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Full text of "Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse"

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ABHANDLUNGEN 


EINUNDZWANZIGSTER  BAND. 


DRUCK  VON  BBEITKOPF  &  HÄBTEL  IN  LEIPZIG. 


ABHANDLUNGEN 


DER  KÖNIGLICH  SACHSISCHEN 


GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


EINl'.NDZWANZIGSTKK  BAND. 
MIT    SIEBEN    TAKELN, 


LEIPZIG 

B  E  [      .S.      Hl  K  Z  E  L. 
l8Si. 


o. 


ABHANDLUNGEN 

DER  PHILOLOGISCH-HISTORISCHEN  CLASSE 
DER  KÖNIGLICH  SÄCHSISCHEN 

GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN, 


NEUNTER  BAND. 
MIT  'sieben    tafeln. 


BEI      S.     Hl  HZ  EL. 

1884. 


JAN  71889 


/, 


t.-/ 


(O^^t'^.'-n,  <i'Ci  ■^. 


y 


INHALT. 


O.  Ribbeck,  Kolax.  Eine  ethologische  Studie S.  \ 

W.  Röscher,  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien -  H  5 

G.  Ebers,  d^r  geschnitzte  Holzsar^  des  Hatbastru  im  äg^ptologischen 

Apparat  der  Universität  zu  Leipzig ' •.  -201 

A.  Leskien,  der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen -  263 

F.  Zarncke,  Christian  Reuter,   der  Verfasser   des  Schelmuffsky,  sein 

Leben  und  seine  Werke -  455 

A.  Springer,   die  'Genesisbilder  in  der  Kunst  des  frühen  Mittelalters 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  Ashburnham-Penlateuch .    .    .  -  663 


KOLAX 


EINE  ETHOLOGI8CHK  STUDIE 


VON 


OTTO  RIBBECK 

MITGLIED  DER  KÖNIOL.  SACHS.  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


AbhaadL  d.  K.  S.  Getiellsch.  d.  WiRseiiHch.  XXI. 


I. 

über  die  GrundbedeutuDg  des  Wortes  x6XaS  geben  uns  die 
Alten  direct  keine  brauchbare  Auskunft:  nur  als  Scherze,  theils  be- 
wusste,  theils  unbewusste,  können  Ableitungen  gelten  wie  die  von 
x6Xov,  xpocpi^*),  oder  von  xoXXäv^).  Zwar  würde  der  ersteren  von 
formaler  Seite  kein  Bedenken  enlgegenstehn.  Denn  jedenfalls  wird 
doch  unser  Wort  in  die  Reihe  jener  theils  adjectivisch,  theils  sub- 
stantivisch gebrauchten  Bildungen  gehören,  durch  welche  der  Begriff 
eines  Staminnomens  in  manchen  Fällen  gesteigert,  in  andern  gleich- 
sam verkörpert  wird :  Xi&aS  (steinig,  Edelstein)  von  Xiöo^,  x(6(ia^  (ausge- 
lassen) von  xu)|xoi;,  ßu)|xaS  =:  ßü)(ioX6)^o^  und  subst.  Nebenform  von 
ßo5(io(;,  icXoüta^  (Nabob)  von  tcXoöto^,  axöfjKf a$  (Grossmaul)  von  ot6jx- 
cpo<;,  Oüp<paS  (Kehrichthaufen)  von  oüp9o<;,  daXdE{ia5  (=  daXafitTTf]^, 
Ruderer)  von  ddXajio;,  ^opxaS  (Lastträger)  von  ^opxo;;  ferner  jjlü- 
XaS  (Mühlstein)  von  [xüXtj,  oxüiiaS  (Seiler)  von  oiütutj,  icöpita^  von 
TcopTTTj,  xaTcd^^aS  von  xairavY]  u.  s.  w.^).  So  könnte  auch  xoXa^  ent- 
weder von  x6Xo(;  (Brocken)  oder  von  xoXov  (Darm)  abgeleitet  werden 
und  für  den  xoXaS  der  Komödie  sogar  in  recht  angemessenem  Sinne. 
Entschiedenen  Einspruch  aber  erhebt  das,  soweit  uns  bekannt,  älteste 
Beispiel  des  Gebrauchs  bei  AI  km  an.  In  einem  Parthenion,  wo  zwei 
Jungfrauen   mit  einander  verglichen   werden,   heisst  es   nach  neuer- 


\)  Athenaeus  VI  p.  262  A  i{^u)p.oxoXa(  .  .  .  xoptox;  8'  b  xdXaE  dirl  tootoo  xeT- 
xat.    X0A.0V  ^ap  Y)  xpocpTj,    oDsv  xal  b  ßouxoXo^;  xal  b  öuaxoA.O(;  .  .  .  xoiXia  xe  r, 

2)  Athenaeus  VI  p.  258  B  'Av3poxuor^<;  0'  b  fatpo?  lAsye  ttjv  xoXaxsiav  l/siv 
TTjV  iTTcüvofjLtav  01710  TOü  TTpoaxoXXaoJ^at  Tai?  b[i.tXiat(;.  S[aoI  8s  6oxsI  oia  tt^v  so- 
jrepsiav,  oti  iravta  uiroöüeTat  xtX.  Über  den  Gebrauch  von  xoXXav  in  den  Schriften 
irspl  oikia<;G.  Heylbut  de  Theophrasti  libris  irspl  cpiXta^   (Bonn  1876)  S.  21   A.  I. 

3)  Bei  Lobeck  Pathol.  prol.  447  Paralip.  125 — 141.  275  ff.,  der  aber  xoXaS 
in  seine  Samrohing  nicht  mitaufgenommen  hat:  vgl.*  Pathol.  prol.  .317  f.  447 
A.    20. 

1» 


4  Ribbeck,  * 

dings  festgestellter  Lesung^):  'AYTTjot^opa  (xsv  auia'  |  a  8e  Seüxlpa 
7te8  AyiSwv  tö  ei8o(;  |  TTCTroc  etßi^voj  x6Xa$  de^  8pa|xe(Tat  xxX., 
die  zweite  wird  der  anderen  unmiltelbar  auf  der  Ferse  folgen,  wie 
das  Pferd  dem  Lakonischen  Jagdhunde,  als  xoXaS,  d.  h.  natürlich 
weder  als  Schmeichler  noch  als  Schmarotzer,  sondern  nach  einzig 
möglicher  Auffassung  als  untrennbarer,  treuer  Begleiter.  So 
werden  wir  auf  Bildungen  wie  ßoi)x6Xo(;,  deoxiXo;  (=  iepsta:  Hesy- 
chius) ,  das  elische  OeyjxoXo^^j  geführt,  womit  schon  Lobeck^)  die 
atYtxopst;  zusammengestellt  hat.  Dass  dem  Stamme  xoX*)  der  Begrit!* 
der  Bewegung  eigen  ist,  bezeugen  die  Glossen  xoXeiv  eXdeiv; 
xoXsa  •  icoid  Ti^  opy^r^(3l(^ ;  xoXtdoat  •  ipyjioaobai ;  xoXaßptCeiv  •  axtpxäv ; 
xoX£Tp(3ai  •  xaxaTcaToijatv ;  xoXü<pp6v  •  dXacppov  ;  xoX6xü|jLa  *  tö  xoXoßiv  xujxa 

il  xh  xüXiov  xai  lirt^spov  (schol.  Aristoph.  eq.  692)  u.  s.  w.    Auch 

der  Vogel  xoXoio«;  mag  von  seiner  Beweglichkeit  den  Namen  tragen, 
und  xoXü)6i;  =  öopüßo^,  dxa^ia^  '^^9^X'^  zunächst  das  wirre  Durch- 
einander von  Menschen  und  Stimmen  bedeuten.  So  wird  eSxoXo;  und 
oüaxoXo;  ursprünglich  den  leichtbeweglichen  und  den  schwerfälligen 
ausgedrückt  haben.  Wenn  abei-  ßoüx6Xo;  der  begleitende  Hüter  seiner 
Rinder,  der  öeoxoXo;  der  dienende  Geföhrte  und  Pfleger  des  Gottes  ist 
{dei  cullor^  deicola)^  so  muss  xoXa$  den  Begleiter  [adsecula]  in  emi- 
nentem   Sinne    bedeuten.      Diese   Auffassung   wird    vollkommen    be- 


\)   Fr.  83  V.  59    (poel.  lyr.  Gr.  reo.  Bergk^  vol.  III  p.  44).    Im  Papyrus  steht 
von  erster  Hand  nach  letzter  Lesung  vonBlass:   ITTTTOCCIBHNUUlKOAAZAi- 

€CAPAM6ITAI.  »Das  I  nach  SA  ist  durch  einen  dicken  Quersirich  getilgt; 
ob  dann  weiter  C  oder  O  folgt,  ist  nicht  zu  erkennen.«  Blass  schlug  vor  (vgl. 
Hermes  XIII  28)  :  xoXaS  as?  oder  x.  oto?.  Ich  ziehe  das  erstere  vor.  Bergk 
schreibt  in  der  letzten  Ausgabe  xoXa^aTo;  und  versteht  ein  Pferd  des  Skythen- 
königs Kolaxais  (Herodot  lY  5.  7) ,  welches  berühmt  gewesen  sei  durch  seine 
Schnelligkeit.  Aber  weder  hiervon  noch  überhaupt  von  dem  Marstall  jenes  Königs 
ist  etwas  bezeugt.  Der  £inwand  »poterat  canis  equi  minister,  non  equus  canis 
comes  dici«  ist  hinfällig,  wenn  man  sich  veranschaulicht,  wie  der  spürende  Jagd- 
hund dem  Pferd  voranlUuft. 

2)  Pausanias  V  15,  10  Lucian  Alex.  41.  Inscr.  Graecae  antiquiss.  n.  4  09  Z.  6: 
opTip  Toxa  i>soxoX[ioi.  Pausanias  Y  15,  7:  Ion  6s  Trpo  tou  xaXoufjivou  der^xoXscovoc 
oixTj|ia. 

3)  Phryn.  p.  652. 

4)  Curtius  Etym.  470  nimmt  eine  alte  Wurzel  xav  an  (sich  regen,  gehen,  ver- 
kehren), von  der  sowohl  xoX  (in  ßouxoXo?  u.  s.  w.  und  colere)  als  iroX  (in  a{- 
ircXo;  Oer^TToXelv  u.  s.  w.)  abstammen. 


KOLAX.  5 

stätigt,  wenn  wir  in  dem  Bruchstück  aus  einer  Elegie^)  des  Asios 
von  Samos,  eines  gleichfalls  sehr  alten^)  Dichters,  folgende  Schil* 
derung  eines  ungeladenen  Gastes  lesen,  der  zu  einer  Hochzeit 
kommt : 

/(üXic,  oTtYp-attY];,  TToXüYi^paoc;,  Tao^  ^^'Tl 
-^XOev  xviooxoXaS,  euie  MsXtj^  s-y^fisi, 
'    axXvjToi;,    Cw>(jloG^)   xe5^pTf][JLSvo(;,    ev  os  (xeootoiv 
vjpio^  etarf^xet  ßop|36poü  e$ava8ü(;. 

Die  satirischen  Verse  sind  von  Welcker*)  schön  erklärt  worden. 
Der  Dichter  spottet  der  allen  Zunft  der  Rhapsoden,  der  Tafel- 
sänger, als  deren  Heros  Eponymos  die  derb  populäre  Legende  den 
KpccocpiXo;  (Bralcnfreund) ,  später  in  Kpe(6cpuXo<;  umgebildet,  feierte. 
Ein  Genosse  derselben,  der  dem  Bratenduft  nachgehende,  erscheint 
nun  bei  der  Hochzeit  des  Smyrnäischen  Flussgottes,  aus  dessen  Ehe 
mit  der  Nymphe  der  göttliche  Homeros  entspriessen  sollte.  In  ver- 
ächtlicher Bettlergestalt,  hinkend,  gebrandmarkt  wie  ein  Sciave,  und 
hochbetagt  lässt  der  spöttische  Dichter  den  ungeladenen  Gast  unter 
die  erlauchte  Versammlung  treten,  ein  Vorbild  in  manchen  Zügen 
des  hungrigen,  demütigen  Schmarotzers  späterer  Zeit. 

Grade  im  Osten,  auf  den  Inseln  und  dem  kleinasiatischen  Fest- 
lande,  scheint  der  Ausdruck  x6Xa^  zunächst  heimisch  gewesen  und 
als  Titel  für  eine  besondere  Classe  von  Hofbeamten,  die  zum 
Gefolge  des  Fürsten  gehörten,  verwendet  zu  sein.  Über  diesen 
Stand  hat  Klearchos  von  Soloi,  der  Schüler  d  >s  Aristoteles, 
der  in  seiner  Schrift  Gergithios  Geschichte  und  Spielarten  der 
x^Xaxec  darstellte,  wichtige  Mittheilungen  gemacht,  die  wir  in  dem 
grossen  Bruchstück  bei  Athenaeus^)  lesen.  Namentlich  gab  es  auf 
Kypros  ein  Geschlecht  altadliger  xoXaxsc,  die  im  vertrautesten 
Dienst  des  jedesmaligen  Herrschers   geradezu   eine   erbliche  Stellung 


1}   Bei  Athenaeus  UI  p.  125  0. 

2}   Jünger  immerhin  iilsKulÜnos  undArclniocbos,  die  ültestcn  elegischen  Dichler: 
Markscheflfel  ilesiodi   .  .  .   fragmenta  p.  <260. 

3)  ^oi[j.oi)  ? 

4)  Epischer  Cyclus  P  135  f.:    vgl.   Griech.   Gölterlehre  III  47. 

5)  VI  67  p.  255  C:    KXiapj^o?  o'  o  iloXsü?  äv   T(p   e7ciYpacpo[xiv(|>  rspYii)tt|> 
xai  TToDsv  7)  OLp'/Ji  *^^  ovofAaxo;  taiv  xoXofxcov  TcaprjX&e  8irjsTTai  xtX. 


6  Ribbeck, 

einnahmen^),  so  geheim,  dass  mao  weder  ihre  Zahl  noch  ausser 
von  den  hervorragendsten  ihre  Gesichter  kannte.  Ihr  Stammsitz  war 
Salamis.  Dort  theiiten  sie  sich  in  zwei  auch  verwandtschafllich  ge- 
trennte Gruppen,  jede  mit  besonderer  Function:  man  könnte  nach 
orientalischem  Sprachgebrauch  sagen,  die  einen  dienten  als  Augen 
(6'{^daX|io() ,  die  anderen  als  Ohren  (toxa)  des  Königs^).  Diese  (ysp- 
^tvot  genannt^)  mischen  sich  als  Spione  unter  die  Bürger  in  den 
Werkstätten  und  auf  den  Märkten,  erlauschen  deren  Reden,  und 
hinterbringen  was  sie  gehört  haben  jeden  Tag  den  sogenannten 
avaxxec,  den  königlichen  Prinzen^).  Die  anderen  {Tzpo\Laka^iz^)  unter- 
suchten dann  weiter  was  genauerer  Nachforschung  werth  schien. 
Als  eine  Art  Kammerherren  fungirten  die  drei  xoXaxe;,  welche 
nach  Klearchs  Bericht  jener  junge  König  auf  Kypros,  ein  Paphier  von 
Herkunft,  um  sich  hatte.  Einer  sass  am  Fussende  des  silbernen 
Bettes  und  hielt  die  Füsse  des  Jünglings  in  dünne  Schleier  gewickelt 
auf  seinen  Knieen;  der  andere  sass  auf  einem  Sessel  daneben,  hielt 
die  herabhängende  Hand  desselben,  kühlte  sie,  zog  und  streckte 
jeden  Finger;  der  dritte  und  vornehmste  stand  zu  Häupten,  auf  die 
Kissen  niedergebeugt,  und  ordnete  mit  der  linken  die  Frisur  des 
hohen  Herrn,  während  er  mit  einem  Fächer  in  der  rechten  ihm  Luft 
zuwehte.  Da  kam  eine  Fliege  und  biss  den  König:  der  xoXa;,  der 
nicht  wagte  sie  mit  dem  Fächer  zu  verscheuchen,  schrie  laut  auf 
und  verjagte  dadurch  nicht  nur  die  eine,  sondern  alle  übrigen  Fliegen, 
die  im  Gemach  waren ^}.  Einer  der  xoXaxe^  hat  die  Pflicht,  dem 
König  auf  der  Strasse  zu  folgen,  und  es  ist  wunderlich  anzusehen 
wie  er  Haltung  und  Geberde  desselben,  auch  den  Wurf  des  Gewan- 
des  nachahmt^).     Auch   xoXaxtoe^  hat   es    vor  Zeiten   auf  Kypros 


i)  Athenaeus  a.  0.  p.  255  F:  TrapaosSs-'F"^^^^  ^'  *^^'^  iravTs;  oi  xara  ttv 
KüTTpov  jiovap/oi  To  Tttiv  Sü^evcov  xoAaxcov  ^svo?  ci>;  yprjaijiov.  ^avu  j^p  to  xTTj^a 
Tupavvixov  eoTi. 

2)   Vgl.  Xenophon  Kyrop.   VIII  2,    10  f. 

3]  Vgl.  Hesychius:  -^zp-ftvo!;'  oia^oXo;.  Cber  die  Stadt  FipYtva.  FspY'-c, 
Fsp^iba  in   der  Troas :     Athenaeus  VI  68  p.  i56B  Sirabo  XIII  p.  589   Siephaniis 

Bvz.   s.   V. 

« 

4)   Vgl.  Aristoteles  Kuirpicov  iroXiTSta    fr.    141    Rose)    bei  Harpokration  s.  v. 


avaxxe?. 


5;    Klearch  bei  Athenaeus  VI  p.  255  E.   256  F. 
6)   Ebenda  p.  258  A. 


KOLAX.  7 

gegeben,  die  den  Prinzessinnen  (avaaaai)  so  zu  sagen  als  Hofdamen 
untergeben  waren*).  Von  da  auf  das  Festland  verpflanzt  an.  die 
Höfe  des  Artabazos  und  seines  Schwagers  Mentor^) ,  sowie  nach 
Syrien,  dienten  sie  den  Frauen  der  Fürsten  mit  ihren  Rücken  als 
Stufen  einer  Leiter,  um  den  Wagen  zu  besteigen,  daher  xXijiaxi- 
06<;  genannt^).  Zu  noch  schmählicheren  Dingen  wurden  jene  xoXa- 
xiSsc  von  den  Fürstinnen  in  Makedonien  verwendet^).  Von  Kypros 
ist  nach  Klearchs  Ansicht  der  Samen  der  x6Xax£(;  weiter  in  die  Welt 
verbreitet*),  nur  dass  sie  hier  und  da  mit  synonymen  Wörtern  be- 
nannt werden:  cpCXoi,  exaipot,  oüvil]dei(;,  oü(xß{u)Toi,  lauter 
Namen,  welche  die  oben  aufgestellte  Grundbedeutung  bestätigen. 
Bis  in  die  homerische  Zeit  verfolgte  Demetrios  von  Skepsis  (im 
Tpcoixoc  8tdxoo[io(; ?)  die  Spuren  dieses  Verhältnisses:  so  erkennt  er 
in  dem  Troer  Podes,  der  (P  575)  als  cptXoc  eiXaTcivaon^i;  und  stai- 
pot;  des  Hektor  gerühmt  wird,  den  xoXaS,  und  findet  es  entsprechend, 
dass  jener  von  Menelaos  grade  am  Bauch  verwundet  wird^).  Wie 
bei  den  Parthern  die  Stellung  eines  solchen  Gesellschafters  um  die 
Mitte  des  zweiten  Jahrh.  v.  Chr.  aufgefasst  wurde,  erzählte  Posei- 
don ios  von  Apamea  im  5.  Buch  seiner  biop(ai.  Der  sogenannte 
cpiXoc  habe  keinen  Platz  am  königlichen  Tische,  sondern  sitze  auf 
der  Erde  zu  Füssen  des  Königs,  der  auf  hohem  Polster  liege.  Er 
esse  wie  ein  Hund  was  ihm  vom  Herrn  zugeworfen  werde.  Oft 
werde  er  aus  irgend  einer  zufälligen  Ursache  vom  Mahl  weggerissen 
und  gepeitscht:  blutrünstig  falle  er  dann  vor  seinem  Züchtiger  auf 
den  Boden   und  beweise   ihm    seine  Verehrung').     Derselbe  Schrift- 


i)  Alhenaeus  VI  p.  256  C. 

2)   Ebenda  69  p.  256  G. 

3j  Plutarch  über  den  Unterschied  zwischen  Schmeichler  und  Freund  p.  50  c 
(H6  H.),  Yalerius  Maximus  IX  \,  1,  offenbar  nach  Klearchos.  Ihre  Golleginnen 
auf  Samos,  welche  gleichfalls  ihren  vornehmen  Herrinnen  beim  Besteigen  des 
Wagens  nur  in  weniger  sclavischer  Weise  behülflich  zu  sein  hatten,  hiessen  iiro)- 

oocpov  (Hesycbius) .     Die  Worte  sind  schon  von  Casaubonus  richtig  erklärt,  weniger 
von  Meineke  bei  M.  Schmidt. 

4]  Atbenaeus  VI  p.  256  E. 

5]  Ebenda  p.  256  B. 

6]   Ebenda  p.   236  D;  s.   Gaede:   Demetrii  Scepsii  quae  supersunt  fr.  74. 

7)   Athenaeus  IV  p.  4  52  F   (fr.  bist.  Gr.  III  p.  254  fr.  8  M.). 


8  RlBDECK, 

Steller  bezeichnet  als  Parasiten  der  Kelten  ihre  Barden,  welche  als  au|A- 
ßiü>Tai  das  Heer  im  Kriege  begleiteten  und  selbstgedichtete  Lobgesänge 
vor  ganzen  Versammlungen  wie  vor  Einzelnen  mit  Gesang  vortrugen^). 
Aus  diesen  Andeutungen  ergiebt  und  erklärt  sich,  wie  von  Alters 
her  und  im  eigentlichen  Sinne  dieser  Stand  als  ein  offiziell  anerkannter 
vorzugsweise  an  Furstenhöfen  seinen  Platz  hatte  in  mannigfachen 
Functionen  von  Kammerdienern,  Spionen,  Vertrauten,  Gesellschaftern: 
daher  auch  im  bürgerlichen  Leben  regelmässig  der  x6Xa8  seinem 
Gönner  die  Namen  ßaotXeü^,  rex  beilegt  und  in  höfischer  Unter- 
würfigkeit vor  ihm  kriecht.  Auch  Spassmacher,  fahrende  Sänger  und 
Dichter,  Künstler,  Philosophen,  Gelehrte  aller  Art,  sowie  Beamte  und 
Feldherrn,  sofern  sie  zum  Gefolge  eines  Königs  gehören,  fallen  unter 
den  Begrifi*  der  x6Xa/e;,  wie  denn  z.  B.  bei  Lucian^)  Aristoteles  als 
der  geriebenste  dieser  Classe  bezeichnet  wird. 

II. 

Lange  Zeil  ist  der  Ausdruck  x6XaS  mit  seinen  Ableitungen  der 
Litteratursprache  fast  fremd  geblieben:  Homer,  Hesiod,  Theognis, 
Pindar,  Aeschylus,  Sophokles,  Herodot,  Thukydides,  Lysias  gebrauchen 
ihn  nicht.  Archilochos  umschreibt  entrüstet  das  Gebahren  eines 
Schmarotzers  (Perikles)  in  leider  lückenhaft  und  unsicher  überliefer- 
ten Versen,  ohne  dass  wir  erfahren,  mit  welchem  Namen  er  Leute 
solches  Gelichters  bezeichnet  hat :  .  .  .  icoXXov  8s  Tctvcov  xal  jjaXfxpYjtov 

[jLS&ü  I  OUTE  tiixov  efoeve^xcov |  olBs  |x-J)v  xXyjösU  ioi^Xöec  oTa  8t^  \ 

cp(Xci>v  cp(Xo^'  I  aXXd  o  if]  i[a(ydip  v6ov  xe  xal  cppsva^  icapi^if^if^^  |  et<; 
dvai8s(Y]v  STcetoirsicatxa^  Muxovtiov  Bixtjv^).  Dass  die  bettelhaften  In- 
sassen der  kärglichen  Kykladeninsel  Mykonos  für  die  Bewohner 
des  ägäischen  Meeres  früh  den  Typus  eines  Tellerleckers  hergaben*), 
darf  man  aus  dem  Bruchstück  mit  Sicherheit  schliessen :    auch  Kra- 


1)  Poseidonios  im  23.  Buch  seiner  ioToptai  bei  Athenneus  VI  p.  246  D  (fr. 
bist.  Gr.  III  p.  259  fr.  23  M.).  Vgl.  IV  37.  Joubainville  introd.  k  Tetude  de  la 
litlerature  Celtique  p.  52  f. 

2)  Todtengespräche  13,  5:  airavToiv  ixsTvo;  xoAaxwv  dTrtTptirroTaTo?  äv.  Vgl. 
IT.  icapao^Tou  36. 

3]  So  habe  ich  grossentheiis  mit  Hülfe  von  Meineke  Athen,  vol.  IV  p.  5  und 
Bergk  zu  Archil.  fr.  78,  die  Worte  aus  dem  Excerpt  bei  Athenaeus  l  c.  \i  her- 
zustellen versucht. 

4]   Zenobius  V  24   mit  der  Anm.  der  Herausgeber. 


KOLAX.  9 

tinos  macht  schon  Gebrauch  von  dem  sprüchwörtlichen  Begriff  des 
Mykoniers  als  eines  armen  Schluckers*).  In  Athen  scheint  der 
Name  x6XaE  nicht  lange  vor  der  Zeil  des  Aristophanes  eingeführt 
zu  sein,  und  von  Anfang  an  hatte  er  eine  gemeine  Färbung,  so  dass 
er  vom  höheren  Stil  in  Poesie  und  Prosa  so  gut  wie  ausgeschlossen 
war.  Nun  aber  gab  das  aufblühende  Leben  in  der  führenden  Bun- 
desstadt, der  gesteigerte  Fremdenverkehr,  die  Ansiedelung  begüterter 
und  geistig  angeregter  Männer,  das  Auftreten  der  Sophisten,  dazu 
der  wachsende  Wohlstand  und  das  intensivere  Behagen  an  Unter- 
haltung und  Genuss  der  Geselligkeit  einen  gewaltigen  Impuls.  Mit 
glänzendem  Beispiel  ging  Kimon  voraus,  der  TroXü^evcüTaioi;  2),  dessen 
Haus  ein  gemeinsames  icpuTaveibv  für  seine  Mitbürger  war^),  indem 
er  täglich  offene  Tafel  für  seine  Demosgenossen  hielt^). 

Auf  persönliche  Anregung  des  Perikles  geschah  es,  dass  der 
Syrakusaner  Kephalos  seinen  Wohnsitz  nach  Athen  verlegte,  wo  sein 
Haus  der  Mittelpunkt  einer  geistigen  Elite  wurde.  Bis  zum  Über- 
maass  aber  trieb  diese  Gastlichkeit  der  reiche  Kallias,  der  seines 
sparsamen  Vaters  Erbschaft  im  Jahr  427  antrat.  Während  die  Ein- 
leitung des  Platonischen  Protagoras,  dessen  Scenerie  in  der  ersten 
Jugendzeit  des  Alkibiades,  etwa  ein  Jahr  vor  Ausbruch  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  gedacht  ist,  mit  leiser  Ironie  schildert,  wie 
sich  der  Schwärm  der  Sophisten  mit  dem  Gefolge  andächtiger  Nach- 
treter  bei  ihm  wie  in  einer  Herberge  häuslich  eingerichtet  hat, 
geisselt  Eupolis  in  seinen  R6Xaxe^  die  Verschwendung  des  Haus- 
herrn und  die  niedrige  Gesinnung  seiner  schmarotzenden  Gäste. 
Darin  war  die  durchschlagende  Wirkung  dieser  Ol.  89,3  =  422  auf- 
geführten Komödie  begründet,  dass  den  Athenern  hier  zum  ersten- 
mal in  scharfer  und  drastischer  Ausprägung  ein  Typus  vorgeführt 
wurde,  der  von  aussen  imporlirt  eben  im  besten  Zuge  war  epide- 
misch zu  werden. 

In  Athen  nämlich  und  seiner  Komödie  begegnet   uns   der  Aus- 


4)   ine.  fab.  388  K. 

%)  Kratinos  io  den  ^Apyikoyoi  fr.  i  K.  Theophrast  in  seiner  Schrift  über  den 
Reichthum  haUe  die  Gastfreundschaft  des  Kimon  als  Muster  hervorgehoben :  Cicero 
de  ofif.  II  \S,   64. 

3)  Plutarch  Kimon  10. 

4)  Aristoteles  bei  Plularch  Kim.  \0  (Val.  Rose  Aristoteles  Pseudepigr.  fr.  356). 


1 0  Ribbeck, 

druck  xoXa^  erst  in  den  unmittelbar  vorausgehenden  Jahren*).  In  den 
Acharnern^)  des  Aristophanes  fehlt  er  noch;  einmal  in  den  Rittern 
heisst  es  von  Kleon;  xöv  oeotottjv  |  igxaXX' ,  eöwiceü' ,  exoXdxeu', 
eSTjudia  (V.  48).  Dem  Demos  gegenüber  wird  ihm  eine  ähnliche 
Stellung  zugeschrieben  wie  jenen  kyprischen  und  asiatischen  Hof- 
schranzen, an  deren  Functionen  es  auch  erinnert,  wenn  V.  60  von 
ihm  berichtet  vvird^),  wenn  der  Herr  speise,  stehe  er  bei  ihm  und 
verscheuche  mit  seiner  Gerbehaut  die  Redner,  wie  jene  mit  dem 
Wedel  die  Fliegen,  was  denn  auch  in  den  Wespen*)  geradezu  ge- 
sagt ist.  Übrigens  geben  er  wie  sein  Nebenbuhler,  der  Wursthänd- 
ler, sich  für  Liebhaber  (epaoTVj^  1341)  des  Demos  aus,  und  die  Züge 
des  dXaCcüv  überwiegen  in  ihrer  Charakteristik^).  Es  war  ein  beissen- 
der  Vergleich,  wer  ihn  auch  zuerst  angewandt  haben  mag,  wenn  der 
leitende  attische  Staatsmann  durch  die  Bezeichnung  xoXa^  zum  Kammer- 
herrn eines  Tyrannen  Demos '^),  und  seine  Nachtreter  hinwiederum  zu 


4)  Wenn  der  Scholiast  zu  den  Wolken  687  und  den  Wespen  74  angiebt, 
Kratinos  habe  in  den  Seriphiern  [fr.  212  K.j  den  Amynias  als  aXaCova 
xal  xoAaxa  xat  auxocpavrrjV  dargestellt,  so  ist  damit  der  Ausdruck  xoXa^  noch  nicht 
verbürgt.  Wer  den  Hierokleides  (oder  Hierokles) ,  welchen  Hermippos  in  den  Kep- 
xcDTCsc  fr.  38  K.  und  Phrynichos  in  den  Ka)|iaoTai  fr.  M  K.  hzi  irovTjpfcf  ver- 
spottet haben  sollen,  KoA.axocp(opoxX8t6r|^  genannt  habe,  sagt  uns  Hesychius 
nicht :   gewiss  weder  Phrynichos  noch  Hermippos,  eher  Aristophanes  oder  Eupolis. 

2)  V.  634  ff.,  wo  von  den  Schmeicheleien  die  Rede  ist,  womit  fremde  Ge- 
sandte die  Athener  berücken,   werden  die  Verba  l^airaTav  und  Ütüireüstv  gebraucht. 

3)  ßüpofvr^v  sx^v  I  0£i7n^ouvTo;  iatoK  aTroaoßei  toü?  [^r^Topa?.  Vgl.  schol.: 
eBsi  Y«p  efirsTv  fiopoCvr^v  .  .  .  xatt;  -yap  fxopotvai?  aTToooßoooi  xa?  [xuia^ '  b  8s  tou? 
pKjTopa?  stTre. 

4)  V.  596  :  cpoXarcsi  8ia  j^etpo?  ßX^^  ^^^^  '^^^  [loia;  aicafiovei.  Zu  der- 
gleichen Dienstleistungen  des  xoXaS  wird  auch  gehören,  wozu  sich  Kleon  weiter- 
hin in  den  Rittern  910  erbietet:    aTTOfJLO^afxsvo;^  w  Af^}ji^  [xou  irpo?  tTjV  xscpaXYjv 

aTTO^O). 

5)  Alazon  S.  6. 

6)  Aristoteles  in  der  Politilc  p.  1292  fasst  dieses  Verhältniss  mit  voller  Schärfe 
auf:  iv  fxsv  '^ap  xal*;  xaxa  v6[jlov  Sr^fioxpaToufiivai^  (iroXeotv)  ou  "^IveTai  Sr^fia- 
•ycüYo?,  akV  ol  ßiXTiaTot  twv  ttoXitcüv  eiotv  Iv  TTpoeoptcf  ottou  8*  oi  vojxoi  |ir^ 
eioi  xüptoi,  dvTaüi>a  '^i'^oy'zai  or^\ia^w^ol.  [xovapxog  -^ap  b  8Yi|jL0^ 
yivexa  i  . .  .  b  8'  ouv  toioüto?  of^fio?,  Sts  jiovapxo?  äv,  C^ixel  [lovap/eiv  8ia  to  fxiQ 
apxeoDai  utto  vofxoo,  xatYivsTat  8207:0x1x0?,  Äaxs  ol  xdXaxs(;  8vxi|j.of 
xat  saxiv  b  xotoSxo;  oyj|io?  avaXoYov  xwv  [lovapxiwv  xf^  xüpavv(8i.    8tb  xal  xb  r^Oo? 

xb  auxo xal  b  or^fxaYtoYo?  xalbxoXaE  ol  aoxol  xal  avaXoYov 

xal  jAaXioxa  8'  sxotxepoi  irap'  exaxipoi?  Joxoooaiv,  01  [jlsv  xoXaxec  irapa  xo- 


KOLAX.  1  1 

Kammerdienern  gleichsam  in  zweiter  Potenz  gemacht  wurden').  Zu  den 
letzteren  gehörte  jener  Theoros,  der  schon  in  den  Acharnern  (134 ff.) 
als  Gesandter  des  Staates  auftritt,  von  Dikaiopolis  als  o^XaCci^v^)  und 
Diätenschlucker  beargwöhnt,  schärfer  und  bittrer  aber  in  den  Wespen 
zur  Zielscheibe  des  Spottes  gemacht  wird:  &  uoXk;  xai  Hscöpou 
deoios^^pta  I  xst  tk;  ak\o<;  TcposoxTjxev  Tf](jLc3v  xoXa^,  ruft  der  Chor 
V.  418  in  seiner  Bedrängniss  aus.  Er  putzt  uns  (den  Heliasten, 
d.  h.  dem  Demos)  die  Schuhe,  rühmt  Philokleon^).  Das  Skolion, 
mit  welchem  ihn  dieser  bedenkt  (1241),  lässt  vermuthen,  dass  er 
ein  Apostat  der  conservativen  Partei  war,  daher  ihn  auch  Sokrates 
in  den  Wolken  (400)  unter  die  meineidigen  (sitfopxoi)  zahlt.  So 
lagert  er  nun  unter  den  Zechgenossen  (aufiicoiat)  des  Kleon  (1220); 
Sosias  aber  sieht  ihn  nahe  bei  dem  Wallfisch,  von  dem  er  träumt, 
sitzen  und  zwar  auf  dem  Boden  [x'^i'-al  43),  wie  sich's  für  den  xoXaS 
gebührt,  und  Alkibiades  giebt  ihm  seinen  richtigen  Namen:  HsüdXo;, 
T>]v  xscpaXijv  x6Xaxo(;  s^**^^  (^^)- 

Von  den  Demagogen  und  Volksrednern  wird  der  spöttische  Titel 
zunächst  auf  die  Lehrer  der  Beredsamkeit,  also  der  xoXaxeia,  und 
überhaupt  auf  die  Sophisten  übergegangen  sein.  Ein  Chor  solcher 
Denker  (cppoviiaxai)  trat  im  Konnos  des  Ameipsias  auf  (Ol.  89,  1, 
zugleich  mit  den  Wolken).  Wenn  von  Sokrates,  als  er  sich  diesem 
Chor  nähert^  gerühmt  wird;  outo^  jisviot  Ttetvaiv  oöico^  oüirc&TuoT  etXY] 
xoXaxsuaai,  so  ist  damit  gemeint,  dass  er  den  einträglichen  Betrieb 
jener  höfischen  Kunst,  der  Rhetorik,  verschmäht,  zugleich  aber  wohl 
auch,  dass  er  nicht  wie  andere  Gelehrte,  Künstler  u.  s.  w.  sich  dem 
Gefolge  eines  hohen  Gönners  angeschlossen  und  bei  ihm  Versorgung 
gesucht  hat.  Wahrscheinlich  hat  er  selbst  das  Treiben  und  ganze 
Gebahren   wie   alle  Leistungen   eines  Gorgias   und   Protagoras   durch 


pavvot?,  Ol  5s  Sr^fiaYcoYot  irapa  xou  or^jAOi?  toIi;  toioütoi?.  Vgl.  p.  <3<4a.  Ent- 
sprechend werden  in  Platon's  erstem  Alkibiades  p.  120  b  Staatsmänner  geschildert, 
die  STi  ßapßapiCovTsc  iXrjXüUaat  xoXaxeuaovTs«;  tt^v  ttoAiv,  aAA'  oux  äp- 
Eovte?. 

\)  Aristophanes  Wespen  683  :  oii  yap  [is^aXT^  SouXeta 'oTiv  toutoü?  \ikv  Sirav- 
la^  Iv  apj^al?  |    auToo?  t'  elvai  xat  too?  xoXaxa^  toü;  toutcdv  [iiaöocpo- 
pouvTa«;;  4  033:  ^xaxov  84  xuxX(p  '^XwT'zai  xoXoExcov  o^^jLcoSojxivcov  dXijf  [jlu>vto 
Tcepl  tr^v  xscpaXTjv   (des  Kleon). 

%)  Alazon  S.  7. 

3)   V.  600  :    Tov  oiroY^ov  ej^tov  ix  ttj?  Xexavr^?  TajjLßaSt'  r^iiwi^  irepixcoveT. 


1  i  Ribbeck, 

die  noch  frische  Metapher,  xoXaxeta,  charakterisirt,  wie  er  es  nach- 
her in  den  Platonischen  Dialogen  thut,  zunächst  im  Gorgias 
p.  463  ff.,  wo  die  Rhetorik  und  Sophislik  als  Theile  unter  den  wei- 
teren Begriff  der  xoXaxefa  gestellt  werden.  Mit  grösserer  Erregung 
aber  und  allgemeiner  spricht  derselbe  im  Phaidros  p.  240  b  von 
dem  x6Xa$  als  einer  schlimmen  Bestie  und  grossen  Plage,  der  frei- 
lich dennoch  die  Natur  einen  gewissen  Reiz  verliehen  habe^).  Wen 
Dittenbergers  lexicalische  Darlegungen  2)  überzeugt  haben,  dass  dieser 
Dialog  bald  nach  Piatons  erstem  Sicilischen  Aufenthalt  (Ol.  98,2  = 
387)  geschrieben  ist,  der  wird  vermuthen,  dass  gerade  die  bilteren 

« 

Erfahrungen,  welche  der  Verfasser  so  eben  am  Hof  des  Dionysios 
gemacht  hatte,  und  die  unmittelbare  Anschauung  der  berüchtigten 
AtovoaoxoXaxec  ihm  jene  Worte  eingegeben  haben,  die  Athenaeus 
oder  dessen  Quelle  für  bezeichnend  genug  hielt,  um  sie  besonders 
anzuführen. 

Aber  9  — 10  Olympiaden  früher,  wie  gesagt,  hatte  bereits  Eu- 
polis  einen  ganzen  Chor  solcher  dsiva  dr^p(a  in  seiner  Komödie  auf- 
treten lassen,  indem  er  nicht  nur  den  Sophistenschwarm ,  der  bei 
Kallias  einzukehren  pflegte,  nebst  dem  zahlreichen  Anhang  andächtig 
nachtrelender  Hörer,  sondern  auch  das  übrige  profane  Gesindel, 
welches  die  Gastlichkeit  des  verschwenderischen  Hausherrn  mis- 
brauchte,  unter  dem  Namen  von  Hofschranzen  zusammenfasste  und 
mit  gemeinsamen  Zügen  ausstattete.  Nun  aber  drängt  sich  die  Frage 
auf,  in  welcher  Maske  dieser  Chor  möge  aufgetreten  sein,  da  der 
Chor  der  allattischen  Komödie  doch  eine  burleske,  phantastische  Er- 
scheinung voraussetzen  Idsst.  Auf  dergleichen  scheint  auch  Lukian 
anzuspielen,  wenn  er  im  Nigrinos  24,  64  f.,  nachdem  er  das  würdelose 
Betragen  der  Schmarotzer  geschildert  hat,  hinzufügt:  »)das  schlimmste 
ist,  dass  viele  von  solchen,  die  sich  für  Philosophen  ausgeben, 
sich  noch  viel  lacherlicher  betragen.  Wie  glaubst  du,  dass  mir  zu 
Muthe  ist,  wenn  ich  einen  von  diesen,  besonders  von  den  bejahr- 
teren sehe,  wie  er  sich  unter  den  Haufen  der  xöXaxec  mischt  und 
sich   einem   der  Angesehenen  als   Trabant  anschliesst  (Bopucpopoövia) 


\]  eoTi  jjiv  ÖTj  xal  aUa  xaxa,  aUa  ti;  sjiiEs  oatjiwv  xolt;  uXetoroi?  iv  T<p 
irapau-txa  7)oovv  •  oiov  xoAaxt,  osivtj)  J>r^picp  xal  pXaßTQ  j^lfaXiQ,  oficoc  eirejAigev 
T|  cpooi?  fjOovTjV  Ttva  oüx  afJLOuaov. 

t)   Hermes  XVI  32«  ff. 


KOLAX.  1  3 

und  sich  mit  Leuten  unterhält,  die  zu  Tisch  bitten,  da  er  ja  schon 
durch  seine  Erscheinung  mehr  als  die  anderen  auffällt.  Am  meisten 
ärgere  ich  mich,  dass  sie  nicht  auch  die  Maske  der  x6Xaxec  anlegen*), 
da  sie  ja  doch  in  allem  übrigen  dieselbe  Rolle  spielen  wie  im  Drama 
(xd  oXXa  Y^  6[jio(ü}<;  Ö7coxptv6|X£voi  toG  SpdfiaTo^).«  Es  ist  hier  nicht 
von  der  Gesichtsmaske  (irpoocüicov)  des  xoXaS  und  Tcapdoixoi;  die  Rede, 
wie  sie  Pollux  IV  4  48  beschreibt,  denn  ihre  Physiognomie  konnten 
jene  schmarotzenden  Philosophen  doch  beim  besten  Willen  nicht 
ändern,  sondern  von  dem  gesammten  An-  und  Aufzug,  der  Theater- 
Garderobe,  von  welcher  der  genannte  Compilator  an  einer  anderen 
Stelle  (IV  115  ff.)  nur  zu  kurz  handelt  2).  Wenn  dort  dem  Parasiten 
ein  schwarzes  oder  graues  Gewand  (119)  und  als  Zubehör  einige 
Requisite  der  Palästra  (Schabeisen  und  Ölflasche  120)  jugetheilt 
werden,  so  sind  auch  diese  Garderobestückc  wenig  geeignet,  den 
niedrigen  Charakter  des  x6Xa^  sofort  ins  Licht  zu  setzen  und 
schwerlich  wird  Lukian  gerade  an  sie  gedacht  haben.  Nun  wissen 
wir,  dass  Eupolis  seinen  Chor  xotXio8at(jLova;  (fr.  172K.),  Bauchdä- 
monen, und  xa^Yjvoxviaodi^pa;  (fr.  173),  Bratpfannenduftjäger  nannte. 
Ferner  wird  in  einem  Bruchstück  (156K.)  die  phantastische  Gestalt 
des  Kekrops  beispielsweise  vermuthlich  zur  Erklärung  und  Recht- 
fertigung einer  analogen  Bildung  angeführt: 

xal  xiv  KsxpoTca  xdvcüdsv  dv8p6^  <paa    Ij^eiv 
[xsj^pi  xÄv  xoj^tüvfiv,  xd  8s  xdxcüOev  duvv(8o<;. 

Ich  vermuthe,  dass  hiermit  eben  die  Gestalt  der  xoXaxe;  in  dem  Eu- 
polideischen  Chor  verglichen  war,  dass  dieselbe  von  der  Bauchgegend 
an  etwa  in  einen  gewaltigen  Darm  (xoXov)  endigte,  eine  Bildung, 
welche  durch  die  Ähnlichkeit  mit  derjenigen  der  Giganten  doppelt 
wirken  musste^).  Die  Erfindung  wäre  noch  lange  nicht  so  barock  wie 
das  Räthselbild  aus  einer  unbekannten  Komödie,  welches  die  Parasiten 
zeichnet  (anon.  com.   497  M.): 

YaarJjp  5Xov  xb  au)(Jia,  icavxaj^-^  ßXsiriüv 
6cpOaX[j.6<;,  Spirov  xoii;  680G01  Ö7]p(ov*). 

4)  TT|V  axeuYjv  xwv  xoXaxcov  jxeiaXajA^avooai  mit  Früzsche. 

t)  xai  0X8 or^  |iev  y;  täv  uTroxpixtov  otoXt]  xxX. 

3)  Die  Parasiten  heissen  öfters  •y^iYSVSK. 

4)  Plutarcb,   vom  Unterschied  zwischen  xoXa^  und  cp(Xo(;  p.  54  b  :   ouxw^;  airsi- 


1 4  Ribbeck, 

Unter  den  namhaften  Genossen  der  Zunft,  welche  in  dem  Eupoli- 
deischen  Drama  vorkamen,  waren  denn  auch  ausser  Protagoras,  der 
dXaCoveüeiat  icepl  t&v  [iexecopcDV,  xd  he  j^afiaOev  eadtet  (fr.  146K.), 
der  berüchtigte  6^ocpdYO(;  Melanthios  (fr.  164)^),  und  Hungerleider 
wie  der  Sokratiker  Chairephon  (165),  der  Kleiderdieb  Orestes,  Marp- 
sias  (166)  und  Kleokritos  (167).  Ihre  Methode  und  ihre  Grundsätze 
offenbart  der  Chor  der  Schmarotzer  im  Epirrhema  der  Parabase^). 
Sie  stellen  sich  vor  als  durchweg  feine  Herren.  Ein  gemietheter 
Diener  begleitet  den  xoXaS;  zwei  Röcke  hat  letzterer  im  ganzen, 
mit  denen  er  wechselt,  wenn  er  auf  den  Markt  ausrückt.  Sieht  er 
da  einen  reichen  Tropf  (TrXoüiaS),  so  macht  er  sich  sofort  an  ihn, 
lobt  jedes  Wort,  welches  dieser  sagt  (vgl.  fr.  178),  scheint  ausser 
sich  vor  Vergnügen  über  das  Gespräch,  und  erzielt  so  eine  Ein- 
ladung zum  Essen.  Bei  Tisch  muss  er  dann  freilich  viel  geist- 
reiche Witze  machen  und  dabei  seine  Zunge  hüten,  wenn  er  nicht 
riskiren  will  unsanft  vor  die  Thür  gesetzt  zu  werden.  Nicht  Feuer 
noch  Eisen  oder  Erz  hält  die  x6Xax£<;  ab,  zum  Schmause  zu  eilen 
(fr.  162).     Den  Kallias  preisen  sie  in  dem  Liede  fr.  163: 


poc  TjV  xoXaxo?  0  vo[xtC«>v  xd  fafi-ßela  taüil  tco  xapxfvcp  iidXAov  ri  tw  xoXaxt  Tupoa- 
T^xetv  ^aorr^^  .  .  .  Ö7]ptov.    irapaotToi)  ydp  b  toiouto;  e^xovLajio«;  iaxi  xtX. 

i)   Klearchos  bei  Athenaeus  I  p.  6  c;    AUien.  VIIF    p.  3  43  c;    schol.   zu  Ari- 
sloph.   Frieden  803,  Vögel  4  5^ 

2)   Bei  Alhenaeus  VI  236  E   (fr.  159  K.)  : 

(iXXa  oiaiTav  tjv  e^oua'  ot  xoXaxs^  irpo?  i)p.a<; 
Xi5o|x£V  aXX'   axoüoai>'  o>;  safxev  SiravTa  xofi'J^ot 
avöps^  *   oToioi  irpcoTa  jjlsv  Trat^  ax6Xoi)i>o^  eattv 
aXXoTpioc  Toi  TToXAa,   [xixpov  öi  ti  xajxov  autoü. 
5     ip-aito)  oi  [AOL  Su'  laxov  j^apisvTS  tootw, 
otv  ji^xaXafißavcov  ae\  Oaxspov  iSs^auvto 
&U  »Yopav.    IxsT  8'  eireiSav  xax{8ü)  xiv'  avSpa 
T^XtOtov,   irXooxouvxa  o',   £üI)ü?  irspi  xoiixov  si\i.i. 
xav  XI  xoj^'jQ  Xe^cov  b  irXoüxaS,  iravo  xoüx'   liraivc«, 

10     xat  xaxaTrXrjxxojAai  ooxcov  xolot  Xo^oiot  yaipstv. 
£tx'   sttI  osTttvov  lpj^opL£oÖ'  aXXüOi?  aXXo?  r^jitov 
fjLOÜiav  Itc'   dXXocpuXov,  ou  öel  ^(aptsvxa  iroXXa 
xov  xoXax'  £u&£«)<;  Xi^fitv,  73  'x(pip£xai  i)upaC£. 
oioa  8'  'Axiaxop'  atixb  xov  oxiYfxaxfav  TraUovxa  * 

15     axtt>{x{xa  ^ap  sItz^   aoeh^if;,   £tx'   auxov  b  iral?  {>opaC£ 
i^aYCtYCMv  iyovTOi  xXotbv  ':Tapiou)X£v  OfvfiT. 


KOLAX.  1 5 

xaXXaßtöa^  H  ßaCvet, 

[i^Xa  8e  5^p6jjnrceTat. 

Der  verschwenderische  Hausherr  beschenkt  sie  dafür  mit  Bechern,  He- 
tären und  anderen  Kostbarkeiten^),  und  daneben  stehlen  sie  auch  noch 
Servietten  (168).  Diese  Verbindung  von  zudringlicher,  ironischer 
Schmeichelei,  Gefrässigkeit,  Spitzbüberei,  Witz  und  Possenhaftigkeit  ist 
typisch  für  den  Charakter  geblieben :  OcäcJ;,  ö^ocpa^oc  oder  YQtaipfjxap- 
Yo<;,  und  7eXü>Toicoi6(;  sind  zu  einem  schönen  Dreiklang  verschmolzen. 
Ungeladen  zu  Festen  und  Schmausen  zu  kommen  ist  ja  ein  altes 
Vorrecht  des  berufsmässigen  Lustigmachers:  er  gilt  ähnlich  wie 
die  fahrenden  Spielleute  des  Mittelalters  als  unentbehrliches,  selbst- 
verständliches Element  bei  solchen  Gelegenheiten.  Wer  nun  bei 
Opferfesten  an  den  Altären  herumlungerte,  um  dann  beim  Schmause 
als  Possenreisser  seine  Rolle  zu  spielen  und  ein  Stück  vom  Braten 
zu  erhaschen,  hiess  ß(o  1x0X65^0«;^).  Vom  Y^^^'^o^oi'i^^  giebt  das 
Xenophon tische  Symposion'*)  eine  deutliche  Anschauung,  ob- 
wohl seine  Glanzzeit,    wie  seine  Klagen  beweisen,  vorüber  ist:    8et- 


I)   Maximus  Tyrius  20,   7  und  Eupolis  fr.  4  55   (vgl.  4  64)   K. 

t)  Harpokration :  ßü)|xoXo)^su8o{>at *  xuptu)^  iki-^ovxo  ß(u{j.oXo^oi  01  iicl 
Tttiv  Ouoicuv  uTTo  TOü^  ßwjxoüc  xaÖtCovTsc  xat  p-stÄ  xoXaxstag  TrpoaaiTouv- 
Ts^  (also  Bettler,  die  am  Fusse  der  Altäre  hocken,  um  vom  Opfer  etwas  ab- 
zukriegen) .  Sil  6s  xal  oi  TtapaXafißavofJLSvot  Tal?  Ouatai?  aüXr^rat  xs  xal  [xavreK;. 
(Vgl.  etym.  m. '247,  55.  schol.  Plat.  p.  424  B.)  Bei  Pherekrates  in  der  Tu- 
pavvi^  fr.  4  44  K.  rühmt  ein  Gott  die  weise  Einrichtung,  welche  den  Olympiern 
den  fetten  Duft  von  Altären  zuträgt: 

xäicetft'  ?va  [xiq  icpo^  xoTai  ßu)(j.oT(;  Tcavia/ou 
eiel  koyjm'ze^  ßoijioXojfoi  xaA.<i)(jL£&a, 
hzoiqozv  0  Zsu?  xauvoBoxTjv  [is^caXTjv  iravo. 

Im  Gerytades  des  Aristophanes  (um  die  Zeit  der  FRÖsche)  wird  ein  Parasit  ange- 
lassen (fr.  4  66  K.)  :  j^apievTtCsi  xal  xaTa^atCeti;  r^\Lm  xal  ßojfxoXojfsost.  Dass  der 
aau{i.ßoA.Qg  Spass  machen  muss,  ist  nach  Anaxandrides  in  der  Gerontomania 
fr.  4  0  M.  eine  alte  Satzung  des  Rhadamanthys  und  Palamedes. 

3)  Vgl.  4,  4  4  ff.  2,  24  f.  4,  50.  Das  Substantivum  xoXaS  findet  sich  in 
den  Xenophontischen  Schriften  nirgends,  nur  das  Verbum  xoXaxsueiv  in  der  Be- 
deutung »den  Hof  machen«  (Kyrop.  I  6,  3  VII  2,  23  Memor.  I  2,  24  II  9,  8 
IV  4,  4  Hellen.  I  6,  7  V  4,  4  7  Hier.  4,  4  5  resp.  Laced.  4  4,  2)  und  einmal 
Oecon.    4  3,    4  2  xoXaxeofiaxa,   Scbmeichelkünste. 


1 6  RiBBEGK, 

TTveiv  TdXX^ipta  ist  sein  Zweck,  dem  er  nachgeht,  mag  er  geladen  sein 
oder  nicht,  denn  axXYjxov  IXdeiv  eirl  xb  Seficvov  scheint  ihm  sogar 
lustiger.  Er  reisst  nicht  nur  Witze,  sondern  giebt  auch  mimische 
Actionen  und  Tänze  komischer  Art  zum  Besten.  Lacht  man  nicht, 
so  wird  er  melancholisch;  was  er  sich  von  den  Gästen  gefallen 
lassen  muss,  zeigt  das  ßeXo«;  y^Xcotottoiöv  in  den '  OatoXö^ot  des  Aeschy- 
lus  (fr.  171).  Ein  solcher  Clown,  wie  er  z.  B.  noch  bei  der 
Hochzeit  des  Karanos  in  Makedonien  auftritt  ^) ,  ist  trotz  mancher 
Ähnlichkeit  doch  schon  in  dem  einen  Hauptpunkt  vom  x6Xa5  unter- 
schieden, dass  er  sich  keiner  einzelnen  Person  fest  und  dauernd 
anschliesst. 

Hauptsächlich  um  seiner  6'];ocpaifia  und  -^aoTpunap-^ia  willen,  die 
er  gern  am  fremden  Tisch  befriedigte,  mag  der  falsta£Fähnliche 
Schildwegvverfer  Kleonymos^)  von  Aristophanes  in  den  Wespen  Kola- 
konymos  genannt  sein.  Denn  schon  in  der  zweiten  Parabase  der 
Ritter  (1281)  stellt  dieser  Aristokratenchor  eine  tiefsinnige  Erwägung 
darüber  an,  wie  jener  nur  zu  solcher  Virtuosität  im  Essen  gekom- 
men sein  möge: 

cpaol  [xiv  Y<ip  iauTiv  epeitTÖixsvov  xä  tcüv  ej^^vtcov  dvepcov 
oox  äv  feSsXösLv  dizh  ti^i;  oiuüyjc;,  toü^  8    dvTtßoXsiv  av  6[i.o((o^* 
t&'   iü  ava,  7cpo(;  •yo'^dKov,  ISeXöe  xal  oü^YvcüOi  t-q  xpaTueC'Q. 

Doch  wird  ihm  weder  hier,  zwei  Jahre  vor  Aufführung  der  Wespen, 
noch  früher,  in  den  Wolken  und  den  Acharnern,  der  charakteristische 
Spitzname  x6XaS  schon  beigelegt. 

Während  nun  Pia  ton  in  seiner  Unterscheidung  ehrlicher  und 
unehrlicher  xlpat^)  den  Begriff  der  xoXaxeia  willkürlich  weiter  fasst 
und  das  entscheidende  Kriterium  allein  in  der  Verleugnung  der 
Wahrheit  zum  Zweck  des  angenehmen  Scheins  (j^apiCe- 
oöai)  findet,  gleichviel  in  welcher  Absicht  übrigens  ein  solcher  Be- 
trug geübt  werde,  unterlässt  er  doch  an  anderen  Stellen*)  nicht  die 


\)   Athenaeus  rv  p.  4  30G. 

2)  Alazon  S.  Sl8. 

3)  Gorgias  p.  463  ff.  502  b.  521  b.  Euripides  im  Erechtheus  fr.  364,  18  ff. 
N.  umschreibt  den  Begriff  der  xoXaxe;  ganz  entsprechend :  (piXouc  Ss  tou;  piv  fi.7] 
)raXü)VTa?  4v  Xoyoi?  |  xixTTjoo*  tou?  8s  Tcpo?  Z^P*^^  ^'^^  "ijSov'j  |  t-j  o^ 
irovTjpou?  xX^&pov  eJpYito)  ax^Y^?. 

4)  Soph.  p.  222  e  resp.   IX  p.  590  d  Sympos.  p.  183  a. 


\.  Allgemeine  Voraussetzungen  de»  Wachsthums  der  grossen  Stödte  etc.  ]  7 

niedergeschlagen,  wie  es  uns  in  der  Überlieferung  entgegentritt.  Was  Rom  betrifft, 
so  begegnen  wir  seit  der  Consolidirung  der  römischen  Herrschaft  zahlreichen 
S)  mptomen  einer  förmlichen  Masseneinwanderung  zuerst  aus  Italien ,  dann  den 
Provinzen,  die,  wie  Friedländer  mit  Recht  bemerkt^),  zwar  in  wechselnder,  aber 
bis  auf  Constantin  wohl  schwerlich  auf  die  Dauer  abnehmender  Stärke  die  Stadt 
tlberfluthete  und  ihre  Bevölkerung  mit  den  Bestandtheilen  aller  Nationalitäten 
der  alten  Welt  mischte^).  Schon  Cicero  nennt  Rom  »eine  aus  der  Vereinigung  der 
Völker  gebildete  Gemeinde«^) ;  und  Stimmen  aus  der  Kaiserzeit  feiern  die  Stadt, 
»welche  die  Blicke  aller  Götter  und  Menschen  auf  sich  wandte«,  als  »Versamm- 
lungsort des  Erdkreises«^),  als  eine  »Weltherberge«^),  als  ein  »Gompendium  der 
Welt«  ^).  Äusserungen,  welche  lebhaft  an  Montchr^tien's  Charakteristik  von  Paris 
erinnern :  »Paris  pas  une  cit^,  mais  une  nation ;  pas  une  nation,  mais  un  monde«  ^, 
und  an  das  Wort  eines  modernen  Culturhistorikers  von  den  Weltstädten  der 
Gegenwart,  als  den  riesigen  »Encyklopädien«  der  allgemeinen  Civilisation^).  In 
der  That  ist  es  durchaus  das  Bild  der  modernen  Grossstadt  mit  ihrer  gewaltigen 
Concentrirung  des  gesammten  Volkslebens,  an  welche  uns  die  Schilderungen  des 
kaiserlichen  Rom  gemahnen.  »Betrachte  doch  einmal,  schreibt  Seneca  seiner 
Mutter-*),  diese  Menschenmenge,  für  welche  kaum  die  Häuser  der  unermesslichen 
Stadt  ausreichen.  Der  grössere  Theil  dieses  Schwarmes  lebt  fern  von  der  Hei- 
math. Aus  ihren  Municipal-  und  Colonialgemeinden,  ja  aus  dem  ganzen  Erd- 
kreise sind  sie  zusammengeströmt.  Einige  hat  der  Ehrgeiz  hergeführt.  Andere 
die  Nothwendigkeit  eines  öffentlichen  Amtes,  Andere  ihre  Stellung  als  Abgeord- 
nete, Andere  die  Schwelgerei,  die  nach  einem  reichen  und  fttr  Laster  bequemen 
Tummelplatze  sucht,  Andere  das  Streben  nach  Wissenschaft,  Andere  die  Schau- 
spiele. Die  hat  die  Freundschaft  herbeigezogen,  jene  die  Industrie,  welche  hier 
ausgedehnten  Stoff  findet,  ihre  Geschicklichkeit  zu  zeigen.  Einige  bieten  ihre 
Schönheit  feil ,  Andere  ihre  Beredtsamkeit.  Da  gibt  es  keine  Art  von  Menschen, 
welche  nicht  in  der  Hauptstadt  zusammenträfe,  wo  sowohl  den  Tugenden  wie  den 
Lastern  grosse  Prämien  winken«  *<^). 


darf  wohl  seit  Zurapts  Erörterungen  »Über  den  Stand  der  Bevölkerung  und  Volksvermehrung 
im  Alterthum«  (S.  64  f.)  als  völlig  überwunden  gelten. 

4)  A.a.O.  I,  i9. 

3)  Vgl.  was  Ammianus  MarcelHnus  von  Kaiser  Constantius  erzählt:  stupebat,  qua  celeri- 
täte  omne  quod  ubique  est  hominum  gcnus  confluxerit  Romam.   XVI,  4  0,  6. 

3)  De  pet.  cons.  44,  64  Roma  est  civitas  ex  nationum  conventu  constituta. 

4)  Juli  Flori  epitome  p.  XLIJahn:  in  illo  orbis  terrarum  conciliabulo.  Noch  im 
4.  Jahrb.  sagt  Symmachus  von  Rom  (IV,  18) :  undique  gentium  convenitur. 

5)  'Ey^PiOfirj  x^  xoa fxoxqoqn^  C  I.  G.  5993  A.  48. 

6)  Ausdruck  des  Sophisten  Polemo  (2.  Jahrb.),  cf.  Athenaeus  I,  36:  oqa^  oixovfiivrjg  d^fjioy 
X7]¥^Piofjiriy  fprjoi'  Xiyet  dk  xai,  ort  ovx  ay  tig  axonov noQqto  to^eviay  Xiyoi  rijy^PdJfiijy  noXiy 
InitofATjy  xrjs  oixovfxiyrjs.  Cf.  ib.:  IniXelnoi  d*  ay  fis  ovx  Vf^^^^  f^^^  k^a^i^fiovfAeyoy 
jag  iy  tp  'Patfiaitay  oh^ayonoXs^  ^PtofAtj  ctqid-fAOVfiiyas  noXeif  . .  dia  xo  nX^S'O^'  xai  yaQ  oXu 
l&yri  ä&Qoiüf  a^to&i  avytfxiarai  xtX.   Cf.  Galen  ed.  Kühn  XVIII,  4,  p.  347. 

7)  Trait«  d'^onomie  politique  (4646)  p.  46  (angeführt  bei  Röscher,  System  III,  38). 

8)  Riehl,  Land  und  Leute,  6.  Aufl.  S.  422. 

9)  Cons.  ad  Helv.  6. 

4  0)  Vgl.  i4hnliche  Äusserungen  über  die  universelle  Stellung  Alexandrias  bei  Dio  Chryso- 

Pöhluanii,  Überrölkenxng.  2 


16  I.  Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Städte  etc. 

Nichts  könnte  die  stddtebildende  Kraft  dieser  Epoche  besser  veranschau- 
lichen, als  die  phllnomenale  Entwicklung  der  beiden  erst  durch  Julius  Cflsars 
Neugründung  aus  dem  Schutt  erstandenen  Städte  Korinth  und  Carthago,  die  — 
allerdings  durch  ihre  geographische  Lage  ebenfalls  mächtig  gefordert  -  —  in  nicht 
sehr  langer  Zeit  zu  grossen  städtischen  Centren  heranwuchsen.  Auf  der  völlig 
verödeten  Trttmmerstätte  des  zerstörten  Korinth  erblühte  in  wenig  Menschen- 
altern eine  glänzende  Handelsstadt  mit  einem  wahrhaft  internationalen  Verkehrs- 
leben,  wie  vordem  »das  reiche  Korinth«,  eine  »allen  Hellenen  gemeinsame  Stadt 
und  in  Wahrheit  die  Metropole  von  Hellas«^).  Noch  bedeutsamer  ist  das  Wachs- 
thum  des  römischen  Carthago,  dessen  Fortschritte  in  materieller  und  ideeller  Hin- 
sicht so  grossartige  waren,  dass  es  am  Ende  wohl  als  das  »afrikanische  Rom«  der 
Welthauptstadt  selbst  sich  an  die  Seite  stellen  konnte,  und  die  alte  Nebenbuhler- 
schaft beider  Städte  wieder  aufzuleben  schien^].  Schon  um  die  Wende  des  i. 
und  3.  Jahrhunderts  erscheint  es  unter  den  grössten  Städten  des  Reiches  und 
wurde  —  nach  dem  Urtheile  Herodians  —  an  Grösse  und  Einwohnerzahl  nur  von 
Rom  übertroffen,  während  ihm  den  zweiten  Rang  nur  Alexandria  streitig  machte  3). 
Was  das  zu  bedeuten  hatte,  lässt  sich  darnach  ermessen,  dass  Alexandria  schon 
zur  Zeit  Diodors  nach  amtlichen  Aufzeichnungen  eine  freie  Einwohnerschaft  von 
300000  Seelen  hatte  ^),  eine  Zahl  die  natürlich  bei  der  Grösse  der  Fremden-  und 
Sklavenbevölkerung  noch  weit  hinter  der  wirklichen  Bevölkerungsziffer  zurück- 
blieb. Zudem  gilt  diese  Zahl  noch  für  eine  Zeit  (480.  Olymp.)  ^},  die  vor  den  — 
mit  der  augusteischen  Monarchie  beginnenden  —  grossartigen  Aufschwung  Ale- 
xandrias fällt,  einen  Aufschwung,  in  Folge  dessen  sich  die  Bevölkerung  in  den 
zwei  Jahrhunderten  bis  Herodian  allem  Anschein  nach  mehr  als  verdoppelt  haben 
muss^).  Wenn  das  damalige  Carthago  an  Grösse  mit  dieser  Stadt  rivalisiren 
konnte,  so  muss  es  sicherlich  wieder  mindestens  an  die  700000  Einwohner  ge- 
habt haben,  wie  die  alte  Punierstadt  kurz  vor  ihrem  Untergänge  ^).    Damit  fällt 


stomus  or.  XXXII  ed.  Dindorf  1, 448,  vgl.  XXII,  p.  Sli  —  Constantinopels  bei  Gregor  von  Nazianz 
or.  XXXIIp.  517  Migne. 

4)  Vgl.  des  Aristides  Lobrede  auf  die  Stadt  Or.  III  p.  21  ff.  ed.  Dindorf  und  die  Schilderung 
bei  Friedländer  II,  H3f. 

8)  Salvian ,  Gub.  dei  VlI,  67 :  illa  ...  Romanis  arcibus  seinper  aemula,  armis  quondam  et 
fortitudine,  post  spien dore  ac  dignitate.  Carthaginem  dico  et  urbi  Roniae  maxime  adversariam 
et  in  Africano  orbe  quasi  Romam  ...  universa  penitus  quibus  in  toto  mundo  disciplina 
rei  publicae  vel  procuratur  vel  regitur,  in  se  habuit  etc.  Cf.  Ausonius  de  dar.  urbibus  2.  Vgl. 
die  Schilderung  bei  Jung,  Die  romanischen  Landschaften  des  römischen  Reiches  S.  423  ff,  und 
C.  I.  Lat  YIII,  438.  Für  das  rasche  Wachsthum  der  Stadt  zeugt  schon  Strabos  Bemerkung:  xal 
yvy  et  xis  aX%rj  %aXas  oixeUai  jüy  iy  Aißvr^  noXsaty  XVII,  3,  4  5;  cf.  Melal,  7,  2.  So  frühe 
nach  der  Gründung ! 

3)  Herodian  VII,  6,  4 :  ^  yovy  noXis  ixeiyij  xai  dvyctfjiei  x^VH-^^^  ^"^  TiXt^d-ti  tüy  xtnoi-- 
xovyxiay  xal  fiByid-Bi  fAoytis  * PtafArjg  itnoXelnerai)  g>iXoyeixovaa  nqog  trjy  iy  Aiyvmi^*AX%^ay- 
dqov  noXiy  nhql  deviegeitay, 

4)  Diodor  XVII ,  52 :  joty  xaroixovyttoy  elyai  toh^  iy  avrj  diaxqißoyxas  iXsvB'iqovs 
nXBioyas  Ttoy  jQiaxoyja  fivQiadfoy,  Mit  welchem  Recht  Marquardt,  Römische  Staatsverwaltung 
II,  4  47  hier  die  Frauen  und  Kinder  nicht  mitgerechnet  sein  lässt,  sehe  ich  nicht  ab. 

5)  ib.  I,  44.  6)  Vgl.  die  Schilderung  der  Stadt  bei  Friedländer  II,  4  34  ff. 
7)  Strabo  XVII,  3,  §45. 


I.  Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachstbums  der  grossen  Städte  etc.  \  9 

auch  ein  Licht  auf  die  Grösse  anderer  Stödte  z.  B.  Antioehias  der  »Metropole  des 
Orients« '),  welche  schon  Josephus  als  dritte  Stadt  des  Reiches  —  nach  Rom  und 
Alexandria  —  bezeichnet^),  während  sie  später  von  Libanius  mit  den  drei  grtfss- 
ten  Städten  nach  Rom  und  Gonstantinopel,  d.  h.  ohne  Zweifel  mit  Alexandria, 
Carthago  und  Mailand  auf  eine  Stufe  gesetzt  wird^).  Die  Grösse  Mailands  aber, 
welches  wie  viele  andere  Städte  seit  der  diocletianischen  Epoche  besonders  als 
Regierungs-  und  Verwaltungscentram  emporkam,  lässt  sich  unter  Anderem  auch 
darnach  beurtheilen,  dass  bei  der  Einnahme  und  Zerstörung  der  Stadt  durch 
König  Vitiges  im  Jahre  593  nach  dem  Berichte  Procops^)  300000  Erwachsene  männ- 
lichen Geschlechts  ums  Leben  gekommen  sein  sollen.  Wenn  femer  —  im  Osten  — 
eine  Stadt  dritten  Ranges  wie  Cäsarea  in  Gappadocien  an  die  400000  Einwohner 
hatte  (im  3.  Jahrb.)  %  welche  Dimensionen  muss  da  die  Bevölkerungszunahme  der 
neuen  Welthauptstadt  am  Bosporus  angenommen  haben,  wo  alle  erdenklichen 
künstlichen  Mittel  und  die  Gunst  einer  unvergleichlichen  Lage  zusammenwirkten, 
ein  Culturcentrum  zu  schaffen ,  welches  in  Bälde  alle  Städte  des  Ostens  Ober- 
fltlgelte  und  am  Ende  selbst  Westrom  an  Bevölkerungszahl  gleich  kam^).  Dass  sich 
endlich  neben  diesen  grossen  Metropolen  zahlreiche  andere  Städte  mehr  oder 
minder  in  grossstädtischer  Weise  entwickelt  haben  —  man  denke  nur  an  Lyon^} 
und  Trier  ^),  Emerita^),  Tarraco^^),  Seleucia,  Laodicea,  Smyrna,  Ephesus^')  und 
andere  —  dafür  legt  die  Provincialgeschichte  und  die  Grossartigkeit  der  monu- 
mentalen Oberreste  beredtes  Zeugniss  ab. 

Angesichts  des  Mangels  bevölkerungsstatistischer  Angaben  seien  hier  noch 
trotz  ihres  problematischen  Werthes  die  wichtigsten  Umfangszahlen  verschie- 
dener Grossstädte  mitgetheilt,  die  uns  zufällig  überliefert  sind.  Rom  hatte  zur 
Zeit  der  Messung  Vespasians  im  Jahre  74  einen  Umfang  von  43200  Schritten  ^^), 
während  sich  für  die  aurelianische  Mauer,  die  noch  lange  nicht  alles  bewohnte 
Terrain  umschloss^^),  zusammen  mit  den  nicht  ummauerten  Theilen  Trasteveres 


1)  Wie  sie  Zosimus  I,  i7  nennt. 

2)  B.  J.  III,  S,  4. 

3)  IIqos  ßeodoCioy  Itki  talg  diaXXayalg  I,  673 :  yv¥  ik  dvoly  (ikv  r^ds  devtiqa  (Rom  und 
Constantinopel),  tqioI  dk  i<trj,  Ausonius  I.  c.  111  zweifeit,  ob  er  Antiochia  oder  Alexandria  an 
dritter  Stelle  nennen  soll.  Vgl.  auch  Johannes  Ghrysostomus ,  der  die  christliche  Gemeinde 
von  Antiochia  als  einen  d^fxov  etxoaiy  iyTeiyofieyoy  fAv^iaiag  bezeichnet.  Homil.  in  Ignat.  §  4. 

4)  B.  G.  II,  21 :  trjy  61  noXiy  €$■  ida(pof  xa&elXoyf  ay6^as  f*ky  xteiyaytec  rjßr^ifoy  anayxas 
ovx  fi<scoy  Tj  fAvqiadas  tQioacoyjaf  yvyalxas^  dk  iy  äydganodtoy  notijaafieyoi  X6y(f.  Cf.  Ausonius 
1.  c.  V  über  Mailand.  Die  Angabe  Procops,  so  stark  sie  übertreiben  mag,  ist  doch  nicht  ganz 
bedeutungslos. 

5)  Nach  ZonarasXIl,  88  p.  444  Dind. 

6)  Vgl.  Gap.  8. 

7)  Vgl.  Hirschfeld ,  Lyon  in  der  Rdmerzeit. 

8)  Hettner,  Das  römische  Trier;  in  den  Verh.  der  Trierer  Philoiogenversammlung  S.  15  ff. 
4879.   Vgl.  Jung  a.  a.  0.  S.  234  ff. 

9)  Vgl.  Jung,  S.  20  f. 

40)  Ebd.  22  ff.,  vgl.  Hübner  im  Hermes  I,  97  ff. 

44)  tber  die  letzteren  Stttdte  vgl.  Gurtius,  Beiträge  zur  Geschichte  und  Topographie  Klein- 
asiens. Abh.  der  Berliner  Akad.  4872,  S.  4  ff.  und  Friedländer  a.  a.  0.  II,  S.  122 f. 
42)  N.  H.  ni,  5,  66.  4  3)  Vgl.  unten  S.  24. 

2» 


20  !•  Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Städte  etc. 

schon  über  17000  Schritte  ergeben^).  Für  Garthago  werden,  wie  es  scheint  mit 
Bezug  auf  die  frühere  Raiserzeit,  1 0250  Schritte  angegeben^),  desgleichen  für 
Alexandria,  welches  zur  Zeit  Diodors  nur  etwas  über  80  Stadien  =  4  0000  Schritte 
gemessen  hatte  ^) ;  16360^),  ein  bedeutsames  Symptom  des  Wachsthums  dieser 
Stadt s).  Wenn  für  Antiochia  etwas  über  8000  Schritte  angegeben  werden*),  so 
bleibt  das  hinter  der  höchsten  Umfangsziffer  desselben  gewiss  weit  zurück.  Die- 
selbe mochte  kaum  viel  unter  18000  Schritt  betragen'^) ,  wie  sie  z.  B.  Gonstanti- 
nopel  in  der  Zeit  seiner  grössten  Ausdehnung  thatsächlich  erreicht  hat®). 

Um  die  Bedeutung  dieses  Wachsthums  der  grossen  Städte  für  deren  eigene 
Zustände,  wie  für  die  antike  Givilisation  überhaupt  beurtheilen  zu  können ,  ist 
vor  Allem  eine  Antwort  auf  die  Frage  erforderlich ,  ob  die  Zunahme  der  gross- 
städtischen Bevölkerungen  wesentlich  als  Symptom  der  Prosperität  und  gestei- 
gerter Gulturleistungen  zu  betrachten  sei,  oder  ob  dieses  Wachsthum  bereits  jene 
Grenze  überschritt,  wo  es  eine  Quelle  des  Elends  für  das  Ganze  oder  für  grosse 
Glassen  der  Bevölkerung  werden  und  dem  gesammten  gesellschaftlichen  Organis- 
mus der  Grossstadt  ein  krankhaftes  Gepräge  geben  musste. 

Da  es  nach  der  Natur  der  Dinge  und  bei  der  Beschaffenheit  der  Quellen  in 
erster  Linie  Rom  ist,  dem  die  Diagnose  gilt,  ein  Central-  und  Herzpunkt,  von  dem 
eine  Welt  ihre  Impulse  empfing,  so  hat  das  Problem  eine  gewisse  universalhisto- 
rische Bedeutung.  Wir  haben  es  heutzutage  unmittelbar  vor  Augen  und  empfin- 
den es  in  banger  Sorge,  dass  »Europa  krankt  an  der  Grösse  seiner  grossen  Städte«. 
Wir  die  wir  Altenglands  gesunde  Eigenart  in  London  begraben  und  Paris  zum 
ewig  eiternden  Geschwüre  Frankreichs  emporgewuchert  sehen ,  die  wir  selbst  in 
dem  individualisirten  Deutschland  die  enorme  Steigerung  der  grossstädtischen 
Volksmassen,  besonders  unserer  nationalen  Hauptstadt  als  einen  für  das  ganze 
Volk  fühlbaren  socialen  und  politischen  Druck  empfinden ,  wir  können  uns  auf 
das  lebhafteste  vergegenwärtigen,  in  welchem  Umfange  bei  der  ungeheueren  Cen- 

4)  Vgl.  Jordan,  Topographie  der  Stadt  Rom  im  Alterthum  I,  334  fT.  II,  471,  wo  mit  Recht 
von  den  übertriebenen  Angaben  der  Alten  abstrahirt  wird. 

5)  Nach  dem  von  Mommsen  in  den  Abhandlungen  der  Sachs.  Gesellsch.  d.  W.  III,  S.  873 
herausgegebenen  Fragment  aus  Cod.  Paris.  8319.  Cf.  Itinerarium  Alexandri  (A.  Mai  class.  auct. 
VII)  I,  26.  Dazu  Boysen  im  Philologus  Jahrg.  1883,  S.  410  ff. 

3}  XVH,  52.  Je  40  Stadien  in  der  Länge,  1  Plethron  in  der  Breite.  —  Die  Angabe  gilt  für 
die  50er  Jahre  des  letzten  Jahrh.  v.  Chr. 

4]  Nach  der  Anmerk.  2  genannten  Quelle. 

5)  So  erklären  sich  offenbar  die  verschiedenen  Angaben  der  Alten ;  ein  Moment,  welches 
Kiepert  (Zur  Topographie  des  alten  Alexandria;  Zeitschr.  der  Gesellsch.  f.  Erdkunde  z.  Berlin 
VII,  S.  344)  ganz  ausser  Acht  gelassen,  indem  er  die  verschiedenen  Messungen  ohne  Rücksicht 
auf  ihre  Ursprungszeit  bunt  durcheinander  wirft.  — Wenn  Diodor  a.  a.  0.  10000  Sehr.,  Plinius 
V,  10  15000  (wo  die  Beziehung  auf  die  Gründungszeit  offenbar  ein  Versehen  ist),  ein  noch 
Späterer  16360  Sehr,  angibt,  so  lässt  sich  doch  die  im  Text  berührte  Ursache  dieser  genau  mit 
der  Zeit  steigenden  Differenz  unmöglich  verkennen. 

6)  Vgl.  Itinerarium  Alexandri  I,  26. 

7)  Hug  (Antiochia  und  der  Aufstand  des  Jahres  387  S.  6),  der  die  Zahl  allerdings  durch 
eine  unberechtigte  Quelleninterpretation  gewinnt. 

8)  4  8  milliaria  nach  Phrantzes  III,  3  p.  238  ed.  Bonn.  Die  Angabe  des  Laonikus  Chalkon- 
dylas  (ed.  Bonn.  p.  388),  441  Stadien,  ist  offenbar  zu  niedrig,  ebenso  die  der  Regionenbeschrei- 
bung: 14075'  Länge  und  6150'  Breite  (Riese:  Geogr.  lat.  min.  p.  4 


I.   Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Städte  etc.  21 

tralisaiion  des  römischen  Staatswesens  die  aus  einer  Übervölkerung  der  Gapitale 
und  der  grossen  Städte  überhaupt  entspringenden  Krankheitserscheinungen  auf 
das  Allgemeine  zurückgewirkt  haben  müssen. 

Dass  nun  in  Wirklichkeit  eine  solche  Übervölkerung  bestand,  ist  leicht  er-  ünmdgiichkeit 

"  einer  sifFery 

weislich ,  sehr  schwierig  aber  und  nach  verschiedenen  Seiten  hin  unmöslich  ist  m^'^s®'^  ^~ 

^  *^  Btimmunff  der 

es,  eine  analytische  Darlegung  der  Intensität  der  einzelnen  EinOüsse  zu  geben, Kg^'***J^^^^^^ 
die  sich  in  der  genannten  Wirkung  offenbaren,  und  damit  die  Intensitöt  dieser  Yori»^^°iB««* 
letzteren  selbst  genauer  festzustellen.  Wir  vermögen  zwar  noch  eine  Fülle  von 
Symptomen  zu  constatiren,  allein  zu  einer  völlig  genügenden  Beantwortung  der 
Frage,  in  welchem  Grade  und  in  welcher  Ausdehnung  sich  die  Erkrankung 
des  grossstadtischen  Volkskörpers  bemächtigt  hat,  fehlt  uns  die  wichtigste  Hand- 
habe: die  Leuchte  der  Statistik.   Die  Statistik  allein  kann  uns  die  genaue  und 
zuverlässige  Kenntniss  der  Zahl  und  Beschaffenheit  der  Bevölkerung  nach  ihrem 
Stande  und  ihrer  Bewegung  gewähren,  welche  für  eine  bevölkerungswissen- 
schaftliche Aufgabe,  wie  die  vorliegende,  von  fundamentalem  Werthe  ist.    Was 
zunächst  den  Stand  der  Bevölkerung  betrifft,  so  wäre  eine  ziffernmässige  Ermitt- 
lung der  Einwohnerzahl  darum  von  Interesse  für  uns,  weil  sie  durch  eine  Yer- 
gleichung  der  Volkszahl  mit  der  Gesammtfläche  des  Stadtareals  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  über  die  Dichtigkeit  der  städtischen  Bevölkerung  Aufschluss  gewäh- 
ren d.  h.  zeigen  würde ,  inwieweit  dieselbe  mehr  oder  minder  enge  zusammen- 
gedrängt wohnte.   Die  amtliche  Bevölkerungsstatistik  des  kaiserlichen  Roms  wäre 
bei  ihrer  ausgezeichneten  Organisation^]  wohl  im  Stande  gewesen,  eine  genügende 
Berechnung  der  städtischen  Bevölkerungszahl  zu  liefern,  wenn  sie  nicht  aus- 
schliesslich die  praktischen  Bedürfnisse  der  Staatsverwaltung  im  Auge  gehabt 
und  eines  wissenschaftlichen  Interesses  völlig  ermangelt  hätte.    Der  römische 
Gensus  stellte  zugleich  eine  Volkszählung  dar,  die  nach  dem  Urtheil  eines  moder- 
nen Statistikers 2)  ihrer  Aufgabe  in  vollkommenerer  Weise  gerecht  wurde,  als  die 
entsprechenden  statistischen  Erhebungen  in  vielen  Staaten  der  Gegenwart  (1 866). 
Diese  Volkszählung  umfasste  wenigstens  in  der  Raiserzeit  nicht  nur  die  freie, 
sondern  auch  die  Sklavenbevölkerung;  allein  sie  gewährte  trotzdem  keine  aus- 
reichende Kenntniss  der  städtischen  Bevölkerungszahl,  da  sie  im  Unterschied  von 
den  modernen  Volkszählungen  stets  nur  die  Ermittlung  der  rechtlichen,  nicht  der 
factischen  Bevölkerung  bezweckte^).   Für  die  Frage,  wo  der  Einzelne  in  die  Er- 
hebungslisten  einzutragen  sei,  war  nicht  der  Wohnort,  sondern  der  Heim aths- 
ort  das  Entscheidende ;  und  es  wäre  daher  selbst  mit  den  Hülfsmitteln  des  kaiser- 
lichen statistischen  Bureaus  zu  Rom,  an  welches  die  Zusammenstellungen  der 
provinciellen   Centralbureaus ,    beziehungsweise   Municipalbureaus   eingeliefert 
wurden,  nur  sehr  schwer  möglich  gewesen,  den  factischen  Stand  der  grossstädti- 
schen Bevölkerungen  genau  zu  berechnen.   Auch  hat  es  die  für  die  Vergangen- 
heit so  charakteristische  Geringschätzung  der  zahlenmässigen  Genauigkeit  wohl 
nirgends  dazu  kommen  lassen.   Wenigstens  besitzen  wir  für  keines  der  grossen 

4)  Vgl.  Hildebrand,  Die  amtliche  Bevölkerungsstatistik  im  alten  Rom.  Jahrbücher  für 
Nationalökonomie  und  Statistik  1866,  S.  81  ff, 

2)  Hildebrand  a.  a.  0.  S.  82. 

3)  Vgl.  Huschke,  Über  den  Census  zur  Zeit  der  Geburt  Christi,  S.  H8  ff. 


22  !•  Allgemeine  VoraossetzuDgen  des  Wachsthums  der  grossen  Städte  etc. 

Centren  des  Reiches  eine  genaue  Angabe  oder  auch  nur  eine  Schätzung  der  Ein- 
wohnerzahl. 

Die  einzige  Ziffer,  in  der  man  einen  Anhaltspunkt  für  eine  bevölkerungs- 
wissenschaftliche  Untersuchung  finden  könnte ,  ist  die  im  Monumentum  Ancyra- 
num  für  die  plebs  urbana  Roms  angegebene,  die  im  Jahre  5  v.  Chr.  in  einer  Starke 
von  3SI0000  Köpfen  von  August  mit  einem  Congiarium  bedacht  ward<).  Allein 
auch  diese  Zahl  ist  für  unsere  Zwecke  werthlos,  da  nicht  einmal  der  Begriff'der 
plebs  urbana  vollkommen  feststeht.  Denn  wenn  man  auch  —  was  doch  keines- 
wegs der  Fall  ist  —  als  erwiesen  annehmen  wollte,  dass  dieselbe  nur  die  stimm- 
berechtigten Bürger  und  nicht  zugleich  die  freigeborenen  Rinder  männlichen  Ge- 
schlechts umfasste^),  so  bliebe  doch  immer  noch  die  Frage  ungelöst,  ob  die  plebs 
urbana  des  Monumentum  Ancyranum  mit  der  plebs  Romana  identisch  ist,  oder  ob 
beides  verschiedene  Begriffe  sind;  d.h.  ist  nur  die  letztere  die  plebs  der  Ge- 
sammtstadt  »usque  ad  extrema  tectorum«,  die  plebs  urbana  dagegen  nur  die  der 
eigentlichen  urbs,  der  Roma  muris  cincta,  der  Altstadt  ohne  die  Vorstädte?^)  — 

Andererseits  entbehren  wir  jeder  Kenntniss  und  jedes  halbwegs  genügenden 
Massstabes  für  die  Schätzung  der  freien  weiblichen  Bevölkerung  und  der  Kinder- 
zahl der  plebs,  des  Senatoren-  und  Bitterstandes  und  ihrer  Angehörigen,  der 
zahlreichen  Insassenschaft,  der  enormen  Sklavenmasse  und  vollends  der  fluctui- 
renden  Fremdenbevölkerung  Wenn  es  daher  die  Neueren  immer  und  immer 
wieder  unternommen  haben,  die  Yolkszahl  der  Weltstadt  zu  ermitteln^),  so  war 
das  nur  möglich  durch  die  Zuhülfenahme  jener  Conjecturalstatistik ,  die,  um  mit 
Engel  zu  reden,  ein  Irrlicht  und  viel  schlimmer  ist,  als  gar  keine  Statistik.  Oder 
sollten  wir,  um  uns  die  für  die  Bevölkerungsfrage  so  wichtige  Einsicht  in  die 
Dichtigkeit  der  Stadtbevölkerung  zu  verschaffen,  die  Bahnen  einer  Forschung  be- 
schreiten, die  z.  B.  aus  der  überlieferten  Häuserzahl  Roms  mittelst  einer  ganz 
äusserlichen  und  willkürlichen  Verwerthung  der  von  der  modernen  Statistik  be- 
züglich der  mittleren  Einwohnerzahl  der  Häuser  unserer  Grossstädte  gewonnenen 
Resultate  auf  die  Einwohnerzahl  der  römischen  insulae  und  damit  auf  die  Be- 
völkerungsziffer der  Stadt  selbst  zurückschliessen  zu  dürfen  glaubt^],  von  anderen 
noch  problematischeren  Experimenten  ganz  zu  schweigen?  Die  neuesten  Unter- 
suchungen auf  dem  Gebiete  der  Bevölkerungsstatistik  des  mittelalterlichen  Städte- 
wesens, wo  uns  die  Archive  eine  Controle  ermöglichen,  wie  sie  für  das  Alterthum 
fehlt,  haben  in  drastischer  Weise  gezeigt,  zu  welch  fundamentalen  Irrthümem 


1)  R.  G.  D.  A.  ed.  Mommsen  p.  86. 

2)  Wie  allerdings  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  von  Friedländer  a.  a.  0.  I^,  51  und  Mar- 
quardt  a.  a.  0.  II,  147  angenommen  wird. 

3)  Vgl.  Rodbertus  in  den  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  und  Statistik  1874,  S.  4. 

4)  Vgl.  Marquardt  a.  a.  0.  II,  117  flF.  und  den  Excurs  bei  Friedländer  I^,  51  ff.,  welche  beide 
unter  Berücksichtigung  der  früheren  eigene  Berechnungen  aufgestellt  haben. 

5}  Vgl.  z.  B.  Marquardt  I^,  121 :  »Wenn  man  mit  Gibbon  aus  der  Zahl  der  Häuser  auf  die 
Einwohnerzahl  einen  Schluss  machen  will,  so  muss  man  die  Verhältnisse  einer  dicht  zusammen- 
gedrängten Bevölkerung  zu  Grunde  legen.  In  Paris  kamen  1872  auf  ein  Haus  28,4,  in  Berlin 
1871  dagegen  57,14  Personen.  Rechnet  man  in  Rom  auf  das  Haus  29,  so  ergiebt  dies  1,832,637 
Einwohner,  rechnet  man  57,  so  erhält  man  2,619,321  Einw.    Ein  in  der  Mitte  liegender  Ansatz 


I.  Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachslhums  der  grossen  SUidte  etc.  23 

fast  mit  Nothwendigkeit  Schätzungen  und  Berechnungen  führen  müssen  ^  die  an 
der  Hand  wenig  sicherer  Anhaltspunkte  und  mittelst  moderner  Durchschnitts- 
und Verhältnisszahlen  vorgenommen  werden  ^).  Wenn  man  das  Resultat  der  einen 
von  den  zwei  aus  dem  Mittelalter  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  genauen  Volks- 
zählungen —  der  von  Nürnberg  aus  dem  Jahre  H49  —  mit  den  auf  Schätzung 
beruhenden  Angaben  von  Schriftstellern  derselben  Epoche  vergleicht  und  dabei 
die  entmuthigende  Wahrnehmung  macht,  wie  weit  sich  selbst  Zeitgenossen  mit 
ihren  Schätzungen  von  der  Wahrheit  entfernen  können^),  so  wird  man  kaum 
zweifelhaft  darüber  sein,  dass  vollends  die  Nachlebenden  auf  solches  Experimen- 
tiren verzichten  sollten.  Kann  ja  doch  schon  eine  einzige  Fehlschätzung  das  ganze 
historische  Bild  verunstalten  und  zu  den  allerverkehrtesten  Schlüssen  führen. 
Mit  einleuchtender  Schärfe  ist  dies  jüngst  —  eben  mit  Beziehung  auf  die  mittel- 
alterliche Bevölkerungsstatistik  —  von  Bücher  hervorgehoben  worden  ^],  und  auch 
wir  glauben  hier  unsererseits  mit  besonderem  Nachdruck  darauf  hinweisen  zu 
müssen,  da  noch  neuerdings  selbst  aus  den  Kreisen  der  historischen  Schule  die 
wissenschaftliche  Berechtigung  der  Schätzung  behauptet  worden  ist,  und  insbe- 
sondere die  Alterthumskunde  noch  immer  daran  festhält,  dass  es  mit  ihrer  Hülfe 
möglich  sei,  antike  Bevölkerungsfragen  »ihrer  Lösung  näher  zu  führen «r 4). 

Auch  das  Areal,  auf  dem  sich  die  grossstädische  Bevölkerung  zusammen- 
drängte, entzieht  sich  jeder  genaueren  Berechnung.  Der  Flächengehalt  des  wirk- 
lich städtisch  bebauten  Terrains  (die  Vorstädte  inbegriffen)  ist  für  keine  antike 
Grossstadt  mehr  zu  constatiren;  eine  Aufgabe,  die  übrigens  selbst  für  die  Zeit- 
genossen keine  so  ganz  einfache  gewesen  wäre.  »Wer  die  Grösse  Roms  ausfindig 
machen  wollte,  meint  Dionysius  von  Halikamass,  der  würde  nothwendig  in  Ver- 
legenheit gerathen  und  kein  sicheres  Kennzeichen  besitzen,  wo  die  Stadt  aufhört 
und  das  Land  anfängt.  So  innig  ist  die  Stadt  mit  dem  Lande  verwoben  und  er- 
weckt in  dem  Beschauer  die  Vorstellung  einer  unbegrenzten  Ausdehnung  ff^). 


von  35  Personen  auf  das  Haus  würde  dagegen  auf  4,608,355  Einwohner  fdhren«.  —  Ein  Resul- 
tat, das  dann  ge Wissermassen  zur  Bestätigung  der  vom  Verfasser  auf  anderem  Wege  gefundenen 
Bevölkerungsziffer  von  4,610,000  Einw.  dienen  soll.  Die  gänzliche  Werthlosigkeit  dieses  Ver- 
fahrens, die  übrigens  an  sich  klar  ist,  zeigen  auch  die  abweichenden  Resultate  Wintersheims 
;Völkerwanderung  I,  262),  die  in  analoger  Weise  gewonnen  sind. 

4)  Vgl.  Bücher,  Zur  mittelalterlichen  Bevölkerungsstatistik  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
Frankfurt  a.  M.;  in  der  Tüb.  Zeitschr.  für  die  ges.  Staatswissenschaft  (4884)  S.  585.  Was  hier 
im  ersten  »allgemeinen  Theile«  über  die  Anwendung  der  statistischen  Methode  auf  die  Erfor- 
schung des  mittelalterlichen  Gesellschafts-  und  Wirthschaftslebens  gesagt  wird,  verdient  auch 
von  der  classischen  Alterthumskunde  wohl  beherzigt  zu  werden. 

2)  Vgl.  Bücher  a.  a.  0.  S.  544  f. 

3)  A.  a.  O.  Die  neuerdings  hervortretende  beachtenswerthe  Reaction  gegen  Büchers  eigene 
bevölkerungsstatistische  Ergebnisse  kann  der  Richtigkeit  des  oben  angedeuteten  allgemeinen 
Gesichtspunktes  natürlich  keinen  Eintrag  thun. 

4)  So  Friedländer  mit  Beziehung  auf  die  Frage  nach  der  Bevölkerung  Roms  a.  a.  0.  P,  S.  54. 
Wir  können  es  auch  Rodbertus  nicht  zugeben ,  dass  auf  dem  von  Friedländer  mit  so  aner- 
kennenswerther  Besonnenheit  und  Vorsicht  betretenen  Wege  »zu  einer  annähernd  richtigen 
Bevölkerungsziffer  zu  gelangen«  sei.  Vgl.  Rodbertus  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie 
und  Stotistik  4874  (2),  S.  4. 

5)  IV,  48. 


24  I*   Allgemeine  Voraussetzungen  des  WachsUiuins  der  grossen  Stttdle  etc. 

Gans  das  Bild  der  modernen  auf  das  Land  hinaus  sieh  ausbreitenden  Grossstädte, 
bei  denen  es  ebenfalls  kaum  mehr  möglich  ist,  eine  irgendwie  feste  Grenze  zwi- 
schen Stadt  und  Land  zu  ziehen  ^).  »Ueberall  griffen  die  Ausläufer  der  Stadt  in 
die  Gampagna  hinaus  und  verschlangen  nach  und  nach  die  zahlreichen  umliegen- 
den  Flecken  und  Ortschaften  und  ihre  Vorstädte  verloren  sich  in  neuen  Anlagen 
prachtvoller  Landhäuser,  Tempel  und  Monumente,  deren  marmorne  Zinnen, 
Giebel  und  Kuppeln  aus  dem  dunklen  Grttn  der  Haine  und  Gärten  hervorleuch- 
teten«^). 

Zwar  hat  man  in  Rom  unter  Vespasian  eine  Vermessung  des  städtisch  über- 
bauten Areals  (ubi  continenti  habitatur,  usque  ad  extrema  tectorum)  vorgenom- 
men, allein  der  unvollständige  und  unklare  Bericht  des  Plinius^)  ermöglicht  eine 
ziffernmässige  Kenntniss  nur  für  den  Umfang,  nicht  aber  für  den  Flächeninhalt 
desselben,  wobei  im  Hinblick  auf  die  angedeutete  Schwierigkeit,  die  Grenze  städti- 
scher Bebauung  genau  zu  fixiren,  nicht  einmal  die  Angabe  der  Umfangszahl  ohne 
alle  Bedenken  ist.  Auch  der  von  Dureau  de  la  Malle  ^)  auf  4396,469  Hektaren 
berechnete  Flächeninhalt  des  von  der  Aurelianischen  Mauer  umschlossenen  Ter- 
rains giebt  keinen  genügenden  Aufschluss  über  die  Ausdehnung  der  damaligen 
bewohnten  Stadt.  Allerdings  beabsichtigte  diese  Umwallung  der  Bevölkerung 
einen  möglichst  vollständigen  Schutz  zu  gewähren,  allein  die  fortificatorischen 
Rücksichten  gestatteten  bei  Weitem  nicht  alles  städtisch  bebaute  Gebiet  in  die 
Enceinte  hineinzuziehen^).  Nicht  nur  erscheinen  mehrere  Abschnitte  der  in  der 
bekannten  SUdtbeschreibung  aus  der  Zeit  Constantins  zur  Regionenstadt,  der 
urbs  XIV  regionum,  gerechneten  Quartiere  rein  städtischen  Charakters  von  der 
Mauer  ausgeschlossen^),  sondern  es  muss  auch  —  nach  der  scharfsinnigen  Beweis- 
führung von  Rodbertus^)  —  die  Differenz  zwischen  der  Befestigungslinie  und  der 
Aussenlinie  der  Vorstädte  eine  sehr  beträchtliche  gewesen  sein.  Was  vollends 
die  Angaben  der  constantinischen  Städtbeschreibung  über  die  Umfangszahlen  und 
die  Grenzen  der  Städtbezirke,  der  Regionen,  betrifft,  so  kann  eine  von  so  un- 
sicherer Grundlage  ausgehende  Schätzung  nur  zu  schlimmen  Fehlschlüssen  führen. 
Oder  sollten  wir  mit  dem  neuesten  deutschen  Topographen  Roms,  den  das  man- 
gelhafte Material  nicht  vor  einer  solchen  Schätzung  der  Grösse  der  constantini- 
schen Städt  zurückschreckt,  annehmen  können,  dass  diese  Weltmetropole  nur 
einen  Flächenrauni  von  höchstens  900  Hektären  (9  Millionen  DM.)  bedeckte^)?  — 
Ein  Grössenverhältniss,  das  sich  sofort  in  seiner  inneren  Unmöglichkeit  heraus- 


1)  Vgl.  z.  B.  mit  Bezug  auf  London  die  Vierteljahrsschrift  für  Voikswirthschaft  und  Cultur- 
geschichteXI,  3,  44. 

2]  Friedlander  a.  a.  0.  I,  10. 

3j  H.  N.  111,  66,  67.  Vgl.  dazu  Jordan,  Topographie  der  Stadt  Rom  im  Alterth.  II,  86 ff. 

4}  A.  a.  0.  1,  847  etwas  mehr  als  2/5  des  Flächeninhalts  von  Paris  im  Jahre  4840. 

5}  Vgl.  schon  Niebuhr,  Beschreibung  Roms  I,  145. 

6)  Vgl.  Jordan  I,  345. 

7)  Auf  Grund  der  charakteristischen  Gegenüberstellung  der  intramurani  und  extramurani 
in  der  nach  dem  aureliani sehen  Mauerbau  verfassten  Vita  Elagabali  c.  27.  Vgl.  auf  Grund 
brieflicher  Mittheilungen  Rodbertus'  die  Ausführung  bei  Friedländer  a.  a.  0.  S.  59. 

8)  Jordan  I,  548. 


I.  Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Stttdte  etc.  25 

Stellt,  wenn  man  bedenkt,  dass  schon  eine  Stadt,  wie  unser  Köln,  mit  436000 
£inwohnem  und  einer  selbst  Berliner  Verhältnisse  übersteigenden  Dichtigkeit 
der  Bevölkerung,  sich  über  eine  Fläche  von  770  Hektaren  ausbreitet*),  ganz  ab- 
gesehen von  den  5924  Hektaren  Berlins  2)  oder  gar  der  Grösse  anderer,  an  die 
Millionenstadt  Rom  nicht  entfernt  heranreichender  Städte,  wie  z.  B.  Königsbergs 
(2042  Hekt.),  Hannovers  (2472),  Breslaus  (3024) »). 

Es  dürfte  nach  dem  Gesagten  wohl  gerechtfertigt  erscheinen,  dass  wir  den 
modernen  Berechnungen  der  Grösse  der  Stadt  und  ihrer  Einwohnerschaft  keinen 
Einfluss  auf  die  Beantwortung  unserer  Frage  gestatten,  und  damit  auf  jede  Ziffern- 
massige  Ermittlung  der  Agglomeration  der  Bevölkerung  verzichten.  Und  Gleiches 
gilt  natürlich  für  alle  anderen  Grossstädte,  für  welche  uns  ja  noch  weniger  An- 
haltspunkte zu  Gebote  stehen,  als  für  Rom.    Diese  Lücke  in  unserer  Renntniss, 
die  wir  bei  den  gegenwärtigen  Hülfsmitteln  als  eine  unausfüllbare  bezeichnen 
müssen ,  darf  übrigens  in  ihrer  Bedeutung  nicht  überschätzt  werden.    Aus  der 
rohen  Verhältnisszahl  zwischen  der  Grösse  der  Bevölkerung  und  der  ihres  Wohn- 
areals ist  ja  für  die  Frage  nach  dem  günstigen  oder  ungünstigen  Zustande  der 
Bevölkerung  nicht  viel  zu  entnehmen;  und  eine  Uebervölkerung  kann  bei  jedem 
Verhaltniss  zwischen  Volkszahl  und  Wohnfläche  eintreten,  sobald  nur  das  Gleich- 
gewicht zwischen  der  Productions-  und  Gonsumtionsfähigkeit  der  Bevölkerung 
oder  einzelner  Schichten  derselben  gestört  ist.    Es  eröffnet  allerdings  eine  be- 
deutsame Perspective,  wenn  uns  die  moderne  Statistik  darüber  aufklärt,  dass 
z.  B.  in  Berlin  (4878)  im  Allgemeinen  4,32  DRuthen  auf  den  Einwohner  kamen, 
in  den  Theilen  innerhalb  der  Ringmauer  aber  nur  1 ,70,  dass  innerhalb  des  letz- 
teren Rayons  nur  8  Stadtbezirke  mehr  als  3,60  DR.  auf  den  Einwohner  hatten, 
ausserhalb  bereits  31^).  Allein  Leben  gewinnen  diese  Zahlen  erst  durch  eine  ein- 
dringende vergleichende  Analyse  sämmtlicher  Erscheinungen  des  socialen  und 
physischen  Lebens  der  nach  dem  Dichtigkeitsgrade  des  Wohnens  local  geschie- 
denen Bevölkerungsgruppen.   Auch  bezeichnet  ja  die  durch  die  Reduction  nach 
der  bewohnten  Fläche  ausgedrückte  Dichtigkeit  (density)  und  die  auf  analogem 
Wege  gefundene  gegenseitige  Nähe  (proximity,  Entfernung  der  Bewohner  von 
einander)  ^)  noch  nicht  dasjenige  Dichtigkeitsverhältniss ,  welches  eigentlich  erst 
für  das  Vorhandensein  einer  Übervölkerung  beweisend  ist,  nämlich  die  Dichtig- 
keit des  Beisammenwohnens  in  Gebäuden  und  Stuben.    Dass  uns  freilich  auch 
für  diese  einen  zahlenmässigen  Ausdruck  zu  finden  versagt  ist,  müssen  wir  als 
eine  der  empfindlichsten  Lücken  unseres  Wissens  auf  diesem  Gebiete  bezeichnen. 


i)  Vgl.  Zeitschr.  des  preuss.  stat.  Bureaus  4877  den  Aufsatz  über  die  Dichtigkeit  der  Be- 
völkerung in  Preussen  und  die  mittleren  Abstände  der  Bewohner  von  einander,  S.  496.  Was 
die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  betrifft,  so  kamen  nach  der  Zählung  von  4  875  auf  4  00  Hektaren 
in  Berlin  46384,  in  Köln  47584  Bewohner,   s.  ebd. 

2)  ib.  mit  Bezug  auf  das  Jahr  4875,  wo  Berlin  etwa  4  Million  Einwohner  hatte,  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  kaum  mehr ,  als  Rom  selbst  noch  unter  Gonstantin  gehabt  haben  dürfte. 

3)  ib. 

4)  Vgl.  Statistisches  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin  4  878  (4.  Jahrg.),  S.  3. 

5)  Vgl.  über  diese  und  ihre  Berechnung  die  Zeitschr.  des  preuss.  stat.  Bureaus  4877, 
S.  476f. 


26  I-    Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Stödte  etc. 

sowenig  wir  auch  verkennen,  dass  bei  den  völlig  abweichenden  YerfaSlUnissen  des 
socialen  Lebens  im  Alterthum  die  Grösse  des  Wohnraums  weit  minder  entschei- 
dend fttr  das  gesammte  Wohlbefinden  der  Bevölkerung  war,  als  heutzutage^).  — 
Nicht  minder  wichtig  als  die  Renntniss  des  Standes  der  Bevölkerung  wäre 
fttr  uns  eine  auf  statistischen  Erhebungen  beruhende  Aufklärung  über  die  Be- 
wegung derselben^  den  Bevölkerungswechsel.  Denn  dieser  letztere  ist  abhängig 
von  Ursachen,  welche  ihrer  Natur  und  ihrer  Intensität  nach  so  innig  mit  den  be- 
sonderen socialen  Zuständen  zusammenhängen,  dass  sich  in  ihrer  combinirten 
Wirkung  —  d.  h.  eben  in  der  Bewegung  der  Bevölkerung  —  diese  Zustände  auf 
das  deutlichste  wiederspiegeln  ^).  —  Es  kann  jetzt  keinem  Zweifel  mehr  unter- 
liegen, dass  die  statistischen  Aufnahmen  im  alten  Rom  ausgebildet  geiiug  waren, 
um  fttr  die  Beantwortung  vieler  hier  in  Betracht  kommenden  Fragen  vortreffliches 
Material  zu  bieten.  Aus  den  amtlichen  Geburtslisten  ^j,  die  nicht  nur  Name  und 
Geschlecht  des  Kindes,  sondern  auch  Name  und  Stand  der  Eltern  aufführten, 
waren  die  bedeutsamsten  Aufschlttsse  ttber  die  eheliche  Fruchtbarkeit  im  Allge- 
meinen und  der  einzelnen  Bevölkerungsclassen  im  Besonderen  zu  gewinnen. 
Mit  Httlfe  der  amtlichen  Todtenlisten,  aus  denen  uns  noch  durch  Sueton  und  Euse- 
bius  einzelne  statistische  Angaben^)  erhalten  sind,  liess  sich  ein  zweites  wichti- 
ges Symptom  der  allgemeinen  Verfassung  des  Yolkskörpers ,  nämlich  das  Sterb- 
lichkeitsverhältniss  ^)  constatiren,  wenn  auch  nicht  leicht  fttr  die  gesammte  Ein- 
wohnerschaft Roms,  so  doch  wenigstens  fttr  einzelne  ihrer  Gesammtzahi  nach 
bekannte  Bevölkerungsgruppen ,  wie  z.  B.  fttr  die  socialpolitisch  wichtigste  der 
plebs  urbana.  Auch  war  es  nicht  bloss  die  als  Gradmesser  fttr  die  Gesundheits- 
verhältnisse so  trttgerische  allgemeine  Sterblichkeitsziffer,  ttber  die  die  römische 
Mortalitätsstatistik  —  innerhalb  der  angedeuteten  Grenzen  —  leichten  Aufschluss 
gewährte,  sie  ermöglichte  sogar  die  fttr  die  Erkenntniss  der  wirklichen  Sterblich- 
keit und  deren  Ursachen  ungleich  wichtigere  Berechnung  besonderer  Sterblich- 
keitsziffern fttr  die  einzelnen  Altersgruppen,  da  sie  zugleich  eine  Statistik  der 
Sterbefälle  nach  dem  Alter  darstellte,  auf  Grund  deren  in  Rom  in  der  That  Über- 
sichten der  Altersclassen  der  yei*storbenen  angefertigt  wurden®).  Wenn  dagegen 
der  Gensus  eine  sehr  sorgfältige,  auch  auf  die  unfreie  Bevölkerung  sich  er- 
streckende Altersstatistik  der  Lebenden  lieferte  und  Zusammenstellungen  der 
einzelnen  Altersclassen  ermöglichte,  welche  die  Gesammtziffer  der  denselben  an- 
gehörenden Personen  genau  angaben  und  den  Altersaufbau  der  ganzen  censirten 

4)  Vgl.  darüber  Capitel  3,  sowie  Rodbertus  (Jahrbücher  für  Nationalökon.  und  Stat  4874, 
S.  27),  der  übrigens  eine  Berechnung  »der  Bewohnerzahl  für  den  Wohnraum  einer  römischen 
insula«  für  möglich  gehalten  zu  haben  scheint. 

2)  Vgl.  Wappäus,  Bevölkerungsstatistik  I,  420;  Quetelet,  Physique  sociale  I,  458 f. 

3)  Civitstandsregister  in  Rom  schon  seit  der  Königszeit!  In  der  Kaiserzeit  war  mit  der 
Führung  derselben  das  Ärar  im  Tempel  des  Saturn  betraut,  das  zugleich  das  Staatsarchiv  ent- 
hielt. Vgl.  Hildebrand ,  Die  amtliche  Bevölkerungsstatistik  im  alten  Rom  a.  a.  0.  S.  85. 

4)  Vgl.  Hildebrand  a.  a.  0. 

5)  d.  h.  das  Verhöltniss  der  während  eines  Jahres  Gestorbenen  zur  mittleren  Bevölkerung 
desselben  Jahres ,  heutzutage  gewöhnlich  ausgedrückt  durch  Reduction  der  Gestorbenen  auf 
4  000  Seelen  der  Bevölkerung. 

6)  Vgl.  Hildebrand  a.  a.  0.  S.  92. 


I.   Allgemeine  Voraussetzungen  des  Wachsthums  der  grossen  Städte  etc.  27 

Reichsbevölkerung  klar  veranschauliehteD  *) ,  so  war  freilich  die  Verwerthung 
dieser  Resultate  des  Census  für  die  grossstädtische  Bevölkerungsfrage  dadurch 
besonders  erschwert,  dass  die  Listen  der  einzelnen  Zahlungsorte  zunächst  nur 
die  rechtliche,  nicht  die  factische  Bevölkerung  angaben.  Andererseits  scheint  sich 
die  rein  praktische  Tendenz  der  römischen  Bevölkerungsstatistik  auch  insofern 
geltend  gemacht  zu  haben,  als  s'e  ein  für  die  socialpolitische  Beurtheilnng  der 
Bevölkerungszustände  so  wichtiges  Moment,  wie  die  Statistik  der  Eheschliessun- 
gen, nicht  in  den  Kreis  ihrer  Thätigkeit  gezogen  hat. 

Allein  wenn  auch  auf  diesem  Gebiete  Manches  verraisst  werden  mag,  so  darf 
es  doch  immerhin  als  eine  der  empfindlichsten  Lücken  unserer  culturgeschicht- 
liehen  Kenntniss  der  Antike  bezeichnet  werden,  dass  von  den  Resultaten  jener 
bedeutsamen  Versuche  des  antiken  Staates,  durch  Massenberechnungen  die  Er- 
scheinungen des  Volkslebens  arithmetisch  aufzufassen,  nur  einiges  Wenige  in  die 
Literatur  Eingang  gefunden  hat.  Insbesondere  haben  wir  es  hier  zu  beklagen, 
dass  uns  fast  keine  Zahl  erhalten  ist,  welche  für  die  Beurtheilnng  des  civilisato- 
rischen  Werthes  oder  Unwerthes  der  Volksvermehrung  in  Rom  und  anderen 
Grossstädten  einen  Anhaltspunkt  böte.  Eine  Lücke  doppelt  fühlbar  für  uns,  die 
wir  uns  daran  gewöhnt  haben,  das  gesammte  moderne  Gesellschafts-  und  Wirth- 
schaftsleben  ziffernmässig  zu  zerlegen  und  zu  begreifen,  und  denen  es  daher  zum 
Bedürfniss  geworden  ist,  auch  die  socialen  Erscheinungen  der  Vergangenheit  nach 
den  Ergebnissen  quantitativer  Messung  zu  gruppiren  und  in  ihren  inneren  Be- 
ziehungen auf  Grund  reciproker  Zahlenreihen  zu  ermitteln.  Trotzdem  wird  es, 
solange  nicht  etwa  neues  InschriftenmateriaP)  ergänzend  eintritt,  immer  noch 
besser  sein ,  Resignation  zu  üben  und  unumwunden  anzuerkennen,  dass  uns  — 
von  ein  paar  Zahlen  abgesehen  —  wirklich  gemessene  oder  noch  messbare  Symp- 
tome fttr  eine  Analyse  der  grossstädtischen  Krankheitserscheinungen  nicht  zu 
Gebote  stehen,  als  wenn  wir  mit  denen  im  Dunkeln  tappen  würden,  die  nun  ein- 
mal nicht  darauf  verzichten  zu  können  glauben ,  für  Thatsachen ,  die  sich  bei  der 
Natur  unserer  Quellen  jeder  quantitativen  Bestimmung  entziehen ,  einen  zahlen- 
mässigen  Ausdruck  zu  suchen. 


4)  V^I.  Hildebrand  S.  89  f.,  der  allerdings  auf  die  uns  hier  speciell  beschäftigenden  Ge- 
sichtspunkte nirgends  eingeht 

2)  Diesen  oder  jenen  für  die  Beurtheilnng  der  Bevölkerungszustände  wichtigen  Aufschluss, 
so  z.  B.  über  die  ungeheure  Kindersterblichkeit  in  Rom,  gewähren  die  Inschriften  schon  jetzt. 


II. 

Staat,  Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  in  ihrer  Bedeutung  für 

die  grossstädtische  Bevölkerungsfrage. 

