der Mutter, welche unter der Thttre eine>
Giebelhauses steht, begrUsst. Ihm werden die Schafheerden auf sieben
Jahre zur Hütung übergeben, und nach abermals sieben Jahren die
Hochzeit mit Rahel angerichtet. Er scheidet die gesprenkelten Schafe
von den reinen und kehrt als greiser Patriarch in die Heimat zu-
rück. Der Ton der Schilderung, die Anordnung der Gruppen , Ge-
wänder und Hintergründe zeigen mit den Miniaturen der Wiener
Genesis verglichen keine wesentlichen Unterschiede. Desto stärker
ist der Gegensatz der letzteren zu den Illustrationen im Ashburn-
ham-Pentateuch. Leider gestattet der Zustand der Blätter VH und
VIII kein Eingehen in Einzelheiten der Komposition. Die Erzählung
beginnt rechts in der Mitte des Blattes. Der Knecht Abraham's sitzt,
den Kopf auf die Hand stützend, neben einem Ziehbrunnen, in wel-
chen Rebecca einen rothen Krug an einem Stricke von der Welle
herabgelassen hat. Sie wendet den Kopf dem zum zweiten Maie
gezeichneten Knechte zu, welcher neben ihr zur Linken steht und
ilir buntfarbige Ohrgehänge überreicht. Eine Magd, die eine Hand
auf der Hüfte, trägt einen bereits gefüllten Krug auf der Achsel hin-
weg. Sie hat einen hohen Kopfputz im Gegensatz zu Rebecca,
deren Haar aufgelöst herabfällt. Oben links sehen wir dann den
alten Bethuel und Rebecca, welche auf den von Laban bereits be-
grüssten Knecht Abraham's weist. Zu Füssen des letztern sind volle
Henkelkrüge aufgestellt, andere Gefässe und Ballen werden von Die-
nern (zwei sind als Neger charakterisirt) herbeigeschleppt. Es folgt
sodann die Bewirthung des Knechtes, Rebeeca's Zug nach Kanaan
und ihre Begrüssung durch Abraham und Sarah. Abraham streckt
ihr die Hand entgegen, Sarah im Hintergrunde des Hauses umarmt
sie. Den Hintergrund für die meisten Vorgänge bilden dicht anein-
ander gereihte Bauten. Offene Bogen tragen die Dächer, welche
bald (lach, bald giebelförmig gezeichnet, bald mit Kuppeln gekrönt
sind. In den Bogen sitzen die handelnden Personen, ohne dass aber
die Bogen zu einem und demselben Baue gehören. Die Architektur
hat offenbar nur eine ornamentale Bedeutung; erinnern die Elemente
noch an antike Werke, so erscheinen sie doch stets willkürlich zu>
\
^7] Die Gbnesisbuder. 7U9
saramengesetzt und ohne Rücksicht auf Standfähigkeit und wirkliche
Beschaffenheit entworfen.
Besonders reich an architektonischem Schmucke erscheint das
Blatt (VIII), welches die Schichsale Esau's und Jacob's zu erzählen
beginnt, lieber dem Dache einer Bogenhalle, gleichsam über einem
Erdgeschosse, erhebt sich ein stattlicher Bau, in welchem wir mit
Sicherheit eine Basilika erkennen. Sie ist natürlich offen dargestellt,
die Seitenmauern weggelassen. Die Bogen unter dem Dache (die
hohen Fenster des Mittelschiffes) und die halbkreisförmige Apsis
schliessen jeden Zweifel über den zu Grunde liegenden Bautypus
aus. Eine hohe Freitreppe führt zur Basilika empor, in deren Innerem
eine Lampe hängt und ein mit weissen Linnen bedeckter Tisch steht.
Auf dem Tische liegen fünf runde Brode. Rebecca kniet vor dem
Tische, von einer Dienerin am Rocke festgehalten, über ihr zwischen
den zurückgeschobenen Vorhängen des Einganges erscheint die Hand
Gottes, welche ihr das Schicksal der Zwillinge, die sie im Leibe
trägt, verkündet. Links unten in einem offenen Bogen sitzt Rebecca
mit den Zwillingen auf dem Schoosse, umgeben von Dienerinnen und
der Hebamme, welche in einem grossen braunen Kessel das Bad
zurichtet. Esau's Verkauf der Erstgeburt für ein Linsengericht spielt
gleichfalls in einem aus zwei quadratischen Bogenhallen und einem
Kuppelraume zusammengesetzten Baue. Ein Kellergeschoss, in wel-
chem unter einem weitgezogenen Bogen ein grosser Kessel am Feuer
steht, trägt die oberen Räume. Eine Freitreppe führt zu denselben;
auf der obersten Stufe handelt Esau mit Jacob um das Linsengericht.
Dasselbe wird nebenan in der Halle von Jacob auf den Tisch ge-
stellt. Esau sitzt auf einem Faltstuhle und hält Brod in beiden
Händen.
Die Wiener Genesis hat Jacob's Betrug nur flüchtig angedeutet,
dagegen sein Hirtenleben mit sichtlicher Vorliebe ausführlich ge-
schildert. Der Ashburnham-Pentateuch erzählt dagegen, wie Jacob
seinen Bruder um den Segen des Vaters betrog, am eingehendsten.
Der greise Isaak (Bl. IX) in einem Armstuhle mit hoher Rücklehne
sitzend, ertheilt dem mit Bogen und Pfeil bewaffneten Esau den Be-
fehl, Vi^ildpret für ihn zu schiessen. Rebecca, in der üblichen reichen
Tracht lauscht hinter Isaak und beredet dann, in einer Nebenhalle
(mehr nach rechts) stehend, mit Jacob die Täuschung des Vaters.
7
710 AiiToi« Spungeb, ('
Das Geberdenspiel beschränkt sich hier wie ttberall auf Hebong n^.-
Streckung der Arme. Einen feineren psychischen Ausdruck wiir«>
man vergeblich suchen, dazu sind die Köpfe viel zu eintönig ^v-
zeichnet. Die nächste Scene, in der Mitte links, bringt uns endl: f
einmal das Innere eines Hauses vor die Augen.. Während sohn
immer die handelnden Personen zwischen Bogen oder vor Säuleo-
hallcn stehen oder sitzen, gewinnt man hier durch den DurcbschDiti
dos Hauses den Einblick in eine Küche. Rebecca rührt mit eiDem
Stabe (oder Löffel) den Inhalt eines Kessels, dessen Deckel sie ab-
genommen hat und in der anderen Hand hält. Auf der aDCJeren
Seite tritt Jacob in kurzem weissen Rocke, rothen Hosen, und hoheo
Stiefeln heran, in jeder Hand ein kleines schwarzes Böcklein trageod.
Im Hintergrunde befindet sich ein hölzerner gedeckter Tisch, von
steht auf dem Boden eine rotho Schüssel mit gelbem Inhalte, loter
der Küche aber haben innerhalb einer runden steinernen Einfriedi-
gung mehrere Schafe ihren Stall. Die weiteren Bilder des Blatles
erzSIhlcn, wie Isaak die Hände des in Felle gehüllten lac^b tastend
greift und dann am Tische sitzend von der Speise geniesst, wäh-
rend Jacob noch eine andere Schüssel aufträgt. Esau, einen Rebbock
auf den Schultern, mit Köcher und Bogen, kehrt von der Jagd zurück,
rührt in der Küche den Kessel und bringt dem Vater den verlang-
Icn Braten. Tiefer unten ist dargestellt, wie Isaak, hinter dessen
Armstiihle Rebecca steht, Jacob zur Flucht auffordert. Jacob reise-
IxM'cit, hat über den weissen Rock bereits einen hellgrünen Manlel
geworfen. Die Sccne in der unteren Ecke rechts ist leider stark
V(Mwischt. Wir sehen Jacob auf der Erde schlafend liegen, auf der
linkem Seite des Körpers ruhend, einen Stein als Kopfpolster be-
nülz(md. Ucber ihm schwebt in misslungener Verkürzung (den Kopf
nach unten) ein Engel, ein anderer steigt auf der Leiter empor, ganz
oben ist die Halbfigur Gottes sichtbar. Der eingefasste Raum des
Blattes reichte nicht hin, um in demselben den fliehenden Jacob /«
zeichnen; er ist ausserhalb der Rahmenlinie angebracht.
Der Künstler wendet sich auf dem nächsten Blatte (X) gleich
zur Schilderung der Flucht Jacob's von Laban, nachdem er dessen
Götzen gestohlen. Drei stattliche buntfarbige Zelte in Fächerforin
sind am Fusse einer steilen in Spitzen auslaufenden Felswand auf-
geschlagen. In jedem Zelt sitzt eine dei* Frauen Jacob's mit ihren
^9] Die Genesisbilder. 711
Kindern, in jedem beugt sich Laban über ein Bündel, die versteck-
ten Götzen suchen'd. In der unteren Abtheilung errichtet Jacob ein
Mal, indem er um einen grösseren Block kleine Steine im Umkreise
setzt und feiert mit Laban die Versöhnung. Sie sitzen um einen
Steinhaufen herum, auf welchem eine Schüssel und mehrere runde
Brode liegen und werden von einem Knaben bedient, welcher aus
einem grösseren Gefässe Wein in eine Glasflasche (?) schöpft. Der
untere Streifen beschreibt den Zug Laban's in seine Heimat zurück
und Jacob's Rückkehr nach Kanaan. Die Frauen sitzen theils auf
Eseln theils auf Kamelen, welche letztere sich wieder durch eine
auffallend naturwahre Wiedergabe auszeichnen.