Prodactionaord-  Die  Einwirkung  der  Volksvermehruag  auf  die  Statik  der  der  Gesellschaft 
"*^^Mo™^'  förderlichen  und  nachtheiligen  Kräfte  hängt  wesentlich  ab  von  der  Art  und  Weise 
der  Gestaltung  des  gesammten  Volksorganismus  überhaupt.  Übervölkerung  d.  h. 
Störung  des  Gleichgewichts  zwischen  Erwerb  und  Unterhaltsbedarf  einer  Be- 
völkerung oder  einzelner  Classen  muss  eintreten,  wenn  die  Bevölkerung  in  sUjr- 
kerer  Progression  anwächst  als  die  Summe  der  Existenzmittel,  oder  wenn  die 
Vertheilung  des  Volkseinkommens  sich  zu  Ungunsten  ganzer  Bevölkerungsschich- 
ten allzu  einseitig  verschiebt.  Die  Ergiebigkeit  der  Production  aber  und  die 
Nutzbarmachung  ihres  Ertrages  für  eine  möglichst  grosse  Anzahl  von  Individuen 
ist  bedingt  durch  den  Gesammtcharakter  des  Gesellschafts-  und  Wirthschafts- 
lebens,  welch  letzterer  freilich  seinerseits  wieder  durch  den  Grad  der  Volksver- 
mehrung mächtig  beeinflusst  wird.  Treffend  hat  daher  Adolf  Wagner  die 
Frage  der  zulässigen  Volksdichtigkeit  dahin  beantwortet ,  dass  die  letztere  einer- 
seits abhängt  von  der  Technik  und  Ökonomik  der  Production  und  den  natürlichen 
Bedingungen  derselben,  andererseits  von  der  geltenden  wirthschaftlichen  Rechts- 
ordnung für  die  Production,  den  Erwerb,  den  Handel.  »Insoweit  hat  —  wie  man 
mit  Wagner  wohl  behaupten  darf  —  der  Socialismus  eines  Marx  ganz  Recht,  dass 
jede  Productionsordnung  auch  ihr  eigenes  Bevölkerungsgesetz  hat;  richtiger  aus- 
gedrückt :  dass  der  Spielraum  der  Volksvermehrung  und  der  Volksdichtigkeit,  die 
Capacität  eines  Gebietes  in  Beziehung  auf  die  Volkszahl  von  der  Eigenthums- 
und  Erwerbsordnung  wesentlich  mitbestimmt  wird«^). 
Die  Bedeatnng  Für  die  Grossstadt,  wo  die  Wohlfahrt  oder  die  Existenz  gewaltiger  dicht  zu- 

der  Industrie  ffl^ 

die  gro888t&dii-  sammengedränster  Volksmasscu  an  der  höchstmöglichen  Fruchtbarkeit  der  socialen 

»cheBeTölke-  ,  ,  , 

rungefrage.  Productiou  hängt,  ist  CS  ciue  volkswirthschaftliche  Nothwendigkeit,  dass  sie  zu- 
gleich Industriestadt  ist^).  Auch  in  Rom  hat  die  grossstädtische  Entwicklung  eine 
bedeutende  industrielle  Betriebsamkeit  zur  Folge  gehabt;  und  die  fabrikmässige 


1)  Vgl.  A.  Wagner  in  der  A.  Allg.  Zeitg.  4  880,  S.  «481. 

2)  Vgl.  Engel,  Die  Industrie  der  grossen  Städte.   Eine  socialstatistische  Betrachtung.  Ber- 
liner städtisches  Jahrbuch  1868,  S.  434. 


II.  Staat,  Gesellschaft  und  Volks wirthschaft  in  ihrer  Bedeutung  etc.  29 

Ausbildung  und  Masseuproduction  einzelner  Gewerbszweige,  wie  z.  B.  der  Metall- 
industrie, der  Tuehmanufacturen;  der  Kunstgewerbe^),  die  sehr  weit  entwickelte 
Theilung  der  Arbeit  bis  in  die  handwerkmassigen  Kleinbetriebe  hinein^),  das 
Auftreten  genossenschaftlicher  Elemente  im  Gewerbsleben  3)  sind  bedeutsame 
Symptome  einer  mit  der  Agglomeration  der  Bevölkerung  fortschreitenden  Lei- 
stungsfähigkeit der  Production.  —  Allein  so  sehr  dies  gegenüber  weitverbreiteten 
Vorstellungen  von  der  »Nahrungslosigkeit«  des  alten  Rom^)  hervorgehoben  wer- 
den muss,  so  kann  doch  andererseits  kein  Zweifel  sein,  dass  in  Rom  die  Summe 
des  durch  gewerbliche  Thätigkeit  neugeschaffenen  und  gesteigerten  Einkommens 
der  Population  ganz  unverhältnissmässig  hinter  der  Bevölkerungszunahme  zurück- 
blieb. Auf  dem  Arbeitsleben  der  Welthauptstadt  lastete  der  Druck  der  Universal- 
berrschaft,  welche  die  Ausnützung  fremder  Production  zum  Princip  der  römischen 
Ökonomie  erhob  und  dadurch  die  Spannkraft  zu  eigener  Productivität  lähmte. 
Die  Capitalmacht,  welche  sich  in  Rom  concentrirte ,  war  zum  grossen  Theil  nicht 
erarbeitet,  sondern  erobert ,  auf  mehr  oder  minder  unproductivem  Wege  gewon- 
nen durch  Tribute,  Zölle  und  Erpressungen,  durch  Monopolisirung  des  Geld  Ver- 
kehrs und  sonstige  Ausnützung  der  Provinzen,  der  »praedia  populi  Romani«. 
Diese  Art  des  Erwerbes  gab  dem  Verkehrsleben  Roms  eine  gewisse  unproductive 
Richtung.  Das  in  Rom  zusammenströmende  Capital  trat  zum  grossen  Theil  nicht 
als  ein  lebendiger  productiver  Factor  der  heimischen  Industrie  auf,  sondern 
wandte  sich  mit  Vorliebe  wirthschaftlich  gar  nicht  oder  wenig  productiven  Unter- 
nehmungen zu,  Steuerpachtungen,  Wechsler-  und  Wuchergeschäften  u.  dgl.  Der 
Überfluss  an  Tauschwerthen,  welche  die  enorme  Ansammlung  von  Edelmetallen 
in  Rom  erzeugte,  legte  der  Gapitale  die  Erzeugnisse  des  Gewerbe-  und  Kunst- 
fleisses  einer  Welt  zu  Füssen.  All  das  wirkte  dem  Aufischwung  der  römischen 
Industrie  entgegen  und  prägte  dem  Handel  Roms  jenen  Charakter  der  Passivität 
auf,  den  man  sich  mit  opulenter  Gleichgültigkeit  gefallen  Hess ,  obwohl  dadurch 
Rom  mehr  und  mehr  in  Abhängigkeit  von  der  auswärtigen  Production  gerieth  ^). 


4}  Vgl.  Blümner,  Die  gewerbliche  Thötigkeit  der  Völker  des  classischen  Alterthums  S.4  4S, 
der  übrigens  die  intensive  und  extensive  Entwicklung  der  Industrie  Roms  einigermassen 
unterschätzt« 

5)  Siehe  die  charakteristischen  Beispiele ,  die  Friedender,  Sittengeschichte  P,  266  f.  zu- 
sammengestellt hat.  Vgl.  die  Aufzählung  der  Berufsarten,  die  sich  aus  dem  ManufacturgeschKft 
entwickelt  haben,  bei  Marquardt,  Privatalterthümer  IP,  566 ;  s.  ebd.  S.  605  ff.  über  die  Bau- 
gewerke,  wo  die  Arbeitstheilung  in  einer  selbst  für  unsere  Zeit  überraschenden  Weise  fortge- 
schritten erscheint  Vgl.  S.  652  ff.  über  die  Metall techniken. 

3}  Wallon,  Histoire  de  Tesclavage  III,  4  09  und  die  sehr  einleuchtenden,  wenn  auch  aller- 
dings hypothetischen  Erörterungen  über  die  Bedeutung  der  römischen  coUegia  opiflcum  bei 
Herzog,  Gallia  Narbonensis  488  ff.   Vgl.  Schiller,  Nero  489. 

4)  Vgl.  z.  B.  Mommsen,  R.  G.  III,  497,  der  noch  dem  Rom  der  Zeit  Ciceros  und  Gäsars 
ohne  Weiteres  die  »Industrielosigkeit  des  heutigen  (d.  h.  des  päpstlichen]  Rom«  zuschreibt  I 
Noch  weniger  zutreffend  ist  natürlich  Dureau's  Vergleich  mit  Versailles  und  Madrid.  Econ. 
pol.  I,  406. 

6)  Vgl.  zu  obiger  Ausführung  v.  Scheel,  Die  wirthschaftlichen  Grundbegriffe  im  Corpus 
juris  civilis.  Jahrb.  für  Nationalökonomie  und  Statistik  4866,  Bd.  VI,  S.  880  und  ebd.  die  Abh. 
über  den  Begriff  des  Geldes  in  seiner  historisch-ökonomischen  Entwicklung ,  wo  Scheel  S.  24 
im  Hinblick  auf  die  unproductive  Gestaltung  des  Verkehrslebens  Roms  auch  darauf  hinweist, 


30  n.  Staat,  Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  in  ihrer  Bedeutung  etc. 

Während  von  dem  Export  römischer  Industrieerzeugnisse  nur  ausnahmsweise 
die  Rede  ist*),  nennt  Plinius  den  Tiber  den  milden  Kaufherrn  aller  Dinge, 
die  auf  Erden  erzeugt  werden^).  Die  Güter  der  ganzen  Welt  konnte  man  in  Rom 
in  der  Nähe  prüfen^).  j)Was  die  Arbeit  der  Hellenen  und  Barbaren  erschaflFt,  — 
sagt  Aristides  in  seiner  Lobrede  auf  die  Stadt  —  kommt  zu  Euch.  Wenn  also 
jemand  Willens  ist,  all  das  zu  schauen,  so  muss  er  entweder  die  ganze  Welt 
durchreisen,  oder  sich  in  dieser  Stadt  aufhalten.  Denn  was  bei  allen  Völkern 
erzeugt  und  bereitet  wird ,  das  ist  hier  zu  allen  Zeiten  im  Überfluss  vorhanden. 
So  viele  Lastschiffe  kommen  hierher  aus  allen  Ländern  im  ganzen  Sommer  und 
Herbst,  dass  die  Stadt  einer  aligemeinen  Werk  statte  der  ganzen  Erde  gleicht«^). 
»Hierher  kommt,  was  alle  Kttnste  und  Ge werke,  so  viele  es  deren  giebt,  produ- 
ciren«^).  In  der  Thät  ein  glänzendes  Schauspiel  dieser  Weltbazar!  Und  doch 
welch  ein  Mangel  an  wirthschaftlicher  Kraft  zeigt  sich  auf  der  Kehrseite  des 
Bildes!  Ein  Mangel,  der  für  die  Lage  der  ganzen  Bevölkerung  von  grösster  Be- 
deutung sein  musste. 

Man  stelle  neben  dieses  Rom,  dessen  höchste  wirthschaftliche  Leistung  darauf 
hinausläuft,  ein  Stapelplatz  für  die  Weltproduction  zu  sein,  die  moderne  vorzugs- 
weise durch  eigene  Gewerbsamkeit  wachsende  Grossstadt,  etwa  Paris,  dessen 
Zustände  man  seit  Dureau  de  la  Malle  und  Mommsen  ^)  so  gerne  zur  Vergleichung 
mit  denen  Roms  heranzieht.  Hier  finden  wir  in  Wirklichkeit,  was  in  Rom  nur 
Schein,  eine  allgemeine  Werkstätte  für  die  Welt.  Hier  hat  die  grossstädtische 
Entwicklung,  insbesondere  die  auf  der  internationalen  Mischung  der  Bevölkerung 
beruhende  Concentration  der  verschiedensten  fremdländischen  Anschauungen, 
Bestrebungen  und  Bedürfnisse  in  Einer  Stadt  eine  Anregung  für  die  Erweiterung 
und  Vervollkommnung  ihrer  Productionsmittel  und  die  Gestaltung  ihrer  Producte 
gegeben,  welche  die  städtische  Industrie  in  den  Stand  setzte,  durch  die  Befriedi- 
gung der  Bedürfnisse  und  Geschmacksrichtungen  der  verschiedensten  Völker  und 
Zonen  auf  die  Erzeugnisse  der  eigenen  Arbeit  einen  Markt  für  den  Weltconsum 
zu  gründen,  sowie  durch  die  zur  höchsten  Vollkommenheit  gebrachte  Ausbildung 
vieler  einzelner  Zweige  auf  die  weitere  technische  Entwicklung  und  die  Ge- 


dass  wir  im  römischen  Recht  nirgends  den  Begriff  des  Productivcapitals ,  sondern  nur  des  in 
Tauschwerthen  bestehenden  Capitals  finden ,  wo  das  Geld  nicht  als  zur  Production  bestimmt, 
sondern  als  rein  consumtibles  erscheint.  Vgl.  auch  Bruder  in  der  Tübinger  Ztschr.  für  Staats- 
wissenschaft 1876,  S.  636. 

4)  Vgl.  Blümner  a.  a.  0.,  der  allerdings  wohl  etwas  zu  weit  geht,  wenn  er  die  Erzeugung 
»eigentlicher  Ausfuhrartikel«  Rom  ganz  und  gar  abspricht.   S.  ebd.  S.  4  43. 

5)  N.  H.  III,  54. 

8)  ib.  XI,  240;  Plutarch,  De  fort  Rom.  42  (825  D);  Galen  XIV,  23.  S.  Friedländer  a.  a.  0. 
I^S.  45. 

4)  Aristides  or.  ed.  Dindorf  I,  826  (R.  200) :   oio're  ioixiyai  triv  noXiy  »oiy^  nvi  -n^g  yiqg 

5)  xal  navxa  ivtavd^a  avfimTne^,  i/inoQiai  xtX tixyai  bnocai  ahi  re  xai  yeyi- 

yfjyrui  xtX, 

6)  Der  z.  B.  R.G.  III^,  292  das  Rom  der  cäsarischen  Zeit  als  eine  »in  jeder  Hinsicht 
dem  Paris  des  neunzehnten  Jahrhunderts  vergleichbare  «  Stadt  bezeichnet ,  was  übrigens  wohl 
nur  in  Beziehung  auf  die  politische  Situation  gemeint  sein  kann. 


11.  Staat,  Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  in  ihrer  Bedeutung  etc.  3  \ 

schmacksrichtung  der  nationalen  und  fremden  Production  einen  bestimmenden 
Einfluss  zu  gewinnen.  Wenn  man  erwägt,  welch  Unsumme  von  Elend  trotz  die- 
ser eminenten  Fruchtbarkeit  der  Gtttererzeugung  auch  hier  mit  der  grossstädti- 
schen Menschenanhäufung  verbunden  ist,  so  vdrd  man  eine  Ahnung  davon  ge- 
winnen, wie  schwach  die  Kauf-  und  Consumtivkraft,  wie  prekär  die  Lage  der 
Massen  in  einer  Stadt  gewesen  sein  muss ,  wo  diese  Anhäufung  kaum  viel  gerin- 
gere Dimensionen  annahm  und  zugleich  die  unproductive  Gestaltung  des  Wirth- 
schaftslebens  es  unmöglich  machte,  durch  eine  genttgende  Verwerthung  der  in 
der  Bevölkerung  ruhenden  Arbeitskraft  den  Unterhaltsbedarf  dieser  Massen  auch 
nur  annähernd  aus  dem  Ertrag  ihrer  Arbeit  zu  decken. 

In  dieser  Hinsicht  stand  die  Welthauptstadt  —  abgesehen  etwa  von  der  spä- 
teren Residenz  Constantinopel  —  hinter  anderen  Grossstädten  des  Reiches 
mehr  oder  minder  weit  zurück.  Ungleich  grösser  war  doch  der  Spielraum  für 
die  Vennehrung  und  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  in  den  grossen  Städten  des 
hellenistischen  Ostens;  vor.  Allem  in  Alexandria,  der  ersten  Handels-  und  AUxMdru. 
Industriestadt  der  damaligen  Welt^}.  In  bezeichnendem  Gegensatz  zu  Rom  war 
hier  schon  in  der  ersten  Zeit  des  mit  der  Begründung  des  Kaiserreiches  beginnen- 
den Aufschwunges  die  Ausfuhr  grösser  als  die  Einfuhr^}.  Die  Webstühle  Alexan- 
driens  arbeiteten  für  Britannien,  wie  für  Arabien  und  Indien,  seine  Buntwirke- 
reien, Glasbläsereien,  Papierfabriken,  officinellen  Techniken  u.  s.  w.  beherrschten 
den  Weltmarkt  im  gesammten  Umkreis  des  ungeheuren  Freihandelsgebietes  des 
Imperium  Romanum^).  Wir  begegnen  hier  Grossindustriellen  modernsten  Stils, 
wie  jener  Firmus  einer  war ,  der  unter  Aurelian  die  Hand  selbst  nach  der  Krane 
ausstreckte,  ein  Industriebaron,  dem  allein  seine  Papierfabriken  einen  so  grossen 
Gewinn  abwarfen,  dass  er  sich  rühmte,  von  Papyrus  und  Leim  eine  Armee  unter- 
halten zu  können  *) !  Allerdings  ein  bedenkliches  Symptom,  welches  auf  das  Em- 
porkommen eines  übermächtigen  Capitalistenthums  schliessen  lässt,  wenn  wir 
auch  über  die  Bedeutung  desselben  für  die  Geschicke  der  arbeitenden  Glassen 
aus  den  Quellen  nichts  erfahren.  Ferner  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  in  den 
grossen  Industriecentren  die  Tendenz  zu  übermässiger  Menschenanhäufung  be- 
sonders dadurch  verschärft  wurde,  dass  in  allen  Zweigen  der  antiken  Production 


4)  Straho  XVII,  4 ,  §  43  (S.  798):  /aiyunoy  IfAnoqBioy  x^g  oinovfjiivris.  Vgl.  zum  Folgenden 
die  ausgezeichnete  Schilderung  des  alexandrinischen  Lebens  bei  Friedlftnder,  Darstellungen  a. 
d.  Sittengeschichte  Roms  11^,  434  IT.,  sowie  über  die  tonangebende  Stellung  Alexandrias  in  der 
damaligen  Culturwelt  den  Vortrag  Lumbroso's  in  der  Festsitzung  des  archäologischen  Instituts 
V.  i3.  April  4880.   Bullettino  dell'  Instit.  4880,  S.  474  if. 

2]  Strabo  ib.  §  7  (798). 

5)  Blümner  a.  a.  0.  S.  8  H  Vgl.  Lumbroso  a.  a.  0.:^  »Alessandria  regina  del  commercio  e 
dellamoda«  (S.  474)  und  die  dort  angeführten  Stellen,  welche  auf  diese  Beherrschung  der 
Mode  ein  Licht  werfen.  Charakteristisch  ist  der  Beiname  fecunda,  fertilissima,  der  sich  in  Be- 
zug auf  die  Stadt  findet,  SS.  bist.  Aug.  Saturninus  c.  8  (ed.  Peter  II,  S.  209),  aber  auch  schon 
weit  früher :  Bell.  Alexandrinum  c.  8.  Charakteristisch  für  die  lange  Dauer  dieser  dominirenden 
Stellung  sind  die  Zeugnisse  für  den  ausgedehnten  Export  Alexandrias  im  4.  Jahrb.  in  der  tot. 
orb.  descr.  §  85  und  36,  sowie  im  6.  Jahrb.  bei  Gregor  von  Tours,  Hist.  Franc.  V,  6.  VI,  6. 

4)  SS.  hist.  Aug.  Firmus  c.  3  (ed.  Peter  XU,  206) :  perhibetur  tantum  habuisse  de  chartis, 
ut  publice  saepe  diceret,  exercitum  se  alere  posse  papyro  et  gtutine. 


32  n.  Staat,  Gesellschaft  und  Volks wirthschaft  in  ihrer  Bedeutung  etc. 

die  Massenhaft igkeii  der  aufgewandten  Menschenkraft  das  zu  leisten  hatte, 
was  die  Neuzeit  durch  vervollkommnete  Werkzeuge  undMaschinen  erreicht  i).  Doch 
wie  dem  auch  sein  mag;  jedenfalls  bildet  es  einen  erfreulichen  Gontrast  zu  der 
über  weite  Volksschichten  sich  erstreckenden  Arbeitslosigkeit  in  Rom ,  wie  wir 
sie  im  Verlaufe  dieser  Darstellung  zu  constatiren  haben  werden ,  wenn  Hadrian 
im  Jahre  134  an  seinen  Schwager  Servian  unter  dem  Eindruck  eines  wieder- 
holten Besuches  von  Alexandria  schreiben  konnte^]:  »Niemand  ist  hier  unthfitig, 
jeder  treibt  irgend  ein  Gewerbe.  Die  Podagrischen  haben  zu  schaffen,  die  Blin- 
den haben  zu  thun,  nicht  einmal  wer  das  Ghiragra  hat,  geht  mttssig«^). 
^wayen^rth-  ^^^  ^^^  ®^  ^^^^  kciueswcgs  bloss  die  geringere  Capacität  in  Beziehung  auf 

Schaft,  ji^  Volkszahl  im  Allgemeinen ,  durch  welche  sich  Rom  zu  seinen  Ungunsten  von 
anderen  grossstädtischen  Gentren  des  Reiches^)  unterschied ,  sondern  es  kann 
auch  kaum  ein  Zweifel  darüber  bestehen ,  dass  insbesondere  hinsichtlich  der 
freien  Bevölkerung  die  Aufnahmefähigkeit  der  Stadt  in  ausserge wohn- 
lichem Grade  unter  einem  Übel  zu  leiden  hatte ,  welches  ja  allerdings  die  antike 
Gesellschaft  und  Volkswirthschaft  überhaupt  beherrschte  und  sich  daher  tiberall 
in  der  fraglichen  Richtung  fühlbar  machte,  das  aber  in  Rom  in  Folge  der  natür- 
lichen Rückwirkungen  der  Welteroberung  extensiv  und  intensiv  seinen  HOhe- 
punct  erreichte.  Wir  meinen  die  Beengung  des  Nahrungsspielraumes 
der  freien  Arbeit  durch  das  für  die  wirthschaftliche  Unproductivität  der  römi- 
schen Ökonomie  ebenfalls  charakteristische  enorme  Umsichgreifen  der  Skla- 
verei in  Rom,  durch  welche  sich  das  römische  Gapital  der  productiven  Kräfte 
der  fremden  Völker  selbst  bemächtigte  und  dieselben  zu  einem  erdrückenden 
Wettbewerbe  mit  der  freien  Arbeit  in  Masse  auch  auf  dem  hauptstädtischen 
Markte  concentrirte. 

Nicht  genug,  dass  die  mit  dem  Institute  der  Sklaverei  enge  zusammenhän- 
gende D  geschlossene  Hauswirthschaft«  den  Bedarf  eines  grossen  Theiles  der  Be- 
sitzenden an  den  meisten  Gegenständen  des  gewöhnlichen  Gonsums  durch  Skla- 
venarbeit deckte^)  und  in  dieser  Hinsicht  die  freie  Arbeit  vorzugsweise  auf  den 


4)  Vgl.  Röscher,  Ansichten  der  Volkswirthschaft  P,  46  AT.  (Über  das  Verhältniss  der  Na- 
tionalökonomie zum  classischen  Alterthum.) 

%)  Ich  zweifle  nicht  an  der  Echtheit  des  Briefes  und  bin  auch  nicht  durch  das  überzeugt, 
was  neuestens  Dürr,  Die  Reisen  des  Kaisers  Hadrian  S.  88  ff.,  für  eine  theilweise  Unechtheit 
vorgebracht  hat.  —  Übrigens  ist  die  Echtheitsfrage  für  uns  hier  irrelevant. 

8)  SS.  bist.  Aug.  Satuminus  c.  8  (Peter  II,  909) :  omnes  certe  cujuscunque  artis  et  viden- 
tur  et  habentur.  podagrosi  quod  agant  habent,  habent  caeci  quod  faciant,  ne  chiragrici  quidem 
apud  eos  otiosi  vivunt. 

4)  Darunter  wahrscheinlich  auch  Antiochia,  die  anerkannte  Capitale  ganz  Vorder- 
asiens, deren  industrielle  Betriebsamkeit  z.  B.  von  Libanius,  yiynoxixof  ed.  Reiske  I,  858  ge- 
rühmt wird :  tono^  ovdelf  tfjiXof  ;|fei^0Te;|fy^/uaT0f ,  äXXa  x^v  fAix(fov  T*f  Xaßtjtai  XQaanidov, 
na^ax^Vf^n  tovto  äxeffTtJQioy  ij  Xi  naqanXr^aioy, 

5)  Man  vergegenwärtige  sich  das  System  der  »Oikenwirthschaft«,  wie  es  bekanntlich 
^odbertUs  treffend  bezeichnet  hat,  dem  gemäss  »die  Eigenthümer,  welche  ihre  Sklaven  die  Roh- 
productionsarbeiten  vornehmen  Hessen,  auch  gleich  selbst  durch  andere  Sklaven  an  dem  Roh- 
product  die  Fabricationsarbeiten,  ja  bei  denjenigen  Producten,  die  überhaupt  von  ihnen  in  den 
Handel  gebracht  wurden,  auch  sogar  die  Transportarbeiten  bewirkten,  so  dass  also  das  Product 


KoLAX.  33 

Der  xoXaS  *)  stellt  sich  die  Aufgabe,  dem,  welchem  er  sich  ange- 
schlössen  hat,  in  alle  Wege,  durch  dick  und  dünn  angenehm  ('j)§uc) 
in  Thaten  und  Worten  zu  sein,  und  zwar  um  seines  eignen  Vortheils 
willen.  Wie  unechtes  Gold  den  Glanz  und  Schimmer  des  echten, 
so  ahmt  er  gleissnerisch  die  Holdseligkeit  und  Gefälligkeit  des  wahren 
Freundes  uach^),  doch  währt  seine  Treue  nur  so  lange,  als  Glück 
und  Wohlstand  des  Herrn  ^).  Jenem  ospoirapaaiTov  -^ho^  des  Alexis 
(fr.  114)  schliessen  sich  die  feineren  Hausfreunde  und  Vertraute  an, 
welche  ihre  xoXaxeCa  unter  ernsthaft  ehrbarer  Miene  zu  verslecken 
wissen.  Plutarch*^)  nennt  sie  die  tragischen  im  Gegensatz  zu  denen 
der  Komödie,  oder  die  wilden,  d.  h.  gefährlichen,  im  Gegensatz  zu 
den  zahmen^),  jenen  harmlosen  armen  Schluckern,  die  nicht  einmal 
einen  Burschen  haben,  der  ihnen  die  Oelflasche  zur  Palästra  trägt 
(auToXi^xoOoi),  und  froh  sind,  wenn  sie  am  Tisch  geduldet  werden 
(xpaTreCetc),  —  Possenreissem  und  ekelhaften  Kerlen,  deren  Gemeinheit 
in  Teller  und  Becher  aufgeht^). 

Nicht  ganz  übereinstimmend,  aber  doch  ähnlich  unterscheidet 
Donat  eine  gemeinere  Gattung  der  Parasiten,  welcher  der  Terenzische 
Phormio  angehöre,  und  eine  vornehmere,  der  adsentatores ^  die  erst 
in  neuerer  Zeit  (vgl.  Eun.  2147)  aufgekommen  sei,  vertreten  durch  Gnatho 
im  Eunuchus^). 


schon  Antiphon,  der  Zeitgenosse  des  Sokrales,  erörtert,  aus  dessen  Schrift  icepl 
o^ovo(a^  u.  a.  folgender  Satz  erbalten  ist:  iroXXol  8'  Ij^ovre?  cpfXoü?  oo  ^iT^"*" 
oxoooiv,  aXX'  4ta(poo?  irotouvTat  ö«w:a?  itXooTou  xal  tü^^t]!;  xoXaxa;  (Begleiter, 
Nachtreter  des  Glückes):  fr.  109  Bl.  bei  Suidas  s.  v.  xoXaxe(a.  Vgl.  Blass  Att. 
Beredsamkeit  I  S.  99  ff.  Übrigens  dürfte  der  Inhalt  sich  mit  Synonymik  befasst 
hahen,   ebenso  wie  in  der  gleichbenannten  Schrift  des  Chrysippos. 

\)  Einiges  zur  Charakteristik  in  meinem  Vortrag  über  die  mittlere  und  neuere 
attische  Komödie  (4  857)  S.  38 ff.  Vgl.  auch  A.  Hug:  de  Graecorum  proverbio  aoxo- 
[jLaToi  xxX    1872. 

%)   Plutarch,   Unterschied  zwischen  Freund  und  xoXaE  p.  BOB. 

3)  Maximus  Tyrius  XX  6 :  o  84  xoXaE  euioj^fa?  [jlsv  xoivcovoc  airXTjOTOTaTOC, 
Iv  hk  tat?  oüp.(popai?  afjLixTOTaxo?. 

i)  A.  0.  p.  50E. 

5)  A.  0.  p.   6\  C. 

6)  ci>v  h  [xi^  XoirdfSi  xal  xuXixi  p,sTa  ßu>|jLoXox^ac  xal  ßSeXupCac  r^ 
avsXeaOep(a  iff-y^STat  xaTa6r]Xoc:  Plutarch  über  den  Unterschied  zwischen 
Freund  und  xoXa^   p.   50  G. 

7)  Donat  zu  Ter.  Phormio  III  \    (11  2) :    'in  hac  scaena  de  parasltis  vilioribus 

Abhandl.  d.  K.  8.  Oesellscb.  d.  Wiscenfich.  XXI.  g 


34  Ribbeck, 

Wir  beginnen  mit  dem  vulgären  edax  parasitus.  Er  ist  ein 
Freigeborener,  bisweilen  guter  Eltern  Kind:  nachdem  er  oder  sein 
Vater  das  Vermögen  durchgebracht  hat,  ist  er  zu  diesem  Erwerb 
gedrängt  worden,  der  ihn  von  der  Gnade  Ubermüthiger  Emporkömm- 
linge (veÖTrXoüTot)  abhängig  macht  ^).  Sein  Tyrann  ist  der  Bauch  ^), 
ein  Gefäss  von  wunderbarer  Fassungskraft^).  Ein  Ungethüm,  ganz 
Bauch,  das  Auge  nach  allen  Seiten  spähend,  auf  den  Zähnen  kriechend, 
das  ist  —  nicht  etwa  der  Krebs ,' sondern  der  Parasit^).  Farnes 
ist  die  Mutter  des  Gelasimus  im  Stichus,  denn  seit  seiner  Geburt  ist 
er  nie  satt  gewesen.  Als  dankbarer  Sohn  trägt  er  zur  Vergeltung 
sie,  die  ihn  doch  nur  1 0  Monate  lang  als  Frucht  im  Leibe  getragen, 
nun  schon  länger  als  1 0  Jahre  im  Magen  als  centnerschwere  Riesin ; 
täglich  hat  er  Wehen  und  kann  doch  nicht  von  ihr  entbunden  wer- 
den*^). Er  selbst  ist,  wie  er  vom  Vater  weiss,  zur  Zeit  einer  Theurung 
geboren,  daher  sein  Appetit^).  Wenn  mich  doch  Jemand  wie  eine 
Gans  mästen  wollte!  wünscht  ein  anderer').  Epikur  hatte  Recht,  -JjSovi^ 
für  das  Gute  zu  erklären,  aber  das  höchste  Gut  ist  essen  ((jiaaaadai) , 
wo  eben  das  Gute  zur  ifjSovT^  hinzukommt^).  Des  Lebens  Amme, 
Hüterin  der  Freundschaft,  Feindin  des  Hungers,  {axpJx;  exXütoü  ßoüXtjiiotj; 
ist  die  Tafel^).  Nicht  Feuer,  nicht  Eisen  oder  Erz  hält  den  x6Xa8 
ab  zur  Mahlzeit  zu  gehen*®),  geladen  oder  ungeladen").  Das  war  ein 
guter  Demokrat,  der  xdXXÖTpia  Seiuveiv  erfunden  hat;  wer  dagegen 
von   seinen  Gästen   einen  Beitrag   zur  Mahlzeit    (oofjLßoXd;)    verlangt, 

Terentius  proponit  imaginem  vitae,  ut  in  Eunucho  de  potioribus  et  bis,  qui  nuper 
processerint ,  id  est  de  adsentatoribus.  animadverteoduin  autem  buiusmodi  genus 
bominum  magis  a  Terentio  lacerari'. 

\)  Vgl.  Alkiphron  III  64.  Terenz  Eun.  235:  'conveni  bodie  adveniens  quen- 
dam  mei  loci  hinc  atque  ordinis  Hominem  haud  inpurum,  itidem  patria  qui  ab- 
ligurrierat  bona'. 

t)  Alexis  fr.   205:   der  Parasit  spricbt. 

3)  Dipbilos  fr.   57,  Monolog  eines  Parasiten. 

4)  Com.  anon.  fr.  497.  Ergasilus  in  den  Captivi  187:  'cum  calceatis  dentibus 
veniam  tarnen'. 

5)  Plaulus  Sticbus  4  55(1. 

6)  Stichus  4  79  f. 

7)  Epigenes  fr.   2. 

8)  Hegesippos  fr.  2  :   der  Parasit  spricht. 

9)  Timokles  fr.    4  3. 

4  0)  Eupolis  fr.    4  48    (Chor  der  xoXaxe^]. 
4  4 )   Epicharm  'EXirf^  fr.   2   (Parasit) . 


KoLAX.  35 

verdient  aus  seinem  Hause  gejagt  zu  werden^)  Wer  vollends  Einen 
verhindert  einen  Schmaus  zu  geben,  der  verdient  den  Flüchen  des 
Buzyges  anheimzufallen  ^) .  Daher  ist  es  auch  heilige  Pflicht,  bei  einem 
aoüfißoXov  SsfjTvov  pünktlich  zu  erscheinen:  wer  sich  da  verspätet, 
ist  im  Stande  auch  in  der  Armee  zu  desertiren  ^) .  Der  Gewissenhafte 
hält  sich  schon  vorher  in  der  Nähe  der  Küche  auf  und  misst  sorg- 
fältig die  Schatten,  um  zu  ermitteln,  wie  lange  es  noch  hin  ist  bis 
zur  Essstunde ^);  denn  die  Zeit  wird  ihm  gar  lang  und  er  verwünscht 
wohl  die  Einrichtung  der  Sonnenuhren,  die  sich  an  das  Gebot  des 
Magens  nicht  kehren,  welcher  doch  einzig  und  allein  entscheiden 
sollte-^).  Er  beobachtet  die  Vorzeichen:  geht  ein  fetter  Rauch  aus  der 
Küche  grade  in  die  Höhe,  so  frohlockt  er  und  verspricht  sich  eine 
gute  Mahlzeit;  sieht  er  aber  nur  ein  dünnes  Wölkchen  in  schräger 
Richtung,  so  denkt  er  sich  gleich,  dass  es  nichts  Solides  geben  wird^). 

Der  Parasit  vereinigt  das  Raffinement  des  Feinschmeckers  (dcpo- 
'^difoc,)  mit  dem  unersättlichen  Schlund  des  Vielfrasses  (dBTjcpdYoc). 
Den  Küchenzettel  macht  er  mit  gleichmässiger  Berücksichtigung  der 
Qualität  und  Quantität  am  liebsten  selbst^). 

Ist  er  erst  an  der  Arbeit,  so  überlässt  er  vorläufig  gern  den 
Andern  das  Gespräch  und  ruht  selber  nicht,  bis  er  reinen  Tisch  ge- 
macht und  sogar  den  Teller  durchbohrt  und  zum  Sieb  verwandelt  hat^). 

Die  jungen  Leute  nennen  ihn  alle  durch  die  Bank 

Aus  Neckerei  Parasit,  doch  macht  er  sich  nichts  daraus. 

Lautlos  bei  Tische  schmausend  sitzt  der  Telephos; 


4)  Eubulos  fr.   72    (Parasit). 

2)  Diphilos  fr.  59  (vgl.  Paroemiogr.  Gr.  I  p.  388.  Haupt  Hermes  V  36 
Bemays  Monatsber.  d.  Berliner  Akad.  d.  W.  1876  Oct.  S.  605. 

3)  Amphis  fr.   38. 

4)  Plutarch  über  d.  Unterschied  zw.  (pCXo?  und  xoXa?  p.  60 D;  vgl.  Eubulos 
fr.  H8  Menandros  fr.  353  Hesychius  s.  vv.  Sexaicoov  oroixsiov.  SioSsxatcoSo? 
(iirtairoo^  oxia). 

5)  Aquilius  fr.  I.  Bei  Alkiphron  HI  4  schlägt  ein  Parasit,  der  die  sechste  Stunde, 
die  der  Mahlzeit,  nicht  erwarten  kann,  vor,  den  Sonnenzeiger  entweder  umzu- 
stürzen oder  umzustellen.  Dasselbe  deutet  der  Name  'ExtoSicoxtt];  im  folgenden 
Briefe  an. 

6)  Diphilos  fr.   58. 

7)  Plautus  Persa  93  0".  4  05  fr.  Capt.  4  59 ff.  909  ff.  Menaechra.  209 ff.  Curcul. 
319  ff.  366. 

8)  Alexis  fr.   256. 

3* 


36  Ribbeck, 

Fragt  man  ihn  was,  so  nickt  er  blos,  dann  schnauft  er  so, 
Dass  oft  der  Hausherr  zu  den  Kabiren  ängstlich  fleht. 
Den  fürchterlichen  Sturmwind  zu  beschwichtigen. 
Ein  Ungewitter  für  die  Freund'  ist  dieser  Mensch^). 
Bei  einem  Hochzeitsschmaus  zu  platzen,  das  ist  die  schönste  Todes- 
art, die  sich  ein  solcher  denken  kann^).     Bisweilen  machen  sich  die 
Tischgenossen  den  rohen  Spass,  ihm  gewaltsam  Festes  und  Flüssiges 
in  Massen  einzufüllen  wie  in  ein  Fass,  so  dass  es  entsetzliche  Kata- 
strophen  giebt^).     Sein    aufgetriebener   Bauch    könnte    Athleten    als 
Pauksack  dienen^). 

Er  sitzt  zu  Unterst  am  Tisch ^),  nimmt  im  Nothfall  mit  dem  eng- 
sten Platz  vorlieb,  nur  ebensoviel  wie  ein  Hund  zum  Liegen  braucht^). 
Sobald  das  Handwasser  (vor  Beginn  der  Mahlzeit)  gereicht  ist^), 
gehen  von  Rechtswegen  seine  Functionen  als  Spassmacher  (^eXcöio- 
Tcoiö^,  ßa)|jLoX6](oc,  ridiculus  homoY)  an.  Er  hat  die  Pflicht,  geistreich 
und  witzig  zu  sein^):  to?^  8'  6  xoXa^  udfiirptoxoc  ö^aCveiv  ^px'^^^  fi«3xov, 
hiess  es  in  einem  parodischen  Gedichte,  vielleicht  des  Matron^"). 
Dazu  bereitet  er  sich  vor  aus  Apophthegmen-  und  Anekdotenbüchem  ") , 


4)  Alexis  fr.  4  73.  V.  4  vor  coars  sind  zwei  Halbverse  im  griechischen  Text 
ausgefallen. 

2)  Alexis  fr.  %%6:  vgl.  Phoinikides  fr.   3. 

3)  Alkiphron  III  7 

4)  Timokles  im  nüXTYjc  fr.  29 : 

eupTjasi;  84  täv   iTTlOlTfcOV 
TOüT(üv  Tiva?,  ot  SetTTVouoiv  iocpü8a)|iivoi 
xaXXoTpi'y  ^auTou^  avTi  xtt>puxo)v  XiTusiv 
irapi^fovTe?  aftXrjTaTaiv. 

5)  Plautus  Stichus  489:  ^scis  tu  med  esse  unum  imi  subselli  virum'.  (vgl. 
493)  Capt.  471  :    'nil  morantur  iam  Lacones  imi  subselli  viros'. 

6)  Stichus  620. 

7)  Plutarch  (flko^  u.  xoXa^  p.  50  C:  toü?  aüToXrjxoöoo?  .  .  .  xal  TpaiteCiac  xal 
p-eta  To  xara  jjsipo;  ii8a>p  axoDOfiivoo«;,  a)<;  n;  sTtcs,    dazu  Wyttenbach. 

8)  Stichus   4  74    Capt.   470.   477. 

9)  Epicharmos  a.  0.  V.  4 f.:  TTjveT  8e  x^'P^^^^  ®M  ^^^^  woii«>  icoXov  |  Y^Xüixa 
xal  Tov  btiaivT'  liraivicD.  Eupolis  fr.  4  59,  42:  oo  8£i  x^pfevTa  iroXXi  |  tov 
xoXax'  eu&io)^  Xi^siv,  t]  'xcpipetat  OüpaCe. 

40)   Athenaeus  V  p.   4  87A:   vgl.  Meineke  anal.  crit.  ad  Athen,  p.   63.   85. 

4  4)  Stichus  400:  'ibo  intro  ad  libros  et  discam  de  dictis  melioribus'.  454: 
Mibros  inspexi:  tarn  confido  quam  potis,  Meum  rae  obtenturum  regem  ridiculis 
logis\  (224  :    Mogos  ridiculos  vendo')    Saturio  im  Persa  392  ff.  zu  seiner  Tochter : 


KoLAx.  37 

die  er  besitzt,  und  die  neben  Badestriegel,  Oelflasche,  zwei  Röcken, 
mit  denen  er  wechselt^),  und  einigen  anderen  noth wendigen  Toiletten- 
gegenständen bisweilen  sein  ganzer  Reich thum  sind^).  Erzielt  er 
nicht  die  gehörige  Wirkung,  so  muss  er  wenigstens  passiv  die  Kosten 
der  Unterhaltung  tragen,  muss  sich  den  muthwilligsten  Schabernack^), 
Ohrfeigen  und  Prügel  aller  Art^)  gefallen  lassen;  Töpfe  jeder  Be- 
stimmung fliegen  ihm  an  den  Kopf  ^),  was  ihm  gelegentlich  ein  Auge 
kosten  kann®);  er  wird  wohl  auch  hinausgeworfen^),  in  den  Block 
gespannt^),  und  kann  unter  allen  Umständen  von  Glück  sagen,  wenn 
er  leidlich  heil  nach  Hause  kommt  ^). 

Zur  Erheiterung  der  Gesellschaft  prügeln  sich  auch  zwei  Para- 
siten gegenseitig  und  recitiren  dazu  schallende  Anapästen  voll  atti-^ 
sehen  Salzes^®),  welche  an  die  zwischen  dem  Paphlagonier  und  dem 
Wursthändler  in  den  Rittern  gewechselten  Gomplimente  erinnert  haben 
mögen.  Oder  der  Parasit  tanzt  den  x6pSaS;  wenn  aber  alle  beim 
Zechen  eingeschlafen  sind,  nimmt  er  wenigstens  eine  Serviette,  falls 


Mibrorum  ecciUum  ego  habeo  plenum  soracum.  Si  hoc  adcurassis  lepide,  quoi 
rei  operam  damus,  Dabuntur  dotis  tibi  inde  sescenti  logi,  Atque  Atticiomnes: 
nullum  Siculum  acceperis'.  Litterarische  Bildung  verräth  auch  das  Gitat  aus  einer 
Tragödie  im  Curculio  594  ff. 

1)  Eupolis  fr.   159,   5  f. 

i)  Plautus  Persa   ISO  ff.     Stichus  24 8 ff. 

3)  Alkiphron  III  6  45.  48.  54.  64.  66.  68.  Noch  rohere  Spässe  als  in 
Athen  wurden  mit  den  Parasiten  im  Peloponnes,  in  Sparta,  Argos,  Korinlh  ge- 
trieben: Alkiphron  III  54.  Ueber  die  Knickerei  der  Korinthier  klagt  der  60.  Brief. 
III  74  (s.  Chairephon}:  Stossseufzer  eines  Parasiten,  dass  nicht  nur  der  Herr  und 
die  Gäste,  sondern  auch  die  Knechte  und  Mägde  ihren  Muthwiilen  an  ihm  auslassen. 

4)  Capt.  88.  472  (nil  morantur  iam)  ' plagipatidas ,  quibus  simt  verba  sine 
penu  et  pecunia*.  Entschädigungen  für  Körperverletzungen  des  Parasiten  setzt  die. 
lex  convivalis  am  Schluss  des  Querolus  fest. 

5)  Aeschylus  fr.    4  94.  Plautus  Capt.   89.  Gurcul.   394ff.  Pers.   60. 

6)  Curculio  394  ff. 

7)  Plutarch,  Unterschied  zwischen  fCXo;  und  xoXaE  p.  50  D. 

8)  Eupolis  fr.  4  59,  43:  oI8a  8'  'Axiaxop'  aoTO  tov  ortYliaxCav  iraftovra*  | 
(3xa>(ip.a  ifÄp  eilt'  aaeX^ig,  ett'  aotov  b  iroi;  dopaCe  |  ttayaYcov  l^ovra  xXoibv 
icapiBoixev  Oivet. 

9)  Der  Syrakusanische  Parasit,  der  iroXXa  xara^a^uiv,  iroXX*  ip-Ttwov  ohne 
Diener  (vgl.  Eupolis  fr.  4  59,  3 f.)  und  Leuchte  durch  die  Finsterniss  heimtorkelt 
und  dabei  den  Schaarwächtem  (irepdroXoi)  in  die  Hände  fällt^  dankt  den  Göttern, 
wenn  er  mit  blossen  Prügeln  davon  kommt :  Epicharm  'CXiu(c. 

40)   Alkiphron  III  43. 


38  RiMECK. 

die  Silbei^er^lhe  schon  in  Sicherheit  gebfachl  sein  sollten,  unter  die 
Achsel  und  macht  sich  ans  dem  Staube'^. 

Von  der  Laone  seines  Herrn  muss  er  sich  Alles  gefallen  lassen^. 
Wird  er  geschimpft,  so  muss  er  es  sein,  der  am  herzlichsten  über 
sich  lacht'^.  Alle  Vorwürfe  und  Schmähungen,  mit  denen  ihn  jener 
im  Zorn  tractirt,  muss  er  von  vornherein  zugeben,  jedem  Streit  und 
G>nflict  mit  aalglatter  Geschmeidigkeit  ausweichen.  Setzt  man  ihm 
ein  verdorbenes  Stück  Fisch  von  gestern  vor,  so  darf  er  sich  nicht 
ärgern  *).  Zurechtweisungen,  welche  er  sich  durch  vorschnelles  irpo^ 
^dpiv  Xejeiv  zuzieht,  hat  er  mit  Dank  hinzunehmen^). 

Leider  unterwerfen  sich  auch  Gelehrte  und  Philosophen  einer 
so  schnöden,  freiwilligen  Knechtschaft  (edeXoSouXeta ,  SooXoicpeiwSia) . 
Sie  eifern  gegen  die  xokaxzia  und  übertreffen  einen  Gnalhonides  oder 
Struthias  darin.  Um  sich  durch  die  Aufwartung  am  Moi^n  [salulatio] 
die  Einladung  zu  Tisch  zu  verdienen,  stebn  die  togati  in  Rom  um 
MittemachC  auf,  machen  die  Runde  durch  die  Stadt,  lassen  sich  von 
den  Dienern  der  Reichen  verächtlich  behandeln,  müssen  es  als  hohe 
Gunst  des  Herrn  ansehn,  wenn  ihnen  gestattet  wird,  Brust  oder  Hand 
desselben  zu  küssen;  und  was  müssen  sie  dann  bei  Tafel  herunter- 
schlucken von  schlechten  Speisen  und  Getränken,  von  faden  Redens- 
arten,   von    Demütbigungen   aller   Art!     Mit   Unrecht   schimpfen    sie 


I)  Alkiphron  III  46.  Stibitzereien  des  Parasiten:  47.  53.  Vgl.  Eupolis  fr. 
16$,  Bekanntlich  gehörte  dergleichen  auch  im  Kreise  des  Catull  zu  den  nicht 
ungewöhnlichen  Scherzen:  c.   \t.  25. 

t)   Vgl.  Antiphanes  fr.   81.  8 f.     Menander  ine.   fab.   586. 

3)  Plutarch  über  d.  rechte  Art  zu  hören  16  p.  46  G.  Vgl.  Lukian  Timon 
45,  159:  ifuitÄv  airavrcov  ßopioTate  xal  avOpcuTCcov  teiTpiicTOTars.  —  aet  91X0- 
9xai(Aa>v  oi  y^- 

4)  Axionikos  fr.  6,  9  : 

otov  ^(Aepu  Tt?  ioTi  xal  [t.a'/exai  Tt  jiof 
|ieTeßaXo)jL7jV  irpoc  toutov,   osa  t'   sxprpii  yje, 
xaxco^  o(AoXoYO)v  eu&iu)^  ou  ßXairrofiai. 
irovTjpo?  ü)V  T6  X9'^i^^^  8tva(  <fr^oi  ti?, 
iYX(i>p.iaCü)V  TOüTov  airiXaßov  X*P^^- 
IfXauxou  ßsßpQDXco^  T^ixa/o;  k(fboy  Tr^pLepov 
aupiov  ScoXov  toüt'  85(107  oox  aj^Öojwti. 

5)  Vgl.  die  Geschichte,  welche  Tiniaeus  bei  Athen.  VI  p.  250  0  von  Demokles^ 
dem  xoXaS  des  jüngeren  Dionysios,  und  Hegesandros  ebenda  p.  248  E  von  Klei> 
sophos,  dem  xoXa^  des  Makedonischen  Philippos,  erzählt. 


KoLAx.  39 

beim  Nachhausegehen  über  die  (xtxpoXoYta  und  die  ößpic  des  Wirthes : 
ihre  eigene  Kriecherei  ist  Schuld  an  dem  Hochmuth  desselben,  sie 
sind  es,  welche  den  Gelehrtenstand  in  Verruf  bringen*). 

Trübsehg  ist  der  Anblick  eines  unversorgten  Parasiten,  der  keine 
Einladung  auf  dem  Markt  erhascht  hat  und  nicht  wagen  darf,  unge- 
laden zu  kommen,  was  freilich  der  wahre  Meister  seines  Fachs  ohne 
Bedenken  thut^).  Vergebens  ist  er  diesem  und  jenem  irXoüxaS  nach- 
gegangen, hat  alle  seine  Künste  des  Witzes^)  und  der  Schmeichelei 
versucht*):  der  hartherzige  hat  ihn  mit  leeren  Ausflüchten,  er  speise 
selbst  auswärts^),  habe  keinen  Platz  mehr  am  Tisch®),  wohl  gar  mit 
Hohn^  abgefertigt.  Nur  den  Schadenfrohen  kann  es  belustigen  zu 
sehen,  wie  der  verwöhnte,  zwischen  den  reichen  Essvorräthen  um- 
herirrend, kaum  4  j^aXxoa^  in  der  Tasche,  nach  dem  Preise  aller 
Delicatessen  der  vornehmen  Fischhändler  fragt  und  endlich,  weil  alles 
zu  theuer  ist,  zu  den  elenden  (Ae|ißpdSe(;  seine  Zuflucht  nimmt ^). 
Mit  hungrigem  Magen  kehrt  er  heim  zu  seiner  schmalen  Kost^),  oder 
geht  müssig  spazieren,  und  muss  sich  den  Spitznamen  xeaxpeuc 
gefallen  lassen*^).  Es  bleibt  ihm  nichts  übrig,  als  melancholische 
Betrachtungen  über  die  schlechten  Zeiten,  die  Entartung  der  Sitten, 
den  Verfall  der  Gastlichkeit**),  den  Egoismus  des  |iov6atToi;,  der  sich 
selbst  um  die  beste  Lebensfreude  bringt*^),  die  Unsterblichkeit  des 
Hungers*^)  anzustellen.     Ist  der  ständige  Pfleger  in  den  Ferien   aufs 

1)  Lukian  NigriDos  22,  60,  über  Miethlinge  40,  704  ,  Ausreisser  4  9,  375. 
Stelleo  aus  luvenal   und  Martial  bei  Friedländer  Sitteogesch.   I^  S.   338  f. 

2)  Epicharmos'EXitf?:  aovSeiicvio)  xq)  kmxi,  xaX^aai  8sT  [xovov  |  xal  T(p  ya 
^T(/\  XcovTi^  xcouSiv  8&i  xaXelv. 

3)  Plautus  Capt.   478  fr. 

4)  Vgl.  Eupolis  fr.  4  59,  6  ff.  Petronius  c.  3.  Gelasimus  im  Stich us  470  ff. 
kommt  sogar  mit  einer  Einladung  zuvor,  um  so  die  Gastfreundschaft  seines  rex 
hervorzulocken. 

5]  Plautus  Stichus  4  90  fr.   596  fr. 

6)  Stichus  487.   592. 

7)  Stichus  64  7  fr.     Eine  MystiBcation  bei  Alkiphron  III  5. 

8)  Timokles  fr.   4  4 . 

9)  Pomponius  V.   80  f. 

4  0)  Ameipsias  fr.   4.     Alexis  fr.   254.     Anaxandrides  fr.   34,  8.     Eubulos  fr. 
68.     Diphilos  fr.   52.     Euphron  fr.   2.     Zenobius  paroem.  IV  52.     S.  unten, 
4  4]   Stichus  4  83fr.     Capt.  469 ff. 
4^)   Alexis  fr.   266. 
4  3)   Alexis  fr.    4  56.     Antiphanes  fr.   86. 


44)  RnsEiiK. 

Land  gegangen,  verreist  oder  in  Kriegs^erangenschafl.  so  härmt  sich 
der  verwaiste  xikaz  ab  in  aufrichtigster  Sehnsucht  nach  dem  ab- 
wesenden Beschützer' .  Wenn  alle  Hülfsqnellen  versagen  oder  wenn 
der  vielgemisshandelte  endlich  aller  Demüthigungen  satt  ist,  so  denkt 
er  als  letzten  Trost  an  die  Halsschlim^e,  die  allem  Kununer  ein  Ende 
machen  wird^;. 

Aber  welcher  Jubel,  wenn  dann  der  geliebte  rer,  sein  Leben, 
sein  Genius,  seine  Freude,  sein  gnädiger  Gott  [deu^  praesens  wohl- 
t>ehalten  und  wohlhabend  wiederkehrt  ^ ,  vorausgesetzt  dass  nicht 
etwa  ein  mitgebrachter  Rival  oder  mehrere  ihn  aus  dem  früheren 
Besitze  zu  verdrängen  drohen'^!  Er  dünkt  sich  nicht  mehr  Parasit, 
sondern  ^regum  rex  regalior'"^^,  und  gebehrdet  sich,  wenn  er  etwa 
selbst  die  frohe  Botschall  zu  überbringen  hat,  wie  ein  ser>'us  currens, 
der  durch  die  Strassen  fegt  und  Alles,  was  ihm  in  den  Weg  kommt, 
umrennen  möchte^'}. 

Ein  classisches  Exemplar  des  behäbigen,  wohl  situirten  xoXa^ 
ist  Gnatho  im  Eunuchus:  'qui  color  nitor  vestitus,  quae  habitudo 
corporis!  onmia  habeo,  neque  quicquam  habeo:  nil  quom  est,  nil 
defit  tamen'  rühmt  er  schmunzelnd  (242 f.).  Wohlgenährt,  von  ange- 
nehmer Gesichtsfarbe,  weder  schwarz  wie  ein  Sciav  noch  weiss  wie 


4)  Platitus  Capt.   133  fr. 

2;  Sticbus  639:  'potione  iuncea  onerabo  gulam\  Alkipbron  HI  6.  49.  Einer 
bei  Alkiphron  III  7  will  in  den  Peiraieiis  gebn  und  sich  als  Lastträger  verdingen, 
ein  andrer  III  34  will  Tagelöhner  auf  dem  Lande  werden.  Ein  dritter  III  70  bat 
es  bei  einem  Bauer  versucht,  aber  die  harte  Arbeit  bat  er  nicht  vertragen.  Er 
ist  in  die  Stadt  zurückgekehrt,  aber  alle  Thüren  sind  dem  Verbauerten  verschlossen 
geblieben:  so  hat  ihn  der  Hunger  einer  Megarischen  Räuberbande  in  die  Arme 
getrieben.  Ein  vierter,  III  71,  geht  unter  die  Schauspieler,  aber  es  wird  ihm 
schwer  sich  so  spät  in  die  Kunst  einzustudieren  und  sein  Erfolg  ist  sehr  zweifel- 
haft. Bei  dem  dritten  Fall  (III  70)  erinnert  man  sich  des  Verbotes  in  Cato*s  Buch 
de  re  rustica  5,   4:    (vilicus)   'parasitum  nequem  habeat*. 

3)  Sticbus  372  fr.  372  ist  zu  vertheilen :  Pinacivm.  tuum  virum  Gelasimvs. 
et  vitam  meam.  i59(r.  582  0*.  Capt.  768  ff.  Freude  über  einen  freigebigeu  und 
gastfreien  Kaufmann,  der  mit  grossen  Reichthümern  zu  Schiff  aus  Istrien  gekommen 
ist:  Alkiphron  III  65. 

4j   Sticbus  388  ff. 

5j   Capt.   825. 

6}  Capt.  778  ff.  790  ff.  Für  solche  Fälle  passt  was  in  dem  commentum  de 
comoedia  p.  4  4,  23  R.  allgemein  angegeben  wird:  'parasiti  cum  intortis  paliiis 
veniunt\ 


KOLAX.  4 1 

ein  Frauenzimmer,  lebhaft,  mit  kühnem,  feurigem  Blick,  das  Bild 
eines  frischen  Lebemannes^).  Aber  auch  Phormio,  welcher  vom 
adsentator  nichts  an  sich  hat,  befindet  sich  in  seiner  harmlosen 
Stellung  als  ständiger  Tischgast  des  jungen  Herrn  ganz  wohl  und 
erkennt  die  Güte  desselben  dankbar  an,  wie  er  ja  auch  durch  die 
Thal  beweist,  338 ff.: 

fmmo  enim  nemo  satis  pro  merito  gratiam  regi  refert. 

t6n  asumbolum  venire  unctum  atque  lautum  e  balineis, 

ötiosum  ab  animo,  quem  ille  et  cura  et  sumptu  absumitur! 

dum  tibi  fit  quod  placeat,  ille  ringitur:  tu  rideas; 

prior  bibas,  prior  decumbas.     cena  dubia  adponitur  .  .  . 
Geta  quid  istuc  verbist?    Phormio  ubi  tu  dubites  quid  sumas 

potissimum. 

haöc  quem  rationem  ineas  quam  sint  suavia  et  quam  cara  ßint, 

6a  qui  praebet,  non  tu  hunc  habeas  plane  praesentem  deum? 
Nach  allgemeiner  Regel,  wie  es  scheint,  ist  der  xoXa^  noch  ein  junger 
lediger  Mann,  da  Niemand  an  einem  greisen  Possenreisser  Geschmack 
findet^).  Nur  ausnahmsweise  ist  er  über  30  Jahre  alt')  und  verheira- 
thet^).  Ausdrücklich  führt  Pollux  die  Maske  des  xöXa^  und  des  uapaaiTo; 
unter  denen  der  veavCaxoi  auf.  Beide  sind  von  dunkler  Hautfarbe, 
wie  sie  die  Palästra  mit  sich  bringt,  gebogener  Nase,  wohlgepflegt 
und  gelenkig.  Der  Parasit  untei'scheidet  sich  durch  eingedrückte 
Ohren  (in  Folge  der  vielen  Ohrfeigen,  wie  ein  Athlet)  und  lustigeren 
Ausdruck,  der  x6Xa8  durch  emporgestreckte  Augenbrauen,  was  ihm 
ein  boshafteres  Ansehen  giebt^).  Aristoteles  erkennt  ihn  an  der 
glatten  Stirn,  dem  griosenden  oder  auch  unbeweglichen  Gesichts- 
ausdruck,  wie  ihn  schönthuende  Hunde  haben,   den  nach  oben  ge- 


\)   Lukian  über  den  Parasiten  44   p.  864. 

i)  Alexis  fr.  255:  xoXaxoc  8e  ß(o(;  (iixpov  xp<>vov  av&sT.  |  ouSelc  yap  x<^^P^^ 
iroXioxpoxacpcp  irapaa(T({>.  Adulescens  heisst  der  Parasit  in  der  Regel,  z.  B. 
in  Plautus'  Henaechm.   494.   498. 

3]  Menaechm.  446. 

4)  Saturio  im  Persa. 

5)  Onom.  IV  4  48:  xoXaS  88  xal  irapaairo^  {liXavs^,  ou  {jli^v  eEo)  TraXaCcrrpaC; 
iic('fpuitot,  euira&eT^'  T(j>  ik  itapaa{T(p  (loXXov  xarittys  Ta  oyra,  xal  faiSpoTspo^ 
iariv,  waicep  b  x6Xa£  avaTiraxai  xaxoTj&saTepcDg  ra?  ocppu?.  Vgl.  die  Terracotten 
der  Sammlung  Castellani  in  The  illustrated  London  news  Nov.  tt,  1873.  —  492. 


42  RiBBBGK, 

richteten  Pupillen^].  Hündisch  sind  auch  seine  Bewegungen:  er  duckt 
sich  zur  Erde,  und  der  ganze  Körper  erscheint  wie  zerbrochen^). 
Die  Darstellung  des  Parasiten  veranschaulicht  eine  interessante  Anek- 
dote^).  Ambivius,  der  die  Rolle  des  Phormio  zuerst  gespielt  habe, 
sei  berauscht  aufgetreten,  und  so  habe  er  gleich  die  ersten -Worte 
gesprochen,  aufstossend  vor  Sattigkeit,  die  Lippen  leckend  wie  ein 
betrunkener^),  das  Ohr  mit  dem  kleinen  Finger  reibend.  Terenz 
aber,  der  anfangs  unwillig  über  den  Zustand  seines  Schauspielers 
gewesen  sei,  habe  ausgerufen,  gerade  so  habe  er  sich  den  Parasiten 
gedacht,  als  er  die  Rolle  geschrieben  habe,  und  sei  ganz  mit  ihm 
ausgesöhnt  gewesen. 


<)  Aristoteles  Physiogn.  p.  84  4  b,  36:  ol  8'  ateve;  e3fovTe<;  (to  jiirioTrov), 
xoXaxec*  avacpipexai  iicl  to  yIyvojiävov  ica&oc  i8ot  8'  av  Tic  i'ct  tojv  xuvcuv, 
oTi  ol  xüve?,  iiT£i8av  dcoTieocoat,  x^^^^^  '^^  pixüMrov  sj^oooiv.  Apuleius  Physiogn. 
in  Val.  Rose^s  anecdota  Graeca  et  Graecolatina  I  p.  4  54  f.:  Mdem  Aristoteles  dicit 
eos  qui  supercilia  obducunt,  pupillas  autem  superius  tendunt  atque  omni  vultu 
summisso  sunt^  esse  qaidem  inhoneste  blandos  et  referri  ad  canes.  idein  Aristoteles 
dicit  eosy  qui  vultu  omni  tranquillo,  pari  modo  blandos  esse:  et  hos  ad  canes 
referri*. 

2]  Apuleius  Physiognom.  a.  0.  p.  4  48,  43:  ^qui  autem  summittunt  sese 
atque  omne  corpus  infringunt,  inhoneste  bland!  sunt,  quos  Graeci  xoXaxac  vocant : 
refertur  hoc  ad  canes*. 

3)  Donat  zu  Phormio  III  4  (US),  4  :  'adhuc  narratur  fabula  de  Terentio  et 
Ambivio  ebrio,  qui  acturus  hanc  fabulam  oscitans  temulenter  atque  aurem  minimo 
scalpens  digitulo  hos  Terentio  pronuntiavit  versus,  quibus  auditis  exclamaverit  poeta 
se  taiem,  cum  scriberet,  cogitasse  parasitum,  et  ex  indignatione,  quod  eum  satu- 
rum  potumque  deprehenderat,  delenitus  statim  sit*.  Jenes  'aurem  scalpere*  wird 
schwerlich  zu  unterscheiden  sein  von  dem  gestus  der  inpudici,  welche  'dlgito 
scalpunt  uno  caput*  (luvenal  9,  4  33  nach  dem  berühmten  Epigramm  des  Calvus 
auf  Pompeius:  vgl.  Seneca  epist.  52,  4  2).  Ferner  sind  zu  vergleichen  ol  Tot  ma 
irrepoT^  xvtt>{A£Voi  (Lukian  über  d.  Tanz  2  p.  266,  über  Verleumdung  24  p.  452), 
welche  sich  durch  diesen  Kitzel  Wollust  erregen. 

4)  Donat  zu  V.  34  5:  'haec  et  labia  lingens,  ut  ebrius,  et  ructans,  utpote 
satur,  pronuntiavit  actor  bonus'.  Diese  Bemerkung  erinnert  an  die  bekannte  Anek- 
dote des  Hermippos  bei  Athen.  I  p.  2  4B,  Theophrast  habe  einmal,  um  den  o^o- 
cpa^o^  darzustellen,  die  Lippen  mit  der  Zunge  beleckt :  xa(  icots  o^ocpa^ov  p.tp«o- 
(xevov  i^CpavTa  tiqv  '^kmooa'^  irepiXeC^^eiv  toI  X^^^'^l*  Vielleicht  ist  bei  Donat  nach 
Mingens*  eine  Lücke  anzunehmen  und  ein  besonderer  gestus  für  den  ebrius  aus- 
gefallen. Weitere  interessante  Bemerkungen  über  Mimik  und  Vortrag  des  Parasiten 
zu  III  4  (II  2),  7.  24.  III  2  (II  3),  4  4.  22.  V  6,  4.  9.  7,  42.  44.  57.  77. 
88.  8,  26;  über  den  eigenthümlichen  Parasitenstil  zu  III  I  (II  2),  4  3.  4  6.  22. 
24.   25.    28.   V  8,   64. 


KoLAX.  43 

Der  vornehmere  x6Xa^,  zumal  der  militärische,  erfreut  sich 
einer  gesicherteren  Stellung:  er  ist  der  unzertrennliche  Begleiter  seines 
§eoir6T7]^.  So  rühmt  sich  der  Parasit  des  Cleomachus  in  den  Bacchides 
Y.  601:  Mllius  sum  integumentum  corporis'^).  Die  niedrige  Rolle 
des  verlachten  und  gemisshandelten  Spassmachers  ist  ein  überwun- 
dener Standpunkt  für  ihn.  Er  ist  es,  der  sich  innerlich  über  den 
Herrn  lustig  macht,  äusserlich  allerdings  als  unterwür6ger  Freund 
und  Vertrauter  durch  äusserste  Schmiegsamkeit  und  Fügsamkeit  seiner 
Eitelkeit  fröhnt^).  Unter  allen  Bedingungen  muss  er  ihm  irpbc  X^P^^ 
sprechen  und  handeln^).  Allem,  was  der  Herr  sagt,  stimmt  er  zu, 
zollt  er  Beifall  und  Bewunderung^).  Dem  Geschwätzigen  leiht  er  ein 
gefälliges  Ohr^).  Zu  den  Tischreden  des  Ungebildeten  applaudirt  er 
mit  einem  Geschrei  wie  ein  durstiger  Frosch®).  Poetische  Vorträge 
des  Reichen  bewundert  er  in  immer  neuen  Wendungen^);  singt  der- 
selbe, so  ruft  er  bravo,  wenn  auch  alle  übrigen  schweigen.  Macht 
der  Reiche  einen  Witz  und  sei  es  auch  der  frostigste  oder  abge- 
droschenste, so  weiss  sich  der  x6Xa^  vor  Lachen  nicht  zu  halten^). 

1)  Auch  die  Charakteristik  bei  Theophrast  c.   2  setzt  dies  voraus. 

2)  Terenz  Eunuchus  246:  'olim  isti  fuit  generi  quondam  quaestus  apud  saeclimi 
priüs :  Hoc  novomst  aucupium :  ego  adeo  hanc  primus  iaveni  viam.  £st  genus 
homiDum,  qui  esse  primos  se  omnium  rerum  volunt,  Nee  sunt:  hos  consector, 
hisce  ego  oon  paro  me  ut  rideant,  Sed  eis  ultro  adrideo  et  eorum  ingenia  admiror 
simul*.  Zahlreiche  Winke  über  die  Charakteristik  des  Goatho  sind  im  Commentar 
des  Donat  eingestreut. 

3]  Vgl.  Plutarch  Unterschied  zw.  cpiXo^  und  xoXaS  p.  55  A:  tou  84  xoXaxoc 
toot'  epifov  iarl  xal  xiXo?,  asf  tiva  icai8(av  tj  itpaEiv  ij  Xoifov  icp*  7)8ov^  xal 
icpoc  '^8ov73V  o^OTcoisTv  xal  xapuxeosiv.  Nikolaos  (IV  570  M.)  V.  36:  irpo<  X^P^^ 
o(i(Xet  TOU  TpicpovTO^  Itc'  6Xi&p(p.  Euripides  fr.  364,  4  8  ff.  Schon  der  gewöhn- 
liche Parasit  muss  to  ofJLiXiQTixov^  to  aTci){jiuXov^  to  rfi6  haben:  Alkiphron  III  44,  2. 

4)  Eunuchus  254  :  'quidquid  dicunt  laude:  id  rursum  si  negant,  laado  id 
quoque.  Negat  quis,  nego;  ait^  aio;  postremo  imperavi  egomet  mihi  Omnia  ad- 
sentari:  is  quaestus  nunc  est  multo  uberrumus*.  Vgl.  44 6f.  Menaechm.  4  62: 
Men.  sed  quid  ais?  Pen.  egone?  id  enim  quod  tu  vis,  id  aio  atque  id  nego.  Vgl. 
mil.  gl.  35.  Eupolis  fr.  4  59,  9:  xav  xi  tiyji  Xi^oiv  o  icXootaS,  icavo  toüt' 
iicaivo^ ,  Kai  xaTairXii^TTOfAai  Soxwv  toIoi  Xo^otai  j^afpsiv.  Horaz  serm.  II  5, 
96-r98.  Vgl.  die  unmuthige  Aeusserung  des  Caelius:  ^dic  aliquid  contra,  ut  duo 
simus'    (Seneca  de  ira  III  8,  5)^. 

5)  Horaz  serm.  II  5,   95:    'aurem  substringe  loquaci'. 

6)  Lukian  An  den  Ungebildeten  20,   4  4  5.     Petronius  c.    40.   48. 

7)  Lukian  Miethlinge  35  p.  694.     Vgl.  An  den  Ungebildeten  7,   4  07. 

8)  Menandros  fr.  286 :  y^Xoiti  icpo?  xov  KuTCpiov  dxOavoojjievo^.    Terenz  Eun. 


44  Ribbeck, 

Cheirisophos ,  der  x6Xa^  des  Dionysios,  sieht  den  Tyrannen  mit 
einigen  Bekannten  lachen,  steht  zwar  zu  weit  ab,  um  ihr  Gespräch 
hören  zu  können,  lacht  aber  doch  mit,  und  wie  ihn  Dionysios  fragt, 
warum  er  lache,  ohne  doch  zu  wissen  um  was  es  sich  bandle,  er- 
widert er:  ich  bin  überzeugt,  dass  was  ihr  geredet  habt  spasshafl 
war*).  Oeflfentliche  Vorlesungen  des  Gönners  unterbricht  der  Ver- 
ehrer fortwährend  durch  ungestümes  Beifallsrufen,  wobei  er  auf- 
steht^), wenn  auch  alle  übrigen  Zuhörer  lachen  über  den  elenden 
Inhalt  und  den  schlechten  Vortragt).  Er  bittet  sich  das  Manuscript 
aus  zu  häuslichem  Studium^).  Dieselbe  Geschichte  hört  er  unver- 
drossen zum  tausendsten  Mal  wieder  und  versichert,  er  kenne  sie 
noch  nicht^).  Grossthaten,  deren  sich  der  diXaCcov  rühmt,  erregen 
immer  von  Neuem  sein  Staunen,  und  mit  kecker  Erfindung  überbietet 
er  jene  Rodomontaden  durch  neue  Wunder,  die  er  ihm  ironisch 
unterschiebt®). 

Als  Geschichtschreiber')  füllen  solche  Leute  ihre  Werke  mit  abge- 
schmackten Lügen  zur  Verherrlichung  ihres  Helden.  So  beschrieb  Ari- 
stobulos  einen  Zweikampf  des  Alexandres  und  des  Porös  im  Stil  einer 
homerischen  dptaxeCa,  und  las  jenem  die  Stelle  vor.  Alexandros 
nahm  ihm  das  Buch  fort,  warf  es  ins  Wasser  und  sagte:  so  sollte 
man  es  auch  mit  dir  machen,  der  du  solche  Zweikämpfe  für  mich 
bestehst  und  Elephanten  mit  einem  Spiess  tödtest^).  Ein  anderer 
verglich    den   griechischen  Befehlshaber  mit   Achill,   den   König   der 


426 ff.  497.  Theophr.  t  p.  ^23,  2<  P. :  xal  diraivioat  6e  cfSovTos  xal  imoTjiATjva- 
a&ai  8i,  8?  irauaerai,  'OpOto?  (vgl.  Lukian  Timon  47,  \60)  '  oxoKJ/avTi  tj;u)^pd); 
dTciYeXaaai ,  to  xe  ijjLaTtov  cSaai  e?;  to  ardp-a  ax;  8tq  oü  Suvafievoc  xaxaaj^siv  tov 
7^Xü)Ta. 

I)  Hegesandros  bei  Athenaeos  VI  p.   249  E. 

2]  Plutarch  über  die  rechte  Art  zu  hören  p.  44 D:  vgl.  Quintilian  11  2,  9  ff. 
u.  a.     Horaz  a.  p.   420  ff.     Petronius  4  0  p.    4  4,  3  B. 

3)  Lukian  An  den  Ungebildeten  7,   4  07. 

4)  luvenal  III  44  :   Mibrum,  Si  malus  est,  nequeo  laudare  et  poscere'. 
5j   Terenz  Eunuchus  424  f. 

6)  Plautus  Miles  gl.  I  4.  Vgl.  Nikolaos  (IV  579  M.)  in  den  Anweisungen  für 
den  xoXaS  V.  36:  Tzapaxarzs'zal  xi«;  xal  icoiet  irdvta?  vexpoo?  Asdrvcp*  owoir^  toü- 
Tov  67uo|j.üXT7]p(aa(;  EJ?  tt^v  xpaTreCav  xal  au  n^v  X^^^^  acpSi;. 

7)  Lukian  über  Geschichtschreibung  4  2,    4  7. 

8)  Vgl.  Artolrogus  im  miles  glor.  25 :  *\e\  elephanto  in  India  Quo  pacto 
pugno  praefregisti  bracchium*. 


KoLAX.  45 

Perser  mit  Thersites  *).  Ein  Architekt  erbot  sich  den  Athos  zu  einem 
Bild  von  Alexandros  zu  machen  und  zwar  zu  einem  ähnlichen :  dieser 
erkannte  ihn  als  x6Xa^  und  liess  ihn  fallen^). 

Unerschöpflich  ist  das  Füllhorn  der  Schmeicheleien,  von  den 
directen  faustdicken  an,  wie  sie  für  den  dickhäutigen  dXaCci>v  passen, 
bis  zu  den  raffinirtesten  und  verstecktesten  für  feinere  Naturen^).  Eine 
gewisse  naive  Derbheit,  die  thut  als  könne  sie  ihrer  Bewunderung  nun 
einmal  keine  Zügel  anlegen,  wirkt  oft  am  meisten^).  Die  drastischen 
Hyperbeln  der  x6Xaxe<;  des  Eupolis  fr.  1 63,  die  wir  in  den  Elspaai  des 
vermeintlichen  Pherekrates  fr.  131  wieder  aufgenotnmen  und  verarbeitet 
fanden,  sind  noch  weiter  variirt  in  der  'EirtxXYjpoc  des  Diodoros  fr.  2, 34  ff. : 

Too^.  Se  xoXaxeueiv  Suva[ievou(; 

xal  TüivT    iiraiveiv,  oT(;  liteiS*)]  irpoaepü^foi 

^acpavt3a(;  "^  oaTupöv  a(Xoüpov  xaTacpGtYcÄv, 

Xa  xal  ^i8'   Icpaaav  aoibv  i^ptoTTjxevau 

iiztl  S'   diroirapSoi  (letd  xivoc  xaTaxe(|ievo^ 

TOüTCDV,  TcpoodYCüv  T^jv  ^iv'   sSeiT    aoToö  (ppdaat, 

Tcodev  t6  du{jL£a|xa  toüto  Xafißavet*). 


4)  Lukian  a.  0.  U,  20.  Vgl.  mil.  glor.  64.  Alazon  S.  3 4  ff.  Man  sieht, 
die  Schmeicheleien  der  xoXaxsc  und  die  Prahlereien  der  aXaCovec  in  der  attisch- 
römischen Komödie  sind  zum  guten  Theil  unmittelbar  aus  dem  Leben  gegriffen 
und  erinnerten  die  Zeitgenossen  Menanders  an  handgreifliche  Beispiele  der  Gegenwart. 

2)  Lukian  a.  0.    4  2,    4  7;   für  die  Bilder  9,    4  89. 

3)  Plutarch  über  den  Unterschied  zw.  cp(Xoc  und  xoXaS  p.  57  A:  8eivo<;  ü>v 
cpoXaTTsa&at  to  uTroirrov,  av  piv  soicapücpou  xivo?  aifpotxoo  XaßYjTai  <pop(v7jv  iraj^eiav 
cpipovTo?,  oXcp  T(p  jiuxTTjpt  ^(p^Tat ,  xaddEirep  o  Stpoü&fa?  IfiirepiTuaTcov  xcp  Bfavxi 
xal  xaTOp)(ou{xevo;  t%  avata&Y]o(a<;  aoTOu  tot?  iTuafvot?'  »AXeEcfv8poü  nXiov  too 
ßaaiXiox;  iriTrcoxai;«  (Menand.  fr.  285)  xal  (Men.  fr.  286).  toü^  hk  xofi^oTipoo? 
opcÜv  dvtaofta  fxaXicrra  irpooij^ovxa?  aotoTc  xal  cpuXaTTojjivous  to  x*"P^^^  tooto 
xal  Tov  T01COV  oox  alt'  eodsCag  iirayst  tov  siraivov,  aXX'  aitaYaiföiv  iropp«)  xoxXoo- 
tai  xtX. 

i)  Seneca  nat.  qu.  lY  praef.  5  :  '  alius  adulatione  clam  uletur,  parce,  alius 
ex  aperto,  palam,  rusticitate  simulata,  quasi  siraplicitas  illa  ars  non  sit.  Plancus, 
artifex  ante  Yilleium  maximus,  aiebat  non  esse  occulte  nee  ex  dissimulato  blandi- 
endum,     Perit,  inquit,  procari,  si  latet'. 

5)  Vgl.  Lukian  für  die  Bilder  20  p.  504  :  Kuvaidoc  o  AYjfiTjTpCoo 
too  IIoXiopxYjTOü  xoXa£  aicavicov   aux^  täv  itpo?  n^v  xoXaxe{av  .xatavaX«)- 

pivCDV     ilClQVSl     IWCO     ßTfJX^C    ävOJ^XoOjJLSVOV     TOV     A7][X-)^TpiOV     OTl    i[i|XsXtt>(    ^XP^H'"' 

icT£TO.     luvenal  III  4  06:    Maudare  paratuS;    Si  bene  ructavit,    si   rectum  minxit 
amicus,   Si  truUa  inverso   crepitum   dedit  aurea    fundo'.     Athenaeus  VI  p.   249  F. 


46  RiBBEGK, 

Der  x6XaS  ist  bereit,  Thersites  für  den  schönsten,  Nestor  für  den 
jüngsten  aller  Griechen  vor  Troja  zu  erklären,  den  taubstummen 
Sohn  des  Krösus  für  feinhöriger  als  Melampus,  den  Phineus  für 
scharfsichtiger  als  Lynkeus^). 

Die  meisten  Könige,  sagt  Plutarch^),  heissen  Apollon,  wenn  sie 
nur  durch  die  Nase  singen,  Dionysos,  wenn  sie  betrunken  sind, 
Herakles,  wenn  sie  ringen.  Die  x6Xaxe(;  sind  durch  ihre  Lobreden 
Schuld,  dass  Ptolemaios  öffentlich  als  Flötenbläser  und  Nero  als  tra- 
gischer Schauspieler  aufgetreten  ist:  ^ nihil  est  quod  credere  de  se 
Non  possit,  cum  laudatur  dis  aequa  potestas'^).  Den  Zorn  des  jün- 
geren Dionysios  beschwichtigte  sein  x6Xa^  Demokies,  den  seine  Mit- 
gesandten des  Verrathes  bei  dem  Tyrannen  angeschuldigt  hatten, 
durch  das  Vorgeben,  er  habe  sich  nur  mit  seinen  Genossen  entzweit, 
weil  jene  nach  Tische  immer  Lieder  des  Phrynichos,  Stesichoros, 
Pindar  hätten  singen  wollen,  er  hingegen  die  des  Dionysios;  und 
dessen  zum  Beweise  erklärte  er  sich  bereit,  sie  alle  der  Reihe  nach 
vorzusingen,  während  jene  nicht  einmal  die  Zahl  wüssten.  Dann 
bat  er  um  die  Gnade,  der  Herrscher  möge  ihn  doch  seinen  neuesten 
Päan  auf  den  Asklepios,  von  dem  er  gehört  habe,  durch  einen  Kun- 
digen lehren  lassen^). 

Jeden  physischen  oder  moralischen  Fehler  des  Gönners  be- 
schönigt der  x6Xa5  mit  dem  Namen  des  begriffsverwandten  Vorzuges, 
wie  der  verblendete  oder  gleichfalls  schmeichlerische  Liebhaber  alle 
Mängel  im  Bilde  seiner  oder  seines  Geliebten  euphemistisch  in  Reize 
umwandelt^).     So   nennt  jener   Lüderlichkeit   (dafoxCa)   seines  Herrn 


von  den  AtovuooxoXaxe^ :  aicoirruovro^  hk  tou  Aiovu3(ou  iroXXaxi^  izapziy^oy  xa 
irpQocüTca  xaTairruea&at  •  xal  airoXet^ovrec  tov  o(aXov  In  84  tov  Ijastov  aoTou 
{liXiToc  IXsYov  elvai  ^Xüxurspov. 

1)  Lukian  für  die  Bilder  89  p.   499. 

%)  Plutarch  a.  0.  p.   56  f. 

3)  luvenal  IV  70  f.     Die  Vergötterung  der  Fürsten. 

4)  Timaeus  bei  Athenaeus  VI  p.   250. 

5]  Piaton  Staat  V  19  p.  ilie  (ausgeschrieben  von  Aristainetos  epist  I  18, 
citirt  von  Plutarch  a.  0.  p.  56  D):  o  [jiv,  ort  oijjlos,  iTcf^aptc  xXTjftsU  dicaive- 
{hjoexai  09'  üjJLoiv,  too  SstoYpoirov  ßaoiXixov  ^ate  elvat.  tov  8ä  61^  8ia 
{jiiaou  tootcdv  l{j.{jL8TpoTaTa  Ix^^^'  p.iXavac  8i  av8ptxou^  {8etV9  Xeuxou^  8s 
&ecov  7rat8ag  eivai*  (leXi^Xcopoo^  88  xal  Toovopia  oiei  tivoc  aXXou  elvai 
iroCr^fta  elvai  r  Ipaoroo  oiioxopiCofiivoo  ts  xal  eu/spcoc  (pipovTO?  ti^v    cojfpo'njTa, 


KoLAX.  47 

Genialität  (eXeoOepiöry]^),  Feigheit  Vorsicht  (dacpdXeta),  unbesonnenes 
Dreinfahren  (IfiicXirjSfa)  Raschheit  (65öt7]<;),  Knauserei  (ixixpoXoffa) 
Maassbaltung  (ooicppoouvY]) ;  wenn  Einer  verbuhlt  ist  (epcoxixdc),  hat  er 


iay  iizl  u>pcf  -J;  Bei  Theokrit  X  87  singt  der  Schnitter:  Bo|jLßuxa  j^apfsooa,  Supav 
xoiX&vt(  To  iravxe?,  {a](vav  aXioxaoatov,  1^*"*  ^^  H'^^^^-H'®X(jfX«)pov.  VI  48: 
72  ifap  IpcoTi  IloXXaxic,  m  noXu<pa(jL£,  Ta  (i.i!]  xaXa  xaXa  Tricpavrai.  Lucretius 
IV   H60ff.: 

nigra  melichrus  est,  inmunda  et  fetida  a  cos  mos, 
caesia  Palladium,  nervosa  et  lignea  d  o  r  c  a  s , 
parvula,  pumilio  chariton  mia,   tota  merum  sal, 
magna  atque  immanis  cataplexis  plenaque  honoris, 
balba  loqui  non  quit,  traulizi;   muta  pudecis  est; 
at  flagrans  odiosa  loquacula  Lampadium  fit; 
ischnon  eromenion  tum  ßt,  cum  vivere  non  quit 
prae  macie;  rhadine  verost  iam  mortua  tussi. 
at  tumida  et  mammosa  Ceres  est  ipsa  ab  laccho, 
simula  Silena  ac  satnrast,  labeosa  philema. 

Ovid  a.  a.  II  657(1.  :  ^nominibus  moUire  licet  mala,  fusca  vocetur,  Nigrior  Illyrica 
cui  pice  sanguis  erit;  Si  straba,  sit  Veneris  similis;  si  rava,  Minervae; 
Sitgracilis,  macie  quae  male  viva  sua  est.  Die  habilem  quaecumque  brevis, 
quaeturgida,  plenam,  Et  lateat  Vitium  proximitate  boni*.  Anders  ist  das  Thema 
bei  Horaz  sat.  13,  43  gewendet  (vermuthlich  nach  einer  griechischen  Quelle 
Tzepl  fiXia^): 

at  pater  ut  gnati,  sie  nos  debemus,  amici 
si  quod  Sit  Vitium,  non  fastidire:  strabonem 
adpellat  pactum  pater,  et  pull  um,  male  parvus 
sicui  filius  est,  ut  abortivus  fuit  ollm 
Sisyphus;  hunc  varum  distortis  crinibus,  illum 
balbutit  Scaurum  pravis  fultum  male  talis. 
parcius  hie  vivit,  frugi  dicatur.     ineptus 
et  iactantior  hie  paullost,  concinnus  amicis 
postulet  ut  videatur.     at  est  truculentior  atque 
plus  aequo  liber,  Simplex  fortisque  habeatur. 
caldior  est,  acres  inter  numeretur.     opinor, 
haec  res  et  iungit  iunctos  et  servat  amicos. 

luvenal  III  86:  'quid  quod  adulandi  gens  prudentissima  laudat  Sermonem  indocti, 
faciem  deformis  amici.  Et  longum  invalid!  coUum  cervicibus  aequat  Herculis 
Antaeum  procul  a  tellure  tenentis,  Miratur  vocem  angustam'  u.  s.  w.  Plumper  ist 
die  Umwandlung  eines  Gebrechens  in  das  grade  Gegentheil,  wovon  luvenal  VIII 
32:  'nanum  cuiusdam  Atlanta  vocamus,  Aethiopem  Cycnum,  pravam  extortamque 
puellam  Europen,  canibus  pigris  scabieque  vetusta  Levibus  et  siccae  lambentibus 
ora  lucemae  Nomen  erit  tigris  pardus  leo,  si  quid  adhuc  est  Quod  fremat  in  terris 
violentius'  u.   s.  w. 


48  RiBBEGK, 

ein  warmes  Herz  und  liebt  Geselligkeit  {^ikooTop-^o^  und  ^iXoaüvVjdT]^), 
der  Zornige  und  Hochmüthige  heisst  männlich  (dvSpeibc),  der  Würde- 
lose (eüxeXijc  xai  Ta'jceiv6(;)  menschenfreundlich  (cpiXavdpcoiroc).  So 
nannten  die  x6Xaxe<;  die  Grausamkeit  eines  Dionysios  von  Sicilien 
und  eines  Phalaris  Strenge  (ixtaoicovYjpfa),  die  Orgien  des  Ptolemaios 
Frömmigkeit,  die  zügellosen  Ausschweifungen  des  Antonius  heitere 
Feste  ^).  Vorzüge  oder  Interessen,  welche  dem  xpecpcov  fehlen,  wer- 
den herabgesetzt,  verspottet,  in  Fehler  oder  Thorheiten  umgewandelt, 
so  dass 'gerade  das  Gegentheil  davon  lobenswürdig  erscheint.  Sitten- 
losen Menschen  gegenüber  wird  acocppooüVTj  als  Philisterei  (dYpoix(a) 
verhöhnt,  vor  Gewaltthätigen  gilt  Gerechtigkeit  und  Bescheidenheit 
für  Verzagtheit  und  Mangel  an  Energie  (dToX|jL(a  und  dppuioxia  irpb; 
xb  Tcpaxxetv).  Verkehrt  der  x6Xa5  mit  Leuten,  die  kein  Interesse  am 
öffentlichen  Leben  haben,  denen  es  an  Gemeinsinn  fehlt,  so  nennen 
sie  Betheiligung  an  Staatsgeschäften  (iroXixeCa)  Sichbefassen  mit 
fremden  Angelegenheiten  (dXXoxpioirpaYia  eicCirovo^),  erklären  berech- 
tigtes Streben  sich  hervorzuthun  ((piXoxt|iia)  für  hohles  Streberthum 
(xevo8oS(a  axapTco^).  Bei  unzüchtigen  Weibern  macht  man  sich  beliebt, 
wenn  man  die  ehrbaren  Ehefrauen  unliebenswürdig  (dvacppoSixouc) 
und  unmanierlich   (dYpo(xoo(;)  schilt  2). 

Ist  der  x6XaE  ein  Maler  und  hat  ein  Porträt  anzufertigen,  so 
macht  er  es  ganz  wie  der  Besteller  es  haben  will:  er  verkleinert 
die  Nase,  macht  die  Augen  schwärzer  und  was  sonst  beliebt  wird^j. 
Als  Beschauer  findet  er  ein  so  verschönertes  Bild  natürlich  ähnlich^). 
Als  Dichter  steht  er  nicht  an,  eine  Frau  von  kleiner  Figur  mit  einer 

4)  Plularch  über  d.  Unterschied  zw.  cp(Xo(;  und  xoXaS  p.  66Bfr.  Vgl.  Mor. 
p.  483.  504.  Ix  T^?  dmoToX^?  irspl  cpiXfa?  .bei  Stobaeus  floril.  II  35:  xax(ai; 
ttüTCüv  7rXaaoovTa(  Tive<;  ^YjfiaTCüV  soTtp£ire(c|L,  to  ji.8V  (piXoax(i>p.[xaTov  airXoov,  to  8e 
cpiXapYupov  irpo[jL7]ö^^  airoxaXoup^voi.  Seneca  epist.  45,  7:  'venit  ad  me  pro 
inimico  blandus  inimicus.  vitia  nobis  sub  virtutum  nomine  obrepunt.  temeritas 
sub  titulo  fortitudinis  latet;  moderatio  vocatur  ignavia;  pro  cauto  timi- 
dus  accipitur*.  Aristoteles  rhet.  I  9  p.  34,  34  —  32,  44  Bk.  Vgl.  Thucyd.  III 
82.  Sallust  Gatil.  62,  4  4.  Tacitus  Agr.  30  extr.  Hierher  gehört  auch  von  den 
Anweisungen  des  Komikers  Nikolaos  (IV  579  M.)  V.  33 :  oltzo  Toiv  Itcöv  xXiirrsl 
Ti?  ri  xal  ßairreTai,  ö^Xcuv  xaXoc  eivai,  xal  irap'  -^Xixfav  vooei*  lere«)  ravoji-Tf^Sr^c 
ouTo^  aTco&eoupievo«;. 

2)  Plutarch  a.   0.  p.   57C.     Vgl.  Horaz  sat.   I  3,   66 ff. 

3)  Lukian  für  die  ßilder  6,   487. 

4)  Theophrast  2  p.    4  24,    4  8P. 


KoLAx.  49 

Pappel  zu  vergleichen,  ein  Lobgedicht  auf  das  Haar  der  Stratonike,  der 
Gemahlin  des  Seleukos,  zu  machen,  welche  dasselbe  durch  Krankheit 
verloren  hat,  die  Hyakinthosfarbe  ihrer  krausen  Locken  zu  besingen 
und  so  fort*). 

Weiter  ist  ein  Hauptgesetz  für  den  xoXaS,  durchweg  so  zu  sagen 
die  zweite  Stimme  zu  spielen:  xa  SeuTspa  Xs^stv  xal  itpaiTstv, 
wie  jener  scurra  bei  Horaz  (epist.  I  18,  12 ff.):  'sie  nutum  divitis 
horret,  Sic  iterat  voces  et  verba  cadentia  toUit,  Vt  puerum  saevo 
credas  dictata  magistro  Reddere  vel  partes  mimum  tractare  secundas'^); 
und  diese  zweite  Rolle  ist  eben,  wie  oben  angegeben,  im  Mimus 
regelmässig  die  des  Parasiten  gewesen.  Als  echter  eipcov  macht  er 
sich  selbst  schlecht,  um  den  Anderen  desto  lauter  zu  preisen :  wie  die 
Ringer  sich  bücken,  um  den  Gegner  niederzuwerfen,  sagt  Plutarch^). 
»Ich  bin  nur  ein  feiger  Kerl  auf  dem  Meer«,  wirft  er  hin,  »kann  keine 
Strapazen  ertragen;  spricht  man  schlecht  von  mir,  so  gerathe  ich 
ausser  mir  vor  Zorn:  aber  für  den  da  giebts  keine  Gefahr,  keine 
Anstrengung;  Alles  trögt  er  sanftmüthig,  Alles  mit  Heiterkeit,  —  ein 
seltner  Mensch !«  Oder  wenn  er  eigene  Gaben  nicht  ganz  verleugnen 
kann,  heisst  es:  »ich  laufe  schnell,  aber  der  da  fliegt;  ich  reite 
passabel,  aber  was  will  das  sagen  gegen  diesen  Hippokentauren?  ich 
mache  einen  leidlichen  Vers,  donnern  aber  ist  nicht  meine  Sache, 
sondern  des  Zeus«  *) .  Beim  Ringen  lässt  sich  der  xoXa^  von  seinem 
Herrn  zu  Boden  werfen,  beim  Wettlauf  überholen,  wie  Krisen  der 
Hiraeräer  von  Alexandres,  der  es  aber  merkte  und  darüber  böse 
wurde.  Wie  die  Stoiker  den  Weisen,  so  erklärt  der  xoXaS  seinen 
Herrn  für  Alles  was  er  will,  für  einen  Redner  und  Dichter,  einen 
Maler,  Flötenspieler,  Schnellläufer,  Athleten^).  Wie  der  xoXaS  auf 
Kypros,    so   ahmen   alle   höfischen    x6Xaxe<;    den    Herrscher   nach   in 


4]  Lukian  a.  0.  4,  486  (T.  (nach  dem  Vorbild  der  xo^tj  ßspsvtxT];  des  Kalli- 
machos] .  • 

31)  Vgl.   Bentley's  Anm.  zu  V.    H. 

3]  Plutarch  a.  0.  p.  57 E.  Ein  arabischer  xoXa^  geht  mit  einem  hohen 
Herrn  spazieren.  Dieser  fragt:  bist  du  nicht  grosser  als  ich?  Jener  erwidert: 
euer  Gnaden  sind  grösser  als  ich,  nur  bin  ich  der  Natur  nach  etwas  entwickelter. 
(A.  V.   Kramer  Culturgesch.   d.  Orients  II  246). 

4'   Plutarch  a.  0.   p.   54  1):   vgl.   Kallimachos  fr.   490. 

5)   Plutarch  a.   0.    4  6   p.    58  E. 

Abhandl.  d.  K.  3.  Gesellsch.  d.  Wissen  seh.  XXI.  4 


50  Ribbeck, 

Stimme,  Geberde  u.  s.  w^).  Auf  alle  Stimoiungen  und  Neigungen 
des  Herrn  geht  er  ein,  aber  mit  Ostentation  und  Uebertreibung. 
Ist  derselbe  verdriesslich ,  so  stellt  er  sich  schwermüthig;  ist  jener 
abergUUibisch ,  so  spielt  er  den  Schwärmer  (deo^^6pYjTo;) ;  ist  jener 
verliebt,  so  macht  er  den  Vernarrten;  lacht  der  Andere,  so  will  er 
vor  Lachen  bersten;  friert  jener,  so  zieht  er  einen  Wintermantel  an; 
findet  jener  es  schwül,  so  schwitzt  er 2).  Mit  dem  Einen  singt  und 
tanzt  er,  mit  dem  Anderen  treibt  er  Gymnastik,  mit  einem  Dritten 
theilt  er  die  Passion  für  die  Jagd.  Kommt  ihm  ein  Gelehrter  in  den 
Wurf,  so  wird  er  ein  Bücherwurm,  lässt  den  Vollbart  lang  hängen, 
trägt  den  Philosophenrock,  führt  die  Zahlen  und  Dreiecke  Piatons  im 
Munde.  Stösst  er  dann  wieder  auf  einen  reichen  Lebemann,  der 
gern  zecht,  so  wirft  er  den  xpißcov  weg,  lässt  sich  rasiren,  und  weiss 
nur  von  Trinkschalen  und  Weinkühlern,  Gelächter  auf  Spazierwegen, 
Spöttereien  über  die  Philosophen.  So  die  Dionysokolakes  in  Syrakus. 
Während  der  Anwesenheit  Piatons,  so  lange  Dionysios  für  Philosophie 
schwärmte,  war  der  Königspallast  mit  Staub  angefüllt,  weil  so  viele 
Geometrie  trieben  und  Figuren  in  den  Sand  zeichneten:  sobald  aber 
Piaton  in  Ungnade  gefallen  war  und  der  Tyrann  die  Philosophie  auf- 
gegeben hatte,  gab  man  sich  wieder  den  Trinkgelagen  und  Dirnen, 
den  Possen  und  der  Lüderlichkeit  hin^). 

Selbst  Krankheiten,  Gebrechen  und  zufällige  Eigenheiten  des 
Gönners  und  Meisters  ahmen  sie  nach:  hielten  sie  sich  frei  davon, 
so  könnte  dieser  ja  einen  versteckten  Tadel  darin  finden.  Die  An- 
hänger Piatons  gingen  wie  dieser  in  gekrümmter  Haltung,  die  des 
Aristoteles  lispelten,  die  des  makedonischen  Alexandros  neigten  den 
Hals  zur  Seite  und  nahmen  den  rauhen  Ton  seiner  Stimme  im  Ge- 
spräch  an^).     Die   x6Xaxe<;   des   Dionysios,    der    vom   vielen  Trinken 


\)   Plutarch  a.   0.   <0   p.   54  C. 

2)  luvenal  III  4  00:  'rides,  maiore  cachinno  Concutitur ;  flet,  si  lacrimas  con- 
spexit  aQiici^  Nee  dolel;  igniculum  brumae  si  tempore  poscas,  Accipit  endromidem; 
si  dixeris  aestuo,  sudat'.  Vgl.  die  xoXaxsufjLata  des  Liebhabers  bei  Ovid  a.  a. 
II  4  96—208. 

3)  Plutarch  a.  0.  7  p.  52  B  (DioQ  U),  der  p.  52  E  als  Virtuosen  in  dieser 
Art  von  xoXaxs{a  den  Alkibiades  nennt;  vgl.  Satyros  bei  Athen.  XII  p.  535. 
Plutarch  Alcib.   23. 

4]  Plutarch  a.  0.  9  p.  53C  Lehren  f.  d.  Staatsmann  3,  13  p.  800 A:  01 
piv  oüv  aoXixot  xoXaxe;  wizsp  opvi{>o&7jpai  p.i)jLOUfX£voi  T(l  ?">vYi  xtX. 


KOLAX.  51 

augenkrank  geworden  war,  stellten  sich  blind,  Hessen  sich  vom 
Tyrannen  an  der  Hand  führen,  stiessen  aufeinander,  thaten  bei  Tisch 
als  könnten  sie  die  Speisen  und  Becher  nicht  sehen,  griffen  daneben, 
bis  ihnen  jener  die  Hände  führte,  warfen  die  Schüsseln  herunter^). 
Als  dem  makedonischen  Philippos  bei  der  Belagerung  von  Methone 
ein  Auge  ausgeschlagen  war,  erschien  Kleisophos  in  seiner  Gesell- 
schaft gleichfalls  mit  einem  Verband  am  rechten  Auge;  als  jener  am 
Bein  verwundet  war,  hinkte  er,  wenn  er  mit  dem  Herrscher  aus- 
ging; nahm  derselbe  eine  bittere  Speise  zu  sich,  so  schnitt  der  x6XaS 
eine  Grimasse,  als  ob  er  mit  davon  ässe^).  Dass  dergleichen  orien- 
talische Hofsitte  war,  wird  durch  die  arabische  Sitte  bestätigt,  dass, 
wenn  der  König  ein  Leiden  hatte,  die  Unterthanen  sich  stellen  muss- 
ten,  als  hätten  sie  das  gleiche^).  Bei  Worten  liess  es  Nikesias,  der 
xoXaS  Alexanders,  bewenden,  der,  als  der  König  in  Krämpfen  lag, 
bemerkte:  »was  sollen  wir  anderen  anfangen,  wenn  ihr  Götter  so 
leiden  müsst!«^) 

Auch  innere  Seelenleiden  machen  Manche  mit.  Merken  sie,  dass 
der  Herr  in  der  Ehe  unglücklich  ist  oder  gegen  seine  Söhne  oder 
Freunde  Misstrauen  hegt,  so  klagen  sie  über  ihre  eigene  Frau,  ihre 
Kinder,  Verwandte,  Freunde,  und  bringen  abscheuliche  Beschuldigungen 
gegen  sie  vor.  Einer  soll  sogar  seine  Gattin  Verstössen  haben,  nach- 
dem der  Gönner  sich  von  der  seinigen  getrennt  hatte,  wurde  aber 
ertappt,  als  er  heimlich  zu  ihr  ging:  die  Frau  des  letzteren  hatte  es 
gemerkt  ^) . 

Bei  Berathungen  hält  sich  der  x6Xa^  so  lange  zurück,  wie  der 
Herr  die  Augenbrauen  zusammenziehend  und  den  Kopf  wiegend,  bis 
dieser  seine  Meinung  gesagt  hat ;  dann  bricht  er  los :  »beim  Herakles, 
du  nimmst  mir  das  Wort  aus  dem  Munde,  das  wollt'  ich  eben  sagen^)«; 
und  um  ja  nicht  lau  zu  erscheinen,  feuert  er  ihn  dringend  zur  Aus- 


4)  Theophrast  (ir.  xoXax£(a(;?)  bei  Athenaeus  X  47  p.  435  e,  den  Plutarch 
a.  0.  p.  53  P  benutzt  hat;  ferner  Athen.  VI  p.  249  f.  Dasselbe  Hegesandros  bei 
Athen.   VI  57  p.   250e  über  die  xoXaxec  des  Hieron. 

i)  Satyros  im  Leben  des  Phiiippos  bei  Athenaeus  VI  54  und  Aelian  de  nat. 
anim.   9,   7. 

3)  Athenaeus  VI  p.  249  a. 

4)  Athenaeus  VI  p.  254  c. 

5)  Plutarch  a.   0.   p.   54  A. 

6)  Plutarch  a.  0.   p.   63  B. 

4* 


5Ü  RjBBETK. 

führoDg  an' .  Aber  ohne  Zaudern  macht  er  jede  Sinnesänderang, 
jede  Wandlung  in  deinen  Sympalhieen  und  Antipathieen  mif  und  be- 
stärkt  dich  in  jeder  Laune.  Sprichst  du  den  Vorsatz  aus,  deine 
l>5bensweise  zu  ändern,  z.  B.  dich  aus  der  Politik  in  das  Privatleben 
zurückzuziehen,  so  sagt  er :  »wir  hätten  uns  längst  von  allen  den  Un- 
ruhen und  Anfeindungen  losmachen  sollen«.  Fällt  es  dir  dann  wie- 
der ein,  zu  den  öffentlichen  Geschäften  zurückzukehren,  so  stimmt 
er  zu:  »das  ist  eine  Denkungsart,  deiner  würdig;  die  Unlhätigkeit  ist 
zwar  angenehm,  aber  ruhmlos  und  niedrig««-^.  Wenn  du  einen  deiner 
bisherigen  Freunde  ihm  gegenüber  tadelst,  so  spricht  er:  »es  bat  lange 
gedauert,  ehe  du  dem  Menschen  auf  die  Sprünge  gekommen  bist; 
mir  hat  er  schon  früher  nicht  gefallen«.  Aenderst  du  wieder  deine 
Meinung  und  lobst  ihn,  so  wird  er  versichern,  dass  er  sich  mit  dir 
freue,  dir  in  seinem  Namen  danke  und  ihm  Vertrauen  schenke^). 

Die  feineren  Formen  der  xoXaxeia.  Statt  eigener  Lobes- 
erhebungen macht  der  xoXa^  den  Berichterstatter  über  das,  was 
andere  Leute  Rühmliches  über  dich  gesprochen  haben:  er  habe  sich 
gefreut,  Fremde  oder  ältere  Personen  auf  dem  Markt  zu  treffen,  die 
viel  Gutes  von  dir  gesagt  haben  und  dich  sehr  bewunderten^). 
'»Gestern  erklang  dein  Ruhm  in  der  Stoa:  mehr  als  30  Menschen 
Sassen  da  beisammen,  und  wie  die  Rede  darauf  kam,  wer  der  beste 
sei,  da  fingen  sie  alle  von  dir  an  und  kamen  auf  deinen  Namen 
zurück«').  Ais  Begleiter  auf  der  Strasse,  natürlich  comes  exlerior^)^ 
macht  er  dich  aufmerksam,   wie   die  Menschen   dich    ansehen:    das 


<y   IMutarch  <p(Xo;  und  xokal  p.   62  F. 

2;    Plularch  a.  0.   p.   53  B. 

3;  Plularch  a.  0.  p.  53  A:  toioüto;  "(ap  oio?  e?  ^^y^i?  nva  täv  ^(Xcöv 
TTpo;  auTov  efeelv  *  *  ^Spaosco;  ^scpcopaxa^  tov  av&pcuirov "  Ifiol  (jiev  ^ap  oü64  irpo- 
Tspov  -/jpsaxev*.  av  8'  ao  iraXtv  iwaiv^;  fjLSta^^aXXop^voc,  vr^  Aia  rprjosi  auvr^Bsaftai 
xal  xaptv  exeivaoTo;  üirep  toS  avöpawcoo  xal  iriaTeiisiv.  Dies  und  p.  63  B  viel- 
IfMclit  nach  Tlieophrast. 

4)   Plularch  a.   0.    U  p.   57  B. 

6)  Theophrasl  2  p.  123,  \0V:  TjüSoxijxsi;  yßk(;  iv  t^  oto^  '  tcXsiovcov  ^dp  r^ 
Tptaxovia  avDpakwv  xathjfjivwv  xal  iixreadvTo?  Xo^ou,  t(;  sitj  ßiXTioTO?,  air' 
ctUToO  apSafiivoo;  Travia;  itrl  to  ovojAa  aoToo  xaTevex^r^vai.     Vgl.  mil.  gl.  58 — 71. 

6)  lloraz  sat.  II  5,  17  f.  luvenal  III  131:  *  divitis  hie  servi  claudit  latus 
ingenuorum  Kilius\ 


KoLAX.  53 

geschehe  in  der  ganzen  Stadt  keinem  ausser  dir^).  Oder  er  denkt 
sich  falsche  Beschuldigungen  gegen  dich  aus,  thut  als  habe  er  sie  von 
anderen  gehört  und  kommt  voll  Eifer  mit  der  Frage,  wo  du  dies  und 
jenes  gesagt  oder  gethan  habest.  Wenn  du,  wie  selbstverständlich, 
es  in  Abrede  stellst,  so  ergreift  er  den  x\nlass  in  Lobreden  überzugehn : 
Dich  wunderte  mich  auch,  dass  du  von  einem  deiner  Freunde  schlecht 
gesprochen  hättest,  der  du  es  nicht  einmal  von  deinen  Feinden  ver- 
magst; oder  dass  dil  fremdes  Gut  angriffst,  der  du  so  freigebig  mit 
deinem  eignen  bist«^). 

Auch  in  die  Form  ironischer  Neckereien,  von  denen  das  Gegen- 
theil  zu  verstehen,  kleidet  sich  die  xoXaxeia:  wenn  einer  den  Stein- 
reichen mit  Gläubigern,  den  grossen  Redner  und  Staatsmann  mit 
einer  Anklage  bedroht,  den  Freigebigen  einen  Knicker  nennt,  wenn 
ein  Parasit  zu  Philippos  sagt:  »bin  ich  nicht  dein  Brodherr?«'*). 
Erheuchelte  Freimüthigkeit  in  der  Form  leichten  Tadels  ist 
eine  Würze  der  xoXaxe(a^).  Um  sich  gleichsam  den  Boden  zu  be- 
reiten ,  aflFectiren  sie  gegen  Sclaven  und  Angehörige  unerbittliche 
Strenge  und  rauhe  Biederkeit,  damit  man  glauben  soll,  sie  können 
nicht  anders  als  ihre  Meinung  frei  heraussagen^).  Auch  dem  Gönner 
widerspricht  der  xoXa^  wohl  einmal  zum  Schein,  um  sich  von  jenem 
widerlegen  zu  lassen  und  ihm  die  Befriedigung  der  Ueberlegenheit 
zu  gewähren^).  Während  er  über  wirkliche  Fehler  und  Vergehen 
hinwegsieht,  rügt  er  desto  aufmerksamer  etwa  die  Vernachlässigung 
eines  Hausgeräthes,  eines  Hundes  oder  Pferdes,  wenn  der  Freund 
schlecht  wohnt,  wenn  er  sich  im  Aeusseren,  in  Kleidung,  Haar,  Bart 


\]  Theophrast  char.   2  p.    4  23,   8 — 10. 

t)   Plutarch  a.  0.   1 3  p.   57  C. 

3)  Plutarch  Symposiaca  li  \,  5 :  oux  i^ii  ae  Tpscpu) ;  Nach  Lynkeus  von 
Samos  in  seinen  aico[iV7jtJLOveu(i.aTa  (bei  Athen.  VI  p.  2i8d)  war  es  Kleisophos : 
oxcwrcovTo;    8*    auTov    toS    OtX(7nroo   xal    eoTjfxepouvTo; ,    eit'   oux  iya)   oe,    Icpr), 

4]   Plutarch  über  die  Bosheit  des  Herodot  9. 

5)  Plutarch  über  d.  Unterschied  zwischen  (p(Xo^  u.  xoXa^  il  p.  59 D;  vgl. 
5  p.  51  G. 

6]  Cicero  de  amic.  26,  99:  '  etiam  graviores  constantiorcsquc  admonendi  sunt, 
ut  animadvertant  ne  callida  adsentatione  capiantur.  aperte  enim  adulantcm  nemo 
non  videt,  nisi  qui  admodum  est  excors :  callidus  ille  et  occultus  ne  se  insinuet 
studiose  cavendum  est.  nee  enim  facillime  agnoscitur,   quippe  qui  etiam  adversando 


54  RiBBErK, 

vernachlässigt  ^).  Er  zupft  ein  Fäserchen  von  deinem  Rock,  und  wenn 
der  Wind  dir  ein  Kömchen  in  das  Haupthaar  geweht  hat,  liest  er 
es  ab  und  sagt  dabei  mit  Lächeln:  »siehst  du?  zwei  Tage  bin  ich 
dir  nicht  begegnet,  da  hast  du  den  Bart  voll  grauer  Haare,  obwohl 
du  in  Ansehung  deiner  Jahre  es  noch  mit  Jedem  in  der  Schwärze 
des  Haars  aufnehmen  kannst«^).  Das  ist  der  sprüch wörtliche  xpo- 
xüXeyjio;»^.  Unleugbare  Schwächen  des  Gönners  werden  verwischt 
durch  Hervorhebung  unwesentlicher  Mängel,  als  ob  diese  an  dem 
Missfallen,  welches  jene  hervorrufen,  Schuld  seien.  An  einem  schlech- 
ten Redner  z.  B.  tadelt  der  x6XaS  nicht  die  Rede,  sondern  er  be- 
schuldigt das  Organ  und  wirft  ihm  vor,  dass  er  es  durch  Kaltwasser- 
trinken verderbe.  Soll  er  eine  schlechte  Abhandlung  beurtheilen, 
so  tadelt  er  nur  den  groben  Papyrus  und  die  Nachlässigkeit  des  Ab- 
schreibers.    So   stritten    sich    die    x^Xaxec   mit   Ptolemaios,   der   mit 


saepe  adsentetur  et  litigare  se  simulans  blandiatur  atquc  ad  exlreinura  det  manus 
vincique  se  patiatur,   ul  is,  qui  illiisus  sit,  plus  vidisse  videatur'. 

i)   Plutarch  über  den  Unterschied  zwischen  <p(Xo<;  und  xoXa£  M  p.   59 E. 

t)  Theophrast  char.  2  p.  \%3,  14:  xal  aXXa  Toiauta  XeYü>v  airo  to5  Ip-ariou 
acpeXstv  xpoxtioa  •  xal  lav  ti  irpo;  xo  xply wiia  Tf|?  xecpaATj«;  oiro  TrveofjLaTo; 
Tcpoaevex&iQ  ayypoy,  xap^poXoYr^aai,  xal  liriYsXaaa?  8s  sfireiv  *  opä; ;  on  8uoiv  ooi 
Tjfxepiov  oüx  ivTSTüjrr^xa ,  iroXiaiv  eo^rr^xa?  tov  ircoYcova  fxaarov,  xaticsp,  ein?  xal 
akko^,  eyeic  irpo;  xa  Ixt]  |tiXaivav  xr^v  xp^^a.  Schon  Aristo phanes  hat  diesen 
Zug.  In  den  Iloikades  wurde  von  Kleon  oder  einem  andern  xoXa^  des  Demos 
gesagt,  fr.  410  K:  aSaj^eT  ^ap  auxoo  xov  a/op'  IxXsYei  x'  asl  'Ex  xo5 -yeveioü  ra? 
TcoXia?.  In  den  Rittern  908  verspricht  Kleon  dem  Demos:  iyco  8i  xa?  iroXia? 
"(i  aoüxXi-ywv  veov  TroiTjOm.  Ein  andrer  Vers  aus  unbekanntem  Stück  (fr.  657) 
lautet:  ei  xt?  xoXaxeoei  fTtaptüv  (Tuapaxopujv  Kock)  xal  xa?  xpoxu8a?  acpaipmv,  an 
einer  anderen  Stelle  (fr.  7U)  kam  a^paipei  xp(;ra?  in  demselben  Sinne  vor:  iizi 
xivo?  xoXaxeusiv  iTctj^eipoovxo?.  Valeria  erregte  so  zuerst  die  Aufmerksamkeit 
SuUa's  im  Theater:  irapa  xov  ioXXav  l£o7ria&ev  napaTcopeuoixivT]  xtjv  xs  X^^P* 
Ttpo?  auxov  aitTjpstaaxo  xal  xpoxü8a  xou  Ijiaxfoo  airaaaaa  itap^Xftsv  hzi  xr^v  iaoxr^? 
Xoipav   (Plutarch  Sulla  35). 

3)  Hesychius:  xpoxuXeYjxo?*  xo  xoXaxeuxixco?  xa?  xpoxuSa?  aicoX^eiv 
xÄv  ((xaxCcDV.  Bekker  anecd.  4,  27:  a^patpetv  xpoxu8a?'  X(av  Tjxxtxioxai .  .  . 
iTtl  xwv  TOVxa  TToioüvxwv  8ta  xoXaxeiav,  cSaxe  xal  itapsTrofiivou?  a^aipeiv  xpoxu8a? 
x^?  iofr^xo?  Y)  xapcpo?  XI  x^?  xecpaX^?  t]  xou  ^evefou.  Suidas:  a^paipstv  xpoxuSa?' 
iitl  xÄv  Ttavxa  ttoiouvxwv  oia  xoXaxsta?.  aXXoi  xe  xp^ovxat  xal  ^Aptoxocpavr^?  (ine. 
fab.  657)  xal  acpaipei  (oxo?  ri  ^ivo?-  axxixo)?  tj  auvxaSi?.  Appendix  proverb. 
Cent.  I  42:  a^aipetv  xpoxu8a?'  ittl  xwv  Ttavxa  ttoioovxwv  Svexev  xoXaxsCa?  * 
T)  Oüxo?  acpatpsixai  xal  xpoxu8a?  im  xcov  8ia  xoXaxe(a?  p.eXP^  ''•^^  '^^ 
9[iixpoxax(uv  xaxaYivofjtivcüv  aJxelv. 


KoLAx.  55 

Bildung  koketlirle,  halbe  Nächte  lang  über  einen  Ausdruck,  eine  Zeile, 
wilhrend  sich  gegen  seine  Grausamkeit  und  seine  Hybris  keiner  von 
ihnen  erhob  ^). 