Das Malerbuch vom Berge Athos kennt nur zwei Scenen aus
dem Leben Isaak's und Jacob's : den Segen Isaak's und die Jacobsleiter.
In ausführlicherer Schilderung ergehen sich die Mosaikgemälde in
Monreale. Isaak auf einem weissen Polsterlager ruhend, ertheilt
Esau, welcher in kurzem goldverbrämten Rocke, blauen Hosen und
Schnürstiefeln, mit Spiess und Bogen bewaffnet vor ihm steht, den
Befehl zur Jagd. Rebecca lauscht hinter einem Vorhange der Rede.
Nebenan ist Esau im Begriff*, Vögel von einem Baume mit dem Pfeile
abzuschiessen. Die letztere Darstellung wiederholen getreu die
Mosaiken in der Capella Palatina, nur wird ihr der Segen, welchen
Isaak dem Jacob in Gegenwart Rebecca's ertheilt, zugesellt, welche
Scene in Monreale erst im nächsten Bilde folgt. Isaak sitzt auf dem
Ruhebette und segnet Jacob, hinter welchem Rebecca in einer ver-
deckten Schüssel die Speise aufträgt. Sie ist mit einer braunrothen,
goldgesäumten Tunika über einem langen weissen Gewände bekleidet
und hat um den Kopf ein Tuch gebunden. Weiter links kommt
Esau mit der Jagdbeute an einem Stocke auf der Schulter heran-
goschritten, Rebecca steht in der Thüre eines einfachen dreitheiligen
Hauses und mahnt Jacob zur Flucht. Rüstig schreitet derselbe, sein
Bündel am Stocke über der Schulter tragend einen Hügel hinan. Zu
Füssen der Himmelsleiter schläft Jacob, das ReisebUndel als Polster
benützend. Neben ihm steht eine kleine Flasche. Auf der Leiter
steigen zwei Engel empor, am Firmament erscheint die Halbügur
Gottes. Nebenan baut Jacob den Altar. Das letzte Bild endlich
versinnHcht den Kampf Jacob's mit dem Engel. Der letztere steht
am Fusse eines Felsens mit ausgebreiteten Flügeln, hält in der einen
Abhandl. d. K. 8. üesellsch. d. Wissensch. XXI. 47
f/'
712 Anton Springer, .-^^
Hand einen Stab und hebt die andere segnend über das Haupt
Jacob's, welcher ihn an der Brust berührt. Von einem Ringen i>r
keine Rede.*) Die Reliefs in Salerno bieten nur eine einzige Scene,
die Himmelsleiter, im Anschluss an die Palermitaner Gemälde und
schliessen daran unmittelbar Moses vor dem brennenden Dornen-
busche.
6. Der ägyptische Joseph.
Die Wiener Genesis knüpft die Geschichte vom ägyptischen
Joseph unmittelbar an die Darstellung des Todes Isaak's an. Das
Bild, welches oben das Hinscheiden des Patriarchen schildert, fülirl
uns in der unteren Abtheilung Jacob, an dem Thore einer Stadt auf
einem Faltstuhle sitzend, vor, wie er dem kleinen Joseph einen bunten
Rock vorhält. Die Brüder weiden auf einem Hügel Schafe. Der
eine bläst Schalmei, der andere ruht, den Kopf auf die Hand stützend,
auf dem Boden, die anderen unterreden sich in kleinen Grup|)en.
Noch ausdrucksvoller thun sie es auf den nächsten Bildern, welche
Joseph's Träume und seine Sendung zu den Brüdern auf das Feld
wiedergeben. Auf dem einen Bilde ruht Joseph auf einem von vier
gedrechselten Pfosten getragenen Bette, über ihm schweben in einem
Viertelkreise Sonne, Mond und Sterne. Rechts davon erzählt er der
versammelten Familie seinen Traum. Gut ist das Staunen der Mutter
geschildert, sowie die Aufmerksamkeit des Vaters, welcher sich vor-
beugt und den Ko[)f auf die Hand stützt, und der neidische Aerger
der Brüder, welche in der unteren Abtheilung noch einmal wieder-
kehren, wo sie auf dem Felde ihre Heerden weiden, und in kleinen
Gruppen zusammensitzend, sich lebhaft über den Vorgang unter-
halten.
Die Vorliebe für Familienschilderungen prägt sich auf dem näch-
sten Blatte aus, in welchem Joseph Abschied von Benjamin nimnil.
ehe er auf das Feld zu den Brüdern geht. Der Künstler erweilerl
den Text der Bibel. Der alte Jacob sitzt auf einem kunstreich ge-
\) In den Horailien des Gregor von Nazianz ist dagegen (fol. 174*) der
Kampf recht drasliscli wiedergegeben. Der Engel mit mächtigen Purpurflügeln.
hebt gewaltsam das Bein des Gegners in die Hohe, um ihm die Hüfte zu ver-
renken.
^^] Die Genesisbilder. 7I3
schmückten Lehnstuhle und hält den kleinen Benjamin vor sich, zu
welchem sich Joseph liebkosend herabbeugt. Benjamin begleitet Joseph
eine Strecke weit. Unter der Führung eines Engels an der Ueimats-
grenze (durch eine von einem Bande umschlungene Säule symboli-
sirt) angelangt, wendet sich Joseph zu Benjamin zurück, welcher
klagend die Hände emporhebt. Auch in der Potipharscene nimmt
die Wiedergabe des Familienlebens den breitesten Raum ein. Oben
links sitzt Potiphar's Frau vor einer geschweiften Säulenhalle auf
einem Ruhebette und greift nach dem Mantelzipfel des fliehenden
Joseph. Rechts sitzt ein Kind, mit einer Tiara auf dem Kopfe in
einem Gehstuhle (?) , eine Magd beugt sich mit einem Fahnchen über
dasselbe. Neben derselben steht eine reichgeschmückte Frau, welche
über das lange Gewand noch einen gestickten Mantel geworfen, und
hält eine Spindel hoch in der Hand. In die Kiuderwelt versetzt uns
auch die untere Abtheilung, wo eine Magd ein nacktes Kind in den
Armen trägt und herzt, eine andere Frau ein Band stickt, eine dritte
endlich gleichfalls sitzend spinnt und mit einem grösseren Kinde sich
unterredet.
In der Regel legt die Wiener Genesis auf reiche Trachten kein
Gewicht, nur in den Potipharscenen spielen die Prachlcostüme eine
grössere Rolle. Potiphar's Frau z. B., welche Joseph bei ihrem Gatten
verklagt, trägt auf dem Haupte eine Zackenkrone und darüber einen
lang herabwallenden Schleier. Ihr weisses Gewand ist mit Gold ver-
brämt, ihr Mantel von seegrüner, ihre Schuhe von rother Farbe.
Die Männer haben auf ihren Mänteln in spätrömischer Weise drei-
eckige Purpurlappen aufgenäht oder über das Gewand ein Tuch
shawlartig geworfen. Ueberhaupt treten von jetzt an die Anklänge
an antike Sitten stärker auf. Und das ist nicht der einzige Unter-
schied. Bisher wurden zuweilen mehrere Scenen in einem Bilde
vereinigt und nur äusserlich mit einander verbunden. Von jetzt an
kommen nur Einzelscenen vor und damit wächst auch der Maass-
stab der Figuren.
In einem ummauerten oben offenen Räume sitzt Joseph mit dem
Mundschenken und Bäcker des Königs. Joseph in der Mitte zwischen
den beiden Gefangenen bemüht sich, sie zu trösten. Der eine reckt
die Hände klagend zum Himmel empor, der andere zerrauft sich ver-
zweifelnd das Haar. Am Eingänge des Kerkers ist eine kannelirte
47*
714 Anton Springer, [52
Säule aufgerichtet mit eioem Ringe in der Mitte, und mit eiDcm
schildartigen Aufsatze gekrönt. Zu ihrem Fusse sitzt auf einem Fels-
blocke der Gefangenwärter, einer Frau sich zuwendend, welche, den
Mantel über dem Kopf gezogen, die Rechte lebhaft in die Höhe
hebend, ihn anspricht. Wen sie vorstellt ist unklar, ihre allegorische
Deutung nicht unwahrscheinlich. Am meisten führt uns in die antike
Sittenwelt die Gastmahlscene ein. Auf einer ßrhöhlen Buhne lagern
der König mit drei Genossen, auf einen Polsterwulst sich aufstützend.