Am  schlimmsten  sind  jene,  welche  die  Laster  ihres  Pflegers  nicht 
nur  übersehen,  sondern  ihn  sogar  darin  bestärken,  indem  sie  ihn  mit 
scheinbarer  Freimüthigkeit  des  gegentheiligen  Fehlers  bezichtigen. 
Uimerios  schalt  einen  höchst  filzigen  Nabob  einen  leichtsinnigen  Ver- 
schwender, der  mit  seinen  Kindern  noch  einmal  werde  hungern 
müssen.  T.  Petronius  warf  umgekehrt  dem  Nero  kleinliche  Sparsam- 
keit vor.  Wenn  Einer  roh  und  grausam  mit  seinen  Untergebenen 
umgeht,  fordert  ihn  der  xoXa^  auf,  die  gar  zu  grosse  Gutmüthigkeit 
und  das  unzeitige  Mitleiden  abzulegen.  Vor  einem  Dummkopf  stellt 
er  sich,  als  fürchte  er  seine  überlegene  Schlauheit.  Ein  Lästermaul 
sieht  sich  einmal  veranlasst  einen  Angesehenen  zu  loben;  der  x6Xa6 
widerspricht:  das  sei  eine  Krankheit  des  Freundes,  Leute  zu  loben, 
die  es  nicht  verdienen.  Wenn  Einer  mit  seinem  Bruder  zerfallen  ist, 
seine  Eltern  verachtet,  seine  Frau  schlecht  behandelt,  so  sagt  der 
xokaZ:  »du  bist  an  Allem  Schuld,  du  machst  ihnen  viel  zu  sehr  den 
Hof«.  Ist  ein  Zerwürfniss  mit  einer  Hetäre  oder  einer  Ehebrecherin 
eingetreten,  so  trägt  er  Feuer  zu  Feuer,  wirft  dem  Liebhaber  vor, 
wie  lieblos  und  hart  er  gegen  die  Geliebte  sei.  So  die  Freunde  des 
Antonius  in  seinem  Verhältniss  zur  Kleopatra:  sie  beredeten  ihn,  dass 
er  von  ihr  gehebt  werde,  schalten  ihn  unempfindlich  und  hochmüthig. 
»Sie  hat  ihr  Königreich  und  ihre  heimathliche  Behaglichkeit  verlassen, 
theilt  mit  dir  das  Kriegsleben  wie  ein  Kebsweib  und  du  lässt  sie 
schmachten«.  Das  hörte  Antonius  gern,  lieber  als  Lob.  Solche 
7üappY]aia  ist  wie  die  Bisse  leidenschaftlicher  Frauen,  durch  schein- 
baren Schmerz  die  Wollust  reizend^). 

Immer  führt  der  x6Xa^  den  unvernünftigen,  leidenschaftlichen, 
lasterhaften  Trieben  des  Freundes  das  Wort  und  wird  so  zu  seinem 
bösen  Genius.  Im  Zweifelsfalle  legt  er  stets  sein  Gewicht  in  die 
Wagschale   der   niederen   Regungen.     Hat   z.   B.    der   Freund   einem 


f)  Plutarch  über  d.  Unlcrschied  zwischen  «piXo;  und  xoXaS  17  p.  59  F,  nach 
Theophrast?  (toioSto?  y^P  ^  xoXa?  oio?  ^r^ropo;  cpauXou  xtX.)  Anekdoten  über 
xoXaxeia  unter  der  Maske  der  irappirjata :  Agis  von  Argos  gegen  Alexandros  d.  Gr., 
der  Senator  gegen  Tiberius  ebenda   18. 

2i   Plutarch  a.   0.    19   p.   60  D.     Vgl.   Leben  des  Antonius  53. 


56  RlBBEC.K. 

Angehörigen  versprochen  Geld  zu  leihen,  bereut  es  aber  und  schämt 
sich  doch  sein  Wort  zu  brechen,  so  schlägt  der  x6Xa8  dieses  Ehr- 
gefühl nieder  mit  der  Bemerkung:  »du  giebst  ohnehin  so  viel  aus, 
hast  so  vielen  zu  helfen,  musst  sparen«;  und  so  siegt  die  Rücksicht 
auf  den  Geldbeutel.  Hat  sich  der~  Freund  den  Magen  überladen  und 
zweifelt  ob  er  baden  und  essen  soll,  so  wird  der  xoXa^,  statt  zur 
Vorsicht  zu  mahnen,  ihn  in  das  Badelocal  schleppen  und  ihn  auf- 
fordern von  frischem  auftragen  zu  lassen,  den  Leib  nicht  durch  Fasten 
zu  schwächen.  Ist  jener  aus  Weichlichkeit  unlustig  zu  einem  Wege, 
einer  Seefahrt,  einem  Geschäft,  so  wird  der  xoXaS  sagen:  »es  drängt 
ja  auch  gar  nicht,  es  ist  eben  so  gut,  wenn  du  es  aufschiebst  oder 
einen  anderen  schickst«*). 

Schroffe,  eigenwillige,  auf  sich  beruhende  Naturen,  denen  mit 
directem  Lob  und  gewöhnlichen  Schmeichelkünsten  nicht  beizukoftimen 
ist,  gewinnt  der  geschmeidige  Kathgeber  dadurch,  dass  er  sich  selbst 
des  Käthes  bedürftig  zeigt.  Er  kommt  zu  dir,  um  dich  als  einen 
äusserst  klugen  Manu  über  seine  Privatangelegenheiten  um  Rath  zu 
fragen;  zwar  habe  er  nähere  Freunde,  aber  er  könne  nicht  umhin 
dich  zu  belästigen:  irot  ^o^p  xaiacpü^tofiev  oi  y^c6(iyj(;  Seofievot;  xCvi  8s 
moteüacDfjiev ;  Nachdem  er  dann  irgend  ein  Wort  von  dir  vernommen, 
versichert  er,  ein  Orakel,  keine  Ansicht  gehört  zu  haben,  und  ver- 
abschiedet sich.  Sieht  er,  dass  einer  Anspruch  auf  stilistische  Kenner- 
schaft macht,  so  giebt  er  ihm  etwas  von  seinem  Geschriebenen,  bittet 
ihn  es  zu  lesen  und  zu  verbessern.  Dem  König  Mithridates,  der  gern 
den  Arzt  spielte,  gaben  sich  einige  seiner  Hausfreunde  zu  Operationen, 
zum  Schneiden  und  Brennen  her^). 

KoXaxe(a  in  Handlungen.  Unerschöpflich  natürlich  sind  die 
thatsächlichen  Beweise  der  Ergebenheit  und  Unterwürfigkeit,  deren  der 
x6XaS  sich  befleissigt,  denn  eben  in  der  Erfindung  immer  neuer  Hul- 
digungen bewährt  sich  sein  Genie.  Uns  kommt  es  auch  hier  nur 
darauf  an  die  Züge  zu  sammeln,  die  gerade  durch  ausdrückliche 
Zeugnisse  nachweisbar  sind.  Von  den  passiven  Leistungen  auf  diesem 
Gebiet  ist  schon  oben  die  Rede  gewesen. 

Als  treuer  Begleiter  seines  Gönners  spielt  er  seine  Rolle  vor 
Allem  im  unmittelbaren  persönlichen  Verkehr.     Auf  der  Strasse  läuft 

\)  Plutarch  über  den  ünlerschied  zwischen  cpiXo?  und  xoXaS  20. 
2)   Plularch  a.  0.    U  p.   57 F. 


KoLAx.  57 

* 

er  dir  entweder  entgegen  oder  nach,  grüsst  dich  mit  lächelnder  Miene 
von  weitem,  streckt  dir  die  Rechte  entgegen,  entschuldigt  sich  unter 
Betheuerungen  und  Schwüren,  wenn  du  ihn  früher  gesehen  und  an- 
geredet hast^).  Namenlose  Emporkömmlinge  gewinnt  die  vornehmere 
Ansprache  mit  dem  Vornamen^).  Unterwegs  leistet  er  dir  die  Dienste 
eines  anteambulo^).  Die  Begegnenden  fordert  er  auf  still  zu  stehen, 
bis  du  vorübergegangen  bist^).  Aus  dem  Gedränge  befreit  er  dich 
durch  Entgegenstemmen  seiner  Schultern*)  Bist  du  auf  dem  Wege 
zu  einem  deiner  Freunde,  so  läuft  er  voran  und  meldet  dich  bei 
demselben,  kehrt  dann  wieder  um  und  berichtet,  dass  er  dich  ange- 
meldet hat^).  Thust  du  in  Gesellschaft  eine  Aeusserung,  so  fordert 
er  die  übrigen  auf  zu  schweigen^).  Bei  Berathungen  in  Volksver- 
sammlungen oder  im  Rath  ergreift  er  mit  Absicht  kurz  vor  deiner 
Ankunft  das  Wort.  Trittst  du  dann  ein,  während  er  noch  spricht, 
so  hört  er  mitten  in  seiner  eigenen  Rede  auf,  tritt  Rednerbühne  und 
Wort  an  dich  ab,  stimmt  ohne  weiteres  deiner  ganz  entgegengesetzten 
Ansicht  zu,  und  giebt  hierdurch  mehr  als  durch  lautes  Lob  zu  er- 
kennen, wie  sehr  er  sich  deiner  Einsicht  unterordne^).  Im  Theater 
und  bei  öffentlichen  Vorträgen  kommt  er  vorher,  um  die  besten 
Plätze  einzunehmen  und  sie  dann  dem  Gönner  zu  überlassen ''^).  Er 
nimmt  dem  Diener  die  Kissen  ab  und  breitet  sie  dir  selbst  unter  ^^); 
fragt  dich,  ob  du  auch  nicht  frierst,  ob  du  eine  Decke  oder  einen 
Überwurf  haben  willst;  ermahnt  dich,  wenn  ein  Luftzug  geht,  dein 
theures  Haupt  zu  bedecken  ^').     Dabei  neigt  er  sich  zu  dir  und  flüstert 


\]  Plutarch  (pt'Xo^  und  xoXa£  p.  62  D.  Dazu  Maximus  Tyrius  20,  1  :  aear^pox;, 
opi^cüv  SsEiav  TcapaxaXsiTQ)  tov  avSpa  iizeiWoLi  aorm,  iiraivcov,  xuoaivcov  xat 
avTi^oXaiv  xal  Seofxevo?  xat  8ir|YOüjievoc  dxxoiroü?  xivoii;  f^Sova?,  ji  Xaßwv  auTov 
afei  xxX. 

2)  Horaz  serm.  II  5,  32:    'gaudent  praenomine  nioUes  Auriculuc'. 

3)  Vgl.  Marquardt  Privatleben  der  Römer  S.  H5. 
4]   Theophrast  char.  2  p.  4  23,  24 f. 

5j    Horaz  serm.  II  5,  94:    'extrahe  turba  Oppositis  umeris*. 

6)  Theophrast  a.  0.  p.  4  24,  5  ff. 

7)  Theophrast  p.  4  23,  20. 

8)  Plutarch  cpiXog  und  xoXag  4  5  p.  58  B. 

9)  Plutarch  a.  0.  p.  58  C. 

10)   Theophrast  p.  4  24,  4  5.    Vgl.  Aristoph.  eq.  784  f.    Aeschines    gegen  Ktesi- 
phon  76.   Ovid  a.  a.  159fr.    (schon  von  4  45  an:   xoXaxsufxaTa  des  Liebhabers). 
1 1]   Horaz  serm.  II  5,  93  :  *mone,  si  increbruit  aura,  Cautus  uti  velet  carum  caput\ 


I 


58  RiRBECK, 

dir  ins  Ohr.  Auch  wenn  er  mit  anderen  spricht,  hat  er  doch  immer 
den  Bück  auf  dich  gerichtet*). 

Von  den  mannigfachen  offiziellen  xoXaxeüfxaTa,  welche  zu  Ehren 
eines  Machthabers  oder  Mitbürgers  auf  Grund  von  Anträgen  Einzelner 
und  danach  gefasster  Volksbeschlüsse  erfolgt  sind,  kann  hier  nur  an- 
deutungsweise die  Rede  sein  2).  Mit  Demonstrationen  solcher  Art  hat 
es  im  Privatleben  eine  gewisse  Verwandtschaft,  wenn  der  x6XaS  seinem 
neugeborenen  Kinde  den  Namen  des  Gönners  giebt^),  das  Bild  des 
letzteren  im  Siegelringe  trägt  ^),  ihn  als  Gast  vor  allen  durch  einen 
goldenen  Kranz  auszeichnet^). 

Unermüdlich  ist  er  in  praktischen  Diensten  aller  Art,  keinem 
anderen  neben  sich  ISisst  er  Raum  und  Gelegenheit  dazu,  verlangt 
Aufträge  über  Aufträge  und  ist  gekränkt,  ja  ausser  sich,  wenn  er 
keinen  erhält;  seine  Versprechungen  sind  unbedingt,  überschwäng- 
lich^).  Er  ist  der  Mann,  rastlos,  ohne  Athem  zu  schöpfen,  auf  dem 
Weibermarkt  Commissionen  zu  besorgen  und  unzählige  Bedürfnisse 
für  das  Hauswesen  des  Gönners  von  da  einzuholen').  Am  wenig- 
sten lässt  sich  der  Parasit  das  Geschäft  nehmen,  für  die  Küche  ein- 
zukaufen^). 

\)  Theophrast  p.  12i,  H  — «5. 

t)  Vgl.  z.  B.  Plutarch  Demelr.  4 Off. 

3)  Aristomenes  als  xoXaE  des  Agalhokles  nannte  seine  Tochter  Agathokleia: 
Polybios  XV  34,  8.  Lukian  Timon  168.  Wenn  Kallikrates,  xoXaS  des  dritten  Ptole- 
maios,  das  Bild  des  Odysseus  in  seinem  Siegelring  trug  und  seine  Kinder  Telegonos 
und  Antikleia  nannte  (Athen.  VI  p.  251  D),  so  niuss  eben  jener  König  seinen  Stamm- 
baum auf  diese  Ahnen  zurückgeführt  haben.  Ein  mythischer  König  Telegonos  von 
Aegypten  ist  ja  z.  B.  aus  der  Geschichte  der  lo  bei  ApoUodor  II  1,  3,  8  (vgl. 
schol.  Gurip.  Or.  932)   bekannt.     Vgl.   Meineke  anal.   crit.   ad  Athen,  p.    109. 

4     Polybios  a.  0. 

5;   Polybios  a.  0. 

6j    Plutarch  a.  0.  p.  62  D. 

1]  Theophrast  p.  124,  7  f.  mit  der  Anm.  von  Casaubonus.  lieber  die  Yovaixeia 
ayopa  oder  den  xoxXo?,  wo  alles  mögliche  Hausger'äth  zu  kaufen  war,  s.  Pollux 
X  18.  Becker  Charikl.  IP  151  f.  Büchsenschütz  Besitz  und  Erwerb  471.  Wachsmuth 
Stadt  Athen  I  201. 

8)  Plautus  Capt.  473.  Der  Parasit  klagt  über  die  gegenwärtige  Generation: 
Mpsi  obsonant,  quae  parasitorum  ante  erat  provincia'.  mil.  gl.  666  (in  einer  inter- 
polirten  Partie):  'vel  hilarissumum  convivam  hinc  indidem  expromam  tibi  Vel  pri- 
marium  parasitum  atque  obsonatorem  optumum'.  Gnatho  im  Eunuchus  255 ff. 
erzählt ,    wie  ihn  beim  macellum  das  ganze  Volk  der  cuppedinarii  begrüsst :    '  con- 


KoLAx.  59 

• 

Dafür  weiss  er  aber  auch  sein  Verdienst  in  gehöriges  Licht  zu 
setzen.  Mit  schreienden  Farben  und  breitem  Pinsel  entwirft  er  ein 
Bild  seiner  Anstrengungen,  was  für  Wege  er  gemacht,  welche  Sorgen 
er  gehabt,  welche  Nöthe  er  durchgemacht,  welche  Feindschaften  er 
sich  zugezogen  hat.  In  Schweiss,  Geschrei,  Atheralosigkeit,  geschäf- 
tigem Laufen,  wichtigthuenden  Gebärden  und  Mienen  nimmt  er  es 
mit  jedem  servus  currens  auf*). 

Während  er  ftkr  wirklich  mühsame,  gefährliche  Dienste  zu  an- 
ständigen, offenen  Zwecken  versagt,  ist  er  stets  bereit,  dem  Freunde 
bei  leichtfertigen,  niedrigen,  unsittlichen,  heimlichen  Unternehmungen 
an  die  Hand  zu  gehen^).  Vornehmlich  ist  er  ein  bereitwilliger 
und  geschickter  Gehilfe  in  Liebesangelegenheiten,  auch  hierin  mit 
dem  listigen,  intriguanten  Sclaven  wetteifernd^).  Darum  macht 
er  sich  mit  Vorliebe  an  reiche  junge  Männer  und  steht  mit  den 
gestrengen  Vätern  auf  Kriegsfuss.  Alle  seine  Rathschläge  laufen 
den  Ermahnungen  des  Vaters  geradezu  entgegen;  der  unentrinnbare 
Köder  ist  die  -ijSovTfj.  Der  Vater  ermahnt  zur  Nüchternheit,  der  xoXaS 
zum  Trinken ;  jener  zur  Ehrbarkeit,  dieser  zum  Ausschweifen ;  jener 
zum  Sparen,  dieser  zum  Verschwenden;  jener  zur  Thätigkeit,  dieser 
zum  Müssiggang.  So  spricht  er:  »das  Leben  ist  ja  doch  nur  ein 
Punkt  in  der  Zeit;  man  muss  es  gemessen;  der  Alle  ist  ein  ver- 
schimmelter Philister  und  reif  für  den  Tod,  hoffentlich  werden  wir 
recht  bald  seine  Leiche  zum  Hause  hinaustragen«*).  Er  plündert  den 
Beutel  des  Alten,  verhilft  dem  Jungen  zu  seiner  Dirne ^)  oder  ver- 
kuppelt ihm   eine   Ehefrau^);    setzt   dem    einfältigen    Liebhaber    den 


currunt  laeti  mi  obviam  cuppedinarii  oiiines:  Cetarii  ianii  coqui  fartores  piscatores^ 
Quibus  et  re  salva  et  perdita  profueram  et  prosum  saepe:  Salutant,  ad  cenam 
vocant,  adventum  gratulantur'.  Die  Anekdote  aus  den  XpsTai  des  Komikers iMachon 
über  Chairephon  bei  Athenaeus  VI  p.  243  F. 

<)  Plutarch  cpiXo;  und  xoXa£  p.  63  F.  Vgl.  Curculio  II  3,  Ergasilus  in  den 
Captivi  IV  %, 

t)  Plautus  Amphitruo  993:  'amanti  supparasitor' :  vgl.  515  mil.  348. 
parasitatio:  Amph.  521. 

3)   Plutarch  a.  0.  p.  64  D. 

4'    Vgl.  die  vereitelten  HoOnungen  des  Parasiten  bei  Alkiphron  121. 

5)  Alkiphron  III  8 :  ein  Parasit  will  im  Bunde  mit  einem  Collegen  seinem 
Gönner,   einem  vsoitXoutoc,   eine  spröde  Hetäre  mit  List  oder  Gewalt  zuführen. 

6)  Plutarch  über  Kindererziehung  17  p.  1 3  A. 


^•i^ 


60  Ribbeck, 

Contract  mit  der  Hetäre  und  der  Kupplerin  auf^,  übernimmt  Sen- 
dungen ins  Ausland,  um  das  nöthige  Geld  für  Liebeshändel  aufzu- 
treiben und  spielt  dabei  (im  Interesse  seines  Auftraggebers)  den  ver- 
schmitzten Gauner  2);  giebt  seine  eigene  hübsche,  unschuldige  Tochter 
einer  fremden  Liebesintrigue  und  seinem  Hunger  zu  Gefallen  zu  einem 
Scheinverkauf  an  den  Kuppler  hcr^);  führt  als  geriebener  Sykophant 
Processe,  um  dem  Sohn  hinter  dem  Rücken  des  Vaters  zu  seiner 
Geliebten  zu  verhelfen^);  unterstützt  auch  den  ungetreuen  Ehemann 
in  seinen  Abenteuern^),  oder  wenn  es  gilt  die  Frau  wegzujagen  und 
den  Verwandten  Trotz  zu  bieten^);  denuntiirt  denselben  bei  der 
Gattin  aus  boshafter  Rache'),  oder  um  den  jungen  Herrn  von  der 
Nebenbuhlerschaft  des  alten  zu  befreien  und  jenem  zu  seinem  Liebes- 
glück zu  verhelfen^),  oder  um  den  Widerstand  des  Alten  durch 
demüthigende  Erinnerung  an  eigene  Jugendsünden  zu  brechen^). 
Wenn  er  gereizt  wird,  besinnt  er  sich  auf  seine  Pflicht  als  getreuer 
Haushund  die  Ehre  seines  xpscpcDV  zu  bewachen,  und  zeigt  den  ehe- 
brecherischen Verkehr  der  Frau  mit  dem  (Aot/oc;  an^^)  oder  enthüllt 
Heimlichkeiten  aus  vorehelicher  Zeit'*). 

Als  Erbschleicher  vollends  scheut  der  x6Xa$  weder  Kosten  noch 
iMühe.  Er  füllt  dem  orbus  Küche  und  Vorrathskammer  mit  Braten,  mit 
den  besten  Erzeugnissen  seines  Gartens,  er  vertheidigt  ihn  vor  Gericht, 
leiht  ihm  seine  eigene  Penelope,  wenn  denselben  danach  gelüstet*^). 

\)  Plaulus  Asinaria  746  0*.  Bei  Alkipbron  III  64  ist  der  junge  Herr  in  eine 
Hetäre  verliebt,  welche  ihre  Gunst  vielmehr  dem  Parasiten  zuwendet.  Ein  ver- 
liebter Parasit:   67. 

2)  Plautus  Curculio  67  f.    143  f.   206 f.    225  f.    275.   329  ff. 

3)  Saturio  im  Persa  des  Plautus. 

4)  Phormio  des  Terenz. 

5)  Alkipbron  III  72 :  die  eifersüchtige  Frau  hat  den  Parasiten  als  vermuth- 
lichen  ^jelegenbeitsmacber  zur  Verantwortung  gezogen ;  durch  einen  Glücksfall 
kommt  er  mit  einem  blauen  Auge  davon. 

6)  Plutarch  cp(Xo;  und  xoXa£  p.  64  F. 

7)  Peniculus  in  den  Menaechmi  des  Plautus  V  \ . 
8]   Plautus  Asinaria  V  2. 

9)  Terenz  Phormio  V  9. 

\0)  Alkipbron  III  62.  Die  Frau  bat  sich  durch  einen  Eid  gereinigt  und  der 
blamirte  Denuntiant  verwünscht  seine  Zunge:   69. 

W)  Alkipbron  III  63. 

12)  Aelter  als  alle  die  Schilderungen  und  Züge  bei  Horaz  (besonders  sat.  II  5) 
Ovid  Martial  luvenal  u.  a.,   welche  Friedländer  Sittengesch.  P  S.  367  ff.  zusammen- 


KOLAX.  61 

Erkrankt  der  Reiche,  so  geloben  die  x^Xaxe«;  Opfer  für  seine  Genesung, 
und  fühlen  sich  dann  freilich  sehr  enttäuscht,  wenn  diese  eintritt'). 
Nicht  weniger  erfreuen  sich  reiche  alte  Frauen  solcher  Huldigungen^). 
Beruf  und  Zwecke  des  x6Xa^  bringen  es  mit  sich,  dass  er  gegen 
Rivalen  eifersüchtig  und  neidisch  ist,  mögen  dieselben  nun  wahre 
Freunde  oder  nur  seines  Gleichen  sein.  Gelingt  es  ihm  nicht  sie 
offen  aus  dem  Felde  zu  schlagen,  so  macht  er  ihnen  öffentlich  den 
Hof  und  kriecht  vor  ihnen,  verläumdet  sie  aber  im  Stillen,  denn  er 
weiss,  dass  von  seinen  heimlichen  Bissen,  so  geschützt  das  Opfer 
auch  sein  mag,  doch  immer  Narben  zurückbleiben^).  Denn  die 
xoXaxeta  ist  eine  Schwester  der  StaßoXi^^),  zumal  bei  Hofe.  Unter 
der  Schaar  der  auXixol  x6Xaxe(;  ist  ein  beständiger  Kampf:  jeder  will 
der  erste  sein,  stösst  den  Nebenmann  mit  dem  Ellenbogen  bei  Seite 
und  stellt  dem  Vordermann,  wenn  er  kann,  ein  Bein;  alle  passen 
einander  auf,  um  gegenseitig  Blossen  zu  erlauschen^). 

Lob  und  Tadel  des  x6XaS.  Seit  Epicharm^)  und  Eupolis')  sind 
die  Parasiten  und  x6Xaxe(;  der  Komödie  geneigt  gewesen  über  die 
Vorzüge  ihres  Charakters  und  Berufes,  über  ihre  grossen  Vorgänger, 
über  die  Regeln  ihrer  Kunst,  seltener  über  die  Plagen  und  Leiden 
ihres  Standes  sich  auszusprechen,  häufig  in  Monologen  (namentlich 
Prologen).  Darin  haben  sie  eine  gewisse  Wahlverwandtschaft  mit 
den  Köchen.  Der  Parasit,  sagt  der  in  den  A(8o[iot  des  Antiphanes^), 
ist  ein  theilnehmender  Freund :  er  nimmt  Antheil  an  Glück  und  Leben 
(Lebensunterhalt)  seiner  Freunde.  Kein  Parasit  wünscht  denselben 
Unglück,  im  Gegentheil  beständiges  Wohlergehen.  Lässt  Einer  viel 
draufgehen:  er  beneidet  ihn  nicht,  sondern  wünscht  nur  als  Gesell- 


stellt (vgl.  auch  Petron  c.  H6  über  Groton,  und  4  24  zu  Ende],  ist  was  der  lebens- 
lustige Hagestolz  im  milcs  glor.  70611.   R.  vorträgt. 

\)   Lukian  Todtengesprache  5. 

t)  Athen.  VI  p.  246  B. 

3)   Plutarch  <flko^  und  xoXa^  p.  65  0:     Apophthegma  des  Medios. 

4]  Lukian  calumniae  u.  s.  w.  20,  iö\  '\o\.  III  p.  162  Bckk.].  Vgl.  Alkiphron 
111  58. 

5)   Lukian  a.  0.  10,  139. 

6    'EXttk  T|  nXouTO?. 

7;   KoXaxec  fr.  159. 

8i    fr.    81. 


62  RlßBECK, 

schafter  Theil  daran  zu  haben.  Er  ist  ein  treuer  und  zuverlässiger 
Freund,  nicht  streitsüchtig,  nicht  heftig,  nicht  giftig.  Er  lässt  sich 
Zornausbrücbe  gefallen,  lacht,  wenn  du  ihn  verspottest,  versteht  sich 
auf  Liebe  (epcotixoc),  macht  Spass,  ist  heiter,  dann  wieder  ein  stram- 
mer Krieger,  wenn  er  als  Löhnung  eine  gute  Mahlzeit  erhält.  »Giebt 
es  wohl«,  fragt  ein  anderer  in  den  Ai^iivtai*),  »einen  angenehmeren 
Beruf  als  xoXaxe6eiv?  Alle  anderen  haben  Mühe  und  Sorge:  uns  ver- 
geht das  Leben  unter  Lachen  und  Schwelgen.  Wo  die  Hauptaufgabe 
Scherz,  herzliches  Gelächter,  Neckerei,  Zechen  ist,  ist  das  nicht  an- 
genehm? Für  mich  kommt  es  gleich  nach  dem  Reichsein«. 

»Du  kennst  meinen  Charakter«,  sagt  jener  in  den  Hpi^ovoi  des- 
selben Dichters*^),  »dass  ich  nicht  von  Hochmuth  besessen  bin,  sondern 
meinen  Freunden  diene  mich  schlagen  zu  lassen  als  glühendes  Eisen, 
zu  schlagen  als  Donnerkeil,  einen  zu  blenden  als  Blitz,  einen  zu  ent- 
führen als  Wind,  zu  erwürgen  als  Schlinge,  Thüren  aufzubrechen  als 
Erdbeben,  hineinzuspringen  als  Heuschrecke,  ungeladen  zu  schmausen 
als  Fliege^),  zu  erdrosseln,  zu  tödten,  Zeugniss  abzulegen  über  was 
man  will.  Alles  unbedenklich  zu  thun.  Um  dessentwillen  nennen  mich 
die  jungen  Leute  Ungewitter  (oxYj7rr6<;),  aber  ich  mache  mir  nichts 
aus  den  Spöttereien,  denn  als  Freund  meiner  Freunde  gründe  ich 
mein  Verdienst  auf  Thaten,  nicht  auf  Worte«  ^). 

Nachgebildet  und  variirt  ist  die  Stelle  im  'laxp^c  des  Aristo- 
phon^):  »giebt  Einer  einen  Schmaus,  so  bin  ich  zuerst  da,  so  dass 
ich  schon  lange  Suppe  (Cw^toc)  heisse.  Gilt  es  Einen,  der  sich  beim 
Wein  ungebührlich  beträgt,  vor  die  Thür  zu  setzen,  so  darfst  du  in 
mir  einen  argivischen  Ringer  sehen;  gilt  es  an  ein  Haus  anzurennen, 
so  bin  ich  ein  Sturmbock,  eine  Leiter  heranzuklimmen,  ein  Kapaneus, 
Schläge  zu  ertragen,  ein  Ambos,  Ohrfeigen  auszutheilen,  ein  Telamon^), 


4)  fr.    Mi, 

2)  fr.  194. 

3)  Die  demnächst  folgenden  Worte  [xr/5sXÖeTv  (ppeap  scheinen  verdorben  zu 
sein:  der  Fehler  muss  im  Verbum  stecken.  Man  erwartet  etwas  wie  ^poyßH^ziy, 
l^xaTTTsiv,  i-^yalvEiv, 

4j  Aus  anderen  Lobreden  auf  das  Parasitenthum  stammt  von  Antiphanes  ine. 
fab.  fr.  230.  248  f. 

5)  fr.  3    (III  357M.).  Vgl.  auch  die  Charakteristik  des  Pythagoristen  fr.  9. 

6)  TsAa[jL<i)vioi  xovSüXoi  sprüchwörtlich  (Hesychius)  wegen  Apollodor  IIl  M, 
6.    H. 


KoLAx.  63 

Schöne  zu  versuchen,  Rauch«^).  Das  cf  tXsxaipov  der  Parasiten  preist 
ein  solcher  im  z^paxovxiov  des  Timokles^):  »liebst  du,  so  theilt  er 
deine  Gefühle  ohne  Umstände;  hast  du  ein  Geschäft,  so  ist  er  mit 
dabei  und  thut  was  irgend  nöthig  ist,  indem  er  dasselbe  für  Recht 
hält  als  sein  Pfleger,  ein  Lober  und  Bewunderer  desselben  durch 
dick  und  dünn.  Es  ist  wahr,  die  Parasiten  haben  Gefallen  an  un- 
entgeltlichen Tafelfreuden:  aber  welcher  Sterbliche  nicht?  welcher 
Heros  oder  Gott  verschmäht  eine  solche  Unterhaltung?  Ein  Haupt- 
beweis wie  man  sie  ehrt,  dass  man  ihnen  dasselbe  gewährt  wie  den 
olympischen  Siegern:  Speisung;  denn  irpoxaveta  werden  alle  Mahl- 
zeiten ohne  Beitrag  genannt«. 

Wie  vornehm  und  nur  durch  unwürdige  Stümper  in  Verruf  ge- 
bracht der  Parasitenberuf  sei,  führt  ein  selbstbewusster  Vertreter  in 
der  ' EiuCxXyjpoc  des  Diodorps  fr.  2  (III  543 f.  M.)  aus.  Hat  ihn  doch 
kein  geringerer  als  Zeus  ^(Xio^  erfunden.  Dieser  tritt  in  die  Häuser 
ein,  gleichviel  ob  arm  oder  reich,  und  wo  er  ein  hübsch  überdecktes 
Lager  sieht  und  einen  Tisch  mit  gehörigem  Zubehör  dabei,  da  lässt 
er  sich  fein  nieder,  und  nachdem  er  sich  mit  Speise  und  Trank 
gehörig  gütlich  gethan,  geht  er  wieder  nach  Hause,  ou  xaxaßaXuiv 
aufißoXdc.  »Ganz  eben  so  mach'  ich  es:  seh'  ich  gedeckte  Lager 
und  gerüstete  Tische  und  die  Thür  offen,  so  trete  ich  still  ein, 
ordne  meinen  Anzug,  um  den  Genossen  nicht  zu  belästigen,  greife 
tapfer  bei  allen  Schüsseln  zu,  trinke  und  gehe  dann  wie  Zeus  cpCXio; 
heim«.  Auch  auf  die  ehrwürdige  Genossenschaft  der  12  Parasiten 
des  Herakles  beruft  er  sich,  wofür  mit  Sorgfalt  begüterte  und  wohl- 
beleumdete Abkömmlinge  von  Dynasten^)  aus  der  Bürgerschaft  aus- 
gelesen werden.  Dem  Beispiel  des  Herakles  folgend  haben  dann 
später  wohlhabende  Leute  Parasiten  an  ihren  Tisch  berufen,  leider 
nicht  xoü<;  ^(apteoxdxoüc ,  sondern  xou^  xoXaxeüeiv  Süvajisvou^,  Leute 
die  ganz  wie  die  x6Xax6(;  des  Eupolis  sich  zu  den  elendesten  Schmeiche- 
leien erniedrigen^).  Diese  Leute  sind  Schuld  daran,  dass  der  sonst 
so  ehrenvolle  und  rühmliche  Beruf  jetzt  verachtet  ist. 

Es  ist  eben  eine  Kunst,  die  gelernt  und  geübt  sein  will,  und 


\)  Vgl.  Schweighäuser  zu  Athen.  VI  p.  238 B. 

2)  fr.  8  (III  594  f.  M.). 

3)  nämlich  voOoi. 

4  V.  35-40:   s.  oben  S-  45. 


64  Ribbeck, 

7A\ar  von  klein  auf.  Im  IlpcoToppoi;  des  Antidotos^)  erzählt  ein 
erfahrener  Meister  einer  Schar  von  Adepten,  wie  er  schon  als  Knabe 
die  Ohren  gespitzt  habe,  wenn  die  Rede  auf  diesen  feinen  Beruf 
(teptov)  gekommen  sei^).  Ein  anderer  bei  Axionikos  im  XaXxi8ix<S(; 
fr.  6  (in  534  M.)  erzählt  von  den  Ohrfeigen  und  den  Wunden,  die 
ihm  an  den  Kopf  geworfene  Geschirre  und  Knochen  in  seiner  Jugend 
verursacht  haben.  Aber  diese  Lehrzeit  ist  zu  seinem  Heil  gewesen : 
jetzt  weiss  er  den  Streitsüchtigen  durch  bereitwillige  Zustimmung  zu 
pariren,  erwirbt  sich  Gunst,  indem  er  dem  Schurken,  der  ein  braver 
Mann  zu  sein  behauptet,  Lob  spendet,  und  nimmt  auch  mit  halbver- 
dorbenen Speisen  gelegentlich  vorlieb.  Eine  Schule  der  ars  parasitica, 
deren  Jünger  nach  ihm  selbst  Gnathonici  heissen  sollen,  will  Gnathon 
im  Eunuchus  des  Terenz  (260  ff.)  stiften. 

Am  ausgiebigsten  ist  die  Belehrung  eines  gewiegten  Altmeisters 
bei  Nikolaos  (IV  579  M.).  Nach  ihm  ist  Tantalos ^)  der  Urahn  des 
Parasitengeschlechtes,  aber  er  verstand  sich  schlecht  auf  seine  Kunst: 
er  hatte  eine  zügellose  Zunge,  wurde  vom  Tisch  (des  Zeus)  gejagt 
und  bekam  einen  Schlag:  mitten  auf  den  Bauch,  dass  ihm  die  Sinne 
vergingen,  —  ganz  mit  Recht:  denn  er  war  ein  dummer  Phryger,  der 
die  Offenheit  seines  Brotherrn  nicht  ertragen  konnte.  Auch  jetzt  ist 
vor  dem  Leichtsinn,  mit  dem  man  den  gepriesenen  Beruf  des  doufi- 
ß6Xu)(;  xdXXotpia  Setirvetv  ohne  alle  Vorbereitung  ergreift,  zu  warnen. 
»Wie  kommst  du  denn  eigentlich  dazu,  Mensch?  was  verstehst  du? 
wessen  Schüler  bist  du?  welcher  Secte  hast  du  dich  angeschlossen? 
von  welchen  Grundsätzen  gehst  du  aus?  Mit  Mühe  gelingt  es  uns, 
die  wir  ein  ganzes  Leben  darauf  verwendet  haben,  eine  offene  Thür 
zu  entdecken,  weil  es  so  viele  unverschämte  Concurrenten  giebt. 
Nicht  jeden  führt  die  Fahrt  zur  Tafel  glückhch  hin.  Erstens  muss 
man  eine  gute  Lunge  haben,  dann  eine  kecke  Stirn,  eine  Gesichts- 
farbe, die  nicht  wechselt,  unermüdliche  Backen,  die  einen  Puff  aus- 
halten können.     Das  sind  die  ersten  Elemente  der  Kunst.    Dann  muss 


\)   III  52 8 M.,  später  als  die  gleichnamige  Komödie  des  Alexis. 

2j  Der  Sprecher  wird  bei  Athenaeus  VI  p.  24  0b  mit  den  Gelehrten  in  dem 
von  Claudius  Caesar  in  Alexandria  als  Annex  des  Museums  gestifteten  Claudianum 
(Sueton.  Claud.  it]  verglichen^  cov  ouBs  [jLS[i.v7ja&ai  xaXov :  also  etwa  ein  Haus- 
gelehrter,  wie  ihn  Lukian  beschreibt? 

3)  Ixion  als  Parasit  des  Zeus:  Lukian  Kronosbriefe  1,  38  p.  447. 


KOLAX.  63 

man  verstehen,  wenn  man  verspottet  wird,  sich  selbst  auszulachen; 
dem  Brotherrn  zu  dessen  Verderben  zu  Gefallen  zu  sein  (irpb;  )^dpt>i 
6|jLtXei  To5  tpecpovTo^  iiz*  iXeöpcp).  Der  alte  eitle  Geck,  der  sich 
schminkt,  sei  dir  ein  Ganymedes ;  dem  prahlerischen  Krieger,  der  bei 
Tische  Schlachten  liefert  und  Leichenhaufen  thürmt  (in  seinen  Er- 
zählungen), höre  geduldig  zu,  deinen  Spott  verbergend,  und  lass  deinen 
Aerger  an  den  Speisen  aus«.  So  übertrifft  die  Tspyj  irapaoiTixig  alle 
übrigen  Künste,  selbst  die  dXaCove(a^). 

Eine  Ergänzung^)  dieser  Bruchstücke  bietet  Lukians  Dialog  über 
den  Parasiten,  eine  Lobschrift  auf  denselben,  welche  den  Beweis 
fuhrt,  dass  sein  Beruf  eine  Kunst  ist  (Sit  xepY]  -Jj  irapaotiixT^) .  Es 
ist  nach  dem  Obigen  wohl  anzunehmen,  dass  der  Sophist  einen  Theil 
seiner  Argumente  und  Beispiele  der  Komödie  und  anderen  älteren 
Quellen  verdankt. 

Der  Parasit  Simon  ist  auf  die  Kunst,  als  deren  Meister  er  sich 
rühmt,  nicht  weniger  stolz  als  Pheidias  auf  seinen  Zeus  und  schämt 
sich  des  Namens  Tcapdaixo^  durchaus  nicht.  Die  erste  Aufgabe  des 
Parasiten  ist,  zu  prüfen  und  zu  entscheiden,  wer  geeignet  ist  ihn  zu 
verpflegen,  wem  er  zum  Zweck  des  irapaaiTeiv  sich  anschliessen  soll, 
ohne  es  später  bereuen  zu  müssen.  Dazu  gehört  eben  so  viel  Unter- 
scheidungsgabe wie  für  den  Münzkenner,  der  echte  und  falsche 
Münzen  zu  scheiden  hat,  ja  die  Aufgabe  des  Parasiten  ist  schwieriger, 
da  er  keine  äusseren  Kennzeichen  hat :  er  muss  eine  Art  Mantik  aus- 
üben. Welcher  Geist  und  wieviel  Übung  gehört  ferner  dazu,  immer 
durch  angemessene  Worte  und  Handlungen  dem  Gönner  seine  Zu- 
neigung zu  zeigen  und  sich  in  seinen  vertraulichen  Verkehr  einzu- 
nisten!   Dann  erfordert  es  Geschick,   an   der  Tafel    des  Freundes  so 


i)  Anaxandrides  im  4>ap[j.axop.avTti;  fr.  49  (III  193M.j: 

oTi  etp.'   aXaCwv,  toüt'  iiriTifi.«?;   aXXa  t(; 

vtx^  -yttp  aüTT)  TCL^  T&yya^  Traaa?  iroXo 

\Lsxa  DQV  xoXaxsfav  *  Tj8s  [iA^^  y^P  öiacpspei. 
%)  Eine  satirische  Anweisung  für  die  Jünger  des  Parasitenthums  in  Bagdad 
zur  Zeit  der  Chalifen  theilt  aus  dem  Arabischen  mit  Alfred  v.  Kremer  Cullurge- 
schichte  des  Orients  unter  den  Chalifen  II  SOI  ff.  Unter  Anderem  wird  auch  hier 
empfohlen:  »vorzüglich  nehmt  auf  Hochzeitsschm'äuse  Bedacht ,  oder  die  Häuser,  , 
wo  man  eine  Erbschaft  gemacht«  u.  s.  w.  Dann  bekennt  der  Altmeister:  »o  ^wie 
oft  habe  ich  gestritten  und  gelitten,  Hiebe  gegeben  und  bekommen,  Tritte  ver- 
theilt  und  genommen!«  u.  s.  w. 

Abbandl.  d.  K.  S.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  5 


66  RiBRRCK. 

viel  wie  möglich  zu  essen.  Der  Parasit  muss  ein  Kenner  sein  und 
wissen  was  gut  schmeckt,  und  er  muss  diese  Kennerschaft  beständig 
pflegen,  um  sie  nicht  zu  verlieren. 

Die  TcapaaiTixT^  ist  in  der  That  eine  Tepyj  ttotIcov  xai 
ßp(üT£(üv  xal  Tu)v  8id  laöia  Xexxetüv,  ihr  xsXoc  ist  das  :?]8ü,  und 
schon  Homer,  in  dessen  Zeit  die  Parasiten  8atTüfi.6ve^  hiessen,  stellt 
durch  den  Mund  des  Odysseus,  des  weisesten  der  Hellenen,  die 
Tafelfreuden  als  das  schönste  Ideal  hin.  Epikur  hat  der  irapaoiTixi^ 
ihr  TsXo<;  entwendet  für  seine  6ü8at[JLov(a ,  aber  bei  ihm  kommt  es 
nicht  zur  Geltung  über  der  Unruhe  wissenschaftlicher  Forschung^). 
Der  Parasit  als  Optimist  zerbricht  sich  nicht  den  Kopf  über  die  Welt- 
schöpfung: in  grösster  Behaglichkeit  und  Seelenruhe  isst  er,  liegt 
rücklings,  Füsse  und  Hände  ausgestreckt  wie  Odysseus,  als  er  von 
Scheria  nach  Hause  abfuhr.  Der  Epikureer,  auch  wenn  er  reich  ist, 
hat  viel  Sorgen  und  Verdriesslichkeilen  in  seinem  Hauswesen,  die 
ihm  das  ifio  verkümmern  können.  Der  Parasit  hat  weder  einen  Koch, 
dei"  ihn  ärgert,  noch  Feld  noch  Hausverwalter  noch  Silbergeschirr, 
dessen  Verlust  ihm  Verdruss  bereiten  könnte. 

Alle  anderen  tej^vai  erlernt  man  mit  Mühe,  die  Parasitenkunst 
allein  ohne  alle  Mühe.  Wen  hat  man  vom  Schmause  weinend  weg- 
gehen sehen:  wie  viele  aus  der  Schule?  wer  geht  mit  finsterem 
Gesicht  zum  Schmause,  wie  die  welche  in  die  Schule  gehen?  Was 
Väter  und  Mütter  ihren  Kindern  zur  Belohnung  ftlr  Fortschritte  im 
Lernen  geben,  das  hat  der  Parasit  alle  Tage.  Täglich  feiert  er  Feste, 
alle  Tage  sind  für  ihn  heilige.  Die  Ausübung  dieser  Kunst  bedarf 
keiner  Werkzeuge,  sie  braucht  überhaupt  nicht  gelernt  zu  werden, 
sie  stellt  sich  durch  göttliche  Eingebung  (detqt  [lotpqL)  ein  wie  die  Dicht- 
kunst. Man  kann  sie  ausüben  zu  Lande  und  zu  Wasser,  daheim 
und  unterwegs.  Ihre  Voraussetzung  (apx^^)  ist  die  edelste,  nämlich 
Freundschaft  (cpiX(a).  Nur  den  Freund  lässt  man  Theil  nehmen  am 
Tisch  und  den  Mysterien  dieser  Kunst.  Dass  dieselbe  eine  könig- 
liche ist,  sieht  man  daran,  dass  der  Parasit  sie  im  Liegen  ausübt, 
nicht  sitzend  oder  stehend,  nicht  im  Schweiss  seines  Angesichts  wie  ein 
Sciave.     Er  pflanzt  und  pflügt  nicht.  Alles  wächst  ihm  von  selbst  zu. 

Die  Parasitik  hat  allein  einen    festen  Begriff,   während   es   über 


\)    Vgl.   Hegesippos  fr.    9   oben  S.   34. 


KoLAx.  67 

das  Wesen  der  Rhetorik,  der  Philosophie  die  verschiedensten  An- 
sichten giebt.  Sie  ist  dieselbe  bei  Hellenen  und  Barbaren,  es  giebt 
keine  Verschiedenheit  der  Dogmen  in  ihr. 

Kein  Parasit  trägt  nach  der  Philosophie  Verlangen,  aber  viel 
Philosophen  nach  der  Parasitik.  So  ist  der  Sokratiker  Aeschines  in 
Sicilien  Parasit  bei  Dionysios  geworden,  ebenso  Aristipp,  der  es  zu 
grossem  Ansehen  in  diesem  Beruf  gebracht  hat.  Plato  dagegen  hat 
ihn  nach  zweimaligem  kurzem  Versuch  wegen  Ungeschick  aufgeben 
müssen.  Aristoxenos  war  Parasit  des  Neleus,  Euripides  bei  Archelaos, 
Anaxarchos  bei  Alexander.  Aristoteles  ist  in  der  Parasitik  nur  ein 
Anfänger  gewesen  wie  auch  in  anderen  Künsten.  Wenn  es  zur 
Gluckseligkeit  gehört  nicht  zu  hungern,  zu  dürsten,  zu  frieren,  so 
trifft  das  vor  allem  bei  dem  Parasiten  zu.  Philosophen,  die  frieren 
und  hungern,  sieht  man  genug,  aber  keinen  Parasiten ;  denn  wer  dies 
leidet,  ist  eben  kein  Parasit,  sondern  ein  Bettler  oder  ein  Philosoph. 

Wenn  ein  Krieg  bevorstände  und  eine  Musterung  der  waffen- 
fähigen Mannschaft  stattfände,  so  würden  die  Parasiten  sich  als  die 
tauglichsten  herausstellen.  Philosophen  und  Rhetoren  sind  mager 
und  blass,  der  Parasit  ist  wohlgenährt,  von  angenehmer  Hautfarbe, 
weder  schwarz  wie  ein  Sclave,  noch  weiss  wie  ein  Frauenzimmer, 
lebhaft,  mit  kühnem  feurigem  BHck.  Die  besten  Helden  bei  Homer 
sind  Parasiten:  Nestor  war  Parasit  des  Königs,  der  ihn  höher  stellte 
als  den  Achill,  den  Diomedes  und  den  Aias.  Auch  Idomeneus  war 
Parasit  des  Agamemnon,  Patroklos  des  Achill.  Um  ihn  zu  tödten 
bedurfte  es  eines  Gottes  und  zweier  Menschen,  und  wie  nobel  ist 
er  gestorben!  Dass  er  aber  Parasit  war,  beweisen  seine  eigenen 
Worte  bei  Homer,  denn  er  nennt  sich  nicht  cpiXo;,  sondern  OspaTccov 
des  Achill,  was  nur  Parasit  bedeuten  kann,  da  er  ja  kein  Sclave 
war*).  Ebenso  ist  Meriones  Parasit  des  Idomeneus  gewesen,  endlich 
(nach  Thukydides)  Aristogeiton ,  der  Befreier  Athens,  Parasit  des 
Harmodios,  denn  er  war  arm  und  dessen  Ipaor^^,  und  natürlich  sind 
doch  die  Parasiten  ipaoxai  ihrer  xpscpovxs«;.  Wie  benimmt  sich  nun 
der  Parasit  im  Kriege?  Zuvörderst  geht  er  nie  in  die  Schlacht,  ohne 
vorher  gefrühstückt  zu  haben,  wie  auch  Odysseus  vorschreibt.  Wah- 
rend andere  mit  ihrer  Rüstung   zu   schaffen    haben    und   vor   Furcht 


1]   Vgl.  Demelrios  von  Skepsis  oben.     S.   7.  32. 


5* 


68  Ribbeck, 

zittern,  sitzt  er  mit  heiterer  Miene  bei  Tisch.  Nachher  kämpft  er 
in  der  vordersten  Reihe,  deckt  mit  seinem  Schilde  seinen  xpecpcov, 
dessen  Leben  ihm  ja  theurer  ist  als  sein  eigenes.  Fällt  er,  so  bietet 
er  noch  als  Leiche  einen  stattlichen  Anblick,  als  ob  er  bei  einem 
Symposion  läge. 

Im  Frieden  überlässt  er  Markt  und  Gerichte  den  Sykophanten, 
besucht  Gymnasien  Palästren  Symposien,  deren  Zierde  er  ist.  Er 
weiss  mit  den  wilden  Thieren  umzugehen:  weder  vor  einem  Hirsch 
noch  vor  einem  Wildschwein  erzittert  er  bei  Tisch,  er  weist  ihnen 
die  Zähne.  Auf  Hasen  macht  er  besser  Jagd  als  die  Hunde.  Wer 
nimmt  es  beim  Symposion  mit  ihm  auf  in  Spässen  und  Essen,  mit 
Singen  und  Scherzen? 

Was  nun  seinen  übrigen  Lebenswandel  betrifft,  so  verachtet  er 
den  Ruf:  es  jst  ihm  gleichgültig,  was  die  Leute  von  ihm  denken. 
Er  schätzt  das  Geld  so  gering  wie  die  Steine  am  Strand.  Er  ist 
nicht  zornig,  oder  wenn  er  einmal  erzürnt  ist,  so  erheitert  er  viel- 
mehr damit  seine  Gesellschaft^).  Es  giebt  nichts  was  ihm  Verdruss 
bereiten  kann,  da  er  weder  Geld  noch  Haus  noch  Diener  noch  Weib 
noch  Kinder  hat.  Wenn  er  Nahrungssorgen  hat,  so  ist  er  eben  kein 
Parasit  mehr.  Er  wird  auch  nicht  von  Furcht  geplagt.  Seine  Thüre 
legt  er  des  Nachts  nur  leicht  an,  damit  sie  nicht  vom  Wind  geöffnet 
wird ;  kein  Geräusch  in  der  Nacht  erschreckt  ihn ;  an  einsamen  Orten 
geht  er  unbewaffnet.  Den  Parasiten  kann  niemand  wegen  Buhlerei 
oder  Gewalt  oder  Raub  anklagen  2).  Sobald  er  eins  dieser  Vergehen 
begeht,  hört  er  auf  Parasit  zu  sein.  Es  giebt  keine  Apologie  eines 
Parasiten  und  nie  ist  ein  Process  gegen  einen  Parasiten  erhoben 
worden.  Er  stirbt  den  glücklichsten  Tod,  essend  und  trinkend: 
höchstens  stirbt  er  an  mangelhafter  Verdauung^). 

Ein  Reicher  ohne  Parasit,  der  allein  isst,  erscheint  als  ein  Bettler, 
armselig  und  elend,  wie  ein  Krieger  ohne  Waffen,  ein  Kleid  ohne 
Purpursaum,  ein  Pferd  ohne  cpdXapa.  Der  Parasit  ist  sein  Schmuck 
und  sein  Schutz. 

Selten  wird  in  der  Komödie,  desto  häufiger  aber  in  moralischen 
und    satirischen    Betrachtungen    die  Schattenseite    des   Charakters 

i)   Vgl.  Diphilos  Süvcüpi;. 
%]   Vgl.  Alkiphron  HT  52. 
3;    Vgl   (lial.  inorl.  7. 


KoLAx.  69 

direct  herausgekehrt.  Nur  aus  dem  Tdifioc  des  Diphilos  haben  wir 
eine  in  grösserem  Stil  gehaltene  Auslassung  über  das  Unheil,  welches 
der  xoXaS  anrichtet,  fr.  23: 

6  Y^P  x6Xa5 

xal  oTpaTTjY^v  xal  8ovdaT7]v  xai  cpCXooc  xal  xac  itoXetc; 

dvaipeTcei  X6"|ftt)  xaxoupYO)  |xtxpbv  iljSüva;  jjpovov. 

vöv  OS  xai  xa)(eS(a  ti<;  üTco8e8üxe  toü(;  Sj^Xoü^;" 

ai  xp(oeic  8'if)|n5v  vooouoi,  xal  to  icpö^  X^P^"^  tcoXu. 
Auch  im  Veu87]paxX^^  des  Menandros  fr.  505  beklagte  (vielleicht 
ein  treuer  Diener)  das  Unheil,  welches  der  Parasit  mit  seinem  Ge- 
folge im  Familienleben  anrichte,  wenn  er  zur  Frauenwohnung  und 
zur  Vorrathskammer  Zutritt  habe.  Hieran  schliessen  sich  die  Verse  des 
Komikers  Anaxilas  fr.  33  (III  353  M.):  die  x6Xaxe(;  sind  Würmer 
in  der  Habe  der  Besitzenden.  Sie  nisten  sich  bei  einem  Arglosen 
ein  und  essen,  bis  das  Futter  alle  ist:  nachher  ist  dieser  eine  leere 
Schale,  sie  aber  nagen  einen  anderen  an'). 

Wie  man  sonst  über  den  x6XaE  dachte,  mag  eine  kleine  Samm- 
lung von  Vergleichen  lehren,  durch  die  man  ihn  charakterisirt  hat. 
Der  x6XaE  hat  die  Natur  des  Polypen,  der  die  Farbe  des  Felsens 
annimmt,  an  dem  er  gerade  haftet,  und  sie  mit  dem  Ort  wechselt; 
er  ist  also  ein  echter  Hellene,  der  nach  der  alten  Regel  lebt,  die  in 
populärer  Spruchweisheit  schon  dem  Kinde  eingeprägt  wurde ^).  In 
demselben  Sinne  gleicht  er  dem  Chamäleon:  wie  dieses  alle  Farben 
annimmt,  ausgenommen  die  weisse,  so  vermag  er  sich  Allem  anzu- 
passen, nur  nicht  dem  Ernsthaften  und  Guten  ^).  Er  ist  wie  ein 
Spiegel,  der  die  Bilder  fremder  Bewegungen  und  AflFecte  wieder- 
giebt^),  wie  der  Schatten  des  Menschen,  der  mit  ihm  geht  und 
steht*),  wie  jene  Eulenart  (coxo^),  die  dich  umschwirrt  und  alle 
deine  Bewegungen  mitmacht®),  wie  der  Vogelsteller,  der  die  Stimme 


\)   Vgl.  Plutarch  <fiko(;  und  xoXaE   4  9  p.  61  D. 

2)   Plutarch    cp(Xo<;   und   xoXa£  8  p.  52  F.     Vgl.  Allienaeus  VII  4  00  p.   31 6  ff. 
Zenobius  1  24  mit  d.  Erkl.  J.  Bemays  über  d.  Phokylideische  Gedicht  S.  XI f. 
3]   Plutarch  a.  0.  p.  53  D. 

4)  PluUrch  a.  0.  p.  53  A. 

5)  Plutarch  a.  0.  p.  53  B. 

6)  Plutarch  a.  0.  p.  52 B.  Wyttenbach  vergleicht  Aristoteles  hisl.  an.  VIII  42: 
<öTo<;  .  .  .  loTt  6i  xoßoXo;  xal  ji.t|jLTjTr|(;,  xal  avTop/oüjievo;  aXtoxeTai,  icepieXOovTo; 
Uatipoo  TcüV  ö>]p6üTÄv,  xaÖairsp  y^oiüE.  Plutarch  de  anim.  solert.  p.  964  E. 


70  RWBCCK. 

der  VOicel  Dachabiut*  :  wie  ein  schlechter  )laler,  der  wirkliche 
Schönheit  nicht  zu  erreichen  vermag,  sondern  die  Ähnlichkeit  in 
Kunzein,  Narlicn.  Hautflecken  sucht ^^:  wie  Wasser,  das  sich  aus 
einem  Geßbs  ins  andere  i^iessen  lässt^.  Wie  den  Stieren  die  Bremse, 
den  Hunden  die  l^us  im  Ohr  sitzt,  wie  der  Holzwurm  sich  gerade 
in  weiches  und  süsses  Holz  am  liebsten  einbohrt,  so  klammert  sich 
der  zo'/.a;  am  liebsten  an  Eitle  und  Ehrgeizige  ^].  Er  ist  der  schlimmste 
Bekampfer  der  Selbslerkenntniss,  ein  Feind  des  Pythischen  Apollon 
und,  sofern  die  Wahrheit  etwas  Göttliches  ist,  ein  Gottverhasster^). 
Wie  unechtes  Gold  nur  den  Glanz  des  echten  ausstrahlt,  so  giebt 
der  xoXa;  nur  die  heitere  und  freundliche  Seite  des  wirklichen  Freun- 
des wieder''^.  Er  ist  nur  für  frivole  Zwecke  zu  brauchen,  wie  der 
Affe  als  Hauslhier  nur  zu  Possen  und  Scherz  dient'},  diebisch  und 
rüuberisch  wie  der  Rabe**}  und  Geier^,  zudringlich  wie  die  Fliege"^. 
Er  wedelt,  kriecht,  grinst  wie  der  Hund. 

V. 

Die  Charakteristik  des  xoXa5-irapdaiTo;  wird  weiter  vervollständigt 
durch  die  Spitznamen,   welche  Einzelnen  oder   besonderen  Kate- 
gorien beigelegt  sind.     Ein  Theii  derselben  ist  schon  zur  Erwähnung 
gekommen. 
Zu>(io;.     Anaxandrides  fr.  34,  5:  XiTcapi;  TrepiTcaTei  Ar^iioxXij;,  C^fib; 

y.aTa>v6{iaaTai    (über  Demokies   S.  83).     Aristopbon  fr.  3:  av  tk; 

Eoxt^,  7cdp8t|xt  TcpcBxoj;,  wot'  i^Stj  TtdXat  .  .  .  Cu>{Jio^  xaXoG|iai. 
Kdpxapoc,  der  scharfgezalmte  =  Thrason,  Parasit  des  syrakusischen 

Tyrannen  Uieronymos :  Athen.  VI  p.  251  E. 


I)    PJutarch  praec.  rei  p.  g.  3,  13. 

t)   Piutarch  cpiXo?  und  xoXaS  p.  53  D. 

3}   Ebenda  p.  52  B. 

4;   Ebenda  p.  55  E.   49  D. 

5j   Ebenda  p.  49  ß. 

6)   Ebenda  p.  50  A. 

7j  Ebenda  p.  6 iE.  Lukian  Fischer  34  p.  603:  xoXaxeuTixwrepoi  64  tcuv 
?rilh)Xtt>v.  46  p.  613:  heuchlerische  Philosophen  sollen  gebrandmarkt  werden  mit 
dein  Stempel  des  Fuchses  oder  des  Affen. 

8  Ari.stophanes  Wespen  45  0*.  Diogenes  bei  Athenaeus  VI  p.  ?54C. 

9  Vgl.  Lukian  Timon  45,  159:  Y^^^J^v  airavTuiv  ßopcüTate. 

10    Antiphanes  fr.  194,  7:   Bsiiwetv  axXrjXO?  [xula.   Vgl.  230,    6. 


KOLAX.  71 

K6aTpGü<;,  ein  Seeßsch,  der  kein  Fleisch,  auch  nicht  von  Fischen 
frisst  (vYjaxeüei).  So  heissen  hungrige  Parasiten.  Schon  Aristo- 
phanes  im  Gerytades  fr.  156  K.  nannte  ehrliche  Hungerleider 
av8pa(;  x€axpei<;.  Alexis  im  OpuS  fr.  251 :  e^ui  S^  x6aTpe6<;  v^otk; 
ofxaS'  diüoTpe^ü)  (vergeblich  hat  er  auf  dem  Markt  eine  Einladung 
erwartet).  Diphilos  in  den  Ai^ptai  fr.  52:  oöiot  BeSencviQxaoiv 
6  Se  xdXac  i'^io  |  xsaxpeu^  av  6?y]v  evsxa  vY]OTe(a<;  ofxpa^.  Euphron 
in  der  Aioxpa  fr.  2  (IV  489  M.):  M{8a;  8s  xeorpeu^  eoxf  v^oxtc 
TcepiTcaxsi.  Anaxandrides  im  '08uaae6^  fr.  34,  8  (III  177  AI.):  xd 
Tc6\\'  dSeticvoc  icepncaxei,  xeoxpivöc  eoxi  v^oxi^.  Eubulos  in  der 
Nausikaa  fr.  68  (III  238  M.):  8<;  vöv  xexdpxYjv  iJjiiepav  ßaTcx^Cexai,  | 
v^axiv  TuovYjpoü  xeoxpsu)^  xptß(i>v  ß(ov.  Bei  Ameipsias  in  den 
^AicoxoxxaßCCovxe;  fr,  1  (II  701  M.)  ein  Gespräch  zwischen  einem 
Parasiten  und  dessen  ungastlichem  Gönner.  »Ich  will  auf  den 
Markt  gehen«,  sagt  der  erstere  unmuthig,  da  er  die  Hofinung 
aufgegeben  hat  bei  diesem  zu  speisen,  »und  will  sehen,  ob  ich 
Arbeit  (d.  h.  eine  Einladung)  kriege«.  Darauf  der  andere :  »recht 
gut,  dann  bin  ich  dich  los«,  ^xxov  fdp  oijv  |  v>]axi^  xa&dTuep 
xeoxpeo^  dxoXoüdT^oei;  6[xo(.  Vgl.  Athenaeus  VII  c.  77  —  79. 
Zenobius  IV  52.  Diogenianus  V  53.  Hesychius  s.  v.  xsoxpeic;. 
Vgl.  oben  S.  23.  25. 

K6p|ioc  (xopfAÖc  Stumpf,  Rumpf):  Timokles  fr.  9.  Vielleicht  nur  ein 
X(ü7co8üxr^<;. 

Kopu8oc,  Lerche  =  Eukrates  (vom  Lachen  und  seiner  hellen 
Stimme?).  Athenaeus  VI  c.  39  ff.  47.  Kratinos  iun.  fr.  8.  Alexis 
fr.  45.  166.  178.  222.     Timokles  fr.  9,  11.     Euphron  fr.  8. 

Kpißavoc  apxcov,  Backofen:  Ephippos  fr.  1? 

Kup7]ßi(uv,  Kleie  =  Epikrates,  Schwager  des  Redners  Aeschines: 
Demosthenes  de  f.  1.  287  Harpokration  s.  vv.  'EirtxpdxYj;  und 
KupY]ß(u)v.  Athenaeus  VI  p.  242  D.  Alexis  fr.  466. 

Ktt)ߣ(üv,  Gründling:  Alexis  fr.  166  (vgl.  97). 

Aa-^üvCcov,  Flaschner  =  Demokies:  Athenaeus  XIII  c.  48. 

Ae|ißo^.  Anaxandrides  fr.  34,  7:  67cioöev  dxoXouOei  x6Xa$  xto,  Xe(xßo<; 

^TCixexXYjxai. 
Miccotrogus  =  Gelasimus  im  Stichus  des  Plautus  242:  'nunc  Micco- 

trogus  nomine  e  vero  vocor'. 


72  Ribbeck, 

Peoiculus  in  Plautus'  Menaechmi  77:   'iuventus  nomeD  fecit  Peni- 

culo  mihi  Ideo  quia  mensam,  quando  edo,  detergeo'. 
IlxspvoxoTüU»    Schinkenschlächter    =   Philoxenos   Athen.   VI  c.  40. 

48    Axionikos  fr.  6.      Menandros   fr.  269.     Vgl.    FIxepvoYXü^o;, 

riicpvoTpcoxTYj^  Batrachom.  222.  29. 
Scortum  =  Ergasilus  in  Plautus'  Captivi  69:  ^iuventus  noiuen  indidii 

Scorto  mihi  Eo  quia  invocatus  soleo  esse  in  convivio'. 
S6(JitoaXt(;,  Weizenmehl:  Alexis  fr.   166.  97. 
SeöiXov,   Mangold    =    Eukleides:   Athen.  VI  p.  250  E.     Die   Form 

gsutXov    für   das   attische   xeSiXov    klang    dem   Athener    affectirt 

(Meineke  com.  Gr.  III  448). 
SxYjTCioc,  Gewitter:  Antiphanes  fr.    194,   10 f. 
2x6(X|3po<;,  Makrele:  Alexis  fr.   166  (vgl.  fr.  76.  Timokles  fr.  14). 

Hier  reihen  sich  die  Parasitcnn  amen  der  Dichtung  an:*)  I 

'AxpaToXü|xa<;  A  III  53  (vgl.  Athenaeus  VI  p.  251  E  über  Thrason). 

'AXoxüiiivoc  A  III  58. 

'A(xdaYjTO(;   A  III  59    (A\La<sTo<i   Meineke:    vgl.    Suidas    ajjiaaTo;'   6 

afxaoTjToc;). 
'AptoToxopa^  A  III  68. 
'ApioT6(xaxo^  A  III  49. 
'ApTeTü(&ü(xog  A  III  6.    Vgl.  'ApTeirCßoüXo^  Batrachom.  258.   'Apio- 

cpci^o;  Batrachom.  211. 
'A  pxoTTüxTTjc;  A  III  50. 
Artotrogus:    Plautus'   miles   glor.    Vgl.  TpcoSdpxr^c   Balrachom.  28. 

105.  110.  247. 
AüxöxXyjxo;  A  III  55. 
Bopßop6C(ü|xo(;  A  III  74. 
Bouxicov  A  III  43,   verwandt   mit    ßoüxxCCstv    =    ieientare?    (anders 

Meineke  zu  A  III  60,  der  diesen  und  andere  Namen  von  ßöxo;, 

einer  Weinsorte  bei  Alexandria,  herleitet.    Mit  bucca  stellt  Knorr 

den  Namen  zusammen). 
BoüxoTTvtxxT]«;  A  III  50. 

rdaxpcov  in  gleichnamiger  Komödie  des  Antiphanes. 
Gelasimus  im  Stichus  des  Plautus. 


\]  Die  Namen  des  Alkiphron  stellte  von  A — E  zusammen  Knorr  in  d.  Progr. 
S.  I2ir.     Ich  bezeichne  mit  A  die  Briefe  des  Alkiphron. 


KoLAX.  73 

FeiJieXXot;  A  I  22,  vielmehr  wohl  ein  ä^P^ixo«;:  vgl.  I  27 f. 
Fvadcov  A  III  34.  44,    im  Eunuchus   des   Terenz.    Vgl.  Longos  IV 

10  f.  Hesychios. 
I\adtovt8Y];  Lukian  Timon  45,  159;  Fugitivi  19,  375. 
FpovÄtov    (=  dva^üOYjoi^ ;   Hesych.)   A  III  52    ("ifipOwv  Veo.    Ypf^«>'^ 

Par.  Ven.  mg.  TevOCcov  Hercher). 
rpüXXitov  A  III  10,  2.  44,  1.    Axionikos  fr.  2,  vgl.  Athen.  VI  p.  244F. 
245  A.  XIII  591  D  (s.  die  Liste  der  historischen  Parasiten  S.  81). 
Curculio  des  Plautus. 

Yrojxvoj^aCptov    A   III    66    (AenTvo^^afpcov    oder  rafxoj^atpwv    Herel. 

'A|ivo5(atp(üv    verm.    früher   Hercher.    I'apoj^aipcov    Knorr.     Tupo- 

5^dpü)v?  Dass  die  zweite  Hälfte  -/(ipwv  lautete,  bemerkt  Hercher). 

Ai'jjavaicauoiXüTuo^  A  III  67. 

*ExTo8i<6xT7]^  (=  rJjv  exDQv  8i(6xtt)v:  vgl.  III  4)  A  III  5.  ('ETvo8t(6xxT]<; 

Seiler). 
Ergasilus    in   den   Gaptivi   des   Plautus    (vgl.   Ip-fov  Xaßeiv).     Nach 
König  de  nom.  propr.  19f.  =  Scortum  (vgl.  Artemidorus  I  78). 
'EpsßivOoXsiov,    Erbsenwürger    A   I    23:    Hercher   Philol.    IX    42. 

(  E  peßivOoXeTciüv  Meineke) . 
'ExotjJidptOToc;  A  III  55. 
'Exotfi6xoooo(;,  Dachtelmeier  A  III  7. 
EößoüXo^  A  I  22  (ob  Parasit?) 
Euxvioot;  A  III  52. 

E(paXXoxüOpif]<;  A  III  64   (xuOpr]  ionisch  =  x^^P^)- 
ZYjvöyavTot;  Lukian  Todtengespr .  7 . 
Z(i>{jiex7uv6tt>v  A  III  7. 
'H8ü8si7cvo;  A  III  68. 
jHaiL^o^d-fo^  A  III  56  (Wüixßpocpd-yoi;  Bergler.  ' laii-ßocpapc  iMeineke. 

BajjLß6cpaYpo<;  Hercher:  cpa^pot;  ein  gefrässiger  Fisch). 
HiQpcüv  bei  Menandros  fr.  854. 
HpaooxüSoijjLoc  A  III  70,  wohl  eher  ein  Krieger? 
lox^oXifio^  A  I  21. 

Ivaicvoo'f  pdvT>](;AIII  49:  vgl. Eustathiusp.  171 8,60 (com. anon.fr.  1 19;. 
Kaicüpoo'fpdvTTjc?  A  III  62  (Kair/oo9pdivnf](;  Reiske.  KaTCpoocppdvTYj(; 

Seiler). 
KecpaXoYXü7CT7](;  A  III  48   (nach  Seiler.  KecpeXo^Xüirnfj;  Ven.  'E<peXo- 
^Xüirtr^;  die  übrigen  Hdschr.   Vgl.  Anm.  2  zu  S.  58). 


t  IT^ 


74  Ribbeck, 

Kvio6Cü>(xo^  A   III  6. 

KooooTpd7üeCo<;  A  III  69  (KvcoacoTpaiceCo;  Hercher.  rXoioooipdTcsCoi 

KnoiT !) 
KoTüXoßpoxOioo;  A  lil  8. 
KpeoXwßyj^  A  III  51. 
Küvaiöoc  A  III  43   (s.  unten  S.  87). 
KüTreXXioT/j^  A  III  56. 

Kü>va>TCoocppavTY](;  A  I  21    (KaTrvoocppcivTy]^?) 
K(i)7ca8t(ov    (Liebhaber    von    Aalen    aus   dem    Kopaissee)    A  III  52 

(nach  Hercher  Herrn.  I  280 :  KoTiaSfcov  die  Handschr.  AoicaStcov 

Schäfer). 

Aai[ioxüxX(o^  A  III  51    (s.  unlen  KüxXwtcsi;). 

Aaj^avoiJaüfJtaooc  A  III  47. 

Asi/oTTivaS  A  III  44  (vgl.  Aet/oTuivaS  Batrachom.  100.  227.  A6tp(x6XT] 

Batrachoni.  29.  Aet^iQ^^top  202). 
AijjievTepo^  A  III  59. 
AtjxoTCüxTYj;  A  III  70    (nach    iMeineke;    AijjLoTcucjTr^i;   die    Handschr. 

AifxoYeuaxrjQ  Seiler). 
Ao7i:aosx{}a[xßo(;  A  III  4  (nach  Reinesius,  Xo7rao£)ri)ajj.ß(i>  die  Handschr.). 

MavSaXoxoXdTüTTjc;?  Ricgelfeiler,  Thiireinbrecher?  A  III  5  (Mav- 
ooXoxoXaicTT]  6  MavSüXtxoXaTrqj  Ven.  Ma>^8iXoxoXd7mg  die  Übrigen 
Hdschr.  MavotXoxXsirnrj  Reiske  KavSoXoxoXiTuxY]  Seiler  Ma^SaXio- 
xoTUTig  Hercher). 

MaiTüacpd^too;  A  III  48  (nach  Hercher  Herrn.  I  280:  [i.aTTacpav(oott) 
H  Mairacpavfoü)  Ven.  Mainracpaatü)  die  übrigen  Hdschr.  MaTcira- 
cpavioü)  Seiler). 

Mepi6a(;  A  III  61  (s.  Meineke)  =  i&v  dptoicov  aTrocpspofJtevo«;  fispi8a(;? 
vgl.  56,  1.  MepiSapTrag  Batrachom.  257.  270). 

Movo-yvcOo^  A  fr.  I  (Movo-f^dOo)  Hercher.    Movo^vaiKcp   die  Hdschr. 

Meineke  nimmt  den  Nom.  Movo^viOiov  an). 
Multivorus:  lex  convivalis. 

Oiv6XaXo^  A  III  57   (0{v6Xao;  Ven.). 

OtvoTTvtxTYj^  A  III  8  (nach  Ven.  O^votctqxtyjc;  die  übrigen  Handschr. 

Oivoiri7rY;(;  Seiler). 
Ofvo/apcüv  A  III  72   (mit  Hercher,  OJvoj^aiptov  die  Handschr.) 

riavXdj^avo^  A  fr.  I  (vgl.  Hesychius  FlaXXaj^avov) . 


KoLAX.  75 

riaTttixtcüv  A  III  10,  2.  42,  1.    Über  die  Phönikischen  Zwergidole, 

naxatxoC,  Herodot  III  37.  Vgl.  com.  anon.  fr.  443. 
riaTeXXo^apcov  A  Hl  54  (lloteXXojjapovTt  die  Hdschr.  ITaTeXXoj^dpcüvi 

Hercher) . 
Hr^Zd-^xiD^  A  HI  65   (nach   Hercher.    nr^SotYJtcofio^   Par.,    nffid-^tty^ot^ 

Ven.,  von  Meineke  verlheidigt.  Ilr^WYVjcpvoi;  die  übrigen  Hdschr.). 
ritvaxooTrÖYYto^  A  HI  63   (ritvaxooicoYYtov  Meineke  p.  164.  riivaxo- 

oTzo-^-^iGw  Hercher.     Vgl.  Peniculus  S.  72). 
nXaxouvTo|Xü(i)v  A  HI  67.     Ein  solcher  ist  I  22  geschildert. 
nXaTuXai|jLo^  A  I  23. 

rionrjpio^f  Xüapoc  A  III  57  (nach  Bergler.  rioTTfjpo^Xüapa)  die  Hdschr.). 
Properocius:  lex  convivalis. 
'Pa^ooTpaiYtoo^,  Beerenpresser,  A  HI  42. 
*Pacpavo5f6pTaoo(;  A  HI  72. 
'PlvöjjLaxo;  A  III  65  (vgl.  Menandros  fr.  854:  £"|f«>"|f'   eirtotafiai  ^iväv. 

*  Pilf ofid)^o>  Meineke.  *  Puxo (xd/cp  Hercher). 
ZapSavditaXXoc  A  IH  52,  1. 
Saturio  im  Persa  des  Plautus. 
2xop8oX£TCLao<;  A  HI  62   (s.  Meineke.  SxoSpoXeTctooc  Ven.  2xopo8o- 

Xe7cioo<;  Hercher). 
STe|i.9uXooai{Jiü)v  A  Hl  42   (^tacpuXodaifjiovi  Vat.). 
SxeiKpoXo/dpoDv  A  III  46  (mit  Hercher.  i^teficpoXoj^afpcov  die  Hdschr.). 
SxpdTto«;  Alexis  im  Flüpauvo«;  fr.  196. 

STpoüd(a<;  Menandros  fr.  285.  Vgl.  Lukian  Fugilivi  19,  375. 
^Tpoü»(ü)v  A  HI  43   (2Tpoü&(a^  Ven.)  I  9. 
Ti^Xecpo^:  Alexis  OopdoiToc. 
Toüp8ooüvaY0<;  A  IH  64  (ToupBoxü^aYoc  verm.  Meineke.  ToupSooujji- 

(pd^oc;  Seiler). 
TpaireCoXefxTY]^   A  III  45   (nach  Ven.    und  6.  TpaTceCoXefj^cov   die 

übrigen  Hdschr.) 

TpexeoetTtvo^  A  III  4. 

TpixXtvoodS,  pulvinar  farciens,  A  III  69   (nach  Ven.  TptxXivoodpa^ 

die  übrigen  Hdschr.). 
*Y8>^oo9pdvT7](;,  Trüffelriecher,  A  III  61  (nach  Hercher.  üSpoocppdvTYj^ 

die  Hdschr.  ausser  Ven.,    der  SxopSootppdvxirji;  hat).     Als  seinen 

eigentlichen  Namen  giebt  er  üoXußio;  an. 


76  KlBBECK, 

'YTcvoipaTüsCo;  A  HI  60   (' FTuvoipaireCo;  Seiler). 

Oaxio^dpSaTTTo^  A  Ili  66  (nach  Hercher.  OaYoöapödpxu)  Ven. 
Oa^oSafTT]  die  übrigen  Udschr.  ^baYocapodirra)  Meineke). 

<I>tXd7ropo<;  A  III  71    (s.  Meineke). 

<l)iXidor^;:   Lukian  Timon  47  f. 

^iXo^apeXaStot;  A  III  58  (^iXo^apeXototov  Meineke  p.   164). 

<I>iXo(jidYeLpo(;  A  III  63. 

Phormiü  des  Terenz  (Donat  praef.  p.  14,  4ir.  R.:  'quamobrem 
nulla  dubitatio  est  hanc  solam  esse,  cui  nomeu  poela  mutaverit,  et 
errare  eos,  qui  in  hac  Phonnionem  parasituin  putant  a  formula  litis 
quam  intenderit  nominatuin,  cum  Graeca  lingua  (iscus  spart«us  et 
slramen  nauticum  sie  dicatur:  a  cuius  rei  vel  capacitate  vel  vilitate 
etiam  ab  Apollodoro  parasitus  Phormionis  nomine  nuncupatur'). 

<|)piY05«o(XY](;,  Schmerbauch?  A  III  74  ((I)püYoxotXTj(;  Ven.  ^tpi^oxot^Tj; 
und  Opi^oxeCXT]^  andere  Hdschr.  OpixoxoCXiQ^  Bast.  OpixoxoiTT}; 
oder  *PiY05cotTY](;  verm.  Meineke). 

XaoxoßoüXY)(;  A  III  60  (Boüxoj^doxYj^  verm.  Seiler  und  Meineke). 

XüxpoXe(xTTj<;  A  III  54.  Vgl.  ' Kfißaat'x^Tpoc  Batrachom.   137.  224. 

XcovoxpdxYjc,  Tiegelbeherrscher,  A  III  53  (nach  Seiler.  Xtovoxpdxtü 
und  Xovoxpdxo)  die  Hdschr.). 

Vij^oStaXexxYj;,  Krümelnascher,  A  III  45  (f'ixo8taXe£xxTQc  Seiler). 
Derselbe  wird  angeredet  Wi^tcov.  Vgl.  S^t^apiraS  Batrachom.  24. 
106.   141.  231. 

S^tX^'^^^^^'^l^j  KrUmelbeweiner,  A  III  43  i^üxoxXauoxYj(;  Ven.). 

Wiirjliaio<^  A  III  71. 

*QpoX6Yio(;,  der  nach  der  Uhr  sieht,  A  III  47. 

VI. 

An  diese  Namenliste,  welche  den  Parasiten  hauptsächlich  als 
gierigen  Tischgast  charakterisirt ,  fügen  wir  zunächst  einige  Bilder 
hervorragender  historischer  Persönlichkeiten  dieser  Gattung, 
welche  in  der  Komödie  vorkommen. 

Vor  allen  ist  zu  nennen  Xatpecpdiv^).  Er  hat  die  Kunst  er- 
funden sich  xa  SetW  daüfißoXa  zu  verschaffen.  Er  geht  früh  auf  den 
Topfmarkt,  wo   Kochtöpfe   an   Köche   vermiethet  werden.     Sieht  er, 


\)  Athenaeus  IV  58  p.  1G4F.  VI  42  p.  243  0*. 


KoLAX.  77 

dass  ein  Koch  einen  solchen  für  einen  Schmaus  miethet,  so  fragt  er 
ihn  nach  dem  Namen  des  Gastgebers,  und  sobald  er  bemerkt,  dass 
sich  die  Thür  desselben  öflFnet,  so  tritt  er  allen  voran  hinein^).  Ein 
feineres  Stralegem  war  folgendes.  Am  24.  Gamelion  war  der  {spoc 
7a|jLo<;  des  Zeus  und  der  Hera,  ein  Fest,  welches  zugleich  mit  den 
Gamelien  der  Phratrien  durch  Privatschmäuse,  zu  denen  man  die  Ge- 
nossen der  Phratrie  einlud,  begangen  wurde.  Um  sich  für  eine  solche 
Einladung  frei  zu  halten,  erklärte  Chairephon,  er  werde  den  tep^c 
'Yd(io(;  am  22.  bei  sich  zu  Hause  feiern,  einem  Unglückstage,  an  dem 
voraussichtlich  kein  Gast  zu  erwarten  war^).  Man  musste  immer 
darauf  gefasst  sein,  ihn  neben  den  eingeladenen  Gästen  als  TuapaßaGTo; 
auftauchen  zu  sehen ^).  »Ich  lade  Ares  und  Nike  ein  bei  meinem 
Abzüge«,  sagt  ein  ins  Feld  rückender  Krieger;  »ich  lade  auch  den 
Chairephon,  denn  wenn  ich  ihn  auch  nicht  lade,  so  wird  er  doch 
axXr^Toc  kommen«*).  Bei  einem  Hochzeitsschmause  liegt  er  einst 
wieder  ungeladen  zu  unterst  am  Tisch.  Da  kommen  die  Yüvatxov6jiot, 
welche  nach  einem  Gesetz  des  Demetrios  Phalereus  zu  inspiciren 
haben,  ob  die  Anzahl  der  Theilnehmer  auch  nicht  das  gesetzHche 
Maass  (30)  überschreite.  Es  ergiebt  sich,  dass  Chairephon  überzählig 
ist,  und  er  wird  fortgewiesen.  Er  aber  sagt  zu  den  Beamten:  zählt 
doch  noch  einmal,  fangt  aber  bei  mir  an^).     Wie   zu  Hause  war  er 


\]   Alexis  fr.  252. 

2)  Menander  fr.  309: 

i\u  -yolp  8UTpn];sv"  0 
xofjLtJ^oTaTo?  avopcov  Xaipscpaw,   Upov  Yttfiov 
cpdcoxcuv  iron]osiv  Ssuiipcf  [xst    eixaSa 
xaÖ'  aoTov,  tva  t^  TsipaSi  Ssmtv^  irap^  itspoi;- 
xa  T^€  &so5  Yttp  iraviaxo)?  Ij^siv  xaXco;. 

3)  Timolheos  fr.  ,2  p.  798  M. 

4)  Apollodoros  v.  Karystos  fr.  25.  Vgl.  das  Apophthegma  der  Gnathaina  bei 
AUienaeus  XIII  p.  584  E  =  Wiener  Apophlhegmensammlung  n.  188  (Wachsniuth 
Heidelberger  Festschrift  zur  Begrüssung  der  36.  Philol.  Vers.  <882  S.  32).  Es 
ist  ein  Zug  des  imepi^cpavoc ,  beim  Gastmahl  zu  spät  zu  kommen :  Chairephon 
ooSs  xoXoofievo^  Ip^^siai,   sondern  axXr^xo;. 

5)  Athenaeus  VI  p.  245 A.  Das  von  Philochoros  im  7.  Buch  seiner  Atthis 
: ebenda  p.  245c)  erwähnte  Gesetz  war  neu,  als  Timokles  seinen  <l)tXo8ixa<mj(; 
aufführte  (fr.  32),  wo  ein  aowToc  spricht.  Im  Rückblick  auf  jene  Zeit,  wo  die 
neue  Verordnung  manchen  Conflict  zwischen  den  Betheiligten  hervorrufen  mochte, 
erzählte  einer  im  KexpucpaXo?  des  Menander  (fr.  265)  eine  Anekdote,  vielleicht  von 
Chairephon,    der  ja    in   diesem  Stück  erwähnt  war  (fr.   270).     Durch  diese  Auf- 


78  RiBBEGK, 

als  ständiger  irapajiaoi^Trj^  bei  dem  Verschwender  Demotion*).  Einst 
war  er  wirklich  zu  einem  Schmause  geladen.  In  der  Nacht  wacht 
er  auf,  sieht  den  Schatten  des  Mondes,  glaubt,  es  sei  die  untergehende 
Sonne,  stürzt  fort  in  Angst  zu  spät  zu  kommen ,  und  ist  bei  Tages- 
anbruch zur  Stelle^).  Selbst  über  das  Meer  nach  Korinth  ist  er  un- 
geladen zu  Gast  gegangen,  so  viel  Freude  machte  es  ihm,  an  fremdem 
Tisch  zu  essend).  In  einer  Komödie  des  Nikostratos  kam  er  selbst 
unter  den  Personen  als  Zechgenosse  vor^).  Mit  einer  hungrigen  See- 
möve (wie  einst  Aristophanes  den  Kleon)  verglich  ihn  der  Parode 
Matron*)  in  seiner  Schilderung  des  Schmauses,  welchen  der  Redner 
Xenokles*)  in  Athen  gegeben  hatte.  Er  Hess  denselben  wie  den  .Feld- 
herrn auf  dem  Schlachtfelde  die  Reihen  seiner  Gäste  durchschreiten : 
8  ox^  8  cfp'  iiz  oüSbv  t(6v,  o^eS^öev  8e  oi  f^^  '7üapdatTo<; 

Xaipecpocov,  Tceivcovxt  Xapu>  äpviöt')  soix(u(; 

vi^OTYjc;,  dXXotpiu>v  eu  ei8ü)^  SeiTuvooüvdcov. 

T(p  oe  [idifetpoi  [jlsv  cpopeov  TtX-^oav  xe  xpaTceCa«;, 

oT^  eTrtTexpaTCTat  [ti-^ac,  oupavö^  iTcravtdaiv, 

T^fjLSv  sTütoTcsGaai  Setirvoo  X9^^^^^^  'h^  dvafieivat. 

fassung,  die  auch  durch  dea  Ausdruck  xaToi  vofjLOV  xaivov  Tiva  bestätigt  wird, 
sind  die  von  Meineke  anal.  crit.  (Athen,  vol.  IV  p.  4  07)  geäusserten  Bedenken 
gehoben.  Zu  Menanders  Zeit  scheint  das  Gesetz  schon  nicht  mehr  gegolten  zu 
haben.     Vgl.  Boeckh  Ges.  kl.   Sehr.   V  423  f. 

\)  Timokles  fr.    4  0. 

%)  Menander  fr.  353.  Ähnliches  von  Philokrates  erzählt  bei  Eubulos  fr.  118: 
s.  oben  S.   35. 

3)  Alexis  fr.  206.  Vgl.  Alkiphron  III  54.  60.  Dass  er  auch  [jLsjjLaJhixe 
xcojiaCetv  aSenrvo?,   ohne  Fackel  und  Kränze,   wird  bei  Anliphanes  fr.  4  99  berührt. 

4)  Im  ToxioTTj;  (fr.  25),  einem  Stück,  das  in  Ägypten  spielte  (Athen.  XV 
p.  685  E).  Ein  ägyptischer  Banquter  spricht  von  verführerischen  Vorbereitungen 
zu  einem  oujjluooiov  ,  worauf  ein  Genosse  zu  Chairephon :  etsv  *  xaXo;  b  xaipoc^ 
Xaipscpcov.  Es  war  also,  wie  es  scheint,  ai^enommen,  dass  derselbe  auch  Ägypten, 
vielleicht  Alexandria,  besucht  hatte;  es  wäre  denkbar,  dass  Machon,  der  in 
Afexandria  lebte  und  seine  Komödien  aufführte,  ihn  dort  kennen  gelernt  und  aus 
seiner  Bekanntschaft  Stoff  für  seine  Anekdoten  gewonnen  hätte.  Bei  Menander  war 
Chairephon  noch  erwähnt  im  'AvSpoYovoc   (fr.   53)  und  im  KsxpücpaXo?  (fr.   270). 

5)  Athenaeus  IV  4  3  p.   4  34D:   vgl.  Meineke  anal.   crit. 

6)  Vgl.  scliol.  Aristoph.  Frösche  86,  Meineke  bist.  crit.   54  6adn. 

7)  Vgl.  Aristoph.  Ritter  956:  Xapo;  xe^^jVOK  sirl  Tritpai;  8r^|x>iYop<üV.  Wolken 
594  :  KXecova  tov  Xexpov.  Derselbe  Vogel  als  ^ourfi'^o^  wird  dem  Herakles,  dem 
Pjtron  der  aBirjcpaYOi  und  Parasiten,  zugetheilt  in  den  Vögeln  567  (s.  dazu  Kock), 
Athen.  X  p.    414  G. 


KoLAX.  79 

Und  weiter  unten,  in  der  Hitze  des  Gefechtes,  p.  1 36  e  V.  106: 

Xaipecpocov  S*  evoTjoev  äfia  irpoaoo)  xal  6ictaoü) 
8()viOa<;  yvcSvai  xal  evaiatfJLGt  otTiCea^ai  .  .  . 
"jjoöie  8'  (oore  Xscov,  icaXdffiTj  8'  Ij^e  tö  axsXo^  aoToG , 
5cppa  o{  oixaS'  {6vti  TraXiviroxiSopTUtov  eiYj. 

Er  selbst  hat  ein  AeiTuvov  geschrieben  und  seinem  Berufsgenossen  Kyre- 
bion  gewidmet,  ein  Büchlein  von  375  Zeilen,  welches  von  Kallimachos 
mit  den  Anfangsworten  in  seinen  Katalog  eingetragen  war^). 

Anekdoten  über  Chairephon  hat  in  iambischen  Trimetern  der  Ko- 
miker Machon,  ein  Zeitgenosse  des  Apollodoros  von  Karystos,  in 
seinen  XpsTat  erzählt^).  Damals  wird  der  vielgenannte,  dessen  Lauf- 
bahn seit  den  Zeiten  des  Alexis  und  Antiphanes  sich  verfolgen  Hess, 
nicht  mehr  am  Leben  gewesen  sein.  So  ist  wohl  auch  die  'Ispeia 
des  Apollodoros  (fr.  23)  erst  nach  dem  Tode  des  Parasiten  aufgeführt, 
da  in  diesem  Stück  das  Auftreten  eines  »neuen  Chairephon«  gefeiert 
wird,  der  in  der  Erfindsamkeit,  zu  einem  Hochzeitsmahl  zu  gelangen, 
ein  würdiger  Nachfolger  des  grossen  Meisters  gewesen  ist.  Er  hat 
einen  Korb  genommen,  einen  Kranz  aufgesetzt  und  sich  in  dunkler 
Abendstunde  als  einen  Abgesandten  der  Braut  ausgegeben,  der  die 
Vögel  (welche  zu  den  symbolischen  Höchzeitsgaben  gehört  haben 
mögen)  bringe.     So   ist  er  hineingekommen   und  hat  mitgeschmaust. 

Tithymallos^),  der  bei  Alexis^)  mehrfach  vorkam,  w^ar  ein 
armer  Schlucker,  freilich  zu  den  Unsterblichen  gerechnet,  weil 
der  Tod  den  Armen   aus   dem  Wege  gehe  •'•) ,   ein   Typus  des    Hun- 


4j   Athenaeus  VI  p.  244  A. 

2)  Athenaeus  VI  p.  244  F.  ApoplUhegmen  des  Parasiten  Korydos  über  Chaire- 
phon ebenda  p.  2  45  F. 

3)  Athenaeus  VI   38  p.   240  C. 

4)  Mi^oia   (fr.    4  48),  XJSüaoso?  ocpaivcov   (fr.    153),  'ÜXi>v&(a   (fr.   4  56). 

5)  \)Xuv&ia  fr.  4  56:  b  oe  oo?  ttevt)?  sat',  cü  y^^xsI«.  touto  ok  Aiooiy^  o 
davaTo?  t6  y^voc,  «S?  cpaoiv,  {jlovov.  *^Ü  youv  Ti&u[i.aXXo?  a&avaTo;  Tuspiepj^sxai. 
Ein  Liebhaber  scheint  zu  der  Tochter  des  armen  Mannes  zu  sprechen,  über  dessen 
Familie  und  Lebensweise  die  bejahrte  Gattin  in  den  Anapästen  fr.  4  55  Auskunft 
giebt.     Antiphanes  im  Tuppr^vo?  fr.   24  0: 

apSDQ    TO    TTpoTxa    ToT?    Cp(Xoi;    UTCYjpSTsTv. 

B.  XsYet?  easoi^ai  tov  TtDüaaXXov  ttXoucjiov  • 
eicnrpaSsTat  ^ap  jiia&ov  Ix  tou  30u  X070U 
Tcap     Ol?  dSsfirvst  irpoTxa  ouX.Xe5tv  3uj(vr]v. 


80  Ribbeck, 

gers^),  des  gewaltigen  Appetits^),  des  classischen  Parasiten^).  Seine 
rothe  Gesichtsfarbe  wird  der  Scham  darüber  zugeschrieben,  dass  er 
bestandig  daü(i.ßoXo(;  bei  Tisch  sitze*). 

Philoxenos'*) ,  mit  dem  Spitznamen  IlTepvoxoTCi;,  geschätzt  und 
geliebt  wegen  seines  anmuthigen  Witzes^) ,  der  älteren  Generation 
angehörig  ^ . 

E  u  k  1  e  i  d  e  s ,  Sohn  des  Smikrinos  ^) ,  genannt  SeöxXov  ^) ,  weniger 
beliebt  als  Philoxenos.     Seine  Witze  galten  für  unartig  und  frostig^"). 

Eukrates^^),  mit  dem  Spitznamen  Korydos,  in  der  Zeit  des 
Alexis ^^)    einer  der  witzigsten  Parasiten,  dessen    Memoiren  Lynkeus 


\)   Bei  Aristophon  fr.   9  wird  ein  [l\jba'(opiovf^^  charakterisirl : 

TTpoc  (xsv  To  irsivTjv,  ia&isiv  Ss  \Lrfik  £v 
vojAiC   opäv  Ti&t>p.aXXov  r^  OiXi7nrt5T^v. 
Vgl.  Timokles  Kauvioi  fr.    4  8. 

2)  Timokles  'KirtoxoXai  fr.  9:  TiOüfiaXXo?  oüoSTroiiroT'  i^pao&T|  cpaYelv  |  outo) 
acpoSpa. 

3)  Timokles  KevTaopo^  fr.   19:    Ti&ü|xaX.Xov  auTov  xal  itapaoiTov  airoxaXcov. 
i)  Dromon  ^aXTpia  fr.   \  : 

OTrepTBCTj^üVojiTiV 
fjiXXwv  aoufißoXo;  TtaXiv  SewrveTv  Tuavu 
aJajfpov  Y^p.  B.  ap-iXsi*  tov  TtOojjLaXXov  -^ohy  ael 
IpuOpoxepov  xoxxoo  irepficaTsTv  laö'  bpäv" 
oüToj;  ipüftpi^  3U[i.ßoXa^  00  xataTiösC?. 

5)  Athenaeus  VI  40  p.   «44  E. 

6)  Lynkeus  der  Samier  (über  den  s.  Meineke  Menandri  et  Philemonis  rel. 
p.  XXXIII)  im  zweiten  Buch  irepl  MevavSpoo  bei  Athen.  VI  p.  242  C  charakterisirl 
ihn.     Proben  davon  nach  Lynkeus  ebenda  48  p.   246 A. 

7)  Axionikos  im  XaXxiSixog  fr.   6.     Ein  Parasit  spricht  von  seiner  Jugend: 

OTS  Tou  irapaoiTsTv  icpoyrov  i^pao&r^v  jxeTa 
<I)iXo5£voo  T^g  nT8pvoxoir{8oc  vio;  ex'  wv  xtX. 

Menander  halte  ihn  im  KexpocpaXo«;    erwähnt  (fr.   269),    auch  Machon   (Athen.   VI 

p.   244  F.). 

8)  Athenaeus  VI  p.  242  B. 

9)  Athenaeus  VI  p.   250 E.     S.  oben  S.  72. 

4  0)  Lynkeus  der  Samier  hat  ihn  im  zweiten  Buch  irspl  MsvavSpou  mit  Philo- 
xenos  verglichen:  Athen.  VI  p.  242  B.  Hegesandros  in  seinen  oiro[j.VT]fi.aTa  Iheilte 
Witze  von  ihm  mit:   daraus  Athen.  VIII  p.   250 E. 

4  4)  Athenaeus  VI  39,   vgl.  oben  S.   74. 

4  2)  rioiYjTaf  fr.  4  78 :  irotvo  Ti  ßGoXop-ai  |  oüt«)  ^eXätaftai  xal  ysXoT'  asi  Xiyeiv  i 
jisTa  TOV  KopuSov  p-aXior'  'A{b)va(a>v  tcoXu.  Tit&yj  fr.  222  :  b  KopoSo?  oütoc,  b 
tÄ  y^XoT'  siftiaji-ivo?  |  X^yeiv  BXsiralo;  ßouXsx'  stvai  xtX.  (Blepaios  wahrschein- 
lich ein  reicher  StJaxoXoc). 


KOLAX.  81 

von  Samos  geschrieben  hat^).  Er  gehörte  nicht  zu  denen,  die  auch 
ungeladen  sich  an  fremdem  Tisch  einen  Platz  zu  erobern  wussten*^). 
Desto  grössere  Verheerungen  richtete  er  an,  wenn  er  einmal  Posto 
gefasst  hatte.  Der  jüngere  Kratinos  in  den  Fi^favTe;  stellt  ihn  in 
Orakelversen  selbst  als  einen  furchtbaren  Giganten  dar  mit  eherner, 
unermüdlicher  Faust,  der  verzehrender  als  das  Feuer  keinem  Tisch- 
genossen etwas  übrig  liess^).  Auch  an  der  Tafel  des  Ptolemaios  hat 
er  gespeist,  ist  aber  nicht  satt  geworden^). 

In  die  Zeit  des  Alexis  fällt  ferner  Mo  seh  ion,  genannt  6  irapa- 
fiaoT^TT^«;  ^) .  Zu  den  xEOTpsf;  gehörte  M  i  d  a  s  ^) .  Dagegen  ist  Arche- 
phon  von  Athen  nach  Ägypten  gereist,  wo  er  an  der  Tafel  des 
Königs  Ptolemaios  gespeist  hat^.  Auch  Dromeas  hat  sich  in  der 
Welt  umgesehen,  so  dass  er  über  die  oenrva  in  Chalkis  und  deren 
Verhältniss  zu  den  athenischen  auf  Befragen  ein  sachverständiges 
Gutachten  abgeben  konnte^).  Areopagit  und  wohlbestallter  Parasit 
des  Satrapen  von  Lydien,  iMenandros,  und  der  Heliire  Phryne  war 
Gryllion^).     Er  war  nicht  mehr  unter  den  Lebenden,  als  Axionikos 


\)  Athen,  p.  244  D:  avaYpa^ei  8'  auTou  ra  a7rop.vY]fjLov£up.aTa  Au^xeo?  o 
£a(jLit>;,  EuxpaTTjV  aoTov  xaXsTadai  xupiux;  cpaoxcov.  Hierauf  eine  hübsche  Probe 
seiner  Witze;  mehr  aus  derselben  Quelle  c.  47. 

2)  Alexis  im  ATjfiTQTpto^  fr.  45:  aXV  aiaj^uvojjLai  |  tov  Kopuoov,  ei  ooEm 
aüvaptordv  xiaiv  |  oütcd  irpo^sipo);  *  oiix  aTcapvoujiai  ö'  o.ao)^  •  |  ouos  -yotp  ixelvoc, 
äv  xotA-j  Tt<;.  Korydos  auf  dein  Fischmarkt  für  den  eigenen  Tisch  einkaufend,  da 
er  nirgends  geladen  ist,  bei  Timokles  im  'Eirt^^aipsxaxo^  fr.    H . 

3)  Kopuoov  TOV  j(a>:xoTü7rov  TrscpoXaSo,  |  si  jjliq  oot  vojit£T<;  auTov  jitjSsv  xata- 
A£i«^stv  •  I  jJLr|8'  o^j/ov  xoiv^  jisra  toutou  itcüitots  Saio-o  |  toi  KopuSou,  TcpoXe^o)  oot  * 
iyei  YOip  X^^P*  xpaxatav,  |  x^Xx^jv,  ÄxocfiaTov ,  iroXu  xpsirru)  tou  Trupoc  auToü. 
V.  2:  wenn  du  nicht  schon  darauf  gefasst  bist,  dass  er  dir  nichts  übrig  lassen 
wird.     Vgl.  Timokles  fr.   9,    4.  Alexis  fr.    4  66,   2.  Euphron  fr.   8,   6. 

4)  Lynkeus    bei  Athen.   VI  p.   245F.     Verse   des  Machon   ebenda    p.   242 B. 

5)  Alexis  im  Tpo^pwvio?  fr.  232  :  slft'  o  Moa/iwv  |  o  irapafi.aoif^'ni?  ev  ßpoToTc 
au6cu{ievo(.  Dass  dieser  identisch  gewesen  sei  mit  dem  bei  Athen.  II  p.  44  D  er- 
wähnten uSpoTcoTTi^,  von  dem  Machon  (ebenda  VI  p.  246  B)  einen  Witz  erzählt  hat, 
ist  nicht  erweislich.  Ebensowenig  lässt  sich  sagen,  ob  der  unter  den  erwarteten 
Gästen  aufgezählte  Moschion  bei  Straton  im  Phoinikides  V.    \3  der  unsrige  sei. 

6)  Euphron  fr.   2. 

7)  Anekdote  darüber  bei  Machon:  Athen.  VI  44.  Erwähnt  wird  er  von 
Kratinos  d.  j.   fr.    14. 

8j   Hegesandros  bei  Athen.   IV  p.    132G. 

9)  Athenaeus  VI  p.  244  F.  XIII  p.  591 D.  Der  Samier  Lynkeus  hat  in  den 
*  Airo'^&fiYH'^^'^*  ^^"  ^^™  erzählt. 

Abhandl.  d.  K.  S.  GeselUch.  d.  Wissensch.  XXI.  g 


82  Ribbeck, 

seine  Komödie  Toppyjvoc  (fr.  2)  schrieb.  Nichts  Näheres  wissen  wir 
von  dem  obenerwähnten  Himerios  in  Athen ^).  Unbekannt  ist  auch 
der  Wirkungskreis  des  Spartiaten  Hairesippos,  der  geschildert  wird 
als  avOpcoTCoi;  oü  (xexpiax;  cpaöXoc;  ouSe  8ox(5v  j^pTjatJx;  efvat,  irtftavbv  o 
ejfcDv  SV    xoXaxeia  Xo^ov,    xal  depaTceöaai  touc  eüTcöpouc  [le^pi 

Kein  Parasit,  sondern  ein  berühmter  xpej^sSeixvot;  und  d'^^o^pdf^; 
war  der  Staatsmann  der  demosthenischen  Zeit  K  a  1 1  i  m  e  d  o  n ,  ge- 
nannt h  xapaßoc  (Krabbe) ,  weil  er  schielte  und  die  Fische  liebt«  ^). 
Seit  Alexis  und  Antiphanes  ausserordentlich  häufig  in  der  Komödie^) 
erwähnt,  ist  er  ein  hervorragendes  Mitglied  des  Sechzigerklubs  ge- 
wesen, der  in  dem  Heraklesheiligthum  des  Demos  Diomeis  seine 
lustigen  Zusammenkünfte  hielt  und  dessen  Witze  dem  makedonischen 
Philipp  so  viel  Vergnügen  machten^).  In  diese  Reihe  der  tpexe- 
SetTcvot*^)  gehören:  Philokrates,  der  bekannte  Zeitgenosse  des  De- 
mosthenes') ;  Phoinikides^);  Taureas^);  Chairippos*^). 

Die  grosse  Masse  höfischer  x6Xaxe<;")  vollständig  aufzuzählen 
kann  nicht  in  unsrer  Absicht  liegen,  zumal  da  dieser  Begriff  je  nach 
der  Auffassung  des  Berichterstatters  ein  sehr  schwankender  ist.  Neben 
Parvenüs  und  niedrigen  Subjecten  werden  gelegentlich  selbst  hohe 
Offiziere  und  Beamte,  Diplomaten  und  Gelehrte  mit  diesem  Namen 
gebrandmarkt,  der  ursprünglichen  Bedeutung  desselben  nicht  unan- 
gemessen, wie  denn  auch  die  comiles  der  cohors  praeloria^  welche 
den  römischen  Statthalter  in  seine  Provinz  begleiteten  ^2^,  ebenso  v^rie 


\)  Plutarch  über  cpiXog  und  xoXaE  p.   60 D.     Oben  S.  55. 
t]   Agatharchides  von  Knidos  im  30.  B.  s.  broptai   (III  p.  194   fr.    8  M.)   bei 
Athen.   VI  p.   254  F. 

3)  Alhenaeus  III  c.   57.   64.   VIII  c.   24. 

4)  Alexis  fr.    Ut,    440.    4  66.    4  88.   Eubulos  9.    Timokles  tl.    Theophilos  4. 
Euphron  9.  Philemon  44.  5)   Athen.   XIV  p.   64 4 D. 

6)  Aufgezählt  von  Alexis  fr.    4  66  bei  Athen.   VI  p.   242  D. 

7)  Athen.  VIII   p.   343 E.    Eubulos  fr.    4  48    erzählt   boshaft   eine    Geschichte 
von  ihm,   die  nach  Menander  ähnlich  dem  Chairephon  passirt  war. 

8)  Antiphanes  fr.   48.    4  89.  Euphron  8. 

9)  Antiphanes  fr.   48.    4  89.   Philetairos  fr.   3. 
4  0)   Menander  fr.   480.  Phoinikides  fr.   3. 

44]   Maximus  Tyrius  20,  7:  Tupavv(f>  ouSelc  cpiXo^,  ßaaiXei  6e  ouSeU  x6Xa£. 
4  2)   Spöttisch    rühmt   Catull  c.    4  4    die    Hungerleider    Furius    und   Aurelius   als 
anhängliche  comites  seiner  Cohorte. 


KoLAx.  83 

die  romanischen  comtes  und  conti  Nachkommen  und  Spielarten  der 
alten  xoXaxe^  sind. 

Berüchtigt  vor  andren  sind  die  sikilischen.  Schon  der 
ältere  Dionysios  hatte  seine  x6Xaxe<;,  verkehrte  aber  mit  ihnen 
auf  jovialem  Fuss  und  nahm  selbst  gelegentliche  Neckereien  nicht 
übeP).  Von  den  niedrigen  Schmeicheleien,  zu  welchen  sich  die  Um- 
gebung  des  jüngeren  Tyrannen  dieses  Namens  herbeiliess,  hat  Theo- 
phrast  in  seiner  Schrift  icepi  xoXaxeCac  berichtet^).  Spöttisch  sind  die 
dionysischen  Künstler  (AtovuooTe^^vrxai) ,  welche  an  diesem  Hof  ver- 
kehrten ,  demnächst  wohl  auch  die  übrigen  ^iXoi  und  eiaipoi  des 
Fürsten  AiovuaoxoXaxec  genannt  worden^). 

lieber  einzelne  dieser  sikilischen  x6Xaxe(;  hat  Timaios  im 
22.  Buch  seiner  bxoptat  Mittheilungen  gemacht^).  Bei  beiden  Ty- 
rannen stand  Satyros  in  Gnaden^).  Unter  dem  jüngeren  Dionysios 
waren  namhaft  Demokies  mit  dem  Beinamen  Aa^ovitov *) ,  der  so- 
gar  als  Gesandter  in  Staatsangelegenheiten  verwandt  wurde  ^);  und 
Cheirisophos,  von  dem  Hegesandros  aus  Delphi  in  seinen  uiuo- 
fivi^p.axa  erzählte^). 


4)  Eubulos  in  der  Komödie  Aiovuaioc,  welche  das  Treiben  am  Hof  des 
Tyrannen,  seinen  poetischen  Dilettantismus,  seine  Reliquienj'agerei  u.  s.  w.  ver* 
spottete,  fr.  25  :  iXX'  lort  toT?  aep-voT?  [liv  addaSiotepog ^  |  xal  toT;  [toTc  8'  au 
Mein.]  xoXa^i  Traai  toT^  oxcoirroüoi  te  |  ^auTov  euopYTjToc*  fj^siTai  5s  or^  |  toutou^ 
piovou;  eXeu&epoug,  xav  SouXo^  iq.     Einer  dieser  xoXaxeg  scheint  zu  sprechen. 

2}   Hieraus  Athenaeus  X  p.    135  E  VI  p.   249  F. 

3)  Aristoteles  rhet.  III  2  p.  4  405,  23:  xal  o  [jiv  AiovoaoxoXaxa;: ,  aotoi  6' 
auTOü?  xej^viTac  xaX.oüatv.  Diesen  Spottnamen  übertrug  Epikur  auf  die  Schüler 
Piatons  bei  Laertius  Diogenes  X  8  :  tooc  ts  irepl  IlXarmva  AiovuaoxoXaxag  (ixaXsi) 
xal  auTOV  flXatcova  }(puaouv.  Hatten  doch  auch  jene  syraicusischen  Höflinge  in 
der  That  Interesse  für  Platonische  Philosophie  geheuchelt^  so  lange  sie  bei  dem 
Tyrannen  in  Gnaden  stand.  Der  rachsüchtige  Parasit  bei  Alkiphron  III  48  stellt 
den  tragischen  Schauspieler  Likymnios  zum  Chor  der  AiovuaoxoXaxeg,  Theopompos 
'fr.  297  M.)  bei  Athenaeus  VI  p.  254  B  gab  Athen  Schuld,  dass  es  voll  sei 
AiovoaoxoXaxcov  xal  vaotfuv  xal  Xu>7roSuT<ov  xtX.  Mit  Unrecht  will  Meineke  anal, 
crit.  zu  Athen.  X  p.   435  E  Aiovu3iox6Xaxe^  schreiben. 

4]  Bei  Athenaeus  VI  p.   250. 

5)  Athen.  VI  p.  250  D:    xal  Satopov  6s   Tiva   avaYpa<pst   o  TijjLaio;   xoXaxa 

a^OT^pcOV    TCOV    AlOVUGlCOV. 

6)  Athen.  XIII  48   (nach  Lynkeus?].     Oben  S.   74. 

7)  Athen.   VT  p.   250  A. 

8)  fr.    6  M.    bei  Athen.   VI  p.    249 E. 

6* 


84  Ribbeck, 

Dem  Tyrannen  Hieronymos  war  ergeben  Thrason'),  genannt 
6  xdpj^apo;,   ein  Säufer,  gestürzt  durch  Sosis^). 

Am  reichlichsten  fliessen  die  Nachrichten  über  die  xoXaxec;  des 
makedonischen  Hofes  und  der  Diadochen.  Besonders  hat 
Theopomp  mit  grellen,  gehässigen  Farben  die  Rohheit  und  Zügel- 
losigkeit  der  sTaipot  des  Philippos,  Sohnes  des  Amynlas,  geschil- 
dert, als  wüster  Abenteurer  und  Glücksritter,  die  (etwa  800  an  der 
Zahl)  aus  allen  Orten  und  Gegenden  der  Welt  zusammengelaufen 
seien ^).  So  bezeichnet  er  als  x6Xaxa  ixe^toTov  z.  B.  auch  den  Thra- 
sydaios.  den  thessalischen  Tetrarchen *) ;  ferner  den  Penesten  Aga- 
thokles,  der  bei  den  Symposien  des  Königs  getanzt  und  Spass  ge- 
macht habe,  von  diesem  aber  als  Statthalter  über  die  Perrhaber 
gesetzt  sei^).  Der  eigentliche  Hofparasit  war  Kleisophos,  ein 
Athener  von  Geburt,  der  seine  iMeisterschaft  in  der  xoXaxeia  gründ- 
lich zu  verwerthen  verstand®). 

'AXeSavopox6Xaxe(;  hiessen  nach  Analogie  der  Aiovuaox^Xaxe; 
die  dionysischen  xe^^vtrat,  welche  die  grosse  Hochzeitsfeier  des  ma- 
kedonischen Alexandros  nach  dem  Siege  über  Dareios  durch  ihre 
musikalisch-mimischen  Leistungen  verherrlichten  und  dafür  königlich 
belohnt  wurden').  Von  den  übrigen  in  seiner  Umgebung  werden 
u.  A.  folgende  als  xoXaxec;  bezeichnet. 

Agesias^),  sonst  unbekannt. 

Agis  aus  Argos,  .epischer   Dichter  (sttotcoio^)  ^) ,  dem   aus  Neid 

\)  Baton  von  Sinope  Tiepl  t^?  toü  ^ IspwvujjLOU  Tüpavv(8o;  (Gr.  hist.  fr.  IV 
p  349  M.)  bei  Athenaeus  VI  p.  254  E.  Vgl.  Polybios  VII  2.  Oben  S.  70.  Sosis: 
LiviusXXIV  24.   XXV  25. 

2)  Polybios  XV  34,   7. 

3)  Theopomp  im  49.  Buch  seiner  bropiai  (fr.  249  M.)  bei  Athen.  IV  62. 
VI  77   (auch  p.   260  A)   und  Polybios  VIII  H. 

4j   Bei  Athen.  VI  p.   249 C:   vgl.   Schäfer  Demosth.  II  402  f. 

5)  Theopomp  fr.   4  36  M.  bei  Athenaeus  VI  76. 

6)  Anekdoten  über  ihn  lieferten  Satyros  im  Leben  des  Philippos  (fr.  3  M.], 
Lynkeus  in  den  d770[i.v7^(xovsüfj.aTa,  und  Hegesandros  in  den  uirofivrjfjLaTa  (fr.  4  M.) 
bei  Athenaeus  VI  53  F. 

7)  Chares  im  4  0.  Buch  seiner  laxopiai  irspt  'AXe^avopov  bei  Athenaeus  XII 
p.  538  F:  xat  sxTore  ol  irpotepov  xaXoofjLSvoi  BiovosoxoXaxe^  dXsEavSpoxoXaxs; 
exXY]Örjoav  8ta  xa;  täv  Saipmv  oTuspßoXa^,  Icp'  ol;  xal  fja&r|  o  *AX66avSpo<;. 

8)  Plutarch  <p(Xo<;  und  xoXaE  p.   65 C. 

9;    Arrian  anab.  IV   9,   9.  Curtius  VIII  5,    8. 


RoLAX.  85 

und  Eifersucht  wohl  einmal  ein  freiuiüthiges  Wort  entschlüpfle,  wel- 
ches er  durch  schmeichlerische  Interpretation  wieder  gut  zu  machen 
wussle*). 

Agnon  von  Teos^),  Befehlshaber^),  berühmt  durch  seine  gol- 
denen Schuhnägel  ^). 

Anaxarchos  aus  Abdura,  der  Philosoph^),  dessen  Schmeiche- 
leien denn  doch  mehr  den  Charakter  ironischer  Neckereien  eines 
menschenverachtenden  Weltmannes  gehabt  haben  und  nicht  anders 
von  Alexandres  aufgefasst  sein  werden^). 

Bagoas,  der  Eunuch  und  Buhle  Alexanders^),  der  den  Satra- 
pen Orsines  durch  seine  Verleumdungen  aus  Rache  stürzte^). 

Demades,  der  berüchtigte  Demagog,  der  den  Antrag  in  Athen 
stellte,  Alexander  für  einen  Gott  zu  erklären^). 

Demetrios,  Sohn  des  Pythonax,  einer  der  siatpoi,  der  die  Hof- 
etikette,   die  Beobachtung  der  irpooxüVTjat; ,  so  streng  überwachte***). 

Dioxippos  von  Athen,  der  Pankratiast  *^) ,  der  das  Blut  Ale- 
xanders i^cop  nannte;  Epikrates  von  Athen,  Schwager  des  Redners 
Aeschines,  mit  dem  Beinamen  Küpvjßtcov  (S.  71),  der  vorschlug  jähr- 
lich   statt  der   9  Archonten   vielmehr  9  Gesandte   an    den  König  zu 


1j   Plutarch  cpiXo;  und  xoXaE  4  8  p.   60 B.   Vgl.   Lobeck  Aglaoph.    1303. 
2)   Plutarch  a.  0.  p.  65  D. 

3]  Plinius  n.  h.  XXXIII  3,  14,  50:  ^Alexaadri  Magni  praefeclum*.  Als 
ixalpo^  bezeichnet  bei  Athen.  XII  p.   539  C. 

4)  Phylarchos  im  23.  Buch  seiner  taropiai  und  Agatharchides  im  10.  Trspt 
x\3ta^  bei  Athen,  a.  0.,  Plinius  a.  0.  Silberne  Nägel  giebt  ihm  Plutarch  Alex.  40. 

5)  L'ber  ihn  Laertius  Diogenes  IX  10;  das  übrige  Material  bei  Zeller  Pbilos. 
der  Griechen  III   1   S.   438  f. 

6)  Vgl.  die  Geschichten  bei  Athen.  VI  p.  250  F  (nach  Satyros),  Plutarch 
Sympos.  IX  1,  t,  5,  Aelian  var.  hist.  IX  37.  Dass  er  nach  der  Ermordung  des 
Kleitos  den  jammernden  König  an  die  Majestät  seiner  Würde  erinnerte  und  ihm 
eine  Maxime  einschärfte,  ohne  welche  Alleinherrscher  nicht  regieren  können^ 
(Arrian  Anab.  IV  9,  7,  Plutarch  Alex.  52,  Mor.  p.  781  A)  ist  charakteristisch  für 
seine  kühle  Betrachtungsweise  menschlicher  Verhältnisse,  kein  Beweis  niedriger 
xoXaxsia. 

7)  Dikaiarchos  tt.  ttjC  h  'IX(((>  &u9{a(;  bei  Athen.  XIII  p.  603 B,  Plutarch 
Alex.   67,   über  (p(Xo;  und  xoXaE  p.   65G. 

8)  Gurtius  X  1,   4  f. 

9)  Athenaeus  VI  p.  251  B:   vgl.  A.  Schäfer  Demosthenes  u.  s.  Zeit  III  19  fr.  i90. 

10)  Arrian  IV   12  =  Plutarch  Alex.   54.   Vgl.   Plut.  cpiXo(;  und  xoXa?  p.  65 C. 

11)  Aristobulos  o  KaaavSpeu;  bei  Athen.  VI  p.  251  A  erzählt,  Dioxippos  habe, 


86  Ribbeck, 

wählen  \;  Gcrgithios  von  Gergitha  auf  Kypros,  nach  dem  Klearchos 
sein  Buch  über  den  Ursprung -des  Wortes  xoXaS  benannt  hal^) ;  Me- 
dios aus  Larissa,  der  Trierarch,  einer  der  Vertrautesten^),  der  durch 
freche  Verleumdung  Nebenbuhler  zu  beseitigen  wusste*) ;  Nikesias, 
der  den  Fliegen,  die  von  Alexanders  Blul  gekostet  hatten,  grössere 
Kraft  verhiess')  und  die  Gottheit  des  Herrschers  betonte,  auch  als 
dieser  in  Krämpfen  lag^). 

Demetrios  Polio rketes  war  cpiXo^eXüx;')  und  fand  an  der 
Gesellschaft  seiner  xiXaxec;  Gefallen.  Bei  seinen  Symposien  sah  er 
gern,  wenn  die  Gäste  bei  Trinkspenden  ihn  allein  als  König  bezeich- 
neten, die  übrigen  Grossen  des  Reichs  zu  deren  Arger  nach  Ämtern 
und  Commando's,  die  sie  bekleideten,  z.  B.  den  Ptolemaios  nur  als 
Nauarchen,  Lysimachos  als  Schatzmeister,  Seleukos  als  Elephanten- 
Befehlshaber,  Agathokles  als  Gouverneur  der  Inseln'*).  In  unwürdig- 
ster xoXaxeCa  ihm  gegenüber  wetteiferten  auf  den  Antrag  ihrer  De- 
magogen Athener  und  Thebaner,  zum  Überdruss  des  Gefeierten 
selbst:  jene,  oi  täv  xoXdxcov  x^Xaxe;,  durch  Errichtung  von  Heilig- 
thümern  für  seine  Hetären,  eine  Leaina-  und  eine  Lamia-Aphrodite, 
von  Altären  und  Heroa  und  Spenden  für  seine  xöXaxec,  einen  Adei- 
mantos,  Burichos,  Oxythemis,  durch  Absingung  von  Päanen  auf  die- 
selben, durch  jenen  Empfang  des  einziehenden  Herrschers,  der  unter 
Prosodien  und  Chören  als  der  einzige  wahre  Gott  begrüsst**^)   und  im 

wie  Alexander  einmal  verwundet  worden  und  sein  Blut  geflossen  sei,  den  homeri- 
schen Vers  citirt :  i/cop  otooirep  re  ^iet  [laxotpeaai  tfsoToiv ,  während  Anaxarchos 
(nach  Laertios  Diogenes  IX  10,  60)  bei  gleichem  Anlass  gesagt  haben  soll:  route 
{xev  aiixa  xal  oux  lytip  xtX. 

1)   Hegesandros  bei  Athen.   VI  p.   251  A.    Mehr  bei  A.   Schäfer  a.   0.   I  207. 

t)  Athen.   VI  p.  265  C. 

3)  Arrian  VII  24:  Mi^Stov  ....  t«üv  iTatpcov  iv  X(\y  rote  tov  iri{>av(üTaTov : 
vgl.    iö.   27.   Plut.   Mor.   p.   338  D.    472  D.   Leben  Alex.   75  f. 

4)  Plutarch  cptXo;  und  xoXaS  24  p.  65  C:  r^v  8'  o  MijSto?  toü  Ttepi  tov 
AXi£av8pov  jf^poo  tuw  xoXaxmv  otov  l£ap5^o?  xal  oocpian^?  xopucpalo^  iizl  toü; 
dpfoTou;  auvTeraYfiivo;  u.  s.  w.     Sein  Apophthegma  s.  oben  S.   6i. 

5)  Hegesandros  (fr.   6  M.)   bei  Athenaeus  VI  p.   249  E. 

6)  Phylarchos  im  6.   Buch  seiner  tatoptai  (fr.  8  M.)   bei  Athen.   VI  p.  251  C. 

7)  Phylarchos  im  ^0.  Buch  seiner  iatopiai  (fr.  20:  vgl.  6)  bei  Athenaeus 
VI  p.   261  B. 

8)  Phylarchos  im  14.  Buch  (fr.  29  M.i  bei  Athenaeus  a.  0.  Plutarch  Demetr. 
25,   rei  publ.  ger.  praecepta  31,    11. 

9)  Demochares  im  20.  Buch  seiner  latopfai  (fr.  3  M.)  bei  Athenaeus  VI  62. 


KoLAX.  87 

Liede  ^)  gefeiert  wurde ;  die  Thebaner  durch  Erhebung  seiner  Hetäre 
Lamia  zur  Aphrodite^).  Im  Einzelnen  werden  als  x6Xaxe(;  des  De- 
metrios  folgende  bezeichnet.    . 

Adeiraantos  aus  Lampsakos.  Auf  seinen  Betrieb  wurde  im 
Demos  Thria  der  trefllichen  Gemahlin  des  Demetrios,  der  Phila,  als 
Aphrodite  Tempel  und  BildsSiule  errichtet  und  der  Ort  nach  ihr  cDiXaio^i 
genannt  ^) . 

Aristodemos  von  Milet,  General  des  Demetrios  und  geschickter 
Unterhändler,  Siegesbole  von  ihm  an  den  Vater  Antigonos  nach  der 
Schlacht  bei  Salamis  Ol.  118,  Sl ,  dessen  Bemühung ,  seiner  Meldung 
durch  Spannung  der  Gemüther  eine  desto  grössere  Wirkung  zu  sichern, 
Manchen  an  die  Kunstgriffe  eines  Parasiten  oder  Sclaven  in  der  Ko- 
mödie erinnert  haben  mag^). 

B  u  r  i  c  h  o  s ,  Geschwadercommandant  ^). 

Dromokleides  der  Sphettier,  athenischer  Redner,  beantragt  in 
der  Volksversammlung  Huldigungen  für  Demetrios,  den  Scon^p^). 

Euagoras,  der  bucklige  (6  xoptoc) "). 

Kynaithos  und  sein  xoXdxeo[xa  ist  oben  erwähnt  worden*). 

Oxy  themis,  Sohn  des  Hippostratos,  von  den  Athenern  mit  dem 
Bürgerrecht  beschenkt  '^). 


i)   Mitgetheilt  von  Duris  im  22.  Buch  seiner  tsropiai  (fr.  30  M.)  bei  Athenaeus 

VI  63. 

2)  Polemon  ir.  tt^«;  icoixiXtj?  atoa;  Tr,<;  iv  ^ixaa>vi  bei  Athen  VI  p.  253  B. 
Vgl.  Droysen  Hellenismus  II  2,    H9fr. 

3)  Dionysios,  Sohn  des  Tryphon  im  4  0.  Buch  s.  Werks  irept  ovofiaTmv  bei 
Athenaeus  VI  p.  255 C  (vgl.  62  p.  253 A).  Vgl.  ßursiau  Geogr.  v.  Griechenland 
I  327  A.   2. 

4)  Plutarch  Demetr.  47,  der  den  Aristodemos  nennt  TüpcoTSOovTa  xoXaxsiqL 
TÄv  aoXixwv  airavTcüv  xal  tots  Trapeaxeuaoiiivov ,  «k  eotxe,  täv  xoXax&ufJLaTcov 
To  jiiYt<JTOV  direve^xeiv  xol;  irpaYjiaaiv.  Vgl.  Diodor  XVIII  47.  XIX  57.  60.  66. 
Droysen  Hellenismus  II  2,    135(r. 

5)  Diodor  XX  52.  Demochares  bei  Athen.   VI  p.   253  A. 

6)  Plutarch  Demetr.   43.   34.     Droysen  a.  0.  II  2,    424.   255. 

7)  Aristodemos  im  zvsreiten  Buch  seiner  Y^XoTa  airo[i.vrj(i.oveu[j.aTa  bei  Athenaeus 
VI  p.   244 f.:  vgl.  Müller  bist.   Gr.   fr.  HI  p.   34  0   (fr.   4  0). 

•8)   S.    45.  74.     Lukian  wrep  eCxovwv  20,   504.    Vgl.  oben  Alliiphron  III  43. 
9)   CIA  II   n.   243.     Vgl.   Phylarchos    im   6.    (4  0.?)   Buch  seiner  loropiat   bei 
Athenaeus  XIV  p.  64 4 F.    (Demochares  bei  Athen.  VI  p.  253  A)  Herakleides  o  Xifißc? 
im  36.  B.  seiner  toTopiai  (fr.   4M.)   bei  Athen.  XUI  p.   578  A.  Diodor  XXI  27  f. 


88  RiBBECE, 

L'nU^r  allen  athenischcD  Staalsmäonern  zeigte  sich  gegen  Deme- 
Irios  am  servilsten  Strato  kl  es,  der  Kleon  seiner  Zeit,  dessen 
schmeichlerische  Psephismen  Plularch  verzeichnet*;.  Mit  Recht  hat 
ihn  der  Komiker  Philippides  als  den  bösen  Genius  Athens  gebrand- 
markt^;. 

Kallikrates,  xoXa^  des  dritten '\  Ptolemaios  ^Euergetes) ,  Nau- 
arch  des  zweiten  "^(Miiladelphos  .  welcher  der  Arsinoe  als  der  Aphro- 
dite Zephyritis  einen  Tempel  auf  dem  Vorgebirge  Zephyrion  weihte^}, 
schwerlich  derselbe,  durch  welchen  ^310  v.  Chr.)  der  erste  (Sot«r) 
den  Fürsten  Nikokles  von  Paphos  stürzte'^). 

Aristomenes,  der  Akarnane,  einer  der  Leibwächter  des  Aga- 
thokles,  des  Freundes  Ptolemaios'  IV  Philopator;  nachdem  jener  sich 
der  Gewalt  bemächtigt  hatte,  dessen  rechte  Hand.  Er  zeichnete  den 
Machthaber,  als  er  bei  ihm  speiste,  durch  einen  goldnen  Kranz  aus, 
trug  zuerst  sein  Bildniss  im  Siegelring  und  nannte  seine  Tochter  nach 
ihm  und  dessen  Schwester  Agathokleia'^). 

i )   Demetr.   4  \  :  oüto;  ^ap  r^v  o  tcov  90<pa>v  toütüjv  xal  irepirrÄv  xatvoupYO? 

apsaxeofiaTwv r^v   8e   xat  -cikXa  TcapaToXfjLO^   b  StparoxX^;   xal   ߣßi<oxco<; 

aaeXY">»  "^^^  'ffi  "^^^  i^Oikaioh  KXecovo;:  a7rojjLi|A£la&ai  8oxa>v  ßcojjLoXoj^ta  xal  ßosXupia 
irpoc  Tov  07){JAV  £u)r^psiav.  34  extr.  26.  Vgl.  RubiikeD  zu  Rutilius  Lupus  p.  34. 
DroyKen  Hellen.  II  t,   4  76.   183.    4  94. 

t]  fr.  ex  ine.  fab.  25  f.  Vielleicht  in  der  Komödie  'AvavewaK;,  welche  ironisch 
die  Verjüngung,  die  Neugeburt  Athens  durch  die  Reformen  und  Neuerungen  von 
Staatsmännern  wie  Stratokies,  wohl  nach  dessen  Tode,  behandelt  haben  mag.  Zu 
solchem  Thema  passt  fr.  25,  Stratokies  konnte  mit  fr.  8  gemeint  sein:  rf/tt)p,oxoXa- 
xea(i)V  xal  Tcapeiaiwv  aei.     Vgl.   übrigens  Meineke  bist.  crit.   470  ff. 

3]  Euphantos  im  4.  Buch  der  ((rrop(at  (fr.  bist.  Gr.  III  p.  4  9]  bei  Athenaeus 
VI  p.  254  D.  Über  das  hier  berichtete  xo^axeofia  s.  oben  S.  58  ;  was  zur  Rettung 
des  Euphantos  in  den  Greifswalder  Philol.  Untersuchungen  IV  88  vorgetragen  wird, 
giebt  den  Bericht  des  Athenaeus  preis,  ohne  auch  nur  eine  Erklärung  zu  ver- 
suchen. 

4]  Athenaeus  VII  p.  3I8D.  Epigramm  des  Poseidippos  (Blass  Rhein.  Mus. 
XXXV  94)   und  Basis  von  Delos   (HomoUe  Bull,  de  corr.  Hellen.  IV  325  f.) 

5;   Diodor  XX  24. 

6)  Polybios  XV  34,  7:  xaA.Xi9Ta  xal  aefAVOTata  SoxsT  icpoor^vai  too  t8  ßaoi- 
Xiw;  xal  rr^g  |3aoiXs(a;,  xaia  ToaooTov  xexoXeoxivai  tr^v  'ÄYa&oxXeooc  euxaiptav. 
icparro;  |i4v  ^ap  «o;  iauiov  iizl  8eticvov  xaXiaa^  tov  'Ay.  X9^^^^^  aticpavov  aireSwxs 

|jiov(p  T(iv  irapovTwv irpÄro;  84  ttjV  e?xova  toü  7rpo6tp7){ievou  cpipetv  droXp-Yjaev 

4v  Tcp  8axTuX(({)  •  Y^^^P^^^i^  84  Oü^atpo;  auTtJi  laorr^v  'AYaOdxXsiav  irpoarjYOpeoaev 
(S.  58).  Die  xoXaxe;  des  jungen  Ptolemaios  V  Epiphanes,  dessen  Vormund  er  war, 
stürzten  ihn:   Diodor  XXVIII  4  5.  Plutarch  über  <p(Xo;  und  x6Xa5  p.   74  C. 


KoLAX.  89 

Philon,  ein  andrer  &in]p&'nj^  und  xoXaS  des  AgathokIes%  ist  im 
Stadion  zu  Alexandria  unmittelbar  vor  diesem  von  der  erbitterten 
Menge  ermordet  worden^). 

Hierax  von  Antiochia,  früher  Flötenspieler,  der  das  Spiel  von 
Pantomimen  (Xoaicpooi)  begleitete,  allmächtige  Stütze  des  Reichs  unter 
dem  elenden  Ptolemaios  YIl  Euergetes  mit  dem  Beinamen 
Physkon,  als  dessen  Strateg  und  leitender  Staatsmann.  Als  die 
Armee  zu  Galaistes  abfallen  wollte,  weil  ihr  der  Sold  nicht  gezahlt 
wurde,  hat  er  aus  eignen  Mitteln  das  Geld  geschafft  und  so  dem 
drohenden  Umsturz  vorgebeugt^).  Dennoch  nennt  ihn  Poseidonios 
von  Apamea  xoXaxa  oetvov*). 

Parasit  des  Königs  Lysi machos  war  Bithys,  Kleon's  Sohn, 
von  Lysimacheia,  der  dem  knauserigen  Herrn  mit  gutem  Humor  zu 
begegnen  wusste^);  ferner  Paris^). 

Phormion  war  Parasit  des  Seleukos'). 

Herakleides  von  Tarent ,  aus  dem  Handwerkerstande  hervor- 
gegangen, rechte  Hand  des  Philippos,  Sohnes  des  Demetrios  und 
Vaters  des  Perseus,  verschlagen  und  intriguant,  nach  unten  herrisch, 
nach  oben  unterwürflg  (icpoc  [isv  toö<;  xaireivoTspooc  xaTa7rXT^xTix(6iaTO(; 
xal  ToXfJLTjp'ixaTo;,  icpoc  Se  xou^  uirepej^ovia^  xoXaxixcixaTo^) ,  ein  ge borner 
Überläufer  und  Verräther,  aus  seiner  Heimathstadt  verjagt,  weil  er  im 
Verdacht  stand,  dass  er  sie  den  Römern  ausliefern  wolle,  von  Rom  aus 
mit  den  Tarentinern  und  Hannibal  verrätherische  Ränke  spinnend,  von  da 
zu  Philipp  geflohen,  luap'  co  xotaüXYjv  TcepteTuoii^oaxo  Tubxtv  xal  8üva[iiv,  (8oxe 
xoG  xaxaaxpacp^vat  xyjv  xTjXtxauxYjv  ßaotXe(av  o/s86v  atxitoxaxoc  iftifo^ii^ai''). 


i)  Polybios  XIV   (c.    \\)  bei  Athenaeus  VI  p.   25 E. 

t)  Polybios  XV  33. 

3)   Diodor  XXXIII  26. 

4}  Im  vierten  Buch  seiner  ioxop(ai  (fr.  bist.  Gr.  III  p.  254 M.j  bei  Athenaeus 
VI  p.  262  F. 

5]  Aristodemos  (fr.  HM.)  bei  Athen.  VI  p.  246  D:  Lysimachos  wirft  dem 
Bithys  einen  hölzernen  Skorpion  in  den  Rock,  dieser  springt  erschreckt  auf ;  nach- 
dem er  die  Täuschung  erkannt  hat ,  ruft  er  dem  König  zu :  »ich  will  dich  auch 
erschrecken;  gieb  mir  ein  Talent«.     CIA  I  n.   320  Ehrendecret  der  Athener. 

6)  Scherz  des  Demetrios  Poliorketes  über  den  Hof  des  Lysimachos ,  an  dem 
wie  auf  der  komischen  Bühne  lauter  zweisylbige  Personen  auftreten :  Phylarchos 
im  6.  Buch  der  loropfai  bei  Athen.  XIV  p.   6 14  F. 

7)  Aristodemos  a.   0.  bei  Athen.  VI  p.   244  F. 

8)  Polybios  XIII  4,   citirt  bei  Athenaeus  VI  p.   251  E. 


90  Ribbeck, 

Als  Parasit  des  Königs  Antiochos  I  von  Syrien  hat  Aristode- 
mos  in  dem  angeführten  Buch  den  Sostratos  von  Priene  ver- 
zeichnet %  Flötenspieler 2)  und  Tänzer^)  des  Königs,  von  niedrer  Her- 
kunft^). Was  von  seinen  Aussprüchen  bekannt  ist,  macht  ihm  keine 
Schande  und  zeigt  eher  Freimüthigkeit  als  kriechende  Gesinnung. 

Bei  dem  zweiten  Antiochos  standen  Archelaos,  der  Tanzer, 
und  Herodotos,  der  Xo^oiitjAoc;,  in  hoher  Gunst ^).  Bei  Antiochos 
dem  achten  mit  dem  Beinamen  ^p^^o;  (Habichtsnase)  war  Apollo- 
nios  Parasit^*). 

Den  Rest  ordnen  wir  alphabetisch. 

Andromachos  von  Karrai,  vertrauter  xoXaS  des  Licinius  Crassus, 
den  er  an  die  Parther  verrathen  hat'). 

Anthemokritos,  der  Pankratiast,  Parasit  des  argivischen  Tyrannen 
Aristomachos**),  ob  des  älteren  oder  des  jüngeren,  ist  uo- 
bekannt. 

Ariston  von  Chios**),  dem  Philosophen,  sagte  Timon  im  dritten  Buch 
seiner  Sillen^'*)  nach,  er  sei  xoXaS  des  Stoikers  Persaios  gewor- 
den**), weil  dieser  exaipoi;  des  Königs  Anligonos  war, 

Athenaios  von  Eretria,  xoXa^  und  6TCyjp£TY](;  des  Sisyphos  von 
Pharsalos  *2). 

Escharos,  Iros,  Ortyges  hiessen  die  3  vornehmen  Verschwörer, 
durch  welche  Knopos  der  Kodride,  König  von  Erythrai,  um- 


\]   Bei  Athenaeus  VI  p.   244  F   (fr.   7  M.) . 

2)  Hegesandros  bei  Athen.   I  p.    \9C   (fr.    13). 

3)  Sextus  Empiricus  adv.  mathem.  p.   t%\  Fabr. 

4)  Stobaeus  floril.    86,   14. 

5)  Hegesandros  bei  Athen.  I  p.    19  0   (\Lakiaxa  iTifJbwvxo  twv  <piX(uv) . 

6)  Poseidonios    von    Apamea    iui    34.    ßuch    seiner    laTopiai    (fr.    33  M.)   bei 
Athenaeus  VI  p.   246  D. 

7)  Nikolaos   von   Damascus   im    H4.  Buch   seiner   ioTOpiai    (fr.  bist.   Gr.  III 
p.   418  M.)  bei  Athenaeus  VI  p.   252  D.      Plutarch  im  Leben  des  Grassus  29. 

8)  Agatharchides  von  Rnidos  im  22.  Buch    seiner  Eopcoiciaxa   [fr.   5  M.j  bei 
Athenaeus  VI  p.   246  £. 

9)  Über  ihn  Zeller  Philos.  d.   Gr.  III   t,   32.     Vgl.   Ritschi  opusc.  I  554  ff. 

10)  Bei  Athenaeus  VI  p.   251  B   (fr.  LXlIII  W.). 

11)  Über  ihn  Zeller  Philos.  d.  Gr.   III   1,   34. 

12)  Theopomp   im    9.    Buch   der  *EXX7]Vixa    (fr.   bist.    Gr.    I  p,    280  M.)   bei 
Athen.  VI  p.   262  F. 


KOLAX.  9 1 

gebracht  ist:    oi  exaXouvxo   §ia   xo   Tuepl   xäg   depaustac;   sivat  xcov 
eictcpavAv  7cp6axüvec  xal  xiXaxec^). 

Herakleides  von  Maroneia,  oc6Xa£2)  und  vertrauter  Rathgeber  des 
Thrakerkönigs  Seuthes,  in  dessen  Interesse  er  an  der  Tafel 
desselben  seine  Gäste,  die  griechischen  Offiziere  bearbeitete^). 
Er  verleumdet  den  Xenophon  beim  König  aus  Furcht  von  ihm 
aus  der  Gunst  desselben  verdrängt  zu  werden^),  ist  überhaupt 
Intriguant  und  Diplomat^). 

Kleonymos,  Choreut  und  x6Xa$  in  Argos,  von  Myrtis,  dem  Ftihrer 
der  makedonisirenden  Partei,  am  Ohr  aus  der  Gerichtsversamm- 
lung herausgeführt  mit  den  Worten:  oo  ^opeuasK;  IvOdSe  ou8' 
a|xu)v  dxoöoig®). 

Lysimachos,  xoXa^  und  Lehrer  des  Königs  Atta  los,  über  dessen 
Bildung  (icept  x^<;  'AxidXou  icatSeiai;)  er  ßißXoü^  luaaav  xoXaxeiav 
ä[X9aivoüaa(;  geschrieben  haben  soll'). 

Melanthios,  Parasit  des  Alexandres  von  Pherae,  hat  die  Er- 
mordung seines  wilden  und  wüsten  Brodherren  mit  aufrichtigem 
Kummer  als  einen  Stoss  in  seinen  eignen  Leib  empfunden^). 

Nrko Stratos,  Söldnerhauptmann  der  Argiver,  von  gewaltiger  Körper- 
kraft, ein  Herakles,  den  er  auch  durch  seine  Tracht,  Löwenfell 
und  Keule,  in  den  Schlachten  darzustellen  suchte,  in  hoher  Gunst 


4)  Hippias  von  Erythrai  im  21.  Buch  Tuept  rf^c  iraxpfBo;  loxoptcov  (fr.  bist. 
Gr.  IV  p.   431  M.)   bei  Atben.   VI  c.   74  f. 

t)  Nach  Atheoaeus  VI  p.  251  F  [aus  Theophrast  tt.  xoXaxsta^?).  Xenophon 
braucht  den  Ausdruck  nicht. 

3)  Xenophon  Anab.   VII  3^   15. 

4)  Xenophon  a.  0.   VII  5,  6. 

5)  Xenophon  a.  0.   VII  6. 

6]  Theophrast  Tu&pi  xoXaxe(a<;  bei  Athenaeus  VI  p.  254  D.  Er  ciiarakterisirt 
den  Kleonymos  als  irpoaxaötCovxa  iroXXaxi^  auttp  (dem  Myrtis)  xal  toT<;  aovStxa- 
Coooi,  ßooXojjLSVov  8s  xal  jieTa  täv  xata  rr^v  ttoXiv  ivSo^cov  opaaBai.  Über  Myrtis, 
den  Theopompos  im  51.  Buch  (I  p.  322  fr.  257  M.)  Amyrtaios  nannte  (Harpocr.), 
s.  auch  Demosthenes  de  cor.   295. 

7)  Athenaeus  VI  p.  252  C  (fr.  bist.  Gr.  III  2  M.).  Kallimachos  hat  das  Werk 
des  Lysimachos  in  seine  iü(vaxec  eingetragen  und  den  Verfasser  als  BsoBmpsioc, 
d.  h.  als  Anhänger  der  Secte  des  Atheisten  Theodoros  (Laert.  Diog.  II  8,  7.  11. 
Callimachea  ed.  0.  Schneider  II  p.  318  n.  12).  Hermippos  dagegen  (fr.  bist.  Gr. 
HI  p.   46  M.)   zählte  ihn  unter  die  Schüler  des  Theophrast. 

8)  Plutarch  <p(Xoc  und  xoXaS  3  p.   50 D. 


92  RiRBECK, 

bei  Artaxerxes  Ochos,  der  ihn  für  das  Commando  gegen 
Ägypten  vorgeschlagen  hat').  Theopomp^)  sagt  ihm  nach,  dass 
er,  obwohl  TcpoaidiYjc  seiner  Heimath,  von  edler  Abkunft  und 
grossem  Reichthum,  dem  Perserkönig  gegenüber  aicaviac  uirepe- 
ßdXexo  T']g  xoXaxeict  xai  xa^  depaiceiaK;  ou  jxövov  zob^  xixe  oxpa- 
xeiac  [xexaa5^6vxa(;  aXkä  xai  xoöc  Ijjwcpoo&ev  YeY^vTjjjisvoo«;.  Um  dem 
König  zu  gefallen  und  sein  Vertrauen  zu  gewinnen,  habe  er 
seinen  Sohn  zu  ihm  gebracht.  Täglich  bei  der  Mahlzeit  habe 
er  einen  besondern,  mit  Speisen  besetzten  Tisch  aufstellen  lassen 
für  den  Dämon  des  Königs,  weil  er  in  Erfahrung  gebracht,  dass 
die  persischen  Höflinge  dies  thäten.  Er  habe  gehofft,  für  solche 
Huldigungen  desto  mehr  von  dem  Könige  zu  profitiren,  denn  er 
sei  aiajjpoxepSi^^  gewesen  und  ^fpyjfidxtüv  ox;  otix  oi8  ei  xt^  Ixe- 
poc;  Y^xxcüv. 

Sosipatros,  ein  767)^,  war  xoXaS  des  Mithridates^). 

Sostratos,  der  Chalkedonier,  x6XaS  des  Kauaros,  Königs  der  thra- 
kischen  Galater,  dessen  gute  Natur  er  nach  Polybios*)  verdarb. 

Ohne  Namen  werden  xoXaxec  erwähnt  der  Fürsten 
Nikokles  von  Kypros  (Max.  Tyr.  20,  7.     Vgl.  Anaximenes  ßaoiXscüv 

(jiexaXXaYai  bei  Athen.  XII  c.  41); 
Sardanapallos  (Max.  Tyr.  20,  2)  ; 
Straton  von  Sidon    (ebenda:  vgl.  Theopomp  im  15.  Buch  s.  OtXnr- 

Tzimi  bxopiat  fr.  hist.  Gr.  I  p.  299  fr.  126  M.  bei  Athen.  XII  41) ; 
Telos  von  Sybaris  (Max.  Tyr.  a.  0. :  h  Si)ßap(xY](;  ex£tvo<;.   Vgl.  Herod. 

V  44.  47,  Diodor  XII  9,  Heraklides  Pontikos  irepl  8ixatoa6vr^<;  bei 

Athenaeus  XII  21). 
Aus  den  Satiren  des  Lucilius  stammt  vielleicht  die  Redensart 
tongiliatim  (d.  h.  pravis  verbis)  loqui,  von  einem  alten  ^]rklärer 
auf  einen  Parasiten  Tongilius  zurückgeführt,  'qui  hoc  invenerat  risus 
aucupium,  ut  salutatus  convicio  responderet  et  male  dicentem  salu- 
taret  blandissime'^). 


\)  Diodor  XVI  44. 

2)  Im  18.  Buch  seiner  iaToptat  (I  p.   301    fr.   135  M.)    bei  AtheDaeus  VI  60 
252  A. 

3)  Nikolaos  der  Peripaletiker  bei  Athenaeus  VI  p.   252  F. 

4)  Im  8.  Buch  bei  Athen.   VI  p.   252  C. 

5)  Isidori  glossae:   Löwe  Prodromus  S.   334,  vgl.   53. 


KoLAX.  93 


VII. 

Zur  Synonymik. 

Die  Synonymik  variirt  den  Begriff  durch  Hervorhebung  einzelner 
Seiten  und  Züge.  Sie  bezeichnet  das  schmeichlerische  Wesen  des 
x6Xa8  durch  :f]ooXta(x6<;  /apiTOYXtüaaeiv  xop(Cea8ai,  vergleicht  es  mit 
der  Freundlichkeit  des  Hundes:  aixaXo;,  aafvstv,  uTciXXetv  aiöfia,  mit 
Liebkosungen,  die  man  etwa  dem  Pferde  zuwendet:  dcoTnetv  xaia- 
cj^TQX^iv  TcoTTTCüCetv,  sciue  Art  zu  grUssen  mit  dem  Flügelschlag  des 
Hahnes :  TrapaiurepüYiCetv ;  die  Vertraulichkeit  kehrt  sie  hervor  in  dSsX- 
<p(Ceiv;  die  Zudringlichkeit  in  staofitXeiv ;  die  Geselligkeit  in  oüfxßtwTo^; 
den  Diensteifer  in  Ospacp,  xpoxuXeYfAoc ;  die  Zungengewandtheit  in  xc6- 
TtXo^;  die  Schalksnatur  in  ecptov  xspxco'^p  xoßaXoc  mdYjxia(i6<;  Ti&aoeüXT^c; 
die  stille  Verachtung  in  ep^^jitoxoc;  smKoddCetv  ^tväv  TrpoTTYjXaxiCetv ; 
das  Betrügerische  in  a{(i6Xo<;  aTraTscov  y^>]<;  vodeustv  uTieXaüvetv  u.  dgl. 
Den  Weltmännischen  bezeichnet  xoti^ipoc;,  den  Würdelosen  xopSaxt'Ctov, 
den  Bettel-  und  Possenhaften  ßwfxoXoj^o^  f^^^'^^'^^^^^- 

Dem  xoXaS  des  Demos,  57j[xox6Xa6,  sind  Composita  gewidmet, 
welche  seine  Unehrlichkeit  und  Gunstbuhlerei  kennzeichnen:  Sr^fxo- 
TciÖTjXOi;  Sr^fio^^aptoxV];,  Cicero  nennt  den  adsenlator  der  Menge  schlecht- 
weg popularis^). 

Beim  Parasiten  wird  vor  Allem  betont  die  Theilnahme  an  frem- 
dem Tisch  ohne  Einladung  und  Beitrag :  xpaTceCeu«;  TrapafiaoüvxTfjc;  Tuapd- 
ßüoTo^  u.  dgl.,  dxXTjTo;  dveTCd-jfYsXio^;  dou(jLßoXo<;  u.  s.  w.;  demnächst  der 
Appetit:  XtfxoxoXaS  c[i(i>(iox6Xa|  Xdpu^S  und  Composita,  irovxo^dpüYS  u. 
dgl.;  der  Bauch:  öXpio^daTcDp  •(<3ioTpo)^dpüß8t<;  xoiXio8ai|X(ov ;  die  Lüstern- 
heit: xaTCvoTTjpTjn^;  TaYTjvoxviaodigpac;  u.  a. ;  ferner  die  Armuth  in  aoto- 
Xfjxudo^,  die  Gemeinheit  in  di^^  cpa)|xox6Xa9o^. 

L  KoXaS  xoXaxe(a  xoXdxei)[jta.  Vgl:  Pol  lux  VI  122  (kretisch 
xoXaxxTjc?  Hesych.).  Im  Lateinischen  schliesst  sich  am  nächsten  an: 
adsecula,  irapdatTo«;  und  bucellarius  in  Glossaren  erklärt. 


4)  De  amic.  25,  95:  *contio,  quae  ex  imperitissumis  constat,  tarnen  iudicare 
solet,  quid  intersit  inier  populärem,  id  est  adsentatoreni  et  levem  civein,  et  inier 
Consta  nlem  et  severum  et  gravem. 


94  Ribbeck, 

atxaXo^:  Hesychius.  Aristophanes  eq.  48:  h  ßupooTra'^XaYwv  bizoizt- 
oü>v  Tov  BsoTTÖTT^v  |  YjxaXX  sdcoTceu'  exoXdxei)'  i^^Tzdia  xxX.  schoi. 
Ven. :  atxdXXeiv  eaxl  zh  x^v  x6va  toi»;  (ial  xai  rg  oopa  aatvetv  touc 
T^ddSa^;.  anecd.  Bekk.  21  :  aixdXXovtec;  ovjfiaivet  xö  oaivovxec;,  ^Tcep 
oi  xüvec  Trotouar>  xxX. 

ai(iuXo(;.  Suidas:  x6XaS,  diraxeciv.  anecd.  Bekk.  363.  1  (vgl.  356,  22. 
362,  31):  6  IfjLTceipo^  'S)  if]8ü^  ev  xo)  diraxäv  xal  x6Xa£  xxX.  Schol. 
Plat.  p.  314  B.    Hesiod  OD.  374  u.  s.  w. 

diraxecüv  u.  ähnl.  Pollux  a.  0. 

dpeaxoc;:  s.  oben  S.  17  f.  Vgl.  Cyrillus:  placivus,  dpeaxo^  (dpeaxoc?) 
placor,  dpsaxeia. 

ßwjjLoXojfo^;.  Harpokralion  (s.  oben  S.  15)  etym.  m.  217,  55:  xopCox; 
eXsYovxo  o{  iizl  x&v  duaifiv  sttI  xoii;  ßa)|xor<;  Xoj^Ävxe(;  xal  jJLexd  xoXa- 
xeia<;  lupoaaixoovxe^  .  .  .  xivs^  oe  jxexd  xtvoc;  euxpaTceXta^  xoXaxa 
xxX.    schol.  Aristoph.  nub.  910.    Vgl.  schol.  Plal.  p.  421  B. 

ßtt>(ioXo^ia.     Hesychius:  ^evo^  xoXaxsia(;  <j)opxtxov  xai  i[eXu)xo7rot6v . 

YsXcDxoTcotoc;.    Pollux,  s.  oben  S.   15.  36. 

TfOYji;.  Pollux,  Hesychius.  Moeris:  ifOY]«;  *Axxixoi,  x6Xa£  * EXXtjvixöv  xal 
xotvov.     roTjxec  Kom.  des  Aristomenes. 

27]|xox6Xa^  (Hyperides)  Lukian  Demosth.  encom.  31. 

8y] jjlottiOyjxoc  Aristophanes  ran.  1084:  if]  icoXic  iJjiaäv  |  bizo-^pamia- 
X£U)v  dve(ieaxtt)ÖTj  |  xal  ßtojxoXoj^cDV  St^|xotci8t^x(üv,  eSairaxolivxcüv  x6v 
S^[jtov  dsi.  schol. :  Syjixotciöt^xoüi;  8s  xoix;  Tcavoup^oo;  Trspl  xöv  8"^- 
|xov  .  .  .  "JJ  xoö(;  x6v  8^[jlov  xoXaxeüovxac  xal  Tretftovxa«;.  Vgl.  anecd. 
Bekk.  34,  18. 

8T^(jiojfaptaxT^(;:  Euripides  Hec.  133. 

sipcüv:  Pollux.  Schol.  Plat.  p.  384  B:  stp(ove(a  ih  Tcpo^^etpo);  xal  jxexd 
xoü  Tzphc,  x^^pt'^  8taXg'][ea&at,  xoXaxeia,  'jieü8oXo"fta. 

epf  6|xa>xo^.  Philoxenus:  6pi[6|Xtt>xo;,  adulator  u.  s.  vv.  gloss.  bei  Sal- 
masius  zu  bist.  Aug.  t.  II  p.  361  :  adulator,  ambitiosus,  adsen- 
tatores,  epfoiiuixot.  Hesychius:  epy.,  sfiicaiCcov.  Lobeck  Agiaoph. 
1318. 

if)8üX6YO(;.  Eurip.  Hec.  133:  6  iroixiXocppcüv  |  xoiric  ifj8oX6YO(;  8r^|xoxa- 
ptoxf^;  I  AaspxtdoT^i;.  if]8üXia(i6;:  Eustathius  1 417,  21 .  Menander 
fr.  30. 

Hspa'];  (kretisch:  anecd.  Bekk.  p.  1096,  1)  Pollux  a.  0.  vgl.  Hesy- 
chius, Suidas      &epdTCtüv  Lukian  de  paras.  31. 


KoLAX.  95 

dc6^.  Hesychius:  xoXaS,  &  (xeTot  daü{iao(i.oG  6Y>^ü)jxtaoTiQ(;.  d(57ce<;'  x6Xa- 
xe<;,  eip(ove<;.  Ocoirixoc'  xoXaxeüxtxoc.  etym.  m.  =  Timaeus  lex. 
Plat. :  dd)7üe(;'  ol  (lexa  c};sti8oüc  xal  Oaü(xao|io5  icpooiovtec;  sici  xoXaxeia, 
Trapd  To  dü)'i,  Sicep  ioxi  dTjpiov  diraTTjXöv.  (Herodiaaus  I  p.  404,  i  9  L. 
dc6']^*  6  TcXdvo^.)  Antiphon  tt.  6{iovota(;  bei  Suidas  s.  v.  dcoireia* 
icoXXoi  8'  l^ovTEc;  cptXooc  oö  i^ tv(6oxoüatv ,  dXX'  6Ta(poü<;  Trotoöviat 
dcoTca;  TcXoüxoü  xal  Ttij^vjc  x6Xaxac.  —  ftcoireCa:  Euripides  Orest. 
670  Xenophon  tc.  iirrc.  3,  12.  Was  für  ein  Thier  eigentlich  bdi^ 
ursprünglich  bedeutet,  weiss  ich  nicht;  dcoirietv  aber  und  Oco- 
Tueueiv  bezeichnet  eine  sanfte,  schmeichelnde  Liebkosung,  ur- 
sprünglich mit  der  Hand,  wie  man  Pferde  streichelt  und  klopft: 
Xenophon  tt.  Jincix^c  3,  12.  Ein  C<i)ov  daiiceütixov  ist  der  Hund 
(Aristoteles  Naturgesch.  p.  488b,  21,  Physiogn.  6.  p.  811b,  38). 
Femer  sind  Frauen,  Mädchen,  Töchter  zu  dwireüjjiaTa,  Liebkosun- 
gen und  Liebeserweisungen  geschickt,  (Aristoph.  Wesp.  61 0  Lys. 
1037  Eurip.  Suppl.  1103  Aesch.  Prom.  936  Soph.  EL  397), 
auch  in  Worten  (dwicec  X6Yot),  die  zunächst  nur  den  Zweck  der 
Liebkosung,  der  schonenden  Höflichkeit  (Herod.  I,  30)  haben, 
dann  auch  andre  praktische  Ziele  verfolgen,  zunächst  dem  Stär- 
keren, Überlegenen  gegenüber,  den  man  sich  dadurch  geneigt 
macht  (Soph.  Oc.  1003.  1336  Eurip.  Orestes  670  Aristoph.  Wesp. 
563).  So  entsteht  der  Begriff  des  bewussten,  absichtlichen 
Schmeicheins  (Aristoph.  Ach.  640.  657  Ritter  48.  788)  zum 
Zweck  eine  Person  zu  erweichen,  zu  gewinnen,  zu  betrü- 
gen. Das  Wort  kommt  bei  Homer  Hesiod  Theognis  Pindar 
nicht  vor:  Herodot  ist  der  erste,  bei  dem  es  sich  nach- 
weisen lässt  (HI  80).  Im  Lateinischen  entspricht  begrifflich 
am  meisten  palpo  (Onomasticon :  palpo,  bi&^.  pal p um,  dco- 
Tueia);  pdpo  percutere  Plaut.  Amph.  526  Merc.  153,  palpari 
alicui  Amph.  507,  Hör.  sat.  II,  1,  20.  Lucilius  29,  96  von 
einem  Schmeichler:  'hic  ubi  me  vidöt,  palpatur,  cäput  scabit, 
ped6s  legit'.  Im  Rudens  126  wird  der  leno  als  palpalor  be- 
schrieben. Lautlich  steht  vielleicht  fovere  am  nächsten.  Philo- 
xenus:  focilai^  ÄcDTceuet.  Vgl.  Varro  bei  Nonius  p.  481,  14:  'suum 
quisque  diversi  commodum  focilatur'. 
x8px(o(|;.  Plutarch  über  cp(Xo<;  und  x6X(z$  18  p.  60  b:  vgl.  Lobeck  Agl. 
1296 — 1308.     Komödien  mit  dem  Titel  K£px(i>7ue;  schrieben  Her- 


96  Ribbeck, 

mippos  ffr. 38  KoXaxo^copoxXstor;;',  Piaton,  Eubulos  (fr.  53 f.  scheint 
ein  Parasit  zu  sprechen).     Vgl.  auch  Kratinos  fr.  12. 

xopaxTpa.  Hesychius:  xoXaxeiijxaTa,  TravoopYT^jj-aTa.  Lobeck  Agl.  1322. 

xoßaXo^.  anecd.  Bekk.  272,  21 :  Tj  Tuapa  Trovr^poö  dv&pwirou  xoXaxeia. 
Vgl.  Lobeck  Agl.  1308—1329.  xo^SaXeia  anecd.  Bekk.  272,  21. 

xojx'j^o^.    Pollux  a.  O.  Eupolis  fr.  159,  2  K. 

xopoaxt'Cwv.  Pollux  a.  0.  (Hesychius:  xopoaxtafxot •  xä  täv  |j.i{1(ov 
-feXoia  xal  iraipta.  So  führt  Pollux  unter  den  Synonymen  des 
xoXaS  u.  a.  auch  uTuoxptn^^,  irotTjr/j^  -^^Xoiiü'')^  jxifio;;  Y^Xotcov,  ttoit,- 
TYj^  ato^^pcov  aafJidTCDv,  aiaj^poXofo;;,  |x6öcov,  T(ü&aoTTQ^  auf.) 

xpox»jXeYH''^<i*  s.  oben  S.  54. 

x6a)v  irpooaatvcov,  TCpoaoeoTjpcij;.     Pollux  a.  0. 

xoixtXo«;,  eigentlich  XdiXo;  wie  die  Schwalbe  (Anakreon  fr.  154:  vgl. 

Simonides   fr.  243.   73),    demnächst   Xo^ou   dTuaxcov,    xoXaxsucov. 

otym.   m. ,  Hesychius,   Photius,    Suidas.     Vgl.   Hesiod  OD.  374 

Thaies  in  Bergk's  lyr.  Gr.   HP  200  Theognis  852  Soph.  fr.  606. 
TCtftyjxtaixot.    Aristoph.  Ritt.  887  u.  schol. 
uoTTTTüofiaTa.    Hesychius,  Photius:  xoXaxeidi  £i(;  toüc  dSafidaTouc  Ttc- 

TToü^.    Eustalhius  p.  565,  19. 
ao-fxaxaveüaicpaYoc.     Krates,  der  Komiker,  in  einer  Elegie  (Bergk 

lyr.  Gr.^  H,  p.  372).    Stobaeus  flor.  XIV  16:   KpdTY];  xou;  xoXa- 

xd(;  cpTjot  oüifxaxaveüaicpdYoix;^). 
xtöaoeüXTQ;.    Aristophanes  Wespen  702,   dazu   schol.  xtdaaeüsiv: 

Demosthenes  Olynth.  HI  31  ;  vgl.  Hermogenes  it.  eüpeosu)^  IV  10 

V  e  r  b  a : 

dosXcptCsLv.  Apollophanes  4  p.   798  K. 
atxdXXeiv.  Soph.  fr.  728  anecd.  Bekk.^) 
dpeaxeiv.   Anaxandrides  42. 

\)  Derselbe,  dessen  Blüthe  Laerlius  Diog.  VI  5  um  Ol.  \\3  setzt,  führte  in 
seiner  'Ecpr^jispt;  als  aus  dem  Rechnungsbuch  eines  jungen  Lebemannes  folgende 
Posten  auf  (Bergk  lyr.   Gr.  11^  p.  370  fr.    <5): 

tfOei  |j.aY£tp(j)  jjLva^  oex',   tarpcp  öpaXP-^W? 
xoXaxi  TaXavTtt  Trevre,  aup.ßouXc[)  xairvov, 
TTopVTQ  rdXavTOV,  <ptXoaofpü>  TpiüißoXov. 
Vgl.  unten  das  Apophthegma. 

t)  asXXsI  •  cptXsI.  xoXaxeust  Hesychius,  entweder  aus  atxaXXsi  oder  aus  aioXsI 
verdorben. 


KoLAX.  97 

a^otipeiv  xpoxüBac  anecd.  Bekk.  s.  oben  S.  54. 
£tao|j.iX&rv.  Hesychius :  e{aa>|xiXei,  exoXdxsuev . 
ijSü^tCeiv.  Philemon  30,  Menandros  30. 
ifjooXo-yeiv.  Phrynichos  fr.  3  K. 
dcöTceüetv  und  dtiicxeiv:  s.  oben  S.  45. 

xaTa'];T^5(eiv.  Hesychius:  ^au^^  xpfßsiv,  wie  man  ein  Pferd  streichelt. 

Vgl.  Aristophanes  fr.  42  K. 
xepxcoTcCCeiv    iid  täv  xoXaxsoovxcov  xtX.    Diogenian  II  100.    EuvSta- 

thius  zu  Hom.  Od.  x  552. 

xo{i<p£ueaOat.  Hesychius. 

xopfCsoOat,  liebkosen,  von  Kindern.  Aristophanes  Wolken  68,  schol. 
anecd.  Bekk.  47,  31.  öiroxopfCeoftai :  schol.  Plat.  p.  401  B.,  Hesy- 
chius, Suidas  und  Photius. 

xü>T(XX6tv,    beschwatzen,    betrügen:  S.  96.     Theognis  363.    Soph. 

Antig.  756. 
XiTcapet'^.    Hesychius:    SetaOai,    xoXaxsoeiv    xxX.    Aesch.  Prom.   1004 

und  sonst. 

vo&e6etv.  Hesychius:  diraXXoxpioi,  dirax^,  xoXaxeoei;  spät. 

TüapaTTxepufCCet'^.  Photius:  xoXaxe6etv,  diA  xäv  dXexxpo6va)v. 

TuoTCTCüCet'^.  Schol.  Plat.  p.  465  B:  iroincoadeiT]  •  xoXaxeü&e(7],  ex  [lexa- 
cpopac;  xuiv  eirl  xoic  nrjcoi<;  icoTnroofidxwv  sv  xo)  SafJtdCeadai.  Timo- 
kles  fr.  21,  7. 

iupo7r7]Xax(Csiv,  grob  schmeicheln.    Hesychius:  epeSfCet,  xoXaxeuet. 

f)ivav.    Menandros  ine.  fab.  fr.  854.  Vgl.  Lobeck  Agl.  1305'. 

oaCveiv,  Trpooaafvetv,  icepioaivetv.  Hesychius ,  Photius,  Tragiker.  Der 
metaphorische  Gebrauch  von  adulari  scheint  vor  Cicero  kaum 
nachweisbar,  tritt  massenhaft  erst  im  Zeitalter  des  Tacitus  auf,  der 
ihn  mit  Vorliebe  anwendet.  Auch  deshalb  also  ist  es  nicht  räthlich 
das  Citat  bei  Priscian  p.  791  P.  'Cassius  similiter:  adulatique  erant 
ab  amicis  atque  adhortati'  dem  Cassius  Hemina  zuzuschreiben.  (Vgl. 
Peter  vett.  bist.  Rom.  rel.  p.  CLXXVI  A.  2).  Ob  die  Worte  aus 
der  Rede  des  Prometheus  '  nostrum  adulat  sanguinem '  (vom  blut- 
leckenden Adler  gesagt)  von  Accius  (V.  390^)  oder  von  Cicero 
herrühren,  bleibt  zweifelhaft.  Der  Sprache  des  Plautus  und 
Terenz    ist    adseniator    und    blandus    und    was    desselben 

Abhandl.  d.  1c.  8.  0«8ellBcb.  d.  Wisflenscli.  XXI.  7 


98  RlBBETE,» 

Stammes  ist  geläufig.     Cyrillus:  blandor  ^or^^,  xoXa;.  blandus^ 

XWTtXo^  Oco'j;   u.   s.    \v. 

bekannt,     ''schol.  Aeschin.  III  H6:  inroTreirrioxoTsc '    oiovel  xoXa- 

xe6ovT8^) . 
OxtXXstv  0x6 {la.    Sophokles  Antig.  509. 
yaptTOYXcoooetv.    Aeschvlus  Prom.  294.     Athenaeus  IV  p.   165C. 

II.  zapaoiToc.    parasitulus:   Löwe  Prodroniiis  419.    parasitaster 

Ter.  adelph.  779. 
axXr^Toc;.     Antiphanes  ine.  fr.  230. 
dv£7raY']feXT0(;.     Kratinos  fr.   44. 
do6jt(5oXo(;.    Anaxandrides  fr.  10.     Diphilos  71.    asumbotum  venire: 

Terentius  Phorm.  III  1.  25. 
autoXr^xodoc;.  Plutarch  Mor.  p.  50C  (I  p.   115H). 
ßoeXXoXdpüYS,  Blulegelschlund,  Kratinos  fr.  44. 
buccellarius:   vgl.    Salmasius   zu   Script,    bist.    Aug.   vol.  I  p.  877. 

1031.   II  614    (ed.  Lugd.    Bat.   1671).     gloss.  Hildebr.  p.  232. 

buccellatarius:   vgl.  Löwe  Prodr.   419.     buccones,  irapd- 

oiTot  ßooxxCcovec :  Philoxenus. 
-|faoTpo)rdpüßoi<;.    Kratinos  fr.  397. 
TfXcüTTOYdaTCDp.    Amphis  fr.  482.   PolluxII108:  Y^«>'^'^oYdaTope;  irapa 

ioi<^  x(D|xixor(;  oi  dm  t^(;  iXcottTjC  ßtoövTS^. 
oaiTO|xc6v.     Homer:  Lukian  über  den  Parasiten   10  p.   848. 
sTTtoftto^,  eigentlich  Tagelöhner  (Athenaeus VI  p.247),Timokles  fr.  29. 
STTttpaTüeCfoto;.    Hesychius. 
O*^;.    Hesychius   (ooGXo;,  ixto&wxo;,  irapdatxo;) .    Vgl.  Aristoteles  eth. 

Nicom.  IV  9:  Trdvxe<;  oi  xoXaxec;  ftr^xtxot.  Lobeck  Aglaoph.  1319. 
xairvoxYjpTjxT^c;.     Eustathius  zu  Homer  p.   1718,  60. 
xvtaox6Xa$.    Asios  fr.  XIV  M. 
xvtaoXot;(6(;.   Antiphanes  fr.  63.    Amphis  fr.   10.    Sosibios  6.     So- 

philos  5.  7. 
XV 100X7] p7]XT^<;.   anecd.  Bekk.  49,  13  (com.  anon.  294). 
xotXto8a(}Xü)v.     Eupolis  fr.  172K. 
Xdpü^^.    Eubulos  ine.  fab.  134. 
Xi[jLox/iXa6.     com.  anon.  295. 
XtxvoxsvÖTjc;,  Leckermaul.     Pollux  VI  122. 


KoLAX.  99 

fxaauvTTjc.    Hesychius. 

jjLoXoßpoc;.     Homer  Odyss.  p  219.     Hesychius  (vgl.  schol.):  [JtoXCaxcov 

sttI  t^v  ßopdv,  ToüxsaTt  irapaoiToc,  Yo^oxpifiapYo;,  6ica(T7](;  xtX. 
oXßtoYoicjKop.     Alexis  fr.   10. 
ovoo  Y'^Qtdoc;.     Eupolis  fr.   434  K.   (Hesychius:  TcatCet  eic  iroXo^a-ffav. 

Vgl.  Tvadcüv). 
TcapaßüGToi;.     Timotheos  fr.   1. 
irapaSeSeiTuvYjixsvoQ.    Amphis  fr.  31  M. 
TCapaSeiirvL^.     Eubulos  ine.   134.     (Lobeck  Phryn.  p.  326.) 
7capa|iaai^T7](;.     Alexis  fr.  232.  Tiraokles  10. 
TCapap.aaüvT7](;.    Ephippos  fr.  8.  Alexis  217,  8. 
TcovTocpdipüS  com.  anon.  304. 
aoji.ß(ü)To<;.    Eupolis  fr.  448  K. 
xaYTQvoxvioodiQpat;.     Eupoh's  fr.  173. 
toluberna,  adsecula  Trapdatxo^  euxpaTceXoc; :  Philoxenus.  (c o t u b e r n a 

oder  cotubernalis?   vgl.  Lobeck  Agiaoph.  1318™.) 
xpaiceCeöc;.    Plutarch  Mor.  p.  50 C  (I  p.  115H),  Hesychius  (xpaireC'^e; 

heissen  bei  Homer  X    69  Vi 73  p  309   Hunde,  die   bei  Tisch 

gefüttert  werden). 
TpaTceCoXoi5(6(;.    Eustathius  p.  1837,  39. 
xpißaXXoC.     Hesychius:    ooxocfavxai.    o{   8s   xoöc  dcoTueüxtxouc;  h   xoic 

ßaXavsioi^  8taxp(ßovxac;  xal  iizl  xd  oeiicva  iauxoö«;  xaXoövxac;.     Vgl. 

Lobeck  Agl.  1037.  1325. 
xpex£8et7cvo(;.     Athenaeus  VI  p.  242C  u.  s.  w.  S.  75. 
'];u>(jiox6Xa8.  Aristophanes  fr.  167,  Sannyrion  fr.  10,  Philemon  8,  Phi- 
lippides 8.     Vgl.  bucellarius  oben  S.  98. 
({^u)|xox6Xacpoc.     Diphilos  fr.  48. 

Verba: 

xdXX6xpia  86tTC>>etv.    Antiphanes  fr.  248  f.    Eubulos  fr.  72.    Theo- 

pompos  fr.  34. 
diüoxTj-jfavtCetv  dveu  aufißoXaiv.    Phrynichos  fr.  57. 
IpTfov  Xaßeiv.   Ameipsias  fr.  1  K.   Alexis  190  (vgl.  epYoXaßeFv,  ep^o- 

Xaß(a). 
TcpoTxa  SeiTCvetv.   Antiphanes  fr.  210. 


7* 


100  Ribbeck, 

IIL  Der  Brodherr  des  xoXaS  heisst:  ßaatXsü;,  rex,  dominus, 
genius  (Plaulus  Capt.  879,  Cure.  301,  Men.  137  f.  HO)  tpe^cov  (irapa- 
ips'fetv:  Timokles  fr.  10,  2),  '^ divT]  (Menander  bei  Aelian  t.  Qdxa^  FX 
7  =  ine.  fab.  854),  praesaepis  (Plautus  Cure.  228). 

Der  Ungastliche  heisst  {lovo^f  difO(;  Ameipsias  fr.  23  ine.  fab. 24. 
Es  wird  von  ihm  gesagt:  Xadpo^fa-yeiv  Metagenes  fr.  15,  [lovo- 
atieiv  Alexis  ine.  fab.  266,  \LO'iorpa^Qi^}  Antiphanes  ine.  fab.  250. 


vin. 

Populäre  Ausdrücke,  Sprtlchwörter,  Gnomen  und 

Apophthegmen. 

1.  SGxov  atTsii;.  Zenobius  V  91  :  aoTY]  Xe^exat  xaxa  xfiv  xoXa- 
xsDovTtov.  Ol  -yap  'A&Yjvatoi  exoXdxeoov  xooc  Y^cop^oCx;  ßouXofievoi  irap 
auxcBv  Xa[xßdvetv  xa  TTpaitfia  oöxa*  oiwviCovxo  ^^p  otixot(;  xai  rdiXiv  sXösrv 
et;  vswxa.  Vgl.  Diogenianus  VIII  9,  Apostolius  XV  69,  Suidas  und 
Photius  s.  V.  Hesychius:  aGxov  aixctv  xoXaxsüstv.  Schol.  Aristoph. 
Wesp.  361  :  ooxa  |x  atxer^*  xooxeoxt  xpucpäv  ßoüXsi,  oxi  xpucpav  (paaix^ 
doi)t£tv  la^^dSa;.    Der  Grundbegriff  ist  also  wohl:  betteln. 

2.  Eireode  V'T^Tp\  jrotpot.  Aristophanes  Plut.  315:  au  8'  Api- 
axuXXo*;  oTroj^doxcov  iptic^  •  |  eTieofts  [JtTjxpl  jjorpoi.  schol. :  xoöxo  8s  irapoi- 
[jtt&Ss;  eivaf  cpaotv  •  ot  ^dp  7raiO£(;  otüxo  etciftaat  Xs^etv ,  eTceoOs  |x.  j^.  irapot- 
[jLiax^jv  oüv  eoxl  xal  iizl  xtov  d-ai8eüxa>v  cpaoi  Xs-ysaSat.  Macarius  IV  6 
=  appendix  proverb.  U  79 :  iizl  xäv  xoXaxsüxtxto;  xiotv  £7üo(x6va)^>  xpo<p>](; 
evexa. 

3.  Aüxojxaxot  8'  aYQi&ot  0£iXa)v  stci  Sa^xa«;  taatv*). 
Nach  alter  Erklärung^)    soll  Herakles  sich  mit  dem  Spruch  aoxo- 


1)  Das  Material  und  die  Lilteratur  über  diesen  Spruch  hat  zuletzt  zusammen- 
gestellt Arnold  Hug  in  seiner  Ausgabe  des  Platonischen  Symposion  S.  4  2  f.  204  ff. 
Doch  vermag  ich  den  Schlüssen,   die  er  zieht,  nicht  zu  folgen. 

2)  Zenobius  IM  9:  aoxoyxaTot  .  .  .  isvrat.  oSt(0(;  'HpaxXsixoc  ijfpTjaaxo  t^ 
7:apoi|i(a,  eo?  'HpaxXsoo;  eirtcpotTTJaavTo;  izl  ttjV  oixfav  Kr^öxo;  xoo  Tpajftvtoo  xai 
ooTox;  e?7tdvT0(;.  'HpaxXsiro;]  '  HaioSo;  Schneidevvin  o  Rax^oXior^;  cod.  Alhous 
bei  Miller  Mise.  350.  Der  ursprüngliche  Text  ist  eben  zusammengezogen  ,  der 
Archetypus  wird  beide  Citate,  aus  Hesiod  und  ßakchylides,  enthalten  haben.  Schol. 
zu  Plalo  sympos.  p.  HiB:  rauTTjV  6s  X^Youaiv  dprpWai  iizl  'HpaxXsT,  oc  ots  sioti- 
oiVTo  TCO  Kr^üxi  Sivoi  eTrear/j. 


KOLAX.  101 

(laxoi  .  .  .  ivnai  als  ungebetener  Gast  bei  dem  Hochzeitsmahl  des  Keyx 
eingeführt  haben.      Es  gab  aber  neben  jener   Fassung   eine   andre, 
welche  d-yaöÄv  an  Stelle  von  SeiXcov  setzte:  welche  von  beiden  die 
ursprüngliche  sei,  ist  Gegenstand  der  Controverse.     Der  zweiten  ge- 
genüber hat  ausdrücklich  Eupolis  im  Xpuaoov  -^i^oc^  die  erstere  als 
die  authentische  betont  ^) :  ob  er  damit  die  Wahrheit  sagte  oder  von 
deai  Recht  des  komischen  Dichters  zu  bestimmtem  Zwecke  Gebrauch 
machte,  lässt  sich  nicht  mehr  ermitteln.    Jedenfalls  passt  dieselbe  zu 
der  von  der  Legende  vorausgesetzten  Situation.    Da  Keyx,  Sohn  des 
Elektryon,  ein  NeflFe  des  Amphitryon  war,   konnte  sein  Vetter,   der 
Zeussohn,  wohl  mit  einer  gewissen  Herablassung  als  ein  Wohlgebor- 
ner  (d-|fad6(;)  dem  wenn  auch  königlichen  Sohn    des  Sterblichen  und 
den  anwesenden  ^svoi  als  Plebeiern   (6eiXoi  im   alterthümlichen   Sinn 
wie  bei  Theognis)  durch    freiwillige  Theilnahme   an  deren  Fest  eine 
Ehre  anzuthun  vermeinen  oder  versichern.    In  dem  alten  erzählenden 
Gedicht  ^dfio^  Ktqüxo<;,   welches  ']fpa|xfjiaTtxü)v  icaiSe^  dem  Hesiod  ab- 
sprachen*^), mag  jene  Wendung  des  esslustigen  Heros,  die  einen  leise 
scherzhaften  Anilug  hat,  vorgekommen  sein.     Dem  herben  Spruch  hat 
in  lyrischer  Darstellung  derselben  Scene  Bakchylides^)  nach  bekannter 
Freiheit  zu  nicht  mehr  erkennbarem  Zweck  eine  urbanere  Form  ge- 
geben: laxa  8   iid  Xdtvov  oü66v,  toi  Se  doiva^  Ivtüov,  ü>86t'  Icpa*  |  atixo- 
(jiaTot  8'   d^aöÄv  SaPuac  eoöj^doüc  STcsp^^ovxai  8txatoi  |  ^Atbc,.     Ebenso 
musste  natürlich  Kratinos^)   in   der  Parabase,    wenn   er  jenen   alten 
Satz  verwenden  wollte,  um  seinen  Chor  als  Gast  den  Zuschauern  zu 
empfehlen,  demselben  eine  verbindliche  Wendung  geben:  oi  8'   a5ö' 
ifllieic;,  cix;  6  Tzakaih^  \  Xopc;,   aoiofidTOüc  diaöoöc  isvai  |  xo[jl4'<5v   eirl 
oaixa  deaxcov.    Das  Yerhältniss  zwischen  Dichter  und  Publicum  ist  geist- 
reich umgekehrt:  Genuss  und  Beifall  feinsinniger  Zuschauer  ist  das  Gastr- 


1)  fr.  SI89K.  bei  Zenobius:  EuttoXi?  .  .  .  k-üiptsx;  ^tjoIv  l^etv  ttjV  itapot- 
jxtov  xtX. 

t)  Athenaeus  II  p.  49 B:  ort  'Haioooi;  ev  Ktjuxo^;  ^ol\u^  (xav  ^ap  yP^H'K'^" 
Ttxttjv  Tcatoe?  airoEevwoi  tou  ttoitjToi)  tol  sth]  raora ,  dXX'  i\ioi  8oxet  apjjaTa  elvat) 
TpiitoSa?  Tag  TpaTieCai;  cp7ja(.  Plutarch  Sympos.  VIII  8 ,  4 :  cüi;  b  tov  Kt^uxo; 
^ap-ov  sU  Ta*H(3i68oü  Traps^ißaAcuv  sipTjXev.  Vgl.  0.  Müller  Dorer  II  iS\  ,  Mark- 
scheiTel  Hesiodi  .  .  .  fragmenta  p.    4  54. 

3)  iDC.  fr.   33  B. 

4)  fr.  169  K.  in  schol.  Plat.  a.  0.:  KpaTivo;  6e  iv  lluXaicf  [xeTaXXa^a; 
auDQV  Ypd^st  ouTcog  xtX. 


1 02  Ribbeck  , 

• 

mahl,  an  dem  jener  mit  Selbstbewusstsein  als  ein  wenigstens  ebenbür- 
tiger sich  betheiligen  wilP). 

Der  Scherz  des  Sokrates  im  Symposion  Piatons  p.  1 74  B  endlich 
setzt  die  durch  Bakchylides  in  Aufnahme  gebrachte  Fassung  [arfa- 
d(5v  —  'AYddcüv)  voraus,  doch  zeigt  der  gleich  folgende  neckische 
Vorwurf  gegen  Homer,  dass  dieser  jenes  Sprüchwort  nicht  nur  cor- 
rumpirt,  sondern  schmählich  vergewaltigt  habe  (oo  [jl6vov  oiacp&etpat 
ak\ä  xal  b^piaai  e{<;  xaüxyjv  tiJjv  irapoiiifav) ,  indem  er  Menelaos,  den 
schlechteren  Mann,  ungeladen  zum  Schmause  des  Agamemnon,  des 
besseren  kommen  lasse  (/efpco  ovxa  iizl  ttjv  toG  d|xe(vovo(;),  dass  dem 
Verfasser  hier  die  Lesart  SeiXäv  vorschwebte.  Natürlich,  dass  die 
bakchylideische  Interpolation  im  geselligen  Verkehr  und  Gebrauch  den 
Vorzug  erhielt  und  in  dem  Maasse,  dass  die  ursprüngliche  Lesart  da- 
rüber fast  in  Vergessenheit  gerieth^).  Vollends  natürlich,  dass  die 
Parasiten  die  höfliche  Form  adoptirten  und  sie  gern  ihrem  heroischen 
Patron  und  Vorgänger^)   in  den  Mund  legten. 

4.  'AxXtjxI  xu>|xdCouaiv  !(;  cpCXcov  (ptXot.     Zenobius  II  46  u.  s.  w. 

Gnomen  und  Apophthegmen  bestimmter  Autoren. 

Metagenes: 

5.  ET(;  oi(üvo(;  apiaxoc  djxüvsa&ei  Tcspi  Ssittvoü.  (fr.  i  8  K.)  bei  Athe- 
naeus  VI  p.  271  A. 

Menandros: 

6.  'E(xe  8'  d§ixeix(o  TrXoüoto^  xai  (itj  tovtjq' 

^^ov  cpepeiv  ^dp  xpeixxovtov  xopawiSa. 

ine.  fab.  fr.  586. 

7.  Kaipu)  xbv  eüXü)(Oüvxa  xoXaxeücov  cpiXo(; 

xatpoö  cpiXoc  TOcpüxev,  oojl  xo5  cptXoi). 

fr.  664. 


\)  Wie  kann  man  aus  dem  Citat  u)^  o  iraXaio^  Xo^o^  einen  Schluss  auf  die 
echte  Fassung  ziehen ,  da  doch  im  Folgenden  die  willkürliche  Änderung  auf  der 
Hand  liegt! 

t)  Ganz  unbekannt  ist  der  Verfasser  der  bei  Atbenaeus  I  p.  8A  in  abgeris- 
senem  Excerpt  erhaltenen  Worte :  ayaOo?  irpo?  aYaöoü?  avopa?  Soxtaaofxevo?  ^xov  • 
xoiva  Y^p  "^^  "^^"^  cpiXwv ,  welche  Meineke  vol.  lY  p.  5  metrisch  zu  constituiren 
sucht:   vgl.  Bergk  poet.   lyr.   Gr.  11*  p.   405. 

3)   Vgl.  Plautus'  Curculio  358. 


.      KOLAX.  103 

Pseudophokylides  91   ff.: 

8.  My]8s  TpaueCoxopoüc  xöXaxac;  Troietadat  £Tatpoü(;' 

TToXXol  ifotp  7r6atO(;  xal  ßptoatöc  eiotv  exaipot, 
xaipbv  dcoTceuovTs«;,  eirrjv  xopeaaadai  Ij^coatv, 
d5^d6p.£Voi  8'   oXi^oi^  xai  tcoXXolc;  TroEvTe^   aicXijaTot. 
Bergk  II»  p.  93  f. 
Zenon: 

9.  'EXe-f)^e  oaoxbv  Sotk;  ef,    jii]  icpb^  X^P^^ 
axoü',  dcpaipoö  8s  xoXdx(i>v    TuappYjaiav. 

Stobaeus  floril.  XIV  4  Zt^vwvo^.     Vgl.  Meineke  bist.  er.  com.  Graec. 
praef.   p.  X. 

Antistbenes: 

10.  "QaTcep  Tä<^  kzaipa<^  xdiiabä  icavta  eöj^eodat  xoic  epaaxai^  icap- 
eivat  ttXyjv  vo5  xal  cppovi^oeco^,  oSxü>  xal  xoüc  xoXaxa^  oXc,  oüveioi.  Sto- 
baeus floril.  XIV  19  'AvxiodevTf]«;:  Xe^et  xxX.    Vgl.   12. 

Aristonymos: 

1 1 .  Td  jJLsv  SüXa  xh  icup  aöSovxa  ütu  auxoö  xaxavaXtaxexai,  6  6s  tcXoGxo(; 
6xxps<fü)v  xoüc  xoXaxac;  ütt'  auxÄv  xoüxcov  8iacpdsipexat.  Stobaeus  floril. 
X  9:  sx  xÄv  'Aptaxtt)Vü|JLou  xo(xap(ü)v.    Vgl.  Meineke  bist.  er.  p.  197  f. 

Diogenes: 

12.  rioXü  xpetxxov  sc,  x6paxa^  direXöeiv  ^  sc;  xoXaxa^.  Atbenaeus 
VI  p.  254 C.  Stobaeus  flor.  XIV  17:  'AvxtaOsvYjc  afpexcoxepov  cpr]- 
aiv  sie;  xopaxa^  Ijureaeiv  'JJ  ei^  xoXaxac  *  ol  jJtsv  ^o^P  diroöavovxo«;  xb 
aü)|ia,  ol  8s  C<3vxo(;  xtjv  ^^üj^^jv  Xüfjiaivovxat.  Vgl.  15.  antbol.  Pal.  XI  323: 

^P<5  xal  Ad|iß8a  |i6vov  x6paxa(;  xoXdxcov  8topiCei* 

XoiTcbv  xaoxb  xopaS  ß(0[AoX6}^o<;  xs  x6Xa5. 
xoövexd  |xoi,  ßsXxioxe,  x68s  C«5ov  irecpöXa^o, 

ei8ü)(;  xai  C^ovxwv  xoix;  xoXaxac  xopaxag. 

13.  'Eitl  x^c  xoXaxefa(;  cocncsp  stcI  (ivT^(xaxo(;  aoxb  (xovov  xb  ovofia 
x^(;  cptXtac  sTuiYsifpaxrat.     Stobaeus  floril.  XIV  14. 

Epiktetos: 

1 4.  "öoTTSp  X6xo<;  6jtoto>*  xovi,  ooxo)  xal  xoXaS  xal  [Jioi5^b(;  xal  ua- 
pdaixo<;  S(jloio(;  cpiXu)  xxX.    fr.  48  bei  Stobaeus  flor.  V  114. 

15.  Ol  jxsv  x6paxe<;  x<üv  xexeXsox7]x6xü)v  xou^  ocp&aXfioix;  Xo|jLa(- 
vovxat,  ßxav  oü8sv  aoxcov  soxt  XP®^^'  ^^  ^^  x6Xaxe^  xäv  C<ä^xü>v  xd^ 
^oyia<^  8ta9deipoüot  xal  xaüXTjc;  &[i.(iaxa  xü'^Xcoxxoügiv.  fr.  103  bei  Ma- 
xioius  Tyrius  XIII  p.  54.     Vgl.  12. 


104  Ribbeck  , 

16.  riiÖTQxouopY'yjv  xal  x6Xaxo(;d7ceiXYjv  ev  lacodexeov.  fr.  104  ebenda. 
Favorinus: 

17.  ''Qoirep  &  'Axxaicov  bizh  täv  xpe^ofievcov  ütc  aüxoö  xuvoiv  diue- 
davev,  outüx;  oi  xöXaxec  toü^  Tps<povTa<;  xaTeaöioüoiv.  Stobaeus  floril. 
XIV  12   (vgl.  11).    Zeller  Philos.  d.  Gr.  V  51. 

Klearchos: 

1 8.  KoXaS  [Asv  oüBsU  Siapxei  Tzphc,  (piXiav  •  xaxavaXioxei  -^äp  6  5(p6- 
vo<;  xb  xo5  icpooiron^fjtaxoi;  aoxÄv  cpeöSo^;.  6  8  epaax^^  xoXa^  eoxi  cpi- 
X(ac  8i'  <Spav  ^  xdXXo<;.  Aus  dem  ersten  Buch  der  'Epwxixd  bei  Athe- 
naeus  VI  p.  255  B. 

Pythagoras: 

19.  Xatpe  xoic;  eXe^X^^^^  ^*  [laXXov  tJ  xoi^;  xoXaxeüouatv  rix;  8' 
e^öpcäv  x^Cpovac  exxpsTToo  xooc  xoXaxeuovxaQ.  Stobaeus  flor.  XIV  18. 
xaxavsüooatv  verm.  Meineke. 

Sokrates: 

20.  'H  x<Sv  xoXdxcüV  eövoia  xaSduep  sx  xpoir^^  cpeü^et  xd^  dxü^ia^;- 

21.  ÖYjpeüooat  xot^  fiev  xaai  xoix;  Xaif«>oü^  oi  xuvTfjioi,  toic,  8'  STcai- 
vot<;  xoü<;  dvoi^xoü^  ol  xöXaxec. 

22.  Oi  (xev  Xöxot  xot(;  xuoiv,  o(  8e  xiXaxec;  xoii;  cptXoK;  Svxec;  o[jloioi 
dvo|xo(a>v  iTctdüfiouatv. 

23.  ''Eoixev  ii  xoXaxeia  ipaircij]  iravoTcXC^.  8tb  xspcpiv  [xsv  l^et,  jjp^ia^i 
86  oü8e|x(av  uapsxetat.     20—23  Stobaeus  floril.  XIV  21—24. 

SotioD : 

24.  Ot  8eXcprvec  V-^XP^  '^^^  xXü8a)vo(;  0üv8iavT^x^vxai  xor(;  xoXu(i- 
ßu>ai,  'irpo;  88  x6  ^Yjp&v  oux  e^oxeXXouaiv  ooxu)^  oi  x6Xax£c  3v  eu8ia 
irapafievoüotv,  rix;  xal  oi  xo6<;  cptXoot;  ei<;  dTCo8Y][jL(av  icpoirejxirovxe^  f^^XP^ 
x*^^  Xeta*;  aufiTrapaxoXoudoöoiv,  6TCet8dv  8e  eic  xpaxeiav  IXöcoaiv,  dirCaatv. 
Stobaeus  floril.  XIV  1 0 :  2a)x(a)vo<;  sx  xo5  luepl  op']f^(;.  Vgl.  Zeller  Phi- 
los. d.  Gr.  IV  605  A.  3. 

Bias: 

25.  *0  Bfac  direxptvaxo  .  .  xi  irüöo|X£v«>  xi  xäv  C^v  -^lakeTzm- 
xax6v  eoxtv  ...  8xt  x(5v  (xev  d-jfpicov  o  xüpavvoc,  xäv  8'  if][Jteptt>v  6  x6- 
XaS.  Plutarch  cp(Xo(;  und  xoXaS  p.  61  C.  Als  Scherzwort  des  Pitta- 
kos  zu  Myrsilos  im  Gastmahl  der  7  Weisen  p.  147B  bezeichnet.  In 
etwas  veränderter  Fassung  dem  Diogenes  beigelegt  von  Laertius 
Diogenes  VI  2,  51  :  epwxrjöeU  x(  x«5v  ÖTjpicov  xdxiaxa  8dxvei,  ecpTj,  xäv 
(xev  d'ipCwv  auxocpdvxT]^,  x&v  8s  'j^fispcov  xoXa^. 


KOLAX.  105 

Krates: 

26.  Kpdry]^  7cpb<;  veov  icXo6aiov  tuoXXou<;  x6Xaxa<;  eicioupofxevov  ''vea- 
vioxe"  eiTcev,  ''eXeco  aou  -rij^  epYjfiiav".  Stobaeus  flor.  XIV  20.  Der 
Kyniker  ist  gemeint. 

Lykurgos: 

27.  Kai  ih  jxev  [lopov  e&QXaae^  .  .  .  rJjv  8s  ßacptx^jv  w^  xoXaxeia^ 
atoOi^osax;.    Plutarch  apophth.  Lacon.  Lyc.  18  p.  228  B. 

IX. 

Die  Uebertragungen  des  Begriffs  der  xoXaxe(a  auf  andere 
Lebensverhältnisse  gehen  aus  von  der  Platonischen  Auflassung,  welche 
jedes  auf  Bewirkung  von  XQ^pt<;  und  iJjSovtq  gerichtete  Streben  (Rhetorik 
und  Sophistik,  Koch-  und  Toilettenkunst)  als  xoXaxs(a  bezeichnet^). 
Für  die  Komödie  kommt  neben  der  geheuchelten  Freundschaft  vor 
iVlIem  die  Liebe  in  Betracht:  die  verführerischen  Lockungen  der 
Hetäre,  die  gleissnerische  Beflissenheit,  die  lenocinia^)  des  Kupplers 
(der  imRudens  126  als pa/pator  charakterisirt  wird)  und  der  Kupplerin, 
selbst  die  Huldigungen  des  Liebhabers  dem  Mädchen  gegenüber 
erinnern  an  die  Künste  des  xoXaS.  ^Blanditiis  vult  esse  locum  Venus 
ipsa'  versichert  Tibull  I  4,  71  ;  ^blanditia,  non  imperio  fit  dulcis  Ve- 
nus' heisst  es  in  den  Sprüchen  des  Syrus  (56);  Blanditiae  be- 
gleiten (nach  Ovid  amor.  1  2,  35)  den  Triumphwagen  des  Amor.  Das 
duMcixov,  welches  Weibern  von  Natur  eigen  ist^),  wird  bei  der  Buhlerin 
von  selbst  zum  xoXaxsuxixov.  So  schildert  sie  Ephippos  in  der 
'EfJLTCoXi^  fr.   6: 

lireitd  Y    eiotovx',  sdv  XuTCOüfjievo^; 

Tüj^TQ  Tt^  ifjficJSv,  sxoXdxeuasv  ifjSsux;, 

scpCXYjaev  ooj^l  oü(x7cieaaaa  zh  oxofia 

(oairep  7uoXe|xiov,  dXXd  loiai  axpoüdioK; 

j^avooa    6[jtoi(o^,  -^oe,  irapeiiüdi^oaTo, 

STTotTjoe  ö'   iXapbv  eu&ecoc  t'   dcpetXe  irdv 

aoToG  TÖ  XoTTOüv  xaTceSeiSev  tXetov. 

1 )   Gorgias  c.    4  8  ff. 

t)  Der  grade  Stab,  welchen  der  iropvoßoaxo?  auf  der  komischen  Bühne  trug, 
hiess  apsaxo«; :   Pollux  IV  \%0  Hesychius  s.   v. 

3)  Vgl.  mit  dem  Folgenden  was  Philokieon  in  den  Wespen  605  IL  von  Frau 
und  Tochter  rühn^t. 


1 01)  Ribbeck  , 

Die  Überlegenheit  der  Hetäre  in  diesem  Punkt  gegenüber  dem  ehr- 
baren Mädchen  betont  Menandros  ine.  fab.  fr.  554: 

j^aXeirov,  OdficpiXe, 
eXsudspa  Y^vaixl  irpoc  TTopvYjv  [xa^^. 
irXetova  xaxoopYsi,  uXeiov    otS  ,  aiaj^uvetat 
ouSsv,  xoXaxeuEi  [jtäXXov. 

Die  schmeichelnden  Locktöne  der  beiden  Buhlschwestern  in  der 
ersten  erhaltenen  Scene  der  Bacchides  sind  nicht  weniger  in  dem 
flüssigen  Rhythmus  wie  in  liebkosenden  Worten  (V.  27:  'cor  meum, 
spes  mea,  Mel  meum,  suavitudo  cibus  gaudium')  ausgeprägt,  z.  B. 
V.  82ff.: 

locus  hie  apud  nos,  quamvis  subito  venias,  semper  liber  est. 

übi  voles  tu  tibi  esse  lepide,  mea  rosa,  mihi  dicito: 

da  tu  qui  bene  sit,  ego  ubi  sit  tibi  locum  lepidum  dabo. 

Milphidippa  und  Acroteleutium  vereinigen  sich  mit  Palaestrio  (mil. 
gl.  IV  2.  5)  zu  einem  wahren  Concert  der  xoXaxeCa  dem  miles  gegen- 
über. Auch  die  Magd  Astaphium  im  Truculentus  versteht  sich  auf 
'blandimenta  meretricia'  (318).  Der  Liebhaber  ist  eine  feindliche 
Stadt,  die  erobert  werden  muss  (Truc.  169);  man  gewinnt  ihn,  wie 
man  Fische  fängt  ^)  und  Vögel  stellt  2);  er  beisst  an^),  geht  ins  Netz^), 
geht  auf  den  Leim^).  So  lange  er  frisch,  schmackhaft,  bemittelt  ist, 
wird  er  umschmeichelt ;  ist  er  ausgebeutelt,  so  wird  er  zu  den  Todten 
geworfen : 

äliam  nunc  mi  orationem  despoliato  praedicas, 
äliam  atque  olim,  quom  inliciebas  me  ad  te  blande  ac  benedice. 
tum  mi  aedes  quoque  adridebant,  quom  ad  te  veniebam,  tuae. 
me  ünice  unum  ex  omnibus  te  atque  illam  amare  aibas  mihi, 
übi  quid  dederam,  quasi  columbae  pulli  in  ore  ambae  meo 
lisque  eratis:  meo  de  studio  studia  erant  vostra  omnia. 


\)   Bacch.   102:    ^quia   piscatus   meo   quidem    animo    hie   tibi  hodie  evenit 
bonus*.     Ausgeführt  in  Trucul.   35  ff.,   in  andrer  Wendung  Asin.    178  ff. 

t)   Vergleich  mit  aucupium,   ausgeführt  von  der  lena  in  Asinaria  24  5  ff. 

3)  hamura  vorat:  Truc.   42. 

4)  si  inierit  rete  piscis:   Truc.   37. 

5)  Bacch.   50:   viscus  merus  vostrast  bianditia.    H58:    lactus  sum  vehemen- 
ter visco. 


KOLAX.  1 07 

üsque  adhaerebatis :  quod  ego  iusseram,  quod  voluerani 
fäciebatis:  quod  noiebam  ac  volueram,  de  industria 
fügiebatis  neque  conari  id  facere  audebatis  prius. 
Düne  neque  quid  velim  neque  noiim  facitis  magni,  pessumae*). 

Es  sind  die  wohlbekannten  Züge  der  xoXaxe(a. 

Auch  der  Liebhaber  muss  sich  auf  diese  Künste  verstehen: 
ETceixa  cpoiTÄv  xal  xoXaxeucov  (sfjie  xe  xat)  Tyjv  [jiTjTsp'  l^vco  [Jie,  erzählt 
eine  Schöne  bei  Menandros  ine.  fab.  550.  Warnend  sagt  die  alte 
Syra  in  der  Hecyra  68  zur  Philotis:  ^nam  nömo  illorum  quisquam, 
scito,  ad  te  venit,  Quin  (ta  paret  sese,  abs  te  ut  blanditiis  suis  Quam 
minimo  pretio  suam  voluptateni  expleat'.  Eingehender  schildert  die 
Kupplerin  in  der  Asinaria  V.  181  die  Beflissenheit  des  werbenden 
Galans  : 

IS  dare  volt,  is  se  aliquid  posei:  nam  ibi  de  pleno  proniitur, 
n^que  ille  seit  quid  det,  quid  damni  faciat:  illi  rei  studet: 
völt  placere  sese  amieae,  volt  mihi,  volt  pedisequae, 
völt  famulis,  volt  etiam  aneillis,  id  quoque  iam,  eatulo  meo 
sübblanditur  novos  amator,  se  ut  quom  videat  gaudeat. 

Am  vollständigsten  sind  die  Weisungen,  welche  Ovid^)  seinem  Schüler 
in  der  Liebeskunst  ertheilt:  wie  er  als  Zuschauer  im  Circus  sieh  für 
die  Partei  erklaren  soll,  welcher  die  schöne  Nachbarin  günstig  ist 
(I  146),  und  beim  Aufzug  der  Epheben  der  Venus  Beifall  Watschen 
soll  (147  f.).  Es  werden  ihm  die  nämlichen  kleinen  ofßeia  einge- 
schärft, durch  welche,  wie  wir  sahen,  der  xoXaS  auch  seinem  Brod- 
herrn sich  als  dessen  epaon^^  darzustellen  sucht: 

utque  fit,  in  gremium  pulvis  si  forte  puellae 

deeiderit,  digitis  exeutiendus  erit; 
et  si  nullus  erit  pulvis,  tarnen  excute  nullum: 

quaelibet  officio  causa  sit  apta  tuo. 


\)  Argyrippus  zur  lena  in  Asinaria  204  ff.  Vgl.  Trucul.  \6\  ff.,  dort  Astaphium 
4  63:  *dum  vivil  hominem  noveris;  ubi  mortuost,  quiescat:  Te  dum  vivebas,  noveram', 
and  dann  175  ff.  der  veränderte  Ton,  da  Diniarchus  erkrart :  'sunt  mi  etiam  fundi 
et  aedis'.  Vgl.  auch  Trabea  fr.  I.  Plutarch  Mor.  p.  821  F:  af  5'  diro  Oearpoiv 
.  .  .  iJ/suO(ovu{xoi  Tip.al  xal  ^suSofiaptops;  itaipixau  io(xaai  xoXaxstat^  o^Xcov  ael 
T(j>  SiSovti  xal  )^apiCofjiv({>  TcpoaiieiSicovTcüv  IcprjfjLspov  tiva  xal  aßsßaiov  oo^av. 

2)   Ihm  ging  Tibull  mit  'Veneris  praecepta'  für  Knabenliebhaber  voraus:   I  4. 


108  Ribbeck, 

pallia  si  terra  nimium  demissa  iacebunt, 
coUige  et  inmunda  sedulus  effer  huino. 

1 59     parva  levis  capiunl  animos.  fuit  utile  multis 
pulvinum  facili  composuisse  manu, 
profuit  et  tenui  ventos  movisse  tabella 

et  Cava  sub  tenerum  scamDa  dedisse  pedem^). 

Wenn  dann  der  Triumphzug  kommt,  soll  er  dem  Mädchen  auf  alle 
ihre  Fragen  nach  deir  Namen  der  Könige,  der  Gegenden,  Berge  und 
Flüsse  prompten  Bescheid  geben  (221  f.) :  'omnia  responde,  nee  tantuni 
si  qua  rogabit:  Et  quae  nescieris,  ut  bene  nota  refer'.  Ferner  die 
Anweisungen  über  das  Verhalten  beim  Trinkgelage  (569  ff.)  nach  der 
Methode  des  Ssüiepa  Xe-ystv  xal  Tcoietv,  583:  'sive  erit  inferior  seu 
par,  prior  omnia  sumat,  Nee  dubites  illi  verba  secunda  loqui'. 

Um  aber  die  erworbene  Gunst  zu  behaupten,  selbst  die  Spröde 
geschmeidig  zu  machen,  ist  für  den  unbemittelten  Liebhaber,  der 
nicht  immer  schenken  kann,  erste  Bedingung  obsequium^): 

<97     cede  repugnanti:  cedendo  victor  abibis. 
fac  modo  quas  partis  illa  iubebit  agas. 
arguet,  arguito.     quidquid  probat  illa,  probate. 
200         quod  dicet,  dicas.     quod  negat  illa,  neges. 
riserit,  adride.     si  tlebit,  tlere  memento. 

inponat  leges  vultibus  illa  tuis. 
seu  ludet  numerosque  manu  iactabit  eburnos, 
tu  male  iactato,  tu  male  iacta  dato  u.  s.  w. 
209     ipse  tene  distenta  suis  umbracula  virgis, 
ipse  fac  in  turba,  qua  venit  illa,  locum. 
nee  dubita  tereti  scamnum  producere  lecto 

et  tenero  soleam  deme  vel  adde  pedi  u.  s.  w. 
223      iussus  adesse  foro  iussa  maturius  hora 
fac  semper  venias,  nee  nisi  serus  abi. 

\)  S.  oben  S.  57.  Die  praktische  AusführuDg  dieser  Weisungen  war  bereits 
in  den  Aniores  III  2  vorausgenommen. 

2)  II  4  77  ff,  4  97  ff.  Tibull  I  4,  39:  *tu  puero  quodcumque  tuo  temptare 
iibebit,  Gedas:  obsequio  plurima  vincit  amor.  Neu  comes  ire  neges' 
u.  s.  w.     Vgl.  oben  S.   50. 


KOLAX.  1 09 

'occurras  aliquo'  tibi  dixerit,  omnia  diflFer: 

curre,  nee  inceptum  turba  raoretur  iter  u.  s.  w. 
254     nee  pudor  aneillas,  ut  quaeque  erit  ordine  prinaa, 
nee  tibi  sit  servos  demeruisse  pudor. 
nomine  quemque  suo  (nullast  iaetura)  saluta, 
iunge  tuis  humiies,  ambitiöse,  manus  u.  s.  w. 
Auch   kleine  Gesehenke,   Erstlinge   des  Gartens  u.  a.  sind  wohl 
angebracht  (261  ff.).     Vor  Allem  natürlich  muss  der  Liebhaber  nicht 
ermüden  die  Schönheit  und  die  Gaben  seiner  Erwählten  zu  bewun- 
dern (295  ff.) : 

297     sive  erit  in  Tyriis,  Tyrios  laudabis  amietus, 

sive  erit  in  Cois,  Coa  deeere  puta  u.  s.  w. 
305     braechia  saltantis,  vocem  mirare  canentis, 

et  quod  desierit  verba  querentis  habe^)  u.  s.  w. 
Nur  darf  sein  Lob  nicht  gemacht  und  geheuchelt  erscheinen: 
344     tantum  ne  pateas  verbis  Simulator  in  illis 
effice  nee  vultu  destrue  dicta  tuo. 
si  latet  ars,  prodest  u.  s.  w. 
Schmähungen  und  selbst  Schläge  soll  er  geduldig  ertragen: 
533     nee  maledicta  puta  nee  verbera  ferre  puellae 

turpe  nee  ad  teneros  oseula  ferre  pedes  u.  s.  w. 
Nimmermehr  halte  er  dem  Mädchen  körperliche  Fehler  vor  (641  If.), 
vielmehr   beschönige    er    sie    durch    wohlklingende   Euphemismen  ^) 
u.  s.  w. 


4)   Vgl.  oben  S.   43. 

2)    657  (T.     Vgl.   oben  S.  46  f.     Grade  das  Gegentheil  solcher  xoXaxe(a,  frei- 
lich hinter  dera  Kücken  der  Geliebten  zu  begehen,   empfiehlt  Ovid  in  den  reraedia 
amoris  solchen,  die  sich  von  der  Krankheit  der  Liebe  befreien  wollen,    34  5  (T. : 
profuit  adsidue  vitiis  insistere  amicae^ 

idque  mihi  factum  saepe  salubre  fuit. 
'quam  mala*  dicebam  'nostrae  sunt  crura  puellae ! ' 

nee  tarnen,  ut  vere  confiteamur,  erant. 
'braechia  quam  non  sunt  nostrae  formosa  puellae!' 

et  tamen,   ut  vere  confiteamur,   erant. 
*quara  brevis  est ! '  nee  erat.      *quam  multum  poscil  amanlem  1 ' 

haec  odio  venit  maxima  causa  meo. 
et  mala  sunt  vicina  bonis.     errore  sub  illo 
pro  vitio  virtus  crimina  saepe  tulit. 


110  Ribbeck  , 

Vom  TL^äkaü  unterscheidet  sich  der  apeoxoc  wesentlich  durch  die 
Uneigennützigkeil  seines  Charakters^).  Alles  lobend,  jeden  Gegensatz 
und  alles  Unangenehme  im  Verkehr  mit  Menschen  vermeidend  ^),  aller 
Welt  Freund  ist  er  mit  keinem  Einzigen  wahrhaft  befreundet^).  Sein 
Gegenpol  ist  nach  Aristoteles^)  der  Grobian  (860x0X0^),  nach  Eude- 
mos^j  der  Arrogante  (au&doYj(;) :  in  Verbindung  mit  diesen  Charak- 
teren wird  er  näher  zu  behandeln  sein.  Verwandt  mit  ihm  ist  der 
römische  scurra,  doch  ist  dessen  eigentlicher  Antipode  der  Bauer 
(d-ypoixo^,  rusticus):  auch  dieser  Typus  bleibt  daher  einer  späteren 
Betrachtung  vorbehalten. 

X, 

Theophrasti  characterum  caput  !I. 

xoXaxeCai;^). 
T'Jjv  oe  xoXaxeiav  üTToXdßoi  av  Tic;  6(AiX(av  atojfpdv  efvai,  oü(jl'^s- 
pooaav  8s  t(o  xoXaxsuovxt,  xöv  Se  xoXaxa  toioutov  xiva,  cSoxe  a^a  tco- 

qua  potcs,   in  peius  dotes  deflectc  puellae 

iudiciumque  brevi  limite  falle  tuura. 
lurgida,  si  plenasl,  si  fuscast,  nigra  vocetur; 

in  gracili  macies  crimen  habere  polest, 
et  poterit  dici  petulans,  quae  rustica  non  est; 
et  poterit  dici  rastica,   siqua  probast. 
Die  praktische  Anwendung  der  hier  empfohlenen  Heilmethode   ist  von  Catull  anti- 
cipirt   in  den  Spottversen  auf  die   Man  tu  a  na    (?Ameana   die  Hdschr.)   puella 
c.   4^   43;  vgl.  auch  c.  86;  Horaz  carm.  IV  13.  epod.   8. 

\)  Aristoteles  eth.  Nicom.  II  7  p.  H08A:  irspl  hk  to  Xoitcov  tjSü  to  Iv  tcu 
ß(c|>  .  .  .  b  Ss  oirepßaXXcov  (im  7)80],  s{  ]ik^  ouSevoc  fv£xa,  apsoxo^.  IV  Kt 
p.    H27A:   b  [jiv  toü  yj8üc  elvai  oTOX^Cop^vo?  jir^  8t'  aXXo  xt  apsoxo?. 

t)  Aristoteles  eth.  Nicom.  IV  \%  p.  4126B:  iv  8ä  xoi;  bp.iX(ai{  xal  xq  ou- 
Cr^v  xal  Xo^cov  xal  irpaYJWtxcov  xoivtovelv  ol  piv  apeoxot  8oxo5aiv  eivai  ol  iravxa 
irpo;  y;8ovi^v  iwaivoovxe;  xal  ou8Jv  avxixsfvovxs; ,  aXX'  o{op£Voi  Setv  aXüicot  xoTc 
ivxuYXoivoüaiv  elvai. 

3)  Aristoteles  a.  0.  IX  4  0  p.  H71A:  ol  8^  iroXo(piXot  xal  Traaiv  oJxeto»^ 
ävxüYj^avovxec  oü8svI  8oxouotv  eivat  (ptXot ,  tcXtqv  icoXixixuk  ,  oo?  xal  xaXouaiv 
apioxouc. 

4)  Eth.  Nicom.  II  7   (oben  S.  17).  6)  Eth.  Eudem.  III  7. 

6)  Usus  sum  libris  manuscriptis  hisce :  Parisinis  n.  2977  saeculi  X  vel  XI 
=  A,  n.  4  983  saec.  X  =  B;  Laurentianis  saec.  XV  plut.  60,  48  =  F, 
plut.  60,  25  =  f,  plut.  86,  3  =  cp;  Marciano  543  saec.  XV  =  M;  Rhe- 
digerano  t%  saec.  XV  =  R.     Consensum   librorum   siglo   signavi  0.      Ex   his 


KOLAX.  111 

psuofievov   eticetv    „svdoix-g,    (b^  dicoßXsiroooi   Tzph^   as    oi    avOpcüTroi; 
TooTo  oü8evi  täv  sv   xig  7ü6Xsi  Y^^sTat  tcX-Jjv  oot*   7]uSox([ist^  j^Ss«;  ev 
r^   oToa*"   TcXefJvcDV  y^P  >1  Tptdxovxo  dvdpc&Tccov  xaÖTjfxevcov  xal  eji-    5 
TTsaivToc  Xo-yoü,  ti(;  e?Yj  ßsXTtoxo^,   die'   aüxoG  dpSafievoo^  TrdvTa(;  eirl 
T?>  8vo|Jia  aoToö  xaTsve^^d^vat '   xal  a|xa  ToiaSta   Xe^cov  dm  toG  fjia- 
Tioo  d^eXetv  xpoxöSa*    xal  Idv  xt  izph^   ih  xpf^^cojxa  x^c  xe^^aXi]^  ötto 
TT^eujxaxoi;  icpooevej^d^  djfupov ,  xap<poXoY^aai  •    xal  STctYeXdoac  8e  etTCsFv 
„ipa^;    5x1  8üotv    aoi   ifj^iepcov   oiix  svxexöjjTjxa ,  tcoXiäv  lox"3Qxa^  x?)v  10 
iro&Ycüva  [xeoxiv,  xaiicep,  efxt;  xal  aXXo<;,  6/ei(;  Tupo<;  xd  Ixyj  fisXaivav 
x^v  xpij^a"  •   xal  Xsyovxo^   Ss  aoxoG  xt  xoix;  dXXouc  atü)TCav  xeXeGaai, 
xal  kizaivioai  hk  q[8ovxoc,  xal  eTCtOYjfJLT^vaadat  8s,  ei  Tcauoexai,  „ipdfic;"  • 
xal  ox(6c|^avxt  ^o^pfi^  eictYsXdoai,   x6  xe    Ifxdxiov   oioat  eU   t6   ox6[JLa 
cbc  8-}]  00  Süvdfxevoi;  xaxaoj^eiv  x?)v  -ysXcüxa*  xal  xou^  dicavxüivxa^  etci-  15 
or^vai  xeXeuaat,  eco^  äv  aüx^x;  TcapeXdrj  •   xal  xoii;  irai8(oi^  [xi]Xa  xal 
dicfoü^   7rpid|xevo(;    etasve^xac;   8o5vai  ipfivxoc  aGxoü,    xal  ^piXi^oac  8e 


contuli  ipse  Parisinos  anno  1876,  Laurentianos  a.  4  88S;  Marciani  et  Rhedigerani 
lectiones  accuratius  quam  antea  enotatas  ex  Herraanni  Diels  Theophrasteis  Berolini 
1883  editis  sumpsi,  atque  eiusdem  viri  doctissimi  de  Parisinis  testimonia  quaedam 
altuli,  quae  in  meis  schedis  non  repperissem. 

3  diroßXiirooaiv  eU  as  MR<p:  cf.  Diels  Theophrastea  p.  12.  ol  om.  MR 

oo&evl  FMRfcp  (p.7;&ev  B  p.  434,  10  P. :  ceterum  ^7]8&v(  p.  126,  41  (j.Y]8iv 
p.  127,  25  oüSiva  p.  138,  11  AB  4  uXr^v  73  00t  A(p  75  001  (om.  nXr^v)  F  5  rj 
o'  73  M  7  Sjxa  Needhamus  aXXa  0         Xs^etv  ABFfcp.     £xpectes  ki^ovra  ul 

supra  V.  4  nopeoofisvov ,  sed  nominativi  etiam  infra  secuntur  licentia  structurae, 
quae  in  ceteris  capitibus  numquam  admittitur,  cuius  nescio  quae  turbae  textus  pos- 
sunt  in  causa  fuisse.  8  xpoxföa  FMRff ,  item  cpit.  v.   5.         Tiva  9         utto 

Aubems  diro  0  9  vsü|i.aTo?  M  Trpoaevsj^O^  Ff  TrpooTjvijfÖTQ  R  Trpoarjvi/ÖTj 

ABMcp  10  8oeTv  Af  loj^Yjxac]  eaj^'  A  s/sic  <p  1 1   et  xic 

äXXo?  MR  e/8t  Tcpo;  xa  Itt)  MR  irpo«  xa  Ixt)  Ixet?  A<p  [liXaiva  M 

12  a'xooxt]   aüxo,  suprascr.  m.  ead.  xt,  f        13  (^Sovxoc  Reiskius:   cf.   mus. 

Rhen.  XXV   130    axovxo?  FMRf^    dxovxo;  A    dxoüovxoc    (sie  scriptum:    dxxo)   B 

axo'jov,   i.   e.   axoiiovxo?  aut  dxooovxa,  epit.  v.   7  el  iraooTjxai  (73  m.  2  corr. 

in  e)  <p  ei  Trauoatxo  Reiskius  73 v  TraooTjxai  Astius  i^av  7:aüa7]xat  Fossius  Verba 

xal   l7ria7](X7]vaa&ai    .  .  .    opOo)?   melius   post   xsXsuaai  v.    12    sequi    monui   mus. 

Rhen.  1.  1.  14  oxco^avxi  Cratandrea  axvi^a^  x(  A  axco^ac  xi  (sie  scr. :   otl^xI) 

B    (axcüij*av  x(  AB    testatur  Diels.)    oxui^ac  x(   <p   oxcu^ac  xl  Ff   oxm^ac   xt   M  R 
icixpÄc  R      iTTiYsXaaai  F      coae  A  teste  Dielsio       1  5  h-q]  8st  B  teste  Dielsio. 
jii^  Acp  TOü?  a7ravxa<;  <p  16  jitxpov  iirtoxf^vai  MR         irat8(ot?]  TceStoi?  A 

teste  Dielsio.  iraial  M  17  aTTtSia  <p         8s  om.  B  teste  Diefsio 


112  ßlBBECK, 

etireiv  „jjpTjaToö  Tzaiph^  veoma"*  xal  oüva)vo6[i.evoc  xpYjTciBa^  t?)v  7c6oa 

^-^oai  eivai  eupoftfJL'^Tepov  loo  Ö7Co57]|xaToc'  xal  Tropeüofxsvoü  icpo^  xiva 

20  Tttiv  cp(Xcov  7rpo8pa[i.ü)v  eiiretv  oxi  „up^c  as  Ipj^exai"   xal  dvaoTpe'|»a(; 

5x1  „irpooT^YT^^^^''-  ^K*^^^^  ^^  ^^^  "^^  ^^  y^^^^'^^'^*^  d^opäc  Swxovijoat 
Sovaxic  dir^eooxC"  xal  xäv  saxuo[i.£V(JDV  Tcpwxo^  eicaiveaai  xov  otvov" 
xal  icapa(xevü)v  eiTreiv  „(b<;  (xaXaxu)^  eadfei^".  xal  apa^  xt  xäv  dm 
X7\<^  xpaTOCi^<;  cp"^oai  „xooxl    apa  ax;  j^pTjoxiv  eaxi".      xal   epcox^oai, 

25  V'^  ^tTQ^  3(al  sf  eirißdXXeoöai  ßouXexai,  xal  et  xt  icepioxeiXTg  auxov 
xal  p.'Jiv  xaoxa  Xe-ycov  irpi;  xi  o5^  TcpooiciTcxtov  StacptdoptCsiv  xal 
efc  exsivov  diroßXeTCcov  xoic  aXXoic  XaXeiv.  xai  xo5  7cai8ic  ev  t<5 
ftedxpo)  dcpeX6(ievo^  xot  irpoaxecpdXaia  auxic  ÖTCooxpuiaai  •  xal  x9]v  oix(av 
cp-^oat  eu  T^pjfixexxov-^aOai  xal  xiv  d^p^^v  eu  icecpoxeoodai  xal  x^jv  etxova 

30  6|xoiav  eivai.  xal  x?)  xecpdXatov  x?)v  xoXaxa  laxt  Oedoaaftat  Tcdvxa  xal 
Xs^ovxa  xal  icpdxxovxa  (ji  j^apieradat   ÖTCoXajxßdvei. 


Epitomc  Monacensis  descripia  a  Dielsio  p.  26. 

*H  8s  xoXax&(a  oofi^^spsi  [jlsv  xw  x6Xaxi.  dXX'   o[j.co^  aia^pd  saxtv 
6p.iX{a.     6  8s  x6Xa$  xotoGx6c  xtc;  oToc  Xs^eiv,  ox;  doxeioc  ti  xal  irept- 


4  8  veoTTia  BF  veoxia  f  eirixpr^irTSa?  A  eitl  xpTjTuTSa?  B  iv:\  xpr^Ttioac 

FMRfcp  iirl  xpr|TrT8a<;  äX&civ  Possius  4  9  fpfjoai  etvai]  eivai  cp"^aai  A  exi 

eipoöfioTspov  Petersenus  iropeoojjLevo?  M  20  TtpoaSpafAwv  (A  sine  acc.  teste  Diel- 
sio) (f  ep)(0[iai  cp  t\  oTi]  sItusIv  oti  R  irpoar^YT^Xxac  (AB  teste  Dielsio  p.  \t)  ff 
(fuit:  TTpooT^YY^Xxa  oe)  8e  om.  A^  22  Suvaroi;]  ixavu)«;  M  23  irapajjivmv] 
fortassc  ut  familiaris  manere  putandus  est,  postquam  abierunt  ceteri  convivae. 
irapaxslfiivcov  MR:  quadrat  ad  proxima,  ubi  post  Toiv  inseri  possit.  cf.  quae  Dielsius 
disputavit  p.   4  2.  a{aÖ(ei<;  B  m.  4  xl  Bf  xl  F  2B  imßaXioftai  F  im- 

Xaßio&ai  f  ei  xi]  exl  B  In  FMRfcp  7rspiaxe(XTB  Kayserus  irspioxeCXt]  AB 

irspioxs(Xei  M  icepiaxeTXai  FRF  (ireptoxeiXai  voluerunt)  ireptoxeCXa;  9  26  jii^v] 

jiTQ  AB<p  Xif=,  h.  e.  Xi^cüv  et  Xiystv  m.  eadem,  A  irpooirfirrtüv  BFMRf^ 
StairiTTTcüv ,  m.  eadem  irpoc  suprascr.,  A  TrpoaxuTrroiv  Valckenaer  Sia^tdupfCetv 

solus  A  ^i&üp(Ceiv  ceteri :  de  librorura  A  et  B  discrepantia  disputavit  Dielsius  p.  8 

27  eh]  ^K  ?  7rat8o?]  SouXou  R,  supra  iratSo;  suprascr.  M  28  a^sXojiÄVo; 
äv  xa  {hrpoaxecpaXaia  cp :  volebat  librarius  iv  xo>  &£axp(p  repetere,  sed  agnovit  er- 
rorem.  29  apxtxexxov^o&ai  F  r^pxeixexoxxov^oftai  (super  prius  x  scr.  y)  M 

apxeoÖai  xexxoveToOai  R  30  iravxa  Xiyovxa  f  34  cp  ut  in  Byzantino  feren- 
dum  esse  dicit  Diels  p.  4  2.  o>  B  oig  Ffcp  ä  MR:  scribi  possit  81'  cSv,  vide  epit. 
V.   4  4.         uiroXap.|3avtt>   (jjl  ex  corr.)   M. 

Cohaerebant  olim  v.  24 — 2i  ajiiXet  ....  j(p7]oxov  loxt  cum  v.  28 — 30  xat 
XT^v  o?x(av  .  .  .  etvai;  praeterea  sie  illa  ordinanda  :  v.  27  sq.  xal  xoo  TratSo^  .  . 


KOLAX.  113 

ßXsTUTo^  xal  aicXciSc  efTceiv  Tcavxcov  C>]X«itoTaTo^  xat  ßaa  Toiaöxa.  Ip^a 
Ss  T^  dcpeXetv  dizh  xoG  {(laxioo  xpox68a*  xal  oTov  xopcpoXo^etv  t?> 
exeivou  Tp()^(o|jia'  Ixt  6iro[i.£iSi(i5vxa  etTustv  ox;  eva^x^^  6cp&e(;  [lot  5 
daxeibi;  vöv  Soxel;  jxoi  iroXii^;  x'Jjv  xpC^a '  xal  oKoirav  evxeXXeo&ai  xqü;; 
Xotiroö^  xou  xoXaxeüOfxevoo  Xe^ovxo^  xal  eTcaivetv  dxouovxo^'  xal  xou^ 
d'icavxÄvxa(;  eicexei'^ '  xal  xot^;  exetvoo  itaiSfon;  xpa'yT^IJiaxa  Tcpoocpspeiv* 
xal  (JiaxaptCeiv  x6v  ys'^'^'J^oavxa  *  xal  irpoSpaiietv  difYsXXovxa  xijv  exefvou 
Tcapoüotav  xal  audti;  STcavaxaTrxeiv  •  xal  eösXetv  oiroop^erv  sTuexovxa  xoü^  lo 
exeCvoü  ooüXoüi;"  xal  dirXÄc  xoaaGxa  xal  Xe^etv  xal  irpdxxeiv  81'  ßocov 
vo(xiCei  xaptsroOat. 


uTTooTpcbaa^  v.  24 — 27  xal  epuix^aat  .  .  .  XaXeTv.  tum  v.  4  5  sq.  xal  xou;  .  .  . 
irapeX&TQ,  4  9 — f\  xal  iropeuopivou  .  .  .  itpoaT|YYsXxa.  Geteruin  v.  4  6 — 4  8  xat 
xoi^  irai5(oi(;  .  .  .  vsoma  plane  ex  apeoxou  moribus  depicta  sunt  (vide  p.  4  27^ 
4  3  sqq.  P.),  nee  ab  eodem  aliena  v.  22 — 24  xal  xtuv  iaTitopivcov  .  .  .  y[fir^rc6^ 
iaxi  el  V.  28 — 30  xat  ttjV  ofxtav  .  .  .  opiofav  stvat,  qnainquain  7-80X0700  om- 
nia  sunt. 


Abhand).  d.  K.  S.  UosellRch.  d.  Wisflensch.  XXI. 


Nachtrag. 

In  dem  KomÖdienverzeichniss  S.  30  ist  der  Ilixucovio^  des  Menandros  aus- 
gefallen. Pollux  IV  H9:  xal  iropcpopa  8'  iobr^Ti  4j(pu)VT0  ol  v£av(axoi,  ot  8s  ira- 
paaiToi  [xsXa(vio  ri  cpai^,  ttXt^v  iv  lltxüa)v(c|)  Xeux^,  on  [isXXsi  ^aj^sTv  o  Trapaairoc.  i 

Vgl.  oben  S.    «3.   44  f. 


VERSUCH  EINER  THEORIE 


DER 


FINANZ-REGALIEN 


VüN 


WILHELM  RÖSCHER, 

MITGLIED  DER  KONIÖL.  SACHS.  OESELLSCHAFT  DER  WlSSENSCHAFrEN. 


▲bhandl.  d.  K.  S.  GeMllsch.  d.  Wissensch.  XXI. 


1. 

Das  Wort  Regalien  ist  ein  ungemein  vieldeutiges J)  Die  sog. 
Regalia  majora,  wesentliche  Hoheitsrechle,  sind  gar  keine  Rechte  des 
Staates,  sondern  nur  Seiten  der  Staatsgewalt  selbst.  Als  Regalia  mi- 
nora,  zufällige,  nutzbare  oder  Finanzregalien  sollte  man,  streng- 
genommen, bloss  solche  Rechte  von  eigentlich  privatrechtlichem  Cha- 
rakter verstehen,  deren  Erwerbung  der  freien  Willkür  der  Personen 
entzogen  und  vom  Staate  allein  in  Anspruch  genommen  winP). 
Domünen  sind  grundherrliche,  Regalien  alsdann  staatsherrschaflliche 
Ginkommensquellen:  jene  von  der  Art,  dass  jeder  Privatmann 
Ähnliches  haben  kann,  diese  von  der  Art,  dass  kein  Privatmann 
sie  ohne  besondere  Erlaubniss  nachahmen  darf.  Auch  insofern 
stehen  die  Regalien  zwischen  Domlinen  und  Steuern  in  der  Mitte. 
In  der  Praxis  freilich  hat  man  den  Namen  der  Regalien  viel  weiter 


\)  Sehr  berühmt  ist  die  Aufzählung  der  Regalien  in  Friedrich  Barbiirossa's 
Conslitutio  de  regalibus,  die  H58  auf  dem  Roncalischen  lloftage  beschlossen  wurde 
(Pertz  Leges  II,  4H);  dann  auch  in  II.  Feud.  56  übergegangen.  Jedenfalls  be- 
zog sicli  dies  Weislhum  nur  auf  Italien.  Es  stellt  zusammen:  armandiae;  viae 
publicae,  flumina  navigabilia  et  ex  quihus  fiunl  navigabilia;  porttts ,  ripaticdy 
vectigalia ,  quae  vulgo  dicuntur  telonia ;  moneta ;  mulctarum  poenarumque  com- 
pendia;  bona  vacantia  et  quae^  ut  ab  indignis,  legibus  auferuntur,  nisi  (juae  spe- 
cialUer  quibiMdam  conceduntur :  bona  contrahentium  incestas  nuptias ,  condemnato- 
rum  et  proscriptorum .  . . ;  angariarum ,  parangariarum  et  plaustrorum  et  navium 
praestaliones  et  extraordinaria  collatio  ad  felicissimam  regalis  numinis  expedilionem  ; 
potestas  constituendorum  magistratuum  ad  justitiam  erpediendam ;  argentariae  et  pa- 
latia  in  civitatibus  consuetis;  piscationum  reditus  et  salinarum  et  bona  committen- 
tium  crimen  majestatis;  dimidium  thesauri  in  loco  Caesaris  inventi,  non  data  opera 
vel  loco  religioso :  si  data  opera,  totum  ad  eum  pertineat.  Über  die  weitere  Ent- 
wicklung in  Deutschland  s.  Eichhorn,  D.  St.  und  R.  Gesch.  II.  §.  362.  IV, 
§.   548. 

2)   V.   Gerber,    Grundznge    des   deutschen  Staatsrechts,    §.   9.      System  des 
deutschen  Frivatrechts,   §.   67. 