Der König nimmt von einem Diener, der in der Linken eine hohe
cylindrische Flasche hält, eine Schale in Empfang. Ein Diener mit
Krug und Flasche steht dabei, ein dritter, mit auffallend hoher Haar-
tracht^) verrichtet bei den Genossen das gleiche Amt des Mund-
schenken. Gegenüber der Bühne auf erhöhtem Gerüste haben zwei
Frauen Platz genommen. Die eine bläst die Doppelflöte, die andere
schlägt mit zwei Stäbchen auf Becken. Eine Säule mit einer um-
wundenen Flasche als Aufsatz trennt das Gemach vom Felde, wo
im kleinen Maassstab der oberste Bäcker, eine Beute der Raben, zwi-
schen einer Gabel hängt. ^)
Die folgenden Scenen: Pharao's Traum, Joseph's Deutung des-
selben und seine Bestallung bieten ein geringeres Interesse, stehen
auch künstlerisch den meisten anderen Bildern nach. Sie zeigen
gleichfalls den Nachhall antiker Tracht und Sitte, die Kennt-
niss der antiken architektonischen Formen. So schläft Pharao unter
einem von vier korinthischen Säulen getragenen, profilirten Dache,
während seine Waffenträger sich auf ihre Rundschilder zu seinen
Füssen hingestreckt haben. Auch die Bogenpforte, unter welcher
Joseph steht, erscheint richtig konstruirt. Reicheres Leben entwickeln
erst wieder die Bilder, in welchen ländliche Beschäftigungen dar-
gestellt werden. Auf dem einen Blatte wird geschildert, wie die
leichtgeschürzten Brüder das Korn in Säcke laden, einer von ihnen
von einem Manne gebunden wird, um als Geissei zurückbehalten zu
I werden. Hinter der Thüre birgt Joseph tiefbewegt und weinend
j sein Gesicht in dem Mantel. Auf dem nächsten Bilde lagern die
I
*) Dieselbe Perrückeniracht beobachten wir auch bei den SchwerUrägern
Pharao's und Joseph*s in den Reliefs an der Cathedra S. Maximian's in Ravenna.
2) Vgl. Versus ad pict. dorn. dorn. Mogunt. v. tOl : In cruce pascil aeres
discerpta fronte volucres.
^3] Die Genesisbuder. 715
Bruder auf dem Felde, die Esel sind abgeschirrt, empfangen Futter,
walzen sich im Grase. Das Vorzeigen des in einem Sacke gefun-
denen Geldes bei der Heimkehr (während die Packesel rasten, zwei
Männer die Säcke ausschütten, stehen drei Brüder vor dem alten
auf einem niedrigen fellbedeckten Stuhle sitzenden Jacob und
weisen ihm den Fund), die Weigerung Jacob's, Benjamin mit ihnen
ziehen zu lassen und Benjamin's Abschied von dem greisen Vater,
der ihn am Kleide festzuhalten sucht, während ein Bruder ihn an
der Hand wegzerrt, bilden den Inhalt der vier folgenden Blätter.
An dem freien Zusammenfassen der verschiedenen Gestalten zu einer
einheitlichen Gruppe merkt man die Fortdauer guter künstlerischer
Traditionen.
Die Rückkehr der Brüder nach Aegypten gibt dem Künstler
wieder willkommenen Anlass zu einer ländHchen Schilderung. Im
Hintergründe in der Nähe eines einfachen Giebelhauses hängt ein
Schaf an einem dürren Baume und wird ausgeweidet, um am Feuer
gebraten zu werden. Auf dem Boden liegt mannigfaches Acker-
geräth. Der Weg wendet sich thalwärts von links nach rechts und
wird durch bepackte Esel, welche von den Brüdern getrieben wer-
den, belebt. Im Vordergrunde rechts empfängt Joseph auf einem
Polsterstuhle sitzend die Brüder. Ein oflFener Giebelbau, von vier
Säulen (die vierte ist wegen der perspektivischen Schwierigkeit weg-
geblieben) getragen, nimmt im nächsten Bilde die Aufmerksamkeit
zunächst gefangen. Vor ihm steht Joseph's Haushalter und bezichtigt
die Brüder (Gen. 4i, 6) des Diebstahls. Dicht aneinandergedrängt,
wie von Furcht ergriffen, vertheidigen sich die Brüder gegen die
Anschuldigung. Die Kopfe sind ausdruckslos, die Arme und Hände
lebhaft und sprechend bewegt.
Die letzten vier Bilder erzählen Jacob's Ende. In einer kahlen
felsigen Gegend sitzt Jacob und legt die Hände kreuzweis auf die
Köpfe der Söhne Joseph's, welcher mit einer verhüllten in ihrer Be-
deutung unverständlichen Frau daneben steht und Jacob's Hand ge-
fasst hält. Jacob hält sodann zwei Ansprachen an seine um ihn
versammelten Söhne. Das einemal sitzt er links und die Brüder
(nur Joseph steht für sich und ist auch durch seine Tracht ausge-
zeichnet) bilden ihm gegenüber einen dichten Haufen. Das andere-
mal silzt er in der Mitte und die Brüder haben sich zu beiden Seiten
716 Anton Springer, iH
aufgestellt. Zuletzt sind wir noch Zeugen von Jacob's Tod und Be-
gräbniss. Rechts liegt Jacob auf einem Bette, neben welcbem ein
Kandelaber steht. Joseph hat sich auf ihn geworfen und küsst iho,
während die anderen Brüder weiter hinten sich vor Schmerz das
Antlitz verhüllen. Links wird Jacob's Leichnam, wie eine MuDiie
eingewickelt, von zwei Knaben in eine Höhle getragen. Die Familie,
Mtlnner und Frauen, folgt der Leiche und gibt der Trauer lebhaften
Ausdruck. Eine Frau hebt klagend die Hände in die Höbe, eine
andere hält sie gekreuzt vor der Brust, einzelne Männer halten
Tücher vor dem Gesichte. Damit schliessen die Hlustrationen der
Wiener Genesis.
Von den erhaltenen Resten des Cod. Cottonianus beziehen
sich drei Darstellungen auf den ägyptischen Joseph. Derselbe, in
einen langen Mantel gekleidet sagt den beiden Mitgefangenen ihr
Schicksal voraus. Die letzleren tragen kurze gegürtete Tuniken und
drücken durch die Handbewegung ihr Staunen aus. Joseph, mil
einem Scepter in der Hand, empfängt seine Brüder und Jacob semlei
Benjamin mit den Brüdern nach Aegypten. Die Handlung erscheint
stets auf den Kern eingeschränkt, von allem Nebensächlichen befreit.
Eine Andeutung des belebten Hintergrundes wird nirgends gefunden,
vielmehr weist die Abkürzung der Scenen auf ein Festhalten an den
Sarkophagenstil hin. In die gleiche Zeit fallen die Reliefs an den
Seitenlehnen der Kathedra des Bischofes Maximianus (546 — 352
in Ravenna. Sie umfassen zehn Scenen aus dem Leben Josepb's,
lassen bereits den antiken Formensinn schwer vermissen, ebenso das
richtige Verständniss der Maassverhältnisse, zeichnen sich dagegen
durch eine grosse Lebendigkeit aus. Im Gegensatz zu den Minia-
turen im Codex Cottonianus, welche sich dem altchristlichen Relief-
stil nähern, entfernen sie sich von demselben und offenbaren das
allmälige Eindringen malerischer Elemente auch in das Gebiet der
Plastik. Wir haben es mit Werken einer Uebergangsperiode zu thun,
in welcher ältere Traditionen sich lockern, neue Typen noch nicm
endgiltig geschaffen sind. Je nach der Oertlichkeit, welcher die
Kunstwerke entstammen, vollzieht sich dieser Uebergang schroffer
oder milder.
Spuren einer Uebergangsperiode tragen ebenfalls die Miniaturen des
Ashburnbam-Pentateuch, welche vom ägyptischen Joseph erzählt"
^5] DiB Genbsisrilder. 717
Hier stossen wir auch, abgesehen von der Architektur, auf einzelne
Anklänge an die antike Sitte. Vier nebeneinander gespannte Rosse
ziehen, von einem Lenker mit hochgehobener Peitsche angetrieben,
den Triumphwagen, in welchem Joseph, einen hohen Cylinder auf
dem Kopfe, sitzt. Nicht antik ist das Joch, welches quer über die
Rucken der Pferde gelegt ist und sie zusammenhält. Zwei Herolde
laufen vor dem Wagen und machen die Bewohner der Stadt auf
Joseph's Erhöhung aufmerksam. Aus den Bogenöffnungen des Ge-
büudehaufens blicken und neigen sich Männer und Frauen; Das Thor
der Stadt krönt ein geschweifter Giebel, welcher in Voluten aus-
läuft. Dasselbe Blatt (Xi) zeigt uns unten rechts Joseph in der Aus-
übung seines Amtes. Er steht angelhan mit einem rothen Rocke,
über welchen er einen braunrothen Mantel (schon in der Weise der
mittelalterlichen Kunst geschürzt, vorn in eine Spitze auslaufend) ge-
worfen hat, in blaugrünen Hosen und schwarzen Stiefeln in der Ecke
und führt Aufsicht über die Schnitter. Dieselben stehen über einan-
der und schneiden mit der Sichel das Korn. Die einzelnen Aehren
sind richtig gezeichnet, aber jede in weitem Abstände von der an-
deren entfernt. Den übrigen Raum des Blattes unten nimmt Jacob
ein, welcher im Bogen eines Giebelhauses sitzend, von den Söhnen
über ihr Schicksal in Aegypten unterrichtet wird. Sie stehen in
einem dichten Haufen beisammen. Aus den Bogenöffnungen der
zahlreichen Häuser blicken Frauen. Den Vordergrund füllen Säcke
und Saumthiere.
Das folgende Blatt (Xil) schildert die zweite Reise der Söhne
Jacob's nach Aegypten. Der kleine barfüssige Benjamin steht auf-
recht vor dem thronenden Joseph, während die Brüder mit Gefässen
in den Händen die Kniee beugen. Einzelne scheinen in der Luft
zu schweben, so elementar ist noch die Kunst der Perspektive. Die
Scene hat eine reiche Architektur zum Hintergrunde, welche sich
wieder aus einem ungeordneten Haufen mannigfacher Bauten zusam-
mensetzt. Zu derselben führt eine Freitreppe, auf deren oberster
Stufe sich eine abermals mit Voluten geschmückte Giebelpforte er-
hebt. Abseits von dieser Scene, obschon inhaltlich zu ihr gehörig,
entdecken wir auf dem mittleren Bildstreifen Joseph, welcher in einem
offenen Kuppelbau steht und mit dem Mantel das Gesicht ver-
hüllt.
718 Anton Spiingei, ^^
Die zweite Haupthandlung auf dem Blatte bescbreibi das Gast-
mahl Joseph's. Seine Brüder und die Aegypter speisen an verschity
denen Tischen, wie es der Bibeltext erzählt. Die Brüder lagern nacli
antiker Sitte im Halbkreise bei dem Mahle, während die Aegypter
auf Stuhlen um den Tisch herumsitzen. Die erste Weise scheinL
da Joseph seinen Brüdern Ehre erweisen wollte, als die vornehmere,
nicht mehr gewöhnliche zu gelten. Auffallend ist weiter die grössere
Zahl von Negern, sowohl unter den bei Tische sitzenden Aegs'plem
wie unter den Dienern, welche im Vordergrunde mit der Wein-
mischung, der Füllung des Weines in Gläser und mit der Zurichtuos
der Speisen beschäftigt sind. Wir möchten daraus keineswegs auf
eine nähere Bekanntschaft des Künstlers mit dem Oriente, also aut
den Ursprung des Codex in einer Landschaft, welche mit dem OricDt
in näherer Verbindung stand, schliessen, vielmehr die Sache so er-
klären, dass zur Zeit, als der Pentateuch geschrieben wurde, das
Morgenland bereits in einem phantastischen Lichte betrachtet, mit
dem Mohreniande verwechselt wurde.
Die Darstellung, wie der Becher in Benjamin's Sack entdeckt
wird und Benjamin, als Joseph den Brüdern den Diebstahl vorhält,
entsetzt zurückfährt, schliesst die Bilderreihe des XII. Blattes.
Unter den Schilderungen des nächsten (Xlll.) Blattes fesselt Jacobs
Begräbniss besonders unsere Aufmerksamkeit. Die anderen Scenen
enthalten Jacob's Segen, in typischer Weise kreuzweise den Söhnen
Josephs ertheilt, sodann Pharao's Erlaubniss, dass Joseph, welcher mit
dem Schwerte gegürtet sich vor dem thronenden Pharao beugt, in
die Heimat zum Begräbnisse des Vaters reise und endlich die Hul-
digung der Brüder, welche vor dem im Eingange einer Basilika
sitzenden Joseph knieen. Den weitesten Raum nimmt das Begrub-
niss Jacob's ein. Unten im Vordergrunde sehen wir mehrere zwei-
rädrige Karren, jeden mit zwei Pferden bespannt und dann von
Negern gehaltene Reitpferde, welche letztere besonders in der Zeich-
nung der Köpfe im Vergleiche mit den sonst vorkommenden Kame/en,
ein geringes Maass von Naturbeobachtung verrathen. Weiter oben
steht die leere, aus Gitterwerk gebildete Bettstelle, in welcher Jacob
gestorben war. Zwei Männer tragen die wie eine Mumie einge-
wickelte Leiche zur Grabstätte, vor deren Eingang ein Denkmal siebt.
Es ist (las einzige isolirte Bauwerk im ganzen Codex. Wenn ein
^7] Die Genbsisbildbr. 719
trivialer Vergleich gestattet ist, erinnert dasselbe an ein rundes
Schilderhaus. Auf drei Stufen erhebt sich ein schmaler cylindrischer
Bau, vorn im Bogen geöfiiiet und mit einem geschweiften Dache ge-
schlossen, welches zwei Kugeln, eine grössere und kleinere über-
einander, krönen. Nicht ganz verständlich erscheint an der Fels-
wand, über den Trauernden, welche merkwürdig individuelle aber aus-
druckslose Köpfe zeigen, von Linien eingerahmt eine Landschaft, drei
Bäume. Zwei derselben tragen an der Spitze der Aeste schirm-
förmige Blattbüschel, ähnlich wie die Bäume in der Genesis, der
mittlere dürfte eine Palme vorstellen. Es sind dieselben drei Bäume,
auf welche wir in der Darstellung Kain's und Abel's stiessen. Zwei-
mal nur entdecken wir im ganzen Codex eine landschaftliche Schil-
derung, welche mehr bietet als blosse Felsenzacken.
In der byzantinischen Kunst des vorigen Jahrtausends hat das
Leben Joseph's die beste Verkörperung in den Homilien des
Gregor von Nazianz (fol. 69.'') empfangen. Die Schilderung füllt
ein ganzes Blatt. Fünf Abtheilungen über einander, in jeder wieder
mehrere Scenen neben einander, bieten Raum zu eingehender Dar-
stellung, zwingen freilich auch zur Verringerung des Maassstabes der
einzelnen Figuren. Joseph's Sendung zu den Brüdern, wie er mit
einem bepackten Esel zu ihnen eilt und wie sie ihn bei Tische
sitzend erwarten, bildet den Inhalt der obersten Abtheilung. Sie
werfen ihn sodann in die Cisterne, tödten einen Bock und zeigen
dem schmerzerfüllten Vater den blutgetränkten Rock Joseph's. Diese
Bilderreihe stimmt mit den Reliefs an der Kathedra des Maximian
Ubercin. Der dritte Streifen erzählt den Verkauf Joseph's an die
Ismaeliter und die Wanderung nach Aegypten, der letzte endlich die
Traumdeutung und Erhöhung Joseph's. Als Imperator mit dem Kron-
reifen geschmückt, den globus und das vexillum haltend fährt Joseph
auf dem von einem Viergespann gezogenen Wagen. Zwei Männer
haben sich zu seinen Füssen hingeworfen. Die Scene ist nach einem
spätrömischen Vorbilde kopiit und zeigt die unmittelbare Anlehnung
an die Antike in der Form, während der Ashburnham-Pentateuch nur
noch die Erinnerung an die antike Sitte bewahrt hat, in der formalen
Wiedergabe aber selbständig verfährt. Mit den Josephsbildern in der
Wiener Genesis besitzen diese Scenen nicht die geringste Aehnlichkeil,
/
720 Anton Spkingbb, '^
7. Moses.
iMit Moses kehren wir wieder zu dem Gestaltenkreise zurück.
welcher bereits in der altchristlichen Kunst volles Leben empfangen
hat. Moses, welcher das Wasser aus dem Felsen mit seinem Stabe
schlagt, gehört zu den häufigsten Darstellungen in den Katakombeo.
Die Sarkophagsculptur vermehrt die Summe der Mosesbilder, fügt
noch den Untergang Pharao's hinzu. Die reichste Schilderung biet^l
ein aus Arles stammender Sarkophag im Museum zu Aix (Garr. Uv.
308). Auf der Schmalseite thront Pharao unter einem Bogen, von zwei
Lanzen trägem begleitet und befiehlt Moses das Land zu verlassen.
Moses, unbürtig, im Begriffe abzuziehen, blickt auf Pharao zurück und
greift mit der Hand nach oben , um ein von Gottes Hand ihm ge^
reichtes Buch zu empfangen. Neben Moses hat sich eine Gruppe
von Menschen versammelt, welche sich zur Reise rüsten, die Pack-
ihierc bereit halten. Die andere Schmalseite stellt das Wasserwunder
und den Wachtelfang dar. Hinter Moses bemerken wir stets die
Feuersäule, eine antike Säule mit kompositem Kapital, auf welchem
eine Flamme angezündet ist. Die Hauptseite erzählt Pharao's Unter-
gang. Dieser auf einem zweirädrigen Streitwagen beherrscht die
ganze Scene. Viele Reiter kämpfen mit den Wellen oder sinken
bereits in die Fluthen, nur der Seegott mit seinem Ruder unter den
Rossen Pharao's ruht unbeweglich auf dem Wasser. Moses, unbärliif.
steht mit der Rolle in der Hand am Ufer, neben ihm viele Männer,
Frauen und Kinder, manche mit Bündeln auf den Schultern. In der
Koke ist die übliche Feuersäule angebracht. Aehnliche Schilderungen
bieten Sarkophage aus Rom (Garr. tav. 308, 5) und Spalato (ta\.