9» 


118  Wilhelm  Röscher,  [^ 

ausgedehnt.  Ihn  leitet  K.  S.  Zachariä  daher,  dass  sie,  auch  wo  sie 
gegen  die  Freiheit  der  Unterlhanen  verstiessen,  doch  keiner  ständi- 
schen etc.  Bewilligung  bedurften.  (Vierzig  Bücher  vom  Staate  VII,  1 25.) 
Jedenfalls  pflegt  das  Vorwiegen  der  Regal wirlhschaft  im  Finanz- 
wesen der  Zeit  nach  die  Uebergangsslufe  zu  bilden  zwischen  dem 
mittelalterlichen  Vorwiegen  der  Domlinenwirthschafl  und  dem  Vor- 
wiegen des  Steuerwesens  bei  jedem  hochkultivirten  Volke.  Nichl 
mehr  genug  Domünen,  aber  noch  nicht  genug  Steuern!  Die  chao- 
tische, in  manchen  Ländern  fast  unübersehliche  Masse  der  Finanz- 
regalien "^j  verdankt  ihre  scheinbare  Systemlosigkeit  vornehmlich  der 
Thatsache,  dass  bei  ihrer  Begründung  die  principiell  so  verschiede- 
nen Rechte  eines  mittelalterlichen  Grundherrn  und  eines  neuern  Staats- 
oberhauptes gleichsam  in  einander  fliessen^).  Doch  kann  das  Auge  des 
Historikers  das  Chaos  ebenso  einfach  erklären,  wie  ordnen.  Es  lassen 
sich  nämlich  bei  den  wichtigsten  neueren  Völkern  zwei  Hälften  ihrer 
Periode  des  Regalismus  unterscheiden.  Von  diesen  schliesst  sich  die 
erste  ebenso  an  das  sinkende  Domänenthum  an,  wie  die  zweite  das 
herannahende  Vorherrschen  der  Steuern  gleichsam  einleitet.  Was 
den  politischen  (Charakter  betriflt,  so  ist  die  erste  Hälfte  ebenso  feu- 
dalistisch, wie  die  zweite  absolutistisch'')^').  Übrigens  hat  sich  in 
Deutschland  die  Regalienvvirthschaft,  ähnlich  wie  die  absolute  Mo- 
narchie,   im  Ganzen  viel  später  und  weniger  vollslündig  ausgebildet, 


3)  Regalia  quae  sint,  vix  definiri  potest.  (Klock  De  aerario,  p.  83.)  Mat- 
thäus de  Afllictis  nimmt  125  verschiedene  R.  an,  Chassaneus  SI08  ,  Petrus  Anto- 
nius de  Petra  sogar  i13,   Klock  selbst  iOO. 

i)  Wie  viele  Regalien  aus  einer  Übertragung  der  grundherrlichen  Ansprüche 
auf  die  Landesherren  entstanden  sind,  s.  Maurer,  Gesch.  der  Frohnhöfe  III,  192.  338. 
G.  C.  Diener,  De  natura  et  indole  dominii  in  terriloriis  Germaniae  I,  §  10  ff.  lei- 
tete sie  desshalb  von  einem  vermeintlich  ursprünglichen  Privateigenthum  der  lindes- 
herren  am  Boden  ihres  ganzen  Territoriums  her.  S.  dagegen  Posse,  Ober  das 
Staatseigenthum  in  den  deutschen  Reichslanden   (1794),    10  ff. 

5)  Je  länger  sich  in  einer  Gegend  die  gemeine  Freiheit  erhielt,  wie  z.  B. 
in  Friesland^  um  so  weniger  konnte  sich  daneben  der  Regalismiis  entwickeln.  Das 
entgegengesetzte  Extrem  fmden  wir  da,  wo  nur  aus  einem  Stammschlosse  mit  Fa- 
milienbesitzungen eine  Herrschaft  hervorgegangen.  (PüUer,  Beitr.  z.  deutschen 
Staats-  und  Fürstenrecht  I,    129.   172). 

6)  Bei  den  meisten  neueren  Völkern  bemorken  wir  nach  einander  Patriarcha- 
ltsmus, Feudalismus,  Fiscalismus,  Kapitalismus  und  Individualismus,  (Schaffte:  der 
alsdann  für  eine  spätere  Zeil  noch  Socialismus  erwartet ) 


^]  Vebsugh  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  1 1 9 

als  im  weslliohen  Europa.  Das  Kaiserlhiim  wurde  schon  früh  zu 
schwach,  um  eine  solche  Entwicklung  durchzusetzen.  Für  die  meisten 
Landesherren  aber  hat  dieselbe  Mittelstellung  zwischen  grossen  Reichs- 
unterthanen  und  souveränen  StaatsoberhSiuptern ,  welche  die  Macht 
ihrer  Landstände  bis  zum  dreissigjährigen  Kriege  und  länger  leben- 
dig erhielt,  nicht  bloss  der  Verschleuderung  ihres  Domaniums  vor- 
gebeugt, sondern  auch  den  vollen  Regalismus  verhütet.  ^) 

Erstes  Kapitel. 
Ältere  Regalwirthschaft. 

2. 

Je  mehr  gerade  auf  dem  Wege  der  Belehnung  das  Domanium 
zusammenschmolz,  um  so  eifriger  waren  die  kraftvollen  Herrscher  des 
spätem  Mittelalters  bemühet,  durch  Ausbeutung  der  Lehnsgefälle 
den  Schaden  wieder  einzubringen. 

Hierher  gehören  die  Abgaben  bei  Gelegenheit  der  drei  grossen 
Lehnscasus :  Kriegsgefangenschaft  des  Lehnsherrn,  Ritterschlag  seines 
Sohnes,    Aussteuer   seiner  Tochter. ^)^)     In    England    beruhete    dies 


7)  'Theoretisch  war  der  erste  bedeutende  Vertreter  des  Regalismus  iu  Deutsch- 
land G.  0 brecht  (1547 — 16t 2),  dessen  Secreta  politica  zu  Sirassburg  1617 
herauskamen.  Wie  er  sich  überhaupt  an  die  französische  Literatur  anlehnt,  so 
namentlich  in  Onanzieller  Hinsicht.  Vgl.  Koscher  in  den  Abhh.  der  K.  sächs. 
Gesellsch.  IV,  (t865)  277  (T.  und  Gesch.  der  N.  Ö.  in  Deutschland  I,  tSl  ff. 
Die  Eigcnthümlichkeit  Obrechts  wird  besonders  klar,  wenn  man  ihn  mit  dem  sehr 
gemässigten  Regalismus  seines  jungem  Zeitgenossen  Besold  vergleicht.  (Röscher, 
Gesch.  der  N.  ö.  I,  204).  Dagegen  ist  Gleich  mann's  Kurtzcr  Begriff  von  einer 
unbetrüglichen  fürstlichen  Machtkunst  (1740)  beinahe  als  ein  Obrecht  redivivus  zu 
betrachten.  In  der  Praxis  entspricht  dem  besonders  früh  der  Erzbischof  von  Salz- 
burg seit  1587  (vgl.  Ranke  Päpste  II,  133);  einigermassen  auch  Württemberg,  wo 
das  frühzeitige  Ausscheiden  des  Adels  aus  dem  Landesverbände  die  Regalisirung 
erleichterte,  und  es  sogar  seit  dem  4  6.  Jahrb.  zu  einem  allgemeinen  Schäferei- 
regale kam. 

t)  In  dem  kreuzzugseifrigen  Burgund  auch,  wenn  der  Lehnsherr  nach  Je- 
rusalem zog ;  bei  geistlichen  Fürsten,  wenn  sie  zum  Concil  reisten,  oder  bei  ihrer 
Consecration.  Ein  deutscher  Reichsgraf  erhob,  als  er  ein  Bein  gebrochen  hatte, 
lange  Zeit  eine  Beinbruchsteuer.  (Pütter,  Histor.  Entwicklung  II,  276).  Wie  in 
Deutschland  die  Hintersassen  beim  Eintritt  der  Lehnscasus  Bede  zahlen  mussten, 
s.  Eichhorn,  D.  St.  und  R.  Gesch.   II,  §.   306. 

2)   Die  alte  Fräuleinsteuer,   wenn  eine  Prinzessin  sich  vermählte^  haben  die 


120  Wilhelm  Röscher,  [6 

»ratiouabile  auxilium«,  als  das  Reichskatasler  in  Verfall  -gerathen  war, 
auf  einer  Selbstdeclaralion  der  Vasallen  über  den  Stand  ihres 
Lehens.  Namentlich  hat  das  Lösegeld  kriegsgefangener  Herr- 
scher activ  und  passiv  eine  gewaltige  Bedeutung  für-  die  Finanzen 
des  spätem  Mittelalters.^)  In  England,  wo  fast  aller  Grundbesitz  für 
Lehen  galt,  war  jeder  grössere  Landeigenthümer  *)  als  Vasall  zu  Kriegs- 
und Paradedienst  verpflichtet,  oder  musste  sich  durch  ein  scutagium 
(escuage)  davon  loskaufen.  Auch  in  Deutschland  spielt  die  heresture 
anstatt  des  wirklichen  Kriegsdienstes  eine  bedeutsame  Rolle.  ^)  Solche 
Abgaben  wurden  um  so  wichtiger,  je  öfter  es  vorkam,  dess  Ril- 
terlehen  in  eine  nichtritterliche  Hand  geriethen.  ^)  Ebenfalls  einträg- 
lich   waren    die   Abgaben    von    den   Turnieren,    sowie   vom  Ritter- 


preussischen  Könige  seit  Friedrich  Wilhelm  I.  nicht  mehr  gefordert,  »weil  die 
Unterthanen  so  schon  genug  steuern  müssten. «  [Preuss.  Gesch.  Friedrichs  M. 
IV,    429). 

3)  Richards  I.  Lösegeld  betrug  150,000  cöln.  Mark  Silbers ;  das  Ludwigs  IX. 
800,000  Byzantiner.  (Joinviile :  nach  Lcblanc  =  3879000  Livres.)  K.  Enzio 
erbot  sich,  zu  seiner  Ranzion  einen  silbernen  Ring  zu  geben,  der  ganz  Bologna 
umfasste.  [Petr.  de  Vineis  Epist.  III,  47J.  Ahnlich  berühmt  sind  die  Lösegeldcr 
für  die  Könige  von  Schottland  und  Frankreich,  die  Eduard  III.  gefangen  hatte. 
Nach  Leber  Essai  sur  Tappreciation  etc.,  Append.  wäre  die  Ranzlon  St.  Ludwigs 
in  unseren  Tagen  33  Mill.  Fr.  werlh  gewesen,  die  K.  Johanns  tM^/2  TWilL,  die 
Franz  I.  nach  Pavia  84^2  Mill.  Der  Aufstand  der  s.  g.  Jacquerie  grossentheils 
eine  Folge  der  Lösegelder  des  bei  Poiticrs  gefangenen  französischen  Adels,  die  25, 
ja  50  Proc.  des  Güterwerthes  betrugen  und  nun  von  den  Bauern  erpresst  werden 
sollten.  (Sismondi,  Hist.  des  Fr.  X,  486).  Sehr  charakteristisch,  dass  Berlrand 
du  Guesclin  sein  Lösegeld  selbst  hoch  ansetzte,  in  der  sichern  Hoffnung,  alle  fran- 
zösischen Damen  und  Ritter  würden  beisteuern.  Selbst  die  Königin  von  England 
that  dies.      (St.  Palaye  Ritterwesen  übers,   von  Klüber  I.   3<0). 

4)  Unter  Heinrich  II.  jeder  Besitzer  eines  Landgutes,  das  für  den  Unterhalt 
eines  Reisigen  gross  genug  war.  Der  Klerus  entzog  sich  gern  zugleich  der  Dienst- 
pflicht und  dem  Ersatzgelde.      (A.  Thierry  Hist.  de  la  conqucte,  Livre  IX.   pr.) 

5j  Unter  Konrad  II.  ein  Drittel  der  einjährigen  Einkünfte ;  nach  Friedrich  L, 
dem  Österreichischen  Landrecht ,  dem  cölner  Dienstrecht  die  Hälfte ;  für  gewisse 
Fälle  im  sächsischen  Lehnrecht  nur  \0  Proc.  (Homeyer,  Sachsenspiegel  II,  2,  381.) 
In  seinem  Kriege  mit  Frankreich  miethete  Heinrich  II.  H59  für  das  scutagium 
brabantische  Söldner.      (Wachsmuth,  Sittengesch.   III,   2,    K18). 

6)  Die  nichtritterlichen  Erwerber  eines  Lehngutes  mussten  dasselbe  zu  fmnc- 
fief  loskaufen.  In  Frankreich  eine  Taxe  darüber  von  Philipp  III.  4  275;  Philipp 
IV.  setzte  1291  den  dreifachen  Jahresertrag  fest;  wenn  gar  kein  Kriegsdienst  ge- 
leistet wurde,  sogar  den  vierfachen.  (Warnkönig-Stein,  Franz.  St.  und  R.  Gesch. 
I,   354  pg.   629  ff.). 


'7]  Versuch  einkr  Theorie  der  Finanz-Regalien.  121 

schlage,  wozu  jeder  bedeutende  Vasall  genöthigl  werden  konnte.') 
Beim  Tode  eines  Vasallen  pflegte  der  Nachfolger,  weil  die  Lehen 
ursprünglich  nicht  erblich  gewesen  waren,  den  einjährigen  Ertrag 
seines  Gutes  als  relief  abgeben  zu  müssen.^) 

Über    minderjährige    Kinder    eines   verstorbenen    Vasallen   hatte 
der   König  die  tutela  fructuaria,  so  dass  er  den  Überschuss  ihres 
Einkoimnens  über  ihren  standesmässigen  Unterhalt  für  sich  nehmen, 
auch  die  weiblichen  Mündel  beliebig  verheirathen  konnte,  was  dann 
wieder  zu  einer  Menge  von  Erpressungen  führte.    Frankreich  scheint 
dieses  Recht  der  guardia    (in   Bretagne  bail)  nur  in  der  Normandie 
und    Bretagne   gekannt    zu   haben;    auch   da    wurde    es    seit    1275 
mit    einem    relevium    abgelöst.     (Warnkönig-Stein    II,    268  If.).      In 
Deutschland   (vgl.   Auetor   vetus   de   benef.  I,  67)   ist  es  selten  ge- 
handbabt   worden   (Waitz,  D.    Verf.   Gesch.   VI,  67).    Dagegen  wur- 
den in  England  auf  die  wardship  förmlich  Gehalte  fundirt:  so  bezog 
der    Protector    Heinrichs   VI.    jährlich    4000    Mark    von    den    Lan- 
casterschen   Einkünften,    1700   aus  dem  königlichen  Schatze,    2300 
von   zwei   minderjährigen  Lords.     Noch   Elisabeth   hat  wohl   Günst- 
linge durch  Zuweisung  reicher  Mündel  belohnt.     (Hume  Bist,  of  Eng- 
land, Ch.  44,  App.  3).     Erst   1648  musste  die  Krone  definitiv  dar- 
auf verzichten.    In  England  hatte  die  Mündel,  wenn  sie  die  Heirath  ab- 
lehnte, so  viel  zu  zahlen,  wie  der  Freier  bona  fide  zu  zahlen  bereit  ge- 
wesen  war.    (Blackstone  Comment.  II,  p.  70:  vgl.  20  Henry  HI  ,  c.  6.) 
Philipp  der  Gute  zwang  reiche  Wittwen  oder  Erbtöchter  zur  Heirath 
mit   seinen  Dienern;    wesshalb   es  wohl   vorkam,    dass  Wittwen  aus 
Furcht  hiervor  nach  eigener  Wahl  heiratheten,  bevor  noch  ihr  erster 


7)  Heiorich  III.  und  Eduard  I.  führten  es  ein ,  dass  jeder  Vasall  von  ^0 
oder  mehr  £  St.  Einkommen  zum  Ritterschlag  konnte  angehalten  werden.  Elisa- 
beth machte  davon  einmal  Gebrauch.  Obscbon  die  Stuarts  die  Gr'änze  auf  40  J^ 
St.  erhöht  hatten,  wurde  wegen  der  Geldentwerthung  dies  Regal  doch  immer 
drückender.     (Hallam  Constitut.  History  of  England  II,  Gh.   8.) 

8)  Frankreich  erhob  das  relevium  in  allen  den  Fällen,  wo  das  Lehen  nicht 
in  gerader  Linie  vererbte;  auch  hier  meist  im  Fruchtgenusse  eines  Jahres  beste- 
hend. So  bei  Beaumanoir  und  in  den  Etablissements  de  St.  Louis.  In  Deutsch- 
tand gab  noch  Heinrich  II.  die  Erblichkeit  der  Lehen  nicht  formell  zu,  überliess 
sie  jedoch  factisch  in  der  Regel  den  Söhnen  der  früheren  Vasallen ,  wofür  aber 
z.  B.  der  Markgraf  der  Nordmark  SIOO  Pfd.  Silbers  zahlen  musste.  (Giesebrecht, 
D.  Kaiser  Gesch.  II,   65.) 


122  Wilhelm  Röscher,  [^ 

Mann  begraben  war.  (Sismondi  Hisl.  des  Fr.  Xlll,  601).  Iq  Öster- 
reich wurde  ein  ähnliches  Regal  zwar  1212  abgeschafft,  aber  fac- 
tisch  doch  lange  nachher  noch  als  »Fürbitte«  des  Landesherrn  ge- 
übt. Maximilian  1.  wollte  es  sogar  in  den  Reichsstädten  geltend 
machen. 

Die  Erlaubniss,  ein  Lehngut  zu  veräussern,  mussle  Iheuer 
bezahlt  werden:  in  England  mit  33 Va  bis  iOO  Proc.  des  jährlichen 
Ertrages,  in  Frankreich  (quint  et  requint)  gewöhnlich  mit  24  Proc. 
des  Kaufschillings '^).  Dazu  das  Ueimfallsrecht  beim  Aussterben 
der  Yasallenfamilie:  in  Zeiten,  wo  der  Ritterdienst  noch  eine  Wahr- 
heit und  Weiberlehen  schon  darum  selten  waren,  gewiss  eine  be- 
deutende Einnahmequelle.  ^") 

Das  Recht  des  Herrschers,  die  für  den  Bedarf  seiner  Hofhal- 
tung nOthigen  Lebensmittel  auf  Reisen  und  in  der  Umgegend  seiner 
Residenz  entweder  ganz  unentgeltlich  oder  für  einen  selbst  gesetz- 
ten Preis  zu  requiriren,  (droit  de  prise,  purveyance  and  preem- 
tion) ,  fand  seine  Stütze  in  dem  Lehnsgedanken ,  wonach  die 
meisten  Landgüter  eigentlich  Domanialboden  waren,  der  nur  unter 
Vorbehalt  gewisser  Rechte  ausgethan  worden.  Freilich  ein  Recht, 
das  mit  dem  Aufkommen  der  Geldwirthschaft  ebenso  unnöthig,  wie 
mit  dem  Aufkommen  ständiger  Residenzen  unerträglich  werden 
musste  **). 


9)  Französisches  Beispiel  solcher  Lods  et  venles  schon  1077.  Der  Name 
favor,  aucloritas  etc.  bedeutet  die,  eben  mittelst  der  Abgabe  erkaufte  Genehmi- 
gung des  Lehnsherrn.      (Warnkönig-Stcin  II,   366  if.). 

1 0)  Perraro  accidere  solet  ut  non  inlra  centum  annorum  curriculuni  feuda  ad 
dominum  revertantur.  (Latherus  De  ccnsu  III,  {.),  L.  starb  1640.  Hierauf  be- 
ruhet die  Abgabe,  welche  von  Kirchen  etc.,  überhaupt  von  der  todten  Hand  ge- 
zahlt  werden  musste,  wenn  dieselbe  ein  iehnsptlichtiges  Gut  erwerben  wollte. 
Nur  der  König  konnte  amortir  souverainemcnt ,  und  Hess  sich  für  die  nun  weg- 
fallenden reliefs,  ventes  etc.  entschädigen   (Stein- Warnkönig  I,   239). 

H)  Über  den  Zustand  der  purveyance  unter  den  Eduards  s  Lingard  Hist. 
of  England  IV,  150  fr.,  Eduard  HI.  beschränkte  dies  Regal  1362  auf  König  und  Kö- 
nigin, befühl  auch,  dass  immer  die  Marktpreise  gezahlt  werden  sollten.  Nach 
Anderson  0.  of  Commerce  s.  a.  ohne  Erfolg.  Gleichwohl  vertheidigte  das  Re- 
gal noch  in  der  Stuarlischen  Zeit  Fab.  Phillips  The  antiquity,  legality,  reason,  duty 
and  neccssity  of  purveyance  and  preemtion  for  the  king,  the  small  Charge  and 
burthcn  thereof  to  the  peoplc  etc.  In  Frankreich  wurde  das  Requisitionsrecht 
selbst  für  manche  hohe  Beamte  und  zwar  auch  für  Mobilien,  Bettwäsche  etc.  aus- 


d]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  123 

Vergleicht  man  die  Gesammtheit  dieser  Lehnseinkünfte,  die  na- 
türlich mit  dem  Lehnvveseii  selbst  hinschwinden  mussteu  (s.  mein 
System  der  Volkswirthschaft  Bd.  II,  §.  90.  96),  mit  einem  heutigen 
Steuersysteme,  so  zeigt  sich  ein  ähnlicher  Unterschied,  wie  der  zwi- 
schen Laudemien,  Mortuarien  etc.  und  den  heutigen  Pachtschiliingen. 
(Vgl.  mein  System  Bd.  II,  §.  115).  Dort  die  grösste  Unregelmässigkeit. 
ZufUllige  Standes-,  Altersverschiedenheiten,  zufällige  Conflicte  mit  der 
Staatsgewalt  statt  der  wirkliehen  SteuerPahigkeit  als  Norm  betrachtet. 
Nicht  selten  Umlage  nach  dem  Rechte  des  Stärkern :  derjenige  be- 
steuert, der  sich  nicht  dagegen  wehren  kann.  Gleichwohl  schon  hier 
in  den  Schutzverbindungen  der  Vasallen  der  erste  Keim  parlamen- 
tarischen Lebens.  ^*^) 

3. 

Eine  zweite  Gruppe  von  iMassregeln,  um  das  geschmälerte  Do- 
manialeinkommen  zu  ersetzen,  bestand  darin,   dass   alle  herren lo- 


geübt, mitunter  selbst  Handel  mit  den  requirirten  Gütern  getrieben.  (Sismondi 
XII,  225.  268).  Wegen  solcher  Missbräuche  1355  Widerstand  erlaubt  (Ordon- 
nances  III,  28  tr.);  1407  jede  prise  auf  4  Jahre  verboten.  (Ordonn.  IX,  250). 
Gleichwohl  hat  ein  Überrest  1 0  Lieues  um  die  Residenz  herum  bis  zur  Revolution 
fortgedauert.  (Journ.  des  Econ. ,  Nov.  1864,  2520*.).  In  Deutschland  erregte 
Heinrich  IV.  durch  solche  Requisition  in  Sachsen  grossen  Unwillen.  Von  späteren 
Überresten  s.  v.  SeckendorlFs  D.  Fürstenstaat  III ,  2.  K.  Hans  von  Dänemark 
(t  1513)  Hess  sich  für  die  Naturalbewirthung  auf  seinen  Reisen  gern  mit  100 
Mk.  pro  Nacht  abfinden.  (Dahlmann  Dänische  Gesch.  III,  310).  Die  spanische 
Insurrection  von  1521  forderte  namentlich  auch  die  AbschaU'ung  dieses  Regals,  [del 
yantar) .  Übrigens  ündet  sich  Ähnliches  in  vielen  orientalischen  Despotien :  so  im 
alten  Persien  (Herodot,  YII,  118(1.  Plutarch.  Artax.  4  tf.),  im  mongolischen  Reiche 
Id'Ohsson  Hist.  des  Mongols  lY,   405 ff.):   überall  mit  argen  Missbräuchen. 

1 2)  In  der  Magna  Charta  Johanns  wurde  z.  B.  gegen  die  Missbräuche  der 
wardship  versprochen :  dass  sie  nur  bei  Ritterlehen  staltfinden ,  der  Vormund  für 
gute  Verwaltung  verantwortlich  sein,  die  Erben  nur  standesgcmäss  und  nach  Billi- 
gung der  nächsten  Angehörigen  vermählt  werden  sollten.  Aber  schon  Heinrich  I. 
hatte  Ähnliches  versprochen!  Übrigens  wurde  noch  17.  Edw,  II.  durch  ausdrück- 
liches Gesetz  die  wardship ,  das  Vcrmählungsrccht  der  Mündel  j  der  erstjährige 
Fruchtgenuss  beim  Tode  des  Vasallen,  das  Verbot  der  Lehenveräusserung  ohne 
k.  Conscns  etc.  anerkannt.  In  der  halbabsolutistischen  Zeit  der  Tudors  sind  dann 
viele  zuvor  eingeschlafene  Lehnsgefälle  energisch  wieder  aufgeweckt  worden.  Vgl. 
Lingard  V,  456  ff.  Sehr  reiches  Material  über  die  Zeit  von  Wilhelm  I.  bis  Eduard 
III.  in  Madox  Uislory  and  antiquities  of  the  Exchequer   (1711)   p.   150 — 475. 


124  Wilhelm  Röscher^  l^O 

sen  Guter  für  Krongut  erklärt  wurden:  also  im  Kleinen  gleich- 
sam die  Wiederholung  des  Actes,  welcher  im  Grossen  früher  auf 
erobertem  oder  neubesiedeltem  Gebiete  das  Domanium  geschaffen 
hatte.  Dahin  gehören  die  Ansprüche  der  Krone  auf  alles  nicht  ent- 
schieden, etwa  durch  Urbarung,  ins  Privateigenthum  übergegangene 
LandJ)  Spätere  Juristen  haben  wohl  gelehrt,  dass  nur  die  Ober- 
fläche des  Landes  Privateigenthum  geworden  sei,  das  s.  g.  Luft-  und 
Landrevier  (Luftsäule  und  Untergrund)  dem  Staate  gehören^): 
woraus  man  nicht  bloss  ein  Jagd-  und  Berg-,  sondern  auch  ein  Wind- 
muhlenregal  folgerte.  Hauptsächlich  wurden  alle  grösseren  Flüsse  als 
regal  betrachtet:  nicht  allein  hinsichtlich  der  Fischerei  und  Wasser- 
mühlen, sondern  auch  in  ihrer  Eigenschaft  als  Wasserstrassen,  (Flös- 
sereiregal) . 

Wie  man  im  Anfange  der  neuern  Zeit  über  die  Stromzölle 
dachte,  zeigt  am  deutlichsten  das  französische  Edict  von  1616,  wel- 
ches ihre  Verdoppelung  anbefahl,  pour  soulager  le  peuple,  ^)  In  Wahr- 
heit freilich  ist  ein  Staat,  der  seine  finanziellen  Bedürfnisse  durch 
erschwerte  Benutzung  seiner  natürlichen  Wasserstrassen  deckt,  einem 
Fuhrmann  zu  vergleichen,  welcher  die  Last  seinen  Pferden  an  die 
Beine  bindet.  Weil  diese  Einnahme  jedenfalls  dem  Verkehre  mehr 
schadet,  als   sie   dem  Fiscus  nützt^),    so  ist  sie  volkswirthschaftlich 


\)  In  Polen  gehörte  während  der  zweiten  Hälfte  des  4  2.  Jahrh.  alles  Land^ 
das  nicht  im  Privatbesitze  war^  ebenso  die  Jagd  und  Fischerei  dem  Könige.  Nur 
er  durfte  Mühlen,  ja  selbst  Burgen  und  Städte  anlegen,  was  erst  im  4  3.  Jahrh. 
mittelst  besondern  Consenses  auch  dem  Adel  erlaubt  wurde.  (RÖpell  Gesch.  von 
Polen  I,  3200*.).  In  Schweden  verlangte  Gustav  Wasa  die  sämmtlichen  Alraen- 
den,  bisher  Gemeindeland ,  für  die  Krone :  alles  unbebaute  Land ,  alle  Wälder, 
Flüsse  mit  Fischereien  und  Mühlenwerken,  Seen  etc.  Lauter  Ansprüche,  die  wohl 
schon  früher  einmal  anklingen,  (in  dem  angeblichen  Gesetze  von  Helyandsholm, 
1282),  aber  doch  nun  erst  recht  deutlich  und  systematisch  ausgeführt  werden. 
Gustav  meinte  sogar,  dass  alle  steuerbaren  Höfe  eigentlich  auf  Kronland  errichtet 
wären  und  ihren  Bauern  wegen  schlechter  Wirthschaft  etc.  genommen  werden 
könnten.  (Geijer  Schwed.  Gesch.  H,  4  04  If.  SIStT.).  Welche  Handhabe  für 
Grundsteuern  und  Wirthschaftspolizei ! 

2)  Biener  De  natura  et  indole  dominii,  §.  20.  25.  Fischer  Kameral-  und 
Polizeirecht  II,   388  ff.   877. 

3)  Forbonnais  F.  de  Fr.  I,   4  54. 

4)  Der  Zoll  von  Yienne,  dem  alle  Waaren,  die  aus  den  Provinzen  nördlich 
von  Lyon  nach  den  südlichen  und  umgekehrt  gelangten,  unterworfen  waren, 
hemmte  den  Verkehr  dermassen,  dass  ein  Pächter  der   cinq   grosses  fermes   4  64  4 


^4]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz- Regalien.  125 

zweckmässig  nur  insofern,  als  sie  von  Ausländern  erhoben  wird. 
Namenilich  haben  Staaten,  welche  die  Mündung  eines  Stromes  be- 
herrschen, nicht  selten  versucht,  dem  ganzen  obern  Stromgebiete 
einen  Zolltribut  aufzulegen:  wie  überhaupt  der  Lauf  eines  Stromes 
um  so  wichtiger  zu  werden  pflegt,  je  mehr  er  sich  der  MUndung 
nähert. 

Der  grösste  Krieg  der  Bologneser  wurde  1270  —  73  geführt, 
um  sich  des  venetianischen  Zolles  an  der  Pomündung  zu  erwehren 
(Sismondi  Gesch.  der  ilal.  Republiken  IV,  31).  Wie  sich  schon  Gu- 
stav Adolf  des  Zolles  in  Pillau  bemächtigt  hatte,  der  1629  an  500000 
Thir.  eintrug  (Geijer  Schwed.  Gesch.  III,  152),  so  nahmen  die  Schwe- 
den 1632  auch  die  Zölle  zu  Wismar  und  Warnemünde  in  Besitz, 
schon  1631  die  pommerschen  Küstenzölle  (Erdmannsdörfer  Urkunden 
z.  Gesch.  des  grossen  Kurfürsten  I,  1011*.  IV,  840  fr.)  und  beherrschten 
von  1648  bis  1719  die  Elbe  und  Wesermündung.  Auch  Dänemark 
hat  eine  Zeitlang  durch  den  Sundzoll,  sowie  die  Zölle  von  Elsfleth 
und  Giückstadt  eigentlich  alle  deutschen  Nordküsten  besteuert.  Von 
einer  andern  Seite  her  beleuchtet  es  ähnliche  Verhältnisse,  wenn  Jo- 
seph II.  sich  die  Fortdauer  der  Scheidesperrung  für  eine  Zahlung  von 
9V2  Mill.  Fl.  aus  Holland  und  Frankreich  gefallen  lässt.  (K.  Ad.  Men- 
zel N.  Deutsche  Gesch.  XII  a,  223.)  Lange  Fortdauer  des  Brunshäuser 
Zolles,  der  nach  der  ElbschifiTahrtsacte  den  Deutschen  als  Seezoll, 
den  Engländern  als  Stromzoll  dargestellt  wurde.  (Edinb.  Rev.  1842, 
January).  Hollands  Anspruch,  auf  der  idealen  Linie,  wo  der  »freie« 
Rhein  sich  mit  dem  Meere  verbindet,  ganz  beliebige  Verkehrshinder- 
nisse errichten  zu  dürfen,  der  freilich  •dem  Wortlaute  des  Pariser 
Friedens  Gewalt  anthut,  (Art.  5:  La  navigation  sur  le  Rhin,  du  point 
oü  ü  dement  navigable  jusqu'ä  la  mer  et  reciproquemenl^  sera  librc^ 
de  leite  sorte^  qu'elle  ne  puisse  etre  interdile  ä  j)ersonne...  de  la 
maniere  la  plus  egale  ei  la  plus  favorable   au   commerce  de  loutes 


einen  bedeutend  hohem  PachtschilHng  bot,  falls  dieser  Stromzoll  abgeschatft 
würde.  (Forbonnais  F.  de  Fr.  I,  40  ff.)  Der  Zoll  von  Valence  nebst  der  fisca- 
lischen  Erweiterung  der  Douane  von  Lyon  drückte  die  Fabriken  von  Lyon  und 
Tours  so  sehr,  dass  sie  nur  ein  Drittel  der  früheren  Arbeiter  beschäftigen  und 
des  frühem  Rohstoffes  verbrauchen  konnten.  Daher  die  betheiligten  Provinzen 
dringend  eine  Yertauschung  dieses  Zolles  mit  anderen  Zahlungen  wünschten.  (For- 
bonnais I,    4  63  ff.   4  67). 


126  Wilhelm   Röscher,  [12 

les  naiions)^  ist  doch  wegeu  der  Uneinigkeit  der  oberen  Uler- 
staaten  erst  nach  der  Spaltung  des  Hhein-Maas-Schelde-Mündungs- 
landes  in  zwei  nebenbuhlerische  Staaten  aufgegeben  worden.  Sehr 
natürUch  also,  dass  im  Mittelalter  die  Stromzölle  mit  dem  Wach- 
sen der  Landeshoheit,  welches  den  Begriff  des  Auslandes  erwei- 
terte, zugenommen,  neuerdings  aber  mit  den  Mediatisirungen  und  der 
Ausbildung  von  Nationalstaaten  wieder  abgenommen  haben. 

Im  Zollwesen  des  Mittelalters  stehen  reichsrechtlich  zwei  Grund- 
sätze fest:  A.  Dass  nur  die  Krone  berechtigt  ist,  Zölle  zu  erheben, 
zu  verleihen,  Befreiung  davon  zu  verfügen  etc.  So  in  Karls  M.  Capi- 
tularien  von  779,  781,  803,  805,  809.  Noch  1157  von  Friedrich 
Barbarossa  kräftig  in  Erinnerung  gebracht  (Pertz,  Mon.  IV,  104),  von 
Friedrich  II.  ISSIO  doch  nur  insofern  geändert,  als  künftig  die  könig- 
liche Zollgesetzgebung  an  den  Rath  und  Willen  der  Fürsten  gebunden 
sein  sollte.  (Pertz,  Mon.  IV,  228).  B.  Dass  Zölle  nur  als  Entgelt  für 
einen  dem  Zahler  geleisteten  Dienst  erhoben  werden  sollten.  Wenn 
z.  B.  ein  Schifi'  per  mediam  aquam  aul  suh  pontem  ierit.  also  ohne 
anzulanden  oder  eine  Brücke  aufziehen  zu  lassen,  leloneum  non  de- 
tur  (Cap.  Ludov.  Pii  von  817).  Ganz  ähnlich  in  einem  Capitular 
Karls  des  Kahlen.  Diese  beiden  Grundsätze,  wenn  sie  streng  fest- 
gehalten wären,  hätten  eine  bedeutende  Ausbildung  der  Stromzölle 
verhüten  müssen.  Da  indessen .  selbst  Karl  M.  im  Capitular  von  805 
gegen  Zölle  einschreiten  musste ,  wo  Seile  über  den  Fluss  gespannt 
und  den  Reisenden  gar  keine  Hülfe  geleistet  war;  im  Capitular  von 
809  gegen  Brücken  über  trockenes  Land:  so  begreift  man,  wie  in 
der  Zeit  des  aristokratischen  Wahlreiches  nach  und  nach  gerade  die 
Stromzölle  besonders  zunahmen  und  durch  Finanznoth  der  Krone, 
Erkaufung  von  Wahlstimmen,  auch  reine  Usurpation  mehr  und  mehr 
in  die  Hand  der  Landesherren,  Städte,  ja  nicht  selten  blosser  Privat- 
leute geriethen.  Lange  Zeit  war  diese  Abgabe  den  Regierungen 
um  so  willkommener,  als  sie  nicht  bloss  der  Krone  Gelegenheit  bot, 
ohne  eigene  Unkosten  Geschenke  zu  machen,  sondern  auch  bei  vor- 
herrschender Naturalwirthschaft  nicht  selten  die  einzige  Quelle  war, 
aus  der  sofort  eine  Geldeinnahme  bezogen  werden  konnte.  (Bod- 
mann  Rheing.  Alterth.,  746.)  Sehr  charakteristisch  sind  die  That- 
sachen,  dass  1579  ein  Pfalzgraf  die  Erlaubniss  einer  Zollerhöhuog 
mit  der  Drohung  zu  erpressen  suchte,  widrigenfalls  sein  Land  einer 


<3]  Versuch  einer  Theorie  der   Finanz-Regalien.  127 

auswärtigen  Macht  abzutreten  (Falke.  Gesch.  des  deutschen  Zoll- 
wesens, 172);  und  dass  Kursachsen  lange  Zeit  das  einzige  Dorf,  das 
ihm  an  der  Oder  gehörte,  zu  einer  Bezollung  des  Stromes  benutzte, 
die  zwar  nach  dem  Hubertsburger  Frieden  aufhören  sollte,  aber  doch 
erst  mit  Abtretung  der  Niederlausitz  völlig  aufgehört  hat.  Weser- 
zölle  gab  es  gegen  Schluss  des  16.  Jahrh.  oberhalb  Bremen  auf  23 
Meilen  Länge  22;  Elbzölle  vom  Einflüsse  der  Moldau  bis  Hamburg  47 
(Falke,  170.  221.),  nach  v.  Keyssler  Reisen,  1740,  H,  1069  zwischen 
Pirna  und  Hamburg  32.  übrigens  war  auch  in  Frankreich,  trotz  der 
Reform  versuche  Colberts  (Lettres,  Instructions  et  memoires  de  C.  6d. 
Clement,  11,  426  fg.),  z.  B.  die  Loire  noch  um  die  Mitte  des  18.  Jahrh. 
mit  28  Zöllen  beschwert,  so  dass  man  die  Waaren  von  Paris  nach 
Nantes  oft  lieber  zu  Lande  gehen  liess.  (Forbonnais  F.  de  Fr.  l,  306.) 
Sehr  gut  kritisirt  durch  das  Arrßt  du  Conseil  vom  15.  August  1779 
(bei  Parieu  Tr,  des  Impots  III,  443 fg.),  obwohl  erst  die  Revolution 
1790  und  92  die  Aufhebung  dieser  Zölle  durchsetzte.  Diese  mon- 
ströse Folge  zu  hoher  Stromzölle,  den  schönsten  Strom  unbrauchbar 
zu  machen,  worauf  schon  J.  J.  Becher,  Polit.  Discurs  (1668)  11, 
1538  der  Zinkeschen  Ausg.  hindeutet,  war  auch  den  Alten  nicht  un- 
bekannt: s.  vom  Euphrat  Slrabo  XVI,  748. 

Für  Deutschland  macht  in  dieser  Hinsicht  Epoche  die  Aufhebung 
der  Oder-,  Netze-  und  WarthezöUe  durch  Friedrich  M.  (1750):  sowie 
auch  im  19.  Jahrh.  Preussen  mit  dem  guten  Beispiele  vorangegangen 
ist,  nicht  bloss  seinen  eigenen  Unterthanen  die  Stromzöllc  zu  erlas- 
sen, sondern  auch  1 828  mit  Anhalt  die  wechselseitige  Erlassung  der 
Elbzölle  zu  verabreden.  Inzwischen  hatte  der  Wiener  Congress  (Acte 
final  Art.  108 — 118)  und  die  deutsche  Bundesacte  (Art.  19)  für  die- 
jenigen Ströme,  die  mehrere  Staaten  durchziehen  oder  scheiden,  er- 
trägliche Grundsätze  festgestellt:  die  HandelsschiiTahrt  durchaus  frei; 
die  Schiffahrtspolizei  für  Alle  gleich  und  dem  Handel  so  günstig  wie 
möglich;  das  Abgaben-  und  Polizeisystem  für  den  ganzen  Strom  so- 
viel wie  möglich  dasselbe;  die  Stromzölle  scharf  getrennt  von  den 
Einfuhrzöllen  der  Uferstaaten,  möglichst  unabhängig  von  der  verschie- 
denen Beschaffenheit  der  Waaren,  damit  genauere  Untersuchung  der 
Schiffsladungen  vermieden  werden  kann,  und  nur  durc^h  gemeinsamen 
Beschluss  der  Uferstaalen  zu  erhöhen;  die  Erhebungsstellen,  deren 
möglichst  wenige  sein  sollen,    nur  durch  gemeinsamen  Beschluss  zu 


128  Wilhelm  Röscher,  [<4 

vermehren.  In  den  hierauf  basirten  Stromschiffahrtsacten  wurde 
nachmals  ein  Maximum  des  Zolles  für  die  ganze  Stromlänge  verab- 
redet, welches  zwischen  den  einzelnen  Staaten  je  nach  der  Länge 
ihres  Ufers  getheilt  werden  sollte.-^)  Endlich  erreicht  ist  das  wün- 
schenswerthe  Ziel  durch  Art.  54  der  deutschen  Reichsverfassung,  wo- 
nach auf  allen  natürlichen  Wasserstrassen  Abgaben  nur  für  die  Benutzung 
besonderer  Anstalten  zur  Erleichterung  des  Verkehrs  erhoben  werden 
und  deren  Kostenbetrag  nicht  übersteigen  dürfen. 

Derselbe  Regalismus,  wie  auf  die  Ströme,  hat  sich  auch  auf 
einzelne  leicht  beherrschbare  Theile  des  Meeres  {mare  clafisum)  aus- 
gedehnt^), und  zwar  ist  die  Zollerhebung  dort  wie  hier  nicht  bloss 
auf  den  Gedanken  des  Staatseigenthums,  sondern  auch  der  Sorge  für 
die  nöthigen  Wasserbauten,  Leuchtthürme  etc.,  mehr  noch  der  Schutz- 
gewiihrung  (§.  4),  oder  wenigstens  der  unterlassenen  Beraubung^ 
(Barbaresken !)  gestützt  worden.     Der  Sund  zoll,  aus  der  Zeit  her- 


5)  ElbschifTahrtsacte  von  4  824,  WeatrschifTabrtsacte  von  1823.  Förden 
Rhein,  wo  schon  der  Lüneviller  Friede  von  4  80  4  ,  der  Reichsdeputations-Haupl- 
schhiss  von  4  803  und  die  Octroiconvention  von  4  804  vorbereitet  hatten,  (auf 
dem  Rastadter  Congresse  hatte  Frankreich  sogar  für  alle  Deutschen  und  Franzosen 
ganz  freie  Rheinfahrt  gefordert  und  für  die  übrigen  deutschen  Ströme  dasselbe 
empfohlen!)^  ist  besonders  wichtig  der  Vertrag  vom  34.  März  4  834.  Es  ist  hier- 
durch an  der  Elbe  die  Zahl  der  Zolistätten  von  35  auf  4  4  vermindert  worden, 
an  der  Weser  von  24  auf  4  4.  Am  Rhein  blieben  von  Breisach  bis  Gorkum  45; 
(vor  4  803  allein  bis  zur  holländischen  Gränze  32,  mit  einem  jährlichen  Ertrage 
von  2  Mill.  Fl.).  Die  Weserzölle  sollten  pro  Schiflspfund  höchstens  34  5  Pfennig 
betragen:  davon  59  für  Preussen,  4  26  für  Hannover,  44  für  Hessen,  4  6  für  Braun- 
schweig, 4  3  für  Lippe,  60  für  Bremen.  Vgl.  Eichholf  Pragmatisch-geschichtliche 
Darstellung  der  Verhandlungen  und  Beschlüsse  des  Gongress-Comites  für  die  Freiheil 
der  Flüsse.  (4849).  Klüber  öff.  Recht  des  teutschen  Bundes,  §.  563  ff.  und  Acten 
des  Wiener  Congresses,  Bd.  HI.  Wheaton  Hist.  des  progrös  du  droit  des  gens, 
p.  4  05  ff.  G.  Schirges  Der  Rheinstrom.  (4  857).  Die  Elbzölle,  Actenstücke  und 
Nachweise.      (Leipzig  4  860). 

6)  So  nahm  Venedig  das  adriatische  Meer  in  Anspruch,  Genua  das  ligu- 
rische,  die  Türkei  das  ägeische  und  schwarze,  Spanien  und  Portugal  die  von  ihnen 
»entdecktentt  Meere,  Grossbritannien  die  vier  narrow-seas.  Vgl.  H.  Grotius  Mare 
liberum   (4  609)  und  J.   Borough  Imperium  maris  Brilannici    (4  686). 

7)  Dänemark  stützte  den  Glückstädter  Zoll  namentlich  darauf,  dass  es  den 
Eibstrom  gegen  fremde  Mächte  schützen  wollte,  wozu  Hamburg  etc.  nicht  »ba- 
slant«  seien  (Falke,  Gesch.  des  deutschen  Zollw.,  225).  Im  Sunde  hat  wohV  K. 
Christoph  4  447,  um  seiner  Geldnoth  abzuhelfen,  eine  Menge  friedlicher  Schiffe 
aufbringen  und  ihre  Ladung  verkaufen  lassen   (Geijer,   Schwed.  Gesch.  I,   24  4). 


45]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  129 

rührend,    wo  Dänemark   beide   Küsten   besass,   schon   im  10.  Jahr- 
hundert  in   Anspruch   genommen,    von    der   Hanse    1363   anerkannt 
(Sartorius,    Urkundenbuch ,     517.      Dahhnann,    Danische    Geschichte 
III,   135),  wurde  von  Dänemark  als  seine  Goldgrube  (gegen  Karl  V.), 
seinen    Weinberg    (Suhm),    das     schönste    Kronjuwel    (gegen   Fried- 
rich Wilhelm  III.)   bezeichnet,   und   musste  wirklich   mit  jedem  Aur- 
blühen    der  Ostseeländer  einträglicher  werden.      Zu  Anfang  des  18. 
Jahrhunderts   passirten   nur   3435  Schiffe  den  Sund,   1779  =  8272, 
1805  =  10950,   1821  =  11309,    1830  =  12946,    1844  =  17332, 
1853  =  21512.      Nattlrlich   wurde   dieser   Zoll    von    allen    fremden 
Völkern  um  so   mehr   gehasst,    zumal  ihn  Dänemark  durch  vertrags- 
widrige  Erhöhungen    und    mancherlei   Erhebungschicane    noch    ver- 
schlimmerte.     Schon   1628   bezeichnete  der   Kaiser    ihn   gegen    die 
Hansestädte  als  »einen  schädlichen  und  schändlichen  Tribut  von  ganz 
Germanien«.     (Mailath,    Osterreich.  Gesch.  III,  152.)      Das   Räthsel, 
wie  ein  so  kleiner  Staat  solchen  Tribut  aller  Welt  gegenüber  so  lange 
behaupten  konnte,  löset  sich  zum  Theil  durch  die  gegenseitige  Eifer- 
sucht der  anderen  Mächte,  für  welche  der  Sund  am  Ende  nur  Neben- 
sache war,  während  ihn  Dänemark  immer   als  eine  Lebensfrage  be- 
trachtete, die  man  durch  Verbindung  mit  der  Privatkasse  des  Königs 
(Justi,  Staatswirthschaft  II,  561.),   selbst   in   der  oligarchischen    Zeit 
ohne  Einfluss    der   Stände  (Geijer,  Scbwed.  Gesch.  III,  338  ff.),   für 
die  höchste  Instanz  niemals   in  Vergessenheit  gerathen  liess.     Indess 
haben  die  Dänen  sicher  in  ihrem  wahren  Interesse  gehandelt,  als  sie 
1857  den  Zoll,  (der  1853  über  2556000  Rbthlr.  eingebracht),  gegen 
eine  den  fremden  Staaten  je  nach  Verhältniss  ihrer  Sundpassage  auf- 
erlegte Kapitalzahlung   von  30903000  Rbthlr.    ablösen  Hessen.     Vgl. 
H.  Scherer,  Der  Sundzoll,  seine  Geschichte  etc.  (1845.)     Die  ältere 
Literatur  bei  v.  Kamptz,  N.  Literatur  des  Völkerrechts,  §  176.^)®) 

Zu   diesem  Regal   der  herrenlosen  Güter  zählen  wir  auch    die 
Ansprüche  des  Staates  auf  die  Erbschaft    ausgestorbener  Fa- 


8)  Der  in  mancher  Hinsicht  verwandte  Brunshäuser  Zoll  wurde  1861  mit 
einem  Kapital  von  298H34  Tbir.  abgelöst,  wovon  auf  Hannover  selbst  4  23796 
Tbir.  kamen.  Er  hatte  4  855—60  durchschnittlich  220000  Thlr.  rein  gewährt. 
Vgl.  die  Hamburger  Broschüre:  Freiheit  der  ElbschilTahrt  (4  880).  Ablösung  des 
Scheldezolls  mit  4  74  4  4  640  Fl.   am   4  6.  Juli   4  863. 

9)  Im  Alterthum  vergleicht  sich  hiermit  der  BosporoszoU.     Wie  die  Byzan- 


130  Wilhelm  Rosr.nRB.  i^ß 

milien:  in  jener  Zeit  der  Fehden  und  Seuchen  finanziell  weit 
bedeutender,  als  heute,  zumal  auch  das  jus  albinagii  den  König  als 
Patron  der  Fremden  zum  Erben  ihres  Nachlasses  machte.^®)  Das 
Recht  des  Staates  auf  gefundene  Sachen,  zu  denen  kein  EigenthUmer 
nachweislich  war,  in  barbarischster  Weise  beim  Strand  rocht;  auf 
Schatze:  damals  wiederum  finanziell  sehr  bedeutend,  weil  die  herr- 
schende Unsicherheit  so  häufig  Schatze  vergraben  Hess.  (Vgl.  mein 
System  Bd.  III,  §  19.  Bd.  I,  §.  220).  Wo  ein  Land  werthvolle  Nalur- 
producte  besitzt,  die  auf  rein  occupatorischem  Wege  zu  gewinnen  sind, 
da  liegt  die  Regalisirung  derselben  um  so  nüher,  je  mehr  sonst  zu 
fürchten  wäre,  dass  die  freie  Concurrenz  ihre  vorzeitige  Erschöpfung, 
vielleicht  auch  inzwischen  durch  ÜberfUllung  des  Marktes  ihre  Entwer- 
thung  bewirken  möchte. ^^)  Von  der  frühern,  nicht  bloss  finanziellen,  son- 
dern auch  wirthschaftspolizeilichen,  ja  politischen  Bedeutung  des  Jagd- 
regal s  und  seiner  spatern  Abstellung  s.  mein  System  Bd.  II,  §.  174 ;  des 
Bergregals  Bd.  III,  §.  1 80  ff.  Die  neueste  Entwicklung  des  Privatgrund- 
eigenthums  und  der  Gewerbefreiheit  haben  diese  Regalien  mehr  und 
mehr   eingeschränkt,   schliesslich  ganz   beseitigt.     Ihr  Ertrag   für  die 


tiner  diesen  aus  Geldnoth  ansehnlich  gesteigert  hatten ,  schriUen  die  beiheiligten 
Seemächte,  namentlich  Rhodos,  zum  Kriege  dagegen.  (Polyb.  FFT,  2.  IV,  38  ff. 
Dio  Chrysost.  Grat.   3^.    Vgl.   noch  Ilerodian.  FII,    <). 

\  O)  Droit  de  desherence  in  Frankreich  ;  daneben  noch  droit  de  bätardise.  Rocht 
auf  den  Nachlass  solcher  Bastarde,  die  ohne  eheliche  Nachkommen  starben  (Warn- 
kÖnig-Stein  I,  460  (T.)  Das  ältere  deutsche  Erbrecht  schränkt  die  Intestaterbfolge 
auf  einen  viel  engern  Kreis  von  Blutsverwandten  ein,  als  das  heutige  (Beseler.  D. 
Privatrecht,  §.  \  .50).  Wie  alle  jene  Rechte  oft  zwischen  Krone  und  Landesherren  strei- 
tig waren,  so  der  Anspruch  auf  den  Nachlass  eines  Bischofs  und  auf  die  bischöflichen 
Einkünfte  während  einer  Sedisvacanz  zwischen  Krone  und  Papst:  vgl.  Planck  Gesch. 
der  Christi,  kirchl.  Verf.  IV,   2,    95 IT.      v.   Raumer  Hohensfaufen  VI,    r54ff. 

H)  Das  droit  d'aubainc  stützt  sich  auf  das  Rechtssprüchwort :  der  Fremde 
lebt  als  Freier  und  stirbt  als  Unfreier.  Bei  irgend  höherer  Ausbildung  des  inter- 
nationalen Verkehrs  wird  dies  Recht  offenbar  unerträglich :  daher  schon  Fried- 
rich II.  es  1220  auHiob.  (Pertz  Monum.  Germ.  IV,  244).  In  Frankreich  seit 
dem  14.  Jahrb.  manche  Khissen  der  Fremden  befreiet:  so  die  Studierenden,  die 
castilianischen  Kaufleute.  In  Languedoc  wurde  1475  das  ganze  Recht  auf  Wunsch 
der  Stände  aufgehoben.  Überhaupt  1498  die  Schweizer,  1518  die  Schotten  davon 
eximirt.  Seit  1765  eine  Menge  von  Staatsverträgen  zu  wechselseitiger  Aufhebung. 
(Warnkönig-Stein  I,  460  ff.  631).  Dagegen  brachte  die  Confiscafion  des  Fremden- 
nachlasses Mehemet  Ali  1814  über  10  Mill.  Piaster  ein;  er  soll  desswegen  Pesten 
gern  gesehen  und  Quarantänen  versäumt  haben.      (KiUer  Erdkunde  XIII,   319). 


^"^1  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regauen.  4  31 

Staatskasse  war  auch  vor  ihrem  ganzlichen  Aufhören  nur  gering: 
zumal  wenn  man  die  Jagd  in  Staatswäldern  ^^)  und  den  Bergbau  in 
den  eigenen  Gruben  des  Staates  als  Privaterwerb  der  Regierung  aus- 
scheidet. ^^)     Jedenfalls  hat  das  im  Mittelalter  so  wichtige  Regal  der 

12)     Vgl.    V.    Schlözer,    Anfangsgründe    II,     150.     Schon    früher    J.  G. 
Fichte  Naturreoht   (Werke  lU,   22 HF.)    Fulda's  Theorie,   wonach  bloss  das  re- 
galisirt  werden  soll ,   was  » nicht  wohl  an  sich  oder  nicht  ohne  fortdauernde  Auf- 
sicht   und  Mitwirkung   des  Staates  Privateigenthum   sein    und    als   solches   gehörig 
benutzt   werden   könnte«  (Finanzwissenschaft,   8i),    würde  sich    heute   mehr   auf 
Eisenbahnen  etc.,  in  früherer  Zeit  auf  Bergwerke  beziehen.  —  Hierher  gehört  das  Re- 
gal des  Bernsteins  in  Preussen   (seit  Kaiser  Friedrich  II.  dem  Orden  verliehen  und 
im   ii,  Jahrh.  wohl  aus  Brügge  allein  bis  3000  Mk.  Silber  einbringend :   J.  Voigt, 
Preuss.  Gesch.  VI,  629  ff.),  des.sen  Ertrag  1871  zu  62253  Thlr.  veranschlagt  wurde; 
das  Regal  der  Perlenfischerei  im    sächsischen  Vogtlande   (seit  4  620i   der  Diaman- 
ten In  Brasilien  und  Ostindien   (K.   Ritter  Erdkunde  VI,   356),    der  Rubine  in  Ba- 
dakschan,   wo  es  schon   M.   Polo    kennt  (Ritter  VII,   789),   der  Jaspise   in  Khotan 
(VII,    380),    der  Türkise    in  Khorossan    (VIII,   330)^    des  balsamischen    Erdöls   in 
Persien   (VIII,   762),    der    Vögel,    welche    die   schönsten    Federbüsche   liefern,    in 
Kaschmir  (III,    4  4  60),  der  Sandelholzwälder   und  Elephantenjagd    in  Ostindien   (V, 
84  8.    924),    des    Ginsengs    in   der  Mandschurei    (II,   95);    das  R.  des  Schnees  in 
vielen  warmen  Ländern:   Kirchenstaat  (Niebuhr  Revolutionsgesch.  II,   374),  Sici- 
lien   (Brydone   Letters,    8),    Portugal    (Link    Reise    III,    4  23)',    Mexico    (Humboldt 
Neuspanien  V,   2),   Kalifat.     (Stüwe  Handelszüge  der  Araber,    4  64).     Sehr  zweck- 
mässig  das    Guanoregal   in    Peru,    das    4  875|6    fast  ^/^    der  Staatseinnahme   trug: 
=  93800000  Fr.    (Leroy-Beaulieu  Sc.  des  F.  I,   23).     Als  man  freilich  in  Sach- 
sen von    4  620 — 4  836    die  Vorschrift   hatte,    dass   alle  Serpentinblöcke   von    einer 
gewi.ssen  Grösse  unentgelllich  an  den  Stiat  geliefert  werden  sollten,   bewirkte  dies 
Regal ,    dass  nun  die  Brecher  fast  alle    grösseren  Stücke   zerschlugen !      Ähnlicher 
Einfluss  des  frühern  französischen  Maslbaumregals :    mein  System  Bd.  H,  §.    4  94. 
4  3)    In  Baden  trug   die  Jagd    dem    SUate  ein   4  830  =  4376  Fl.    4  834    = 
4  9297   Fl.,  seit  4  837  durchschnittlich  32000  Fl.      Die    Zunahme    rührte    her  aus 
der  immer  mehr  vorherrschenden  Verpachtung.      (Rau    F.-W.    II,    §.   4  94).     Das 
letzte  k.  sächsische  Budget  vor    4  848    schlug   den  Ertrag  zu  8800  Thlr.   an.      In 
Russland  wurde  die  Fischerei  von  Astrachan,   früher  regal,     4  763  der  Kaufmann- 
schaft gegen  eine  Abgabe  von  jedem  Pud  Caviar  und  Hausenblase  überlassen,   4  802 
aber  Jedermann  freigegeben.      (Storch  Russland  unter  Alexander  I.,   Hft.  X,  24  ff.). 
4  4)    In    Preussen    ertrugen    4  883/4    die    Staats  -  Berg  - ,    Salz-    und    Hütten- 
werke roh  96470000  Mk.,   rein   4  54  92000:   das  letztere  2,8  Proc.  vom  Reinein- 
kommen  des  Staates  überhaupt.    Im  K.  Sachsen  die  Bergwerke  855060,   die  Koh- 
lenwerke des  Staates  54^2500,   zusammen  2,06  Proc.  des  reinen  StaaUseinkommens. 
In  Bayern  die  Salz-  und  Bergwerke    rein    794  000    (0,28  Proc),   in  Württemberg 
die  Berg-    und  Hüttenwerke    450000  Mk.  ,    (0,28   Proc),    in  Russland    die  Berg- 
und  Hüttenwerke  nach  dem  Voranschlage  für  4  883  =  6487000  Rubel,   das  Berg- 
regal =   2589000    (4,29  Proc).      Ob    der  Staat    besser    thut ,    seine    Berg-  und 

Abluiodl.  d.  k.  S.  üesellseh.  d.  Wissenscb.  XXI.  10 


132  Wilhelm  Röscher,  I^^ 

herrenlosen  *^)    Güter  in    den   neueren   hochkultivirten    Staaten   seine 
fiscalischo  Bedeutung  fast  gänzlich  verloren.  *^) 

4- 

Wie  schon  bei  der  zweiten  Gruppe  die  rein  fiscalischen  Zwecke 
wesentlich  controlirt  und  gefördert  wurden  durch  wirthschaftspoli- 
zeiliche  Gedanken,  so  beruhet  eine  dritte  Gruppe  von  Regalien  darauf, 
dass  sich  die  Regierung  für  ihre  eigentlich  politische 
ThUtigkeit  von  denjenigen  bezahlen  lässt,  welche  zu- 
nächst damit  in  Berührung  kommen.  Am  Schlüsse  des  Mittel- 
alters um  so  natürlicher,  als  gerade  jetzt  die  Ansprüche  des  Volkes 
an  den  Staat,  mithin  die  Kostspieligkeit  des  Staatsdienstes  immerfort 


HüUenwerke  zu  behalten,  oder  in  Privathände  zu  ver'aussern ,  ist  eine  nach  den 
Grundsätzen  von  Kapitel  III.  relativ  zu  beantwortende  Frage.  (Sehr  gründlich  erörtert 
von  Wagner  F.  W.  I,  §.  t941T.).  hn  Ganzen  wird,  je  intensiver  der  Bergbau 
werden  muss,  der  Privatbetrieb  um  so  mehr  angezeigt  sein.  Also  der  abneh- 
mende Naturreichthum  der  Gruben  und  die  wachsende  Concurrenz  von  Aussen 
durch  Verbesserung  der  Transportmittel  müssen  den  Staatsbetrieb  immer  mehr  zur 
Ausnahme  machen,  während  der  erste  Anbau  z.  B.  sehr  reicher  Edelminen  häu- 
fig vom  Staate  selbst  unternommen  ist.  (KrÖsos  in  Lydien,  K.  Philipp  I.  in  Thra- 
kien, das  cäsarisch  gestellte  Haus  der  Barkid en  in  Spanien ;  ähnlich  in  den  An- 
fängen des  deutschen  Edelbergbaues).  In  Salz-  und  Kohlengruben  wird  sich  der 
Staatsbetrieb  aus  geognostischen  Gründen  am  längsten  behaupten.  Ein  Mittelweg 
könnte  in  der  Verpachtung  der  Staatsbergwerke  bestehen^  wie  z.  B.  die  attischen 
Silbergruben  vererbpachtet  waren  (Böckh  Staatsh.  der  Ath.  I,  420  flf.),  die  Berg- 
werke der  römischen  Provinzen,  die  Quecksilbergruben  von  Almaden  verzeitpach- 
let.  In  der  Regel  ist  aber  die  schwierige  Abschätzbarkeit  der  Bergwerke  ein 
grosses  Hinderniss  der  Verpachtung.  —  Über  die  besonderen  (also  neben  den 
gewöhnlichen  Einkommen-.  Gewerbesteuern  etc.  bestehenden]  Abgaben  vom  Pri- 
vatbergbau, die  z.  B.  für  <884  in  Frankreich  auf  2700000  Fr.  veranschlagt  sind, 
in  Belgien  1883  =  400000  Fr.  betrugen,  s.  Arndt  in  Conrads  Jahrbb.  N.  F.  II, 
4  75  ff.  630 ff.  Wo  sie,  wie  meistens,  nur  von  den  durch  den  Staat  verliehenen, 
dem  Verfügungsrechte  der  Grundeigenthümer  entzogenen  Mineralien  erhoben  wer- 
den,  charakterisiren  sie  sich  als  Ausläufer  des  Bergregals. 

\  5)  Im  preussischen  Ordenslande  R.  der  Bienenzucht,  das  im  M. -Alter  wegen 
der  Seltenheil  des  Zuckers  und  wegen  des  starken  Meth-  und  Wachsverbrauches 
sehr  einträglich  war.  (J.  Voigt  VI,  641  ff.).  In  Neapel  früher  R.  der  Gewinnung 
des  Lakritzensaftes,    (Schubert  Handb.   der  Staatskunde  IV,   63}. 

\  6]  Dem  französischen  Staate  brachte  die  Einziehung  der  herrenlosen  Güter 
1859  gegen  700000  Fr.  ein,  dem  belgischen  1853|7  durchschnittlich  64219  Fr. 
(Hau  F.-W.   I,    §.   84). 


^^1  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  133 

wuchsen,  und  die  privalrechtliche  Auffassung  des  Staates  selbst  gerne 
die  Steuern  als  Äquivalent  bestimmter  Vortheile  erscheinen  Hess. 

Hierher  gehört  schon  der  Antheil  des  Herrschers  an  der  Kriegs- 
beute, d.  h.  also  die  fiscalische  Nutzung  der  Kriegshoheit.  Auch 
die  lucrative  Vermiethung  von  Truppen  an  fremde  Mächte  lässt  sich 
hierher  zählen:  wie  z.B.  12608  Hessen  und  4300  Braunschweiger 
zum  Kriege  Englands  gegen  die  nordamerikanischen  Kolonien  ver- 
miethet  wurden.  (Menzel,  N.  deutsche  Gesch.  XII a,  125.)  Freilich 
ein  Geschäft,  das  Justi  (System  des  Finanzwesens,  523)  »ein  nieder- 
trächtiges Gewerbe  von  Landverderbern«  nennt,  und  das  Friedrich  M. 
mit  einem  Yiehzoll  belegen  wollte!  Eine  ähnliche  Bedeutung  haben 
früher  in  den  schweizerischen  Aristokratien  die  vielen  Pensionen  etc. 
auswärtiger  Mächte  für  die  Gestaltung  der  Reisläuferei  gehabt:  pro 
more  gentis  impudeniissimae  ^  wie  der  Abt  von  St.  Gallen  die  Zahlungen 
an  die  V  Orte  seit  1701  charakterisirte.  (Meyer-Knonau,  Schweiz. 
Gesch.  n,  1 61 .)  Aus  Frankreich  empfing  um  die  Mitte  des  1 8.  Jahrh.  je- 
der katholische  Canton  3000  ^  Friedensgelder,  noch  mehr  Jahrgelder, 
woneben  der  Botschafter  noch  8 — 12000  ^  an  einzelne  Personen  in 
jedem  derselben  vertheilen  konnte.     (Meyer-Knonau,  11,  451.) 

Weiterhin  der  Verkauf  von  Privilegien,^)  Titeln  und  Äm- 
tern. Jacob  I.  verkaufte  den  Titel  Baron  für  10000  £  St.,  Vis- 
count  für  15000,  Earl  für  20000,  Baronet  für  1100.  In  Frankreich 
wurden  viele  Adelsbriefe  nur  desshalb  erkauft,  um  dadurch  Steuer- 
freiheit zu  erlangen:  also  eine  Art  von  Staatsanlehen,  das  Golbert  1664 
durch  Rückkauf  der  Adelsbriefe  tilgte.  (Forbonnais  F.  de  Fr.  I,  396.) 
Die  titelsüchtigen  Creolen  Mexicos,  deren  Kaufleute  selbst  in  den  ab- 
gelegensten Bergstädten  Milizobersten  etc.  heissen  wollten,  brachten 
dem  Vicekönige  viel  ein.  (Humboldt,  Neuspanien  V,  38.)  Nach  der 
Reichshofrathsordnung  von  1672  kostete  der  Titel  Fürst  12000  Fl., 
Marchese  6000,  Graf  4000,  Freiherr  2000,  Patricier  1000,  Hoch- 
und  Wohlgeboren  400,  Wohlgeboren  200,  Doctor  100,  poeta  laureatus 
50  Fl.   Eine  andere  Reichskanzleilaxe  für  Standeserhöhungen  von  1784 


I)  Sehr  üblich  schon  im  Lehnslaate.  Richard  I.  erkUirte  vor  seinem  Kreuz- 
zuge, das  grosse  Staatssiegel  sei  verloren  gegangen ;  daher  müsse  Jedermann  seine 
Privilegien  etc.  sich  für  Geld  neu  besiegein  lassen.  In  ritterlicher  Weise  musste 
auch  für  königliche  Gnaden  noch  ein  aurum  reginae  gezahlt  werden.  (Madox  Hist. 
of  the  Exchequer,   240 fg.). 

40» 


134  Wilhelm  Röscher,  [20 

s.  Schlüzers  St.  Anzeigen  VI,  482.    Die  Slandeserhöhungen  nach  Maria 
Theresias  Niederkunft  1754  brachten  229000  Fl.  ein.    Die  ganze  jähr- 
liche Einnahme  aus  solchen  Quellen  schätzte  v.  Fürst  auf  400000  Fl. 
Ein  Graf  Clary   zahlte    für  die  Excellenz  60000  Fl.     Ein  Geh.  Rath 
kostete    4000,    ein    Marschall    2000,   ein    General  1000  Fl.    (Ranke, 
Ilistor.  polit.  Ztschr.  II,  707.)     Ein  neueres  österreichisches  Taxsystem 
bei  Tegoborski,   Finanzen  ü.s  II,  250:    wonach  z.  B.  der  nicht  dem 
Amte  anklebende  Titel  eines  Rathes  100  Fl.  kosten  soll,  Regierungs- 
rathes  300,    Hofrathes  600,  Kammerherrn  1000,  Geh.  Rathes  6000. 
In  England,  wo  schon  Richard  I.  vor  seinem  Kreuzzuge  einzelne 
Amter  verkauft  hatte,  wurde  durch  5./6.  Edw.  VI.,  C.  16  jeder  Amter- 
kauf nnt  wenig  Ausnahmen  streng  verboten.  —  In  Frankreich  erregten 
die  ersten  Amter  verkaufe  Franz  I.  in  Languedoc  (1519)   allgemeinen 
Unwillen  und  Widerspruch  der  Stände.    Gesetze  von  1493  und  1498, 
jedes    neue  Parlaraentsglied    sollte    eidlich    versichern,    für   sein  Amt 
weder  etwas  gezahlt,  noch  versprochen  zu  haben.     Seit  1508  jedoch 
wiederholte  Versuclie   der  Krone,   selbst  Richterstellen   zu  verkaufen, 
wogegen  aber  Parlamente  und  Reichstag  sich  widersetzten.  So  1519. 
(Sismondi,  Hist.  des  Fr.  XVI,  109.  143.)     Um  mehr  Ämter  verkaufen 
ZU   können,     1554    das    Pariser    Parlament   zum    semeslrier   gemacht. 
(Sismondi  XVII,  519.)     Späterhin  durften  die  Inhaber  ihre  Stelle  sogar 
verkaufen,  seit  1604  auch  ihre  Erben,  sofern  die  s.  g.  Paulette  ge- 
zahlt w^ar  (Forbonnais  I,  84.):  doch  nur  an  einen  persönlich  für  das 
Amt   Befähigten.     (Warnkönig-Stein  I,  592  fg.)     Auf   dem  Reichstage 
von  1614  ward  gegen  den  Ämterkauf,  der  nach  Sully's  Rücktritt  sehr 
zugenommen  hatte,  vornehmlich  angeführt,  dass  eine  Art  von  Domänen- 
veräusserung  darin  liege;  dafür  aber,  dass  die  Reicheren  meist  auch 
eine  bessere  Erziehung  haben,    dass   der  hohe  Preis  ihrer  Amter  sie 
mehr  für  die  öllentliche  Ruhe  etc.  interessirt,  dass  man  Unterschleife 
etc.    auch   gegen   die  Kaufiämter   bestrafen    könne.     Klerus  und  Adel 
waren  für  Abschaffung  des  Systems,  »um  unenlgeltlich  begünstigt  zu 
werden«   (Sismondi  XXII,  302);    der  dritte  Stand   für  die  Fortdauer. 
Richelieu,  der  bei  seiner  Reform  des  Civildienstes  3000  Finanzbeamte 
ihrer    erblich    gekauften    Stellen    fast    ohne   Entschädigung   beraubte 
(Sismondi  XXIII,  305.    Forbonnais  I,  222),  meinte  doch  im  Ganzen, 
dass  nach  Abschaffung  des  Amterkaufes  Gunst  und  Ränke  entscheiden 
würden.     Auch  sei  der  Kaufpreis  eine  Art  von  Caution  und  schütze 


^1]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  135 

gegen  allzu  grossen  Andrang  der  niederen  Klassen  (Testament  poli- 
tique  I,  198,  209.)  Forbonnais  hält  die  Gegengründe  für  blosses 
Voriirtheil,  zumal  bei  Richterstellen;  die  Einnahme  des  Staates  von 
dieser  Quelle  drücke  das  Volk  gar  nicht  und  vermindere  die  unpro- 
ductive  Überfüllung  der  Beamtenlaufbahn.  (F.  de  Fr.  I,  1 40  flF.)  Doch 
hat  Colbert  die  Zahl  der  Kaufömter  von  45000  auf  25000  vermindert 
(Warnkönig-Stein  I,  606.),  und  erst  in  der  schlimmen  Zeit  Lud- 
wigs XIV.  sind  sie  wieder  sehr  vermehrt  worden:  1691 — 1709  über 
40000  neue  creirt,  namentlich  um  den  Gewerbfleiss  zu  beaufsichtigen 
und  Sportein  dafür  zu  beziehen.  (Chaptal  Industr.  Fr.  II,  332.)  — 
Das  Papstthum  hat  den  Amterverkauf  nicht  bloss  auf  weltlichem  Ge- 
biete, sondern  auch  auf  geistlichem  ausgebildet,  womit  ihm  freilich 
die  sächsischen  und  salischen  Kaiser  vorangegangen  waren.  (Für  das 
Erzstift  Mailand  1000  Pfd.  Silber,  Trier  1100  Mk.  Silber,  das  Stift 
Lültich  7000  Pfd.:  Waitz,  D.  Verf.  Gesch.  VII,  407 flF.)  In  Luthers 
Zeit  kostete  das  Mainzer  Pallium  in  Rom  24 — 25000  Goldfl.  und  war 
diese  Summe  in  einem  Menschenleben  siebenmal  entrichtet  worden. 
Die  Augustiner  mussten  30000  Fl.  zahlen,  als  ihr  General  den  Purpur 
empfing.  (Luthers  Werke  ed.  Walch,  XV,  552.  371.)  In  Spanien  zog  der 
Papst  bis  zum  Concordate  von  1 753  mittelst  der  s.  g.  cedulas  bancarias 
für  die  geisthchen  Anstellungen  fast  20  Proc.  vom  Einkommen  der  Pfrün- 
den. (Bourgoing,  Tableau  de  l'Espagne  I,  329  AT.)  Als  Extrem  können 
die  Cardinalspromotionen  Alexanders  VI.  gelten,  die  10  bis  30000  Fl. 
eintrugen  und  mitunter  sogar  zur  Vergiftung  der  Pfründeninhaber  ge- 
reizt haben  sollen.  (Sismondi,  Gesch.  der  ital.  Republ.  im  M.-A.  XIII, 
265.)  —  In  Deutschland  hat  dies  Regal  verhältnissmässig  weniger  An- 
klang gefunden.  Aus  der  Marinekasse  von  1686,  in  die  alle  preussi- 
schen  Beamten  die  Hälfte  ihrer  erstjuhrigen  Besoldung  zahlen  sollten, 
und  in  die  seit  Friedrich  I.  noch  manche  andere  regalistische  Gebühren 
für  Titelverleihung,  Judenschutz,  Ehendispens  in  verbotenen  Graden, 
Succumbenzgelder  von  Appellanten  etc.  einbezogen  wurden  (Riedel, 
Brandenb.  preuss.  Staatshaushalt,  44.  66),  machte  Friedrich  Wilhelm 
I.  1721  eine  Recrutenkasse  für  sein  Leibregiment,  für  welche  sodann 
alle  Bewerber  um  ein  Amt  ein  Gebot  thun  mussten.  Dies  artete 
factisch  zu  einer  Versteigerung  aus,  neben  welcher  die  Examina 
wenig  bedeuten  wollten.  (Preuss  Gesch.  Friedrichs  M.  II,  323.)  Für 
die  Stelle  eines  Regierungsrathes  mit  200  Thlr.  Gehalt  wurden  wohl 


136  Wilhelm  Röscher,  [25 

1000  Thlr.  Recrutenjura  bezahlt.   (Oeuvres  de  Fröderic  IL,  XXVII,  3, 
p.  63.)     Friedrich  M.,  welcher  den  Diensthandel  für  infamirend  hielt 
(Oeuvres  Posth.  VI,  56),  verordnete  schon  1740,   dass   alle  Beamten 
nait  wirklicher  Vorbereitung  hiervon  befreit  sein  sollten,  und  verwan- 
delte in  der  Instruction  für  das  General-Di rectori um  (1748)  das  Ganze 
in    eine   massige  Besoldungssteuer.      Kurz   vorher  hatte   ihm  Cocceji 
geschrieben,  dass  sich   »die  Bürgerlichen    durch  den  Einkauf  in  ihre 
Chargen  nicht  mehr  auf  solide  Wissenschaften  gelegt.«   (Preuss,  I,  322.) 
Von  bayerischen  Amterkäufen  unter  Karl  Theodor  s.  Perthes,  Deutsch- 
land   zur  Zeit  der  französ.  Herrschaft,  441 ;    von  württembergischen 
unter   dem  Juden  Süss:    Menzel,   N.  Deutsche  Gesch.  X,  221;    von 
Österreichs  Verkauf  selbst  höherer  Offizierstellen  (Oberst  =  30000  Fl., 
Hauptmann  =  8000)    zu  Anfang   des    18.   Jahrb.:    Foscarini,    Hist. 
arcania,  113,  der  subalternen  Offizierstellen  1804:  Mailath,  Ost.  Gesch. 
V,  363.    Der  mecklenburgische  Absolutist  Karl  Leopold  verkaufte  seit 
1742  namentlich  Pfarren,  selbst  an  Frauen,  die  sich  dann  mit  einem 
Candidaten   vermählten.    (Boll,   Mecklenburg.  Gesch.  II,  425.)     Vgl. 
überhaupt  F.  C.  Moser,  Über  den  Diensthandel  deutscher  Fürsten  (1786), 
wo  der  Titelverkauf  als  eine  harmlose  Lächerlichkeit  erscheint,  der 
französische  Amterverkauf  wegen  seiner  Öffentlichkeit  als  minder  be- 
denklich,  um    so   schlimmer   der  jetzt   in  Deutschland  so  furchtbar 
grassirende  geheime  Diensthandel.     Schon  Leibniz  hatte  die  simonia 
politica  gemissbilligt  (Opp.  ed.  Dutens  IV,  2,  580.) 

Der  Ämterverkauf  war  also  namentlich  im  16.  und  17.  Jahrb.  auf- 
gekommen, als  die  gänzlich  veralteten  Lehnsämter  durch  die  Anfänge 
des  neuern  Beamtenwesens  ersetzt  wurden.  In  Frankreich  schätzte  man 
den  Gesammtwerth  der  verkauften  Ämter  1 61 4  auf  200  Mill.  Livres, 
1664  auf  beinahe  800  Mill.;  und  die  Nationalversammlung  berechnete 
bei  Aufhebung  des  ganzen  Instituts  allein  die  gerichtlichen  Stellen  zu 


2)  Forbonnais  F.  de  Fr.  I,  UOff.  329.  v.  Sybel  Gesch.  des  Revolutions- 
zeitallers  I,  4  98.  Im  Edicte  von  1665  wurde  der  Preis  des  ersten  Präsidenten 
der  Rechnungskammer  zu  400000  Livres  tarifirt,  die  presidents  ä  mortier  im  Pa- 
riser Parlament  zu  350000  (Daire  Economistes  financiers,  p.  245).  Fouquet  hätte 
sein  Amt  als  Generalprocurator  des  Parlaments  für  3^2  Mill.  fr.  verkaufen  kön- 
nen. (Voltaire  Siecle  de  Louis  XIV.,  Gh.  25).  Um  4  576  rechnete  man  für  je 
3000  £  Besoldung  20000  £  Kaufpreis,  (v.  WoHI*  Staats  -  Rentenschuld  in  Frank- 
reich I,  49).  So  vor  Einführung  der  Vererblichkeit.  Justi  System  des  Finanzw. 
(1766),    528  unterscheidet  zwei  Arten  des  Ämterverkaufs :   entweder  so  hoch,   dass 


23]  Verslch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  137 

800  Millionen.^  Im  Zeitalter  des  confessionellen,  mehr  noch  des  höfi- 
schen Absolutismus  hatte  solches  Kaufsystem  das  Gute,  die  willkür- 
liche Absetzung  der  Beamten  zu  erschweren ;  und  zumal  für  Richter 
ist  die  Unabhängigkeit  doch  ein  noch  grösseres  Bedürfniss,  als  die  aus- 
gezeichnete Geschicklichkeit.  Selbst  die  Verwaltung  bekam  dadurch 
einigen  Antheil  an  der  Sicherheit  der  Justiz.  ^)  Daher  Montesquieu  in 
»Monarchien«  (zum  Unterschiede  von  Despotien  und  Republiken)  den 
Amterkauf  namentlich  auch  im  Interesse  der  »Industrie«  billigte.  (E.  des 
L.  V,  Ch.  19.)*)  Wie  nachmals  freilich  dieser  Empfehlungsgrund  auf- 
gehört hatte,  blieben  die  grossen  Schattenseiten  des  Diensthandels 
ohne  überwiegende  Lichtseite:  dass  nun  die  Amter  ein  kastenähn- 
liches Privilegium  der  Reichen,  die  Fähigkeitsprüfungen  leicht  illuso- 
risch werden  und  mit  der  Käuflichkeit  der  Amtsgewalt  sich  eine 
Bestechlichkeit  der  Amtsführung  verbindet.'^) 


die  Besoldung  nur  den  Zins  des  Kaufschillings  bildcl,  wo  das  Amt  dann  forterbt, 
oder  auch  der  Nachfolger  den  Erben  Ersatz  leisten  muss ;  oder  so,  wie  in  Hamburg, 
wo  das  Amt  nur  lebenslänglich  währt,  aber  auch  der  Kaufpreis  nicht  viel  mehr 
betragen  kann,   als  3  —  4  Jahre  des  Gehaltes. 

3)  Bei  Tocqueville  Ancien  regime,  Note  41  streitet  ein  Polizeidirector  mit  der 
Rentkammer,  wem  die  Erhaltung  des  Strassenpflasters  obliege;  und  das  Gericht 
entscheidet,   weil  die  Sache  bei  Kaufämtern  als  rein  civil  erschien. 

4)  Das  britische  System,  bis  zum  Oberstlieutenant  hinauf  die  meisten  Offi- 
zierstellen der  Infanterie,  Gavallerie  und  Garde  im  Wege  des  Kaufes  zu  besetzen, 
(Kaufpreis  1855  nach  amtlicher  Angabe  z.  B.  für  den  Oberstlieutenant  der  drei 
Waffen  4300,  6475  und  7250  Pfd.  St.,  für  den  Fähndrich  450,  840  und  1200 
Pfd.),  hatte  keinen  fiscalischen  Zweck,  sondern  hing,  wie  so  viele  Eigenthümlich- 
keiten  des  britischen  Heerwesens,  mit  der  Besorgniss  zusammen,  dass  eine  sehr 
ausgebildete  stehende  Armee  der  Verfassung,  d.  h.  einer  nach  Oben  weise  abge- 
stuften, nach  Unten  weise  geöffneten  Gentlemenherrschafl,  gefährlich  sein  würde. 
Man  suchte  desshalb  die  Offizierstellen  thatsächlich  dem  herrschenden  Stande  vor- 
zubehalten. Die  gewöhnlichen  Folgen  des  Kaufsystems,  geringe  technische  Bildung 
der  Offiziere,  sowie  deren  kastenmässige  Sonderung  von  den  Unteroffizieren  und 
Soldaten,  welches  beides  in  der  Regel  erst  nach  längerer  Übung  im  wirklich 
grossen  Kriege  abgeschliffen  wurde,  (Marlborough ,  Wellington!),  sind  auch  hier 
nicht  ausgeblieben ;  jedoch  bisher  wegen  der  Insellage  und  Seeherrschaft  Englands 
noch  nicht  gefährlich  geworden.  Vgl.  Gneist  Gesch.  der  engl.  Communal Verfas- 
sung II,   44  0  ff. 

5)  Der  römische  Erfabrungssatz :  necesse  est ,  ut ,  qui  emit ,  vendat  (Seneca 
De  benef.  I,  9.  Lamprid.  Alex.  49)  hat  sich  auch  in  den  früheren  schweizeri- 
schen Landvogteien  bethätigt,  die  so  vielfach  an  die  römische  Provinzialverwaltung 
erinnern.      Vgl.   Röder-Tschamer  Der   C.  Graubündten  I,   58.   65.     Franscini  Der 


138  Wilhelm  Röscher,  [24 

Wir  gedenken  ferner  der  Abgaben,  welche  der  Staat  unmittel- 
bar für  den  Schutz  von  Leben  und  Eigenthura  forderte,  nach  Art 
einer  Versicherungsprämie.  So  die  Geleits  rechte  zu  Lande  und 
zu  Wasser,  aus  denen  sich  durch  zeitgemässe  Umformung  die  neueren 
Gränzzollsysteme  herausgebildet  haben  ;^)  die  Marktzölle  für  Hand- 
habung des  Marktfriedens,  dieser  Hauptkeim  der  neueren  Acciseein- 
richtungen;  die  Judenschutzgelder  für  das  Patronat  dieses  zu  jener 
Zeit  heimathlosen  Volkes.^) 

Hierher  gehörten  schliesslich  die  zahllosen  Einkünfte  von  der 
Gerichtsbarkeit.      So    die   Geldstrafen    und    Vermögensconfis- 


C.  Tessin,   25 ff.    Pupikofer  Der  G.  Thurgau,    155.    Meyer-Knonau  Schweiz.  Gesch. 
II,    27.   243.    459. 

6)  Unter  den  sächsischen  und  fränkischen  Kaisern  hatte  das  Geleitsrecht,  be- 
sonders früh  in  Lothringen  ausgebildet^  viel  mehr  Ähnlichkeit  mit  unseren  staats- 
rechtlichen Zöllen ;  so  dass  z.  B.  die  Befreiung  davon,  die  OUo  II.  den  Venetia- 
nern  durchs  ganze  Reich  verlieh,  als  ein  Yortheil  galt.  (Pertz  Leges  II,  36). 
Vgl.  Waitz  D.  Verf.  Gesch.  Vm,  31 6  ff.  Der  Sachsenspiegel  II,  28  erkennt  au, 
dass  Niemand  nÖthig  habe,  Geleit  zu  nehmen,  wenn  er  sein  Gut  riskiren  will. 
Dass  der  Herr,  welcher  sich  das  Geleit  hatte  bezahlen  lassen,  im  Fall  nun  doch 
eine  Beraubung  des  Kaufmanns  eingetreten  war,  Entschädigung  leisten  musste,  ver- 
steht sich  eigentlich  von  selbst.  Vgl.  Sachsensp.  II,  27,  Schwabensp.  Landrecht, 
194  (Lassb.),  und  noch  den  R.-A.  von  1559,  §.  34,  sowie  die  von  Maurer 
Gesch.  der  Städteverf.  I,  376  ff.  angeführten  Stellen.  Es  war  eine  arge  Ausartung, 
wenn  von  Albrecht  III.  von  Österreich,  Jacob  von  Baden  (bei  Aen.  Sylvius)  oder 
Philipp  von  Hessen  (Bommel  Hess.  Gesch.  III,  167)  besonders  gerühmt  wird, 
dass  sie  ihre  Geleitspflicht  in  diesem  Sinne  aufgefasst.  Später  ist  das  Geleitsrecht 
dann  zu  einem  Durchgangszolle  geworden :  so  unter  Kurfürst  August  von  Sachsen, 
welcher  den  Fuhrleuten  strenge  verbot,  auf  einer  andern  als  der  herkömmlichen 
Strasse  zu  fahren  (Cod.  August.  II,  116311.).  Oft  mit  den  zopfigsten  Formalitä- 
ten: Proben  davon  aus  dem  18.  Jahrh.  bei  Nicolai,  Reise  I,  196  und  K.  H. 
Lang  Histor.  Entwicklung  der  deutschen  Steuerverf.,    150. 

7)  In  England  sollen  von  50  Henry  III.  bis  2  Edw.  I.,  also  in  7  Jahren 
1260000  Pfd.  St.  nach  jetzigem  Gelde  von  den  Juden  erpresst  worden  sein. 
(Anderson  0.  of  C,  a.  1290).  Hieraus  erklärt  sich  das  Edictum  Bavillense  von 
1392,  dass  Juden,  welche  sich  taufen  Hessen,  zuvor  ihr  Vermögen  an  den  Staat 
abtreten  sollten,  »damit  der  Teufel  nichts  mehr  an  ihnen  hätte«.  Vgl.  dagegen  das 
Laterancr  Concil  von  1179  (c.  5.  X,  V,  6)  und  die  V.-O.  Johanns  XXII.  von  1319. 
(Extrav.  comm.  V,  2,  2).  Noch  im  18.  Jahrh.  zahlten  die  Wiener  Juden  pro 
Kopf  täglich  1  Fl.  Toleranzgeld,  repartirten  dies  jedoch  unter  einander  nach  dem 
Vermögen.  (Nicolai,  R.  III,  172).  Auch  die  schweizerischen  LandvÖgte  zogen 
aus  der  precären  Lage  der  Juden,  die  höchstens  periodisch  geduldet  werden  soll- 
ten, beträchtliche  Einkünfte.      (Bronner,   Der  C.   Aargau  I,    431). 


25]  Versich  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  139 

cationeD,  ein  DatUrlicher  Übergang  aus  dem  Busssysteme  des  Mittel- 
alters in  das  neuere  Strafsystem.    Jede  mächtige  und  dabei  gesetzlich 
wenig  beschränkte,  also  willkürliche  Regierung  neigt  hierzu,  weil  auf 
diesem  Wege  zugleich  ihre  Habsucht  und  Herrschsucht  befriedigt  wer- 
den.^)     Hätte   Karl  I.    von    England    seinen   Anspruch    verwirklicht, 
durch  Proclamation  eigenmächtig  Verordnungen  zu  erlassen  und  deren 
Übertreter  sodann  vermittelst   seiner  Sternkammer  beliebig  an  Gelde 
zu  strafen,  so  wäre  das  factisch  einem  ganz  freien  Besteuerungsrechte 
gleich  gekommen.    Voinehmlich  ist  es  die  Zeit  der  absoluten  Monar- 
chie, überhaupt  die  Zeit  zwischen  Mittelalter  und  neuerer  Geschichte, 
worin  die  Geldstrafen   auch    finanziell   die  grösste  Bedeutung  haben, 
zumal  während  heftiger  Parteikämpfe.    Für  Dänemark  hat  am  Schlüsse 
des  Mittelalters  das  Recht,   in   einem  gewissen   Sprengel   die   Straf- 
gelder einzukassiren,  das  Hauptiiioment  gebildet,  woran  sich  das  Auf- 
kommen   der  Aristokratie    und   die   völlige  Unterdrückung  der  freien 
Bauern  knüpfte.    In  Schweden  belief  sich  unter  K.  Johann  das  Staats- 
einkommen  aus  den  Geldstrafen   beinah   ebenso  hoch,  wie  aus  den 
Steuern.      (Geijer,   Schwed.  Gesch.    II,    207.)      Von    den   deutschen 
Gelehrten  während  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrh.  nennt  Klock  die 
Steuern,    quae   ad   coercenda   scelera   imperanlur^   omnium  jtistmhna^ 
ulUissima  el  sanctissima.  (De  aerario  II,  101,  23.)    Und  der  im  Ganzen 
dem  Regalismus   feindliche  Latherus  theilt   doch   alle    Staatseinkünfte 
in  zwei  grosse  Gruppen :    solche,    die  per  justitiae   adminislrationem^ 
und  solche,  die  absque  justiliac  admiuistralione  vermehrt  werden.   (De 
censu,  p.  271  ff.)      In    Böhmen    ist    zu   Anfang    des    dreissigjährigen 
Krieges  der  grösste  Theil  des  Nationaladels  durch  Güterconfiscationen 
(meist  zu  40  Mill.  Fl.  geschätzt)  ruinirt  worden.     Gegen  Schluss  des 
1 5.  Jahrh.  war   es   eine  Ilauptünanzquelle  der  Tyrannen    in  der  Ro- 


8)  Schon  unter  den  Merovingern  bedeutende  Staatseinnahme  aus  dieser 
Quelle.  (Waitz  II,  535  tf.).  Die  »Fried losigkeit«  regelmässig  mit  Vermögeiiscon- 
Hscation  verbunden.  (Waitz,  Das  alte  Recht,  tO\.  Deutsche  Verf.  Gesch.  II,  5i0). 
Auch  unter  den  Karolingern  sowohl  des  Königs  wie  des  Grafen  Einkommen  grossen- 
theils  auf  Geldstrafen  beruhend.  (Eichhorn,  D.  St.  und  R.-G.  I,  §.  164.  167). 
Während  aber  hier  die  Busse  des  Königsbannes  nicht  über  60  Solidi  ging,  kom- 
men unter  Otto  M.  Strafen  von  2  bis  4  000  Pfd.  Silber  oder  tOO  Pfd.  Gold  vor. 
VVaitz,  D.  Verf.-G.  VI,  462 ff.).  Tyrannische  Lehnskönige,  wie  der  englische 
Johann^  dictierten  wohl  ihren  Gästen  beliebige  Geldstrafen  pro  (also  diclo,  pro 
ntulto  responso  etc. 


140  Wilhelm  Röscher,  [26 

magna,  viele  Verbote  zu  erlassen,  dann  über  deren  Verletzung  die 
Augen  zuzudrücken  und  nun  plötzlich  eine  Menge  aufgesummter 
Strafen  einzukassiren.  (Machiavelli  Discorsi  III,  29.)  Ein  päpstlicher 
Kämmerer  entschuldigte  solches  mit  dem  Spotte  :  Deus  non  vull  mortem 
peccatoris^  sed  ut  vivat  et  solvat.  (Sismondi  XI,  354.)  In  England 
haben  während  der  Bürgerkriege  des  17.  Jahrh.  beide  Theile  unge- 
heuere Geldstrafen  erpresst.  Unter  Karl  I.  wurden  z.  B.  von  Solchen, 
die  gegen  ein  Verbot  Heinrichs  VII.  Äcker  zu  Weiden  gemacht,  über 
30000  £  erhoben;  Einer  in  10000  ^  Strafe  genommen,  weil  er  im 
Paläste  einen  königlichen  Diener  geschlagen.  (Hume,  Hist.  of  England, 
Ch.  52.)  Lord  Strafford  verhiess  in  Irland  den  Richtern  20  Proc.  des 
erstjährigon  Ertrages  von  allen  eingezogenen  Gütern,  während  Ge- 
schworne,  die  sich  der  Hülfsleistung  weigerten,  zu  Geldbussen  bis 
4000  £  gezwungen  wurden,  (v.  Raumer,  Gesch.  Europas  seit  dem 
Ende  des  15.  Jahrh.  V,  29.  53.  125.  150.  244.  320.  335.)  Ein 
besonders  arger  Fall,  wo  ein  hohe  Personen  beleidigender  Privatbrief 
mit  Absetzung,  Ohrenverlust  und  5000  £  Geldbusse,  und  auch  der 
Empfänger  wegen  versäumter  Denunciation  mit  8000  £  Geldbusse 
geahndet  wurde:  v.  Raumer  IV,  350.  Das  lange  Parlament  verfuhr 
ähnlich:  1643  sollten  Alle,  welche  den  Rpyalisten  irgend  beigestanden 
hätten,  2  Jahre  ihres  Einkommens  verlieren;  1656  allen  Nonjurors 
die  Einziehung  von  Va  ihres  Vermögens  angedrohet.  Die  Zeit  von 
1640 — 59  würde  nach  früherem  Massstabe  gegen  10  Mill.  £  an 
Steuern  gekostet  haben.  Wirklich  aber  trieb  das  Parlament  und  die 
Republik  ein:  1305000  an  Geldbussen  der  Royalisten,  6044000  an 
Confiscationen ,  1277000  durch  Vergleich  statt  der  Confiscation, 
25380000  aus  verkauften  Domänen  und  Kirchengütern.  (Lingard, 
Hist.  of  England  XI,  347.)  Zur  Zeit  des  Königsmordes  soll  in  Eng- 
land wenigstens  die  Hälfte  aller  Grundstücke  und  Renten  von  der 
Revolution  mit  Beschlag  belegt  sein.  (Hume,  Ch.  59.)  —  Aber  auch 
demokratische  Revolutionen,  wenn  sie  zugleich  einen  socialistischen 
Charakter  haben,   sind  derselben  Ausartung   fähig.  ^)     In  der  franzö- 


9)  Von  solchen  Gr'äueln  wohl  zu  unterscheiden  ist  die  auch  in  gemässigten 
Demokratieen  grosse  Verbreitung  massiger  Geldstrafen,  die  hier  mit  der  Unmög- 
lichkeit einer  geregelten  Amtshierarchie  zusammenhängt.  Wo  alle  Beamten  dem 
Souverän ,  hier  also  dem  Volke ,  gleich  nahe  stehen ,  da  müssen  sie  eben  auch 
vom    Souverän   selbst  beaufsichtigt   werden;    und   das    geschieht  am    wirksamsten 


S7]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz- Bkgalien.  141 

sischen  Schreckenszeit  »licrerte  die  Guillotine  mehr  Geld,  als  der  Assigna- 
tenstock«. (Cambon.)  So  z.  B.  sollten  die  Altern  jedes  Ausreissers  ver- 
härtet und  ihr  Vermögen  confiscirt,  auch  die  Beamten  seiner  Heimathsge- 
meinde  mit  Haft  und  4000  Fr.  Geldstrafe  belegt  werden,  (v.  Sybel  III,  1 0.) 
Am  26.  Januar  1794  beschloss  der  Convent,  die  Güter  aller  Verdächti- 
gen, damals  gegen  200000  Personen,  einzuziehen!  (v.  Sybel  II,  563.) 
Bei  hochkultivirlen  und  wirklich  freien  Völkern  ist  die  Vermö- 
gensconfiscalion  meist  völlig  abgeschafft:  nicht  bloss,  weil  diese 
Strafart  so  gefährlich  zu  ungerechten  Verurtheilungen  ^®)  reizt;  son- 
dern auch,  weil  dabei  regelmässig  ausser  dem  Verbrecher  selbst 
noch  dessen  schuldlose  Familie  mitbestrafl  wird.  Das  Mittelalter, 
dessen  aristokratischer  Sinn  Tugend  wie  Sünde  für  erblich  hält,  fin- 
det bei  solcher  Mitbestrafung  der  Verwandten  nichts  Anstössiges. 
Auch  in  diesem  Stücke  athmet  die  Gesetzgebung  Friedrichs  II.  einen 
wesentlich  modernen  Geist  (Constitutt.  R.  Siciliarum  II,  3.  6.  8  fg.) 
Neuerdings  hat  man  die  Vermögensconfiscation  fast  nur  noch  bei 
ausgetretenen  Militärpflichtigen  beibehalten,  deren  Person  ja  geflüchtet 
ist,  und  die  in  der  Regel  noch  keine  Kinder  besitzen.  Nur  sollte 
man  die  neuere,  etwa  verfassungsmässige  Abschaffung  der  Vermögens- 
confiscation  nicht  dadurch   illusorisch    machen,  dass  man  nach  poli- 


durch  die  Argusaugen  der  ÖfTentlichen  Meinung,  welche  mittelst  Denunciantenge- 
bühren  wach  erhalten  werden;  sowie  auch,  bei  der  ohnehin  kurzen  Dauer  des 
Amtes,  Geldstrafen,  das  natürlichste  Mittel  scheinen ,  den  Beamten  zu  seiner  Pflicht 
anzuhalten.  Daher  die  grosse  Menge  von  Geldstrafen  in  Nordamerika  (M.  Che- 
valier, Leltres  sur  rAmörique  du  Nord  II,  136 ff.);  früher  auch  in  der  Schweiz. 
iMathy  in  Bau's  Archiv  IV,  4  51).  Vielleicht  ist  derselbe  Grund  auch  die  Erklä- 
rung für  die  vielen  Geldstrafen  der  Athener  (BÖckh,  Staatshaush.  I,  494 ff.), 
wahrend  die  zahlreichen  Vermögensconfiscationen  mehr  der  spätesten,  ausgearte- 
ten Demokratie  angehören.  Vgl.  Meier,  De  bonis  damnatorum.  (1819).  Ari- 
stoteles räth  im  wahren  Interesse  der  Demokratie,  den  Erlös  nicht  unters  Volk 
zu  vertheilen,   sondern  lieber  den  Göttern   zu  weihen   (Polit.   Vl^   3.  Sehn.). 

10)  »Erst  confiscirt  man  um  zu  strafen,  dann  straft  man  um  zu  confisciren«. 
(Royer  Collard:  Moniteur  de  1816,  p.  12).  Nach  Voltaire  rien  n'est  plus  hor- 
rible  qu'un  droit  j  qui  donne  ä  un  souverain  la  tentation  continuelle  de  n'etrc  qu*un 
voleur  homicide.  (Esprit  des  Nations,  Gh.  159).  Darum  begreift  es  sich,  wenn  die 
Russen  nach  dem  Verfalle  der  Iwauischen  Despotie  im  KrÖuungseide  von  1606 
der  Confiscation  entsagen  Hessen.  Es  war  eine  weise  Vorschrift  der  späteren  rö- 
mischen Kaiser,  dass  zwar  schon  die  niederen  Provinzialstatthalter  Todesstrafen 
verhängen  durften,  aber  hohe  Geldbussen  dem  allerhöchsten  Gerichte  vorbehalten 
blieben  (L.    4.   6  lust.  Cod.  I,   54).     Gut  erklärt  von  Gibbon,  Ch.   17. 


i  42  Wilhelm  Koscher,  [28 

tischen  Unruhen  die  reichen  Mitglieder  der  besiegten  Partei  für  die 
Kosten  des  Sieges  solidarisch  haften  lässt.  Massige  Geldstrafen  em- 
pfehlen sich  namentlich  da,  wo  ein  Vergehen  aus  Habgier  entsprun- 
gen ist.**) 

Ein  charakteristisches  Mittelglied  zwischen  den  Regalien  der 
Geldstrafen  und  des  Ämterverkaufes  sind  die  französischen  chambres 
ardentes:  ausserordentliche  Commissionen,  um  die  Verbrechen  der 
Finanzbeamten  zu  untersuchen  und  sehr  willkürlich  mit  Geldstrafe 
zu  belegen.  Solche  chambres  ardentes^  (ein  bewaffneter  Bankerott 
nach  Levasseur),  sind  zuerst  1581,  zuletzt  1717  gehalten  worden.*'^) 
Sully,  der  sie  1597  selbst  empfahl  (Forbonnais  F.  de  Fr.  I,  32),  war 
doch  eigentlich  kein  Freund  davon,  weil  die  grössten  Sünder  am 
leichtesten  durchkämen  und  die  Hofleute  sich  bereicherten.  (Econo- 
mies  royales,  L.  XIX.  Forbonnais  I,  54.)  Auch  Richelieu,  der  1624 
eine  eh.  a.  für  alle  Unterschleife  seit  1607  niedersetzte  und  damit 
10800000  £.  erpresste  (Forbonnais  I,  174  ff.),  scheint  doch  gemeint 
zu  haben,  dass  die  hierbei  übliche  Willkür  der  Finanzbeamten  eine 
Art  Recht  des  Unterschieifes  begründe.  (Testament  polit.  I,  222, 
II,  143  ff.)  Colbert  wusste  auf  diesem  Wege  1662/5  den  s.  g.  Par- 
tisans über  70  Mill.  ^  abzupressen.  Man  soll  damals  für  mehr  als 
384  Mill.  falsche  Ordonnanzen  gefunden  haben.  (Forbonnais  I,  308. 
384.)  —  Man  hat  dies  Verfahren  mit  dem  türkischen  verglichen,  die 
Paschas  erst  sich  vollsaugen  zu  lassen  und  dann  in  den  grossherr- 
lichen Schatz  auszudrücken:  ein  System,  das  Montesquieu  in  Sultans- 
herrschaften ganz  natürlich  findet  (E.  des  L.  V,  Ch.   15.),   das  aber 


H)  Filangieri  Delle  leggi  politiche  ed  economichc  III,  32.  £r  rälh,  solche 
Strafen  immer  in  einer  Vermögensquote  des  Scliuldigen  anzusetzen.  Die  Straf- 
justiz  als  Finanzquelle  zu  behandeln,  tadelt  schon  U.  Zasius  Opp.  I,  178  sehr 
entschieden.  Später  meinte  Sonncnfels  Grundsätze  III,  109:  den  Geldstrafen 
liege  der  heimliche  Wunsch  zu  Grunde  ,  es  möchten  die  Gesetze  recht  oft  über- 
treten werden. 

1 2)  Ähnliche  Acte,  in  noch  minder  regelmässiger  Form,  sind  jedoch  sowohl 
früher  als  später  vorgekonmien.  So  in  England  die  Gewaltthat  Richards  I.  gegen 
den  Schatzmeister  seines  Vaters  (Thierry,  Ilist.  de  la  conqut^te  L.  XI,  a.  H89). 
Die  6  ersten  Surintendants  des  finances  wurden  zwischen  1315  und  1426  hinge- 
richtet, Jaques  Coeur  1453  mit  hohen  Geldbussen  gestraft;  einer  sass  1455 — 66 
in  der  Bastille  (Bresson  Ilist.  fmanciere  de  la  Fr.  I,  100  — 148).  Neuerdings  noch 
die  Ermordung  Foulons  und  Berthiers. 


^^]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  143 

CoDring   selbst   für  Frankreich    laudabile^   justtim   et   salutate    nennt. 
{De  aerario  hont  principis^  C.  90.)  *^) 

Wie  eng  alle  diese  Regalien  mit  der  Uniimschränktheit  der  vor- 
zugsweise s.  g.  absoluten  Monarchie  zusanamenhängen ,  erhellt  aus 
den  zahlreichen  Analogien,  welche  nicht  bloss  der  morgenländische 
Sultanisraus  ^*),  sondern  auch  die  griechische  Tyrannis  ^'^j,  das  römische 
CHsarenthum^^*)  und  noch  die  eigenthümliche  Finanzwirthschafl  Napo- 
leons I.  ^')   hierzu  darbieten. 


*  13)  Eine  ähnliche  Bedeutung  hat  der  orientalische  Brauch ,  dass  hohe  Be- 
amte den  König  zum  Erben  einsetzen.  Zu  Ker  Porters  Zeit  hinteriiess  der  erste 
persische  Minister  dem  Schah  200000  Pfd.  St.    (Ritter  Asien  IX,    891). 

14)  Über  den  furchtbar  entwickelten  Dicnsthcindcl  der  Türkei,  wobei  früher 
in  Europa  die  Fanarioten ,  in  Asien  die  Armenier  als  Mittler  fungirten ,  s.  Ranke 
Serbische  Revolution,  3.  Rilter  Asien  X,  755.  Von  der  grossen  Bedeutung  der 
Geldstrafen  (Arnos  II,  8.  Spr.  Salom.  XYII ,  26)  und  Staatsmonopolc  unter  den 
späteren  israelitischen  Königen:   Ewald,   Gesch.  v.  Israel  II.   2,    141.  III,   75. 

15)  Die  finanziellen  Kunstgrilfe  sowohl  des  Hippias  wie  des  Dionysios,  die 
im  II.  Buche  der  Aristotelischen  (?)  Ökonomik  erwähnt  sind,  (C.  5.  21)  haben 
einen  wesentlich  regalistischen  Charakter. 

16)  Unter  den  Imperatoren  gab  es  29  Verbrechen,  welclie  Vermögenscon- 
ßscation  nach  sich  zogen,  darunter  das  unendlich  weite  der  laesa  majestas.  (Nau- 
det,  Des  changements  dans  Tadministration  ..  sous.DiocIetien  I,  195).  Die  vie- 
len Selbstmorde  jener  Zeit  hängen  damit  zusammen,  dass  ein  majestatis  reus  auf 
diesem  Wege  der  Confiscation  zuvorkam.  Von  einem  erfolgreichen  Aufstande,  welcher 
durch  reiche  Provinzialen  veranla.sst  war,  um  der  Confiscation  zu  entgehen,  s.  He- 
rodian.  VII,  4.  Commodus  liess  zahllose  Senatoren  etc.  hinricliten,  um  ihr  Ver- 
mögen einzuziehen;  daneben  Schuldige  für  Geld  freigesprochen;  viele  Reiche  ge- 
zwungen, sich  den  Rang  eines  Consuls,  Senators  etc.  zu  kaufen.  Auch  ein  Korn- 
monopol, das  Pertinax  auflioh  (Lamprid.  V.  Comm.  6.  Ilerod.  I,  12).  Eine  Art 
von  chambre  ardentc  wird  Öfters  gehalten:  so  von  Galba  (Tacit.  Hisl.  I,  20), 
von  Pertinax   (Capitolin.  V.   Pert.   8). 

17)  Napoleon  führte  das  droit  d'aubaine  und  den  Abschoss  wieder  ein.  Die 
Strafe  der  Vermögensconfiscation  hielt  er  so  fest,  dass  er  sie  auch  in  seinem  Acte 
addiiionel  von  1815  nicht  aufgeben  wollte.  Bei  Creirung  des  neuen  Majorats- 
adels ward  eine  Siegelgebühr  von  20  Proc.  der  einjährigen  Einkünfte  gefordert. 
Wie  Napoleon  Cautionen  für  aller  Art  Ämter,  selbst  Gewerbe,  deren  Betrag  er  be- 
liebig erhöhete,  Zinsfuss  herabsetzte*,  dem  alten  Diensthandel  entsprachen ,  so  ist 
sein  Verfahren  gegen  den  Lieferanten  Ouvrard  (Ouvrard,  Memoires  I,  61  IT.  Bou- 
rienne  Memoires  VII,  6);  gegen  Bourienne  (Bourienne  Mem.  X,  213.  Las  Gases 
II,  311)  etc.  ganz  ein  Wiederauffrischen  der  alten  Chambres  ardcntes.  Eine  Zeit 
lang  war  auch  die  Ausbeutung  der  Kriegshoheit  einträglich.  Die  Kriegscontribu- 
tionen  bildeten  das  s.  g.  domaine  extraordinaire,  das  schon  1803  der  Staatskasse 
84  Mille  Fr.   vorgestreckt  hatte.     Die  Zinsen  meist  zur  Belohnung  verdienter  Krie- 


144  Wilhelm  Röscher,  pO 

Zweites  Kapitel. 

Gebühren. 

5. 

Aus  don  einzelnen  Acten  der  politischen  Slaatsthätigkeit  ein  be- 
deutendes Einkommen  zu  beziehen,  sie  wohl  gar  hauptsächlich  vom 
finanziellen  Standpunkte  her  zu  betrachten,  widerspricht  dem  Geiste 
der  höheren  Kulturstufen  um  so  schroffer,  je  mehr  das  Bewus^tsein 
im  Volke  herrschend  geworden  ist,  den  Staat  als  ein  organisches 
Ganzes,  eine  wesentliche  Seite  des  Volkslebens  aufzufassen.  Daraus 
folgt  dann  z.  B.,  dass  eine  gute  Rechtspflege  nicht  bloss  denen,  die 
Processe  gewinnen,  sondern  Allen  nützt,  nicht  am  wenigsten  auch 
denen,  welche  in  Folge  der  allgemeinen  Rechtssicherheit  das  Glück 
haben,  niemals,  weder  als  Klüger  noch  als  Beklagte,  mit  der  Justiz 
in  unmittelbare  Berührung  zu  kommen.  ^)  In  demselben  Verhältnisse 
nun,  wie  diese  unzweifelhaft  würdigere  Ansicht  vom  Staate  durch- 
dringt, sind  die  fiscalischen  Nutzungen  von  §.  4  zu  blossen  Gebühren 
zusammengeschrumpft.  Wir  verstehen  darunter  Abgaben,  die  Tür 
einzelne  obrigkeitliche  Handlungen  von  denen,  welche  die  Handlung 


ger  verwandt.  DarU;  ein  Meister  der  Contributionserpressung,  berechnete  Anfang 
4  808  den  Gesammtertrag  des  Krieges  auf  über  60i  Mill.  Aus  Preussen  allein  wur- 
den vom  1.  Oct.  1806  bis  15.  Oct.  1808  564  Mill.  gezogen  (Bignon  Bist,  de 
France  VII,  399).  Nach  Deckung  aller  Kriegskosten  war  der  Gewinn  aus  den 
occupirten  Ländern  während  dieser  Zeit  435  Mill.  (Dumas  Pröcis  des  evenements 
militaires,  Vol.  XIX.).  Das  Budget  von  18H  enthielt  etwa  30  Mill.  recettes  ex- 
terieureSj  aber  600  Mill.  Ausgaben  für  Land-  und  Seemacht:  jenes  etwa  3  Proc. 
der  Einnahme,   dieses  fast  63  Proc.   der  Ausgabe  des  Staates  überhaupt. 

\)  So  Garnier,  Traduclion  d'Adam  Smith  V,  316.  Hoff  mann,  Lehre 
V.  d.  Steuern,  430.  Gegen  Eisdell,  Principles  of  national  economy  and  taxa- 
tion  (II,  1839),  dass  die  Justizkosten  ganz  von  denjenigen  ersetzt  werden  sollen, 
die  Processe  verlieren,  bemerkt  F.  B.  W.  Hermann  (Münch.  G.  A.  XI,  551): 
der  Nutzen  der  Justiz ,  Streitigkeiten  zu  verhüten ,  komme  nicht  bloss  dem  gan- 
zen Volk  zu  Gute,  sondern  sei  auch  viel  wichtiger,  als  der,  vorhandene  Streitig- 
keiten zu  entscheiden ,  wobei  man  ja  ohnehin  gar  nicht  immer  das  Richtige  treffe. 
Sehr  übertrieben  meint  J.  Bentham  A  protest  against  law-taxes  (1793),  die  Ge- 
richtssporteln  seien  a  tax  upon  distress :  sie  drückten  gerade  Solche ,  die  sich 
ohnedies  in  einer  üblen  Lage  befänden,  ihr  Eigenthum  durch  einen  Fremden 
rechtswidrig  verkürzt  sähen  u.   dgl.   m. 


31]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  145 

unmittelbar  veranlasst  haben,  gezahlt  werden.  Und  zwar  beschränken 
wir  den  Begriff  der  Gebühren,  der  sonst  zwischen  reinem  Privat- 
erwerbe des  Staates  und  reiner  Steuer  in  einer  schwerlich  genau 
zu  begränzenden  Mitte  stehen  würde,  einerseits  auf  solche  Handlungen, 
die  mit  wesentlichen  Staatszwecken  (Rechts-  oder  Machtzwecken) 
zusammenhängen;  andererseits  auf  solche  Zahlungen,  welche  die 
Selbstkosten  des  Staates  mindestens  nicht  sehr  übersteigen. 2)  Was  z.  B. 


2]   Ähnlich  bei  Schall  in  SchÖnberg's  Handbuch  II,   79;   früher  schon  sehr 
tüchtig  in  Pfeiffer  Staatseinnahmen  I,   294(1.    Die  zahlreichen  verschiedenen  De- 
finitionen  des   GehührenbegrifTes   dürfen   nicht  befremden:    weil    nicht    bloss    das 
Wort  G.  ein  sehr  allgemeines  ist,  sondern  auch  der  Gegenstand  selbst  in  scharfer 
praktischer  Trennung  von    den  Steuern  selten    vorkommt.     Die   älteren   deutschen 
Nationalökonomen   (die  ausländischen   haben    von    den  Gebühren  überhaupt   wenig 
Notiz  genommen)   betrachten  die  G.   entweder  als  »zufällige  Einkünfte  des  Staates« 
(v.  Sonnenfels,   Grundsätze  III,  §  H  1  (f.    Fulda,   Finanz wissensch.,  §.  432ff.), 
oder  als  eine  »besondere  Besteuerung«  im  Gegensatze  der  »allgemeinen«  (Jakob, 
Staatsfinanzwissenschaft,  §.  178 ff.),  eine  »Specialsteuer«  (v.  Priltwitz,  Theorie  der 
Steuern  und  Zölle,   276),    oder  als  eine  Art  von  indirecten   Steuern    [Malchus, 
Finanzwiss.  I,   §.   31.    62  ff.),    von   Steuern    auf  Handlungen    (de  Parieu,   Traite 
des  imp6ts,   Livre  VI) :  wobei    namentlich   der  Umstand  irreführte ,    dass  man    die 
Stempelung  nicht  für  eine  besondere  Erhebungsform  sehr  vieler  veischiedener  Ab- 
gaben, sondern  für  eine  besondere  Steuerart  ansah.    So  Hoffmann,  Lehre  von  den 
Steuern,    S.   4nff.  —    Rau,    Finanz -W.  I,  §.   86.   227 ff.   definirt   die  G.  sehr 
gut:   namentlich  auch  insofern,  als  sie  nur  »Regierungshandlungen  begleiten  sollen, 
welche  nicht  weniger  nothwendig  wären,    wenn  auch  keine  besondere  Vergütung 
für  sie  gefordert  würde «.     Gleichwohl  rechnete  er  die  badische  Kaufaccise,  ja  die 
Erbschaftsteuer   zu    den    G.  !      Ein   grosses    Verdienst    um    diese  Lehre    hat    sich 
Umpfenbach,  F.-W.  I,  §.   2 3 ff.  erworben,    der  die  G.  auf  das  »Gränzgebiet« 
einschränkt,  »zwischen  dem  reinen  Privatinteresse  des  Staatsangehörigen  und  seinem 
reinen  Staatsinteresse,  wo  seine  Interessen  ununterscheidbar  mit  denen  aller  Übri- 
gen zusammenlaufen« .     Er  betont  namentlich  die  »Kostenprovocation«,  welche  der 
Staat  im  Interesse  der  Einzelnen  erleidet.     Wenn   er   dann  freilich   auch  die  Be- 
Zahlung  des  Post-,  Eisenbahndienstes  etc.   des  Staates  mit  zu   den  Gebühren  zählt, 
so  muss  er  consequenter  Weise  zu  der  Forderung  kommen,   dass  der  Staat  von  allen 
diesen  Anstalten  nicht  bloss  keinen  Gewinn  ziehen,   sondern  nicht  einmal  die  volle 
Kostendeckung  verlangen  darf:   eine  Folgerung,   der  ich  finanziell  durchaus  entge- 
gentrete (System  Bd.  III,  §§.  88 ff.).    Stein,   welcher  die  Ausscheidung  der  G.  von 
den  Verkehrssteuern  und  das  rechte  Verständniss  der  Stempel  wesentlich  gefördert 
hat,  nennt  die  Gebühren,    d.   h.    Abgaben   an    die  Verwaltung,    deren  Leistungen 
zum  Vortheil  eines  Einzelnen  von  diesem  bezahlt  werden  mögen,  bloss  dann  ge- 
rechtfertigt,   wenn    der    Zahlende   wirklich  Vortheil   von    der  Leistung   hat.     Ihre 
Höhe  kann  aber  weder  nach  dem  Werthe  für  den  Zahler,   noch  nach  den  Kosten 
für  den  Staat  bestimmt  werden :   beides  unberechenbar  I     Da  sie  jedoch  stets  Lei- 


146  Wilhelm  Röscher,  [32 

der  Staat  von  seinen  Post-,  Eisenbahn-,  Telegraphendiensten  bezieht, 
wird  besser  in  der  Lehre  von  den  Staals-Gewerbe-  und  Handels- 
geschäften zu  erörtern  sein;  wlihrend  jeder  bedeutende  Reinertrag 
aus  den  Justiz-  und  Polizeihandlungen,  die  ja  fast  niemals  ganz  frei- 
willig von  den  Zahlenden  begehrt  werden,  einen  steuerartigen  Cha- 
rakter hat.  So  werden  namentlich  viele  Steuern,  die  von  der  Über- 
tragung gewisser  Güter  aus  einem  Eigenthume,  überhaupt  einem 
Vermögen  in  das  andere  zu  erheben  sind  (Verkehrsteuern,  Erb- 
steuern etc.)  mit  Gebühren  verknüpft  für  die  zum  Zwecke  der  Rechts- 
sicherheit vorgeschriebenen  amtlichen  Handlungen.'*)  Je  weniger  die 
Summe  beider  Abgaben  zusammen  nach  der  Grösse  des  übertragenen 
Werthes  differirt,  um  so  mehr  überwiegt  die  Gebührenseite,  und  um- 
gekehrt: weil  die  Arbeit  z.  B.  der  Hypothekenbehörde  bei  der  Eigen- 
thumsumschreibung  eines  grossen  Landgutes,  Eintragung  einer  grossen 
Pfandschuld  etc.  selten  mehr  Geschicklichkeit  oder  Anstrengung  er- 
fordert, als  wenn  kleine  Landgüter  und  Forderungen  behandelt  werden. 
Und  es  würde  andererseits  unerträglich  sein,  hohe  Gebühren,  welche 
die  Selbstkosten  des  Staates  beträchtlich  übersteigen,  von  der  Übertra- 
gung kleiner  oder  grosser  Werthe  gleichmässig  zu  fordern^).     Wenn 


stungen  für  den  Verkehr  voraussetzen,  so  dürfen  sie  nicht  so  hoch  sein,  um  von 
dem  betrefFenden  Verkehrsacle  abzuschrecken.  (F.-W.  24  6  fr.).  Bei  dieser  Auf- 
fassung ist  es  allerdings  inconsequenl,  wenn  Stein  die  Einkünfte  von  der  Post, 
den  Eisenbahnen  etc.  des  Staates  als  »Kegallen«  den  Gebühren  entgegensetzt. 
Ad.  Wagner  hebt  in  seiner,  sonst  lief  eindringenden,  Lehre  von  den  G.  na- 
mentlich hervor,  dass  sie  specieller  Entgelt  eines  von  einer  Zwangsgemeinwirth- 
schaft  Einzelnen  geleisteten  Dienstes  sind  und  von  der  Staatsgewalt  nach  Hohe 
und  Modalität  einseitig  normirt  werden.  (F.-W.  II,  ö).  Im  französischen  Enre- 
gistrement  haben  die  Gebühren-  imd  Steuerseite  ganz  wohl  unterschieden:  La- 
ferriere,   Droit  public  et  administraUf  II,  294.   de  Parieu  Tr.  des  I.  III,    HSff. 

3)  Sehr  viele  Gebühren  sind  auf  älinliche  Art  entstanden,  wie  das  droit  de 
poids  et  de  casse  in  Marseille,  wo  die  Kaufleule  zur  Entscheidung  von  Streitigkeiten 
eine  Wage  erriclitet  hatten ,  für  deren  Benutzung  Ausländer  doppelt  so  viel  zah- 
len mussten,  als  Bürger.  Das  hatte  eine  Bequemlichkeit  für  den  Handel  sein  sol- 
len. Wie  sich  aber  der  Staat  dieser  Wage  bemächtigte,  wurde  1669  die  Abgabe 
um  100  Proc.  erhöhet,  bald  auch  für  alle  Packete  über  36  Pfd.,  selbst  wenn  sie 
des  Wagens  durchaus  nicht  bedurften ,  ein  sehr  lästig  controlirler  Wägezwang 
eingeführt.  (Forbonnais  F.  de  Fr.  I,  359).  So  hat  der  Gnmdsatz  der  Plus- 
macherei,  »Nimm,  wo  am  leichtesten  zu  finden«,  bewirkt,  dass  viele  Gebühren 
«eher  auf  den  Namen  Ungebühren  Anspruch  hätten«!    (ümp  fenb  ach). 

4)  Wagner  meint:   da  die  richtige  Maximalhöhe  einer  Gebühr  immer  etwas 


33]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  1 47 

desshalb  manche  Gesetze^)  und  Schriftsteller^)  als  Maximalgränze 
der  Gebühren  den  Vortheil  bezeichnen,  welcher  dem  Zahler  aus  der 
betreffenden  Handlung  des  Staates  erweichst:  so  heisst  das  nach  un- 
serer Definition ,  das  Reich  der  Gebühren  verlassen  und  auf  dasje- 
nige der  Steuern  tibertreten. 

Menschen,  die,  sei  es  durch  eigene  Schuld,  oder  zu  eigenem 
Vortheil,  die  Arbeit  der  Staatsbehörden  viel  stärker  in  Anspruch 
nehmen,  als  ihre  Mitbürger,  können  es  nicht  unbillig  finden,  wenn 
ihnen  dafür  ein  entsprechendes  Abgabenpräcipuum  auferlegt  wird.') 
So  besonders,  wenn  etwa  nur  von  den  Reicheren  zu  erwarten  steht, 
dass  sie  die  betreffenden  höheren  Ansprüche  an  die  Staatsthätigkeit 
machen  werden;  oder  wenn  aus  anderen  Gründen  zu  fürchten  ist, 
dass  bei  völlig  unentgeltlicher  Dienstleistung  diese  Ansprüche  in 
schädlichem  Grade  wachsen  möchten.  Kann  z.  B.  eine  unmässige 
Höhe  der  Gerichtssporteln  factisch  zu  einer  Rechtsverweigerung  für 
alle  Armeren  ausschlagen,  so  würde  volle  Unentgeltlichkeit  der  Ju- 
stiz den  sehr  verbreiteten  schlimmen  Neigungen  der  Rechthaberei 
und  Processucht  bedenklich  Vorschub  leisten.  Gerade  die  Ungerech- 
testen würden  am  meisten  Processe  führen,  bei  denen  sie  ja  nichts 
einzubüssen  hätten.^)    Und  selbst  gutgläubige  Processverlierer  können 


von  subjectivem  Ermessen  abhängen  wird,  jedenfalls  eine  feste  Zahlengr'änze  fehlt,  wo 
die  Gebühr  in  die  Steuer  übergeht,  so  müsse  man  sich  in  Thegrie  und  Praxis  mit  einer 
ann'äherungsweisen  Feststeilung  der  beiden  heterogenen  Bestandtheiie  der  Abgabe 
begnügen.      (F.-W.  II,    26). 

5)  Wo  das  Gesetz  für  den  Ansatz  der  Gebühr  einen  Spielraum  l'ässt,  ist  in 
Bayern  dieselbe  von  der  Behörde  »unter  Berücksichtigung  des  Umfangs  und  der 
Schwierigkeit  der  Sache,  der  Bedeutung  derselben  für  das  bürgerliche  Leben  und  der 
Leistungsfähigkeit  des  Pflichtigen«  zu  bestimmen.  (Gesetz  vom  \S.  Aug.  4  879). 
In  Württemberg :  » nach  dem  Grade  der  den  Behörden  verursachten  Mühe ;  nach 
der  Bedeutung  des  Gegenstandes,  bezw.  dem  Nutzen,  welcher  dem  Betheiligten 
in  Aussicht  steht;  nach  den  Vermögens-  und  Einkommensverh'ältnissen  des  Spor- 
telpflichtigen«  (Sportelgesetz  von   188  4). 

6)  Vgl.  besonders  v.  Stein  a.  a.  0.»  3H.  v.  Hock  nimmt  den  Vortheil  des 
Pflichtigen  oder  den  Kostenbetrag  des  Staates  zum  Massstabe.    (Ütf.  Abgaben,    16). 

7)  Die  Motive  des  württembergischen  Sportelgesetzes  von  4  828  bezeichnen 
darum  als  Zweck  der  Sportein  »die  Erleichterung  der  Masse  der  Steuerpflichtigen«. 
(Schall  a.   a.   0.   82). 

8)  Über  den  holländischen  Impost  van  ongefondeerde  prozessen  s.  Boxhorn 
Disquisitt.  politt.,  394  ff.  Im  Kirchenstaate  soll  die  Vorschrift  der  Gerichtsordnung 
von   <834    (Art.  4  654),   dass  der  Fiscus  nie  zu  den  Processkosten  verurtheilt  wer- 

Abhandl.  d.  k.  S.  GeseUscli.  d.  Wissensch.  XXI.  i  \ 


148  Wilhelm  Roscueb,  [34 

doch  in  der  Regel  nicht  verlangen,  dass  der  Staat  die  Unkosten  ihres 
Rechtsirrthums  trage.  Ähnliches  gilt  von  Dispensen.  Muss  das  häufige 
Vorkommen  persönlicher  Dispense  von  allgemeinen  Geboten  oder  Verbo- 
ten immer  als  ein  trauriges  Zeichen  entweder  despotischer  Zuvielgesetze 
oder  anarchischer  Zuweniggesetze  angesehen  werden :  so  ist  doch  si- 
cher auch  die  beste  Regierung  bisweilen  in  der  Lage,  solche  Ausnah- 
men gestatten  zu  müssen,  wenn  nicht  der  Zweck  der  Regel  selbst  ver- 
eitelt werden  soll.  Da  fuhrt  denn  gleichfalls  die  nöthige  causae  cognitio 
zu  besonderer  Beamtenarbeit  im  Interesse  eines  Einzelnen,  und  diese 
mag  billiger  Weise  bezahlt  werden,  schon  um  von  leichtsinnigem 
Queruliren  abzuschrecken. 

Der  Missbrauch  der  Dispensirgewalt  zu  Geldzwecken  ist 
wohl  am  weitesten  getrieben  worden  in  England  unter  den  Tudors 
und  früheren  Stuarts,  sowie  in  der  römischen  Kirche  der  Länder, 
wo  sie  von  dem  heilsamen  Einflüsse  der  Reformation  ganz  unbe- 
rührt geblieben.  Elisabeth  soll  von  Dispensen  zu  Gunsten  kirchen- 
treuer Katholiken  jährlich  an  1 00000  Kronen  bezogen  haben  (Vocke, 
Gesch.  der  Steuern,  32).  Lange  Liste  von  Verboten,  die  1639  nur 
in  der  Absicht  erlassen  waren,  für  Geld  davon  zu  dispensiren,  bei 
Anderson  0.  of  C,  a.  1639.* —  Die  amtliche  Lehre  der  römischen 
Kirche  vom  Ablass  s.  bei  Hirscher,  Die  kathohsche  Lehre  vom 
Ablass  (1829.  1855.).  Der  Ablasshandel  ist  vom  Tridentiner  Concil 
(Sess.  XV.)  entschieden  verworfen.  Selbst  Tetzel  lehrte,  dass  die 
Ablässe  nicht  die  Sünde  tilgen,  sondern  nur  die  ihr  folgenden  zeit- 
lichen Strafen ,  und  auch  diese  nur  dann ,  wenn  aufrichtig  bereuet 
und  gebeichtet  worden  ist.  (Gröne,  Tetzel  und  Luther,  1853, 
S.  81  (F.).  Wie  freilich  die  Praxis  dem  oft  sehr  wenig  entsprochen 
hat,  zeigt  nicht  bloss  die  bekannte,  höchstens  übertriebene  Schilde- 
rung in  Huttens  Vadiscus,  sondern  auch  der  glänzende  Ertrag,  wel- 
chen Staat  und  Kirche  verbündet  im  spanischen  Amerika  vom  Bullen- 
verkaufe bezogen:  1)  Bulle  der  Todten,  um  das  Fegfeuer  der 
Verstorbenen  abzukürzen;  2)  gemeine  Bulle  der  Lebenden,  wodurch 
man  das  Recht  erlangte,  für  jede  Sünde  von  jedem  Priester  absol- 
virt  zu  werden,  das  Fastengebot  zu  übertreten  etc.;  3)   Milchbullen, 


den  konnte,  dazu  geführt  haben,  dass  die  Unterthanen  bei  sonnenklarem  Recht 
doch  gegen  fiscalische  Erpressung  aus  Furcht  vor  den  Processkosten  oft  still 
schwiegen.    (Ach.  Gennarelli^  II  governo  pontificio  e  lo  stato  Romano:  Prato  4  860]. 


35]  Versuch  eitler  Theorie  der  Finanz-Regalien.  149 

NYodurch  Geistliche  das  Recht  gewannen,  in  der  Fastenzeit  Milch 
und  Eier  zu  verzehren;  4)  Compositionsbullen ,  die  für  bestimmte 
Sunden  Ablass  gewährten,  natürlich  unter  der  Voraussetzung,  dass 
die  Sünde  bereuet  werde,  nicht  in  Aussicht  auf  den  Ablass  gesche- 
hen, der  EigenthUmer  z.  B.  des  gestohlenen  Gutes  nicht  bekannt 
sei  u.  dgl.  m.  Alle  diese  B.  galten  erst  vom  Augenblicke  der  Be- 
zahlung an;  ihr  Preis  richtete  sich  nach  Rang  und  Vermögen  des 
Käufers,  und  wer  dabei  Unterschicif  beging,  dem  half  der  Ablass 
nichts.  Vgl.  Depons  Voyage  ä  la  Terreferme  III,  34flF.  Bourgoing 
Tableau  de  TEspagne  II,  19 ff.  Ahnlich  in  Portugal:  Ebeling  Portu- 
gal, 129 ff.     Schäfer,  Port.  Gesch.  V,  96ff. 

Im  Ganzen  pflegen  die  Gebühren  um  so  niedriger  und  zuletzt 
vom  Grundsatze  der  reinen  Staatsausgabe  verdrängt  zu  werden,  je 
mehr  das  öffentliche  Interesse  bei  den  betreffenden  Staatshandlungen 
das  Privatinteresse  überwiegt.  Und  auch  vorher  schon  sollte  bei 
notorisch  dürftigen  Staatsangehörigen  die  Gebühr  wegfallen,  wenn 
durch  Nichterfüllung  ihres  Privatinteresses  ein  beigemischtes  Staats- 
interesse unbefriedigt  bleiben  würde.  ^) 

6. 

Das  System  der  Gebühren  schliesst  sich  am  besten  dem 
Systeme  der  verschiedenen  Staalsthätigkeiten  an,  die  mit  Einzelnen 
in  Berührung  kommen^).     Hiernach  unterscheiden  wir 


9]  Umpfenbach  I,  67.  Weil  der  Staat  bei  allen  seinen  Anstalten  gemein- 
nützige Zwecke  verfolgen  muss,  wird  den  Einzelnen,  welche  die  Gebühr  entrich- 
ten, niemals  die  ganze  Kostendeckung  aufzulegen  sein.  Vielmehr  »verlangt  die  Ge- 
rechtigkeit die  Tragung  des  Kostentheils  durch  die  Gesammtheit,  welchen  die 
Gesammtheit  ununterscheidbar  veranlasst  hatu.  (I,  65.)  Vgl.  Bier  sack,  Über 
Besteuerung,   84. 

\)  Stein,  F.  W. ,  228  theilt  die  G.  in  die  der  Verwaltung  des  Äussern, 
des  Heeres,  der  Finanzen,  der  Justiz  und  des  Innern ,  also  entsprechend  der  ge- 
wöhnlichen Eintheilung  der  Fachministerien.  Die  Natürlichkeit  dieses  Gedankens 
hat  viel  Anmuthendes.  Nur  ist  dagegen  einzuwenden,  dass  in  verschiedenen  Staa- 
ten die  einzelnen  Ministerien  sehr  verschieden  gegen  einander  abgegrUnzt  sind. 
Bau  (F.-W.  I,  §.  230fr.)  unterscheidet:  in  allen  Zweigen  der  Staatsverwaltung 
vorkommende  G.  und  in  einzelnen  Zweigen  ausschliesslich  vorkommende ;  die  letz- 
teren nach  Bechtspflege,  Schutzpolizei,  Staatsvertheidigung,  Yolkswirthschaftspflege 
und  Yolksbildungssorge  eingetheilt. 


150  Wilhelm  Röscher,  [36 

A.  Aligemeine  Gebühren,  die  für  jede  privatliche  Bemü- 
hung einer  Staatsbehörde  gezahlt  werden,  ohne  Rücksicht  auf  die 
besondere  Natur  der  dabei  in  Frage  kommenden  Zwecke.  Solche 
Gebühren,  meist  in  der  Form  des  Stempelpapiers  erhoben,  knüpfen 
sich  an  die  schriftlichen  oder  protocollirten  Privateingaben  bei  der 
Behörde,  sowie  an  die  von  dieser  gegebenen  Bescheide  an.  Sie  wer- 
den gewöhnlich  nach  der  Grösse  des  Schriftstückes  oder  Länge  der 
zum  Protocolliren  verwandten  Zeit  bemessen,  und  sind  verhältniss- 
mäs^g  leicht  zu  controliren.  Sie  müssen  aber  wegen  ihrer  Allge- 
meinheit sehr  niedrig  sein,  um  nicht  unerträglich  zu  werden.  2)  Hier- 
her gehören  auch  die  Beglaubigungen  von  Abschriften,  Unterschriften 
etc.,  welche  die  Staatsbehörden  ohne  viel  materielle  Verschiedenheit 
wegen  der  allgemeinen  publica  fides  des  Staates  vornehmen. 

B.  Verwaltungsgebühren.  Sie  betreffen  1)  Angelegenhei- 
ten des  persönlichen  Lebens  (Civilstandsgebühren) :  wie  z.  B. 
die  Eintragung  der  Geburten  und  TodesföUe  in  die  amtlichen  Regi- 
ster, die  Mitwirkung  der  Behörde  bei  Schliessung  und  Auflösung  der 
Ehe,  bei  Namensänderungen,  Erwerb  oder  Verlust  der  Staats-  oder 
Gemeindezugehörigkeit;  die  Ausstellung  von  Zeugnissen  über  alle 
diese    Verhältnisse,    sowie    überhaupt    von    Legitiraationspapieren.^*). 


2)  In  Preussen  kostete  (bis  1873)  jede  Eingabe  an  eine  Staatsbehörde  5  Sgr., 
jeder  Bescheid  derselben  15  Sgr.  Stempel,  so  lang  sie  übrigens  sein  mochten. 
Dadurch  wurden  die  peinlichen  Vorschriften,  wie  viele  Zeilen  auf  den  Stempel- 
bogen, wie  viele  Wörter  auf  die  Zeile  gehen  sollen,  unnöthig.  In  Baden  Eingabe- 
stempel öO  c^  pro  Bogen,  10  .^  pro  Bogen  für  jede  Beilage,  Protocollgebuhr 
pro  Stunde  (und  weniger)  \  Jt  bei  den  Bezirksämtern^  %  Jt  bei  den  Mittel-  und 
Oberbehörden.  Die  Nothwendigkeit ,  Armuthszeugnisse ,  Steuernach  lasse ,  Steuer- 
quittungen, den  Verkehr  der  Behörden  unter  einander,  sowie  den  rein  privatrecht- 
lichen Verkehr  derselben  mit  dem  Publicum  gebührenfrei  zu  lassen,  ruft  eine 
Menge  von  Ausnahmen  hervor,  die  zum  Theil  Anlass  zu  vielen  Controversen  ge- 
ben. Übrigens  haben  gerade  solche  allgemeine  Gebühren  sehr  häufig  den  An- 
knüpfungspunkt für  Verkehrsteuern  gebildet. 

3)  Wenn  nach  dem  deutschen  Reichs-G.  vom  6.  Febr.  1875  die  weltlichen 
Civilstandsämter  die  Register  und  die  darauf  bezüglichen  Verhandlungen  koslen- 
und  stempelfrei  führen,  (dagegen  für  Vorlegung  der  Register  1 — \^kJt,  für  Aus- 
züge daraus  ^ji — 2  Jl),  so  geschah  das  wohl  in  der  Absicht,  den  anfangs  sehr 
unpopulären  Zwang  zur  bürgerlichen  Trauung  etc.  leichler  durchzusetzen.  Die 
Namensänderung  kostet  in  Bayern  20 — 200  Jl,  in  Württemberg  6—50  UJf ,  Ba- 
den tO — 20  Jl,  Pässe  in  Preussen  1,50  Uff,  Bayern  1 — 3  UJf,  Österreich  16  Kr. 
bis    1   Fl.      Wenn   früher    in   Russland    ein  Pass    nach    dem   Auslande    60    Ruh. 


37]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  151 

—  2)  Volks wirthschaftliche  Angelegenheiten.  Hierher  gehören 
die  zahlreichen  Fälle  von  PirUfungs-  und  Zeugnissgebuhren,  wo  selbst 
unter  Herrschaft  der  Gewerbefreiheit  einzelne,  leicht  Gefahr  bringende 
Gewerbe  nur  von  Solchen  getrieben  werden  können,  welche  die  erfor- 
derliche Geschicklichkeit  oder  sittliche  Zuverlässigkeit  dem  Staate  nach- 
gewiesen  haben  (Arzte,  Lootsen,  Seeschiffer  —  Schauspielunternehmer, 
Schenkwirthe ,  Pfandleiher,  Hausirer  etc.:  s.  mein  System,  Bd.  111, 
§.  1 46.)  Ferner  die  ConcessionsgebUhren,  wo  gewisse  Anstalten,  deren 
schlechte  Einrichtung  oder  Errichtung  auf  einer  unpassenden  Stelle, 
wohl  gar  schon  deren  Ubergrosse  Anzahl  gemeinschädlich  sein  würde^ 
einer  Prüfung  ihres  Standortes,  ihrer  Statuten,  wohl  gar  einer  fortlau- 
fenden obrigkeitlichen  Aufsicht  unterworfen  werden.  Im  Zeitalter  des 
Concessionssystems,  welches  der  Gewerbefreiheit  voraufzugehen  pflegt 
(Bd.  III,  §.  144),  war  diese  Kategorie  eine  sehr  umfangreiche.^) 
Hierher  gehört  die  Beaufsichtigung  der  Fabriken  (Bd.  III,  §.  149), 
der  Privatforsten  (Bd.  H,  §.  193)  und  Bergwerke  (Bd.  HI,  §.  180. 
182)  durch  technische  Staatsbeamte,  um  gegen  Misshandlung  der 
Arbeiter,  Raubbau  etc.  zu  sichern;  die  Revision  der  Apotheken,  die 
obrigkeitliche  Fleischschau   etc.^);    die    Ausstellung    von    Jagdkarten 


kostete,  4  854 — 56  sogar  250  Rub.  halbjährlich,  so  mochte  dies  zum  Theil  als 
Luxussteuer,  zum  Theil  als  Polizeimassregel  zur  Erschwerung  des  Ausreisens  be- 
trachtet werden ;  die  vielen  theueren  BauernpUsse  als  Gegenmittel  gegen  die  Wan- 
dersucht des  russischen  Volkes.  In  dem  dritten  Decennium  unsers  Jahrh.  trugen 
die  Fasse  noch  über  4  Mill.  Rub.   ein;    4  879  auf  2630000  veranschlagt. 

4)  Hier  muss  ganz  besonders  vor  einer  allzu  grossen  Hohe  der  Gebühr  ge- 
warnt werden.  Sobald  dieselbe  zu  einer  Gewerbesteuer  wird,  so  ist  das  natür- 
lich eine  sehr  üble  Steuer,  welche  auf  die,  vorher  ja  noch  ungewisse,  wirkliche 
Ergiebigkeit  des  Gewerbes  keine  Rücksicht  nimmt  und  durch  ihre  Erhebung  auf 
einmal  und  für  immer  das  Kapital  des  Unternehmers  gerade  in  dem  Augenblicke 
schmälert,  wo  er  dasselbe  am  nöthigsten  braucht.  Dies  gilt  auch  gegen  das  fran- 
zösische Actiengesetz  von  4  850,  das  jeder  neuen  Actiengesellschaft  eine  Stempel- 
steuer von  4  oder  ^2  P^oc.  ihres  Kapitals  auferlegt,  je  nachdem  sie  auf  mehr 
oder  weniger  als  4  0  Jahre  berechnet  ist. 

5)  Pfeiffer,  Staatseinnahmen  I,  34  4  meinte  dass  man  die  Kosten  einer 
Aufsicht,  welche  den  Fabrikherm,  Apotheker  etc.  geradezu  beschränken  soll, 
allerdings  im  Interesse  des  Gemeinwohls,  nicht  dem  Beschränkten  selbst  auflegen 
dürfe.  Offenbar  eine  atomistische  Auffassung,  die  ganz  verkennt,  wie  ja  der 
wahrhaft  und  nachhaltig  gedeihliche  Betrieb  der  Fabriken,  Apotheken  etc.  nur  in 
Harmonie  mit  dem  Gemeinwohle  gesichert  werden  kann. 


152  Wilhelm  Röscher,  ^38 

(Bd.  II,  §.  174),  durch  deren  böhern  oder  niedrigem  Tarif  der  Staat 
sehr  wirksam  auf  Schonung  oder  Verminderung  des  Wildstandes 
hinarbeiten  kann.  Ferner  die  Eichung  der  Masse  (Bd.  III,  §.  98), 
die  Prüfung  der  Schiffe,  Dampfmaschinen  etc.  in  Betreff  ihrer  Sicher- 
heit, die  Punzirung  der  Edelmetallgeräthe®),  vormals  auch  die  amt- 
liche Schau  und  Stempelung  vieler  anderen,  im  Kleinen  hervorge- 
brachten und  im  Grossen  abzusetzenden  Waaren  (Bd.  III,  §.  147). 
Auch  die  Gebühren  für  Benutzung  der  Landstrassen,  Brücken,  Häfen, 
etc.:  wenn  der  Staat  den  Bau  und  die  Erhaltung  dieser  Verkehrs- 
mittel als  seine  staatliche  Pflicht  betrachtet  und  desshalb  in  ihrer 
Verwaltung  den  Grundsatz  des  privatwirthschaftlichen  Reinertrages 
schon  aufgegeben,  aber  gleichwohl  den  der  reinen  Ausgabe  noch 
nicht  eingeführt  hat ^  (Bd.  III,  §.  88.  93).  —  3)  Bildungsanstal- 
ten. Wenn  der  Staat  diese  für  so  noth wendig  oder  doch  gemein- 
nützlich hält,  dass  er  die  Kosten  jedenfalls  auf  seine  Kasse  nimmt, 
so  müssen  die  Beiträge  dazu,  die  etwa  den  wohlhabenderen  Be- 
nutzern abgefordert  werden,  (Schulgeld,  Inscriptionsgeld,  bei  Museen 
etc.  Eintrittsgeld),  als  eine  Art  von  Gebühr  gelten.  —  4)  Ertheilung 
von  Privilegien  oder  Dispensen.  In  der  ersten  Beziehung  sind 
von  besonderer  Wichtigkeit  die  Patentgebühren  (Bd.  III,  §.  167);  in 
der  letzten  die  Gebühren  für  Erlassung  der  Militärpflicht.  Sind  diese 
höher,  als  die  Kosten  der  causae  cognilio  betragen,  so  können  sie 
entweder  zur  Steuer  (Wehrsteuer)  werden,  oder  auch  den  Gebüh- 
rencharakter behalten,  falls  nämlich  der  Staat  den  Oberschuss  zur 
Anschaffung  eines  Militärstellvertreters  anwendet.  ^) 

C.  Justiz  gebühren.    Sie  zerfallen  nach  den  drei  Hauptzweigen 


6)  In  Frankreich  wird  für  die  Prüfung  und  Garantie  der  Gold-  und  Silber- 
barren, ehe  sie  in  den  Handel  kommen,  8,18  Fr.  pro  Kil.  Gold  und  2,4  Fr.  pro 
KU.   Silber  gezahlt,      (de  Parieu  Tr.  des  Impots  III,   425). 

7)  Mit  Recht  betont  Pfeiffer  (I,  317)  den  Unterschied,  dass  auf  den  Staats- 
chausseen etc.  die  eigentliche  Transportarbeit  der  Privatunternehmung  überlassen 
ist,  während  auf  den  Staatseisenbahnen  der  Staat  selber  sie  besorgt.  Jene  sind 
dah^r  für  den  Fiscus  nicht  als  gewerbliche  Unternehmungen  des  Staates,  sondern 
nur  im  Gebühren wege  zu  nutzen. 

8)  In  Sachsen  musste  man  sich  vor  4  866  durch  Zahlung  von  300  Thl.  los- 
kaufen, wenn  man,  durchs  Loos  bestimmt,  doch  nicht  selber  dienen  wollte.  In 
Frankreich  kostete  unter  Napoleon  III.  die  Befreiung  von  der  Militärpflicht  eine  jährlich 
vom  Kriegsminister  festgestellte  Summe,  1860  =  1800  Fr.;  in  Spanien  6000  Realen. 


39]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  153 

der  Rechtspflege  in  1)  Civilprocess gebühren,  wozu  auch  die  Gebüh- 
ren für  das  Verfahren  im  Concurse,  bei  den  Zwangsvollstreckungen  etc. 
gehören.  Dass  sie  für  die  höhere  Instanz  höher  tarifirt  sind,  ist  dem 
Grundsatze  der  Kostenprovocation  durchaus  angemessen^).  Dagegen 
sollte  sich  die  Abstufung  nach  der  Werthgrösse  des  Gegenstandes,  die 
nur  billig  wäre,  wenn  die  Kosten  dem  Processgewinner  zur  Last  fielen, 
nicht  progressiv,  sondern  degressiv  in  sehr  engen  Schranken  halten, 
damit  nicht  die  kleinen  Streitigkeiten  unerschwinglich  hoch  belastet 
werden.^**) —  2)  Gebühren  der  nichtstreitigeu  Rechtspflege:  so  für 


9)  Das  deutsche  Gerichtskostengesetz  von  1878  steigert  die  Gebührensätze 
in  der  Berufungsinstanz  um  ein  Viertel ,  in  der  Revisionsinstanz  um  die  Hälfte. 
(§.  49).  Ältere  französische  Juristen  hatten  wohl  die  höheren  Gebühren,  welche 
der  unterliegende  Appellant  zahlen  musste,  als  eine  Strafe  für  die  vexatio  curiae 
betrachtet. 

4  0]  In  Athen  legten  beim  Anfange  des  Privatprocesses  beide  Theile  die  irpu- 
Tavsia  nieder,  für  Streitgegenstände  von  4  00  bis  4  000  Drachmen  Werth  =  3, 
von  4  000  bis  4  0000  Dr.  Werth  =  30  Dr.:  welche  dem  Sieger  vom  Processverlie- 
rer  w^ieder  erstattet  werden  mussten.  Wenn  in  Öffentlichen  Processen  der  Kläger 
nicht  einmal  ^/5  der  Stimmen  erhielt,  so  zahlte  er  4  000  Dr.  an  den  Staat.  Von 
den  römischen  Succumbenzgeldern  schon  zur  Zeit  der  XII  Tafeln,  (beim  Werthe 
des  Streitgegenstandes  von  1000  As  oder  mehr  =  500  As,  bei  geringeren  Sa- 
chen =  50  As),  s.  Festus  v.  Sacra mentum ;  Varro  De  1.  1.  V,  4  40;  Gajus  IV, 
4  4  ff.  95.  Der  englische  Tarif  für  kleinere  Sachen  fast  erdrückend.  Nach  dem 
Berichte  eines  pari.  Committee  von  4  847  betrugen  die  Sportein  für  Einklagung 
einer  Summe  von  4  00  £  im  günstigsten  Falle  7  £  7V2  Sh.  bis  4  0 — 4  6^2;  für 
eine  erste  Yormundsrechnung  4  4-47-4;  für  eine  Wahnsinnserklärung,  falls  die 
Yermögensrente  unter  420  £  ist,  65-40-2  bis  423-2-6.  Lord  Brougham 
sagte  4  854  im  Oberhause,  dass  die  Processkosten  vor  den  Grafschaftsgerichten, 
jährlich  =  264  000  £,  47Y2  Proc.  der  eingeklagten,  30  Proc.  der  wirklich  er- 
langten Summe  betrügen.  (Vocke,  Gesch.  der  Steuern,  209).  Aber  auch  in 
Frankreich  waren  4  873  die  Kosten  eines  gerichtlichen  Verkaufes  bei  Gegenständen 
von  unter  500  Fr.  Werth  durchschnittlich  4  23,29  Proc.  vom  erzielten  Preise; 
bei  Gegenständen  von  500—4  000  Fr.  =  50,76  Proc,  von  4  004 — 2000  Fr.  = 
28,45,  von  2004 — 5000  Fr.  =  44,08,  von  5004  —  40000  Fr.  =  7,92,  von 
über  40000  Fr.  ==  2,24  Proc.  (Leroy-Beaulieu  Sc  des  F.  I,  54  4).  Die  gewöhn- 
liche Etnklagung  einer  Schuld  von  4  0000  Fr.  kostete  4  Proc,  dagegen  von  4  000 
Fr.  4  0  Proc,  von  4  00  Fr.  80  Proc,  von  50  Fr.  sogar  4  60  Proc  (Journ.  off. 
40.  Fevr.,  4  874).  Das  deutsche  Gerichtskosten-G.,  §.  8  setzt  die  »volle  Gebühn< 
für  Werthe  bis  zu  20  Mk.  auf  4  Mk.  an;  für  Werthe  von  200—300  auf  4  4, 
von  900 — 4  200  auf  32,  von  2  4  00 — 2700  auf  50,  von  8200 — 4  0000  auf  90; 
weiterhin  für  je  2000  Mk.  mehr  auf  4  0  Mk.  mehr.  Doch  wird  auch  in  Deutsch- 
land sehr  über  zu  grosse  Hohe  der  Gerichtskosten  geklagt;    ebenso   über  die  für 


154  Wilhelm  Röscher,  [*0 

die  ReguliniDg  eines  Nachlasses,  ^^)  die  Bestellung  und  Rechenschaft 
eines  Vormundes,  die  Einträge  in  das  Handels-  oder  Genossen- 
schaftsregister, das  Autorenregister  zur  Sicherung  des  s.  g.  geistigen 
Eigenthums,  ebenso  in  die  Grund-  und  Hypolhekenbücher.  Ferner 
die  Gebühren  von  gewissen  feierlichen  Rechtsgeschäften,  die  zur 
öJQfentlichen  Kenntniss  gebracht  werden  müssen,  um  nach  gehöriger 
SachprUfung  gegen  Ansprüche  Dritter  geschützt  zu  sein:  wie  z.  B. 
Adoptionen,  Mortificirung  von  Schuldscheinen,  Errichtung  von  Fami- 
lienfideicommissen  ^2)  etc.  Je  mehr  sich  der  Formalismus  des  Rechts 
entwickelt,  um  so  breiter  pflegt  das  Gebiet  dieser  Gebühren  zu  wer- 
den J^)  Es  sind  aber  andererseits  auch  eben  sie,  w^oran  sich  Ver- 
kehrsteuern besonders  häufig  anschliessend*).  —  3)  Gebühren  der 
Strafrechtspflege:  bei  denen  es  gewiss  nicht  unbillig  ist,  wenn 
die  z.  B.  durch  ein  Verbrechen  veranlassten  Untersuchungskosten, 
auch   die  Kosten,    den  Verbrecher   im   Untersuchungs-   und  Strafge- 


Nichtjuristen  so  schwere  Berechenbarkeit  der  Sätze.  Fall^  wo  beim  Subhastations- 
erlöse  von  4  45,50  Mk.  die  Sportein  des  Gericlits Vollziehers  94,58  betrugen: 
Dresdener  H.-K.-Bericht  4  880,   7  ff. 

\  4 )  Wohl  von  Erbschaftsteuern  zu  unterscheiden  !  Nach  den  preussischen  G. 
von  4  854  und  4  854  beträgt  die  Gebühr  von  Nachlassregulirungen  bei  Vermögen  bis 
zu  4  00  Thlr.  von  jedem  Thlr.  4Y2  Sgr.  (5  Proc.) ,  doch  nicht  unter  4  5  Sgr; 
vom  Mehrbetrage  bis  200  Thlr.  31/3  Proc,  bis  4  000  Thlr.  41/3  Proc,  bis  5000 
Thlr.  Y3  Proc,  weiterhin  von  je  500  Thlr.  Mehrbetrag  2/^5  Proc  Kommt  eine 
gerichtliche  Erbtheilung  hinzu,  so  werden  diese  Sätze  um  die  Hälfte  erhöhet. 

4  2)  Gebühr  für  Fideicommittirung  eines  Vermögens  in  Preussen  3  Proc.  vom 
Werthe  ohne  Abzug  der  Schulden;  ebenso  im  K.  Sachsen.  In  Bayern  %  Proc. 
und  die  Hälfte  der  ordentlichen  Gerichtsgebühren. 

4  3)  La  loi  sur  Venregistrement  est  pour  notis  autreif  legistes  la  plus  noble, 
ou  pour  mieux  dire,  la  seule  noble  entre  toutes  les  lots  ßscales.  Quand  le  fisc  veut 
percevoir  un  droit  d'enregistrement,  il  faut  presque  qü'il  se  fasse  docteur  es  loü, 
afin  de  penetrer  dans  Vinftnie  variete  des  actes  de  la  vie  civile.  (Troplong  Ga- 
zette des  Tribunaux  20.  Juill.  4  839).  A.  Wagner  schreibt  es  dem  grossem 
Rechtsformalismus  in  Frankreich  und  Österreich  zu,  wenn  solche  G.  dort  ein- 
träglicher sind,  als  in  England  und  Deutschland,  während  man  nach  der  übrigen 
volkswirthschaftlichen  Entwicklung  dieser  Länder  das  Gegentheil  erwarten  sollte 
(F.-W.  II,  31).  Ähnlich  schon  Besobrasoff  Möm.  de  l'acad.  de  St.  P^tersb, 
4867,   p.   34  ff. 

4  4)  Sind  Privaturkunden  bloss  dann  stempelpQichtig ,  wenn  sie  vor  Gericht 
producirt  werden,  so  bleibt  der  Gebührencharakter  gewahrt.  Müssen  sie  aber 
auch  ohne  irgendwelche  Bemühung  einer  Staatsbehörde  gestempelt  werden,  so  tritt 
der  Steuercharakter  ein. 


441  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  155 

fäDgnisse  zu  erhalten,  von  dem  Schuldigen  vergütet  werden.  Frei- 
lich wird  die  Ariuuth  der  meisten  Sträflinge  diesen  Anspruch  grossen- 
theils  illusorisch  machen  *^)  ^^) . 

7. 

Die  Verwendung  der  Gebühren  hat  regelmässig  hinter 
einander  zwei  Stufen  durchgemacht.  Auf  der  ersten,  wo  überhaupt 
eine  mehr  privatrechtliche  Färbung  herrscht,  fliessen  sie  dem  Beamten, 
welcher  die  bezahlte  Staatshandlung  verrichtet  hat,  als  Theil  seiner 
Besoldung  zu.  ^)  Dies  vereinfacht  das  ganze  Kassen-  und  Rechnungs- 
wesen, scheint  auch  dem  Verhältnisse  zwischen  Verdienst  und  Lohn 
am  genauesten  zu  entsprechen,   am   wirksamsten  zur  Thätigkeit  an- 


4  5)  Das  deutsche  Gerichtskosten-Geselz  fordert  bei  einer  Freiheitsstrafe  von 
i — 4  0  Tagen  5  Mk.  Gebühren,  bei  4 — 6  Wochen  30  Mk.,  bei  4 — 2  Jahren  4  00 
Mk.,  bei  3 — 4  0  Jahren  4  80  Mk.,  bei  allen  schwereren  Strafen  300  Mk.  (§.  62). 
V.  Reite ck,  Lehrbuch  des  Vernunftrechts  etc.  IV,  284  halt  mit  Recht  eine  Sonde- 
rung der  vom  Inquisiten  verschuldeten  und  nichtverschuldeten  Untersuchungskosten 
für  nothwendig. 

4  6)  In  Preussen  rechnete  Hoffmann,  Lehre  von  den  Steuern,  430  fr.,  dass 
4  838  die  Justizverwaltung  an  Gebühren  über  3  Mill.  Thlr.  bezog,  (abgesehen 
vom  Stempelpapier) ,  dass  aber  der  Staat  zu  ihren  Kosten  ausserdem  noch 
24  66000  Thlr.  zuschoss.  Um  4  868  soll  die  preussische  Justiz  45V2  Mill.  Thlr. 
gekostet  haben,  wovon  4  2700000  durch  eigene  Einnahmen  gedeckt  wurden. 
(Preuss.  Jahrbb.  Febr.  4  868,  244).  In  Bayern  war  4  877  der  Etat  des  Justiz- 
ministeriums  (ohne  die  Strafanstalten)  4  0,43  Mill.  Mk. ;  dagegen  der  Ertrag  der 
Justiz  4  876  (ohne  die  Pfalz)  4,30  Mill.  von  der  streitigen,  9,48  Mill.  von  der 
nichtstreitigen  Rechtspflege,  wobei  aber  freilich  viel  auf  wirkliche  Verkehrsteuern 
kommt.  In  Württemberg  Kosten  der  Justiz  3,44  Mill.,  Ertrag  4,084  Mill.  (mit 
einigen  Verwaltungsgebühren  =  24439  4).  In  Baden  Kosten  der  Justiz  (ausser 
dem  Ministerium)  3,35  Mill.  Mk. ;  Gerichtssporteln  und  Gebühren  der  Rechtspo- 
lizei 2256000.  Vgl.  den  Bericht  der  Stempelgesetz-Gommission  des  deutschen 
Bundesrathes  von  4  877.  Die  absolute  und  relative  Hohe  des  Gebührenertrages 
in  verschiedenen  Staaten  mit  einander  zu  vergleichen,  ist  darum  bis  jetzt  nur 
höchst  unvollkommen  möglich,  weil  die  G.  fast  überall,  jedoch  in  sehr  verschie- 
denem Grade,  mit  Verkehrsteuern  verquickt  sind.  Was  das  Verhältniss  der  ein- 
zelnen G. -Kategorien  unter  einander  betrifft,  so  fielen  im  Dresdener  Bezirke  des 
K.  Sachsen  4  875  auf  bürgerliche  Streitigkeiten  41,4  Proc. ,  auf  Goncurse  4,2, 
auf  Strafsachen  8,5,  auf  die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  45,9  Proc.   des  Ertrages. 

4 )  Neben  dem  Fredum,  welches  dem  Könige  oder  der  Gemeinde,  überhaupt 
dem  Staate  gezahlt  wurde ,  (s.  schon  Tacit.  Germ.  4  2) ,  kommen  Gebühren  für 
die  urtbeüenden  Schöffen  vor  (Bodmann,  Rh.  Alterth. ,  634.  662),  ja  z.  B.  in 
der  Lombardei  Taxen  derselben  von  4  4  77.      (Walter,  Deutsche  R.-G.,  §.  692). 


156  Wilhelm  Koscher,  [42 

zuspornen^).  Freilich  aber  liegt  darin  auch  eine  grosse  Versuchung, 
die  sportulirten  Arbeiten  unnützer,  ja  schädlicher  Weise  zu  vermeh- 
ren, was  der  Achtung  vor  der  Behörden thätigkeit  grossen  Abbruch 
thut.  Eine  klare  Übersicht  der  wirthschaftlichen  Verhältnisse  seiner 
Beamten  ist  dem  Staate  fast  unmöglich,  wodurch  sich  dann  z.  B.  die 
Beförderungen  in  der  Amtshierarchie  oft  genöthigt  sehen,  im  Dunkeln 
zu  tappen.  ^)  Auch  wird  jede  Reform  des  Sportelwesens  durch  solche 
Privatinteressen  ungemein  erschwert.^)  Man  hat  desshalb  in  der 
Regel  mit  der  Ausbildung  der  Centralisation  und  Budgetwirthschaft 
die  Gebühren  mehr  und  mehr  zur  Staatskasse  gezogen  und  den 
Beamten  dafür  einen  festen  Gehalt  ausgeworfen.  Zwischen  diesen 
Gegensätzen  lag  nicht  selten  die  Übergangsstufe,  dass  die  von  sämmt- 
liehen  Mitgliedern  einer  Behörde  verdienten  Sportein  in  einen  ge- 
meinsamen Separatfiscus  der  Behörde  flössen,  woraus  die  Einzelnen 
dann  etwa  nach  ihrem  Dienstalter,  jedenfalls  nicht  nach  ihren  spe- 
ciellen  Leistungen  Zuschüsse  erhielten.  ^)*^) 


2)  Noch  Rehberg,  Von  der  Slaalsverwallung  deutscher  Länder  (4807i, 
S.  1 60  hält  eine  Mischung  von  Gehalt  und  Sportein  für  das  beste  Mittel,  die  Be- 
amten zur  Thätigkeit  anzuspornen.  K.  S.  Zachariä  ßndet  die  Sportein  nament- 
lich bei  Untersuchungsrichtern  nothwendig.      (Vom  Staate,  VII,    252). 

3)  Wie  übel  z.  B. ,  wenn  der  auf  Sportein  angewiesene  Gerichtsvollzieher 
sich  wirthschafllich  besser  steht,  als  der  Richter  oder  selbst  Gerichtsdirector ! 
Vgl.   Schall   a.   a.   0.,    88. 

4)  In  England  hatte  zu  Bacons  Zeit  der  Attorney-General  etwa  6000  £  St. 
jährlich  einzunehmen ,  wovon  bloss  81-6-8  unmittelbar  vom  Staate  kamen; 
der  Lordkanzler  10 — 4 5000  £  St.,  worunter  gar  keine  feste  Besoldung.  Die  be- 
rüchtigte Bestechungsgeschichte  Bacons  war  ein  Theil  von  der  Übergangskrise  aus 
der  Besoldung  der  Richter  in  fees  zu  der  Besoldung  in  salary,  (Athenaeum  28. 
Jan.  1860).  In  Frankreich  nahmen  die  unter  Ludwig  XII.  aufkommenden  epices, 
trotz  des  Verbotes  von  Heinrich  IL,  (Bailly  Hist.  fmanci^re  de  la  France  I,  208  tf.) 
dermassen  zu,  dass  1664  die  etwa  45000  käuflichen  Finanz-  und  Justizämter,  die 
nur  8346000  £  Gehalt  bezogen,  doch  zu  44  9  Mill.  Kapitalwerth  geschätzt  wur- 
den. (Forbonnais  F.  de  la  Fr.  I,  329).  Von  dänischen  Richtern  im  18.  Jahrh., 
die  nur  20  Thlr.  feste  Besoldung  hatten,  s.  Schlosser,  Gesch.  des  18.  Jahrh.  III, 
101.  In  Schweden  gab  es  noch  1830  Richter  mit  333  Thlr.  Gehalt,  aber  2700 
Thlr.  Sporteleinnahme.  (Forseil,  Statistik  von  Schw.,  243).  Sehr  charakteri- 
stisch ist  die  Thatsache,  dass  in  Bayern,  als  man  die  Sportein  zur  Staatskasse  ge- 
zogen hatte,  gleich  beim  nächsten  Budget  ihr  GesaiDmtertrag  um  300000  Fl.  nied- 
riger veranschlagt  wurde,  obschon  keine  Tarifänderung  stattgefunden  hatte. 

5)  Hoffmann  (Lehre  v.  d.  Steuern,  429)  hält  das  hierdurch  genährte 
Standesinteresse  zwar  für  besser,   als  das  frühere   persönliche,    meint  aber  doch, 


i3]  Yebslch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  157 

Was  die  Erhebungsform  der  Gebühren  betrifft,')  so  können 
dieselben  A.  entweder  unmittelbar  von  der  geschäftleitenden  Be- 
hörde selbst  eingezogen  werden,  oder  B.  mittelbar  durch  eine  dem 
Pflichtigen  vorgeschriebene  Benutzung  von  gestempelten  Papieren 
oder  Marken.  Das  erste  Verfahren,  das  im  Ganzen  auch  das  ältere 
ist,^)  macht  Umgehungen  der  Gebuhrenpflicht  fast  unmöglich,  schützt 


es  liege  auch  dann  noch  immer   eine   für   die  Rechtspflege   bedenkliche  Pflichten- 
collision  vor. 

6)  Der  neuzeitliche  Sinn  Friedrichs  II.  führte  es  ein,  dass  in  SiciÜen  die  Spor- 
teln  nicht  mehr  unter  die  Richter  vertheilt,  sondern  dem  Hofe  verrechnet  wurden; 
was  dann  am  fixen  Gehalte  derselben  fehlte,  ward  vom  Schatze  zugeschossen, 
das  etwanige  Plus  der  Sportein  dem  Schatze  abgeliefert.  (Raumer  Hohenstaufen  III, 
512).  In  Brandenburg  wurde  mit  Errichtung  des  Kammergerichtes  (1546)  der 
grosse  Schritt  gethan,  dass  der  Kurfürst  alle  Strafgelder  allein  bezog,  während 
die  Sportein  freilich  noch  den  Richtern  verblieben.  (Stenzel,  Preuss.  Gesch.  I^ 
262).  Dagegen  war  es  1746  in  Gocceji's  Reform  ein  Hauptpunkt,  alle  Sportein 
in  eine  gemeinsame  Kasse  zu  ziehen.  (Stenzel  IV,  320).  Golbert  verhiess  im 
August  1669,  dahin  wirken  zu  wollen,  dass  die  Justiz  bei  höherer  Besoldung  der 
Richter  unentgeltlich  verwallet  werden  sollte.  Als  die  Reform  von  4771  dies 
theilweise  vollzog,  (Sismondi  Hist.  des  Fr.  XXIX,  433.  462),  bedurfte  der  Staat 
hierzu  34  Mill.  Livres  neuer  Steuern  (de  Parieu  Traite  des  Impots  III,  253(1.). 
Der  » aufgeklärte tt  Musterfürst  Leopold  von  Toskana  hob  alle  Beamtensporteln  auf. 
'Grome,  Staatsverwaltung  von  Toscana  I,  306).  In  der  Schweiz  wurden  nach 
dem  Bauernkriege  von  4  654  CT.  die  Sportein  wenigstens  in  den  städtischen  Repu- 
bliken ermässigt.  (Meyer-Knonau,  Schw.  Gesch.  U,  27).  Doch  sind  sie  z.  B.  in 
Bern  erst  seit  4  831  dem  Staate  unmittelbar  verrechnet  worden.  (Rau's  Archiv 
IV,  419).  Aber  selbst  in  Russlaud  vertauschte  Iwan  IV.  455,6  die  Gerichtsspor- 
teln^  wegen  der  vielen  Erpressungen,  die  sich  daran  geknüpft  hatten,  mit  Steuern. 
(Karamsin,  Russ.  Gesch.  VII,  405).  Man  hat  jedoch  neuerdings  gegen  die  Be- 
stechlichkeit der  russischen  Beamten  wohl  gerathen,  ihnen  dasjenige,  was  sie  bis- 
her unrechtmässiger  Weise  durchschnittlich  genommen  hatten ,  als  rechtmässige  Ge- 
bühr,  aber  mit  streng   festgehaltenem  Tarif,  zuzusprechen. 

7;  Grosses  Verdienst  um  diese  Lehre  hat  sich  A.  Wa  gne  r ,  F.-W.  II,  §.  320  fl*. 
erworben:  obwohl  ich  mit  Schall  a.  a.  0.  88  übereinstimme,  dass  seine  Herein- 
ziehung der  gewerblichen  Staatsleistungen  der  Klarheit  nicht  förderlich  gewe- 
sen ist. 

8)  Die  Erhebung  durch  Stempelpapier  scheint  zuerst  in  Holland  4  624  auf- 
gekommen zu  sein,  als  impost  van  bezegelde  brieven,  nachdem  die  Generalstaaten 
Erfindung  einer  neuen  Abgabe  als  Preisfrage  ausgeschrieben  hatten.  Vgl.  Boxhorn 
Disquisitt.  politt.,  p.  394  ff. ,  Varii  tractatus  politt. ,  p.  607.  (Der  Stempel  von 
Justinians  Novelle  44  hat  keinen  finanziellen  Charakter).  Nachgeahmt  zuerst,  wie  es 
scheint,  in  den  spanischen  Reichen;  von  da  in  Frankreich  durch  Fouquet  4  654, 
worauf  4  673  eine  Erweiterung   auf  alle  iranscictions   erfolgte.      (Forbonnais  F.   de 


158  Wilhelm  Röscher,  [44 

auch  das  Publicum  vor  den  etwanigen  schlimmen  Rechtsfolgen  eines 
in  der  Wahl  der  Stempelmarke  begangenen  Irrthums :  was  namentlich 
bei  verwickelten  Geschäften,  unklar  abstufenden  Tarifen  etc.  von 
Wichtigkeit  sein  kann.  Freilich  bürdet  solche  directe  Erhebung  den 
Behörden  grosse  Arbeitslast  auf,  da  streng  genommen  jede  einzelne 
Gebührenzahlung  besonders  gebucht  werden  müsste.  Beim  Verkaufe 
der  Stempelbogen  oder  Marken,  der  ja  meist  in  grösseren  Beträgen 
erfolgt,  sich  auch  der  Privatkaufleute  als  Vermittler  bedienen  kann, 
wird  der  grösste  Theil  dieser  Arbeiten  von  den  Pflichtigen  selbst 
besorgt.  Eine  Art  Selfgovernment,^)  freilich  auch  mit  den  Unbe- 
quemlichkeiten des  Selfgovernments,  da  hier  eine  genaue  Controle 
nöthig  ist,  und  eine  Menge  von  Specialvorschriften  über  Format  und 
Ausfüllung  der  stempelpflichtigen  Papiere,  Kassirung  der  Marken  etc., 
sowie  von  Slrafdrohungen  leicht  der  ganzen  Anstalt  eine  vexatorische 
Farbe  geben.  Am  schlimmsten,  wenn  die  Versäumniss  des  richtigen 
Stempels  wohl  gar  Ungültigkeit  des  ganzen  Geschäftes  nach  sich 
zieht:  ein  Rigorismus,  der  volksvvirthschaftlich  gewiss  mehr  schadet, 
als  fiscalisch  nützt.  ^^)  Jedenfalls  lässt  sich  die  Stempelform  nur  da 
anbringen,   wo   sich    die   gebührenpflichtige    Handlung    in    Urkunden 


Fr.  I,  266.  Sismondi,  Bist,  des  Fr.  XXIV,  544.  XXV,  3<0.  Ranke,  Franz. 
Gesch.  II,  157).  In  Dänemark  4  660  (Spittler,  Gesch.  der  Revolution  in  D.,  76j, 
Schleswig-Holstein  schon  4  657  (Wailz,  Schi. -Holst.  Gesch.  H,  663  ff,),  Preussen 
und  Kursachsen  4  682,  Österreich  4  686,  England  4  694  (Tüb.  Ztschr.  4  884,  340), 
Hannover  4  709;  in  Russland  4  699  (Vgl.  Beckmann^  Beitr.  z.  Gesch.  der  Erfindd. 
11,  300 ff.).  Je  mehr  das  Finanzwesen  zur  Kasseneinheit  strebte,  um  so  mehr 
empfahl  sich  die  Stempelform  der  Gebühren. 

9)  Dass  übrigens  für  dünn  bevölkerte  Länder  gerade  Stempelpapier  etwas 
sehr  Lästiges  habe,  ist  von  B.  Franklin  Febr.  4  766  vor  dem  Unterhause  er- 
Örlert  worden. 

4  0)  In  Holland  genossen  früher  Schuld  forder  u  ngen ,  die  mit  dem  Stempel 
des  sog.  40-Pfennigs  versehen  waren,  ein  gewisses  Vorzugsrecht:  was  dann  oft 
von  betrügerischen  Bankerottirern  gemissbraucht  wurde.  (Richesse  de  Hollande 
II,  355).  Überhaupt  würde,  wenn  die  nichtgestempelten  Urkunden  für  ungültig 
erklärt  sind,  dies  oft  von  zwei  Contra henten ,  die  ein  Gesetz  umgangen  haben, 
dem  schlechtem  eine  sehr  demoralisirende  Prämie  gewähren.  Daher  Leroy- 
Beaulieu  lieber  für  eine  Geldbusse  ist,  falls  eine  stempelpflichtige,  aber  unge- 
stempelte Urkunde  vor  Gericht  erscheint.  (Sc.  des  F.  I,  489).  Dass  in  England 
solche  Urkunden  keine  Rechtskraft  haben,  rühmt  Vocke,  Gesch.  der  St.,  248 
als  die  naturgemässe  Strenge  eines  freien  Volkes,  das  sich  den  Staat  nicht  äusser- 
lich   gegenüber  denkt.      Um  so   schlimmer   freilich,    dass   man    4  0   Seh.    Gebühr 


4^]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  159 

gleichsam  fixirt:  und  sie  wird  hier  um  so  mehr  angezeigt  sein,  je 
einfacher,  schablonenhafter  diese  Handlungen ^^)  sind;  auch  je  nie- 
driger der  Gebtlhrensatz,  weil  nun  die  Controle  minder  scharf  zu  sein 
braucht.  Für  alle  verwickeiteren,  mehr  individualisirten  Fülle  von 
Gebühren  kann  das  System  der  unmittelbaren  Berechnung  und  Er- 
hebung sehr  verbessert  werden  durch  Pauschalirung:  wie  z.  B.  in 
Preussen  seit  1 822  die  Gerichte  erst  am  Schlüsse  des  Processes  über 
die  während  desselben  aufgelaufenen  Sportein  erkennen.  ^^)  Im  Ganzen 
scheint  übrigens  heutzutage  die  unmittelbare  Einziehung  der  Gebühren 
mehr   und   mehr  die  Stempelform    zu   verdrängen:*^)    ein  Fortschritt 


zahlen  muss,  wenn  man  sich  beim  Stempelamte  erkundigt  ^  welcher  Stempel  für 
eine  gewisse  Urkunde  vorgeschrieben  sei!  (Vocke,  213).  Früher  konnte  selbst 
das  Stempelamt  in  dieser  Hinsicht  nicht  mit  Auctorität  entscheiden,  so  dass  man 
wohl  erst  vor  Gericht,  wenn  es  zu  spät  war,  von  der  Ungültigkeit  der  irrthüm- 
lieh  gestempelten  Urkunde  erfuhr.  (MaccuUoch  Taxation,  274 ff.).  Und  in  Chitty 
Treatise  on  the  stamplaws  [1844)  waren  616  verschiedene  Rubriken!  Das  heisst 
doch  geradezu  den  Verkehr  unsicher  machen,  während  man  sonst  wohl  als  Ne- 
benvortheil  der  Stempel  eine  grössere  Sicherheit  rühmt :  dass  z.  B.  die  vorge- 
schriebene Schwere  des  Stempelpapiers  gutes  Urkundenmaterial  sichert;  die  Ein- 
stampfung  alles  in  einem  Jahre  nicht  verbrauchten  Stempelpapiers  durch  Zusam- 
menstimmung des  Wasserzeichens  und  des  Datums  der  Urkunde  selbst  manche 
Fälschungen  erschwert  etc. 

H)  So  hat  bei  der  Post  der  einheitliche  Portosatz  die  Briefmarken  zum  all- 
gemeinen Bedürfnisse  gemacht,  während  dem  frühern  Zonentarife  die  unmittelbare 
Erhebung  des  Portos  besser  entsprach.  (Wagner  F. -W.  II,  122).  Das  öster- 
reichische Gebührengesetz  von  1850  beschränkt  die  Stempelform  auf  Urkunden- 
gebühren mit  festem  Betrage  und  auf  die  nach  dem  Werthe  bemessenen  Gebühren 
von  Urkunden,  sofern  der.  Betrag  nicht  über  20  Fl.  ist.  (§.  4).  Bei  verwickehen 
und  hohen  Gebührensätzen  wäre  ja  doch  eine  genaue  behördliche  Nachrechnung, 
ob  die  Pflichtigen  den  rechten  Stempel  gewählt  haben,  nothwendig. 

4  2)  Eigene  Stempelfiscale  hatten  dann  nachträglich  zu  prüfen,  ob  die  Spor- 
tein wirklich  hoch  genug  angesetzt  worden.  Ein  von  Hoffmann  (a.  a.  0.,  435  ff.) 
sehr  getadeltes  Institut,  wodurch,  weil  die  Fiscale  mit  einer  Tantieme  des  von 
ihnen  bewirkten  Plus  bezahlt  wurden,  die  Sporteltaxe  durch  immer  schärfere  Aus- 
legung thatsächlich  immer  höher  stieg.  Nach  dem  G.  vom  10.  Mai  1854  »hört 
der  Gebrauch  des  Stempelpapiers  bei  den  Gerichten  auf.« 

4  3)  So  in  Frankreich  beim  Enregistrement.  In  Württemberg  war  schon 
1828  der  Stempel  nur  für  einige  Verkehrsteuern  beibehalten.  Bayern  hat  ihn 
für  Gebühren  durch  das  G.  von  4  879  abgeschafft.  Das  deutsche  Gerichtskosten-G. 
von  4  878  lässt  eine  Erhebung  von  Stempeln  neben  den  Gebühren  nicht  statt- 
finden. Urkunden,  welche  im  Process  errichtet  werden,  bleiben  den  sonstigen 
Vorschriften  über  Stempelerhebung  nur  insoweit  unterworfen,    als  ihr  Inhalt  über 


460  Wilhelm  Röscher,  [46 

bergauf,  der  am  besten  gelingt,  wenn  man  zwar  den  Ansatz  der 
Gebühren  der  Behörde  UbertrSigt,  welche  die  gebührenpflichtige  Hand- 
lung vorzunehmen  hat,  die  Einziehung  aber  von  einer  Finanzstelle 
besorgen  lässt. ")  ^'') 


Drittes  Kapitel. 
Handels-  und  Industriegeschäfte  des  Staates. 

8. 

Die  wegen  ihrer  finanziellen  Einträglichkeit^)  vom  Staate  be- 
triebenen Handels-  und  Industriegeschäfte,  mögen  sie  nun  durch 
Staatsbeamte  unmittelbar,  also  in  Regie  betrieben,  oder  an  Privat- 
unternehmer verpachtet  sein,  lassen  sich  bei  den  meisten  Völkern 
auf  folgende  Ursprünge  zurückführen.  Manche  Zweige  von  Staats- 
handel wurden  schon  durch  die  Naluralwirthschaft  der  Domänen, 
sowie  durch  die  Naturalerhebung  der  Steuern  dem  spätem  Mittelalter 
nahe  gelegt.  Auch  das  droit  de  prise  hat  in  Frankreich  wie  in  Eng- 
land oft  zum  Verkaufe  der  im  Übermasse  requirirten  Waaren  geführt : 
vgl.  Sismondi,  Hist.  des  Frangais  XII,  225.  268.  Bacon,  Speech  against 
purveyors:  Works  IV,  305  fg.  Ein  Grundherr,  also  auch  das  Doma- 
nium,  wird  leicht  daran  denken,  die  auf  seinem  Boden  zu  treibenden 
Gewerbe,  sobald  sie  Gewinn  versprechen,  sich  selbst  oder  seinen 
Leuten  vorzubehalten.     Wo  der  Satz:  Nulle  terre  sans  seigneur  ganz 


den  Gegenstand  des  Processes  hinausgeht  (§.  2).  Dass  diese  Tendenz  eine  regel- 
mässig heilsame  ist,  s.  bei  Schall  a.  a.   0.,   90. 

4  4j  Baden  hatte  schon  seit  4  834  die  Gerichts-  und  YerwaltungssteÜen  mit 
dem  Ansatz^  die  FinnnzbehÖrden  mit  der  Erhebung  der  Gebühren  beauftragt. 
Ähnlich  in  Österreich:  Ges.  vom  9.  Febr.  1850,  §.  42;  während  das  französische 
Enregistrement  von  denselben  Einnehmern  sowohl  den  Ansatz,  wie  die  Einziehung 
vornehmen  lässt. 

15j  Vgl.  über  diese  ganze  Lehre  die  Abhandlung  von  B^sobrasoff,  Im- 
p6ts  sur  les  actes  in  den  Denkschriften  der  St.  Petersburger  Akademie  4  866. 
4  867.  Und  die  reichhaltige  Zusammenstellung  der  neueren  Gebührengesetze  bei 
Ad.  Wagner  F.-W.  II,   32  ff. 

4j  Im  Gegensatze  der  blossen  Käufe  des  Staates  und  derjenigen  Productio- 
nen,  welche  nur  für  seinen  eigenen  Gebrauch  und  Verbrauch  dienen  sollen. 


47]  Yerscch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  161 

oder  annäherungsweise  durchgeführt  ist,  wo  also  die  Landwirthschalt 
etc.  nur  auf  Grund  einer  Art  von  Slaatsconcession  getrieben  werden 
kann :  da  scheint  es  natürlich,  dieselbe  Abhängigkeit  auf  die  Industrie- 
gewerbe zu  übertragen.  Bei  vielen  Gewerben  machte  sich  dies  um 
so  leichter,  als  sie  eben  ganz  neue  Gewerbe  waren,  ihr  Betrieb  folg- 
lich eine  Art  herrenloses  Gut  und  ihre  Regalisirung  für  kein  vorhan- 
denes Interesse  verletzend  schien. 2)  Hierzu  kamen  polizeiliche  Rück- 
sichten, wie  z.  B.  das  Tabaksregal  in  vielen  Staaten  unmittelbar  aus 
den  Luxusverboten  hervorgegangen  ist.^)  Bei  anderen  Gewerben  war 
vormals  das  nöthige  Zutrauen  der  fern  wohnenden  Käufer  nur  durch 
Aufsicht,  Stempelung  etc.,  überhaupt  Intervention  des  Staates  mit 
seiner  publica  fides  zu  erreichen.  (Mein  System  Bd.  III,  §.  1 47.)  Überall 
herrschte  gegen  Schluss  des  Mittelalters  und  im  Anfange  der  neuern 
Zeit  die  Ansicht,  dass  obrigkeitliche  Taxen  nöthig  wären,  um  das  Publi- 
cum vor  Übertheuerung  zu  schützen.  (Bd.  I,  §.  114.)  Dazu  kam 
noch  die  ununterbrochene  Schutzbedürfligkeit  der  Gewerbtreibenden  in 
einer  Zeit,  wo  die  corporative  Selbsthülfe  des  Mittelalters  nicht  mehr 
passte  und  gleichwohl  die  neuere  Rechtssicherheit  noch  keineswegs 
durchgebildet  war.  Hiermit  hängt  z.  B.  das  vormals  so  häufige  Vor- 
kaufsrecht des  Landesherrn  an  allen  eingeführten  Waaren  zusammen.'^) 
Es  ist  ein  Hauptgedanke  des  s.  g.  Mercantilsystems,  dass  auch  der 
Staat  allerlei  Gewerbe  treiben  soll,  und  seine  Industrialbehörden  zu- 
gleich polizeilich  über  den  entsprechenden  Privatbetrieb  die  Aufsicht 
führen.  (Bd.  III,  §.  34.) 

9. 

Nun  können  solche  Handels-  und  Industriegeschäfte  des  Staates, 
die  alsdann,  um  wirksamer,   zumal   einträglicher   zu  werden,  gerne 


2)  Dieser  Umstand  hat  noch  im  16.  und  4  7.  Jahrh.  grossen  Einfluss  gehabt 
bei  der  Entstehung  des  Post-  uod  Lolterieregals,  des  Regals  der  Zettelbanken^  bei 
der  Staatsmonopolisirung  so  vieler  Handelszweige  mit  neu  entdeckten  Ländern, 
dem  italienischen  Regale  des  Kornhandels  im  Grossen  etc. 

3)  In  Bayern  war  der  Tabak  noch  1656  wegen  Feuersgefahr  untersagt,  1670 
das  Verbot  aufgehoben;  1675  der  ganze  Verkehr  mit  Rauch-  und  Schnupftabak, 
sowie  mit  Pfeifen  an  Kaufleute  verpachtet.     (Zschocke,  Bayerische  Gesch.  III,   376.) 

4j  So  in  Island  (Dahlmann,  Dänische  Gesch.  II,  186),  in  Russland  zu  An- 
fang des  16.  Jahrh.  (Karamsin,  Russ.  Gesch.  VII,  164.)  Hierher  gehört  das 
jus  cambiij  recambii  und  excambii  in  England.     (Rymer,   Foedera  XIII,   216.) 


162  Wilhelm  Röscher,  [48 

den  Monopolcharakler  annehmen,  unter  den  vorhin  erörterten  Ver- 
hältnissen auch  in  einer  Republik  vorkommend)  Ihre  höchste  Aus- 
bildung jedoch  haben  sie  im  Zeitalter  der  absoluten  Monarchie 
erlangt.  So  wurde  in  Frankreich  1577  aller  Handel  für  droit  da- 
manial  erklärt;  daher  sich  die  Kaufleute  in  Gilden  vereinigen  und 
ftlr  die  Erlaubniss,  noch  ferner  zu  handeln,  bedeutend  zahlen  sollten. 
Dieselbe  Massregel  1 585  auf  die  Gewerbe  ausgedehnt.  In  der  Fronde- 
zeit drängte  das  Pariser  Parlament  sehr  eifrig  auf  Abschaffung  aller 
dieser  regalistischen  Erpressungen.  Dagegen  setzte  selbst  Colbert  das 
System  von  1577/85  praktisch  fort.  So  errichtete  er  z.  B.  1673  ff. 
zu  Paris  für  500000  Livres  24  Stellen  von  Wildpret-,  Federvieh-  und 
Eierhändlern,  die  allein  von  ausserstädtischen  Lieferanten  kaufen  und 
dann  5  Proc.  theuerer  verkaufen  sollten.  (Forbonnais,  Finances  de 
France  I,  447.)  Man  begreift  dergleichen,  wenn  Ludwig  XIV.  sich 
für  den  absoluten  Herrn  alles  Privateigenthums,  der  Geistlichen  wie 
der  Weltlichen,  hielt  (M6moires  historiques  de  Louis  XIV.  II,  121), 
und  in  seiner  Instruction  für  den  Dauphin  erklärte:  les  rais  sofU 
seigneurs  ahsolus  ei  ont  naturellemeni  la  disposiiion  pleine  et  libre  de 
tous  les  biens^  qui  sont  possedes.  Ähnlich  Louvois  politisches  Testa- 
ment: tous  V08  sujets  vous  doivent  leurs  personnes^  leurs  biens^  leur 
sang^  sans  avoir  droit  de  rien  pretendre.  En  vom  sacrifiant  tow/,  ik 
ne  vom  donnent  rien^  puisqtie  tout  est  ä  vom.  —  Gleichzeitig^)  hielt  sich 
Elisabeth  von  England  befugt,  jeden  Handelszweig  zum  Staatsmonopol 
zu  erklären.  Oft  wurden  alle  bisherigen  Betreiber  dadurch  ruinirt; 
oft  auch  hatten  sie  nur  durch  eine  Abgabe  das  Privilegium  des  Fort- 


i)  SchoD  gegen  Schluss  des  H.  Jahrb.  besass  z.  B.  in  Schlesien  fast  jede 
Stadt  einen  Keller,  worin  das  beliebte  Schweidnitzer  Bier  monopolisch  ausgeschenkt 
wurde.  Heftiger  Streit,  ob  innerhalb  der  Bannmeile  auch  die  Geisthchen  Bier 
ausschenken  dürften.  (Stenzel,  Preuss.  Gesch.  I,  159.)  In  Zürich  war  bis  zur 
Revolution  eine  Haupteinnahme  des  Staates  von  den  hohen  Abgaben  der  Kaufleute, 
nicht  selten  bis  zu  10  und  mehr  Promille  ihres  Vermögens  jährlich,  wofür  sie 
dann  ein  Monopol  des  Grosshandels  übten.  (Meyer-Knonau ,  Schweiz.  Gesch.  H, 
457.)  In  Tessin  deckten  selbst  im  Zeitalter  sonstiger  Gewerbefreiheit  die  sehr 
unabhängigen  Gemeinden  ihren  Bedarf  am  liebsten  durch  Verkauf  von  Back-  und 
Schlachtmonopolen,  oder  auch  durch  die  zu  bezahlende  Erlaubniss,  dass  die  Ein- 
wohner gewisser  Orte  bis  zu  einer  gewissen  Stunde  ausschliesslich  Butter  kaufen 
dürften  etc.     (Franscini  C.  Tessin  3H.) 

%)  Seit  4  575.  Übrigens  waren  namentlich  Eduard  IV.  und  Heinrich  VII. 
schon  mit  solchen  Monopol ien  vorangegangen. 


^^1  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  163 

betriebes  zu  erkaufen.  Viele  solcher  Monopolien  wurden  an  Günst- 
linge verschenkt  und  von  diesen  hernach  an  Fachleute  verkauft, 
unter  dem  Vorwand  der  Controle  durften  Privatpersonen  die  ärgsten 
Eingriffe  ins  Innere  der  Häuser  machen:  so  dass  z.  B.  die  Salpeter- 
monopolisten förmliche  Tribute  erpressten,  falls  man  von  ihren  Stall- 
visitationen verschont  bleiben  wollte.  Vgl.  d'Ewes  Journal  of  both  houses 
(1682),  644  ff.  Bis  1601  waren  Monopole  creirt  für  Korinthen,  Salz, 
Eisen,  Pulver,  Karten,  Kalbfelle,  Segeltuch,  Potasche,  Weinessig, 
Thran,  Steinkohlen,  Stahl,  Branntwein,  Bürsten,  Flaschen,  Töpfe, 
Salpeter,  Blei,  Öl,  Galmei,  Papier,  Spiegel,  Stärke,  Zinn,  Schwefel, 
Tuch,  Sardellen,  Bier,  Kanonen,  Hörn,  Leder,  spanische  Wolle,  irisches 
Garn  etc.  Als  diese  Liste  im  Unterhause  zur  Sprache  kam,  äusserte 
ein  Mitglied,  das  Brot  werde  gewiss  auch  bald  hineinkommen.  Der 
Salzpreis  war  durch  die  Monopolisirung  von  1 6  Pence  auf  1 4 — 1 5  Schill, 
pro  Bushel  gestiegen.  Im  Unterhause  ward  geäussert,  das  Ende  von 
alle  diesem  werde  beggary  and  bondage  lo  the  subjects  sein.  (d'Ewes, 
p.  619.)^)  Hume  vergleicht  die  Macht  der  Krone  im  damaligen  Eng- 
land mit  der  eines  türkischen  Sultans:  »der  Souverän  konnte  Alles 
thun,  ausser  neue  Steuern  auflegen (c  Factisch  lief  aber  diese  Mo- 
nopolgewalt ziemlich  auf  dasselbe  hinaus,  wie  ein  unbeschränktes 
Recht  der  indirecten  Besteuerung,  noch  dazu  in  besonders  lästigen 
Formen. 

Auch  in  Italien  finden  wir  das  Ende  des  Mittelalters  und  den 
Anfang  der  neuern  Zeit  voller  Staatsmonopolien,  vielleicht  am  gross- 
artigsten in  Toscana,  wo  das  Herrscherhaus  selbst  auf  Grund  eines 
Bankiergeschäftes  emporgekommen   war.'*)     Schon  Friedrich  II.  hatte 


3)  Die  Königin  War  so  klug,  auf  denlüthiges  Bitten  des  Unterhauses  die 
AbschafTung  der  gehässigsten  Monopolien  zu  versprechen,  was  dann  Jakob  I.  wirk- 
lich ausführte.  Nur  ein  grosser  Theil  des  auswärtigen  Handels,  z.  B.  mit  Ost- 
indien, blieb  der  Monopolisirungsgewalt  unterworfen.  Um  <624  erklärte  das  Par- 
lament alle  Monopolien,  ausser  bei  neuen  Erfindungen,  für  gesetzwidrig.  Karl  I. 
stellte  jedoch  in  seiner  unparlamentarischen  Zeit  viele  wieder  her,  allerdings  in 
der  verbesserten  Form,  dass  sie  nicht  einzelnen  Günstlingen,  sondern  regulated 
eompanies  übertragen  wurden ;  auch  vorsichtshalber  oft  mit  der  Clausel,  das  Privi- 
legium sollte  null  sein,  wenn  das  Recht  oder  Gemeinwohl  dadurch  verletzt  würden. 
Vgl.  Lingard,   History  of  England  IX,   4<8. 

4)  In  Toscana  hob  Leopold  II.  die  Monopolien  auf,  so  z.  B.  4779  das  M.  der 
Eisenfabrikation  und  des  Eisenhandcls.    (Crome,   Slaalsverwaltung  Toscanas  I,  25«.) 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oeaelluch.  d.  Wifisensch.  XXI.  4  2 


464  Wilhelm  Roschbr,  [^0 

in  Neapel  Staatsmonopole  für  Salz,  Eisen,  Slahl,  Pech,  vergoldetes 
Leder  eingeführt.  (Bianchini,  Storia  delle  finanze  del  regno  di  Na- 
poli  I,  245.)  Noch  vor  der  eigentlichen  spanischen  Herrschaft  waren 
so  alle  gemeinen  Lebensbedürfnisse,  wie  Öl,  Weizen,  Wein,  Schweine 
etc.  monopolisirt.  (Commines,  Memoires  VII,  Ch.  13.)  Ahnlich  im 
Kirchenstaate  unter  Sixtus  IV.,  der  namentlich  ein  sehr  druckendes 
Kornmonopol  errichtete.  (Commines  XI,  223  fg.)  Clemens  VII.  stei- 
gerte dadurch  in  Rom  den  Kornpreis  auf  das  dreifache  (Sismondi, 
Gesch.  der  Italien.  Freist.  XV,  154);  der  spanische  Vicekönig  von  Neapel 
1 540  ff.  so  sehr,  dass  man  in  gesegneten  Jahren  schlechteres  Brot  hatte, 
als  zur  Zeit  des  freien  Handels  die  Armen  während  einer  Theuerung. 
(Stellen  bei  Sismondi  XVI,  191.)  Auch  in  Mailand  führte  Leyva  ein 
M.  des  Mahlens  und  Backens  ein.  (Besold,  De  aerario,  45.)  Noch  zu 
Burnets  Zeit  kaufte  der  Papst  mittelst  der  Annona  von  den  Landwirthen 
um  5  Thir.,  was  er  den  Bäckern  um  12  Thlr.  verkaufte.  Jenen  blieb 
er  überdies  lange  schuldig;  diesen  nahm  er,  wenn  sie  nicht  alles 
Gekaufte  absetzen  konnten,  den  Rest  nur  wieder  für  5  Thlr.  ab. 
(Itinerary,  p.  15.)  Von  den  Monopolien  anderer  italienischer  Tyran- 
nen, z.  B.  in  Ferrara,  s.  Burckhardt,  Renaissance,  38.  Überhaupt 
Machiavelli,  Discorsi  III,  29.^) 

Aus  der  neuem  Geschichte  ist  besonders  merkwürdig  die  s.  g. 
Regie  Friedrichs  M.,  der  sonst  im  Allgemeinen  dem  Regalismus  wenig 


5)  Von  den  spanischen  Staatsmonopolen  für  Tabak,  Salz,  Blei,  Schiesspulver, 
Schwefel,  Siegellack,  Quecksilber,  Karten,  Wachs,  bis  4  746  auch  für  Branntwein: 
Townsenü,  Journey  II,  231  fg.  Bourgöing  II,  SU.  Im  spanischen  Amerika:  Hum- 
boldt, Neuspanien  Y^  2  0*.  38.  In  Russland  schildert  ein  Gesandtschaftsbericht  an 
Gustav  Adolf  als  die  Haupteinnahmsquellen  des  Czaren:  das  Münzregal,  das  Monopol 
der  geistigen  Getränke,  der  Badstuben,  der  Zobelfelle,  die  •  willkürliche  Bestimmung 
des  Kornpreises  und  dass  aller  Handel  nur  im  Auftrage  des  Czaren  getrieben  wurde. 
(Geijer,  Schwed.  Gesch.  III,  99.)  Vgl.  Karamstn  IX,  284.  Jeder  besonders  ge- 
winnreiche  Handelszweig  wurde  vom  Staate  an  sich  gerissen,  den  Privaten  wohl 
der  Verkauf  ihrer  Waaren  dann  erst  erlaubt,  wenn  der  Gzar  die  seinigen  abgesetzt 
hatte.  (Herrmann,  Russ.  Gesch.  III,  724.  540.)  Noch  unter  Peter  M.,  der  viele 
Monopolien  abgeschafll  hatte  (Herrmann  IV,  410),  dauerte  der  Staatshandel  in 
grosser  Ausdehnung  fort.  (Brückner  PossoschkofT  III,  4  2  ff.)  Auch  in  Gustav  Adolfs 
Finanzsysteme  spielen  die  M.  eine  grosse  Rolle:  seit  4  64  4  für  Kupfer,  4  628  für 
Salz,  4  634  für  Korn,  welche  letzteren  beiden  jedoch  bald  mit  hohen  Zöllen  ver- 
tauscht wurden;  4  624  eine  General-Handelscompagnie  für  den  äusseren ropäischen 
Verkehr  privilegirt.     (Geijer  III,   55(1.]. 


^4]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  165 

geneigt  war/)  doch  aber  in  der  finanziell  hochgespannten  Zeit  nach 
dem  siebenjährigen  Kriege,  wo  alle  Accisen  auf  Luxus-  und  Fremdwaaren 
so  gewaltig  vermehrt  und  erhöhet  wurden,  die  Kaffee-  und  Tabaksaccise 
bald  mit  einem  ebenso  einträglichen  wie  drückenden  Staatsinonopol  ver- 
tauschte. Der  Tabak  4  765  zum  Monopol  erklärt,  und  dieses  anfänglich 
verpachtet.  Aber  schon  4  766  nahm  der  König  es  in  Regie,  und  der 
Reinertrag  war  4785/6  über  4286000  Thir.  Der  Kaffee  zuerst  mit  4  Gr. 
pro  Pfd.  besteuert,  4772  mit  6  Gr.  2  Pfg.  Wegen  des  vielen  Schmug- 
gels wurde  4784  der  Staatshändel  eingeführt:  jede  Provinz  erhielt  ein 
Haupt-  und  mehrere  Nebendepots,  die  von  Kaufleuten  gegen  Caution 
gehalten  wurden.  Diese  verkauften  Kaffeebohnen  an  die  Privilegirten, 
die  wenigstens  20  Pfd.  jährlich  nehmen  und  dazu  einen  Brennschein 
lösen  mussten;  gebrannten  Kaffee  in  Büchsen  zu  24  Loth  an  die 
Krämer,  welche  5  Proc.  Provision  nehmen  durften.  Vgl.  Preuss, 
Gesch.  Friedrichs  M.  III,  zu  Anfang.  Wie  verhasst  dies  Regal  war, 
bezeugt  Hamann  in  Fr.  H.  Jacobi's  Werken  IV,  3,  4  45,  und  Bürger 
in  seinem  Raubgrafen.  Dem  Könige  selbst  erschien  seine  Regie  als 
der  rechte  Mittelweg  zwischen  seinem  frühem  Steuerwesen  und  der 
französischen  Steuerverpachtung.  Aber  schon  25.  Jan.  4  787  hob 
Friedrich  Wilhelm  II.  die  Tabaks-  und  Kaffeeregie  auf.') 

Auch  andere  Formen  der  unbeschränkten  Monarchie,  die  mit 
dem  vorzugsweise  s.  g.  Absolutismus  nur  mehr  oder  minder  Ähn- 
lichkeit  haben,   wie   z.  B.   der   morgenländische    SuHanismus,®)    der 


6)  Vgl.  Röscher,   Gesch.  der  N.  Ökonomik  in  Deutschland  I,   389  fg. 

7)  Welchen  Anachronismus  Friedrich  M.  durch  seine  Regie  beging,  zeigt 
sich  nicht  bloss,  wenn  man  ihn  mil  seinem  Vater  vergleicht,  (Röscher,  Gesch. 
der  N.  Ö.  in  Deutschland  I,  365),  der  doch  nicht  weniger  staatsgewaltig  und 
haushälterisch  war,  als  der  Sohn.  Sondern  fast  noch  deutlicher  in  der  Zusammen* 
Stellung  seines  Zeitgenossen  Justi,  des  Dieners  zweier  absoluten  Monarchen,  mit 
dem  ein  Jahrhundert  altern  J.  J.  Becher,  der  im  republikanischen  Holland  gelernt 
hatte.  Der  letztere  schwärmt  für  ein  grossartiges  Commercienregal,  welches  durch 
eine  Verbindung  von  Provianthaus,  Werkhaus,  Kaufhaus  und  Bank  eigenUich  die 
ganze  Volkswirthschafl  dirigirte.  (a.  a.  0.  I,  283  ff.).  Justi  hingegen  lehrt  geradezu, 
dass  Staatsgewerbe,  wenn  sie  einmal  im  Gange  sind,  möglichst  bald  an  Privat- 
unternehmer gegeben  werden  sollen,  da  sie  z.  B.  auf  auswärtigen  Absatz  schwerlich 
hoffen  können.     (Hanufacturen  und  Fabriken,   4  757,  I,  85tf.j. 

8)  Vom  türkischen  Kaffeeregal  s.  Ausland  4  856,  No.  9.  Mehemet  Ali  ver- 
band in  Ägypten  mit  der  Confiscation  alles  Bodens  ein  Monopol  für  Baumwolle, 
Mohn,  Lein,   Indigo   und  Zuckerrohr,    zu   deren  Bau   und  Ablieferung   die   Fellahs 


166  •  WiLHECM  Koscher.  [5^ 

abendländische  Cäsarismus,  welcher  der  ausgearteten  Demokratie  zu 
folgen  pflegt,^)  haben  dieselbe  Vorliebe  für  Staatsmonopolien.  Was 
man  im  heutigen  Yerfassungsstaate  mit  Recht  wider  sie  geltend  macht: 
dass  sie  das  Volk  ausser  Stand  setzen,  genau  zu  berechnen,  wie  viel 
der  Staat  ihm  kostet;  dass  sie  einen  vom  Parlamente  fast  unabhängigen 
Zweig  der  Staatseinnahme  bilden ;  dass  sie  ein  Heer  von  Beamten  in 
privater  Abhängigkeit  von  der  Regierung  halten  ^^) :  alles  dies  wird  von  ^ 
einer  unbeschränkten  Monarchie  zu  ihren  Gunsten  ausgelegt  werden. 
Bis  zu  welchem  Grade  freilich  die  Freiheit  des  Volkes  und  die  wahre 
Ordnung  darunter  leiden  können,  zeigt  in  erschreckender  Klarheit  der 
frühere  Zustand  eines  Theils  von  Brasilien  unter  der  Herrschaft  des 
Diamantenregals.  Kolonien  pflegen  alle  Richtungen,  welche  zur  Zeit 
ihrer  Gründung  im  Mutterlande  herrschen,  zur  äussersten  Consequenz 
zu  entwickeln,  weil  dort  wie  auf  einer  tahtda  rasa  die  meisten  Hemm- 
nisse der  rücksichtslosen  Geltendmachung  fehlen.    Das  Diamantenregal 


gezwungen  wurden;  ebenso  ein  Monopol  für  die  wichtigsten  Einfuhren  aus  dem 
Sudan :  Goldstaub,  Elfenbein,  Guaimi,  Straussenfedern  etc.  So  hatte  früher  der 
König  von  Siam  nicht  bloss  den  Grosshandel  mit  den  wichtigsten  Landesproducten 
allein,  sondern  auch  ein  Vorkaufsrecht  für  alle  eingeführten  Waaren.  S.  Finlayson, 
Mission  to  Siam  (18^20)  und  Crawfurd,  Embassy  to  the  courts  of  Siam  etc.  (1828). 
Neuerdings  hat  man  die  Monopole  mit  Zöllen  vertauscht.  t)brigens  liegt  es  in  Län- 
dern, wo  der  Kaufmann  sich  bei  jedem  Schritte  unsicher  fühlt,  in  seinem  eigenen 
Interesse,  als  Staatsbeamter  aufzutreten.  Israelitische  Staatsmonopole  unter  Salo- 
mon:   I.  Kön.    10,    15.   29.     Ewald,   Gesch.   von  Israel  III,   75. 

9j  Justinian  führte  zahlreiche  Monopolien  ein  (Procop.  Hist.  Are.  26),  na- 
mentlich eine  Art  von  Annona.  (22.)  Noch  während  der  Kreuzzüge  dauerte  dies 
für  Korn,  Wein  und  Ol  fort,  wahrscheinlich  bis  zur  Eroberung  durch  die  Vene- 
tianer.  (Albert.  Aquens.  bei  Bongars  I,  203.)  Übrigens  hatten  die  zahlreichen 
Staatsfabriken  der  früheren  Imperatoren  (wovon  der  Theodos.  Codex  und  die  No- 
titia  dignilatum  handeln),  ausser  dem  finanziellen  Zwecke  noch  die  Bestimmung, 
den  eigenen  Bedarf  des  Staates  z.  B.  an  Waflen  sicher  gut  zu  befriedigen  und  den 
Alleingebrauch  gewisser  Waaren,  z.  B.  Purpurkleider,  dem  Hofe  vorzubehalten. 
Die  Webereien  arbeiteten  für  den  Hof,  Geschenke  des  Hofes  und  das  Heer.  Die 
Arbeiter  meist  Frauen  aus  staatsleibeigenen  Familien  ;  die  Waffenarbeiter  auf  dem 
Arme  gebrandmarkt.  (Theod.  Cod.  X,  22,  4.)  Harte  Strafen  sowohl  für  Aus- 
reisser  und  deren  Verführer,  als  für  diejenigen,  welche  das  Monopol  gewisser 
Staatsfabriken  verletzten. 

10)  Die  schlimme  Kehrseite  hiervon,  dass  ein  Regierungswechsel  dann  für 
Viele  eine  sowce  de  fortune  sein,  also  zu  Revolutionsgedanken  reizen  würde  (Leroy- 
Beaulieu,  Sc.  de  F.  I,  92 ff.),  fürchtete  man  im  Zeitalter  des  gesunden  Absolutismus 
noch  nicht. 


S3]  Versuch  einer  Theorie  per  Finanz-Regalien.  167 

(seit  1730)  wurde  zuerst  nur  mittelst  einer  Quote  der  Ausbeute, 
hernach  mittelst  einer  Kopfsteuer  für  jeden  waschenden  Sklaven  ge- 
nutzt.  Seit  1741  Verpachtung,  wobei  aber  der  Pächter  bald,  anstatt 
der  bedungenen  700  Sklaven,  10000  beschäftigt  und  solches  durch 
ein  systematisches  Bestechungswesen  verdeckt  haben  soll.  Die  Regie 
(seit  1772)  von  Pombal  organisirt.  Der  Diamantenbezirk  streng  ab- 
gesperrt; selbst  der  Gouverneur  der  benachbarten  Provinz  nicht  ohne 
schriftliche  Erlaubniss  des  Intendanten  eingelassen.  Jeder  Austretende 
in  Kleidern,  ja  im  Körper  visitirt,  ebenso  die  Lastthiere ;  man  konnte 
sie  wohl  gar  24  Stunden  lang  festhalten,  um  die  Excremente  nach 
Diamanten  zu  durchsuchen.  Der  Intendant,  zugleich  höchster  Richter 
und  Polizeibeamter,  durfte  jeden  Einwohner  auf  blossen  Verdacht 
aus  dem  Bezirke  verbannen ;  waren  Diamanten  bei  demselben  gefun- 
den, sogar  mit  Vermögensconfiscation.  Von  seinem  und  der  Junta 
diamantina  Urtheil  gab  es  keine  andere  Appellation,  als  an  die  Gnade 
des  Königs.  Jeder  Beamte,  selbst  jeder  Soldat  konnte  nach  Diamanten 
eine  Haussuchung  vornehmen.  Wer  einen  nichtregistrirten  Sklaven 
hielt,  kam  3,  im  Wiederholungsfalle  1 0  Jahre  auf  die  Galeeren  in  Afrika ; 
ebenso  10  J.  Tür  den  Herren,  dessen.  Sklav  Diamanten  besass  oder 
nach  D.  grub.  Auch  in  der  Nachbarschaft  konnte  der  Intendant 
Niederlassungen  verhindern.  Alles  dies  bestand  im  Wesentlichen  noch 
1820  (Spix  und  Martins,  Reise  II,  430  ff.),  und  hat  doch  in  90  Jahren 
dem  Staate  nur  etwa  10,35  Millionen  Thlr.  eingebracht!  (v.  Esch- 
wege.) Erst  seit  Aufhebung  des  Monopols  ist  die  Stadt  Diamantina 
blühend  geworden.     (Wappaus,  Brasilien,  S.  1879.). 

10. 

Weil  im  Handel  und  Gewerbdeiss  die  Productionsfactoren  Ka- 
pital und  Arbeit  regelmässig  über  den  Factor  der  aneignungsfähigen 
Natur  noch  weit  mehr  vorwiegen,  als  in  der  Landwirthschaft,  so 
muss  auch  die  ökonomische  Überlegenheit  der  Privatunter- 
nehmung  über  die  Staatsbeamtenwirlhschaft  dort  in  der  Regel  eine 
viel  grössere  sein,  als  hier.  Je  mehr  ein  Geschäft  sich  der  persön- 
lichen Verschiedenheit  der  Einzelnen,  dem  rasch  wechselnden  Be- 
dürfnisse des  Augenblicks  anzupassen  hat,  um  so  hemmender  natür- 
lich die  Instructionen,  Controlemassregeln,  Berufungen  auf  eine  höhere 
Instanz,  deren  die  wirthschaflliche  Thätigkeit  von  Staatsbeamten  ge- 


168  Wilhelm  Rosgheb,  [^i 

rade  im  wohlgeregelteo  Staate  nicht  entbehren  kann.  Hier  gilt  wirk- 
lich das' Wort  Ad.  Snoith's*):  »Keine  zwei  Charaktere  scheinen,  un- 
vereinbarer, als  die  von  Trader  und  Sovereign.  .  .  Die  Diener  des 
sorglosesten  Privatmannes  sind  vielleicht  mehr  unter  den  Augen  ihres 
Herrn,  als  die  des  sorgfältigsten  Fürsten«.  Namentlich  für  Specula- 
tionen,  Vorausberücksichtigung  latenter  Bedürfnisse  der  Käufer,  wird 
der  gewissenhafte  Staatsbeamie  meist  zu  ängstlich  sein,  der  nicht 
gewissenhafte,  da  seine  Versuche  ja  auf  Staatskosten  gemacht  wer- 
den, fast  immer  zu  leichtsinnig.  Darum  können  Staatsgewerbe  so 
äusserst  selten    die   vollentwickelte   Privatconcurrenz  ertragen*)    und 


i)  Ad.   Smith,   W.  of  N.   IV,   p.    ^54.    187  ed.   Bas. 

2)  Aus  zahllosen  Erfahrungsbelegen,  die  es  hierfür  gibt,  nur  einige  wenige! 
Der  grosse  Kurfürst  räumte  von  !&einem  Guineahandel  selbst  ein,-da8S  ihm  jeder, 
aus  afrikanischem  Goldstaube  geschlagene  Ducaten  deren  zwei  ao  preussischen 
Waaren  gekostet  habe.  (Stenzel,  Preuss.  Gesch.  II,  463.)  Wie  die  neueren 
Ärarfabriken  Österreichs  fast  alle  mit  Schaden  arbeiteten,  wenn  man  die  Verzinsung 
des  Anlagekapitals  mit  berechnet,  s.  Rau-Hanssen,  Archiv  IX,  25  4  ff.  Die  Linzer 
Staatsmanufactur  gab  die  ordinUren  Tuche  schon  früh  auf  und  ging  statt  dessen 
zu  feinen  Teppichen  über,  mit  denen  sie  eine  Art  von  Seminarwirkung  üben 
konnte.  Seit  1850  verliess  sie  auch  dies  Gebiet  und  wurde  ganz  zu  einer  Tabaks- 
fabrik,  die  ja  monopolisch  gesichert  war.  Das  in  den  Staatsbergwerken  steckende 
Kapital  verzinste  sich  für  Preussen  lange  Zeit  nur  mit  3  Proc,  für  Baden  sogar 
nur  mit  \  Proc.  (Pfeiffer,  Staatseinnahmen  I,  469.)  Oft  wird  bei  Staatsgewerben 
das  wirkliche  Reinerlragsverhättniss  durch  die  historische.  Unklarheit  des  Anlage- 
kapitals oder  auch  durch  die  Unvollständigkeit  der  Berechnung  verdunkelt.  So 
erhielten  z.  B.  in  Bayern  die  Staatsbergwerke  das  Holz  um  25  Proc.  wohlfeiler 
und  waren  ausserdem  vom  Weggelde  befreiet.  (Rudhart,  Zustand  des  Kgr.  Bayern 
I,  4  28.)  Die  preussischen  Hüttenwerke  des  Staates  hätten  nach  der  Privatschrifl  : 
»Ober  die  Betriebsergebnisse  der  Staatshüttenwerke  in  den  J.  1853  —  60«  in  dieser 
Zeit  2332143  Thlr.  Verlust  ergeben;  und  selbst  die  amtliche  Gegenschrift  unter 
demselben  Titel  rechnet  nur  einen  jährlichen  Gewinn  von  240867  Thlr.  heraus, 
d.  h.  3.86  Proc.  des  wahrscheinlichen  Kapitalbetrages.  Der  baare  Uberschuss 
war  sogar  nur  0.9  Proc.  jährlich.  Man  hat  desshalb  in  Preussen  die  ailmäliche 
Veräusserung  dieser  Hüttenwerke  eingeleitet,  in  Baden  (wo  der  Ertrag  der  Staats- 
Eisenwerke  1855  unter  4  Prod.  war),  schon  4  868  vollendet.  Die  gewerblichen 
Etablissements  der  preuss.  Seehandlungsgesellschaft  hatten  4  869  nur  4  9775  Thlr. 
Reinertrag  für  einen  Buchwerth  von  über  4  Mill.  Thlr.  (Rau-Wagner  F.  W.  I,  457.) 
Ein  Erfolg  wie  derjenige  der  bayerischen  Eisengiesserei  zu  Wasseralfingen,  die 
z.  B.  4  854  zu  873000  Fl.  Kapital  berechnet  wurde  und  4  856  ==  330000  Fl. 
Reinertrag  hatte  (Rau,  Finanzwissensch.,  5.  Aufl.,  I,  2  4  4),  wird  auf  ganz  be- 
sonderen Gründen  beruhen.  Die  k.  sächsische  Porcellan fabrik  zu  Meissen  hat 
zwar  unter  günstigen  Conjuncturen,  wenn  sie  zugleich  eine  ausgezeichnete  Leitung 


^^j  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  169 

haben  sich  insgemein  bloss  dadurch  halten  können,  dass  ihnen  die 
gesetzgebende  Gewali  ein  Monopol  bewilligte.  Für  die  Yolkswirth- 
scbafl  im  Ganzen  freilich  wird  der  Verlust  hiermit  nicht  kleiner, 
sondern  nur,  durch  Vertheilung  auf  Viele,  weniger  merklich ;  er  wird 
in  der  Regel  sogar  noch  grösser,  da  nichts  mehr  zu  Trägheit  und 
Sorglosigkeit  verführt,  als  die  Gewissheit,  keine  Goncurrenz  fürchten  zu 
müssen^)  (Mein  System  Bd.  I,  §.  91).  Es  gibt  verschiedene  Grade  von 
Monopolisirung :  je  nachdem  bloss  die  Fabrikation,  oder  bloss  der  Ver- 
kauf, oder  beides  zusammen  dem  Staate  vorbehalten  ist^).  Aber  selbst 
der  mildeste  Grad  enthält  eine  zwiefache  Belästigung,  sowohl  der 
Producenten  wie  der  Consumenten,  während  der  freie  Handel  nach 
beiden  Seiten   wohlthätig  zu  vermitteln    pflegt^).     Einen  grossartigen 


besass,  ansehnliche  Oberscbüsse  geliefert.  So  1730 — 56,  1763 — 74;  wiederum 
seit  1863,  wo  bis  1879  im  Jahresdurchschnitt  4  94258  Mk.  an  die  Staatskasse  ab- 
geführt worden  sind  (4  882/3  sogar  370000):  freilich,  wenn  das  Kapital  an  Ge- 
bäuden, Maschinen,  Formen,  Vorräthen  etc.  4  868  zu  966800  Thir.  berechnet 
wurde,  nur  eine  Verzinsung  von  kaum  6.7  Proc.  (Allein  4  874 — 79  allerdings 
über  9.3  Proc.)  Aber  z.  B.  4  834,  als  man  zur  Feststellung  der  Civilliste  die 
Nutzungen  des  Domaniums  etc.  berechnete,  wurde  angenommen,  dass  die  Porcellan- 
fabrik  einen  regelmässigen  Zuschuss  erforderte.  (Wirklich  4  829 — 32  zusammen 
56795  Thlr.)  Erst  seit  dem  Anschlüsse  Sachsens  an  den  Zollverein  wurden  die 
Verhältnisse  besser.  Vgl.  Böhmert,  Gesch.  und  Statistik  der  Meissener  Porcellan- 
manufactur:  Sachs.  Statist.  Ztschr.  4  880,  44  ff.  —  Für  die  Erfolge  der  k.  preus- 
sischen  Porcellanfabrik  unter  Friedrich  M.  ist  es  bezeichnend,  dass  jeder  Jude, 
welcher  heirathen  wollte,  für  4  00  Thlr.  Porcellan  kaufen  und  exportiren  musste. 
(Mirabeau,  De  la  monarchie  Prussienne  II,  4  08.)  Die  bayerische  Porcellanfabrik 
zu  Nymphenburg  erforderte  jährlichen  Zuschuss  4  84  9 — 25  von  874  7  Fl.,  4  837 — 43 
von   4  4  782  FI. 

3)  Shakespeare's  Wort :  As  you  all  know,  security  is  mortals  chiefest  enemyf 
stimmt  ganz  mit  Huskisson  überein,  dass  das  Monopol  immer  Gleichgültigkeit  gegen 
Verbesserungen  erzeuge. 

4)  In  Frankreich  hatte  der  Staat  früher  beim  Salze  nur  das  M.  des  Ver- 
kaufs, gegenwärtig  bei  den  Zündhölzchen  nur  das  M.  der  Fabrikation,  beim  Tabak 
(mit  Ausnahme  der  Rohstoffproduction)  beides. 

5)  So  war  in  Frankreich  der  Tabaksbau  wegen  des  Regals  auf  8  Departe- 
ments beschränkt,  und  selbst  im  Dept.  Niederrhein  bald  von  6000  auf  4700  ha. 
zurückgegangen.  (Chaptal,  De  Tiodustrie  Fr.  I,  4  67 ff.)  Als  in  Mexico  4  764  das 
Tabaksregal  eingeführt  war,  durfte  Niemand  ohne  besondere  Erlaubniss,  die  aber 
nur  für  wenige  Q.  Meilen  bei  Veracruz  ertheilt  wurde,  Tabak  pflanzen.  Eigene 
Guardas  de  Tabaco  reisten  umher,  um  alle  sonstigen  Anbauer  in  Strafe  zu  nehmen 
und  ihre  Pflanzen  auszuraufen.  Die  Gegend  von  Guadalaxara,  die  sonst  viel  T. 
gebaut   hatte,    verfiel   kläglich.      (Humboldt,    N.  Espagne  IV,    4  0.)     Was  die  Con- 


170  Wilhelm  Röscher,  [56 

Aufschwung  kann  eine  Production,  auch  wenn  sie  von  der  Natur 
des  Landes  noch  so  begünstigt  wäre^),  unter  der  Herrschaft  eines 
solchen  Regals  nur  da  nehmen,  wo  ihr  ein  wirkliches  Naturmonopol 
zur  Seite  steht'). 

Wollte  man  durch  Verpachtung  an  Privatpersonen  die  Übel  des 
Monopols  mildern,  so  müsste  man,  weil  hier  eigentlich  nur  ein  Recht 
verpachtet  wird,  fürchten,  dass  sich  der  Eifer  des  Pächters  vorzugs- 
weise auf  die  grösstmögliche  Anspannung  dieses  Rechts  verlege, 
(volkswirthschaftlich  unproductiv!):  also  Übertheuerung  der  Consu- 
menten,  die  selbst  gegen  einen  vom  Staate  vorgeschriebenen  Tarif 
sehr  wohl  durch  Verschlechterung  des  Products  erfolgen  kann.  Ebenso 
wird  der  Pachter,  der  einen  Handelszweig  rechtlich  allein  besitzt, 
factisch  leicht  auch  andere  Handelszweige  an  sich  reissen,  und  da- 
mit dem  Publicum  weit  mehr  entziehen,  als  wofür  er  dem  Staate 
gezahlt  hat. 


sumenten  betrüTt,  so  sollen  wegen  des  Reismonopols  der  englischen  Compagnie 
4  767  in  Bengalen  t  Mill.  Menschen  verhungert  sein.  [J.  G.  Büsch^  Weltbändel  s.  a.) 
Als  Y.  Beust  in  Savoyen  das  Salzmonopol  sehr  verbessert  hatte,  meinle  der  König, 
wie  er  das  schöne  Salz  erblickte,  das  sei  zwar  für  die  .Unterthanen  sehr  vortheil- 
bafty  für  ihn  aber  sehr  unvortheiihaft.  (Justl,  Polit.  und  Finanzschr.  II,  379.) 
In  Bahia,  wo  der  Fleisch-  und  Fischverkauf  etc.  an  den  Meistbietenden  verpachtet 
war,   oft  bitterer  Mangel  an  Nahrungsmitteln.    (Spix-Martius,   Reise  II;   650.) 

6)  Bei  allem  Ruhm  der  Drake  etc.  hat  doch  die  englische  Rhederei  zwischen 
4  588  und  4  602  um  ein  Drittel  der  Schilfe  und  Seeleute  abgenommen:  wie  denn 
auch  der  Seehandel  wegen  der  vielen  Monopole  zu  mehr  als  80  Proc.  in  London 
concentrirt  und  hier  auf  etwa  200  Bürger  beschränkt  war.  (Hume,  Uistory  of 
England,  Ch.  45.)  Die  grosse  Rolle  des  Havanatabaks  fangt  erst  nach  Aufhebung 
des  Regals  an.  [Humboldt,  N.  Espagne  II,  p.  49.)  So  ist  in  Altspanien  die 
Bleiproduction  seit  Aufhebung  des  Regals  binnen  3  J.  um  das  Fünfzehnfache  ge- 
wachsen. (Schubert,  Staatskunde  HI,  68.)  Über  die  schlimmen  Folgen  der  anderen 
spanischen  Monopole  s.  Townsend,  Journey  passim,  besonders  I,  274  ff.  Ais  Pombal 
4  756  den  Weinhandel  von  Oporto  einer  Monopolgesellschaft  übergeben  hatte,  ver- 
schlechterte sich  die  Güte  der  dortigen  Weine  im  auffälligsten  Grade,  namentlich 
hörte  die  Verschiedenheit  der  Sorten  fast  gänzlich  auf,  während  der  Preis  auf  das 
Drei-  bis  Vierfache  stieg.  [Henderson,  Hislory  of  wines,  2  4  0.  Balbi^  Essai  sla- 
tistique  sur  le  Portugal  I,    4  57.) 

7)  So  rühmt  Wallace,  Malayischer  Archipel  I,  44  2fr.  das  Muscatregal  der 
holländischen  Insel  Banda,  die  eine  Art  Naturmonopol  eines  Luxusgegenstandes 
besitzt.  Hätte  man  dies  vom  Freihandel  ausbeuten  lassen^  so  würde  es  auf  eine 
viel  minder  gemeinnützliclie  Weise  in  die  iland  einzelner  Reichen  oder  Actionäre 
gerathen  sein. 


^7]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  171 

11. 

Wenn  also  bei  reifen  und  blühenden  Völkern,  um  ihren  finan- 
ziellen Staatsbedarf  zu  decken,  die  Vermuthung  durchaus  für  Be- 
steuerung der  Privatindustrie  und  des  Privathandels,  aber  gegen 
Staatsindustrie  und  Staatshandel  streitet  ^) '^ ,  so  gibt  es  doch  wieder 
bedeutende  Ausnahmen  von  dieser  RegeP),  die  freilich  in  jedem 
einzelnen  Falle  erst  durch  den  Nachweis  begründet  werden  müssen, 
dass  die  wahrhaft  freie  Privatconcurrenz  mit  ihren  überwiegend 
segensreichen  Folgen  (System  Bd.  I,  §.  97)  hier  entweder  nicht  möglich, 
oder  aus  besonderen,  sehr  triftigen  Ursachen  nicht  wünschensvverth  sei. 

A.  Ist  ein  Handels-  oder  Gewerbzweig  für  das  Volk  unzwei- 
felhaft nützlich,  wohl  gar  nothwendig;  sind  aber  die  Privat- 
kräfte, auch  die  zur  Corporation  oder  Actiengesellschafl  organisir- 
ten,  ebenso  unzweifelhaft  noch  nicht  reif  dafür:  so  bleibt  natürlich 
nur  der  Staatsbetrieb   für  solchen  Zweck   übrig.      Hierher   gehören 


i)  Sehr  merkwürdig  ist  der  Nachweis  des  Mioisters  v.  Heynitz  an  Friedrich 
Wilhelm  III.  1798,  dass  die  Fridericianische  Regie  4  780/81,  verglichen  mit  der 
auf  dieselbeo  Waaren  gelegten  Accise  von  1765/6  2^874  Tlilr.  weniger  einge- 
bracht hat,  und  dabei  die  Yerwaltungskosten  von  5.9  Proc.  auf  13.2  gestiegen 
sind.      (Riedel,   Brand,   preuss.  Staatsh.,    159.) 

2)  Während  sich  die  hscalische  Jurisprudenz  des  17.  Jahrh.  grossentheils 
um  die  Regalien  drehete,  hat  L.  v.  Stein  für  unsere  Zeit  ganz  Recht  mit  den  Sätzen: 
dass  der  Staat  jetzt  Regalien  festhält,  nicht  weil  er  ein  Recht  darauf  hat,  sondern 
weil  sie  nothwendig  sind ;  dass  sie  eine  Einkommensquelle  nur  bilden  dürfen, 
wenn  dies  mit  den  Bedürfnissen  der  Gesammtheit  vereinbarlich ;  dass  sie  eben 
darum  in  der  Finanzlehre  eine  untergeordnete,  in  der  Verwaltungslehre  eine  wichtige 
Rolle  spielen.  (Finanzwissenschaft,  2.  Aufl.  190  fg.)  Von  Monopolien  für  Staatsgewerbe 
hält  Stein  nur  in  dem  Falle  viel,  wo  sie  eine  Steuerform  sind.  Denn  sonst :  wenn 
das  Gewerbe  auch  ohne  Monopol  einträglich  ist,  dann  braucht  man  das  M.  nicht ; 
oder  wenn  das  Gewerbe  ohne  M.  nicht  einträglich  ist,  dann  schadet  das  M.  der 
Yolkswirthschaft.    (a.  a.  0.,   507.) 

3)  Vgl.  v.  Cancrin,  Weltreichthum,  168ff.  M.  Chevalier,  Cours  d*£co- 
nomie  politique  II,  Le9on  21  charakterisirt  die  Gewerbe,  die  ausnahmsweise  vom 
Staate  betrieben  werden  mögen,  so:  celleSf  qui  importent  ä  la  miisse  des  ciioyenSy 
qui  affectent  d'une  maniere  permanente  l'ensemble  des  transactions  de  toute  nature, 
et  auxquelles  en  meme  temps  l'unite  d'administration  est  particulierement  avantagetAse  ; 
Celles,  qui  ont  besoin  d'un  personnel  d'elite,  tres  longuement  prepare;  Celles,  qui 
pour  la  meilleure  qualite  des  produits  reclament  des  avances  de  capitaux  extreme^ 
ment  considerables,  auxquelles  les  Fortunes  privees  ne  sufßraient  pas  en  des  pays, 
oü  la  richesse  est  tres  divisee;  encore  celles,  qui  doivent  se  presenter  au  ptU)lic  en- 
vironnes  d'un  haut  degre  de  confiance,  que  des  citoyens  isoles  inspireraient  difficilement. 


172  Wilhelm  Röscher.  [58 

namentlich  alle  die  Gewerbe,  die  für  das  Heerwesen  noth wendig 
sind.  Kein  wahrhaft  souveräner  Staat  wird  sich  in  BetreflF  seiner 
Wafien  auf  eine  ausländische  Industrie  verlassen  wollen.  Aber  auch 
die  Anfänge  des  Kornhandels  im  Grossen,  sowie  des  fernen  Welt- 
handels können  solche  Kapitalien  erfordern  und  solche  Gefahr  laufen, 
dass  die  einstweilen  noch  sehr  schwachen  Privatkräfle  sich  nicht 
daran  wagen.  Hier  mag  der  Staat  erzieherisch  vorangehen*). 
Mitunter  bedarf  auch  er  in  solchem  Falle  zu  seiner  Ermuthigung 
eines  anfänglichen  Monopoles^):  nur  hat  er  sich  dann  aufs  Ausserste 
zu  hüten,  dass  er  nicht  aus  despotischer  Yielgeschäftigkeit  oder  kurz- 
sichtiger Plusmacherei  das  allmäliche  Heranwachsen  der  Privatindu- 
strie hemme.    Kann  diese  letztere  das  bisherige  Staatsgewerbe  wirk- 

• 

lieh  ersetzen,  so  ist  das  nicht  bloss  ein  günstiges  Symptom,  sondern 
es  wird  dann  auch  regelmässig  von  ihr  das  VolksbedUrfniss  rascher, 
wohlfeiler,  besser  befriedigt*^).  Vielleicht  wird  bei  kriegerischen  Be- 
dürfnissartikeln  ein  Rest  von  Staatsindustrie  immer  nothwendig  blei- 
ben,  weil   hier  so   oft  eine  Geheimhaltung   verbesserter  Waflfen  etc. 


4)  Wie  der  Dienst  des  Kornhandels,  gleichsam  der  Provia nlmeister  des  Volkes 
zu  sein,  fast  in  jedem  Mittelalter  durch  die  Kirche  mit  ihren  Zehntscheuern  und 
das  Domanium,  etwas  später  durch  die  obrigkeitlichen  Magazine  der  Städte  besorgt 
nvird,  ehe  der  gerade  bei  dieser  Waare  so  schwierige  Privathandel  sich  ausbildet, 
s.  mein  System  Bd.  II,  §.  155.  Der  erste  unmittelbare  Handel  Westeuropas  nach  dem 
südlichen  Afrika  und  Asien  ist  von  der  portugiesischen  Regierung  betrieben  worden, 
zu  einer  Zeit,  als  noch  nicht  einmal  solche  Actiengesellschaften  möglich  waren,  wie 
sie  nachmals  den  holländischen  und  englischen  Verkehr  nach  denselben  Ländern  ein- 
geleitet haben;  auch  diese  letzteren  wegen  Unmöglichkeit  des  Privathandels  im 
engern  Sinne.      (Bd.   HI,  §.   31.)  " 

5)  So  dass  z.  B.  die  Privatpersonen,  welche  zu  Jagdzwecken  Flinten  oder 
Schiesspulver  kaufen  wollen,  die  Staatsfabrik  ansprechen  müssen:  was  deren  Pro- 
ductionskosten  für  den  Heeresbedarf  wenigstens  etwas  verringert. 