309, 4) ; namentlich beliebt scheint aber der Untergang Pharao's auf
arelatischen Sarkophagen (Garr. tav. 309, 1; 366, 2; 395, 9) gewasen
zu sein. Sie stimmen alle auch in minder wesentlichen Punkten
überein, so z. B. in der Architektur, welche die Scene auf beiden
Seiten begrenzt und die Stadt andeutet, aus welcher die Aegypi^f
ausgezogen sind. Auch der Sarkophag, in welchem in Mel^ die Ge-
beine Karl des Kahlen ruhten, enthielt das Bild des Unterganges
Pharao's.
Auf die Sarkophagreliefs folgt der Zeit nach der Mosaikschniuck
I in S. Maria Maggioro (Garr. tav. 218—220). Die Scenen au^ deoi
*^9] Die Gbnesisbildbr. 721
Leben Moses an der rechten Wand des Mittelschiffes beginnen mit
der Schilderung wie Moses halberwachsen an den Hof der ögypti-
schen Prinzessin gebracht und wie er dann von den Weisen des
Landes in den Künsten unterrichtet wird. Die Anordnung der letz-
teren Handlung (die Weisen sitzen im Halbkreise auf einer erhöhten
Bank, Moses steht mitten unter ihnen) erinnert an den zwölfjährigen
Christus im Tempel. Die Frauen tragen das spätrömische Hofcostüm,
die Männer den Philosophenmantel, welcher die halbe Brust und den
einen Arm freilässt. Es folgt auf dem nächsten Felde die Vermählung
Moses mit der Tochter Jethro's und das Hirtenleben Moses. Die
symmetrische Anordnung der ersten Scene lässt die guten künstleri-
schen Traditionen erkennen. Der Vater, im Maassstabe grösser ge-
halten als die anderen Figuren, steht vor einem Kuppelbau und be-
rührt Braut und Bräutigam, welche sich die Hände reichen, an der
Schulter. Das Hochzeitsgefolge schliesst das Brautpaar ein. Die
folgenden Bilder, zum Theile nur in Nachbildungen des sechzehnl^^n
Jahrhunderts erhalten, bieten geringeres Interesse. Eintönig wird uns
Moses als Führer und Lehrer des Volkes, Anreden haltend vorge-
führt. Der Untergang Pharao's unterscheidet sich von den Darstel-
lungen an den Sarkophagen nicht zu seinen Gunsten. Das rothe
Moor strömt wie ein schmaler Kanal zwischen zwei Ufern. Am
rechten Ufer kommen die Aegypter zu Rosse aus dem Thore einer
Stadt heraus, die vordersten stürzen bereits in das Wasser, kämpfen
mit den Wellen. Der Streitwagen Pharao's, von vier Rossen gezogen,
ist mehr in den Hintergrund zurückgerückt. Am anderen Ufer steht
Mo.ses an der Spitze eines endlosen Zuges der Israeliten und schlägt
mit dem Stabe in das Wasser. Die folgenden Felder schildern den
Wachtelfang, ferner wie Moses mit dem Stabe Wasser aus dem Boden
(nicht aus dem Felsen) springen lässt und die murrenden Israeliten be-
schwichtigt, endlich wie die Amalekiter, antik bewaflnete Krieger, den
Israeliten den Durchzug durch ihr Land verweigern und von Moses
besiegt werden.
Der zusammenfassende Uebeiblick der Mosaiken lehrt uns, dass
der Künstler bei der Wahl der Bilder sich nicht streng an die Bibel
hielt, die Gegenstände nicht so sehr nach ihrer inhaltlichen Bedeu-
tung aussuchte als nach der Becpiemlichkeit, welche sie einer Wieder-
gabe in dem gewohnten, überlieferten Stile boten. Mit Recht hat
722 Anton Springer, [60
man schon längst auf die Verwandtschaft, welche zwischen diesen
Mosaiken und spätrömischen Reliefdarstellungen waltet, hingewiesen.
Sic dürfen in mancher Beziehung als der letzte Nachhall römischer
Kunst gelten.
Der Äshburnham-Pentateuch widmet dem Leben Moses sechs
Blätter, die grösste Zahl, deren sich eine Patriarchenschilderung er-
freut. Diese sechs Blätter stehen unter sich nicht nur inhaltlich in
einem näheren Zusammenhang, auch in formaler Beziehung erscheinen
sie unter einander verwandt und den bisher betrachteten Darstel-
lungen entgegengesetzt. Der Maassstab der Figuren ist von nun an
regelmässig ein grösserer, die Zahl der auf einem Blatte vereinigten
Scenen verringert sich, dieselben werden auf dem Räume besser
geordnet, stehen viel häufiger in regelmässigen Reihen über einander,
durch gerade Striche getrennt. Da wir keine älteren illustrirten
Codices, welche das Leben Moses behandeln, kennen, müssen wir es
in Zweifel lassen, ob der Pentateuch hier irgend ein Muster nachahmt
oder ob der Künstler im Laufe seiner Arbeit zu einer freieren Be-
handlung sich erhob. Das Blatt XIV. bildet einen merkwürdigen
Uebergang von der alten zur neuen Weise.*) Die obere Abtheilung
besitzt als Hintergrund eine gemeinsame, quer über das ganze Blatt
sich hinziehende Architektur, welche auch besser gegliedert erscheint.
Die Milte nimmt eine offene Säulenhalle ein, über welcher sich klei-
nere Kuppel- und Giebeibauten erheben, die beiden Ecken werden
von schräge gestellten Portiken ausgefüllt, annähernd also in natür-
licher Weise angeordnet. Vor dem Portikus rechts sitzt Pharao auf
einem reich geschmückten Throne: mit hoher geschweifter Rück-
lehne, welche wie der Sitz gepolstert ist. Er befiehlt seinen Schwert-
trägern die Unterdrückung der Israeliten. Gegenüber sitzt er mit
einem hohen cylindrischen Hute auf dem Kopfe auf einem Falten-
stuhle und herrscht die von den Königsknechten vorgeführten zwei
Wehmütter an, dass sie seinen Auftrag, die männlichen Geburten der
Israeliten zu tödten, nicht erfüllten.
Die untere Abtheilung zeigt eine Fülle bunt durcheinander-
geworfener kleiner Gruppen und Figuren, ohne dass die Scenen von
*) Gebhardt hobt den unfertigen Zustand der Blätter hervor und bemerkt,
dass unter den Inschriften Spuren Ulterer Buchstaben sichtbar sind, ofTenbar die
Angaben des Schreibers, welche Gegenstände dargestellt werden sollen.
\
^4] Die Genbsisbilder. 723
einander geschieden, durch mannigfache Hintergründe auseinander-
gehalten würden. In der unteren Ecke rechts ist die Findung Moses
dargestellt. Die Prinzessin steht mit ihrem Gefolge am Ufer des als
breites, grünes, gewundenes Band gemalten Nils, ihr gegenüber die
kleine Schwester Moses, welche das nackte Kind der Mutter über-
gibt. Links und in der Mitte erblicken wir die Israeliten, unter
der Aufsicht der Aegypter als Ziegelpresser und Maurer beschäftigt,
dann den Streit der israelitischen Brüder, welche sich in die Haare
fahren, von Moses abgemahnt werden und den Todschlag, welchen
Moses verübt. Mehr nach rechts hilft Moses im Lande Midian den
Töchtern Jethro's Wasser aus dem runden Ziehbrunnen zu schöpfen
und naht sich, nachdem er die Schuhe ausgezogen, dem brennen-
den Dornbusche.
Die Hauptscene des folgenden Blattes (XV) stellt die gewaltsanje
Bedrückung der Israeliten noch ausführlicher vor die Augen. Vier
ägyptische Aufseher, alle mit dem hohen Cylinder als Kopfbedeckung
und das Schwert zur Seite, treiben die Israeliten zur Arbeit an.
Die einen schleppen Strohbündel auf den Schultern herbei, die an-
deren hacken das Stroh mit Beilen klein, noch andere kneten die
Erde, pressen und schichten die Ziegel. Die obere Abtheilung zeigt
links Moses und Aaron in weissen GewUndern vor dem thronenden
Pharao, rechts den gleichen Vorgang, nur dass hinter Moses noch
zehn Israeliten mit flehender Geberde, ausgestreckten Händen, stehen.
Feinere Seelenbewegungen und zartere Empfindungen auszu-
drücken, dazu reichte das Kunstvermögen des Illustrators des Penta-
teuch nicht aus. Heimischer fühlt er sich in der Welt elementarer
Leidenschaften, bei deren Wiedergabe körperliche Bewegungen reicher
mitspielen. Daher gelingt ihm die Schilderung, wie auf Gottes Ge-
lieiss die Erstgeburt der Aegypter getödtet wird, verhältnissmässig
gut. Es weht beinahe ein dramatischer Zug durch die Scene.
Jehova, in ganzer Figur, ähnlich wie in der Schöpfungsgeschichte
bekleidet, steht unter einem hohen Bogen und sendet den Todes-
engel aus. Derselbe wirbelt durch die Lüfte mit einem goldenen
Schwerte in der Hand. Nebenan ist das erste Opfer bereits gefallen.