6)  Mit  gutem  Grunde  warnt  Leroy-Beaulieu  den  Staat  davor,  seine 
ohnehin  so  grosse  Thätigkeit  nicht  noch  mehr  zu  compliciren.  Er  soll  nicht  bloss 
diejenigen  Gewerbe  den  Privaten  lassen^  für  welche  diese  sont  plus  aptes  que  luij 
sondern  alle,  jDour  lesquelles  il  n'est  pas  de  toute  evidence,  qu*il  a  une  competence 
exceptionelle .  (Sc.  des  F.  I,  92  ff.)  Ähnlich  meint  v.  Gerber  (D.  Privatrecht, 
§.  67),  dass  die  s.  g.  Regalien  bald  ganz  aus  dem  Privatrechte  verschwunden 
sein  werden,  indem  der  Staat  seine  Interessen  weit  angemessener  durch  Gonces- 
sionsgesetzgebung,  Besteuerung  etc.  befriedigt.  Was  ich  über  die  entgegengesetzte 
Ansicht  urtheile,  die  immer  mehr  Privatgewerbe  durch  die  »Zwangsgemeinwirth- 
Schaft«  absorbirt  sehen  möchte,   s.  in  meinem  Systeme  Bd.  I,   §.   84.    (16.  Aufl.). 


^9]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  173 

wttDSchenswerth  ist').  —  'Es  gibt  aber  auch  erzieherisch  gemeinte 
Staatsgewerbe,  die  selbst  auf  der  höchsten  Wirthschaftsstufe  mit  Segen 
fortdauern  können:  Seminarien,  um  die  edelsten  Bluthen  eines  Ge- 
werbzweiges zu  fördern,  diejenige  Schicht  gleichsam,  die  einstweilen 
für  den  Geschmack  und  darum  auch  für  die  Kauflust  der  Massen  zu 
hoch  steht,  wo  jedoch  bei  richtiger  Leitung  das  eigentliche  (erst 
geistige,  dann  auch  leibliche)  Wachsthum  des  ganzen  Gewerbes  vor 
sich  geht.  Im  Zeitalter  der  Hausmanufactur  hatten  solche  Seminarien 
eine  sehr  breite  Nützlichkeit.  (Bd.  HI,  §.  1 47.)  Aber  noch  heute  kön- 
nen sie  für  die  zunächst  an  Kunst  oder  Wissenschaft  angrSInzenden 
Gewerbzweige  von  Bedeutung  sein*).  Dass  sich  der  Staat  solcher 
Anstalten  auch  für  seine  unmittelbaren  Zwecke  bedienen  kann  (Ehren- 
geschenke an  fremde  Höfe  etc.,  Druck  von  Geheimschriften,  Papier- 
geld etc.),  versteht  sich  von  selbst.  Nur  das  würde  ich  missbilli- 
gen, wenn  er  auch  ordinäre  Bedürfnissgegenstände  seiner  Beamten, 
Soldaten  etc.  der  reifgewordenen  Privatindustrie  nicht  gönnen  wollte, 
»um  den  daran  zu  machenden  Gewinn  sich  selbst  vorzubehalten«. 
Dies  Princip,  in  vollster  Gonsequenz  entwickelt,  müsste  zum  Commu- 
nismus  fuhren! 

B.  Die  intensiveren  Transportunternehmungen  (Bd.  III, 
§.  77),  die  gerade  auf  den  höchsten  Wirthschaflsstufen  eine  so  grosse, 
immer  noch  zunehmende  Wichtigkeit  erlangen,  sind  meistens  von  der 
Art,  dass  hier  die  freie  Concurrenz,  überhaupt  die  Concurrenz  mit 
ihren  Spornen  und  Zügeln  entweder  gar  nicht,  oder  nur  in  geringem 
Masse  anzubringen  ist.     Beim  Betriebe  der  tüisenbahnen  z.  B.  würde 


7)  Mao  hat  wohl  für  eine  staatliche  Production  der  WalfeD  die  Thatsache 
geltend  gemacht,  dass  England  im  Krimfeldzuge  gewisse  Granaten  mit  73  £  St. 
pro  Tonne  bezahlen  musste,  die  es  hernach  für  t5  £  selbst  anfertigen  Hess. 
(Quart.  R.,  No.  205.)  Ebenso  die  Unhaltbarkeit  der  Kanonenboote,  welche  gegen 
Sdiluss  des  Krieges  von  der  Privatindustrie  gebaut  wurden.  Es  war  damals  eben 
eine  ganz  unerwartete,  einmalige  Nachfrage  gewesen !  Ihre  Dampfmaschinen  bezieht 
die  englische  Kriegsflotte  schon  längst  ohne  allen  Nachtheil  aus  Privatfabriken.  Das 
Quart.  Rev.,  Gel.  4  860,  p.  567  fg.  hoflUt,  dass  in  Zukunft  die  Staatsarsenale,  ab- 
gesehen von  neuen  Versuchen,  bloss  noch  das  Ausrüsten  und  Repariren  der  heu- 
tigen Schiffe  besorgen  werden. 

8)  So  die  Gobelinsfabrik  in  Paris,  (ein  Werk  Golberts),  die  Porcellanfabrik 
in  Sevres;  manche  Staatsdruckereien,  welche  die  privatwirthschaftlich  nicht  ren- 
tirenden,  aber  wissenschaftlich  wichtigen  Lettern  z.  B.  orientalischer  Sprachen  zur 
Verfügung  steilen. 


174  WUHELM    ROSCHER,  [60 

die  »freie  Concurrenz  auf  der  Schiene  eben  nur  eine  Freiheit  sein, 
Andere  zu  zermalmen  oder  von  ihnen  zermalmt  zu  werden^.  (Nebe- 
nius.)  Und  auch  der  Bau  von  zwei  concurrirenden  Bahnen  zwischen 
denselben  Endpunkten  wäre  oft  nur  eine  volkswirthschafllich  un- 
fruchtbare Verdoppelung  der  Bau-  und  Betriebskosten,  wobei  die  Be- 
nutzenden privatwirthschaftlich  eine  Zeitlang  durch  Schleuderpreise 
gewinnen  möchten,  bis  eine  Fusion  der  Nebenbuhler  doch  wieder 
ein  Ihatsiüchliches  Monopol  hergestellt  hat.  Da  hier  die  Strasse,  auch 
ohne  productiven  Gebrauch,  einer  starken  natürlichen  Abnutzung 
unterliegt;  da  bei  regelmässigem  Betriebe  Fahrzeug  und  Motor  immer 
ebenso  weit  zurück-,  wie  vorwärts  gehen  müssen:  kommt  es  bei 
allen  sehr  intensiven  Transportmitteln  vornehmlich  darauf  aa,  die 
»todte  Zeit  und  Kraft«,  sowie  das  »todte  Gewicht«  möglichst  einzu- 
schränken: also  auf  Verringerung  der  Generalkosten  durch  Massen- 
haftigkeit  und  Unterbrechungslosigkeit  des  Transportes.  Hieraus  er- 
klärt sich  der  starke  Trieb,  welchen  die  Eisenbahnen.  Briefposten  etc. 
zur  thatsächlichen  Monopolisirung  haben.  Was  man  gewöhnlich  als 
Vorzüge  der  Privatunternehmung  rühmt,  das  gilt  bei  den  Transport- 
gewerben nur  von  solchen,  die  klein  genug  sind,  um  von  einem  Ein- 
zelnen wirklich  verwaltet  zu  werden.  Nun  sind  aber  neuerdings  eben 
die  wichtigsten  Transportgewerbe  mit  Erfolg  nur  in  einem  Umfange  zu 
betreiben,  der  so  wie  so  ein  zahlreiches  Beamtenpersonal  nöthig  macht; 
und  es  kann  demnach  als  Unternehmer  nur  entweder  an  den  Staat  (die 
Provinz,  Gemeinde  elc),  oder  an  sehr  reiche  Privatpersonen,  zumal 
Actienvereine,  gedacht  werden.  Bei  der  Wahl  hierzwischen  ist  aber 
eine  regelmässige  Überlegenheit  der  Privatbeamten  über  die  öffentlichen 
in  Betreff  des  Eifers,  der  Freiheit  und  Verantwortlichkeit*  gewiss  nicht 
vorauszusetzen.  Auch  die  Gemeinnützlichkeit,  welche  dem  Privatbe- 
triebe durch  Staatsaufsicht  und  Besteuerung  auferlegt  werden  kann,  ist 
viel  weniger  unmittelbar,  als  beim  öffentlichen.  Andererseits  wird  der 
öffentliche  Betrieb  naturgemäss  weniger  auf  Ersparnisse  bedacht  sein; 
es  werden  auch  Missbräuche,  technischer,  ökonomischer,  ganz  be- 
sonders politischer  Art,  wenn  sie  eingerissen  sind,  beim  Staatsbetriebe 
wegen   seiner  Souveränetät   viel   schwerer   abgestellt   werden^).     Je 


9)   Wie   leicht   kaoa   z.  B.   einer    Privat-EiseDbahn    die   Oberarbeituog  oder 
UnterlÖhnuDg  ihrer  Subalternen  vom  Staate  verboten  werden ;   ebenso  die   rechts- 


61]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  175 

mehr  ein  Transporlgeschäft,  um  seine  Aufgabe;  recht  zu  erfüllen,  einer 
für  weite  Räume  und  lange  Zeiten  möglichst  unwandelbar*  gehenden 
Maschine  ähneln  muss,  mit  gleich  massiger  Behandlung  und  Tarifirung 
aller  einzelnen  Objecte:  um  so  weniger  bedenklich  ist  die  Staats- 
Unternehmung  desselben.  Daher  man  sie  jetzt  bei  der  Briefpost 
überall  für  nothwendig  hält,  auch  in  den  Ländern,  wo  der  Anfang 
des  Postwesens  durch  privilegirte  Privatep  gemacht  worden  war. 
(Bd.  111,  §.  84.)  Bei  den  Eisenbahnen  hingegen  ist  weder  aus  der 
Theorie  noch  aus  der  Erfahrung  ein  allgemeiner  Grund  zu  entneh- 
men, wesshalb  der  Staatsbetrieb  technisch,  wirthschaftlich  etc.  dem 
Privatbetriebe  nachstehen  oder  überlegen  sein  müsste.  (Bd.  111,  §.  85). 
Der  einzige  sichere  Unterschied  besteht  darin,  dass  jener  der  Staats- 
gewalt, speciell  der  jeweiligen  Regierung  ein  ganz  neues,  unberechen- 
bar grosses,  vom  Landtage  wegen  der  complicirten  Schwierigkeit  der 
Tarife  kaum  controlirbares  Gebiet  politischen  Einflusses  (Ifthet:  was 
in  Ländern  einer  zu  geringen  Regierungsmacht  sehr  wohlthätig,  in 
anderen  ebenso  gef^ahrlich  sein  kann.  (Bd.  111,  §.  86.)  Merkwürdig 
übrigens,  wie  die  meisten  Theoretiker,  die  für  ein  Eisenbahnregal 
schwärmen,  dabei  im  Hintergrunde  an  eine  Ermässigung  der  Tarife 
auf  die  Selbstkosten  denken :  womit  also  die  finanzielle  Bedeutung 
dieses  Regals  völlig  abgestreift  wäre.     (Bd.  111,  §.  88.)*») 


widrige  Massregeiung  derselben  zu  politischen  Wahlzwecken !  Eine  Regierung^  die 
sich  dergleichen  zu  Schulden  kommen  l'assl,  würde  man,  wenn  sie  zugleich  die 
Majorität  auf  dem  Landtage  beherrscht,  kaum  zur  Verantwortung  ziehen  können. 

iO)  Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  Pferdebahn-,  Gas-  und  Wasserleitungs- 
geschäften in  grossen  Städten,  auch  den  Docks  in  Handelsstädten :  lauter  Unterneh- 
mungen, wo  die  Vorzüge  des  einheitlichen  Grossbetriebes  an  Güte  und  Wohlfeil- 
heit der  Leistungen  ebenso  einleuchten  wie  schwer  wiegen;  die  zum  Theil  sogar 
eine  freie  Concurrenz  nicht  einmal  gestatten.  Da  man  derartige  Monopole  am 
natürlichsten  der  Gemeinde  überlässt,  so  würde  zugleich  der  etwanige  Miss- 
brauch leicht  durch  eine  unparteiliche  Aufsicht  von  Seiten  des  Staates  verhindert 
werden.  In  England  begünstigt  die  Tramway-Acte  von  4  870  die  Municipalisirung  die- 
ses Betriebes,  der  seiner  Natur  nach  monopolisch  ist,  sehr  viel  Polizei  erfordert  und 
mit  wenig  Kapital  reichen  Gewinn  verheisst.  Ähnliches  gilt  von  den  Gaswerken^ 
obschon  4  870  den  1S28  englischen  Gas-Gompagnien  mit  24  Mill.  £  Kapital  und  59 
Öffenthchen  Gaswerken  im  Privatbesitz  nur  75  municipale  gegenüber  standen.  Die 
Gas-Acten  von  1847  und  1860  haben  das  Publicum  gegen  die  Monopolisten  eigent- 
lich nur  durch  die  bedenkliche  Vorschrift  zu  schützen  versucht,  dass  keine  Divi- 
dende mehr  als  4  0  Proc.  betragen  darf.  Wassergesellschaften  gab  es  damals  etwa 
4  30  mit  14   Mill.  £  Kapital;    daneben   4  04    municipale.     Jenen  hat  der  Staat  den 


176  WiLHELW    ROSCHBB,  [62 

12. 

C.  In  manchen  Gewerbe-  und  Handelszweigen  würde  eine  ganz 
freie  Privatconcurrenz  gemeingefährlich  sein.  Von  eini- 
gen ist  sogar  überhaupt  nicht  zu  wünschen,  dass  sie  über  die  engste 
Gränze  des  Unvermeidlichen  hinauswachsen.  Beides  Rücksichten,  die 
an  sich  schon  zur  Regalisirung  führen  können,  woneben  dann  aber 
der  Ertrag  des  Monopols  für  die  Staatskasse  gleichsam  als  Zuschlags- 
prämie wirken  mag.  So  rechtfertigt  sich  das  Regal  der  Glücksspiele 
als  Versuch  des  Staates,  ein  gefährliches,  aber  wohl  unausrottbares 
Übel  im  Volksleben  doch  einigermassen  zu  beschränken,  minder  ge- 
fährlich und  für  den  Staatshaushalt  nutzbar  zu  machen.  Das  fran- 
zösische Schiesspulverregal  will,  ausser  dem  unter  A.  besprochenen 
Grunde,  einen  Stoff,  der  in  leichtsinniger,  wohl  gar  verbrecherischer 
Hand  so  verderblich  ist,  wenigstens  einiger  Überwachung  durch  den 
Staat  unterwerfen.  Beim  Dynamit  empfiehlt  sich  derselbe  Gedanke 
um  so  mehr,  als  eine  von  freier  Concurrenz  herrührende  Wohlfeil- 
heit dieses  Sprengstoffes  doch  selbst  für  den  normalen  Gebrauch  nur 
wenig  Nutzen  bringen  würde  ^).  —  Das  wichtigste,  zu  dieser  Gruppe 
gehörende  Regal  betrifft  die  Münzprägung.  (Bd.  III,  §.  48.)  Um 
ihren  Zweck  als  allgemeines  Tauschwerkzeug  und  Werthmass  etc.  zu 
erfüllen,  müssen  die  Münzen  Jedermann  das  Vertrauen  einflössen, 
dass  ihr  Schrot  und  Korn  aufs  Genaueste  dem  Münzgesetz  entsprechen. 
Wäre  die  Prägung  der  freien  Privatconcurrenz  überlassen,  so  würden 
selbst  im  günstigsten  Falle  unzählige  Streitigkeiten  über  die  Annahme 
von  Münzen,  lästige  Mühen  und  Sorgen  des  Nachwägens  und  Pro- 
birens   die  Folge   sein.     Es  ist  aber  eine  der  bestconstatirten  That- 


Zwang  auferlegt,  alle  Bewohner  ihres  Bezirkes  zu  festem  Preise  nach  Bedarf  zu 
versehen.  (Quart.  R.  CXXXI^  477  ff.)  Für  derartige  Gemeindenionopole  eigoen 
sich  besonders  solche  Unternehmungen,  die  nothwendige  Producte  liefern,  eine  vor- 
zugsweise günstige  Stelle  erfordern,  keine  Concurrenz  von  anderer  Gegend  her  zu. 
fürchten  haben,  in  besonders  hohem  Grade  Zuverlässigkeit  nach  einheitlichem  Plane 
bedürfen,  und  deren  Production  sehr  vergrössert  werden  kann  ohne  entsprechende 
Mehrkosten.      (1.  c.  p.  462.) 

i)  M.  Chevalier  möchte  auch  die  besonders  gesundheitsgefährlichen  Indu- 
striezweige, so  lange  sie  dies  sind,  dem  Staate  vorbehalten.  (Cours  II,  p.  429.) 
Im  höchsten  Grade  gehört  in  diesen  Abschnitt  das  Opiumregal  im  britischen  Ost- 
indien (vgl.  schon  R.  Ritter,  Asien,  VI,  782  ff.),  das  z.  B.  1855/56  über  4871000 
Pfd.  St.  einbrachte. 


^3]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  177 

sachea  der  Wirtbschaflsgeschichte,  dass  beim  Aufhören  des  Munz- 
regals  bald  eine  Verschlechterang  der  Mttnzen  einreisst,  die  nicht 
bloss  den  Verkehr  schrecklich  beschwert,  sondern  auch  die  Volks- 
Sittlichkeit  um  so  mehr  gefährdet,  als  ja  die  Münzen  die  Unterlage 
fast  aller  Creditgeschäfle  bilden.  Wollte  der  Staat  durch  strenge 
Überwachung  der  Privatmünzen  dies  verhindern,  so  würde  er  wahr- 
scheinlich dieselben  Kosten  aufzuwenden  haben,  die  jetzt  aus  seiner 
eigenen  Prägung  erwachsen.  Auch  ist  bei  der  Eigenthümlichkeit  der 
Prägarbeiten,  namentlich  der  feinen,  dazu  erforderlichen  Maschinerie 
wenig  Aussicht,  dass  die  freie  Concurrenz  eine  viel  grössere  Wohl- 
feilheit bewirken  sollte.  Übrigens  hat  das  Munzregal  in  den  meisten 
Ländern  seinen  fiscalischen  Charakter  ganz  oder  doch  zum  grössten 
Theile  verloren,  in  England  schon  seit  mehr  als  zwei  Jahrhunderten. 
(Bd.  III,  §.  47.)  Über  die  Bedeutung  eines  Papiergeldregals  s.  Bd.  III, 
§.  68.  70: 

D.  Endlich  gibt  es  Gewerbe,  deren  Product  sich  zu  fiscalischer 
Vertheuerung,  also  zur  Auflage  einer  indirccten  Steuer,  in  ganz  be- 
sonderem Grade  eignet;  wo  es  aber  kaum  möglich  scheint,  in  der 
Lebensgeschichte  gleichsam  des  Productes,  von  der  Gewinnung  des 
RohstofiTes  an  bis  zum  Verkaufe  an  die  Consumenten,  ein  Stadium 
hervorzuheben,  an  welches  sich  der  Steuerapparat  ohne  die  grössten 
Bedenken  anknüpfen  Hesse.  Hier  mag  die  Staatsmonopolisirung  unter 
Umständen  als  eine  Steuerform  bezeichnet  werden,  bei  welcher  die 
§.10  erwähnten  Übel  so  zu  sagen  den  Hauptbestandtheil  der  Er- 
hebungskosten ausmachen.  Sind  diese,  verglichen  mit  dem  Ertrage, 
nicht,  gar  zu  gross,  so  lässt  sich  der  Monopolform  manches  nach- 
rühmen: Bequemlichkeit  der  Erhebung,  sowohl  für  die  Pflichtigen, 
denen  die  Zahlung  erst  dicht  vor  dem  Genüsse  abgefordert  wird, 
und  eine  fast  beliebig  genaue  Werthtarißrung  gewährt  werden  kann, 
wie  für  den  Staat;  Sicherheit  des  Ertrages ;  grosse  Ausdehnungsfähig- 
keit; dabei  auch  Freiheit  von  gewissen  Schattenseiten  der  Concur- 
renz (Fälschungen,  Reclamen  etc.).  Es  passen  aber  für  eine  solche 
Monopolisirung  wohl  nur  Waaren,  deren  Production  sehr  einfach,  mehr 
mechanisch  als  geistig  und  vorzugsweise  auf  Kapital  beruhend  ist  ^)  ^). 


t)  V.  Stein,  FinanzwisseDSchaft,   54  0. 

3)   Das  russische  Branntweinregal,   das  erst  nach  4  85S   mit  einer  Accise  ver- 


178  WlLBBLM    ROSCHBR,  [^^ 

Die  Staatsgewei'be  dieser  vierten  Art  haben,  wie  alle  übrigen, 
sobald  sie  bedeutend  geworden  sind,  das  Üble,  dass  sie  zwar  in 
glucklicher  Zeit  die  Regierung  stärken,  nach  Innen  zu  freilich  mehr 
durch  vergrösserte  Zahl  ihrer  Creaturen,  als  durch  vergrösserte  Festig- 
keit ihrer  Stutzen;  dass  sie  aber  z.  B.  nach  einer  kriegerischen  Nie- 
derlage den  Begriff  der  Beute  gegenüber  einem  siegenden  Feinde  in 
gefährlichster  Weise  ausdehnen. 

13. 

Seinen  vornehmsten  Rechtfertigungs* ,  auch  Entstehungsgrund 
hat  das  Lotterieregal  in  den  grossen  wirthschafllichen  und  sitt- 
lichen Gefahren  des  Glücksspiels,  zu  dem  gleichwohl  eine  weit  ver- 
breitete, wie  es  scheint  unausrottbare,  jedenfalls  lief  gewurzelte 
Neigung  die  Menschen  treibt^).  Je  mehr  bei  Völkern,  wie  Einzelnen 
der  phantastische  Leichtsinn  und  die  mit  ihm  verbundene  Trägheit 
über  die  vernünftig  beharrliche  Strebsamkeit  vorherrschen,  um  so 
mächtiger  pflegt  diese  Neigung  zu  sein :  daher  es  vornehmlich  die  Halb- 
rohen und  die  von  der  Hauptschattenseite  hoher  Kultur,  dem  trau- 
rigen Gegensatze   der  Plutokratie   und   des  Pauperismus,   Bedrängten 


tauscht  wurde,  rechtfertigte  sich  früher  sowohl  aus  dem  Grunde  D  wie  C.  Nie- 
mand wird  leugnen,  dass  der  Branntwein  im  Allgemeinen  ein  sehr  passender  Gegen- 
stand der  Besteuerung  ist.  Bei  der  dünnen  Bevölkerung,  aber  im  grössten  Theile 
von  Russland  wäre  eine  hohe  Accise  schwerlich  gegen  Defraude  zu  schützen  ge- 
wesen. Und  dass  seit  Aufhebung  des  Regals  die  Trunksucht  in  Russland  furcht- 
bare Fortschritte  gemacht  habe,  scheint  leider  unzweifelhaft.  Vgl.  v.  Haxthausen, 
Studien  II,  51 2  ff.  Vorher  gab  es  auf  26  MiU.  Menschen  nur  etwa  4  0000  Brannt- 
weinschenken, was  Cancrin  (Ökonomie  der  menschl.  Gesellsch.,  255)  eine  wahre 
Wohlthat  des  Monopols  nennt.  Jetzt  hat  sich  die  Zahl  der  Schenken  furchtbar  ver- 
mehrt, da  selbst  das  Verbot,  dass  sich  die  Grundbesitzer  für  die  Concessionirung 
einer  solchen  bezahlen  lassen,  häufig  umgangen  wird.  (Eckardt,  Russlands  ländliche 
Zustände,  1870,  S.  54.  23  4  fr.)  Seit  4  870  scheint  übrigens  der  Gonsum  wenigstens 
des  versteuerten  Branntweins  wieder  abgenommen  zu  haben.  (A.  Leroy-Beaulieu,  Das 
Reich  der  Zaren,  übers,  von  Pezold,  I,   S.  375.) 

4 )  Wie  das  römische  Recht,  so  hatte  auch  das  frühere  Mittelalter  die  Glücks- 
spiele verboten.  Mit  Thomas  von  Aquino  beginnt  jedoch  eine  müdere  Ansicht; 
daher  z.  B.  Sixtus  V.  zu  Gunsten  eines  Spitals  Lotterien  gegen  eine  Geldabgabe  er- 
laubte. (F.  Endemann,  Beitr.  z.  Gesch.  der  Lotterien,  4  882,  S.  4  3.  24.)  Im  4  6. 
Jahrb.  schildern  viele  Kanonisten  den  contractus  sortiumj  der  z.  B.  gebraucht 
wurde,  um  Ladenhüter  doch  an  den  Mann  zu  bringen.     (35 fg.) 


^S]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  179 

sind,  welche  der  Spielsucht  huldigen^).  Vom  Hasardspiel  unterschei- 
den sich  die  Lotterien  dadurch,  dass  bei  ihnen  die  Grösse  der  Gewinne 
und  Verluste  nicht  aus  der  Spielthätigkeit  selbst  hervorgeht,  sondern  von 
vorn  herein  bestimmt  isL  Bei  der  altern  Art  derselben,  den  Lotterien 
im  engern  Sinne ^),  besteht  der  Gewinn  des  Staates  in  den  Procenten, 

%)  Nirgends  herrscht  eioe  grössere  Spiel wuth,  als  ia  Java,  bei  Yoraehaien 
wie  Geringen.  Man  wettet  selbst  auf  Kämpfe  zwischen  Heuschrecken,  die  mittelst 
eines  Grashalmes  gereizt  werden.  (Vgl.  St.  Raffles,  History  of  Java,  II,  4  818.) 
Von  der  Spielwuth  der  Germanen  s.  Tacit,  Germ.  24;  der  vornehmen  Leute  im 
neuem  Polen:  G.  Forster,  Schriften  VII,  304.  Ein  klassisches  Land  hierfür  ist 
China  (mein  System,  Bd.  I,  §.  174),  wo  arme  Spieler  wohl  einen  Zahn  oder  Finger 
einsetzen.  Hildebrand  sah,  dass  ein  solcher,  der  verloren  hatte,  sich  mit  Ölgetränkter 
Baumwolle  ein  Loch  in  den  Arm  brennen  liess.  [R.  um  die  Erde  II,  4  93.)  Oft,  wenn 
in  einer  chinesischen  Spielhölle  ein  Unglücklicher  zum  Selbstmorde  schreitet,  lassen 
sich  die  übrigen  Spieler  dadurch  kaum  stören !  Dies  hängt  damit  zusammen,  dass 
hier  auf  der  Leiter  der  bürgerlichen  Gesellschaft  die  mittleren  Sprossen  so  wenig 
entwickelt  sind :  wie  man  ja  auch  bei  uns  oft  sieht,  dass  Einzelne,  die  wegen 
allzu  grosser  Concurrenz  keine  vernünftige  Aussicht  zu  haben  meinen,  in  ihrer 
Verzagtheit  auf  Lotterieloose  hoffen.  Über  die  grosse  Bedeutung  der  Lotterien  in 
Italien  s.  Bronn,  Reisen  (4  838)  II,  145.  Die  tyrannische  Oligarchie  Venedigs 
duldete  geflissentlich  Hasardspiele  aller  Art;  lange  Zeit  ward  auf  dem  Marcusplatze 
Bank  gehalten.  (Dam,  Hist.  de  Vönise  V,  534.)  So  streng  übrigens  die  päpst- 
liche Censur  war,  so  duldete  sie  doch  Volkskalender,  welche  zum  Lottospiel  ver- 
lockten, Mittel  angaben,  wie  man  fast  sicher  dabei  gewinnen  könne  etc.  (Nach 
A.  Stahr's  Reisebriefen  in  der  Bremer  Zeitg.  ,  1846.)  Auch  die  in  Österreich 
früher  so  beliebten  Traumbücher  grösstentheils  auf  Lottospieler  berechnet.  In 
Frankreich  unterschied  Gh.  Dupin  (Deput.  K.  2S.  März  18^8)  t\  spielsüchtige 
und  65  besonnene  Departements.  Die  Lotterieeinsätze  betrugen  1826  durchschnitt- 
lich hier  84  000,  dort  2200000  Fr.  Die  spielsüchtigen  waren  zugleich  die  handels- 
und  gewerbereichsten,  wo  die  meisten  grossen  Städte  liegen  (Paris,  Lyon,  Marseille, 
Bordeaux,  Lille,  Strassburg),  aber  auch  die  meisten  unehelichen  Geburten,  Findel- 
kinder, Hausdiebstähle  und  schweren  Verbrechen  vorkamen.  Im  Österreichischen 
Lotto  wurden  1861  pro  Kopf  der  Bevölkerung  eingesetzt  18.5  Kr.;  auf  Nieder- 
österreich allein  kamen  jedoch   1   Fl.   47.5  Kr.    (Rau,   F.  W.   I^   343.). 

3)  Der  Ausdruck:  holländische  oder  Klassenlotterie  ist  unpassend,  obschon 
man  früher  allgemein  glaubte,  dass  selbst  das  Wort  loteria  holländischen  Ursprun- 
ges sei.  Nur  die  Eintheilung  in  Klassen,  wodurch  man  die  Zahlung  der  Einsätze 
bequemer  und  die  Aufregung  des  Spiels  länger  dauernd  machte,  die  aber  doch 
nichts  dieser  Lotterieart  Wesentliches  ist,  scheint  in  Holland  aufgekommen  zu  sein. 
Die  älteste  deutsche  Klassenlotterie  in  Hamburg  seit  1610.  (Endemann  a.  a.  0., 
49  fg.)  Vielmehr  ist  die  älteste  bekannte  Geldlotterie  (damals  jedoch  /o(/o  genannt) 
1530  vom  Florentiner  Staate  unternommen  worden.  (Varchi,  Storia  Fiorent.  XI, 
366.)  Die  1521  zu  Osnabrück  errichtete  städtische  L.  war  eine  Waarenlotterie. 
(Klock,  De  aerario  II,  C.  118.)     Der  französische  Staat  versuchte  1539  eine  Geld- 

Abhandl.  d.  k.  S.  Genellscli.  d.  Wissenscli.  XXI.  43 


180  Wilhelm  Roscbbb,  [66 

welche  die  Spieler  von  ihren  Gewinnsten,  deren  Gesanimt betrag  dem 
Gesainmtbelrage  der  Einsätze  gleich  zu  sein  pflegt,  abgeben  müssen;  bei 
der  Jüngern^)  Zahlenlotterie  (Lotto)  darin,  dass  die  Wetten  auf  das 
Herauskommen  gewisser  Nummercombinationen  unter  der  Wahrschein- 
lichkeit bezahlt  werden.'*)  —  Ein  volkswirthschafllicher  Nutzen  der 
Lotterien  wird  sicher  nur  von  Wenigen  angenommen.  '•)     Unschädlich 


lotterie.  (Delamarre,  Tr.  de  la  Police  III,  4,  Gh.  7.)  Als  Ludwig  XIV.  4  660 
eine  solche  wieder  errichtet  hatte^  wurden  166  4  und  Öfter  aUe  Privatlotterien  ver- 
boten.    Englische  Klassenlotterie  seit  4  694. 

4)  Das  Lotto  scheint  von  Staatswegen  zuerst  in  Genua  4  620  eingeführt  zu 
sein,  nachdem  es  schon  lange  vorher  üblich  gewesen  war,  bei  den  Wahlen  zum 
grossen  Rathe,  wo  aus  90  Namen  je  5  erloost  wurden,  auf  das  Herauskommen 
gewisser  Candidaten  zu  wetten.  So  hatte  4  562  Pius  IV.  die  sponsiones  in  eliyendis 
ecclesiai'um  praelatis  verboten.  (Endemann  a.  a.  0  ,  73  fg.)  Ausserhalb  Italiens 
sind  die  LoUos  nicht  vor  der  Mitte  des  4  8.  Jahrh.  nachgeahmt  worden:  4  752  in 
Wien,  4  763  in  Berlin.  Bis  4  774  in  Deutschland  zusammen  29,  vom  Staate  ent- 
weder selbst  betrieben,  oder  verpachtet.  Eine  Wochenschrift:  »Lottologie  .oder 
kritische  Beiträge  zur  Lotterielehre«,  4  770  und  74,  hat  im  I.  Bande  sogar  zwei 
Auflagen  erlebt. 

5)  Bei  der  franzÖ.sischen  Lotterie  betrugen  4  792 — 4  858  die  Gewinnste  durch- 
schnittlich 72,27  Proc,  die  Verwallungskoston  [darunter  fast  ^y^^  für  die  Einnehmer) 
8,82,  der  Keinertrüg  für  den  Staat  4  8,94  Proc.  Das  Maximum  der  ausbezahlten 
Gewinne  4844  =  90,  das  Minimum  4820  =  64,56  Proc.  Der  Reinertrag  4846 
—28  durchschnittlich  4  4,25  Mill.  Fr.  In  Preusscn  behält  der  SUat  4  3^«  Proc. 
der  Einsätze  und  im  Etat  für  4  884/82  war  der  Reinertrag  zu  4023400  Mk.  an- 
gesetzt; in  Hannover  bei  Gewinnen  unter  4  000  Thlr.  4  0  Proc,  bei  höheren  4  2  Proc. 
Bei  den  jetzt  üblichen  Ausslellungslotterien  scheinen  50  Proc.  Verlust  der  Spieler 
gewöhnlich  zu  sein.  (Endemann,  79.)  Im  Lotto  ist  z.  B.  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  Terne  =  4  :  4  4  748,  die  einer  Quaterne  =  4  ;  54  4  038.  Jene  ward  aber 
in  Bayern  nur  mit  dem  5400  fachen,  in  Osterreich  mit  dem  4800  fachen  bezahlt; 
diese  mit  dem  60000 — 64500  fachen.  Freilich  kam  es  z.  B.  in  Bayern  4  852/53 
vor,  dass  alle  Einsätze  =  4  0592580  Fl.  betrugen,  alle  Gewinnste  =  4  0547549  Fl.; 
wesshalb  der  Staat  einschliesslich  der  Verwaltungskosten  Schaden  hatte.  (Rau, 
F.  W.  I,  342.)  Auch  das  Berliner  Lotto  hat  einmal  in  7  Quartalen  92000  Thlr. 
Verlust  gehabt.     (Endemann,   75.) 

6)  Die  Ansicht,  dass  eine  Lotterie  zu  Ersparnissen  führe,  insofern  die  kleinen 
Einsätze  vom  Einkommen  bestritten,  die  grossen  Gewinnste  aber  zum  Vermögens- 
stamme geschlagen  würden  (Bernouilli,  Schweiz.  Archiv  Ifl,  4  42.):  steht  im 
Widerspruch  mit  der  alten  Erfahrung:  Wie  gewonnen,  so  zerronnen!  Als  in 
Frankreich  die  Lotterie  aufgehoben  war,  empfing  die  Pariser  Sparkasse  während 
des  nächsten  Januars  nachher  525000  Fr.  mehr  Einlagen,  als  im  letzten  Januar 
vorher  (M.  Mohl,  Ge werbe wissensch.  Reise,  35.)  Im  Brüsseler  Leihhause  nahm 
4  829  nach  Abschaffung  des  Lottos  während   der  nächsten  5  Monate  die  Zahl  der 


^7]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  181 

ist  die  Lotterie  für  solche  Spieler,  die  Zeit  genug  haben,  sich  diese 
Unterhaltung  zu  gönnen,  und  Geld  genug,  sie  zu  bezahlen.  Leider 
spielt  aber  die  grosse  Mehrzahl  nicht  um  der  Unterhaltung  willen, 
sondern  aus  einer,  überdies  noch  sich  selbst  täuschenden,  Gewinn- 
absieht:^)  Personen  folglich,  welche  entschieden  besser  thüten,  nicht 
mitzuspielen.^)  Solchen  schadet  die  Lotterie  mehr  noch  mittelbar 
und  geistig,  als  unmittelbar  und  pecuniär:  indem  sie  nur  zu  leicht 
an  die  Stelle  des  Fleisses  und  der  Sparsamkeit  eine  trügerische  Hoff- 
nung, eine  den  Sinn  benebelnde  Zahlenmystik  setzt,  überhaupt  zur 
Spielwuth  verführt.  Der  Spielteufel  knechtet  seine  Opfer  mit  ganz 
besonders  verstrickenden  Banden!^)  Es  ist  darum  begreiflich,  wenn 
sich  in  neuerer  Zeit  die  »aufgeklärte  öffentliche  Meinung«  so  oft  für 
Abschaffung  der   Staatslotterien   ausgesprochen   hat^^),   und   England 


versetzten  Pfänder  um  7837  ab,  die  Zahl  der  wieder  eingelösten  um  3609  zu, 
vei^lichen  mit  der  entsprechenden  Zeit  des  Jahres  vorher.  (Foreign  Quart.  Rev., 
No.  XXIX.)  Wenn  L.  v.  Stein  Lotterien,  wo  nur  um  den  Zins  der  Einsätze  gespielt 
wird,  als  Sporn  zu  Ersparnissen  rühmt  (Finanzwissensch.,  t\i),  so  kann  das  nur 
für  das  kleine  Gebiet  der  Staatslotterieanleihen  Geltung  haben. 

7]  Spielen  Manche,  um  »sicherer«  zu  gehen,  lieber  %  Loose,  als  ein  ganzes : 
so  wird  dadurch  eben  nur  ihr  Verlust  wahrscheinlicher.  Wer  alle  Loose  nähme, 
der  würde  zwar  alle  Gewinne  beziehen,  aber  von  seinem  wieder  empfangenen 
Einsätze  ganz  sicher  die  Abgabe  an  den  Staat,  sowie  die  Verwaltungskosten  ab- 
gezogen sehen. 

8)  Im  C.  Waadt  wurden  früher  von  2007  Loosen  4  64  an  Reiche,  909  an 
Personen  mittlem  Vermögens^  aber  934  an  »Arme,  Falliten  und  Unterstützte«  abge- 
setzt.     (N.  Verhandl.  der  Schweizer  gemeinnütz.   Gesellsch.    (1829)   V,   353.) 

9]  In  einem  englischen  Dorfe,  wie  4  819  im  Unterhause  erwähnt  wurde, 
bestand  ein  Wohltbätigkeitsclub  für  Alte  und  Sieche.  Plötzlich  gewann  ein  Bauer 
3000  £  in  der  Lotterie;  und  alsbald  flog  jener  Wohlthätigkeitsclub  auf,  ein  Lot- 
terieclub entstand,  viele  Personen  versetzten  ihre  Möbeln,  ja  ihr  Bettzeug,  um  nur 
spielen  zu  können.  (Maccutloch,  Taxation,  34  3.)  »Hexengold,  das  der  Hölle 
zollt!«     (Schiller.) 

4  0)  Nachdem  in  Frankreich  der  Kanzler  Poyet,  der  freilich  auch  alles  Ver- 
mögen der  Unterthanen  dem  Könige  zusprach,  4  539  die  Lotterie  als  Nachahmung 
von  vielen  »berühmteno  Städten,  und  um  den  Unterthanen  einen  würdigem  Zeit- 
vertreib zu  geben,  empfohlen  hatte  (Sismondi,  Hist.  des  Fr.  XVII,  63 fg.),  meinte 
Bornitz  von  den  Lotterien :  nee  suadeo,  nee  dissuadeo.  (De  aerario,  4  64  2^  II,  4.) 
Latherus,  De  censu  (4648)  III,  45  und  M.  Faust,  Gonsilia  pro  aerario  (4644), 
p.  204  missbilligen  sie  als  Finanzquelle.  Busch  nennt  sie  eine  Finanzmissgeburt^ 
von  der  man  am  Ende  des  4  8.  Jahrh.  in  keinem  europäischen  Staate  mehr  wissen 
werde.  Auch  Beckmann,  Beitr.  z.  Gesch.  der  Erfindungen  (4  805)  V,  309  tf. 
tadelt  diese  »schnöde  Einnahme«  aufs  Entschiedenste.     Stahl,   Siebzehn  parlament. 

13* 


182  Wilhelm  Röscher,  >    [68 

(1826),  Hessen-Darmsladt  (1832),  Frankreich  (1836),  Bayern  (1861) 
praktisch  diesem  Rufe  gefolgt  sind.  —  Freilich  übersieht  man  bei 
solchem  Extrem  zwei  wichtige  Punkte,  einen  polizeilichen  und  einen 
finanziellen.  So  lange  sich  die  Menschen  selbst  nicht  gründlich  bes-- 
sern,  wird  die  noch  fortdauernde  Spielsucht  nach  Wegfall  der  Staats- 
lotterien andere  Befriedigungsmittel  suchen:  ausländische,  private 
Lotterien,  geheime  Glücksspiele,  bei  denen  es  vielleicht  unehrlich  zu- 
geht, und  die  zugleich  mit  einander  wetteifern,  durch  immer  neue 
Formen  die  Spiellust  immer  stärker  zu  reizen.")  Ebenso  hat  der 
Gedanke  viel  Ansprechendes,  eine  nicht  lobenswerthe,  obschon  auch 
nicht  verbrecherische  Neigung  der  Menschen  wenigstens  zu  einiger 
Gemeinnützlichkeit  durch  Besteuerung  anzuhalten.  ^^)  ")    Jedenfalls  sind 


Reden,  1862^  S.  37(1.  erinnerl  emphatisch  daran,  wie  in  derselben  Paulskirche 
zwei  so  verschiedenartige  Versammlungen,  die  Nationalversammlung  von  1848  and 
der  evangelische  Kirchentag  von  1854  (Referent  KaplT),  einstimmig  die  Abschaffung 
der  Spielhöllen  etc.  gefordert  haben. 

H)  In  Neapel  wurde  1687  das  Lolto  aus  sittlichen  Gründen  aufgehoben, 
jedoch  1713  wieder  hergestellt,  weil  das  Volk  inzwischen  immer  in  ausländischen 
.\nstalten  gespielt  hatte.  Aus  demselben  Grunde  sah  man  sich  1734  veranlasst, 
ebenso  viele  Ziehungen,  wie  in  Rom,  einzurichten.  (Galanti,  N.  Descrizione  II, 
C.  16.)  Papst  Benedict  XIII.  halte  das  Lottospiel  noch  mit  dem  Banne  belegt; 
sein  Nachfolger  aber  1730  selbst  ein  Lotto  errichtet,  als  seine  Unlerthanen  durch 
die  schwersten  Strafdrohungen  mit  Brieferbrechen  etc.  nicht  abgehalten  werden 
konnten,  in  fremden  Anstalten  zu  spielen.  (Justi,  Polit.  und  Finanzschriften  III, 
262.)  So  hat  auch  Frankreich  die  1793  abgeschaffte  L.  1797  wieder  hergestellt. 
In  England  sollen  seit  Aufliebung  der  Lotterie  die  Wetten  bei  Pferderennen  etc. 
sehr  zugenommen  haben.  Wie  in  Nordamerika  bei  Hahnenkämpfen  wohl  14000 
Doli,   verwettet  werden,  s.   Hesse- Wartegg,   Missisippifahrten,   247. 

12)  Schon  viele  Kanonisten  hatten  das  Spielen  zu  wohlthätigem  Zwecke  für 
etwas  gut  Christliches  erklärt.  (Endemann  ^  64.)  Die  Lotterien  des  16.  Jahrh. 
verfolgten  oftmals  solche  Zwecke:  so  die  englische  L.  1569  für  die  Marine,  1612 
für  die  amerikanischen  Kolonien.  Die  holländischen  L.  seit  1549  für  Waisen- 
häuser, Gerontokomien  etc.  Leibniz  empfahl  L.,  um  gelehrte  Gesellschaften  darauf 
zu  fundiren.  (Opp.  ed.  Dutens  V,  533.  Guhrauer  II,  197.)  Noch  J.  Moser  für 
wohltbätige  Zwecke ,  für  die  es  keine  regelmässigen  Deckungsmittel  gibt.  (Patr. 
Phant.  I,  27.)  Der  Österreichische  Lottopächter  musste  1777  5  Mädchen  aus- 
steuern, deren  Name  zugleich  mit  den  Nummern  gezogen  war;  1778  statt  dessen 
eine  Abgabe  von  12000  Fl.  zu  mildem  Zwecke  liefern.  (Mailath,  Österreich. 
Gesch.  V,  82.)  Wenn  es  wahr  wäre,  dass  1757  das  einem  Italiener  für  187000  Fl. 
verpachtete  Lotteriemonopol  eigentlich  auf  Privatrechnung  des  Kaisers  Franz  ge- 
gangen (Nicolai,  Reise  III,  273),  so  wäre  das  freilich  zu  dem  Obigen  der  schroffste 
Gegensatz. 


69]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  183 

die  verschiedenen  Arten  des  Gluckspiels  in  sehr  verschiedenem  Grade 
bedenkiich.  Je  kleiner  die  Einsätze,  je  mehr  das  Spiel  durch  Grösse 
der  Gewinne,  Häufigkeit  der  Ziehungen  etc.  den  Spieler  geistig  be- 
schäftigt, je  mehr  der  Unternehmer  dabei  profitirt:  um  so  schädlicher 
eine  Lotterie.     Also  das  Lotto  am  schädlichsten.  ^^) 

Ähnlich  zu  beurtheilen,  wie  die  Lotterien,  sind  die  staatlich  er- 
laubten, wohl  gar  verpachteten  Spielhäuser,  die  neuerdings  be- 
sonders in  Hauptstädten  und  Badeörtern  eine  grosse  Bedeutung  er- 
langt haben.  Nur  waren  hier  die  Schattenseiten  zwar  local  beschränkter, 
wie  denn  manche  Staaten  sowohl  ihren  Beamten,  als  auch  der  nie- 
dern  Klasse  ihrer  Unterthanen  den  Besuch  ihrer  Spielhäuser  verboten 


\3)  J.  Moser,  Palr.  Ph.  I,  27  erinnert  an  die  Bordelle,  die  ja  auch,  ist 
die  Unzucht  einmal  unausroUbar,  wenigstens  ihre  Verbindung  mit  Diebstahl  und 
anderen  Verbrechen  hindern,  zur  Einschränkung  der  Syphilis  dienen  und  besteuert 
werden  können.  Freilich  hinkt  das  Gleichniss  insofern,  als  die  Hurerei  immer 
sündlich  ist,  das  Glücksspiel  doch  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen.  (Im 
M.  Alter  könnte  man  übrigens  hier  und  da  wirklich  auch  von  einem  liurenregal 
sprechen;  wie  denn  z.  B.  die  Ölfentlichen  Dirnen  wohl  Hübscherinnen  (von  »hö- 
ßschct)  courtisanes,  cortesanasj  cortigiane  heissen,  unter  dem  llofmarschall  stehen  etc. 
Vgl.   Maurer,  Gesch.  der  Frohnhöfe  II,   34.3.) 

M)  Vgl.  Peliti  di  Roreto,  Del  giuoco  del  Lotto.  (1853.)  Das  bayerische 
Lotto  hatte  früher  36  Ziehungen  jährlich! 

15)  In  Frankfurt  a.  M.  bestand  von  1379— U32  eine  Spielbank  für  Würfel- 
spiel, von  der  Stadt  verpachtet  und  besonders  auf  die  Messen,  aber  auch  wohl 
einnaal  auf  den  Reichstag  berechnet.  Ihr  Ertrag  scheint  gegen  3  Proc.  des  durch- 
schnittlichen Stadteinkommens  gewesen  zu  sein.  (Kriegk  F*s.  Bürgerzwiste  etc., 
S.    344  IT.). 

16)  Vor  Aufhebung  der  Pariser  Spielhäuser  gab  es  daselbst  in  7  Anstalten 
9  Tische  für  Roulette,  6  für  Trente  et  un  und  2  für  Creps;  und  es  fand  sich, 
dass  von  den  204  monatlichen  Abrechnungen  dieser  Tische  1837  nur  17  dem 
Unternehmer  Schaden  brachten.  Er  gewann  in  diesem  Jahre  9288581  Fr.  und 
verlor  809486.  Ist  es  für  den  Staat  wohl  anständig,  eine  so  blinde  Leidenschaft 
seiner  Unterthanen  oder  Gäste  auszubeuten?  Auch  hier  die  meisten  Verluste  der 
Spieler  bei  den  niedrigsten  Einsätzen :  bei  einem  Tische,  wo  nur  um  Gold  gespielt 
werden  durfte,  7  Monate  Gewinn,  5  M.  Verlust  der  Bank.  Der  Staat  erhielt  für 
seine  Licenz  5Y2  Mill.  Fr.,  dazu  noch  über  1341000  Fr.  für  die  Stadt  Paris,  so 
dass  die  Unternehmer  262848  Fr.  Proüt  über  ihre  BetriebvSkosten  und  Gautions- 
zinsen  hatten.  (Macculloch,  Taxation,  315.)  Unter  Napoleon  I.  war  der  Ertrag 
der  Spielpacht,  =  3400000  Fr. ,  für  die  geheime  Polizei  verwandt  worden. 
(Thibaudeau  VIII,  364.)  In  Baden-Baden  zahlte  die  Spielbank  1858/9  127400  Fl. 
Pachtzins,  der  alsdann  für  Gebäude,  Anlagen,  Freibäder  an  Ort  und  Stelle,  zum 
Theil  auch  zur  Unterstützung  anderer  BadeÖrter  verwandt  wurde.  (Bau,  F.-W.  I,  348.) 


184  Wilhelm  Röscher,  [70 

haben;  sonst  aber  noch  schlimmer,  als  selbst  beim  Lotto.  Es  ist 
daher  als  ein  segensreicher  Fortschritt  zu  betrachten,  dass  in  Deutsch- 
land seit  31.  December  1872  keine  öfifentlichen  Spielbanken  mehr 
bestehen  dürfen. 

14. 

Der  Tabak  ist  so  unzweifelhaft  ein  Luxusartikel,  dessen  Ver- 
theuerung  zu  Gunsten  der  Staatseinnahme  kein  eigentliches  BedUrfniss 
schmälert,  und  doch  zugleich  von  so  ausgedehnter,  wachsthumsfähiger 
Consumtion,  dass  der  heute  so  übliche  Ausdruck  von  seiner  grossen 
»Stcuerkraft«,  wenn  auch  an  sich  unpassend  mythologisch,  doch  ganz 
erklärlich  istJ)  Gleichwohl  stösst  jede  bisher  angewandte  Form, 
ihn  einer  hohen  Steuer  zu  unterwerfen,  auf  die  grössten  Schwierig- 
keiten. 2) 

A.  Erhebt  man  die  Steuer  als  Flächensteuer  bei  den  Roh- 
producenlen,  etwa  so,  dass  sie  die  mit  Tabak  zu  bestellenden  Grund- 
stücke anmelden  und  dann  einen,  je  nach  der  Bodengüte  abgestuf- 
ten Zuschlag  zur  Grundsteuer  bezahlen:  so  ist  zwar  die  Controle 
wegen  der  Offenkundigkeit  leicht,  aber  wegen  der  grossen  Verschie- 
denheit der  Ernten  nach  Menge,  Güte  und  Preis,  eine  irgend  hohe 
Besteuerung  unmöglich.  ^) 


\)  »Kein  Genussmiltel  von  gleicher  Entbehrlichkeit  ist  so  stark  begehrt.  Sein 
Consum  deutet  auf  besonders  steuerkrUflige  Einkommenstheile.  Die  Steuer  gewährt 
grossen  und  ziemlich  sichern  Ertrag».  (Schaffte,  Grundsätze  der  Steuerpolitik, 
432.)  In  Frankreich  wurde  ^860  der  ordinäre  Rauchtabak  von  7  auf  9,  <872 
auf  tt,5  Fr.  erhöhet,  andere  Sorten  dem  entsprechend;  und  jedesmal  war  der 
Rückschlag  im  Verbrauch  ein  ganz  vorübergehender.  Seit  1872  hat  der  Gesa mmt- 
ertrag  um  über  60  Mill.  Fr.  zugenommen.  Leroy-Bea  ulieu  empfiehlt  eine 
hohe  Belastung  des  T.  namentlich  auch  damit,  weil  derseU)e  keiner  andern  In- 
dustrie dient  und  dem  Consumenten  gar  nichts  nütze,  vielen  Anderen  sogar  lästig 
sei.      (Sc.  des  F.  I,   673  ff.). 

2)  Schon  Malchus,  Finanzwissenschafl  und  Finanzverwaltung  I,  339.  345 
meint,  dass  die  Monopolisirung  der  Fabrikation  und  des  Debils  mit  Ausschluss  der 
Freiheit  des  Tabaksbaues  der  einzige  Weg  sei,  aus  der  Besteuerung  der  T. con- 
sumtion ein  bedeutendes  Einkommen  zu  ziehen.  Auch  Rau,  kein  Freund  des 
Monopols,  stimmt  dem  wesentlich  bei:   Finanzwissensch.  11,    440. 

3)  Preussen  vertauschte  die  seit  4  819  bestehende  Gewichtsteuer  1828  wegen 
der  vielen  Klagen  über  die  Controle  mit  einer  Flächenst.  in  4  Klassen :  6,  5,  4 
oder  3  Thlr.   pro  Morgen.     Die  Zahlung  erfolgte,   wenn  die  Hälfte  der  vorjährigen 


*^J  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  185 

B.  Wenn  man  dagegen  die  Rohproducenten  nach  dem  Gewicht 
ihrer  Ernte  besteuert,  (natürlich,  ebenso  wie  in  den  Fällen  A.  und  C,  mit 
entsprechender  Zollbelastung  des  vom  Auslande  kommenden  Tabaks), 
etwa  im  trocknen  oder  formentirten  fabrikreifen  Zustande,  so  kann 
die  Steuer  zwar  hoch  sein.^)  Zur  Controle  muss  aber  den  Tabaks- 
bauern vielfach  ein  peinlicher  Zwang  auferlegt  werden.^)  Die  so  sehr 
verschiedene  Güte  des  Rohstofles  bleibt  von  der  Gewichtsteuer 
unbeachtet:  was  eine  harte  Mehrbelastung  der  ärmeren  Consumenten 
bedeutet.  •)  Ebenso  ist  die  Nothwendigkeit  eines  langen  Steuervor- 
schusses hier  zwar  der  Zeit  nach  etwas  kürzer,  als  bei  der  Flächen- 
steuer, kann  auch  statt  des  Pflanzers  auf  den  Fabrikanten  übertragen 
werden ');  sie  ist  aber  wegen  des  höhern,  möglicherweise  sehr  hohen 
Betrages   der  Steuer   hier  noch    weit   lästiger,   kann  sogar  das  Mit- 


Ernte  verkauft  war,  oder  spätestens  bis  Ende  Juli.  Bei  Misswachs  natürlich  Nach- 
lässe. Der  Ertrag  war  1856  —  58  durchschnittlich  nur  H&HiThlr.  Die  Pflanzer 
mit  weniger  als  6  Q.  Ruthen  Tabaksfeld  [nach  einer  amtlichen  Denkschrift  etwa 
4  20000)  blieben  steuerfrei.  Dieses  preussische  System  wurde  mit  der  Ausdehnung 
des  Zollvereins  auch  von  Sachsen,  Thüringen,  Braunschweig,  Oldenburg,  Luxem- 
burg angenommen  und  4  867  auf  die  anneclirlcn  Provinzen  ausgedehnt;  ist  dann 
auch  in  dem  Ges.  vom  26.  Mai  4  868  für  den  ganzen  Zollverein  im  Wesentlichen 
beibehalten. 

i)  Die  badische  Accise  erhob  4  84  2 — 4  84  8  vom  Ctr.  beim  Verkaufe  nur 
24  Kr.  und  6  Kr.  Wagegeld.  Dagegen  das  deutsche  Reich  von  je  4  00  Kilogr. 
20   Mk.    (4880),    30  Mk.    (1881),   von   4882  an  45  Mk. 

5)  Das  deutsche  Gesetz  vom  4  6.  Juli  4  879  zwingt  die  Tabaksbauer  zur  Pflan- 
zung in  geraden  Linien  und  gleichen  Abständen ;  das  Köpfen  und  Ausgeizen  muss  vor 
Erhebung  der  Blätterzahl  durch  die  Feldcontrole  beendigt  sein,  alle  vor  der  Ernte 
stattfindenden  Abrälle  vernichtet  werden.  Den  Bauern  ist  die  Mischung  der  Tabaks- 
kultur mit  anderen  Pflanzen  (§.  22],  den  Fabrikanten  die  Benutzung  von  Surro- 
gaten untersagt  (§.  27.)  Die  Trockenböden  werden  von  der  Steuerbehörde  über- 
wacht (§.  4  0.)  Was  bei  der  wirklichen  Verwiegung  des  Rohstoffes  an  der  von 
der  vorräutigen  Feldcontrole  festgestellten  Blätterzahl  und  Gewichlmenge  fehlt, 
muss  gleichwohl  versteuert  werden,  falls  nicht  der  Abgang  vorschriftsmässig  ge- 
rechl fertigt  ist   (§.   6.   9.) 

6)  Wenn  der  inländische  Tabak  einschliesslich  der  Stängel  zwischen  7  und 
90  Mk.  pro  Ctr.  kostet  (Hirths  Annalen  4  879,  457),  so  würde  eine  Steuer  von 
28  Mk.  für  den  schlechtesten  Tabak  400  Proc.  betragen,  für  den  besten  nur  34  Proc. 
Der  ausländische  Rohtabak  schwankt  sogar  zwischen  4  4  und  368  Mk.  nach  der 
Reichs-Enquöte. 

7)  In  Frankreich  4  797  den  Fabrikanten  eine  Steuer  von  40  Cent,  pro 
Kilogr.  der  eingekauften  Blätter  aufgelegt. 


186  Wilhelm  Röscher,  [72 

werben  der  minder  kapitalreichen  Fabrikanten  fast  unmöglich  machen.^ 
Übrigens  enthalt  jede  sehr  hohe  Besteuerung  des  Rohstoffes  bei  sonst 
freiem  Verkehr  einen  starken  Reiz  zu  Fälschungen. 

C.  Die  Besteuerung  des  fertigen  Fabrikats  würde  bei  den  Klein- 
händlern wegen  der  unendlichen  Zersplitterung  des  Geschäftes  kaum 
durchzufuhren  sein^),  auch  wohl  eine  Gontrolirung  der  Fabriken  vor- 
aussetzen, die  kaum  geringer  wäre,  als  wenn  die  Steuer  bei  den 
Fabrikanten  selbst  erhoben  wird.  Diese  letztere  Form  der  Fabri- 
katsteuer, in  Russland  ^^)  und  Nordamerika  dadurch  erhoben,  dass 
alle  Tabaksfabrikate  nur  in  gestempelten  Hüllen,  die  nicht  ohne  Zer- 
störung der  Stempelmarken  zu  öffnen  sind,  die  Fabrik  verlassen  dürfen, 
hat  manche  Vorzüge.  Die  Qualität  der  Waare  kann  etwas  mehr  be- 
rücksichtigt werden,  als  beim  Systeme  B.,  da  sich  wenigstens  Cigarren, 
Cigarretten,  Schnupf-,  Rauch-  und  Kautabak  leicht  unterscheiden  las- 
sen. **)  Die  Zahlung  der  Steuer  liegt  dem  Consum  näher.  Dagegen 
unterwirft  sie,  wenn  Defrauden  wirksam  verhindert  werden  sollen, 
die  Fabrikanten,  die  beim  Systeme  B.,  ebenso  wie  die  Händler,  ziem- 
lich ungefesselt  waren,  einer  im  höchsten  Maasse  drückenden  Con- 
trole,  ohne  gleichwohl  die  Rohproducenten  davon  zu  befreien.     Das 


8j  Beim  Schnupftabak  kann  der  Verarbeitungsprocess  Jahrelang  dauern. 
Übrigens  würde  eine  massige  Gewichtsteuer  zur  Controlc  der  auf  die  Rohstofllager 
der  Fabrikanten  gebrachten  Vorr'athe  ein  sehr  gutes  Hüifsmittcl  zur  Sicherung  der 
Fabrikatsteuer  sein. 

9)  Eine  bedeutende  Menge  namentlich  von  Cigarren  kann  ja  auch  mit  Um- 
gehung des  Krämers  von  den  hausindustriellen  Arbeitern  selbst  verkauft  werden. 

\0)  Schon  Napoleon  hatte  dies  System  in  dem  Decrete  vom  4  6.  Juni  4  808 
(Art.  4  4  fg.)  versucht.  Nach  seinem  russischen  Nachahmer,  Graf  Cancrin  (Öko- 
nomie der  menschl.  Gesellschaft,  252}  »führt  sich  das  Mittel  der  Banderolle,  auch 
bei  Karten  gebräuchlich,  gut  durch«.  Da  indess  zur  Bequemlichkeit  der  Steuer- 
behörde jene  gestempelten  Hüllen  nur  in  grossen  Quantitäten  verkauft  werden,  so 
ist  der  Grossbetrieb  ungemein  begünstigt.  Die  Händler  dürfen  nur  aus  den  paten- 
tirten  Fabriken  beziehen  und  nur  in  ganzen  Packeten  oder  Kisten  ohne  Verletzung 
der  Banderolle  verkaufen. 

4  4)  Sowohl  Russland,  wie  die  V.  Staaten  haben  sich  genöthigt  gesehen,  die 
versuchte  Qualitätstaritirung  wieder  fallen  zu  lassen.  Wenn  Hirt h  (Annalen  4  873, 
752fr.)  eine  Werthsteuer  der  Tabaksfabrikate  empfiehlt,  so  wird  dabei  u.  A.  eine 
Verpflichtung  aller  inländischen  Rohproducenten  und  Importeurs  vorausgesetzt,  die 
Übereinstimmung  der  Factura -Werthdeclarationen  mit  den  wirklichen  Ankaufs-, 
resp.  Einkaufspreisen  an  Eidesstatt  zu  bescheinigen! 


73]  Vebsuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  187 

DordaDierikaDische  System*^),  auch  nach  der  Reform  von  1868,  mit 
seinen  zahllosen  harten  Strafen,  seiner  beständigen,  durch  Angeberei 
verstärkten  Inquisition,  wäre  dem  Schreckenssystem  eines  Belagerungs- 
zustandes zu  vergleichen,  wenn  nicht  die  von  ihm  Betroffenen  ihren 
Beruf,  der  sie  beinahe  zu  kurz  gehaltenen,  unsicher  besoldeten  Staats- 
beamten macht,  freiwillig  erwählt  hätten  und  beibehielten.  So  demo- 
kratisch die  Tabaksteuer  dort  eingerichtet  ist,  so  beschränkt  sie  die 
pei*sönliche  Freiheit  kaum  weniger,  als  die  Monopol  Verfassung  der 
absolutesten  Monarchie  dies  thun  würde.  '^) 


12)  Ganz  anders  in  Württemberg  1812 — 28,  wo  nach  Aufhebung  des  Tabaks- 
regais den  Fabrikanten  und  Händlern  eine  Steuer  von  zusammen  nur  40000  Fl. 
auferlegt,  und  diese  nach  Fassionea  über  ihren  Absatz,  späterhin  nach  einer  Klas- 
seneinschätzung ihres  muthmasslichen  Absatzes  umgelegt  wurde.  (Rau,  F.  W. 
II,  §.  440.) 

1 3)  Alle  Tabakshändler  und  Fabrikanten  müssen  eine  jährlich  zu  erneuernde 
Licenz  in  Stempelmarken  lösen,  die  hernach  kassirt  im  Geschäftslocale  sichtbar 
sind.  Wer  ohne  Licenz  sein  Geschäft  anfängt  oder  fortsetzt,  verwirkt  Geldstrafe 
bis  500  Doli,  oder  Gefängniss  bis  zu  einem  Jahre.  Die  Namen  der  Licentiirten, 
ebenso  wie  der  registrirten  Cigarrenarbeiter  sind  bei  der  Steuerbehörde  ausgehängt. 
Wer  einen  nichtregistrirten  Cigarrenroacher  beschäftigt,  zahlt  pro  Tag  5  Doli.  Strafe. 
Die  Tabakspflanzer  dürfen  nur  an  licentiirte  Personen  verkaufen.  Jeder  Fabrikant 
muss  eine  genaue  Beschreibung  seiner  Fabrik  einreichen,  deren  Genauigkeit  u.  A. 
dadurch  controlirl  wird,  dass  für  die  Anmeldung  der  Maschinen  elc.  ein  Gertiticat 
der  Steuerbehörde  jederzeit  im  Fabrikiocale  ausgehängt  sein  muss.  Jede  Fabrik 
muss  bei  iOO  —  300  D.  Strafe  durch  ein  Schild  äusserlich  bezeichnet  sein. 
Der  Fabrikant  hat  jährlich  ein  neues  Inventar  seiner  Yorräthe  aller  Art  einzu- 
reichen, in  der  vorgeschriebeneu  Form  täglich  über  alle  Käufe,  Verkäufe,  Ver- 
sendungen Buch  zu  führen  und  monatlich  einen  Auszug  daraus  einzuliefern :  bei 
Strafe  von  500 — 5000  D.  Geld  und  40  Monaten  bis  3  Jahr  Gefängniss.  Eine 
Caution  von  2000 — ^0000  D.  ist  von  jeder  Fabrik  zu  bestellen:  wer  vorher  Tabak 
fabricirl,  wird  mit  «000 — 5000  D.  und  \ — 5  Jahren  Gefängniss  bestraft.  Selbst 
die  hausindustriellen  Cigarrenarbeiter  sind  zu  500  D.  Caution  verpflichtet.  Wer 
Tabak  in  anderer  als  der  gesetzlichen  Verpackung  feilbietet,  hat  4  00 — 5000  D.  und 
6  Monate  bis  2  Jahre  Gefängniss  verwirkt.  Wer  die  Adhibirung  der  Etikette 
unterlässt  oder  die  Etikette  unbefugt  abnimmt,  zahlt  50  D.  für  jedes  Päckchen. 
Jeder  Tabakspflanzer,  Rohtabakshändler  oder  Verkäufer  anderer  zur  Tabaksfabri- 
kation dienlichen  Materialien  muss  bei  schwerer  Strafe  der  Steuerbehörde  auf  Ver- 
langen anzeigen^  an  wen  und  zu  welchem  Betrage  er  verkauft  hat.  Auch  die 
Käufer  der  Fabrikate  werden  zur  Gontrole  herangezogen:  wenn  sie  von  einem 
Fabrikanten  kaufen,  der  seine  Steuer  nicht  bezahlt  hat,  so  wird  die  gekaufte 
Waare  confiscirt  und  sie  selbst  in  100  D.  Strafe  genommen.  Das  vom  Steuer- 
beamten zu  führende  Kataster,  das  nicht  bloss  die  Inventare,  sondern  auch  die 
monatlichen  Buchauszüge   aller  Fabrikanten   enthält,    muss  Jedermann  zur  Einsicht 


188  Wilhelm  Röscher,  [74 

D.  Das  englische  Verfahren,  den  Tabak  nur  mit  einem  Ein- 
fuhr zolle  zu  belegen,  hängt  zusammen  einerseits  mit  der  frUhern 
Kolonialpolitik  ^^),  andererseits  mit  der  bloss  maritimen,  also  leicht  zu 
bewachenden  Gränzlinie  Englands.  Man  kann  eben  darum  die  Steuer 
sehr  ausgiebig  machen,  auch  die  Qualität  der  Waare  berücksichtigen, 
wenn  die  Einfuhr  auf  wenige,  mit  ausgezeichneten  Kennern  besetzle 
Zollstätten  eingeschränkt  wird.  Dagegen  hat  dies  System  den  grossen 
Nachtheil,  dass  jeder  inländische  Tabaksbau  verboten  sein  muss.  ^^) 

Ein  Tabaksregal  besteht  gegenwärtig  in  Frankreich,  Öster- 
reich,  Spanien,    Portugal,   Italien    und  Rumänien.  ^^')     In  Preussen   ist 


oö'en  liegen.  Dabei  werden  fast  alle  Erklärungen  über  steuerliche  Verhältnisse 
beschworen.  Man  sieht,  wie  hier  die  Grundsätze  der  Selbstdeclaration,  der  Selbst- 
besteuerung (durch  Stempelmarken]  und  der  Controle  durch  ÖfTenUichkeit  mit  einer 
sehr  geringen  Beamtenzahl  doch  ein  äusserst  wirksames  System  bilden.  Vgl.  Fel- 
ser in  Hirth's  Annalen,    4878,   300  ff. 

1  4)  Sollten  die  tabakbauenden  Kolonieen  ihre  Gewerbe-  und  Handelsbedürf- 
nisse ausschliesslich  vom  Mutlerlande  beziehen,  so  schien  es  billig,  ihnen  für  ihre 
Rohproducte  einen  entsprechenden  Vortheil  zu  gewähren. 

15)  Nachdem  noch  Jacob  I.  allen  Tabaksgenuss  verboten  hatte,  führte  Karl  I. 
ein  Regal  des  Tabakhandels  ein.  [Rymer  Foedera  XIX,  554.  Anderson,  Ori- 
gin  of  commerce^  a.  1634.)  Der  inländische  Anbau  (auch  für  Irland)  1652  und 
4  660  untersagt.  Während  des  Krieges  mit  Nordamerika  wurde  4  779  das  Verbot 
für  Irland  suspendirt,  178'i  aber  auch  auf  SchoUland  ausgedehnt  und  1831  in 
Irland  wiederhergestellt.  Übrigens  ist  im  V.  Kgr.  der  Tabaksschmuggel  sehr  be- 
deutend, obwohl  in  einem  7meiligen  Gränzbezirk  keine  Tabaksfabrik  geduldet  wird. 
Nach  Macculloch  soll  in  England  über  */4 ,  in  Irland  sogar  bis  ^4  ^es  Tabaksver- 
brauches eingeschmuggelt  worden  sein.  Auch  über  Fälschungen  sehr  geklagt:  von 
857  Sorten,  die  1871/73  untersucht  wurden,  fand  man  479  durch  Zusätze  von 
Sand,  Eisenoxyd,  Schwefel  etc.  verfälscht.  (Bericht  der  deutschen  T.-Enquete- 
Gommission  V,   Drucks.  Sl,   S.  8.) 

16)  Frankreich  hatte  seit  1629  einen  Einfuhrzoll  von  30  Sous  pro  Pfund, 
seit  1674  das  Regal,  das  verschiedenen  Compagnien  nach  einander,  später  den 
Generalpächtern,  verpachtet  wurde.  (Forbonnais  F.  de  Fr.  1,  213.  537;  vgl. 
Bulletin  de  statistique  et  de  legislation  comparee,  Fevr.  1877.)  Kurz  vor  der 
Revolution  war  der  Reinertrag  30  Mill.  Livres.  Statt  des  Monopols  1791  wieder 
ein  Einfuhrzoll,  1797  daneben  eine  Fabrikabgabe,  die  aber  trotz  der  von  Napoleon 
verschärften  Controle  nur  gegen  18  Mill.  Fr.  einbrachten.  Daher  vom  1.  Juli 
1811  an  wieder  Regal.  Der  Minister  bestimmt  jährlich  den  Bedarf  an  inländischem 
Tabak,  wie  viel  davon  auf  jedes  Departement  und  Arrondissement  kommen  soll,  die 
Baufläche  und  die  Eintösungspreise.  Eine  erste  Inventur  erhebt  die  Zahl  der 
Pflanzen,  eine  zweite  die  der  brauchbaren  Blätter.  Bis  1 .  August  muss  aller  Tabak 
entweder  an  die  Behörde  abgeliefert^  oder  ausgeführt,  oder  zum  Zwecke  der  Aus* 


75]  Versuch  einbr  Theorie  der  Finanz-Regalien.  189 

es  wiederholentlich  versucht,  doch  jedesmal,  und  zwar  unter  grossem 
Beifall  der  öffentlichen  Meinung,  wieder  aufgegeben  worden.")  In 
keinem  der  obigen  RegallSinder  hat  man  die  grossen  Schattenseiten 
der  Monopolisirung  vermeiden  können.  Eine  blühende,  wahrhaft  ex- 
portfähige Industrie  konnte  sich  mit  dem  Monopole  nicht  vertragen.  ^®) 


fuhr  amtlich  gesperrt  sein.  (v.  Hock,  Finanzven^'altuog  Frankreichs,  340  IT.)  —  In 
Österreich  datirt  das  Regal  von  4  670.  Erst  dem  Land-Jägermeister  übergeben, 
welcher  das  kais.  Jagdgeräth  davon  erhallen  musste.  Später  verpachtet^  bis  der 
Staat  1784  Fabrikation  und  Verkauf  in  Regie  nahm.  Seit  4  834  sind  die  Geschäfle 
vertheilt  zwischen  einer  T.  Fabrikdirection,  die  bloss  das  Technische  besorgt,  und 
den  Provinzial-Finanzbehörden,  welchen  der  Vertrieb,  Schutz  gegen  Schmuggler 
etc.  zusteht.  Seit  4  854  ist  auch  Ungarn  dem  Monopole  unterworfen.  Der  Tabak, 
der  nur  in  die  Regierungsmagazine  geliefert  oder  ausgeführt  werden  muss,  wird 
in  25  Staatsfabriken  verarbeitet,  dann  aus  69  Niederlagen  an  506  Hauptverleger, 
weiterhin  gegen  70000  Klein verschleisser  (in  Frankreich  nach  v.  Hock  über  33300 
mit  4  0 — 4  2  Proc.  Gewinn)  abgegeben,  denen  ein  bestimmter  Preis  vorgeschrieben 
ist.  Der  Gewinn  jener  beträgt  4^2  Proc,  dieser  t — 4  0  Proc,  je  nachdem  die 
Sorte  mehr  oder  minder  gangbar.  Viele  Pensionäre,  Wittwen  etc.  mit  solchen 
Stellen  versorgt.  Vgl.  v.  Plenker,  Das  österr.  Tabaksmonopol  (4  857).  Portugal 
führte  das  Tabaksregal  4  674  ein  (Schafer,  Portug.  Gesch.  V,  92  fr.),  Spanien  4  730 
(Bourgoing,  Tableau  H,  Off.).  Das  italienische  (seit  4  865)  hat  in  Venedig  schon 
seit  4  657,  bald  nachher  im  Kirchenstaate  Vorläufer  gehabt.  Rumänisches  Regal 
seit  4  865. 

4  7)  In  Preussen  hatte  schon  Friedrich  Wilhelm  I.  4  74  9  das  Tabaksregal  ein- 
geführt, nachdem  vorher  die  Accise  vom  Tabak  bedeutend  erhöhet  worden  war. 
Doch  wurde  4  724  das  verpachtete  Regal  wieder  abgeschafft,  (v.  Reden,  Finanz- 
statistik II,  74.)  Als  Friedrich  Wilhelm  II.  das  von  ihm  selbst  aufgehobene  Frie- 
dericianische  Regal  24.  Mai  4  797  wiederherstellte,  war  der  Vorwand,  dass  man 
der  ärmern  Klasse  wohlfeilem  Tabak  liefern  und  dafür  die  Reicheren  »gehörig«  be- 
lasten wollte.  (Riedel,  Brand,  preuss.  Staatsh.,  4  99.)  Gleich  nach  seinem  Tode 
hob  der  Nachfolger  das  Regal  wieder  auf.  Bergius,  Finanz  Wissenschaft,  209  meint: 
»kein  preussischer  Finanzminister  wird  im  Slande  sein,  das  Monopol  wieder  ein- 
zuführen, auch  wenn  er  ein  so  schlechter  Finanzmann  wäre,  dass  er  dies  über- 
haupt wollen  könnte«. 

4  8)  Die  französische  Vorschrift,  dass  Ye  ^^r  Regiefabrikate  aus  inländischem 
Rohstoff  gemacht  werden  sollten  (nach  dem  Decrete  von  4  84  0  sogar  ^Yis),  war 
um  so  unpraktischer,  als  gerade  eine  Regie  wirklich  nicht  umhin  kann,  den  bessern 
und  wohlfeilem  ausländischen  Tabak  in  grösserer  Masse  zu  verwenden.  So  ist 
denn  4  835  die  nichtssagende  Vorschrift  an  die  Stelle  getreten,  dass  höchstens 
V5  durch  den  inländischen  Tabaksbau  gedeckt  werden  sollen.  Man  rechnet  übri- 
gens in  Frankreich  nur  8  Ctr.  trockner  Blätter  pro  ha,  höchstens  2  4  Gtr.,  während 
in  Belgien  durchschnittlich  36,  in  den  Haupt-Tabakdistricten  Flanderns  sogar  40 — 44 
Ctr.  auf  die  ha  kommen.      (Rau  I,   298.)     Der   französische  Bau    zum  Export  er- 


190  Wilhelm  Roschbr,  [76 

Der  Genuss  des  Tabaks  ist  der  Bevölkerung  spärlicher,  wahrschein- 
lich auch  schlechter  zugemessen,  als  bei  voller  Freiheit  der  Fall  sein 
wurde J'*^)  Den  Schmuggel  hat  eine  sehr  drückende  Controle  doch  nicht 
erdrückt.*-^)  Aber  die  Möglichkeit,  den  Monopolgewinn  nach  der 
Güte  der  verschiedenen  Sorten,  also  in  der  Regel  nach  der  Zahlungs- 
fähigkeit der  Käufer,  billig  abzustufen,  ist  unstreitig  vorhanden. ^^) 
Und  die  finanziellen  Ertrüge  des  Monopols  sind  dermassen  glänzend, 
dass  man  das  Streben  z.  ß.  der  deutschen  Reichsregiorung  nach  einem 
Tabaksregal  nicht  unbegreiflich  finden  wird.    Deutschland  bezog  1878 


zeugte  1868  nur  12474  Ctr.,  also  weniger,  als  manche  badische  Einzelgemeinde. 
Dagegen  Hess  Frankreich  4  864  fast  Y2  ^^'^*  Kilogr  als  Ausschusswaare  verbrennen, 
im  Dept.  Niederrhein  allein  275705.  (Creizenach,  Die  französische  T.  Regie, 
4  868,  76.)  Die  oft  hervorgehobene  Thatsache,  dass  Ungarn  eben  nach  Einführung 
des  Regals  seinen  Tabaksbau  von  20225  ha  und  304240  Ctr.  (1854)  auf  60758  ha 
und  4  154860  Ctr.  (4  875)  gesteigert  habe,  spricht  durchaus  nicht  zu  Gunsten  des 
Monopols,  erklärt  sich  vielmehr  schon  daraus,  dass  Ungarn,  von  Natur  sehr  zum 
Tabaksbau  geeignet,  von  der  österreichischen  Regie,  mit  Ausschluss  der  roeisteo 
übrigen  Provinzen,  zum  Hauptlieferanten  des  Rohstoffes  gemacht  wurde.  Vgl. 
Preuss.   Staatsanzeiger  4  868,   No.    4  4  4. 

49]  Der  Tabaksverbrauch  pro  Kopf  der  Bevölkenmg  war  in  Frankreich  (4  872) 
etwas  über  4  V2  ^^^j  »"  Österreich  (1874/5)  2,98,  Grossbritannien  (4870/6)  1,35, 
Nordamerika  (4  875/6)  3,25,  Deutschland  (4  87  4—77)  3,75  Pfd.  Dabei  ist  sowohl 
die  Güte,  wie  namentlich  der  Sortenreichthum  in  Deutschland  gewiss  grösser,  als 
in  den  Regalländern. 

20)  Wenn  in  Frankreich  z.  B.  4  872  auf  den  Kopf  der  Gesammtbevölkening 
78  i  Gr.  Tabak  verbraucht  wurden  >  hatten  drei  Hauptsitze  des  T.  baues,  die 
Dptmts.  Lot,  Lot  und  Garonne,  Dordogne,  nur  334,  506  und  326  :  was  doch  ziem- 
lich sicher  auf  einen  bedeutenden  Unterschleif  in  diesen  letzteren  schliessen  lässt. 

24)  Wirklich  benutzt  wird  diese  Möglichkeit  übrigens  selbst  in  Frankreich 
nur  sehr  ungenügend.  Um  den  Schmuggel  vom  Auslande  her  wirksamer  zu  be- 
kämpfen, wird  in  den  Gränzgegenden,  Zonenweise  abgestuft,  der  Tabak  wohlfeiler 
verkauft,  als  im  Binnenlande:  ordinärer  Gantinen-Tabak  pro  Kilogr.  in  Zone  L  zu 
2  Fr.  60  Ct.,  Zone  IL  zu  4,40,  Zone  HL  zu  7,20,  im  Innern  zu  4  4,50.  Also 
Y7  der  Bevölkerung  sehr  massig  besteuert,  damit  Y?  ^^^^  b<^<^^  besteuert  werden 
können !  Trotzdem  werden  in  den  französischen  Gränzdeptmts.  durchschnittlich 
3000  Ctr.  fremden  Tabaks  mit  Beschlag  belegt,  und  wahrscheinlich  40  mal  so 
viel  glücklich  eingeschmuggelt.  (Kühne  a.  a.  0.,  68.)  Nach  J.  Krükl,  Das  T.- 
Monopol in  Österreich  und  Frankreich  (4  878)  betrug  4  873  der  mittlere  Gewinn 
der  französischen  Regie  430  Proc.  der  Selbstkosten;  aber  für  Scaferlati  597,  für 
Rollen  und  Garrotten  505,  für  Schnupftabak  858  Proc.  In  Frankreich  wie  in 
Österreich  macht  der  Gewinn  von  den  sehr  feinen  Cigarren  nur  einen  winzigen 
Theil  des  ganzen  aus.     (Kühne,   Der  Zollverein  und  das  T.  monopol,    4  857,  S.  53.) 


77]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  191 

aus  seinen  Tabakssteuern  0,34  Mk.  pro  Kopf  der  Bevölkerung,  Russ- 
land 0,47,  Nordamerika  4,36,  Grossbritannien  4,86,  und  die  Regal- 
staaten Österreich  3,41,  Ungarn  1,58,  Italien  2,53,  Frankreich  5,68, 
Portugal  2,71.^) 

Mir  würde  in  Ländern,  wo  das  Tabaksregal  Wurzeln  geschlagen 
hat,  seine  Aufhebung,  etwa  aus  doctrinärer  Begeisterung  für  die  Ver- 
kehrsfreiheit, als  ein  arger  Fehlgriff  erscheinen.  Die  Schwierigkeiten 
freilich,  gegenüber  einer  grossen,  blühenden  Privatindustrie,  wie  in 
Deutschland,  das  Staatsmonopol  erst  einzuführen,  sind  Ton  der  Art, 
dass  z.  B.  die  gewiss  nicht  für  das  Bestehende  parteilich  zusammen- 
gesetzte EnquSte-Coromission  sie  für  unübersteiglich  erklärt  hat.^) 
Eine  ungenügende  Entschädigung  der  Expropriirten  '^)  wäre  ein  Stück 
socialer  Revolution:  um  so  schlimmer,  weil  es  durch  keinerlei  finan- 
zielle Nothwendigkeit  entschuldigt  würde  und  vorzugsweise  die  klei- 


22)  Schäffle,  Steuerpolitik,  433  hält  4  Mk.  pro  Kopf  durch  ein  deutsches 
Tabaksregal  nach  Ablauf  einer  Obergangszeit  für  sehr  wohl  erreichbar.  In  Frankreich 
hat  sich  die  Bruttoeinnahme  von  53,872  Mill.  Fr.  (t845j  auf  255,707  Mill.  (4869) 
erhoben^  während  die  Kosten  nur  von  24,7  49  auf  58,496  Mill.  wuchsen.  Auch 
in  Österreich  hat  sich   4  854   bis  4  870  der  Reinertrag  verdreifacht. 

23)  Diese  Commission  bestand  aus  2  Vertretern  des  Reichskanzlers,  5  Be- 
amten der  grösseren  Bundesstaaten,  einem  Mitgliede  für  die  Hansestädte  und 
3  Sachverständigen  für  Bau,  Fabrikation  und  Handel  des  Tabaks.  Ihr  Beschluss  wurde 
mit  8  gegen  3  Stimmen  [der  beiden  Vertreter  des  Reichskanzlers  und  des  württem- 
bergischen) gefasst. 

24)  Während  der  württembergische  Monopolfreund  v.  Moser  687  Mill.  Mk. 
Entschädigung  billig  fand,  wobei  die  Nebengewerbe  der  Tabaksindustrie,  ebenso 
die  Zollausschlüsse  noch  gar  nicht  berücksichtigt  waren,  nimmt  die  »Begründung« 
des  Gesetzentwurfes  vom  27.  April  4  882  nur  höchstens  256874424  Mk.  in  Aus- 
sicht. Auch  im  Einzelnen  viel  Bedenkliches.  So  ist  der  Rechtsweg  bei  Feststel- 
lung  des  Schadensersatzes  völlig  ausgeschlossen.  Die  Fabrikanten,  die  nicht  wenig- 
stens 4  Jahre  lang  ihr  Geschäft  unausgesetzt  betrieben  haben,  erhalten  für  den 
Verlust  ihrer  bisherigen  Erwerbsthätigkeit  gar  keine  Entschädigung.  (§.  66.)  Ebenso 
diejenigen  Fabrikdirecto ren^  Inspectoren,  Arbeiter  etc.,  welche  »die  Annahme  eines 
ihrer  bisherigen  Lebensstellung  angemessenen  Postens  im  Dienste  der  Monopolver- 
waltung ohne  ausreichenden  Grund  ablehnen«.  (§.  67.)  Soll  es  z.  B.  ein  aus- 
reichender Grund  sein,  wenn  der  bisherige  Cigarrenarbeiter  zugleich  Feldbau  trieb 
und  nun  seinen  Wohnort  nicht  wechseln  mag?  Die  »Personalvergütungu,  welche 
für  die  nichtwiederangesteilten  Arbeiter  bis  zum  Fünffachen  des  jährlichen  Ver- 
dienstes beabsichtigt  war  (§.  67),  hätte  für  Ungebildete,  Unwirthschaftlicbe  gewiss 
eine  gefährliche  Versuchung  gebildet. 


192  Wilhelm  Roscheb,  [78 

nen  Bauern  und  Hausindustrielten  verletzte.  ^^)  Eine  wirklich  ge- 
nügende Entschädigung  würde  aber  den  Gscalischen  Gewinn  der 
ganzen  Massregel  wenigstens  für  eine  längere  Zeit  sehr  zweifelhaft 
machen.  ^)  Sie  ist  auch  für  eine  grosse  Zahl  der  Beschädigten  kaum 
durchführbar,  wegen  der  Unmöglichkeit  einer  genauen  Berechnung 
ihres  Verlustes.  So  z.  B.  für  manche  Nebenge  werbe  ^') :  für  die  Kauf- 
leute, die  bloss  nebenher  etwas  Tabak  absetzen^);  ganz  besonders 
für  die  Hansestädte,  die  fast  ohne  Zweifel  von  ihrer  Stellung  als  Welt- 
märkte des  Tabakshandels  sehr  viel  verlieren  würden.  Überhaupt  ist 
es  eines  der  schwersten  Bedenken  wider  die  ganze  Massregel,  dass 
sie  die  verschiedenen  Bundesstaaten,  und  auch  im  Einzelnen  die  ver- 
schiedenen Theile  derselben  im  höchsten  Grade  ungleich  treffen  würde. 


25]  In  Frankreich  kommen  auf  eine  ha  Tabaksland  nur  3,  in  Deutschland 
9  Pflanzer:  wie  denn  allerdings  gerade  der  Tabaksbau  wegen  der  grossen  Arbeits- 
menge, die  er  fordert,  besonders  für  die  kleinen  Landwirthe  passt.  Hinsichtlich 
der  Fabrikation  ist  wohl  zu  beachten,  dass  namentlich  die  Cigarren  zu  den  wenigen 
Producten  gehören,  welche  die  sonst  überall  im  Rückgange  befindliche  Hausmanu- 
factur  nicht  bloss  vertragen,  sondern  sogar  dem  Grossbetriebe  vorziehen.  Wie 
mancher,  von  anderen  Gebieten  verdrängte ,  Hausindustrielle  hat  sich  neuerdings 
in  diesen  Hafen  gerettet!  Auch  das  gibt  zu  denken,  dass  Actiengesellschaflen 
bisher  in  der  Tabaksindustrie  wenig  gediehen  sind.  Während  in  Deutschland  die 
Zahl  der  männlichen  Tabaksarbeiter  viel  grösser  ist,  als  der  weiblichen  (1861  = 
32702  M.,  21336  W.),  hat  die  österreichische  Tabaksindustrie  3098  M.,  22151  W., 
658  Kinder;  die  französische  1381  M.,  13779  W.  Also  auch  in  diesem  Punkte 
würde  die  Regalisirung  ein  mit  Recht  beklagtes  sociales  Übel  des  neuem  Gewerb- 
fleisses  wesenUich  verschlimmern  I 

26)  Sehr  billig  scheint  der  Vorschlag  der  Elberfelder  Zeitg.  4.  Mai  1882, 
wonach  die  Regie  alle  bisherigen  Arbeiter  behalten  soll.  Wenn  dies  zunächst  eine 
Überproduction  bewirken  werde  [aber  doch  nur  unter  Voraussetzung  stark  erhöhter 
Fabrikatpreise))  so  könne  man  solche  leicht  und  unmerklich  heilen  durch  unter- 
lassene Annahme  neuer  Arbeiter,  bis  ein  Theil  der  bisherigen  weggestorben  sei. 
Ähnlich  Schäffle,  Steuerpolitik,   441. 

27)  Allein  die  Kistchenfabrikation  auf  dem  Bremer  Freihafengebiete  producirte 
1877  für  1928878  Mk.,   wovon  nur  154402  Mk.  ins  Ausland  gingen. 

28)  Auf  dem  deutschen  Handelstage  wurde  am  10.  Decbr.  1881  berechnet, 
dass  die  Tabaksindustrie  gegen  360000  im  Kleinverkauf  Nebenbeschäfligte  zum 
Theil  erhalte.  So  haben  gegen  das  Tabaksmonopol  zahlreiche  kaufmännische  Ver- 
eine beim  Reichstage  petitionirt,  weil  bei  der  Entschädigung  nur  an  die  Händler 
und  technischen  Gehülfen  (was  heisst  »technisch«?),  aber  gar  nicht  an  die  kauf- 
männischen gedacht  sei.  Noch  dazu  in  einer  Zeit  so  verbreiteter  Stellenlosigkeit, 
dass  z.  B.  1881  bei  den  Vereinen  zu  Bremen,  Frankfurt  a.  M.  und  Mannheim  5730 
Suchende  nur  1120  Stellen  finden  konnten. 


7d]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  493 

Vertheilt  man  den  Reinertrag  des  Monopols  unter  die  Bundesstaaten 
nach  ihrer  Einwohnerzahl,  so  würden  Baden  und  K.  Sachsen  sehr 
verlieren^),  Württemberg  hingegen  mehr  gewinnen,  als  seine  Unter- 
thanen  verloren  hätten.  Nun  gibt  es  aber  fUi'  den  innern  Frieden 
eines  Bundesstaates  kaum  eine  grössere  Gefahr,  als  wenn  sich  bei 
vielen  Mitgliedern  die  Überzeugung  verbreitet,  dass  sie  zu  Gunsten 
anderer  wirthschafllich  übervortheilt  werden  sollen.  ^^)^*) 


29)  Von  den  (1881)  27277  ha  Tabaksland  im  deutschen  Reiche  besitzt 
Baden  8477,  also  gegen  30  Proc.  (Preiissen  6900,  Bayern  6400),  während  seine 
Bevölkerung  nur  3,4  Proc.  der  deutschen  beträgt.  Das  Kgr.  Sachsen  hat  zwar 
wenig  Tabaksbau,  aber  sehr  viele  Tabaksfabrikation:  es  kommen  auf  diesen  Staat 
6,<  Proc.  der  deutschen  Bevölkerung,  aber  H,1  Proc.  von  den  mit  Tabaksfabri- 
kation Beschäftigten.  Nach  einer  Denkschrift  der  Mannheimer  Handelskammer  sind 
auf  je  10000  Personen  mit  Tabaksverarbeitung  beschäftigt  im  ganzen  Reiche  260, 
in  Baden  895,  Altenburg  880,  Bremen  854,  Hessen  808,  Braunschweig  529, 
K.Sachsen  447,  Preussen  232,  Elsass  222,  Württemberg  105.  Württemberg  hat 
nur  einen  Gesammtumsatz  von  Tabak  von  H,  Baden  von  59  Mill.  Mk.  Noch 
auffälliger  würde  ein  ähnlicher  Gegensatz  unter  den  Gemeinden  sein,  denen  doch 
vom  Zustandekommen  des  Tabaksregals  eine  Erleichterung  ihrer  Gemeindelasten  in 
Aussicht  gestellt  war.  Nach  den  Vorschriften,  die  man  zur  Controle  des  Tabaks- 
baues beabsichtigte,  würden  z.  B.  in  Baden  6  Bezirke  mit  36  Ortschaften  und 
394  Pflanzern,  ausserdem  noch  102  andere  Gemeinden  wegen  nicht  genügender 
Anbaufläche  ihren  Tabaksbau  gänzlich  verloren  haben.  In  vielen  badischen  Ge- 
meinden muss  das  gesammte  Tabaksgewerbe  jetzt  i  0 — 20  Proc.  der  Gommunal- 
steuern  aufbringen :  wogegen  der  Monopol-Gesetzentwurf  die  künftigen  Reichsfabriken 
ausdrücklich  von  allen  Staats-  und  Gemeindesteuern  ausnimmt   (§.   27). 

30)  Schaffte,  der  schon  1868  das  Tabaksregal  für  Deutschland  empfohlen 
halte  (D.  Vierteljahrsschr.  No.  122,  H,  34011.),  verlangt  bei  der  Ablösung  der 
Privatindustrie  die  strengste  Gerechtigkeit  der  Entschädigung.  Er  gibt  aber  den 
jetzigen  Fabrikanten  etc.  daneben  ernstlich  zu  bedenken,  dass  ohne  Monopol  eine 
starke  Erhöhung  der  Steuer,  etwa  der  Fabrikatsteuer  wahrscheinlich  ist,  und  dass 
auch  diese  den  Erfolg  haben  würde,  einen  grossen  Theil  von  ihnen  zu  Grunde 
zu  richten:  solches  natürlich  ohne  Entschädigung,  während  bei  der  Einführung 
des  Regals  die  volle  Entschädigung  wenigstens  möglich  wäre.    (Steuerpolitik,   441  fg.) 

31)  An  das  Tabaksregal  erinnert  das  Staatsmonopol  der  Goca  in  Bolivien 
(Wappäus,  M.  und  S. -Amerika,  698);  auch  das  Staatsmonopol  der  Matebäume 
in  Paraguay,  wodurch  Fälschungen  verhütet  und  die  Bäume  selbst  vor  der  Aus- 
rottung (wie  bei  den  Cinchonawäldem  Peru's,  Bolivia's  und  Ecuador's)  geschützt 
werden.  (Wappäus,  1164.  1168.)  In  Ostindien  Opiumregal,  das  sogar,  wenn 
die  freiwilligen  Mohnpflanzer  nicht  genug  in  die  Regierungsmagazine  liefern,  mit 
einem  Rechte  des  Zwanges  zum  Mohnbau  verbunden  war  und  1855/56  4871227 
£  St.  eintrug.      (Wappäus,   Asien,   535fg.)     Um  1880/1  =8451294. 


194  WlLBBLM    ROSCHER,  'ß^ 

15. 

Für  die  Regalität  des  Salzes  können  die  obigen  Rechtfertigungs- 
gründe des  Tabaksregales  nur  in  sehr  geringem  Masse  gelten.  Das 
Salzregal  war  früher  bei  den  Regierungen,  die  es  gerne  mit  dem 
Bergregal  (System,  Bd.  III,  §.  180)  in  Verbindung  setzten,  beliebt 
namentlich  aus  folgenden  Gründen.^) 


I )  Die  römischen  Salinen  zu  Ostia  dem  König  Ancus  Martins  zugeschrieben. 
(Liv.  I,  33.)  Die  staatliche  Monopolisirung  des  Salzes  506  v.  Chr.  scheint  zunächst 
eine  Erniedrigung  des  Preises  als  blandimentum  plebi  erstrebt  zu  haben.  (Liv. 
II,  9.)  Die  Censur  des  Livius  Sallnator  steigerte  206  v.  Chr.  den  Salzpreis  in 
unpopulärster  Weise.  (Liv.  XXIX,  37.)  Nachmals  war  der  Ankauf  nur  den 
Pächtern  der  Slaatssalinen  gestattet  und  die  Ausfuhr  aus  einer  Provinz  in  die 
andere  verboten.  (Becker,  Rom.  Alterth.  HI,  I,  S.  123.  205)  In  Deutschland 
haben  zwar  noch  während  des  16.  Jahrb.  einzelne  Landesherren  Privatsalinen  ge- 
pachtet (Mittermayer,  D.  Privatrecht  II,  §.  312);  aber  der  Gedanke,  dass  die  Stein- 
salzwerke  regal  seien,  der  bereits  unter  den  Hohenstaufen  auftaucht  (Böhmer, 
Hegesta  Friderici  II,  No.  171.  212.  325.  593),  in  der  goldenen  Bulle  (IX,  1)  für 
die  Kurfürsten  durchdringt,  hat  sich  nachmals  auch  der  Salzquellen  dermassen 
bemächtigt,  dass  v.  Gerber,  System  des  Deutschen  Privatrechts,  §.98  ihn  als  ge- 
meinrechtlich anerkennt.  Vgl.  das  preuss.  Allg.  Landrecht  II,  16,  §.  71,  nachdem 
in  Brandenburg  1652  gegen  heftigen  Widerspruch  der  Stände  das  Regal  eingeführt 
worden  war  (Stenzel,  Preuss.  Gesch.  II,  80);  ferner  Römer,  Staatsrecht  von  Sach- 
sen II,  683;  V.  Kreiltmayr,  Bayersches  Staatsrecht,  372  tf.  Württemberg  hat  das 
Regal  erst  1807  bekommen.  Vor  1866  bestand  in  Österreich,  sowie  mit  Aus- 
nahme Hannovers  und  Oldenburgs  in  sämmtlichen  Zoll  Vereinsstaaten  das  Salzregal. 
Entweder  gehörten  alle  Salinen  dem  Staate  (Österreich,  Bayern,  Baden,  Kurhessen, 
Hessen-Darmstadt);  oder  es  durften  die  Privatsalinen  bloss  dem  Staate  verkaufen 
(Preussen);  oder  endlich  ein  von  Natur  salzarmes  Land  erhielt  seinen  Bedarf  nur 
durch  Regierungseinfuhr  (Kgr.  Sachsen,  Luxemburg,  Nassau):  wo  dann  in  allen 
drei  Fällen  die  private  Einfuhr  untersagt  war.  Der  Verkaufpreis  des  Salzes  ent- 
weder für  alle  Theile  des  Staates  gleich  (Preussen),  oder  je  nach  Entfernung  der 
Salinen,  Gefahr  des  Schmuggels  etc.  verschieden.  (Österreich,  Bayern.)  Wo  man 
sich  zum  Kleinverkauf  der  Privathändler  bediente,  war  diesen  regelmässig  eine 
Taxe  vorgeschrieben.  —  In  Prankreich  wird  die  gabelle  du  sei  zuerst  gesetzlich 
erwähnt  1318,  doch  als  früher  schon  bekannte  und  nur  vorübergehende  Kriegs- 
last. Sie  wurde  aber  kurz  vor  Mitte  des  14.  Jahrb.  für  den  grössten  Theil  des 
Staates  in  Form  eines  (seit  1548  verpachteten)  Staatsmonopols  bleibend.  Die  von 
Franz  I.  versuchte  Gleichstellung  der  Gabelle  und  des  Salzpreises  für  alle  Pro- 
vinzen verursachte  in  den  Küstenlandschaften  (die  nach  Bodin,  De  republ.  VI,  2, 
eine  bedeutende  Salzausfuhr  hatten),  schwere  Aufstände;  so  1548  in  Guyenne. 
(Sismondi,  Hist.  des  Fran^ais  XVII,  350  fr.  131  ff.)  Bis  zur  Revolution  unterschied 
man:    1)  pays  des  grandes  gabelles,    wo  der  Ctr.   Salz   bis  62  Livres   kostete   und 


B4]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Kegauen.  195 

A.  Es  hat  wegen  der  Unentbehrlichkeit  des  Salzes^)  einen  ebenso 
reichen,  wie  sichern  Ertrag.^)  Freilich  gewinnt  eben  damit  jede 
Salzauflage  einen  kopfsteuerähnlichen  Charakter:  d.  h.  sie  würde  nur 
in  einem  Steuersysteme  zu  rechtfertigen  sein,  welches  die  unterste 
Klasse  der  überhaupt  noch  Steuerfähigen  nicht  schon  in  anderer 
Weise  verhdltnissmdssig  belastet.  —  B.  Wegen  seiner,  verhältniss- 
mässig  leichten  Gewinnung,  mit  wenig  Maschinerie,  auch  wenig 
Arbeit,  ohne  Qualttdtsverschiedenheit  des  reinen  Kochsalzes,  sind  bei 
diesem,  überwiegend  natürlichen  Producte  die  Hervorbringungskosten 
verhaltnissmässig  gering,  so  dass  hier  technisch  und   wirthschaftlich 


jeder  Einwohner  97e  ^^^-  i™  jUbrIichen  Durchschnitt  kaufte,  (der  grössle  Theil 
von  Nordfrankreich);  2)  pays  des  petites  gabelies  mit  33^/2  £  pro  Ctr.  und  einem 
jährlichen  Verbrauche  von  14^/4  Pfd.  pro  Kopf,  (der  grösste  Theil  von  Südfrank- 
reich]; 3)  provinces  des  salines ,  wo  man  aus  nahen  kÖn.  Salinen  kaufte:  4  4  Pfd. 
pro  Kopf  und  24^2  ^  pro  Ctr.,  (Elsass,  Lothringen,  Franchc  Comte] ;  4)  provinces 
redimeeSy  die  steh  unter  Heinrich  If.  losgekauft  hatten  und  nun  den  Ctr.  mit  6 — 
\t  £  bezahlten,  (Limoustn,  Perlgord,  Guyenne,  Poitou,  Foix,  ein  Theil  von  Au- 
vergne  etc.);  5)  provinces  franches,  wo  die  Gabelle  nie  bestanden  hatte,  mit  t — 
9£  pro  Ctr.,  (Bretagne,  Artois,  Flandern,  Bearn);  6)  pays  de  quart  bouillony  wo 
man  von  dem  selbst  gewonnenen  Seesalze  nur  ^4  unentgeltlich  an  den  Staat 
lieferte:  Preis  4  6  £  pro  Ctr.,  (niedere  Normandie).  Im  Ganzen  nannte  man  seit 
Richelieu  das  Salzregal  das  Indien  des  Königs.  Vgl.  Stein- Warnkönig,  Franz. 
Staats-  und  Rechtsgesch.  1,  469.  620ff.  —  Auch  in  Russland  bestand  4705 — 28, 
4  734 — 4  863  ein  Salz regal.  Vom  Salzregal  in  China  s.  Timkowski  Reise  II,  44;  bei 
den  Sikhs  A.  Burnes  Reise  I,  57.  In  Ostindien,  wo  der  Salzverbrauch  sehr  stark 
ist,  kauft  die  Regierung  das  Seesalz  monopolisch  von  den  Bereitern  und  verkauft 
es  dann  mit  300  Proc.  Gewinn  an  die  Kleinhändler.      (Wappäus,   Asien,   535.) 

t)  Corporibus  nihil  utilius  sale  et  sole.  (Plin.  H.  N.  XXXI,  45.)  Salz  in 
gewissem  Sinne  noch  unentbehrlicher,  als  Brot,  das  man  ja  durch  Kartoflfeln^  er- 
setzen kann.  Für  pflanzenessende  Menschen  ist  mehr  Salz  nothwendig,  als  bei 
Fleischnahrung,  welche  an  sich  mehr  Chlornatrium  enthält.  (Moleschott,  Physio- 
logie der  Nahrungsmittel,  4  54.)  Daher  SalzauHagen  bei  armen  Völkern  besonders 
ergiebig  sein  können,  aber  auch  besonders  schädlich  sein  müssen.  Hübsche  Ver- 
suche^ aus  denen  hervorgeht,  dass  Salz,  weil  es  die  Speisen  verdaulicher  macht, 
an  Nahrungsmitteln  sparen  lässt:  Demesnay  im  Journal  des  Econ.  4  849,  p.  7. 
Offenbar  gerade  für  die  Ärmeren  von  besonderer  Wichtigkeit,  die  ja  auch  verhält- 
nissmässig  am  meisten  gesalzenes  Fleisch,  gesalzene  Butter  etc.  verzehren.  In  Bern 
hat  man  früher  beobachtet,  dass  in  schlechten  Jahren,  zumal  wenn  die  Heuernte 
missriethy  der  Salzverbrauch  weitaus  am  grössten  war.  (Mathy  in  Rau's  Archiv 
IV,   76.) 

3)   In  Frankreich  vor  der  Revolution  gegen  54  Mill.  Livres,   in  Preussen  4  867 
rein  6727824   Thir.,  in  Österreich   4879  =  43944308   Fl. 

Abhsndl.  d.  K.  S.  Gesellscli.  d.  Wissensch.  XXI.  4  4 


196  Wilhelm  Röscher,  [8^ 

der  Staatsbetrieb  dem  Privatbetriebe  weniger  nachsteht,  als  in  den 
meisten  anderen  Productionszweigen.  —  C.  Auch  der  Schutz  des 
Monopols  gegen  Umgehungen  ist  beim  Salze  besonders  leicht,  weil 
dessen  Production  nur  an  gewissen,  von  der  Natur  selbst  bestimmten 
Orten  möglich  ist*),  und  da  insgemein  sehr  grosse,  also  schwer  zu 
verbergende  Anstalten  erfordert.  Eine  früher  bei  den  Regierungen 
sehr  beliebte,  mit  der  Uncntbehrlichkeit  der  Waare  eng  zusammen- 
hängende Form  des  Monopolschutzes  war  die  Salzconscription :  indem 
jedes  Haus  genöthigt  wurde,  nach  der  Kopfzahl  seiner  Mitglieder 
eine  gewisse  Menge  Salz  von  den  Staatsniederlagen  zu  kaufen,  ge- 
wöhnlich mit  dem  Verbote  des  Wiederverkaufes.^)*^) 

Freilich  sprechen  alle  diese  Gründe  ebenso  wohl  zu  Gunsten 
einer  Salzsteuer,  wie  eines  Salzregals,  und  heben  die  allgemeine  Ver- 
muthung  (§.  1 0)  nicht  auf,  dass  eine  freie,  nur  besteuerte  Privatcon- 


4]  In  Kussland  lagen  bisher  die  Haiiptorte  der  Salzgewinnung,  nämlich  die 
salzigen  Binnenseen,  in  peripherischen,  wenig  bevölkerten  Provinzen.  Die  Ge- 
winnung des  Seesalzes  in  wannen  Klimaten  ist  allerdings  schwerer  zu  beaufsich- 
tigen. Das  deutsche  Reich  hatte  1880  nur  79  Productionsstatten,  die  aber  fast 
668  Mill.  Kgr.   Salz  lieferten. 

5)  Diese  Conscription ,  von  der  Sully  sagt:  je  n'ai  Jamals  rien  trouve  de 
si  bizarrement  tyrannique  (Economies  royales  II,  p.  465  der  Quart-Ausg.),  ist  in  den 
französischen  pays  des  grandes  gabelies  so  alt,  wie  das  Salzregal  selbst.  Vgl. 
Fortescue,  De  legibus  Angliae,  c.  35.  In  Preussen  führte  sie  Friedrich  Wilhelm  I. 
ein  (4  74  9).  Seit  4  7S5  erhielt  jedes  Haus  ein  Buch,  worin  sein  Bedarf  verzeich- 
net war:  4  Metzen  jährlich  für  jede  Person  über  9  Jahre,  t  M.  für  jede  Kuh 
oder  4  0  Schafe.  Jede  nicht  abgeholte  Metze  mit  4  Groschen  Geld  oder  ent- 
sprechender Leibesstrafe  gebüsst.  (Stenzel,  Preuss.  Gesch.  III,  394.  Borowski, 
Preuss.  Cameral-  und  Finanzwesen  II,  34  4iT.j  Während  die  Einfuhr  des  fremden 
Salzes  4  723  mit  dem  Galgen  bedrohet  wurde,  solUe  das  General-Directorium  alle 
Maschinen  spielen  lassen,  damit  namentlich  Polen  sein  Salz  von  Preussen  bezöge. 
Die  Coascription  4846  aufgehoben.  Man  hat  sie  nachher  nur  in  Gegenden  bei- 
behalten (4  2  Pfd.  jährlich  pro  Kopf),  wo  man  sonst  den  Schmuggel  zu  sehr  hätte 
fürchten  müssen,  z.  B.  in  Exclaven.  Aufhebung  der  sächsischen  Conscription  4  840. 

6)  Die  schweren  Klagen  über  das  französische  Salzwesen,  dass  die  Verwal- 
tungskosten tO — 25  Proc.  des  Rohertrages  verschlangen,  dass  jährlich  gegen  3500 
Menschen  wegen  Salzdefraude  verhaftet  und  bestraft  wurden  etc.  (Necker,  Ad- 
mini.stration  des  finances  II,  8;  A.  Young,  Travels  in  France  etc.,  598),  waren 
nicht  unmittelbare  Folgen  des  Regals,  sondern  hingen  zusammen  mit  der  grossen 
Verschiedenheit  und  gegenseitigen  Absperrung  der  Provinzen.  Wer  auch  nur  ein 
Minot  einschmuggelte,   konnte  von  dem  Gewinn  eine  Woche  lang  behaglicher  leben, 

Is  vom  Tagelohn.      (Forbonnais  F.  de  Fr.  I,   59.) 


^3]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  197 

currenz,  bei  gleicher  Einträglichkeit  für  die  Staatskasse,  der  Volks- 
vvirthschaft  nützlicher  sein  werde.  Eine  grosse  Production  verbunden 
mit  einem  niedrigen  Preise  des  Salzes  muss  gegenwärtig  nicht  bloss 
im  Interesse  der  unmittelbaren  Volksernährung  angestrebt  werden, 
sondern  auch  im  Interesse  der  Seefischerei'),  der  intensivem  Land- 
wirthschaft  (Viehsalz^),  DUngersalz*)),  und  einer  Menge  von  tech- 
nischen Gewerben*^):    lauter   Verwendungsarien   des   Salzes,   welche 


7)  Obgleich  die  englischen  Seefischereien  eigentlich  steuerfreies  Salz  haben 
sollten,  was  zu  gewaltigen  Steuerdefrauden  (bis  zu  V3  ^^^  gesammten  Steuer)  ge- 
missbraucht  wurde,  ist  die  Erlangung  des  nöthigen  Salzes  für  sie  doch  von  der 
Steuer  so  erschwert  gewesen,  dass  erst  nach  Abschaffung  der  ganzen  Salzsteuer 
die  Fischerei  sehr  aufblühen  konnte.      (Macculloch,  Taxation,   256  ff.) 

8)  Vom  Nutzen  des  Viehsalzes  handeln  schon  Plin.,  H.  N.  XXXI,  41;  Colu- 
mella,  R.  R.  VI,  4,  23.  Nach  Lieb  ig,  Chemische  Rriefe,  No.  27  nährt  es  nicht 
unmittelbar,  macht  aber  z.  B.  das  Mastvieh  gesunder,  zum  Stoffwechsel  geeigneter 
etc.  In  Preussen  war  lange  für  jede  Provinz  der  Salz  verbrauch  pro  Kopf  um  so 
grosser,  je  mehr  die  Landwirthschaft  daselbst  überwog.  [Hoffmann,  Lehre  von 
den  Steuern,  259.)  Nach  v.  Weckherlin,  Landw.  Thierproduction  11,  157  sind 
12  Pfd.  jährlich  für  eine  Kuh  genügend;  viele  pfäizer  Wirthe  geben  jedoch  V2T 
ja  i  Pfd.  wöchentlich.  (Rau,  F.  W.  I,  265.)  Noch  immer  ist  wegen  des  hohen 
Salzpreises  der  wirkliche  Salzverbrauch  für  Menschen  und  Vieh  zusammen  in  den 
meisten  Ländern  viel  geringer,  als  der  wünschenswerlhe.  Nach  A.  Schmidt,  Das 
Salz:   eine  volkswirthsch.  und  finanzielle  Studie  (4874),  S.  36  ff.  sollte  er  betragen 

pro  Kopf  der  Bevölkerung,     beträgt  aber  wirklich  nur 


in  Preussen 

30,  U  Pfd. 

jährlich, 

47,72 

-   Bayern 

35,41      - 

— 

23,76 

-   Württemberg 

30,59     - 

- 

26,87 

-   Sachsen 

23,36     - 

- 

40,70 

-   Russland 

33,04      - 

- 

46,48 

-    Frankreich 

28,50     - 

- 

16 

-    Österreich 

36,69     - 

- 

44,56 

Dagegen  mögen  die  starken  Salzdosen,  welche  das  engUche  Vieh  erhält,  (taglich 
4  4  Loth  für  ein  Pferd  oder  einen  Ochsen,  8  für  eine  Milchkuh,  5  für  ein  Kalb 
von  mehr  als  einem  Jahre,  4  für  ein  Schaf  oder  Schwein :  Kerst,  Das  Salzmono- 
poL  53),   mit  der  völligen  Steuerfreiheit  des  englischen  Salzes  zusammenhängen./ 

9)  Die  Wichtigkeit  der  Salzdüngung  wurde  namentlich  früher  (z.  B.  von  Sin- 
clair) oft  überschätzt;  jedenfalls  können  für  diesen  Zweck  viele  Abfälle  gebraucht 
werden:  Pfannenstein,  die  Asche  der  abgelegten  Dornen  aus  den  Gradirwerken  etc. 

4  0)  Im  deutschen  Zollverein  wurde  4  870  vertragsmässig  abgabenfreies  Salz 
an  folgende  Gewerbzweige  abgelassen :  Soda-  und  Natronsulphatfabriken,  chemische 
F.,  Seifenf.,  Glashütten  und  Glasf.,  Lederf.,  Gerber  und  Häutehändler,  Farbef. 
und  Färber,  Steinzeugf.,  Ofenf.  und  Töpfer,  Viehsalzlecksteinf.,  Feilenf.,  Eisen- 
hütten,   Kürschner,    Papierf.,    Eisen-    und  Stahlf.,    Düngerf.,    Conditoreien,   Kunst- 

n* 


198  Wilhelm  Röscher,  I^* 

vormals  eine  sehr  viel  geringere  Wichtigkeit  besassen,  jetzt  aber  in 
fortwährendem  Wachsthum  begriffen  sind.  Dass  nun  die  Vertauschung 
des  Regals  mit  einer  massigen^')  Steuer  die  Production  und  Con- 
sumtiou  des  Salzes  beträchtlich  heben  müsse,  ist  im  Allgemeinen 
wohl  nicht  zu  bezweifeln.  ^^)  Der  Übelstand  freilich  bleibt  auch  bei 
der  massigsten  Steuer  auf  Speisesalz,  dass  man,  um  sie  nicht  um- 
gehen zu  lassen,  das  Vieh-  und  Fabriksalz  nur  im  »denalurirten«  Zu- 


wollenf.,  Darmsaitenf.,  Schiffbauer,  Ölf.,  Tuchf.,  Amidoaf.,  Zinkhütten,  Uand- 
schuhf.,  Darmhändler,  Maschinenf.,  Seiler,  Gelbgiesser^  Gementf.,  SchnellbleicbeD. 
Dazu  müssten  aber  eigentlich  noch  kommen:  Tabaksf.,  F.  künstlicher  Mineral- 
wasser, sowie  die  Gewerbe,  die  Eiskeller  nÖthig  haben.  (A.  Schmidt,  a.a.O.,  26 fg.) 