Eine Frau wirft sich wehklagend über den Leichnam des Verstor-
benen. Aehnliche Vorgänge werden in der oberen Abtheilung dar-
gestellt. Links stirbt der Erstgeborene Pharao's. Die Königin hält
724 Anton Springer, [62
den bereits in das Grabkleid eingewickelten Todten in ihren Armen,
Pharao wischt sich mit einem Mantelzipfel die Thräne. Rechts liegen
die Todten der Aegypter, alle schwarz im Gesichle, vor den Häusern
auf Tischen und Polstern, hSinderingend beugen sich die Mütter über
dieselben. Auch der Tod der Erstgeburt der Thiere wird erzählt.
Ein Kamel, ein Pferd u. a. senken den Kopf zur Erde wo ihre
Jungen liegen. Den richtigen Abschluss aller dieser Schilderung
bietet die unterste Scene, in welcher Pharao vor dem Thore der
trauernden Stadt (die Fenster und ThUren sind mit Holzladen ver-
schlossen) steht und Moses und Aaron zum Verlassen des Landes an-
treibt. Zwischen ihnen und dem Pharao steht ein Haufe Aegypter,
fast alle schwarz gekleidet uud drängen mit vorgestreckten Armen
Moses zu rascher Entfernung.
Das Blatt XVll enthält nur zwei Scenen. Oben in der linken
Ecke stehen Moses und Aaron in weissen Gewändern. Gegen sie
drängen die murrenden Israeliten, in mehreren Reihen hinter ein-
ander aufgestellt, die ganze Breite des Blattes einnehmend und be-
drohen sie mit aufgehobenen und vorgestreckten Armen. Unter ihnen
sind fünf fiicherförmige Zelte gespannt, aus deren Oeffnungen Frauen
und Kinder herausblicken. Die zweite grössere Abtheilung schildert
Pharao's Untergang. Rosse, Kriegswagen, Reiter, die letzteren mei-
stens in eisengraucr oder gelber Rüstung schwimmen in der grünen
See und kämpfen mit den Wellen, deren Schaumspitzen durch weisse
Linien angedeutet sind. Am Ufer rechts stehen zunächst, in grösse-
rem Maassstabe gezeichnet, Moses mit dem Stabe und Aaron und
dann in vielen Reihen hintereinander die Israeliten, Männer und
Frauen, die vordersten mit Säcken beladen. Ganz in der Ecke er-
blicken wir eine riesige weisse Fackel von zwei grossen Händen
getragen, die columna nubis.
Die Miniatur des nächsten (XVIIL) Blattes ragt oben über den
Bildrand heraus. Moses im weissen Mantel über dem gelben Unter-
gewande kniet mit Aaron, Nadab und Abihu vor einer strahlenden
Wolke, in welcher der Kopf Jehova's in weisser Farbe erscheint.
Der Berg Sinai wird durch mehrere zackige Felsen, von welchen
Flammen aufsteigen, angedeutet. Die mittlere Abtheilung umfasst zwei
Scenen; links blickt ein Haufe Israeliten, alle mit nackten Beinen, in
hellen Tuniken, kurzen Mänteln zum Himmel empor; rechts steht hinter
63] Die GENESisBaoER. 725
dem Altar, einem Ziegelheerde , auf welchem ruaf Brode und drei
röthliche Gewisse liegen, der bärtige Moses mit den Gesetztafeln in
den Händen. Fünf weissgekleidete Männer mit Opfergaben (weissen
Brodlaiben) haben sich rechts vom Altar, zwei andere weissgeklei-
dete und ein Haufen Männer und Weiber links von dem Altare auf-
gestellt; die Männer barhaupt, die Frauen mit buntfarbigen Schleiern
über der hohen Kopffrisur. In der unteren Abtheilung sehen wir
das Tabernakel zwischen zwei grossen Zelten, aus welchen Moses
mit Josuah und Aaron mit zwei Männern hervortreten. Moses und
Aaron ziehen vom Tabernakel die Vorhänge zurück. Das Tabernakel
ist ein von dünnen braunen Säulen getragenes offenes Giebelhaus, mit
bunten Vorhängen zwischen den Säulen. Eine Krone (den west-
gothischen ähnlich) hängt über dem Altartische von der Decke
herab.
Das letzte Blatt des Pentateuch enthält nur eine Illustration.
Ueber einem offenen Säulenbau, zwischen dessen Bogen abwechselnd
Vorhänge und Kronlampen angebracht sind, erhebt sich das Taber-
nakel in der Form eines Giebelhauses, an welches noch ein Kuppel-
bau als Apsis sich anlehnt. In demselben erblickt man den Altar
und den Tisch mit den Schaubroden, von Cherubims bewacht, alles
reich in Goldfarben gemalt. Die Hand Gottes erscheint über dem
Giebel, segnet Moses, der an der Spitze der siebzig Aeltesten Israels
dem Tabernakel sich nähert. Den oberen Abschluss bildet ein
Säulenbau, wo ebenfalls in den einzelnen Bogen Lampen hängen.
Zusammenhängende Bilderfolgen, welche das Leben Moses
schildern, sind uns aus der byzantinischen Kunst des vorigen Jahr-
tausendes nicht bekannt. Doch kommen Einzelschilderungen der
Thaten Moses in Psaltern und Homilien sporadisch vor, die relativ
zahlreichsten in den Homilien des Gregor von Nazianz, in dem
berühmten Pariser Codex. Die Uebergabe der Gesetztafeln wird
fol. 52'' zugleich mit der Vertreibung aus dem Paradiese und der
Anweisung des ersten Elternpaares zur Arbeit durch einen Engel
dargestellt. Moses hat den Gipfel des Berges erstiegen und empfängt
aus der Hand Gottes die beiden Gesetztafeln. Am Fusse des Berges
harren seiner die Israeliten. Mehr nach rechts erblicken wir Moses
und Aaron, jeder mit einem Buche in den Händen, vor dem Taber-
nakel, welches mit vergoldeten Säulen und Bogen geschmückt ist.
726 Anton Springer, ^i
Zu beiden Seiten desselben sind vier Gruppen von je zwei >kh
umarmenden Männern aufgestellt.
Auf fol. 264^ gibt der Miniator die Sqene, wie Moses sich vor
dem Dornbusche bückt, um die Sandalen von seinen Füssen abzu-
legen und in dem brennenden Busche ein Engel ihm erscheint, so-
dann den Untergang Pharao's. Die Feuersäule zieht den Israeliteo
voran; Mirjam schlägt die Becken und stimmt den Lobgesang an,
Moses aber, jugendlich aufgefasst, mit dem Nimbus um das Haupt.
in einem langen weissen Gewände, berührt mit dem Stabe die er^teii
Reihen der Aegypter, die unten in der See schwimmen. Pferde imd
Menschen kämpfen in den Wellen, überragt von Pharao, welcher
auf seiner Quadriga gleichfalls dem Untergauge geweiht ist.
Es verdient wohl die Abschwächung der altcbristlichen Traditioo
hervorgehoben zu werden, welche sich bereits in den Homilien (le>
Gregor von Nazianz oifenbart, noch deutlicher aber in dem Programme
des Malerbuches vom Berge Athos kimdgibt. Hier ist aus Mirjao}
eine Gruppe tanzender Frauen geworden, aus dem brennenden Dorn-
büsche blickt aber nicht wie in allen alten abendländischen Dar-
stellungen die Halbiigur oder Hand Gottes, auch nicht wie in den
Homilien ein Engel, sondern die Madonna mit dem Christuskinde
heraus. Ein besserer Beweis für die späte Fixirung der Typen im
Malerbuche lässt sich kaum finden.
Für das Leben Moses dürfen nun auch wieder karolingii^cbe
Codices, welche längere Zeit stumm blieben, zur Vergleichung heran-
gezogen werden.
Dem Buche Exodus geht in der Bibel Vivian's eine blallg^rosiie
Miniatur voran, welche in zwei Abtheilungen über einander folgende
Scenen schildert. In der oberen Abtheilung steht Moses auf dem
Berge Sinai, welcher aus lauter kleinen feuerspeienden Kratern besieht.
und empfängt ein Buch aus den Händen Gottes. Moses, vollbJirüg
und barfuss, trägt über der hellblauen Tunika einen gelben Maol«!
Der jugendliche Aaron, welcher links am Fusse des Berges, hslb
von demselben verhüllt, steht, hält in der Rechten einen Stab, und
hebt die Linke staunend zum Antlitz empor. In der unteren Ab-
theilung stehen links vor dem Eingange des Tabernakels Moses uod
Aaron, der eine mit dem aufgeschlagenen Buche, der andere mit dem
Stabe in der Hand. Das Tabernakel hat die Form eines von schlanken,
ßß] Die Genbsisbilder. 727
mit Metallringen beschlagenen Säulen getragenen Giebelhauses. Das Dach
ist noit Goldblech, ähnlich wie die späteren Reliquienkasten belegt, an
einem Rundstabe hängen theilweise zurückgeschlagene bunte Vorhänge
herab. Vor dem Tabernakel haben die Israeliten sich in einer Doppel-
reihe, so dass von den hinteren nur die Köpfe sichtbar sind, aufgestellt.
Eine reichere Illustration empfangt das Leben Moses in der Bibel
von S. Paul. Auf der Rückseite des Titelblattes zum zvireiten Buche
Moses ist eine blattgrosse zusammenhängende Miniatur gemalt. Oben
links in der Ecke sitzt der Nilgott, im blaugrünen Mantel, der leichl
über eine Schulter geworfen ist, einen Widerhacken in der Hand,
die Urne zur Seite. Am Ufer des wie eine dicke Wulst gezeich-
neten weissblauen Stromes steht die ägyptische Prinzessin, in ziegel-
rothem Gewände und weissem Kopfschleier und befiehlt der Dienerin,
den auf einem braunen Brette schwimmenden Moses herauszuholen.
Weiter rechts hält die Dienerin das Kind im Arme und überreicht
es der Mutter Moses, welche mit vorgestreckten Händen aus einem
Hause tritt. In der mittleren Abtheilung, von welcher Felsen bis in
die obere hineinragen, thront Pharao unter einem von Säulen ge-
tragenen rothen Kuppeldache, vom Schwert- und Schildträger um-
geben. Er trägt einen Goldreif und über dem gelben Untergewande
einen Purpurmantel mit Goldlichtern. Vor ihm steht links ein Zau-
berer, welcher die Schlange am Schweife hält, rechts Moses, grau-
bärtig mit goldenem Stabe und Nimbus, zu seinen Füssen ein anderer,
auch durch den Nimbus ausgezeichneter Mann, welcher ebenfalls eine
Schlange am Schweife gefasst hat. In der Ecke rechts oben erblicken
wir Moses noch einmal, in grau weissem Gewände und hellrothem
Mantel und über dem Dornbusche, eigentlich einem Baume, die
Hand Gottes.
Die untere Abtheilung zeigt in der linken Hälfte das rothe Meer,
in welchem Männer, Pferde und Wagen schwimmen. Der Illustrator
hat zuerst die Menschen und Thiere, zumeist in horizontaler Lage
gemalt und darüber blauweisse Streifen, die das Wasser vorstellen
sollen, gezogen. Die rechte Hälfte wird durch die Israeliten, welche
in breiten Reihen wandern und Moses, welcher die Hand gegen das
Meer ausstreckt, gefüllt. In der hintersten Reihe tragen Männer und
Frauen Gefässe und weisse Bündel auf den Köpfen.
Eine ähnliche blattgrosse Miniatur auf Purpurgrund von Gold-
Abhandl. ü. K. 8. OeMellüch. d. Wi886Dt»eh. XXI. ^^
728 Anton Springer, [66
ranken eingefasst schmückt die Rückseite des Titelblattes zum dritten
Buche Moses. Oben auf dem Berge Sinai empfängt Moses, mit
Sandalen an den Füssen, in hellblauem Gewände und röthlichem gold-
punktirtem Mantel, mit verhüllten Händen die Gesetztafel aus der
Hand Gottes. Der Berg hat eine röthliche Farbe und rundliche Form.
Zwei Weidenbäume beleben ihn. Am Fusse des Berges steht Aaron
mit emporgehobenen Armen. Ein Purpurstreifen trennt diese Abthei-
lung von der unteren, wo Moses mit zwei Männern vor dem Ein-
gange einer offenen Giebelhalle steht. Ihm gegenüber (ähnlich wie
im Ashburnham-Pentateuch) hat sich eine Doppelreihe von Israeliten,
in buntfarbigen Hosen, weisslichen Tuniken, hellen kurzen Mänteln
au^estellt. Die bunten Farben, besonders der ziegelrothe Anstrich
des Daches üben eine grelle Wirkung.
Auf der Rückseite des folgenden Blattes wird oben von einem
Prachtzelt der Vorhang, welcher die mannichfachsten Farbenstreifen
zeigt, von vier Männern zurückgeschlagen. Wir blicken in das Innere,
wo von Cherubim bewacht unter einer Hängelampe die goldene
Bundeslade aufgerichtet ist. Darunter steht in der Mitte der grosse
siebenarmige goldene Leuchter, rechts von ihm Moses in weissem
Gewände, der aus einem Hüfthorn die Israeliten salbt, links Aaron
mit Priestern, welcher eine Opferschale in den Händen hält. Alle
tragen weisse Gewänder und violette Mäntel. Die unterste Abthei-
lung schildert endlich ein Thieropfer. Weite Vorhänge, durch eine
mittlere Säule getrennt bilden den Hintergrund. Vor derselben steht
ein Mann, um mit hochgehobenem Beile die Opferthiere (Ochs und
Schaf haben die gleiche Grösse) zu schlachten, ihm gegenüber hält
Moses eine goldene Schale bereit, das Blut in ihr aufzufangen. Rechts
und links reihen sich die Israeliten in kurzen rothen oder violetten
Tuniken an und heben preisend die Hände zum Himmel empor.
^7| Die Genesisbilder. 729
Rückblick.
Fasst man die Ergebnisse der bisher geführlen Einzelunter-
suchungen zusamnaen, so ergeben sich folgende Resultate:
Die Genesisbildcr des frühen Mittelalters gehen nicht auf einen
Archetypus zurück, an welchem sie unverbrüchlich festhalten, wel-
chen sie mehr oder weniger mechanisch wiederholen. Der Bibel-
text bestimmt allerdings die Schilderung und schreibt für die Auf-
fassung der Hauptpersonen und der wichtigsten Ereignisse einzelne
Regeln vor, von welchen kein Künstler abweicht. In der Auswahl
der Scenen aber und in der feineren Ausmalung der letzteren herrscht
grosse Freiheit, welche auch von den Künstlern oder den Personen,
welche hinter ihnen stehen und sie bei der Anordnung der Bilder
leiten, benützt wird.
Erscheint die Eintönigkeit in der Wiedergabe der Genesisereig-
nissc vollkommen ausgeschlossen, so entdeckt man doch zwischen
den Bilderkreisen der Genesis bald eine grössere, bald eine geringere
Verwandtschaft. Sie zerfallen ganz deutlich in verschiedene Gruppen,
von welchen die verwandten räumlich und zeitlich zusammenhängen.
Die erste Gruppe umfasst die an der Grenze des altchristlichen
Zeitalters stehende Wiener Genesis und den Codex Cottonianus.
Beiden sind mannigfache antike Anklänge gemeinsam. Dieselben
zeigen sich in der Zeichnung der Gewänder, insbesondere in dem
Wurf der Mäntel, dann in der Behandlung der Architektur. Die
korinthische Säulenordnung ist bekannt und wird regelmässig ange-
wendet. Die Säulen tragen keineswegs immer Bogen, sondern stützen
häufig ein gerades Gebälke. Der Stil der einzelnen Denkmäler (und
dass überhaupt noch einzelne richtig konstruirte Denkmäler vorkommen
48*
730 Anton Springer, 6^
spricht für die gut erhaltene Bautrailition) erscheinl freilich oft M'i-
wildert, lässt aber iamierhiQ die aatiken Wurzeln erkennen. EiDzeloe
Portiken und Exedren könnte man unmittelbar von spätrOmisohen
Monumenten entlehnt wähnen. Gemeinsam ist ferner dieser Gru|)|te
die Erhebung der Illustration zu einem künstlerischen Bilde. Selb>i
wenn mehrere Scenen in einem Rahmen zusammengefasst werdru.
erscheinen sie doch stets so geordnet, dass sie auf das Auge m'
einheitliche Wirkung üben, die Form eines geschlossenen GemäM^
annehmen. Das setzt nicht bloss eine reiche künstlerische Tradilioo
voraus, sondern kann überhaupt nur durch den Einfluss einer satl^o
Cultur erklUrt werden. In der That zeigen auch einzelne GenitljH.
wie das Prachtbett Abrahams, dann der Schmuck einzelner Frauen
eine stattliche nicht überladene Pracht, die Scenen, welche am Hole
Pharao's spielen, die Kenntniss der Sitten vornehmer Stünde. .Vdo
geht gewiss nicht irre, wenn man den Ursprung der Wiener Geüe>i>
in der Nühe der grosseren CulturstUtten des Alterthums, welche auili
in christlicher Zeit ihre Bedeutung bewahrt hatten, sucht.
Eigenthümlich ist der Wiener Genesis die Scheu vor der Wieder-
gabe des Gewaltsamen, Leidenschaftlichen, Heftigen. Stärkere Affekte
werden ungenügend ausgedrückt. Kampfscenen fehlen vollsläodig.
Dagegen herrscht eine entschiedene Vorliebe für das Idyllische
Kuhige Situationen gelingen am besten. Sinnliche Schilderungen Loi
und seine Töchter) werden nicht ausgeschlossen. iMit dieser NeigoDir
für das Idyllische, welche sich wieder aus einer satten, fast über-
satten Cultur, einem gewissen Quiotismus erklärt, hängt dano wieder
die Freude an der Schilderung des Hirtentebens, die BeloDUng de?
landschaftlichen Elementes zusammen. Die Begegnung Jakobs mil
Laban (s. Taf. I) trägt vollständig den Charakter eines landschafllietieD
Gemäldes. Wo es nur immer angeht, wird als Hintergrund die Laml-
schafl verwerthet. Die architektonische Staffage beschränkt sich auf
einzelne Tempel, Häuser oder auf abgekürzte Städtebilder, in der
Weise wie sie auch in der spätrömischen Kunst wiederkehren: ö/o^'^*
von Thürmen und einer Ringmauer eingeschlossene Bauten. Sie ist
durchaus maassvoll und verständlich gehalten.
Im schroffen Gegensatze zu dieser Gruppe steht die zvv*
Gruppe, welche bisher nur durch den Ashburnham-Penlateuch ver-
treten ist. Wir lernen eine andere Kulturwelt, zugleich eine andere
69] Die GuNEsisBaDER. 731
KuDslwelt kennen. An die Stelle der Bilder, der geschlossenen Ge-
mälde rückt die eigentliche Illustration. Regelmässig werden auf
jedem Blatte mehrere Scenen, ohne jede Ordnung, namentlich ohne
jede Symmetrie zusammengestellt. Der Raum wird einfach gefüllt,
die Scene, da wo sich gerade Platz für sie findet, eingeschoben.
Jeder formale Zusammenhang fehlt, der gleichartige Inhalt allein be-
stimmt die Aufnahme der Handlung auf dem Blatte. In der Wiener
Genesis waltet das ästhetische, im Ashburnham-Pentateuch das didak-
tische Princip vor, welches auch durch die zahlreichen Beischriften
bekundet wird. Dort wird das Auge erfreut, hier dasselbe unter-
richtet; dort tritt der Inhalt nicht selten gegen die Form zurück und
Scenen werden auch wenn sie ihrer Natur nach unbedeutend sind,
reicher ausgemalt, weil sie die künstlerische Phantasie anregen; hier
wird die Form dem Inhalte untergeordnet, auf die deutliche Ver-
sinnlichung des letzleren das Hauptgewicht gelegt.
Wir kommen zu dem Schlüsse, dass die beiden Handschriften
nicht bloss verschiedenen Kunstkreisen angehören, sondern dass auch
ihre Wurzeln, aus welchen sie sich entwickelt haben, weit ausein-
ander liegen. Die Bilder der Wiener Genesis unterscheiden sich
von antiken Wandgemälden eigentlich nur durch den Grund, auf
welchem sie ausgeführt wird. Wenn man sich dieselben vom Per-
gamente auf die Mauer übertragen denkt, so würden sie nichts von
ihrer Wirkung verlieren. Sie stehen den antiken Miniaturen, wie
dem Iliasfragmente in der Ambrosiana nicht bloss zeitlich nahe,
gehen jedenfalls auf einheitlich komponirte in sich abgeschlossene
Gemälde zurück. Ein solcher Ursprung ist für die Illustrationen des
Ashburnham-Pentateuch ganz undenkbar. Sie erinnern vielmehr an
die Bilderchroniken oder Bildertafeln, deren Vorkommen in der an-
tiken Welt Otto Jahn nachgewiesen hat und von welchen die be-
kannte Tabula Uiaca noch deutliche Spuren an sich trägt. Wir ver-
muthen, dass auch in der altchrisllichen Welt biblische Bilderchro-
niken oder Bildertafeln im Gebrauche waren, mit deren Hilfe die
biblischen Thatsachen dem Auge nahe gerückt wurden und welche
die Unterweisung in der Lehre wirksam unterstützten. Nur so können
wir uns die Zusammenstellung vieler Scenen in einem Räume, die
Beischriften, welche jede Scene begleiten und deuten, natürlich er-
klären. Das Band, welches die Illustrationen eines Blattes zusammen-
732 Anton Springer, [70
fasst, ist allein der Inhalt. Das gelesene oder erläuterte Kapitel der
Bibel eniting durch die Bildtafel eine woMthuende Ergänzung. Unsere
Vermuthung wird durch das Canterbury-Evangelarium in Cambridge
bestätigt, wo für die einzelnen Evangelien offenbar dasselbe Illustra-
tionsprincip waltete und jedem Evangelium eine erläuternde Bildtafel,
die Ilauptscenen desselben wiedergebend, vorangestellt wurde.
Gehen wir auf die Natur des Ashburnham-Pentateuch noch im
Einzelnen ein, so erkennen wir, dass eine äussere Kenntniss antiker
Sitten noch in mehreren Schilderungen, der Quadriga, dem Lagern
bei Tische nachhallt, vom eigentlichen antiken Leben und antiker
Kunst alle Spuren bereits verwischt sind. Auch die architektoni-
schen Hintergrunde beruhen nicht auf naturlicher Anschauung der
Monumente. Wir mUssen annehmen, dass die Handschrift weiter ab
von den antiken Gulturstätten geschrieben und mit Bildern geschmückt
wurde. Das Interesse an der Landschaft erscheint vollständig ver-
schwunden, obgleich die Wiedergabe der einzelnen Geräthe genaue
Kenntniss des Landlebens kundgibt. Der Illustrator ist dagegen in
der Welt elementarer Leidenschaften heimisch. Kampfscenen ge-
lingen ihm vortrefflich (s. Taf. II) , grob derbe Charaktere zeichnet
er anschaulich. Wir empfangen den Eindruck einer erst langsam
sich wiederaufbauenden Cultur und glauben nicht zu irren, wenn
wir annehmen, dass die Handschrift einer Provinz angehört, in wel-
cher sich germanisches Blut der antiken Menschheit stark beigemischt
hat. Ob wir diese Provinz in Oberitalien, ob im südlichen Frank-
reich zu suchen haben, darüber fehlen uns alle Anhaltspunkte. Die
offenbare Kenntniss des Ziegelbaues und der Holzschnitzerei ist doch
ein zu allgemeines Merkmal, als dass wir es zum Ausgangspunkte
topographischer Untersuchungen annehmen könnten.
Die dritte Gruppe wird durch die karolingischen Handschriften
gebildet. Sie setzt das Prinzip, welches der zweiten Gruppe zu
Grunde liegt, einfach fort, bildet dasselbe weiter aus. Auch hier
werden regelmässig auf jedem Blatte mehrere Scenen zusammen-
gestellt und durch Beischriften erläutert. Aber wie die letzteren
zuweilen schon rhythmische Form annehmen, so erscheinen auch die
Einzelbilder besser geordnet. Sie stehen in der Regel Übereinander,
zeigen annähernd die gleiche Grösse, werden durch farbige Streifen
getrennt. Ihre Voraussetzung bleiben aber immer ähnliche Hand-
'7^1 Die Gbnbsisbilder. 733
Schriften, wie das Ashburnham-Pentateuch, ohne deren Kenntniss sie
niemals die Fähigkeit, die Illustrationen auf einem Blatte besser zu
gliedern, die Kompositionen klarer zu ordnen, gewonnen hätten. Die
karolingischen Miniaturen sind nicht Werke einer primitiven Kunst-
Übung, sondern verbessern und regeln nur das Yermächtniss einer
älteren Periode. Wenn sie in dem Uebermaass des Goldauftrages
barbarischer erscheinen, als frühere Schöpfungen, so erklärt sich das
aus dem Einflüsse des kalligraphischen Elementes, welches erst in der
karolingischen Periode in der Miniaturmalerei maassgebend auftritt.
Aber auch dafür erscheint der Ashburnham-Pentateuch als eine
Uebergangsstufe. Er verschmäht die Goldfarbe nicht, darin von altr-
byzantinischen Werken abweichend, gebraucht es aber nur, der alt-
christlichen Tradition näher stehend, in massiger Weise, wie er auf
der anderen Seite doch wieder buntere Farben liebt, als seine Vor-
gänger.
Mit der karolingischen Periode ist die Entwickelung der Genesis-
bilder für lange Zeit geschlossen. Die folgenden Jahrhunderte (XI
— XIII) haben das Interesse an Bilderbibeln verloren. Andere Ge-
dankenkreise sind zur Herrschaft gelangt. Evangelistarien, die für
den Gottesdienst bestimmten Bücher, Andachtsschriften nehmen vor-
zugsweise die Kunst des Miniators in Anspruch. Erst gegen das
Ende des Mittelalters wendet sich auch das künstlerische Interesse
der ganzen Bibel wieder zu und die Erfindung des Holzschnittes
bringt wie in die Bibelillustrationen überhaupt, so auch in die Genesis-
bilder neues Leben.
Bestätigen sich die hier gemachten Beobachtungen und aus der
Vcrgleichung der Handschriften gezogenen Schlüsse als richtig, so
wäre in dem Ashburnham-Pentateuch die unmittelbare Vorstufe der
karolingischen Miniaturen entdeckt, wieder also in einem wichtigen Bil-
derkreise die stetige selbständige Entvyickelung der abendländischen
Kunst nachgewiesen. Da bereits der innere Zusammenhang der karo-
lingischen und Ottonischen Kunstperiode sichergestellt ist, so >yäre
ferner in die Entwickelungskette der frühmittelalterlichen Kunst ein
neuer fesler Ring eingeschoben, ein weiterer Baustein zur wissen-
scliafllichen Geschichte derselben gelegt.
Druck von Breitkopf ä Hart«! in Leipzig.
Taf. L
AUS DER WIENER GENESIS.
Abh. d. K'. S. Ges. d. Wiss. IS 84.
\
7-V. //.
AUS DKM ASHBURNHAM-PENTATEUCH.