H)  Die  englische  Salzsteuer  von  4  694 — 4  823,  die  zuletzt  gegen  4  500000 
£  St.  jährlich  eintrug,  war  seit  4  805  über  30  mal  so  hoch,  wie  der  sonstige 
Preis  des  Salzes!  In  Frankreich,  wo  4  790  das  Saizregal  mit  seinen  Haussuchungen 
und  körperlichen  Strafen,  4  791  auch  die  Salzsteuer  abgeschafft  worden  war, 
führte  Napoleon  4  806  wieder  eine  Steuer  von  4  0  Ct.  pro  Kilogr.  ein  (mit  Steuer- 
freiheit für  die  Seefischerei  und  nachmals  auch  die  Sodafabrikation),  die  hernach 
auf  20,  4843  auf  40,  von  den  Bourbons  4844  auf  30,  4848  wieder  auf  40  Ct. 
festgesetzt  wurde.  Also  immer  noch  gegen  500  Proc.  des  natürlichen  Preises^  da 
Seesalz  an  Ort  und  Stelle  nur  etwa  2  Fr.  pro  metr.  Ctr.  Gestehungskosten  erfor- 
dert. Aber  auch  so  ist  der  Zustand  doch  gegen  die  Regalzeit  wesentlich  besser 
geworden.  Die  Production  des  Seesalzes  wird  von  der  Steuerbehörde  nur  über- 
wacht; die  des  Landsalzes  bedarf  ausserdem  noch  einer  Concession,  die  insgemein 
bloss  dann  ertheilt  wird,  wenn  der  Goncessionar  cnindestens  Y2  ^i^'*  Kilogr.  jähr- 
lich hervorbringt.  Jedes  Salzwerk  ist  mit  einem  Zaune  zu  umgeben,  der  Tag  und 
Nacht  bewacht  wird ;  die  Steuer  wird  gleich  beim  ersten  Verkaufe  gezahlt.  Dann 
ist  der  weitere  Salzhandel  frei,  abgesehen  von  einigen  Transportcontrolen  in  der 
Nähe  des  Gewinnungsorles. 

4  2)  L.  V.  Stein  durchaus  für  Salzsteuern^  nicht  für  Salzraonopole.  (Finanz- 
wissensch. ,  534.)  Als  Deutschland  4  867  das  Regal  mit  einer  Steuer  vertauscht 
hatte*  betrugen  die  Erhebungskosten  der  letzlern  4  872  nur  0,58  Proc,  während 
das  preussische  Regal  4  850 — 62  ohne  die  Kosten  des  Ankaufes  durchschnittlich 
4,27  Proc.  des  Bruttoertrages  gekostet.  (A.  Schmidt,  a.  a.  0.,  94.)  Über  die 
grosse  Belästigung  des  Innern  Verkehrs,  die  früher  im  Zollvereine  durch  die  Re- 
galität des  Salzes  noth wendig  war,  s.  Tübinger  Zeitschr.  4  864,  474  ff.  Auch  in 
Österreich,  wo  man  4  829  das  Regal  insofern  milderte^  als  der  Gross-  und  Klein- 
handel von  den  Beamten  auf  die  Privatindustrie  übertragen  wurde,  ist  das  Salz 
entschieden  wohlfeiler  geworden.  In  Wien  z.  B.  schlagen  die  Verkäufer  nur  etwa 
4^2  Pi*oc.  auf  den  Staaispreis,  und  so  wohlfeil  könnte  der  Staat  selbst  schwerlich 
dienen,  (v.  Tegoborski  II,  24 5 ff.)  In  Russland  brachte  das  Regal  4  850 — 60 
durchschnittlich  nur  7900000  Rub.  ein,  die  4  863  begonnene  Salzaccise  4  867 — 72 
I4V2  Mill.    (A.   Schmidt  a.  a.  0.,   84.) 


^^]  Versuch  einer  Theorie  der  Finanz-Regalien.  199 

Stande'^)  steuerfrei  machen  kann:  gewiss  eine  an  sich  gehässige  Mass- 
regel, eine  edle  NaUirgabe  aus  SleuergrUnden  absichtlich,  ja  mit 
Kosten  zu  verschlechtern!  Daher  eine  Nachahmung  der  in  Eng- 
land (1825),  Norwegen  (1844)  und  Portugal  (1846)  eingeführten  Steuer- 
freiheit  des  Salzes  auch  anderswo  gewiss  zu  wünschen  ist.  ^*) 


13)  Die  Denaturirung  des  Viehsalzes  erfolgt  nanienilich  durch  Eisenoxyd 
oder  RÖthel  uod  Wennullikrautpulver ;  die  des  Fabriksalzes  durch  Glaubersalz, 
Kieserit,  Asche  oder  gemahlene  Holzkohlen. 

H)  In  Frankreich  hat  weder  4  868  der  Vorschlag  von  Fould,  noch  1871 
trotz  der  grossen  damaligen  Finanznoth  der  wiederholte  Vorschlag,  die  Salzsteuer 
auf  20  Ct.  pro  Kgr.  zu  erhöhen,  durchgesetzt  werden  können :  ein  merkwürdiger 
Beleg,   wie  wenig  dem  neuern  Zeitgeiste  Salzauflagen  beliebt  sind. 


DER  GESCHNITZTE 


HOLZSARG  DES  HATBASTRÜ 


IM  AEGYPTOLOGISCHEN  APPARAT 


DER  UNIVERSITÄT  ZU  LEIPZIG 


VON 


GEORG  EBERS 

MITGLIED  DER  KÖNIGL.  SACHS.  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


Abkandl.  d.  k.  S.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  45 


Unter  den  vielen  aus  dem  aegyptischen  Alterthum  bis  auf  uns 
gekommenen  Sarkophagen  nimmt  der  im  aegyptologiscben  Apparat 
der  Universität  zu  Leipzig  conservirte  durch  den  Reichthum  der  In- 
schriften, welche  ihn  bedecken,  die  besondere  Sorgfalt,  mit  der  die 
einzelnen  schriftbildenden  Zeichen  hergestellt  sind,  die  höchst  seltene 
Art  und  Weise  der  Aussculptirung  seiner  Oberfläche  und  das  Material, 
aus  dem  er  besteht,  eine  hervorragende  Stellung  ein.  Wir  besitzen 
in  diesem  Sarkophag  ein  in  seiner  Weise  einzig  dastehendes  Denk- 
mal, und  seine  Publication,  welche  unter  allen  Umständen  wünschens- 
werth  erscheint,  darf  schon  darum  nicht  unterbleiben,  weil  ja  die 
Fachgenossen  in  Leipzig,  das  kein  aegyptisches  Museum  besitzt,  solchen 
Schatz  zu  finden  keineswegs  erwarten  können.  Unser  aegyptologi- 
scher  Apparat  ist  nur  eine  Sammlung  von  Abgüssen  und  Cartonnagen, 
an  die  sich  eine  kleine  Bibliothek  von  Publikationswerken  und  Wörter- 
büchern anschliesst,  und  er  braucht  fUr  die  Lehrzwecke,  denen  er 
gewidmet  ist,  nichts  anderes  zu  sein;  an  Originalen,  auf  welche  wir 
in  den  Vorlesungen  verweisen  können,  besitzen  wir  nur  vier,  aber 
unter  diesen  sind  zwei  so  beschaffen,  dass  sie  sich  mit  den  kost- 
barsten Schätzen  der  allergrössten  Museen  messen  können.  Der  grosse 
medicinische  Papyrus  Ebers  ist  den  Fachgenossen  längst  in  meiner 
Publikation  zur  Hand,  mit  dem  Leipziger  Sarkophag  denken  wir  sie 
an  dieser  Stelle  bekanjit  zu  machen.^) 


4)  Unsere  beiden  anderen  Originale  sind  eine  itleine  Stele  von  der  Gattung 
der  i>Horus  auf  den  Krokodilena  genannten  Denkmäler,  mit  der  ich  die  Gollegen 
bereits  in  unserer  Fachzeitschrift  4  880,  S.  54  bekannt  gemacht  habe,  und  eine 
Anzahl  von  Mumienbinden  mit  den  theils  vollständig,  theils  unvollständig  wieder- 
gegebenen  Kapiteln  4,  2,  3,  4,  5,  6,  4  7,  74,  74,  75,  76,  77,  78,  4  04,  4  05, 
4  06,    4  49  des  Todtenbuches  in  zierlicher  Schrift. 

15» 


20 i  Georg  Ebers,  [^ 


Fundort  und  Erwerbung. 

Leider  hat  sich  über  den  Fundort  unseres  Sarkophages  nichts  er- 
mitteln lassen.     Aus  den  Akten,   welche   tn\r  durch  den  kgl.  Sachs. 
Cultusminister   Dr.  von  Gerber  in   ausserordentlich   zuvorkommender 
und  liebenswürdiger  Weise  zur  Verfügung  gestellt  worden  sind,  geht 
nur  hervor,   dass   unser   Denkmal   den  Weg   über  Triest  genommen 
hat.     Professor  Dr.  M.  G.  Seyffarth,  mein  Vorgänger  auf  dem  Lehr- 
stuhle  für  aegyptische   Sprache    und    Alterthumskunde    an    unserer 
Hochschule,  hatte  im  Jahre  1841   durch   den  Ordinarius   der  juristi- 
schen Facultät  Prof.  Dr.  Günther  Kenntniss  von  der  Existenz  unseres 
Denkmales  erhalten  und  bei  dem  kgl.  Cultusministerium   zu  Dresden 
ein  Gesuch  eingereicht,  dasselbe  für  die  Leipziger  Universität  erwerben 
zu    dürfen.     Da    die  vorgesetzte    Behörde   seinem   Wunsche  bereit- 
willig  entgegenkam,   beauftragte    er    den   Licentiaten  M.   Goldhorn, 
Gustos  bei  der  Universitätsbibliothek,  welcher  im  April  des  folgenden 
Jahres  über  Triest  nach  Italien  reiste,  den  Sarkophag  in  Augenschein 
zu  nehmen  und  ihm  eine  Reihe   von  Fragen,   welche  sich  auf  den- 
selben bezogen,  zu  beantworten.     Aus  dem   mir  vorliegenden  Briefe 
des  genannten  Gelehrten  geht  nun  hervor,  dass  sich  derselbe  seinem 
Auftrage  mit  Eifer  unterzog  und  den  Werth  des  Sarkophages  richtig 
erkannte.      Leider    findet    sich     in    seinem    Schreiben    keine    Notiz 
über    denjenigen,    welcher    unser  Denkmal   nach   Europa    gebracht 
hat  oder  gar  über  die  Fundstätte  desselben.     Er  erzählt  nur,    dass 
er  zu  Triest  durch   den  Kaufmann   Herrn  Martins   in  einen  Speicher 
geführt  worden  sei,   wo   der  Sarkophag  aufbewahrt  wurde.     Dieser 
war  auseinander  genommen,  und  den  Deckel,  welcher  unter  Waaren- 
ballen  versleckt  lag,  bekam  Herr  Goldhorn  gar  nicht  zu  sehen.     In- 
dessen erfuhr  er,  dass  das  Denkmal  von  dem  früheren  preussischen 
Consul  in  Alexandrien  (1840,  v.  Wagener)  zum  Geschenk  für  seinen 
König  bestimmt  gewesen  sei.    Vielleicht  ist  dieses  Vorhaben  in  Folge 
des  Regierungswechsels   in  Preussen  1840  unausgeführt  gebh'eben. 

Ermuthigt  durch  den  günstigen  Bericht  Goldhorns  erneute  Prof 
SeyflFarlh  sein  Gesuch  um  Ankauf  des  Sarkophags,  und  derselbe  wurde 
denn  auch  von  dem  kgl.  sächs.  Cultusministerium  für  den  beispiellos 
billigen  Preis  von  »nicht  ganz  1000  Francs«  erworben. 


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4 


lern  aegyptischen  Aiterthum  bis  auf  uns 

mmt   der   im  aegyptologischen  Apparat 

>nservirte  durch  den  Reichlhum  der  In- 

Q,  die  besondere  Sorgfalt,   mit  der  die 

hen  hergestellt  sind,  die  höchst  seltene 

ng  seiner  Oberfläche  und  das  Material, 

Tragende  Stellung   ein.     Wir  besitzen 

'ner  Weise  einzig  dastehendes  Denk- 

be  unter  allen  Umstanden  wUnschens- 

rum   nicht  unterbleiben,   weil  ja  die 


206  Georg  Ebers,  [6 

reicht  seia  Umfang  volle  2,25  m.  Am  Kopfende  des  Deckels  sieht 
man  das  Antlitz  des  Verstorbenen  in  typischer  Darstellungsweise. 
Der  Bart  ist  unvollendet  geblieben  und  als  leicht  zugespitztes,  flüchtig 
geglättetes  Holzstück  in  das  Kinn  gefügt  worden.  Eine  gestreifte 
Kalantika  umhüllt  das  breite  Haupt.  Sie  ist  hinter  den  abstehenden 
Ohren  zurück  gestrichen  und  fällt  in  steifen  Falten  in  zwei  Flügeln 
auf  die  Brust  herab.  Seyffarth  hat  ))auf  dem  Scheitel«  die  Figur 
einer  Nephthys  gesehen.  Wir  können  dieselbe  nicht  mehr  wieder- 
finden, bemerken  aber  auf  der  Kalantika  etwas  über  der  Mitte  der 
Stirn  eine  Figur,  welche  man  allerdings  für  das  bekannte  TT  halten 
kann.  Das  Halsband,  welches  tief  hinunter  hängt,  besteht  aus  drei 
Reihen  von  höchst  sorgfältig  aussculptirten  vegetabilischen  Ornaq[)ental- 
figuren  und  einer  Franze  von  dicht  aneinandergefügten  Tropfen.  Am 
rechten  und  linken  Ende  dieses  Colliers  sieht  man  je  einen  Sperber- 
kopf mit  der  Sonnenscheibe  auf  dem  Scheitel.  Beide  stehen  an 
Stelle  der  Verschlussstücke,  welche  sich  an  wirklichen  Halsbändern 
finden.  Unter  dem  Collier  sucht  man  vergebens  nach  den  auf  an- 
deren ähnlichen  Mumiensarkophagen  in  erhabener  Arbeit  hervor- 
tretenden Händen;  es  stehen  hier  vielmehr  drei  Figuren,  von  denen 
die  mittelste  ein  wahres  Meisterstück  der  Holzschnitzkunst  genannt 
werden  darf.  Sie  stellt  die  mütterliche  Göttin  Nut  dar,  in  knieender 
Stellung  und  mit  ausgespannten  Flügeln.  Über  den  Schwingen  hat 
sie  die  Arme  weit  ausgestreckt,  und  in  jeder  Hand  trägt  sie  das  Attribut 
der  Wahrheit,  die  Straussenfeder.  Das  nach  rechts  schauende  anmuthige 
Gesicht  ist  mit  besonderer  Liebe  behandelt,  und  die  Zeichnung  des 
rechten  Beines,  auf  dem  sie  ruht,  ist  eben  so  frei  als  fein.  (Taf.  I.) 
DiQ  thronenden  Göttergestalten  bei  den  Flügelspitzen  der  Nut  tragen 
Scepter  j  -und  y  in  den  Händen.  Sie  sind  von  vorn  herein  weniger 
sorgfältig  ausgeführt,  jetzt  aber  leider  ziemlich  stark  beschädigt. 
Die  Inschriften  über  ihnen  sind  unlesbar.  An  Stelle  dieser  ent- 
schieden männlichen  Figuren  findet  man  auf  anderen  Sarkophagen 
aus  ungefUhr  derselben  Zeit  Isis  und  Nephthys. 

Die  untere  Hälfte  des  Deckels  wird  von  zwei  Mal  sechs  hori- 
zontalen Inschriftsstreifen  eingenommen.  Sechs  derselben  stehen  zur 
Rechten,  sechs  zur  Linken  einer  verticalen  Hieroglyphenzeile,  welche 
in  der  Richtung  vom  Kopf  zum  Fuss  die  Deckelaufschriften  in  zwei 
Theile  zerlegt.     Allen  Horizontalstreifen  mit  Ausnahme  der  untersten 


7]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastru.  207 

rechts  und  links  gehen  Göttergestalten  voran:  den  vier  (zwei  und 
zwei)  obersten  je  zwei,  den  sechs  (drei  und  drei)  folgenden  je  eine. 
Auf  dem  FussstUcke  (den  mit  Mumienbinden  zusammen  gewickelten 
Füssen),  sieht  man  die  geflügelte  Göttin  der  Wahrheit  Maä,  welche  in 
den  HSinden  und  auf  dem  Scheitel  je  eine  Straussenfeder  fuhrt. 
An  den  Schulterstücken  des  Deckels  sind  je  vier  verticale  Hierogly- 
phenzeilen angebracht,  und  so  findet  sich  denn  auf  demselben  kein 
Zoll,  welcher  nicht  mit  Hieroglyphen  oder  anderen  Sculpturen  be- 
deckt wäre. 

Das  gleiche  gilt  von  dem  Sargkasten,  auf  dessen  Aussenseite 
sich  eine  verticale  Hieroglyphenzeile  an  die  andere  drängt.  Seine 
untere  Seite,  oder  besser  sein  Rücken,  denn  der  Sarkophag  war 
darauf  eingerichtet  in  der  Grabkammer  wie  eine  Statue  aufgestellt 
zu  werden,  ist  durchaus  flach,  während  der  Deckel  namentlich  in 
der  Brustgegend  sich  hoch  und  rund  auswölbt.  Die  Kalantika  an  der 
Kopfstelle  der  hinteren  Seite  des  Kastens  ist  gefältelt,  aber  spannt 
sich  wie  aufgeleimt  über  das  flache  Brett.  Auch  der  untere  Theil 
unseres  Denkmals  ist  über  und  über  mit  Inschriften  bedeckt.  Nach 
Seyffarths  Berechnung  nehmen  die  Texte,  welche  auf  dem  ganzen 
Sarkophag  vorkommen  (Deckel  und  Kasten)  volle  30  Quadrat- 
fuss  ein. 

Ganz  besonderen  Werth  gewinnt  unser  Denkmal  durch  die  Art 
und  Weise,  in  der  die  Bilder  und  Hieroglyphen  hergestellt  sind, 
welche  es  schmücken.  Die  sind  sämmtlich  in  erhabener  Arbeit  aus 
dem  Holze  geschnitten,  und  zwar  mit  solcher  Sorgfalt,  dass  man  an 
den  menschlichen  Figuren  die  einzelnen  Locken  im  Haar  und  die 
Fingernagel,  an  den  Vögeln  die  Federn,  an  den  Schlangen  die 
Schuppen,  an  den  Kinnladen  ^^^  die  Zähne  erkennen  kann.  Bei 
dem  Zeichen  \^    lassen    sich    die    einzelnen   Finger    an    der  Hand 

unterscheiden.     Q  ist  ein  Väschen,  welches  an  einem  Stricke  hängt, 

und  an   diesem  ist  es  vergönnt   die  Seilerarbeit  zu  erkennen.     ^ 

ist  merkwürdig   gebildet ,   z.  B.   in  ^  i ,    denn    der    Mann    in 

dieser  Hieroglyphe  hält  hier  kein  Beil  in  der  Hand,  sondern  zieht 
sich  mit  beiden  Händen  an  dem  eigenen  Haarschopf  hinunter.  Aus 
dem  gesammten  aegyptischen  Alterthum  ist  kein  Holzsarkophag  mit 
so   sorgfältig   in  Basrelief  gearbeiteten  Figuren    erhalten    geblieben. 


208  Georg  Ebers,  [8 

und  wenn  man  die  im  Museum  zu  Bulaq  conservirten  Breiter  aus 
Saqqara,  einige  Bretlspielkästen  und  andere  kleine  Stücke  ausnimmt, 
gibt  es  keine  Holzskulptur  aus  dem  alten  Aegypten,  welche  sich  mit 
der  unseren  an  Schönheit  messen  kann. 

Man  weiss,  dass  zwischen  dem  Tode  eines  begüterten  Aegypters 
und  seinem  Begräbniss  siebenzig  Tage  vergehen  durften.  In  diesem 
Zeitraum  musste  die  Balsamirung  und  alles  was  zur  Ausstattung  der 
Leiche  gehörte,  fertig  gestellt  werden.  Man  scheint  streng  an  diesem 
Termin  festgehalten  zu  haben,  denn  manche  mit  Sorgfalt  hergestellte 
Sarkophage  (so  der  von  H.  v.  Bergmann  treflflich  behandelte  des 
Panehem  Isis  zu  Wien)  sind  vor  ihrer  völligen  Vollendung  beigesetzt 
worden.  Dies  gilt  auch  von  unserem  Grabdenkmal,  auf  dem  sich 
ganze  unfertige  Gruppen  nachweisen  lassen,  und  zwar  an  Stellen 
wo  man  sie,  weil  sie  gerade  dort  besonders  ins  Auge  fallen  mussten, 
am  wenigsten  erwarten  sollte.  Dies  gilt  z.  B.  von  dem  unteren 
Theile  der  grossen  Vertikalzeile,  welche  den  plastischen  Schmuck 
des  Deckels  in  zwei  Theile  zerlegt,  sowie  von  den  Göttergestalten. 
Das  Holz,  in  welches  die  Namen  der  darzustellenden  Gottheiten  ge- 
schnitten werden  sollten,  war  ausgespart  worden,  aber  man  kam  in 
mehreren  Füllen  nicht  dazu  sie  einzuschneiden,  obgleich  dies  bei 
den  ihnen  gegenüberstehenden  Figuren  geschehen  war.  —  Die  Hast, 
mit  welcher  das  Werk  vollendet  werden  musste,  hat  wol  auch  den 
Hierogrammaten,  welcher  die  zu  benutzenden  Texte  aufgesetzt  halte, 
verhindert  sie  nach  ihrer  Übertragung  auf  das  Holz  noch  ein  Mal 
durchzusehen  und  zu  corrigiren.  Nur  so  erklären  sich  die  zahl- 
reichen Schreibfehler,  welche  diese  so  ungewöhnlich  fein  und  sorg- 
lich geschnitzten  Texte  entstellen.  Manche  derselben  sind  derartig, 
dass  man,  wenn  sie  auf  einem  Monumente  von  weniger  unantastbar 
sicherer  Echtheit  stehen  würden,  sich  versucht  fühlen  könnte,  dies 
für  gefälscht  zu  halten.  Zieht  man  die  x\rt  und  Zahl  der  groben 
Schreibfehler  in  Erwägung,  so  kann  man  nicht  zweifeln,  dass  der 
Künstler,  welcher  unsere  Texte  in  das  Holz  schnitt,  entweder  der 
Hieroglyphenschrifl  unkundig  war  oder  ohne  auf  den  Sinn  dessen 
was  er  schrieb  zu  achten,  seine  Vorlage  auf  den  Sarkophag  über- 
tragen hat.  Diese  scheint  nicht  in  hieratischer,  sondern  in  flüchtiger 
hieroglyphischer  Schrift  verfasst  gewesen  zu  sein.  Das  lässt  sich 
an  der  häufigen  Verwechselung  der  Zeichen  ^^^3:^  und  ^^3^  erkennen, 


d]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  ^atbastrl'.  209 

welche  in  der  hieratischen  Schrift  ganz  verschieden,  in  der  hiero- 
glyphischen aber  recht  leicht  mit  einander  zu  verwechseln  sind. 
Eigentliche  Beschädigungen  hat  unser  Sarkophag  nur  an  der  rechten 
Seite  des  Fussstückes  und  den  sich  an  den  Rücken  scbliessenden 
Seitenbrettern  erfahren.  Übrigens  lassen  sich  die  verhältnissinässig 
wenigen  abgeriebenen  Zeichen  in  den  meisten  Fällen  ergänzen. 


Die  Persönlichkeit  und  Heimat  des  in  unserem  Sarkophag 

bestatteten  Aegypters. 

Bevor  wir  auf  die  Inschriften  des  Sarkophages  eingehen,  aus 
denen  schon  in  diesem  Abschnitt  manche  Gruppe  anzuführen  sein 
wird,  muss  bemerkt  werden,  dass  wir  »rechts«  und  »links«,  hier  wie 
auf  den  Tafeln,  nicht  in  unserem,  sondern  im  aegyptischen  Sinne 
gebrauchen,  d.  h.  wir  denken  uns  in  die  Osirisgestalt,  von  der  wir 
zu  reden  haben,  hinein.  Rechts  ist  für  uns  nicht  die  unserer  Rechten 
gegenüberstehende  Hälfte  der  Mumie,  sondern  diejenige  Seite  der- 
selben, an  der  sich  ihr  rechter  Arm  und  ihr  rechtes  Auge  befinden. 

Der  Name  des  Menschenkindes,  für  welches  unser  Sarkophag  her- 
gestellt worden  ist,  erscheint  auf  demselben  häufig,  und  zwar  31  Mal; 
aber  obgleich  seine  Lesung  sicher  steht,  bleibt  es  zunächst  frag- 
lich ob  er  einem  männlichen  oder  weiblichen  Wesen  angehört  hat. 
Dergleichen  kommt  sonst  glücklichweise  nur  selten  vor;  hier  ist  es  die 
Sorglosigkeit  und  Unwissenheit  des  Schreibers  oder  Bildhauers,  oder 
vielleicht  auch  beider,  welche  den  Leser  in  eine  so  missliche  Lage 
versetzen. 

Unser  »Osiris«  war  bei  Lebzeiten    ^  "^  ^  gerufen   worden 

und  dies  muss  wie  die  Variante    \    ü  ^  ^  cv)  lehrt,  5atbastru^)  gelesen 
werden.     Seine  Eltern  werden  mehrmals,  am  vollständigsten  auf  dem 

Seitenstück  I.  Z.  1  genannt.    Es  heisstdort:  1?^^^§  "^^^^^^^^  %> 
Der  königl.   Anverwandte  Hatbastru,    Sohn   des  werth  ge- 


A/VNA^A 


t 


2)   Wenn  .   .    .  epuiof  ist,  Hatbasleru  zu  lesen. 


210  Georg  Ebers,  1^0 

schätzten  bei  dem  grossen  Gotte  PeOef  (sehen?)  3)  Kind  der  Herrin 
des  Hauses,  der  werth  geschützten  bei  den  Göttern  Tasä^epr. 

Gewöhnlich  wird  bei  Anführung  der  Eltern  die  Mutter  zuerst 
genannt;  aber  Tasä/epr  muss  eine  Frau  sein.  Darauf  deutet  viel- 
leicht das  ^'^^  mit  dem  ihr  Name  beginnt,  dafür  tritt  der  diesen 
begleitende  Titel  Herrin  des  Hauses  ein,  das  wird  entschieden  durch 
das  femin.     q  ^        dmexi^   welches   sich   auf  sie   bezieht   und  den 

im  Demotischen  vorkommenden  Namen  Sa^epri^)  im  griechischen 
Antigraphon  2a)^TCYjpi<;,  welcher  ausschliesslich  Frauen  zukommt  und 
unserem    Säxepr    vollkommen    entspricht.      Da    nun    Qatbastru    stets 

^^  d.  i.  Sohn  seiner  Eltern  genannt  wird,  sollte  man  denken,  dass 

die  Frage  nach  seinem  oder  ihrem  Geschlecht  entschieden  sei.  Dies 
ist  aber  nicht  der  Fall,  denn  erstens  wird  der  Name  Hatbastru  mehr- 
mals  mit  dem   weiblichen    Klassenzeichen    determinirt    und    zweitens 

wird  der  einzige  Titel  des  Verstorbenen   ein  Mal  1       und  zwei 

geschrieben ;  diese  beide  Formen  weisen  aber  auf  eine 


Mal   ^ 


I  Q  W 

Frau.  Bedenkt  man  ferner,  dass  unser  Osiris,  für  den  ein  so  kost- 
barer Sarkophag  hergestellt  worden  ist,  doch  eine  recht  vornehme 
Persönlichkeit  gewesen  sein  muss,  so  hat  es  allerdings  etwas  auf- 
fallendes, dass  wenn  wir  es  mit  einem  Manne  zu  thun  haben,  bei 
der  einunddreissigmaligen  Wiederholung  des  Namens  Hatbastru  auch 
nicht  ein  einziger  anderer  Titel  als  der  eines  königlichen  Anver- 
wandten vorkommt.  Würde  der  Osiris  ein  Weib  gewesen  sein, 
so  verstünde  sich  dieser  Umstand  von  selbst.  Dennoch  halten 
wir     Qatbastru    für     einem     Mann,     denn     der     Verstorbene     wird 


3)  Das  ^  scheint  als  Delerniinativzeichen  zu  der  Gruppe  oder   D 

zu  gehören.      Das  D  ist    vielleicht   der   männliche  Artikel,    welcher  dem   ^ 
(jedenfalls   Artikel)    in   dem   Namen    der   Mutter  Tasäj^epr   entspricht.      Zeitschrift 

^  ^   z=z  Mi   auf  einem  Sarge  im  Berliner  Museum. 

4)  ^V yj^t^^^at—  ^  J^    Brugsch,   Samml.  demol.-griech.  Eigennamen. 


^4]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Hatbastru.  211 

ohne   Ausnahme    ^^    se  d.  i.    Sohn   und   kein    einziges    Mal    ^^ 

sel^  d.  i.  Tochter  genannt.  Gewöhnlich  wird  der  Name  gar  nicht 
determinirt,  aber  wo  dies  geschieht  tritt  eben  so  häufig  das  Klassen- 
zeichen j|  wie  das  weibliche  ^j)  ein.     Um  der  Confusion  die  Krone 

aufzusetzen,  steht  hinter  dem  Namen  unseres  Hatbastru,  der  doch 
keine  androgene  Persönlichkeit  gewesen  sein  kann,  die  Frau  mit  der 
Blume,  welche  sonst  immer  nur  Feminina  determinirt,  aber  diese  Frau 
ist  mit  dem  Barte  versehen,  welcher  nur  Männern  zukommt.  Sucht 
man  bei  den  Eltern  Rath,  so  findet  man,  dass  der  Name  des  Vaters 
hier  mit  dem  gewöhnUchen  Klassenzeichen  für  männliche  Persönlich- 
keiten J|,  dort  mit  dem  wunderlichen  C^,  welches  uns  hinter  Hat- 
bastru begegnet  ist,  determinirt  wird,  während  man  bei  der  Mutter 
ein  yj  also  wiederum  eine  bärtige  Figur,  welche  hier  aber  statt  der 
Blume  das  Zeichen  -r-  auf  dem  Knie  trägt,  findet.  Aus  den  De- 
terminativzeichen, durch  welche  sonst  in  ähnlichen  Fällen  jeder 
Zweifel    beseitigt   wird,    lässt    sich    hier    also    garnichts    entnehmen. 

Auch  das  1       und    J  darf   nicht    mit    Bestimmtheit    für 

€  cit  I  t  I  O  \\ 

einen  Frauentitel  angesehen  werden,  denn  die  Sorglosigkeit  unseres 
Schreibers  ist  gross,  und  wir  haben  J^^^  auch  anderwärts  bei 
Männern  gefunden.  So  heisst  es  auf  einer  Apisslele  im  Louvre, 
welche  nur  um  weniges  früher  als  unser  Sarkophag  hergestellt  worden 

zu  sein  scheint.  ^x^>e=^  .  .  .  ]  *^^(]  ^O^  Sein  Sohn  .  .  .  der  kgl. 
Anverwandte  äab.  Auf  einer  Inschrift  aus  der  IV.  Dyn.^)  wird  ein 
i^^^l  wk.  suten  re^^t    ämöen  erwähnt,    und  dieser   ämöen  ist 

jedenfalls  ein  Mann  gewesen.  Von  der  anderen  Seite  werden 
Frauen  ziemlich  oft   1    ^  ©   suten  re/  (ohne  ^)  genannt.    Schon  im 

alten  Reiche  heisst  eine   f»^  Nubhetp       "^1   ^i     U^n^^-f  suten 

re^^  sein  Weib,   der   königl.    Anverwandte  etc. ^)     Gelegentlich   wird 


5)  Lepsius,   Denkm.   II,   3.    Grab  und  Statue  im  Berl.    Museum. 

6)  Lepsius.  Deokm.  II,    14. 


212  Georg  Erers,  [12 

dem    Manne    und    dem    Weibe    in    ganz    gleicher    Weise   der    Tilel 
suten  rei  beigesellt.') 


] 


0 

So  kommt  denn  auch  durch  diesen  scheinbar  weiblichen  Titel 
unsere  Frage  nicht  zur  Entscheidung.  Die  pronominalen  Suffixe, 
welche  in  derartigen  Fragen  manchmal  den  Ausschlag  geben,  lehren 
hier  nichts,  weil  verstorbene  Männer  und  Frauen  in  gleicher  Weise 
üsiris  wurden  und  Hatbastru  wie  jeder  verklärte  Aegypter  darum 
auch  Osiris  genannt  wird;  Osiris  aber  ist  männlichen  Geschlechtes, 
und  wo  man  ihn  anredet  oder  wo  von  ihm  gesprochen  wird  bedient 
man  sich  des  Pronomens  in  der  2.  oder  3.  Pers.  Mascul. 

Da  der  Name  Hatbastru  sonst  nirgends  vorkommt,^)  so  bleibt 
uns   nichts   übrig   als    uns   an   das  ^^  se  lilius  zu  halten,  welches 


doch  kaum  so  consequent  gebraucht  worden  sein  würde,  wenn 
Qatbastru  die  Tochter  und  nicht  der  Sohn  seiner  Eltern  gewesen 
wäre  und  uns  auf  einen  äusserlichen  Umstand  zu  stützen,  welcher 
die  ganze  Frage  zu  entscheiden  scheint.  Unser  Sarg  stellt  eine 
bärtige  und  darum  männhche  Person  dar,  denn  Frauensärge  mit 
einem  Barte  sind  weder  mir,  noch  Dr.  Stern,  noch  anderen  CoUegen, 
bei  denen  ich  Nachfrage  hielt,  begegnet. 

Leider  fehlt,  wie  wir  wissen,  jede  Nachricht  über  den  Fundort 
unseres  Denkmals;  indessen  scheint  Hatbastru  in  Unteraegypten,  und 
zwar   in  Memphis   gelebt   zu   haben.      Darauf  deutet   schon    das    in 

seinem   Namen    vorkommende   unteraegyptische    n^  Bast,    und   dies 

wird  zur  Gewissheit  durch  den  Anfang  der  Mittelzeile  auf  dem  Deckel, 

wo  es  heisst  lA^  /^^v^^A  jl'^'1 1  ^^cz^'O  i^  Eine  königliche  Opfer- 
gabe dem  Osiris,  dem  grossen  Gotte,  dem  Herren  der  weissen  Mauer. 
Da  diese  »weisse  Mauer«  (änbu  het't)  zu  Memphis  gehörte  und  keiner 
anderen  Gottheit  als  dem  Osiris  dieser  Lokalität  im  Namen  des  hat- 
bastru ein  Opfer  votirt  wird,  muss  unser  Verstorbener  in  der  alten 
Menesstadt  gelebt  haben,  oder  doch  wenigstens  in  derselben  zu 
Grabe  gegangen  sein. 


7)   Lepsius,   Denkm.   II,   59. 

8]   Weder  in    Liebleins    nützlichem   Namenswörterbuche ,     noch    in    meinen 
eigenen  Collectaneen. 


^^]  Dek  geschnitzte  Holzsarg  des  Hatbastru.  213 


Die  Zeit  der  Herstellung  des  Sarges. 

Seyffarth,  der  erste  Aegyptolog,  welcher  unser  Denkmal  (1842)  zu 
sehen  bekam,  glaubte  auf  demselben  einen  Königsnamen  und  eine  ge- 
naue Constellation,  welche  eine  Bestimmung  der  Sterbezeit  des  Qatbastru 
auf  astronomischem  Wege  zuliess,  entdeckt  zu  haben,  aber  leider  findet 
sich  auf  dem  Sarkophag  weder  der  eine,  noch  die  andere.  Die 
EntzifTerungsversuche  des  gelehrten  und  in  gutem  Glauben  an  die 
Richtigkeit  seiner  Methode  arbeitenden  Gelehrten  werden  den  jüngeren 
Fachgenossen,  welche  dem  Entwickelungsgange  unserer  Wissenschaft 
nicht  gefolgt  sind,  komisch  und  im  höchsten  Grade  verkehrt  vor- 
kommen, ja  sie  werden  den  Seyffarth'schen  Übersetzungen  gar  nicht 
mehr  zu  folgen  im  Stande  sein  und  sie  als  Ungeheuerlichkeiten  be- 
trachten, mit  denen  man  nicht  mehr  zu  rechnen  hat.  Wollten  sie 
sich  indessen  die  Mühe  geben,  Seyffarths  System  kennen  zu  lernen, 
so  würden  sie  wahrnehmen,  dass  der  genannte  Gelehrte  es  bei  all 
seinen  Übersetzungsversuchen  ganz  consequent  angewendet  hat,  und 
sie  würden  sich  dann  mit  uns  voller  Erstaunen  fragen,  wie  es  ge- 
lingen konnte  mit  Hülfe  einer  ganz  verkehrten  Entzifferungsmethode 
Versionen  zu  liefern,  welche  nur  in  vereinzelten  Worten  dem 
wahren  Inhalt  des  Grundtextes  entsprechen,  und  dennoch  nicht  ganz 
und  gar  unsinnig  klingen.  Champollion  hatte  diejenigen  Hieroglyphen, 
welche  wir  längst  als  Silbenzeichen  kennen,  als  alphabetische  Buch- 
staben betrachtet,  zu  denen  ein  zweiter  und  manchmal  auch  ein 
dritter  Laut  zu  ergänzen  sei,  Lepsius  war  es,  welcher  das  Wort 
Silbenzeichen  zuerst  aussprach,  Seyffarth  aber  stellte  die  Silbenzeichen 
an  die  Spitze  seines  Systems.  Dabei  ging  er  viel  zu  weit,  und  als 
er  sah,  dass  die  ChampoUion'sche  Schule  die  Silbenzeichen,  welche 
er  als  seine  Entdeckung  in  Anspruch  nahm,  benutzte  ohne  ihn  zu 
nennen,  wurde  er  gereizt  und  fuhr  sich,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt 
ist,  in  die  Silbenzeichen  fest.  Zeichen  in  Menge,  denen  ein  ganz 
anderer  Werth  zukommt,  wurden  von  ihm  als  solche  betrachtet  und 
erklärt.  So  gelangte  er  zu  höchst  verkehrten  Lesungen,  und  die  be- 
fremdlichen Wörter,  welche  bei  diesem  Verfahren  herauskamen,  er- 
klärte er  dann  mit  beispielloser  Kühnheit  aus  dem  Koptischen  oder 
den   semitischen   Sprachen.     Im  Ganzen    lässt  sich  sagen,   dass  wol 


214  Georg  Ebers,  [44 

selten  ein  ernster  und  fleissiger  Gelehrter  an  eine  von  vorn  herein 
verlorene  und  verkehrte  Sache  so  grossen  Eifer  und  so  erstaunlichen 
Scharfsinn  vergeudet  hat  wie  Seyffarth. 

Den  Namen  unseres  Batbastru  liest  er  Hetnitocri,  das  U| 

änbu  het'-t,  welches  wir  kennen,  umschreibt  er  Tp  thch.     Er  erklärt 

es  aus  dem  koptischen  T^ne  ocüjy  Thebe  provincia,  nomus  und  halt 
also  diese  Gruppe,  welche  sicher  einen  Theil  von  Memphis  bezeichnet, 
für  den  Namen  des  hundertthorigen  Theben.  In  der  Mittelzeile  auf 
dem  Deckel  steht  die  häufig  und  mit  vielen  Varianten  wiederkehrende 

Phrase   jö  a/vwvn  M  ^^z:^  ilj,         ^ci:^  ^  ^  -^^ii^  ig=i  "^^  1  ^^^n:?^^         Liba- 

tion  Deinem  Genius,  Odem  Deiner  Nase,  Räucherung  Deinen  Gliedern 
von  allem  Herrlichen  aus  dem  Himmel   (was  der  Himmel  erzeugt)  etc. 

^  bedeutet  hier  also  das  Ausgezeichnete,  Herrliche   und  weiter 

nichts;  SeyfiFarth  aber  will  in  dieser  einfachen  Gruppe,  obgleich  sie 
keineswegs  mit  der  Cartouche,  welche  alle  Königsnamen  auszeichnet, 
umgeben  ist,  den  Namen  des  »zweiten  Königs  der  XIX.  Dyn.«  er- 
kennen, welchen  er  Rpc  —  Raphakes  liest.  Mit  diesen  Proben  der 
SeyQarth^schen  Entzifferungskunst  mag  es  genug  sein.  Es  gibt  nichts 
aus  ihr  zu  lernen,  aber  man  sollte  sie  auch  nicht  hervorsuchen,  um 
über  sie  zu  lachen,  denn  sie  ist  das  Resultat  eines  zwar  verkehrten 
aber  doch  ernsten  und  ehrlichen  Strebens. 

Es  steht  trotz  Seyffarth  kein  Königsname  auf  dem  Sarkophag, 
und  so  müssen  wir  denn  nach  anderen  Hülfsmitteln  suchen,  um  der 
Zeit  seiner  Entstehung  annäherungsweise  auf  den  Grund  zu  kommen. 
Nun  gibt  es  kein  funeräres  Monument,  auf  dem  Figuren  und  Texte 
in  erhabener  Arbeit  aus  dem  Holz  geschnitten  sind  ausser  unserem 
Sarg  und  den  berühmten  Brettern  in  den  Museen  von  Bulaq  und 
Turin.  Die  ersteren  stammen  aus  der  Pyramidenzeit,  und  da  nun  auch 
eine  Anzahl  von  archaischen  und  grammatischen  Formen  in  den  Texten 
auf  unserem  Sarge  vorkommt,  so  könnte  man  daran  denken,  seine 
Herstellung  in  die  erste  Hälfte  des  alten  Reiches  zu  verlegen,  zumal 
wir  jetzt  wissen,  dass  schon  in  weit  früheren  Tagen  als  man  bis 
vor  Kurzem  gedacht  hat,  der  Verstorbene  ein  Osiris  genannt  worden 
ist.  Dagegen  erhebt  jedoch  das  ^^  maäj^er  (mit  vielen  Varianten) 
Einspruch,  denn  dieses  tritt  zwar  in  späterer  Zeit  regelmässig  hinter 


4S]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  ^atbastru.  215 

den  Namen  der  DahiDgegangenen ,  kommt  aber  unseres  Wissens  nie 
und  nirgends  vor  der  elften  Dynastie  vor.  Dies  ^^  begleitet  nun 
den  Namen  des  0a(bastru  wenn  auch  nicht  immer,  so  doch  unter 
dreissig  Fällen  zehn  Mal,  und  aus  diesem  Umstände  gewinnen  wir 
einen  Terminus  a  quo,  welcher  uns  mit  Bestimmtheit  zu  behaupten 
gestattet,  dass  unser  Sarkophag  frühestens  aus  der  Zeit  der  XI.  Dy- 
nastie stammt.  Fassen  wir  sodann  die  Göttergestalten  ins  Auge, 
welche  auf  dem  Deckel  des  Sarges  angebracht  sind  und  von  denen 
wir  später  zu  reden  haben,  so  finden  wir,  dass  sie  zwar  schon  in  den 
ältesten  Texten  des  Todtenbuches  erwähnt  werden,  aber  in  dieser  Zahl 
und  Form  nicht  früher  als  auf  den  Holzsärgen  der  XIX.  Dyn.  vorkommen,^) 
und  so  darf  denn  der  Kreis  enger  gezogen  und  festgestellt  werden, 
dass  unser  Sarg  frühestens  unter  der  erwähnten  Herrscherreihe  ver- 
fertigt worden  sein  kann.  Doch  in  dieser  Epoche  und  in  den  ihr  fol- 
genden Jahrzehnten  liebte  man  es  noch  nicht  auf  archaische  Formen 
zurückzugehen;  solche  kamen  vielmehr  erst  später,  und  zwar  unter 
den  Fürsten  der  26.  Dynastie  in  Aufnahme.  Man  ging  in  dieser 
Zeit  auch  gern  auf  die  Kunstformen  des  alten  Reiches  zurück 
und  befleissigte  sich  in  der  Sculptur  derselben  liebevollen  auch  ins 
kleine  gehenden  Sorgfalt,  welche  uns  an  unserem  Denkmal  erfreut. 
Die  Hieroglyphenschrift  gewann  damals,  wo  ein  Zug  »von  gesuchter 
Classicität  und  eines  eleganten  Purismus«  ^^)  durch  die  ganze  aegyp- 
tische  Kunst  ging  und  der  Luxus,  welcher  in  alle  Gebiete  des  Lebens 
eingedrungen  war,  sich  auch  auf  die  Todtenbestattung  erstreckte, 
jenen  ansprechenden  und  ohne  Kleinlichkeit  zierlichen  Stil,  welcher 
Lepsius  veranlasste  die  schriHbildenden  Zeichen  dieser  Zeit  den 
mustergültigen  Hieroglyphen  typen  zu  Grunde  zu  legen,  welche  für 
die  Berliner  Academie  durch  ihn  hergestellt  und  von  den  Aegypto- 
logen  aller  Länder  in  Gebrauch  genommen  worden  sind.  Fassen 
wir  nun  die  Bilderschrift,  welche  den  Sarkophag  bedeckt,  ins  Auge, 
so  finden  wir,  dass  die  Form  der  einzelnen  Zeichen  und  der  Stil 
der  gesammten  Texte  sich  nicht  weit  von  der  Eigenart  der  Schrift 
auf  den  Monumenten  aus  der  XXVI.  Dynastie  entfernt.    Bei  der  Be- 


9)    V.  Bergmann.    Der  Sarkophag  des  Panehem  Isis.  S.  8.    Vgl.   dazu  Lepsius 
Denkin.   III,   279,  e.     Sharpe,   Inscr.  II,    47. 

\  O)   Lepsius,   älteste  Texte  des  Todtenbuches  S.    H . 


216  Georg  Ebers,  [16 

trachtung  der  Lichtgeister  werden  wir  finden,  dass  diese  auf  einem 
Sarkophag*^)  aus  der  genannten  Herrscherreihe  ähnlich  benannt  und 
aufgezählt  werden  wie  auf  unserem  Sarge.  Keine  Liste  der  yu' 
kommt  der  unseren  so  gleich  wie  die  auf  diesem  Schrein  des  Psam- 
öek  neb  pehti  (26.  Dyn.). 

So  lässt  sich  denn  vermuthen,  dass  unser  Monument  wenn  auch 
nicht  in  dieser  Epoche,  so  doch  in  einer  derselben  benachbarten 
entstanden  ist.  Prüfen  wir  nun  den  Werlh  der  einzelnen  schrift- 
bildenden Zeichen,  so  kommen  wir  zu  der  Überzeugung,  dass  unser  Sarg 
noch  jünger  ist  als  die  26.  Dynastie  und  dass  wir  ihn  frühestens  in 
den  Anfang  der  Ptolemäerherrschaft  setzen  müssen.  In  dieser  Zeit 
war  der  Schriftstil  der  Saitischen  Epoche  noch  nicht  vergessen,  und 
wo  wir  in  derselben  nicht  der  eigenartigen,  schnörkelhaften  und 
aenigmatischen  Schreibweise  begegnen,  finden  wir  Texte,  welche 
viele  Besonderheiten  der  26.  Dynastie  theilen.  Dies  gilt  auch  von 
dem  unseren,  und  doch  ist  derselbe  nicht  frei  von  jenen  Wunder- 
lichkeiten, die  erst  unter  den  macedonischen  Herrschern  in  die  Hie- 
roglyphenschrift eingedrungen  sind.    Wenn  wir  den  Artikel  beim  Vo- 

cativ  statt  ^^  —  a,^^)  wenn  wir  \\         w  ")  statt  mit  dem  Auge  mit 

der  Pupillle  o  i ,  wenn  wir  ^  J    ^    aufgehen  statt  mit  ^  mit  ^^ ,  die 

ganze  Gruppe    also    ^^  J    ^   ^^)  schreiben   sehen    und    statt   ^-^  a 

—  K^  statt  ^^z^'  —  <=>^^)  (THpov)  hinter  dem  Nomen  finden, 
so  sind  wir  zu  behaupten  berechtigt,  dass  wir  es  mit  einem  Denk- 
mal aus  der  Lagidenzeit  zu  thun  haben.    ^^  kommt  mit  dem  Werthe 

u  gewiss  nicht  vor  den  Ptolemäern  vor.  '^)  Unter  einem  der  ersten 
dieser  Könige  wird  unser  Sarkophag  doch  wol  verfertigt  worden  sein, 


\\)   Lepsius,   Denkm.   III,   279. 

4  2)   Seitenstück  G,  rechts  Z.   4. 

43)  Vorderstück  B,  links,  Abschn.   2,   Z.   9. 

\i)   Schulterstück  E,   rechts  Z.   2. 

15)  Seitenstück  G,   rechts  Z.   3. 

16)  In   Edfu    und    Dendera   vertritt    ^^  die    Buchstaben    «,  s  und  r.     Dü- 


michen,   Zeitschr.  1879,  S.  126,  A.    Osiris  (ünnefr)  wird  hierund  sonst  ^^ 
'j^H   geschrieben,  d.  i.  u  -f-  «  -|-  r,  also  usr  oder  usir. 


^7]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  IQatbastru.  217 

derjenigen  der  26.  Dynastie  in  der  Thal  sehr  nahe,  und  fehlt  auf 
ihm  noch  jene  Selbstapologie,  die  sich  an  die  ersten  Zeilen  des 
127.  Kap.  des  Todtenbuches  schliesst  und  der  man  auf  den  schönsten 
Sürgen  aus  der  Lagidenzeit  begegnet.  ^^)  Mit  dieser  schwer  anfecht- 
baren Bestimmung  lassen  sich  auch  die  Namen  des  0a{,bastru  und 
seiner  Eltern  wohl  vereinigen.  Die  der  letzteren  scheinen,  wie  ge- 
sagt, analog  denen  des  Pasemtek'^)  und  der  Tasemtek  mit  dem  Ar- 
tikel gebildet  zu  sein.  Qatbastru  ist  zwar  ein  Hapaxlegomenon, 
doch  spricht  schon  die  Form  dieses  Namens  für  sein  geringes  Alter. 
Wie  weit  er  von  den  einfachen  Namen  des  alten  Reiches  abweicht, 
braucht  kaum  hervorgehoben  zu  werden.    Es  ist  auch  bekannt,  dass 

die  Gruppe    W^    oder    n^    hast,    (Stadt    oder     eponyme    Göttin), 

welche  in  ihm  vorkommt,  erst  seit  der  XXII.  Dynastie  häufiger  bei 
der  Bildung  von  Eigennamen  verwandt  wird.  Zwar  kennen  wir 
eine  Familie  aus  dem  alten  Reiche  ^^)  welche  der  Göttin  Bast  als 
Priester  gedient  zu   haben  scheint,   und    unter   der  einige  iMitglieder 

W^  5^  ^  ^  ^^^^  U^  »k  ^  ^^^'  '^^'^s®^'  zwar  kommt  auf 
einer  wiener  Stele  aus  etwas  späterer  Zeit  eine  W  ^^  vor,  zwar 
hat  es  am  Ende  des  alten  Reiches  den  Namen  ^^_-^'=^\('^  ^ 
und  ^^  n  ^0  g^S^^®"^»  "^  Anfang  des  neuen  Reiches  kommt  aber 
ein  mit  n^  n^  oder  W*^  Bast  zusammengesetzter  Name  höchst 
selten  vor.  Aus  dem  Ende  der  18.  Dynastie  kennen  wir  nur  eine 
Familie, ")  in  der  die  Frauen  als  -»i^  «  ^  qemät  n  Bast  oder  Sän- 
gerinnen der  Bast  (auch  des  Amon)  thätig  waren,  und  unter  der 
ein  männliches    Mitglied   ^^W^  hiess.     Bis  zum  Regierungsantritt 

der  XXII.  Dynastie  kommen  dann  mit  Bast  zusammengesetzte  Namen 
nur  ganz  vereinzelt  vor,  von  da  an  bis  zum  Ende  der  XXVI.  Dynastie 


17]  Sai^  des  Panehemisis   (Wien)  des  Unnefer  und  Hör  em  heb  (Bulaq). 

4  8)  Kanopen  im    Dresdener  Museum.     Zeitschr.  für  aegypt.  Spr.  und  Alter- 

thumsk.  1881. 

19)  Berliner  Stele  i\.     Bei  Lieblein  diot.  des  noms  hierogl.   N.    Hl. 

tO)  Sharpe.   Inscr.   VI.  ser.   61. 

24)  Louvre.   T.    4  54. 

t%)  London.  Tablet  4  54.  Liebiein.  D.  d.  n.   h.   858. 

Abhandl.  d.  K.  S.  OesellBch.  d.  Wissenseh.  XII.  16 


"^^'i   liiil 


218  (Ikorg  Khkhs,  'I^ 

werden  sie  ungemein  hüufig,  und  sie  freien  auch  in  der  Perser-  und 
Ptolemüerzeit  in  zahlreichen  Beispielen  auf.    Wir  erwUhnen  aus  dieser 

Epoche  eine  ^Q.^^   oder   ^'^Qv  ^^/^  Derjenige  mit  Basl 

zusammengesetzte    Name,    welcher    auch    unter    den    PtolemUern    am 

beliebtesten    war,   ist       °    ^  "^ ,'')     Auch  ts^^ 

verschiedenen  Varianten'^')    ist   nicht    seilen.     Im  Louvre    linden  sich 

die  Namen  <=>W'^     und    W'^^r^'')-      '^^»'  ^'^^    g(»hört  in  die 

XXII.  der  andere  in  die  XWI.  Djnaslie.  In  diese  und  splUero 
Zeiten  weisen  noch  die  foigenllen  Namen,  zu  denen  sich  noch  manche 
Ergiinzung  finden  Hesse : 

fonz  T"ti:.  ^:sp,  \z:^:.  \m- 


^Zffi'  %m'^Z'  '■\M2-  ra^^Q. 

Der  schon  oben  erwUhnte  Name  der  Mutter  des  Halbaslru  ist 
uns  nur  im  Demotischen  begegnet.  Er  heisst  dort  Säye|)ri  und  sein 
griechisches  Antigra|)hon  lautet  ilayTrr^pi;.  Auch  dieser  Umstand 
zwingt  uns  die  Entstehung  des  Sarges  in  verhältnissmässig  spHte  Zeit 
zu  verlegen.  Unsere  Ansicht  geht  also  dahin,  dass  derselbe  am  Anfang 
der  Ptolem^ierzeit,   und  zwar  zu  iMemphis,  hergestellt  worden  ist. 


Die  Göttergestalten. 

Die  zum  Schutze  des  Verstorbenen  auf  dem  Sarg  angebrachten 
Göttergestalten  sind  nicht  eben  zahlreich.  An  anderen  Sarkophagen 
und  besonders  an  denen  aus  spüterer  Zeit  kommen  sie  in  sehr  viel 
grösserer  Menge  vor.     Merkwürdig    ist  das  Fehlen  der  vier  preisen- 

den  Affen,  Jj  ääni'  äft,  welche    im  Todtenbuche   so- 

wohl    auf   der   Vignette    als   im    Text   des    12G.    Kapitels,   das   auch 


23)  Krall,   Studien   zur  (icsch.   <1.  a.  Aogypton.      W'ien   <88.i.   S.   50. 

24)  Bulaq  Siele   ti3. 

25)  Liverpool.    Sarg.    Liebl.   I.   I.    1069.       Münchencr  Antiquariiini    Stele  30. 
(III,    1,    4.)    Liebl.    I.    1.    t050. 

26'    Auf   \    Apisslelo  und   Stein  274. 


^d]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastri}.  219 

auf  unserem  Sarge  angebracht  ist,  vorkommen.  Es  fehlen  hier 
ferner  (sie  sind  überhaupt  auf  Holzsargen  selten)  die  Nachtstunden, 
welche  so  häufig  in  die  Steinsarkophage  gemeisselt  wurden  und  die 
(man  denke  an  die  ami-tuat  Texte)  nicht  von  endlicher  Dauer 
waren  und  als  Schauplätze  dessen,  was  in  ihnen  vorging,  angesehen 
worden  sind.  Die  Sarkophage  vertraten  den  Westberg  und  die 
Unterwelt,  und  wenn  wir  das  was  in  ihr  war  und  vorging,  nament> 
lieh  auf  SteinsUrgen  häufig  abgebildet  finden,  so  erklärt  sich  das 
leicht,  weil  der  selig  gesprochene  Verstorbene  nicht  nur  eingeht  in 
die  Herrlichkeit  des  Rä  (der  Sonne),  welcher  als  werkthäliger  Schöpfer 

aller  Dinge  aufgefasst  wird  (von  rä  thun),  sondern  weil  er  auch 

all  seine  Attribute  empf^ingt  und  vollständig  mit  ihm  assimilirt  wird. 
Als  Rä  hat  nun  der  Dahingegangene,  wie  die  Sonne  nach  ihrem 
Tageslaufe,  die  Unterwelt  zu  durchwandern,  um  am  anderen  iMorgen 
am  östlichen  Horizonte  als  neues  die  Erde  erleuchtendes  und  seg- 
nendes Tagesgestirn  wieder  aufzugehen.  In  die  12  Stunden  der 
Nacht  fällt  der  Lauf  der  Sonnenbarke  durch  die  Todtcnregion;  darum 
werden  diese  als  Frauengeslalten  mit  dem  funfstrahligen  Stern  ic  auf- 
dem  Haupte  (manchmal  auch  in  Begleitung  der  Stunden  des  Tages) 
besonders  gern  auf  den  Steinsarkophagen  dargestellt.  Sie  fehlen  nie  in 
dem  »Buche  von  dem  was  in  der  Unterwelt  ist«,  aber  dies  findet  sich, 
wie  schon  angedeutet  wurde,  gewöhnlich  nur  auf  Steinsarkophagen  mit 
viereckigem  Durchschnitt,  weil  es  mehr  Platz  erfordert  als  ein  Schrein 
in  Gestalt  der  menschlichen  Mumie  hergibt.  Unser  Verstorbener  ist 
aber  nicht  nur  Rä,  sondern,  und  zwar  in  erster  Reihe,  Osiris,  mit 
dessen  Namen  er  auch  benannt  wird.  »Damit  ist«  —  wir  bedienen 
uns  der  knappen  und  durchaus  zutreffenden  Erklärung  v.  Berg- 
manns —  »damit  ist  die  nächtliche,  abgestorbene  und  in  Todes- 
starrheit befangene  Sonne  gemeint,  die  aber,  mit  unzerstörbarer  vi- 
taler Potenz  begabt,  aus  dem  Todtenschlafe  erwachend,  am  Morgen 
zu  neuem  Leben  am  östlichen  Horizonte  emporsteigt.«  Im  letzten 
Stadium  der  Apotheose  wird  aus  dem  Osiris  Rä. 

Auf  dem  Sarg  unseres  IJatbastru  gibt  es  keine  eigentlichen 
astronomischen  Darstellungen  zu  sehen,  wenn  auch  der  Göttercyklus, 
welcher  uns  auf  seinem  Deckel  begegnet,  wenigstens  ursprunglich 
einen  siderischen  Charakter  gehabt  zu  haben  scheint. 


220  Georg  Ebers,  [SO 

An  beiden  Seiten  des  MiKelslrcifens  auf  dem  oberen  Theile  des 
Sarkophags,  und  zwar  unmitlelbar  unter  der  die  FlUgel  ausstrecken- 
den Nut  stehen  einander  zwei  Mal  paarweise  und  einmal  einzeln 
GöttergestaUen  gegenüber.  Diese  bilden  zusammen  einen  Kreis  von 
10  Gottheiten,  welcher  beinahe  el^enso  in  der  XXVI.  Dynastie  und 
niemals  früher  als  auf  den  Holzsürgen  der  XIX.  Dynastie  vorkommt, 
aber    immer    nur    als    eine    Erweiterung    des    Cyklus    der   7    oder 

8    yu     '^^     M       (       ]    zu  betrachten    ist,   welcher   schon  im  al- 

testen  Kapitel  des  Todtenbuches,  dem  17.,  und  zwar  in  der  38.  Zeile 
erwähnt  wird.  Auf  dem  Sarge  des  Sebekaä  —  er  stammt  aus  dem 
alten  Reiche  —  heisst  es   von   ihnen  (im  Innern    des  Deckels)  also: 

U  I  »Ich    auch    kenne   den   Namen    der   7  Lichtgeister, 

welche  sich  beßnden  im  Dienste  des  Herrn  der  Nomen  (Osiris) ;  durch 
Anubis  sind  ihnen  ihre  Sitze  bereitet  worden«.  Diese  Stelle  (und 
noch  deutlicher  der  unten  zu  citirende  Satz  im  Pap.  des  Suti  Qenna 
Taf.  X,  119)  liefert  die  Erklärung,  warum  auf  unserem  Sarkophag 
dem  aus  7  zu  10  erweiterten  Kreise  der  j^u  oder  Lichtgeister  zwei 
verschiedene    Formen    des   Anubis    folgen.     Die    ganze    Götterschaar 

kommt  zum  Abschluss  mit  zwei  GöttergestaUen  ^  Neith^)   und 

n  Jj  Selq.  An  Stelle  dieser  beiden  könnte  man  wohl  das  Göt- 
tinnenpaar Ne^^eb  (Neqeb)  und  Uat',  die  Süd-  und  Nordgöttin,  er- 
warten, und  Neith  und  Selq  scheinen  hier  in  der  Thai  für  diese 
einzutreten. 


© 


27)   Lepsius,    älteste   Texte    des   Todtenbuches.      Taf.    3S.  Z.    45.     In    dem 

schönen  Theb.  Papyrus  des  (j^     v— fl  "^  ^    Suti  Qenna,   welcher  zu  Ley- 

den  conscrvirt  wird,  ist  immer  nur  von  6  Lichtgeistern  die  Rede ;  bei  der  Auf- 
zählung derselben  (siehe  die  Liste)  Taf.  X,  H  6  und  4  4  7  der  Leemans' sehen  Pub- 
lication,  werden  aber  dennoch  deren  7  bei  Namen  genannt. 


28)  Das  ycD^  ist  nur  0  geschrieben,  und  so  könnte  man  es  wol  auch  ^c=3 
lesen;  aber  der  Winkel  vorn  ist  kein  spitzer,  sondern  ein  rechter,  und  Neith 
und  Selq  gehören  zusammen ;  mit  besonderer  Regelmässigkeit  auf  den  Kanopen- 
inscliriften.  In  dem  begleitenden  Texte  wird  die  gemeinte  Schutzgöttin  »Mutter« 
genannt,   was  sich  auf  Neith  und  nicht  auf  Maä  beziehen  muss. 


^^]  Der  geschnitzte  Holzsam  des  Qatbastru.  221 

Der  zu  10  erweiterte  Kreis  der  7  -/a  oder  Lichtgeister  kommt,  wie 
bereits  angedeutet  worden  ist,  nicht  vor  der  XIX.  Dynastie  vor. 
Merkwürdig  ist  es,  dass  auf  späteren  Särgen  aus  der  Ptolemäerzeit 
der  Cykhis  wieder  zusammenschrumpfl  und  nur  noch  8  Götter  enthält. 
Wir  denken,  dass  es  Manchem  angenehm  und  nützhch  sein  wird  hier 
neben  der  Lichtgeisterreih'e  auf  unserem  Sarkophag  andere  Listen 
derselben  Verehrungswesen  zur  Vergleichung  vereinigt  zu  tinden. 
(S.  S.  222  und  223.) 

Diese  Listen  zeigen  verschiedene  Divergenzen;  nur  die  Namen 
der  vier  Todtengenien  bleiben  einander  auf  allen  gleich,  v.  Berg- 
mann^) hat  die  ursprünglich  siderische  Natur  der  yja  nachgewiesen, 
und  wir  erwähnten  schon  oben,  dass  sie  bereits  in  den  ältesten 
Texten  des  Todtenbuches^)  als  im  Dienste  des  Herren  der  Nomen, 
d.  i.  des  Osiris,  stehende  Lichtgeister  bezeichnet  werden.  Auch  in 
den  Inschriften  unseres  Sarkophages  sind  sie  die  hulfreichen  Geleits- 
männer, Diener  und  Kämpfer  für  den  Osiris  d.  i.  den  Verstorbenen. 
Bei  allen  Stadien  seiner  Erneuerung  und  Verklärung  stehen  sie  ihm 
thatkräftig  bei,  und  zwar  auf  Befehl  des  Rä,  ^')  bis  die  Apotheose 
des  Dahingegangenen  erfolgt  und  er  selbst  Rä  geworden  ist.  Ähn- 
liche Dienste  und  Hülfleistungen  wie  die  Lichtgeister  haben  auch 
Neilh  und  Selq  dem  Verstorbenen  zu  verrichten,  wenn  auch  nur  mittel- 
bar, da  sie  gewöhnlich  als  Beschützerinnen  der  den  Dahingegangenen 
schirmenden  Kanopengötter  genannt  werden. 

Zwischen  den  10  -/u  und  dem  genannten  Göttinnen-Paare  sieht 
man  links  und  rechts  von  der  Mittelzeile  je  eine  Gestalt  mit  dem 
Schakalkopfe.      Beide   tragen   das   Scepter  j  in  der   linken  und  das 

-¥-   in  der  rechten  Hand.     Sie    folgen   den    Lichtgeistern   unmittelbar 
und  bringen   wie  die  sie    begleitenden  Inschriften   lehren,   den  Gott 

Anubis  zur  Anschauung.      Die  Figur  rechts   wird    (I  Ml  änep 

(Anubis)  in  der  Kapelle,  die  Figur  links    ü    p,   ®  ^"^P  (Anubis) 

oben  auf  seinem  Berge  genannt. 


29)  V.  Bergmann.     Der  Sarkophag  der  Panehemisis  S.   8. 

30)  Lepsius,   älteste  Texte  d.  T.  Taf.   32.  Z.    4  5. 


0tq 

^vwvNA^       I    Ich  komme  vom  Himmel  auf  Befehl  des  Rä  etc. 
I    I 


222 


Georg  Ebers, 


[22 


Licht 


I.  Sarkophag  des  Hat- 
bastru. 

{\0  Lichlgeisler.) 


II.  Todlenb.  XVII,  38. 


(7.  Lichtgeisler.) 


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8.  ~«~« 


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III.  Leydener  theban.  Pap.  des 
Suli  Qenna  aus  derXYIlI.  Dvn. 


r^si  -jy=i3,ii 


£JW^03 


10. 


var. 


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O     O 


32)   Auf   dem    grossen  Sarkophag  im  museo  civico    zu    Bologna  ein  mal  auch 


e:Jl 


Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Hatbastru. 


223 


geister. 


IV.  Todtcnb.  XCIX,  \S 


8  Lirhliieisler.] 


■u  1  k  i 


^     ^\ 


V.  Deckel  des  Sarges        VI.  Sarg  dos  Paneliein- 
des  Fcldhauplmannes    i  isis  zu  Wien. 


Psamtek  neb  pelili  aus 
der  XX Vf.  Dvn. 


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(8  Lichtgcisler.' 
Ptoleinäerzeit. 


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33)  Ebenso  Dümichen.     Tenipelinschriflen  I,    15 


224  Georg  Ebers,  [^^ 

Man  musste  von  vorn  herein  einen  Gott,  welcher  mit  der  Bal- 
samirung,  der  Todtenbestattung  und  der  Unierwelt  so  eng  zusammen- 
hangt wie  Anubis  auf  unserem  Sarkophag  zu  finden  erwarten.  Er 
ist  ja  auch  der  Psychopompos  der  Aegypter.  Unter  die  -jfu  darf 
man  ihn  nicht  rechnen,  obgleich  der  letzte  Name  in  der  alten  Liste 

Todtenb.  XVII,  38  ^J^  öor  /ent  an  ma  im  gleichen  Kapitel 
derselben  Schrift  Z.  61  dem  Anubis  gleich  gesetzt  wird.  Es  heisst 
dort  0^^^^rf)°^^(e)^^c^  Anubis  aber  ist  Hör  j^ent  an  ma  d.  h. 
Horus,  welcher  sich  im  Inneren  dessen  befindet,  der  ohne  Sehkraft 
ist.  Der  des  Gesichtes  Beraubte  ist  der  Verstorbene,  und  wenn  von 
diesem  ausgesagt  wird,  dass  sich  Horus  in  ihm  wirksam  erweise, 
so  bedeutet  dies,  dass  die  vitale  Kraft  in  den  Leichnam  zurückgekehrt 
sei.  Jlor  /ent  an  ma,  welcher  dem  Anubis  gleich  sein  soll,  Iftsst 
sich  also  kurz  als  die  den  Leichnam  neu  belebende  Potenz  bezeichnen. 
Anubis   folgt  den    ^^u    wie  der   Hirt   der  Heerde  und  bereitet   ihnen 

die   Sitze    (Todtenb.    17,    34    ^ fl    ^   ^if^rTi'    '""  "^^^^ 

V 

Pap.  des  Suti  Qenna  zu  Leyden  heisst  es  an  der  gleichen  Stelle 
des   XVII.    Cap.    (Loemans'sche    Publikation    Taf.    X,    H9)    von    den 

Lichtgeistern  ^  rTx  .T^.  °:^  ±  17^  ^  k  ^rT.^Ö 
Es  hat  sie  betraut  Anubis  mit  dem  Schutze  des  balsamirten  Leich- 
nams.     Der   Seele    des    Verstorbenen    öffnet   Anubis    die    Wege  als 

H         n)  \/    ^     Anup  äp  uat\  ^*)  nachdem   er  für  ihre  Balsamirung 

Sorge  getragen.  Über  diese  Seite  seiner  göttlichen  Thätigkeit  wird 
in   den   sogenannten    Balsamirungsritualen,    welche    von    Maspero^) 


34]  Todtenb.  18,  S2  u.  a.  v.  a.  0.  Die  Lesart  uat  festgestellt  von  Le  Page 
Renouf.     Proceedings.  Soc.  of.  bibl.  arch.   4  882.  S.  61.     S.  Lepsius  älteste  Texte. 

T.  VI,  9.     Sharpe,   Inscr.  1,  78.   U,  «6.     Die  entscheidende  Variaole  ist  -JH  Ib^ 
S.  dazu  Todtenb.    147,  22.     Ich  bin  gekommen  wie  Rä   -ch>-  ^  ^^  Mw 

vA    (I  ^    Ich    habe    zurückgelegt    den    Weg   gleichwie    ihn    mir    bereitet 

hat  Anubis.     In  den  ämi-tuat  Texten  sitzt  der  äp-uat  auch  als  wegweisender  Pilot 
an  der  Spitze  der  Barke. 

35)  Maspero.  Memoire  sur  quelques  Papyrus  du  Louvre.  Paris  1876.  Le 
rituel  de  Tembaumement.  D*apres  le  Pap.  5158  du  Louvre  et  le  pap.  3  de 
Boulaq. 


^^]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastrc.  225 

herausgegeben  und  behandelt  worden  sind,  nähere  Auskunft  gegeben. 
Jedermann  kennt  die  zahheichen  Vignetten,  welche  Anubis  zeigen, 
wie  er  neben  der  Bahre  seine  Hände  schützend  oder  segnend  gegen 
den  Verstorbenen  niederlässt.  Ist  die  iMumie  »vollendet«,  so  sorgt 
Anubis  Tür  die  Unterkunft  derselben,  denn  es  heisst  Todtenb.  1 52,  2 

AA/VA/NA 

der  Osiris  ...  Er  erbaut  ihm  seine  Wohnung  auf  Erden.  Er  legt  ihren 
Grundstein  in  Heliopolis  und  er  friedet  sie  ein  in  ^erau.  —  Wie 
Anubis  den  Leichnam  balsamirt,  so  sorgt  er  für  die  Wiederherstellung 
und  Kräftigung  des  auferstandenen  Leibes,  und  er  begleitet  den- 
selben schützend  und  helfend  bis  in  die  Halle  des  Gerichtes.  Uorl 
nimmt  er  Theil  an  der  Wägung  des  Herzens  des  Verstorbenen,^) 
indem  er  Hand  an  diejenige  Schale  der  Wage  legt,  auf  welcher  das 
Gewicht,  das  Bild  der  Göttin  der  Wahrheit,  sieht.  In  seinen  Mund 
wird  die  Verkündigung  des  Resultates  der  Wägung  gelegt,  und  wenn 
die  Rechtfertigung  der  Seele  erfolgt  ist,  bleibt  er  ihr  Begleiter  und 
Hüter   bis   zu    ihrer  Apotheose.     Ja  die  Nacht,    in  welcher  die  Ver- 

klärung  erfolgt   heissl  -)    ^  |  T  "V  S.  St  s3  F^  S^l  1^ !  f 

®  jj'^    .  .  .  diese  Nacht,    in    welcher   Anubis  seine   Hände   legt   auf 

die  Dinge,  welche  hinter  dem  Osiris  liegen. 

Diejenigen  Formen,  unter  denen  Anubis  auf  unserem  Sarkophag 
vorkommt,    finden    sich    beide    im    Todtenbuche    wieder,    die    eine 

IV     AAAAAA     ify   ^'^^ 

(I  Ml   Anubis  in  der  göttlichen  Halle  ganz  olfen^)   und  ebenso 

wie  auf  dem  Schrein  des  ^atbastru,  die  andere  im  Turiner  Exemplar 
versteckter,  aber  doch  leicht  kenntlich  und  durch  Varianten  in  an- 
deren Papyrus  sicher  zu  identificiren.  »Anubis  in  der  göttlichen 
Halle«  ist  derjenige,  welcher  sich  im  Saale  des  Gerichtes  bei  der 
Wägung  thätig  erweist.     Dies   geht    mit  Gewissheit    aus  dem  in  der 


36)  Todtenb.  CXXV.   Vign.  d. 

37)  Todtenb.  XVIII,   36. 

33)   Todtenb.    UJ,    t3.    h  ^^  (^  ^'     ^^^^^^  ™'*   unwesent- 

lichen Varianten  Mt,  25.    164,  c. 


8 


'226  (iKüRG  EllERS,  !?6 

Wügungsscene  über  der  Schale  mit  der  (iöltiii  der  Wahrheit  stehen- 
den Texte    hervor,    wo  es    zu   Hüuj)ten  der  Anubis  heisst:^^)    ^^  l^ 

göttlichen  Halle  spricht:  »Das*  Herz  hüll  das  Gleiciigevvicht  durch 
seine  Stellung,  der  Wage  ist  genug  gethan  durch  den  Osiris.  .  .  « 

Neben    diesem    VcMkündiger   des    Ausfalles    der    WUgung    in  der 
öltlichen    Halle    sieht    der    (J         fi\     "       oder     Anubis     oben     auf 
seinem  Berge. 

Diese  Forui  des  Gottes  ist  unendlich  hiiufig,  imd  doch  konmit 
sie  in)  Turiner  Kxemplai'  des  Todtenbuches  nirgends  ausgeschrieben 
vor.     Indessen  ist    auch  diesen  Texten   unser  Golt  \Nohlbekannt  und 

wenn  wir  Todtenb.    115,   79   lesen:    fl  (j    ^   ^'''^ '^'  *    iS    ^  Vw^ 

M|l  c-D    SO  haben  wir  in  diesem  Satze  die  beiden  Anubis- 

formen  unseres  Sarkophags  vor  uns  und  dürf(»n  übersetzen : 
Ich  wandle  im  Hause  des  (Anubis)  der  oben  auf  seinem  Berge'") 
und  sehe  den  (Anubis)  in  der  göttlichen  Halle.  In  dem  sehr  ver- 
derbten Texte  Todtenb.  151,  b  wird  unter  dem  Bilde  des  Anubis, 
welcher  zwischen  zwei  aufgerichteten  Mumiengestalten  liegt,  stntl 
des  Anubis  ein  Osiris  tep  tu-f  genannt.  Dies  darf  uns  nicht  wundern, 
da  der  Verstorbene  zwar  gewohnlich  ein  Abbild  des  Osiris,   oft  aber 

auch  des  Anubis  heisst.     Todtenb.  17,  7  kommt  ein     |M  jf 

Ovsiris,  Herr  des  Westberges  vor,  und  eben  dieser" Wesiberg,  d.  h. 
das  libysche  Gebirge,  welches  die  Nekropolen  nach  Abend  hin  ab- 
grenzt, rauss  selbstverständlich  die  Residenz  des  Gottes  der  Todten- 
region  sein. 


39)  Todlenb.  CXXV.   vign.   d. 

40)  Erman.  Ztschr.  4  883,  S.  95  fassl  inil  Recht  das  ®  in  diesem  Titel  als  Nisbe 

Pj   . .    und  weist  zulrefl'end  darauf  hin.  dass  in   alten  Formeln  und  Titeln  die  Nisbe 

defccliv  geschrieben  wird.  Er  halt  a.  a.  0.  'r&Ä.*i*]fajy  im  grossen  pariser  Zauber- 
pai)yrus  C,  \  4  für  die  koptische  Form  unseres  tep  tu-f  und  sucht  den  lautliclien 
Vorgang  in  Folge  dessen  diese  Wandlung  erfolgt  sein  würde  geschickt  durch  Ana- 
logien zu  erklären.  Jedenfalls  wird  gerade  Anubis  noch  im  6.  und  6.  Jahrh.  n. 
Chr.  in  griechisch-aegyptischen  Zauberscliriften  angerufen. 


^T  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  (Iatbastrl.  227 

Auf    dein    Deckel    des    Sarkophages    des      ^  ^i^  0  P  ^s.  ^    ' 

^^^^^^illl^O'  welchen  wir  schon  oben  ervviUmten,  tinden  wir  hinter 
den  zu  1 0  erweiterten  8  Lichtgeistern  gerade  wie  auf  unserem  Sarg(; 
die    beiden    Anubisformen.      Neben   ihnen    steht    der  Stab    mit   dem 

Pantherfell  etc.  C,  welcher  so  oft  zu  Füssen  des  Osiris  der  Unter- 
welt zu  sehen  ist.  Der  Anubis  in  der  göttlichen  Halle  heisst  hier 
(|  UV'  Anubis  oben  auf  seinem  Berge  und  wird  wie  auf  unserem 

Sarkophaö;e  M  und  dazu  noch  ^"^^  c^^^     der   Herr   der 

Nekropole  genannt.  Beim  Tempelkult  \on  Dendera  trugen  8  Paslo- 
phoren  den  Schrein  der  Hathor,  welcher  Statuetten  der  8  Licht- 
geister enthalten  zu  haben  scheint.  Dieselben  werden  in  der  In- 
schrift zur  Uechlen   und  Linken   des  Schreines   (Marielte,    Denderah 

IV,  Taf.  9,  Nr.  XXXVIH)  also  genannt:  (j^  amseö,  ^^  Tua- 
met-f,  ^\  heq,  CZ3-*^  är  ren-f  t'esef,  jvlp  (|ebhsenf,  ©o^  y 
Maa-tef-f,  f-^  Jö^^^)»  X^"*  ^^^4"^      "^"^   X^"^  ^^  *"^- 


Die  Inschriften  auf  dem  Deekel. 

Sie  zerfallen  in  einen  Mittelstreifen  von  je  6  Zeilen  zur  Linken 
und  Rechten  desselben.  Auf  den  dieser  Arbeit  beigegebenen  Tafeln 
haben  wir  sie  in  lithographischer  Reproduction  gegeben.  Wohin 
jede  gehört,  Uisst  sich  leicht  aus  dem  Tableau  erkennen,  welches 
die  auf  die  Ebene  übertragene  Oberdäche  des  Sarges  zeigt.  Wir 
geben  den  Text  genau  wieder  und  haben  geflissentlich  von  Cor- 
recturen,  auch  da  wo  '^^37  für  ^^ci;*,  ^^=>6  für  ^^^37  steht,  abgesehen. 

Taf.  L     Mittelstück  A. 

Ein  königliches  Weihgeschenk  für   den   Osiris,    den 

i\)   Lepsius,   Denkm.  III,   279^  e. 

42)   Aus    diesem    Beispiel    ergibt    sich    die    Lesung   j^er    für   iöh-=>.      Dieselbe 

kommt  ja  auch  sonst  oft  vor,  darf  aber   keines>\egs  für  die  Lesung         }    =  yer 

herangezogen  werden.     Nach  unserer  und  Le  Page  Renoufs  Darlegung  muss  es  bei 

^/^    =  ya  bleiben. 


228  Georg  Ebf.rs,  i^^ 

grossen  Gott,  den  Herrn  der  weissen  Mauer*^)  für  den 
werthgeschaizten  bei  Osiris  den  königlichen  Anver- 
wandten Flatbastru.  Libation  werde  dargebracht  Deinem 
Genius  (Ul),  Odem  sei  Deiner  Nase,  Räucherung  Deinen 
Gliedern  von  allem  Vorzüglichen  was  aus  dem  Himmel 
stammt  und  allem  was  aufsprosst  auf  Erden.  Es  sollen 
Dich  erfrischen  Wasser,  jederlei  Opfergebäck  und  alle 
Dinge,  welche  erscheinen  vor  dem  Opfertische  des 
Obersten  und  grossen  Herrn  der  weissen  Mauer??^*)  Du 
darfst  hinein-  und  herausgehen,  nicht  bist  du  ausge- 
schlossen aus  den  Thoren  derer,  welche  auferstanden 
sind  für  die  Ewigkeit.^^) 

Vorderstück  C,  rechts  1  und  2  und  Vorder  stück  B, 
links  1    und  2. 

Die  beiden  Hälften  des  Vorderstückes  dürfen  nicht  einzeln  von 
Zeile  1  bis  hinunter  zu  Zeile  6  behandelt  werden,  sondern  so,  dass 
man  der  ersten  Zeile  rechts  die  erste  Zeile  links,  dieser  die  zweile 
Zeile  rechts,  dieser  wiederum  die  zweite  links  folgen  lässt  und  so 
fort.  Dies  geht  aus  den  ersten  Zeilen  auf  beiden  Seiten  hervor, 
denn  sie  sind  den  Horuskindern,  den  vier  ersten  Lichtgeistern  ge- 
widmet, welche  nicht  gelrennt  werden  konnten,  und  wie  gewöhnlich 

so  auch  hier  mit    Q^~"|rvl    ämseö  beginnen. 

Ein  diesen  vier  Genien  oder  den  10  Lichtgeistern  gemein- 
sam geltender  Text  ist  hier  nicht  vorhanden,  obwol  es  einen 
solchen  gibt,  wie  wir  aus  dem  Sarkophag  des  Panehem  Isis  ersehen,  *^) 
wo  er  lautet: 


43)  Das  auch  den  Griechen  wohlbekannte  Fort  von  Memphis  Xeuxov  rei/o;. 
Nach  dem  Scholiasten  zu  Thucydides  I,  104,  weil  es  von  Bruchsteinen  (dem 
schimmernden  Kalk  des  Mokattam)  und  nicht  von  Ziegeln  erbaut  war.  Es  wird 
sonst  noch  erwähnt  Herodot  III,   91    und  Diodor  XI,   74,   77. 

44)  Die   unausgeführten    Rechtecke    müssten   doch   wol   also   gelesen    werden 


c 


45)  jj   Ä^    welche  sich  in  die  Höhe  heben  ewiglich. 

46)  y.  Bergmann.     Der  Sarkophag  des  Panehemisis.  S.   7. 


29]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastrl*.  229 


raX(tPiffiP^il^1°^UZIiä 


MM 
MM 


A/SAiA^A 


Ö«.c=::"~" — ^^^^fllP*^^^  *^^'^'       """" 


I 

-^         '^  ^         ^  *^-«fc-  O         I  /  III     I  l  M         g^nniD  /WVVVN  AA^AV\ 


AA/WAA     "^ 


ja2. 


oy_Jl^     '  n^^ 


/^/vs^^A 


Heil,  Heil  Euch  Söhnen,  diesen  Kindern  des  Honis,  diesen 
8  Lichtgeistern,  den  Vollkommenen.  Zu  seinem  Dienste  sind  sie 
von  Rä  daselbst  an  seine  Seite  gesetzt  worden,  weil  da  hasset  Seth 
seinen  (nicht  ihren)  Anblick.  Übet  aus  Eueren  Schutz  über  Eueren 
Vater  Osiris  N.  N.  Vollbringet  das  Wachen  über  ihn  Tag  und 
Nacht,  denn  er  ist  einer  von  Euch. 

Den  vier  Horussöhnen  oder  Todtengenien  liegt  es  ob,  den  Ver- 
storbenen zu  beschützen  und  zu  bewachen.  Auf  der  Vignette  zum 
CXXV.  Kapitel  des  Todtenbuches,  wo  sie  in  der  Gerichtshalle  über 
dem  Opfertische  dem  Oberrichter  Osiris  gegenüberstehen,  scheinen 
sie  als  An  walte  zu  fungiren.  Unter  den  Erklärungen  zum  XVII.  Ka- 
pitel des  Todtenbuches,  welche  leider  den  klaren  Grundtext  weit 
öfter  verdüstern  als  aufhellen,  befindet  sich  eine,  die  sich  auf  sie 
bezieht  und  immerhin  geeignet  scheint  einiges  Licht  auf  ihre  mytho- 
logische Bedeutung  zu  werfen.  Der  Grundtext  Todtenbuch  XVH, 
32,  sagt: 

Heil  Euch,  ihr  Herren,  der  lohnenden  und  strafen- 
den Gerechtigkeit    ^^ßßi  ihr  königlichen  Häupter,  die  ihr 

schützend  hinter  dem  Osiris  stehet,  ihr  die  ihr  abtrennt 
(säl)  vom  Bösen,  ihr,  die  ihr  derjenigen  folget,  welche 
gnädig  gewährt  ihren  Schutz  (betep-s  x^"^)»  gebet  auch 
mir,  dass  ich  zu  Euch  komme.  Löset  in  nichts  auf  alles 
Schlimme,  das  an  mir  haftet  (äri-ä),  gleichwie  ihr  es  thut 
jenen  sieben  Lichtgeistern,  welche  zur  Gefolgschaft  (Die- 
nerschaft) gehören  ihres  Herrn,  welcher  das  Recht  zu- 
ertheilt,  und  denen  Anubis  ihren  Platz  angewiesen  hat  an 
jenem  Tage  des  »Komm  Du  zu  uns!« 


'230  Georg  Kbbbs,  [30 

Nun    beginnt    die    Erklärung     mit    einem         ^  f  Oft  ^"^^^  1   y 
Was  ist  das? 

Es  sind    diese    göttlichen   Herren    der    lohnenden    und 
strafenden    Gerechtigkeit    Te^^uti    und  Astes,    die    Herren 

des  Todtenreiches  (^^  ^  j;  die  königlichen  Häupter  aber/^) 

welche  schützend  hinter  dem  Osiris  stehen,  sind  Amseft, 
Häpi,    Tuamet-f    und   Qebhsenu-f,    und   diese  sind  es  auch, 

welche    sich     hinter     dem     Stierschenkels;estirn  c?^  • 

des  nördlichen  Himmels  befinden. 

Aus  dieser  Erklärung  geht  hervor,   dass   man   die    vier   Genien 
vvol  zunächst   als   siderische   Gottheiten   und   dann    als  Schirmherren  ! 

der   Verstorbenen    gedacht   hat.      In  Folge   der    ersteren   Auffassung  j 

haben  sie  auch  kalendarische  Funktionen  und  treten  als  eponyme 
Gottheiten  der  Monalstage  auf.  Sie  stehen  unter  diesen  dem  4 — 8, 
dem  10.  und  15.  als  Kalendergottheiten  vor.  Als  Schutzherrn  des 
Verstorbenen    geben    sie    demselben    die    Grundbestandtheile    seines 

Wesens  zurück,    denn   auf  dem  Sarkophag  des  jl'S    Petu   usiri 

mit  dem  uns  Naville  zuerst  bekannt  gemacht  hat,"***)  sagt  Amsed: 
»Ich  übergebe  Dir  Deinen  Ll«,*^)  (das  ist  die  von  dem  mate- 
riellen Körper  abstrahirte  Erscheinungsform,  der  Genius  und  geistige 
Doppelgänger).  Häpi  spricht:  »Ich  übergebe  Dir  Dein  Herz« 
(d.  i.  Geist  und  Gemüth).  Tuamel-f  spricht:  Ich   übergebe  Dir 

Deine  Seele  (^  ba   (d.  i.  das  Lebensprincip,  durch  welches  sich 

das  Lebende  vom  Nichtlebenden  unterscheidet).  Qebhsenu-f  spricht: 
Ich  gebe  Dir  Deinen  sahu«  (d.  i.  der  durch  die  Balsamirung 
für  eine  ewige  Dauer  zubereitete  Leib)."^*) 


47)   Die  vier  Todtengenien   werden  auch   an    andern   Stelleu    h  i      i  Vwl 


ji  i\  genannt. 
48)    Zeitschr.    1877,   S.   30. 

49,  II    AA/lvAA 


50)   Auf   der   Granitstatue    der    Hör    ut'a    zu    Miramar    heisst    es     ^^^ 

^^  O  (1  Q    ^^    V^  ^^      Ich   bin    ein    Sahu    durch    das  was 


AAAAAA 


•^•^  Der  gesciimtztk  IIolzsakg  des  Katbastri.  231 

Naville  hat  a.  a.  O.  auch  claraur  hingovvioson,  dass  wir  in 
unseren  vier  Genien  die  Gottheiten  der  vier  Himmels-  und  Wind- 
richtungen, ja  der  vier  Winde*  selbst  zu  erkennen  haben.  Zu  den 
bekannten  Krönungfesten,  welche  im  Uamessenm  (Leps.  Denkuj.  III, 
i(J3)  und  zu  Medinet  Habu  dargestellt  werden,  gehört  eine  (Zeremonie, 
welche  daraus  besteht,  dass  man  vier  Vögel  als  Bolen  in  alle  vier 
llinunelsrichtungen  fliegen  lüsst.  Jeder  von  ihnen  wird  nach  einem 
von  unseren  Genien  genannt.    Beide  Monumente  haben  für  den  Süden 

Anisett  und   für  den  Norden  Häpi,  welcher  zu   Medin.   Hal)u 

ü;eschrieben  wird.  ()el)hsenu-f  und  Tuamet-f  stehen  im  Bamesseum 
deuj  Westen  und  Osten,  zu  Med.  Habu  umgekehrt  dem  Osten  und 
Westen  vor.  Genauigkeit  ist  bei  solclien  Dingen  überhau|)t  nicht  zu 
erwarten,  aber  Amse}>  und  Hä|)i  sind  ohne  jede  Ausnahme  Vor- 
steher der  Windrichtungen  des  Südens  und  Nordens,  und  in  weitaus 
den  meisten  Fallen,  welche  wir  notirt  haben,  ist,  wie  im  Ra- 
messeum,  Tuamet-f  der  Gott  des  Ostens  und  Ostwindes,  Qebhsenuf 
der  des  Westens  und  Westwindes.  Der  Text  von  Med.  Habu 
schliesst  sich  an  die  weniger  gebriUichliche,  aber  doch  auch  sonst 
vorkommende  Auffassung.  Auch  zu  Dendera  steht  Tuamet-f  dem 
Ost-,    Qebhsenu-f  dem  Westwinde  vor. '')     Naville  hat  ferner  darauf 


ihm  f^eschehen  ist,  ein  Verklärter,  vollkommen  durch  die  AusslaUung,  welche  sich 
an  ihm  befindet.  Diese  Ausstattung  ist  die  Balsamirung,  die  Urawickelung  mit 
Binden  und  ist    auch    die    dem  Leichnam  beigegebenen  schützenden   Araulete    und 

Texte.      Das  Lexikon  lehrt,   dass  sahu  auf  die  Wurzel     18         'n^^^^     1  1 

zurückzuführen  ist,  welche  sich  im  koptischen  ce^g.,  cino^fg ,  coo^g  congerere, 
congregare,  acervare  erhalten  hat.  Es  bedeutet  mit  etwas  reichlich  versehen, 
reichlich  beschenken.  Im  Pap.  Ebers  65,  16  wird  es  von  Salben  gebraucht,  die 
reichlich  aufgetragen  werden  sollen.  An  solchem  sahu  oder  reichlich  ausgestatteten 
Mumienleibe  haftete  die  körperliche  Form,  durch  welche  sich  der  verstorbene 
Mensch  von  anderen  Menschen  unterschieden  haUe ,  und  in  den  funerären  Texten 
wird  darum  unter  Sahu  nicht  nur  die  Mumie,  sondern  auch  die  von  dem  Körper 
abgelöst  gedachte  Unterscheidungsform  desselben  verstanden.  In  dieser  Auffassung 
ist  der  Sahu  dem  LI,  nahe  verwandt  und  man  darf  ihn  wohl  Schemen  übersetzen. 
Der  Ka  wird  abstrahirt  von  dem  Bilde,  der  Statue  des  Verstorbenen,  der  Sahu 
von  seiner  Mumie. 

51)   In  einer  Darstellung  der  vier  Winde  in  einem  der  Fenster  von  Dendera. 
Dümichen  Hesultate  Taf.   Ä6. 


232  Georg  Ebers,  [33 


hingewiesen,  dass  Äinsed  und  Häpi  mit  der  Doppelsladl*^^  D©        © 
pe  und  tep  (d.  i.  Buto),    die  beiden   anderen  sog.  Kanopen  mit  der 


1 535;^  Kapitel  von  der  Kenntniss  der  Geister  von  y^en  oder  ne^en, 


Stadt  jen   oder   nej^en   in    Zusammenhang    gebracht    werden. 

Die  'm^rfji    oder   Geister   dieser  beiden   Orte,    d.  h.   die    in  ihnen 

verehrten  mythologischen  Persönlichkeiten  waren  von  so  grosser  Be- 
deutung, dass  die  Seelen  der  Verstorbenen  sie  in  der  Unterwelt 
kennen   mussten.     Die   Überschrift    des    112.    Kapitels   des   Todtenb. 

lautet:  <^^*^^^^i '^^  cv) '  D*®  •  ^'"^  anderes  Kapitel  von  der  Kennt- 
niss  der   Geister   von  Buto,   die   des    113.  Kapitels:       1  j 

i 

d.  i.  die  Eileithyiastadt.  Aus  Kap.  112  geht  nun  hervor,  dass 
Horus  zum  Gotte  von  Buto  eingesetzt  worden  ist  nachdem  das 
Horusauge  den  Seth,  welcher  es  in  Gestalt  eines  Schweines  angefallen, 
verbrannt  hatte.-'^)  in  demselben  Kapitel  heisst  es,  dass  die  vier 
ersten    Lichtgeister    Amsed,    Häpi  etc.  den  Horus    zum   Vater    und 

die  Isis  zur  Mutier  haben.  ^  j^  ,T;  °  ^  ^"  PTl  e  jl  O  I 
ihr  Vater  aber  ist  Horus,  ihre  Mutter  Isis.  Demnach  gehören  nicht 
alle  vier  zu  den  Seelen  von  Buto;  vielmehr  nennt  der  Verstorbene, 
nachdem  er  zur  Kenntniss  dieser  Seelen  gelangt  ist  Todtenb.  112,  8 
nur  Horus,  Amsed  und  Häpi.  Die  beiden  anderen  Tuamet-f  und 
Qebbsenu-f  gehören  —  wiederum  mit  Horus  —  wie  das  113.  Kap. 

lehrt,  zu    den  Göttern  von     "  o.     Dies  war  dem   Horus  durch  Rä 

verliehen  worden,  nachdem  es  Sebek  gelungen  war,  seine  Arme, 
welche  er  im  Kampfe  gegen  Seth  eingebüsst  halte,  mit  seinem  Netze 
aus  dem  Wasser  zu  fischen.  Wie  Amsed  und  Häpi  zu  Buto,  so 
sind  Tuamet-f  und  Qebhsenu-f  zu  yen  oder  Nej^en,  d.  h.  in  der 
Südstadt  xatf  ^5ox^v,  der  Eileithyiastadt  der  Griechen  und  dem  el- 
Kab  von  heute  die  Wächter  und  Begleiter  ihres  Vaters  Horus.  So 
kommt  es  denn  auch,  dass  in  der  Vignette  zu  Kap.  112  der  Ver- 
storbene den  Horus  und  seine  Söhne  Amsed  und  Häpi  die  Geister 
von  Pe,  in  der  Vignette  zu  Kap.  1 1 3  den  Horus  und  seine  Söhne  Tua- 


52)  Wie  Buda-Pest  oder  Elberfeld-Barmeo. 

53)  Todtenb.   H2,   6. 


33]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  ^atbastru.  233 

met-f  und  Qebhsenu-f,  die  Geister  von  yen  oder  Nej^en,  anbete^. 
—  Eigentlich  sollte  man  für  ^^en  oder  Ne/en  Amsed,  vielleicht  mit 
Tuamet-f,  für  Buto  Häpi,  vielleicht  mit  Qebbsenu-f  erwarten,  denn 
•jfen  oder  pennen  ist  stets  die  Sudstadt,  Buto  immer  die  Nordstadt, 
und  so   sagt   denn   auch   der   Gott  Menhi    zu   Esne   dem    Könige:^) 

A^TT-^A  V  T ro-^  w  T  '^'^  ^^^^  ^^^  ^'^  weisse  Krone  (von 
Oberaegypien)  in  Nej^en  und  die  rothe  Krone  (von  Unteraegypten)' 
in  Pe.     Die  Göttin  von  Ne/en    1 JI        U.   Ne^eb-t  ist  stets  die  des 

Südens,  die    T^,   var.    *^  ü  q       "1"^  oder  ut'-it  ist  immer  die  des 

Nordens.  So  würde  man  denn  auch  zu  Nej^en  neben  dem  Horus 
dieser  Stadt  den  Amsed,  welcher  überall  der  Windrichtung  des  Südens 
vorsieht,  und  neben  dem  Horus  von  Pe  und  Tep,  Häpi,  den  nörd- 
lichen ohne  seinen  südlichen  Genossen  Amse&,  welcher  ihn  hier 
dennoch  begleitet,  zu  erwarten  haben.  Die  Naville'sche  Wahrnehmung, 
dass  also  ^  Pe  für  sich  allein,  wenn  es  ^^^  j^en  oder  Nej^en  gegen^ 
übergestellt  werde,  den  Norden  und  Süden  zugleich  darstellen  könne, 
ist  unanfechtbar,  aber  eine  Erklärung  für  dieselbe  haben  wir  nicht 
zu  finden  vermocht.  Statuen  derselben  kennen  wir  nicht,  wol  aber 
werden  häufig  kleine  Wachsfiguren  in  der. Höhe  von  7 — 10  cm. 
»die  vier  Osirissöhne«  bei  den  Mumien  gefunden. 

Besonders  häufig  begegnen  uns  die  vier  ersten  Lichtgeister  als 
Vasen,  deren  Deckel  die  Form  desjenigen  Thierkopfes  tragen,  welchen 
man  jedem  einzelnen  von  ihnen  zuschrieb,  und  deren  Inneres  diejenigen 
Innentheile  des  Verstorbenen  barg,  welche  jeder  von  ihnen  besonders 
zu  beschützen  hatte.  In  jedem  Museum  finden  sich  dergleichen  Vasen 
oder  Urnen,  und  sie  werden  schon  früh  allgemein  mit  dem  Namen 
»>Kanopenc(  bezeichnet,  obgleich  derselbe  nicht  aegyptisch  zu  sein 
scheint.  Jedenfalls  hängt  er  mit  dem  der  Stadt  Kdva)7i:o(;  oder  doch 
wohl  richtiger  Kdvu>ßo<;,  zusammen,  aber  auch  dieser  scheint  griechisch 
zu  sein.  Nach  einer  bekannten  Stelle  des  Aristides,  ^^)  würde  der 
betreffende  Name  allerdings  aus  dem  Aegyptischen  kommen.  Der  ge- 
nannte Schriftsteller  will  mit  Kecht  nicht  an  die  Sage  glauben,  dass 


54)  Brugsch.   Dictionnaire  geographique.   I,   S.   354. 

55)  Arislides.   Or.  Aegypt.,  opp.   T.   II.   p.   359  seq.  ed.   Jebb. 

AbliaDdl.  d.  K.  S.  Ge««llach.  d.  WUaensch.  XXI.  4  7 


234  Georg  Kbeks,  [^^ 

Kanobos  nach  dem  Steuennanne  des  Menelaos,  welcher  hier  begraben 
liegen  sollte,  benannt  worden  sei,  denn  ein  aegyptischer  Priester  hatte 
ihm  mitgetheilt,  die  Stadt  habe  schon  viele  Jahrhunderle  vor  Menelaos 
ihren  Namen  getragen  und  dieser  bedeute /püooov  ISacpfx;.  Charapollion**) 
sprach  die   nahe   liegende    Ansicht   aus,    der   Priester,    welcher   den 

Aristides  belehrte,  könne  nur  das  koptische    K^.gl  ÜJforS,  das  man 

•  vielleicht  einfach  K^J-gJiöVß  ausgesprochen  habe,  gemeint  haben,  und 
dies  bedeutet  ja  in  der  That  j^poooGv  eSacpoc;  oder  güldene  Aue. 

Aber  diese  Erklärung  scheint  aus  dem  Kopfe  des  erwähnten 
Priesters  selbst  gestammt  zu  haben,  denn  kein  Denkmal  gibt  einem 
Orte,  welcher  für  Kanobos  gehalten  werden  darf,  einen  Namen, 
welcher  auf  die  Bedeutung  »güldene  Aue«  zurückgeführt  werden 
könnte.      Dem    xd^coTto«;    im    griechischen    Theile    des    Dekretes    von 

Kanobos    entspricht    die   Gruppe    jj^  fl    ?   (demot.  Pakutä)   welche 

Brugsch,  da  er  das  anlautende  p  wol  mit  Recht  für  den  mascul. 
Artikel  hält,  und  es  von  der  Wurzel  trennt,  Pi-Qaud  liest.  ^')  So 
würden  denn  die  aus  dem  Todtenbuch   (125,  17)  bekannten  Namen 

S       ^^  Q    i^auu      ^    \>  %  T=r    kauu  oder  auch  das     ^_ 


AAAA^AT=r  k:autut  des  Pap.  Harris  oder  das    q  ^^^^®  l^öuti   aus  den 


A^VN/S/VS 


w 


Kämpfen   des   Horus    zu    Edfu^)    dem   iß^  ji'^  und  Kdvo>Tco(;  der 
Bilingue  von  Tanis  (Dekret   von   Kanobos)  entsprechen.     Neben  den 


erwähnten  Gruppen  kommt   nun  für  Kanobos  allerdings  noch   ^ 

vor.  Dies  ist  ka  nu  pe  zu  lesen  und  entspricht  also  dem  griechi- 
schen KdvcoTTo«;  ganz  und  gar;  aber  Brugsch ^^)  sieht  auch  hier  das 
Rechte,  wenn  er  es  für  die  hieroglyphische  Transcription  eines  grie- 
chischen Namens  hält.     Das   ^  lehrt  uns  also  nur,  wie  der  hel- 


56)  F.  Champollion  L'£gypte  sous  les  Pharaons  II.  S.   259. 

57)  Ist  diese  AuflassuDg  richtig,   so  kann  Düinichens  VermuthuDg  (Geschiebte 

S.   74)  dass  ÜT\    7  0  gleich  Kanopus  sei  Dicht  auf  Annahme  rechnen.    Denn 

in  dem  äa  pek   wurde    das   p  nothwendig   als   zur  Wurzel   gehörig   zu  betrachten 
sein.     Brugsch^   dict.  geogr.  S.    H65. 

58)  Navilie,   Myth.   d'Horus.  PI.   XXI,   Z.   7. 

59)  Brugsch  a.   a.   0.  S.   720.    849. 


^^]  Der  gbschnitztk  Holzsab«  des  Qatbastru.  235 

lenische  Naiue  kdvuyjto;  oder  Kdvcußcx;  in  später  aegypiischer  Schrift- 
weise aussah ;  aber  ebea  diese  Schreibung  enthält  einen  Prolest  gegen 
die  durch  Aristides  bekannt  gewordene  Etymologie,  da  sie  weder  auf 

fc/^l  terra,  pulvis,  noch  auf  fiovfi  aurum  auch  nur  von  fern  an- 
spielt. Welcher  Umstand  oder  welche  Namenslihnlichkeit  die  Griechen 
veranlasst  hat,  das  Grab  des  Steuermannes  Kanobos  gerade  nach 
Kanobos  zu  verlegen  ist  schwer  zu  sagen;  jedenfalls  ist  später  — 
und  zwar  durch  sie  —  der  Name  des  Piloten  auch  unter  den 
Aegyptem  für  denjenigen  der  Stadt  acceptirt  worden.  Es  hatjn 
derselben  bis  in  später  Zeit  ein  Serapistempel  von  grosser  Bedeutung 
gestanden.  Der  Geograph  Gl.  Ptolemäus  soll  die  Pylonen  desselben 
als  Sternwarten  benutzt  haben, ^)  und  es  ist  ja  bekannt,  dass 
Hadrian  unter  den  Nachbildungen  anderer  berühmter  Lokalitäten, 
welche  ihm  auf  seinen  Reisen  besonders  imponirt  hatten,  in  seiner 
Villa  zu  Tibur  auch  ein  »Canopus«  genanntes  Bauwerk  herstellen  Hess. 
Es  scheint  als  habe  das  Heiligthum  von  Kanobos  später  Veranlassung 
gegeben  auch  andere  Serapistempel  Kanobos  zu  nennen.  —  Da  der 
Serapiscult  mit  der  Unterwelt  und  dem  Leben  im  Jenseits  eng  zu- 
sammenhing, müssen  bei  demselben  unsere  vier  Lichtgeister  noth- 
wendig  eine  Rolle  gespielt  haben,  und  die  Krüge,  durch  welche  man 
dieselben  zur  Anschauung  brachte,  scheinen  den  Griechen  besonders 
ins  Auge  gefallen  zu  sein.  Später  wählte  die  Stadt  sogar  einen 
Krug  oder  wohl  auch  die  Amse^-Kanope  mit  dem  Menschenkopfe 
als  Münzzeichen.  Eine  der  Münzen  unserer  Stadt  zeigt  bei  dem  Kruge 
die  Umschrift  K ANQBITQN.  •*)  —  Die  Griechen  haben  auch  eine 
Erklärung  für  die  Verehrung  von  Urnen ,  welche  einen  Menschenkopf 
trugen,  gefunden.  Rufinus®^)  der  so  viel  Wunderliches  zu  erzählen 
weiss,  dass  wir  ihn  nicht  nur  für  einen  naiven  Nacherzähler  un- 
glaublicher Dinge,  sondern  gelegentlich  auch  für  einen  phantasie- 
reichen  Fabulanten  halten  müssen,  theilt  sie  mit. 

Die  Chaldäer  sollen  mit  ihrem  Gotte,  dem  Feuer,-  herumgezogen 


60)  Olympiodor  Tässt  ihn  seine  Beobachtungen  machen  iv  toT(;  A.eYO)jivou 
irtepou  TOü  xavo)ßou.  Commentar  zum  Phaedon  des  Plalo.  Die  Griechen  (Slrabo) 
nennen  die  Propylonen  der  aegypt.  Tempel  auch  sonst  irtepof. 

6f)   Vaiilani.   Hist.   Ptolem.  p.   205. 

62)    Histor.   Eccles.   II,    26.     S.   auch  Suidas  s.   v.   xava>i:o<. 

47* 


236  Geokg  Kbers,  ['-^^ 

suia  und  ciio  Götter  aller  anderen  Länder  zu  einoni  Kampfe  niil  ihm 
herausgefordert  haben.  Der  Sieger  sollte  von  allen  anderen  als  Gott 
Anerkennung  finden,  üieser  Herausforderung  stellte  sich  ein  listiger 
Priester  von  Kanobos.  Er  nahm  einen  der  porOsen  Thonkrüge, 
welche  noch  heute  in  Aegypten  so  gut  verfertigt  werden,  ver- 
stopfte die  Poren,  welche  man  als  künstlich  erweitert  denken 
muss,  mit  Wachs,  malte  ihn  bunt  an,  füllte  ihn  mit  Wasser  und 
setzte  ihm  einen  Kopf  auf,  welcher  einem  Bilde  des  Steuermannes 
des  Menelaos  angehört  haben  sollte.  —  Diesen  Krug  gab  er  für 
seinen  Gott  aus  und  stellte  ihn  als  die  Chaldller  kamen,  über  das 
Feuer  derselben.  Natürlich  schmolz  das  Wachs,  das  Wasser  rann 
aus  den  Löchern  in  die  Flammen  und  verlöschte  sie.  Kanopus  hatte 
durch  die  List  des  Priesters  den  Gott  der  Chaldöer  besiegt.  Seit- 
dem, sagt  Rufinus,  werde  das  Bild  des  »Canopus«  mit  kleinen  Füssen, 
zusammengeschrumpftem  Halse  und  aufgedunsenem  Bauche,  welcher, 
wie  auch  der  Rücken,  die  Rundung  eines  Kruges  habe,  gebildet. 
Diese  gut  ersonnene  Geschichte  sammt  dem  Zusätze,  dass  auf  den 
Krug  das  Haupt  des  Steuermannes  des  Menelaos  gesetzt  worden  sei, 
kann  aus  früher  griechisch-aegyptischer  Zeit  stammen.  Bei  der  fol- 
genden Beschreibung  des  Gottes  Kanopus  scheint  Rufinus  die  krug- 
förmigen  Lichtgeistergestalten  mit  den  Pygmäenfiguren  des  Ptal^  Sokari 
zu  verwechseln. 

Wenn  wir  Krüge  mit  Menschen-  oder  Thierköpfen  Kanopen 
oder  die  vier  ersten  Lichtgeister  Kanopengötter  nennen,  so  thun  wir 
es  also  nicht  auf  Grund  aegyptischer  Bezeichnungen,  sondern  indem 
wir  der  nun  einmal  angenommenen  Benennungsweise  der  Griechen 
folgen.  Die  Kanopenkrüge  mit  Deckeln  in  Gestalt  eines  Menschen, 
A(!*en,  Schakals  und  Sperberkopfes  stellen  die  vier  ersten  Lichtgeister 
dar.  Das  geht  aus  den  Texten,  welche  sich  an  der  Vorderseite 
der  einzelnen  Krüge  zu  finden  pflegen,  sicher  hervor.  Die  folgende 
Tabelle  soll  das  über  die  Kanopengöttei'  Bekannte  übersichtlich  zu- 
sammenfassen. 


37] 


Der  geschnitzte  Holzsakg  des  Qatbastrc. 


237 


Die  vier  Horussöhne.    Die  vier  ersten  Lichtgeister. 


f. 


lj^]J    ämse» 


Mensrhenköpfig. 

U  ka 

Magen  uod   grosse 

Eingeweide.  ? 

Isis. 

Südwind. 

Süden. 

Ol 
0 


Geist  von 


pe. 


^auch         _    ®    pe 

®    D 

und  tep). 

Lässt  wachsen  das 
Haus  und  gibt  der 
Biids'äule  Bestand. 


«. 


Aßeaköpfig. 

O  ab 

Kleine  Eingeweide.? 

Nephthys. 

Nordwind. 

Norden. 

Geist  von  pe. 


(auch 


0 


O    0 


•). 


Überliefert  die  Köpfe 
der  Widersacher, 
betet  an.  die  Schön- 
heit der  Osiris,  *'*) 
streckt  aus  seine 
Arme  nach  Osiris. 


3. 


tiiamet-f 


Schakalköpfig. 

(^^   ba 
Lunge  und  Herz.? 

Neith. 
Ost-  od.  Westwind. 
Osten  oder  Westen. 


4. 


Geist  von  yen 

oder  j^enen. 


Hält  zusammen  Kno- 
chen und  Fleisch. 


^    qebh 

senu-f 
SperberkÖpßg. 


l   I  sah  « ') 
Leber  und  Galle.  ? 

Selq. 
West-  od.  Ostwind. 
Westen  oder  Osten. 


Geist  von  ven 

oder  }(enen. 


Verheissl  den  Triumph 

und  die  Verklärung  des 

Leibes. 


v^JjiI^J    d.    i.   grosse    königliche 


Alle  vier  werden 
Hauptgötter  genannt. 

Söhne  des  Horus  (oder  noch  hdußger  des  Osiris)  und  der  Isis. 
Vier  Diener  des  Horus.     Anwälte  bei'm  Todtengericht. 
Vier  Vögel,  welche  als  Herolde  ausfliegen. 
Gestirne  bei'm  Stierschenkel  des  nördlichen  Himmels. 
Vier  Elemente.     Eponyme  Gottheiten  von  Monatstagen. 


63)  Es  treten  hierzu  noch  manchmal  /at  oder  t'el  Leib  und  ^aibt  Schatten. 
Gewöhnlich  ist  die  Vierzahl,  welche  der  der  Kanopen  und  Elemente  entspricht. 

64)  0er  Atfenköpfige  steht  der  Anbetung  vor.  Den  Affen,  wir  erinnern  an 
das  IÜ6.  Kapitel  des  Todtenbuches  und  die  Vignette  dazu,  wird  oft  die  Rolle  des 
Anbetens  übertragen.  Die  hier  aufgezählten  Funktionen  wechseln.  Wir  geben 
sie  nach  unserem  Sarge. 


238  Georo  Ebbrs,  [38 

Den  Längenmassen  auf  Ellen  vorstehend. 

Priester,  welche  den  Schrein  der  Hathor  tragen. 

Als  krugförmige  Kanopengötter  um  den  Sarg  gestellt. 

Von  Rä  eingesetzt  zum  Schutze  der  Osiris,  d.  h.  des  Ver- 
storbenen. 

In  iMumiengestalt  mit  Menschen,  Affen,  Schakal  und  Sperber- 
köpf  oder  auch  nur  als  menschenköpfige  Mumieogestalten^'^) 
auf  den  Sarkophagen  von  Stein  und  Holz. 

Gemalt  (sitzend  oder  stehend)  an  den  vier  Ecken  der  Grab- 
kammer.®®)    Wachsfiguren  bei  Mumien. 

im  Todtenb.  Kap.  27  werden  sie  angerufen,  um  den  Verstor- 
benen  davor  zu  bewahren,  dass  ihm  sein  Herz  genommen  wird. 
Die  Vignette  zeigt  den  Osiris  N.  N.  mit  seinem  Herzen  in  der  Hand 
vor  den  vier  Kanopengöttern.  Ihre  Bilder  werden  angerufen  148, 
35  und  36.  ihr  Vater  ist  Horus,  ihre  Mutter  Isis  112,  6.  Sie  werden 
genannt  99,  18.   U1,  9.   142  Z.  2—4  unten. 

Vorderstück  C,  rechts.  Abth.  1.  An  der  Spitze  der  14 
Texlzeilen  dieses  Abschnittes  stehen  die  mumienförmigen  Gestalten 
des  Ämsed  und  Tuamet-f,  jede  mit  dem  Scepter  in  der  Hand.  Die 
Namen  sind  in  die  für  sie  vorbereiteten  Schilder  nicht  eingeschnitten 
worden. 

1.  Es  spricht  AmseO:  Ich  bin  Dein  Sohn  2.  o  Osiris 
Qatbastru,  Sohn  des  Pe  =  3.  def  (sehen?).  Ich  bin  zu 
Dir    gekommen    und    stehe    zu    Deinem    Schutze    bereit. 

4.  Ich  gebe  Gedeihen  Deinem  Hause  Tag  für  Tag  bleibend 

5.  in  Deiner  Wohnung,  Bestand  habend  in  Deinem 
Sanctuarium  und  es  erfrische  6.  sich  ewiglich  Osiris  Qat- 
bastru. 

7.  Er  spricht  Tuamet-f.  Ich  bin  Dein  Sohn  8.  o  Osi- 
ris Hatbastru,    triumphirender.^^)     9.  Ich   bin    gekommen 


65)  Z.  B.  auf  dem  grossen  Sarkophag  des  Museo  civico  zu  Bologna.  Heraus- 
gegeben von  G.  Szedlo.  Bologna.  1876.  Taf.  I,  7,  8,  9,  10,  wo  sie  so  folgen: 
Amse&,  Tuamet-f ,   Hapi ,   Qebl.isenuf.     Taf.  III ,    stehen   sie   in    der   gewöhnlicheD 

Folge.    Ebendaselbst  Nr.   7  wird  Ämseft    (1  ^v     ü  0  wi    ^™seOi  geschrieben. 

66)  Deveria.     Im  Pienret*scben  Texte  zum  Papyr.  Nebqet  p.   6. 

67)  Maä    y^er.     Ich   folge  hier   der   Bnigsch*   und  v.  Bergmännischen  Ober- 


^^]  Der  geschnitzte  Holzsar«  des  Qatbastrc.  239 

und  siebe  zu  Deinem  Schutze  bereit.  10.  Ich  vereinige 
für  Dich  Deine  Knochen  H.  und  ziehe  zusammen  für  Dich 
Deine  Muskeln  und  Glieder.^)  i2.  Nicht  lass'  ich  Dir  (neh- 
men)^) Dein  Antlitz  und  Dein  Herz  13.  ewiglich.  0  Osiris 
14.  Hatbastru,  triumphirender. 

Vorderstück  B,  links  Abth.  1.  An  der  Spitze  des  Abschnittes 
Häpi  und  Qeb^senu-f  in  Mumiengestalt  mit  dem  Scepter  1  in  den* 
Händen. 

1.  Es  spricht  Qäpi.  O  Qa(bastru  2.  Kind  der  Tasa^epr, 
leb  bin  gekommen  3.  um  Dir  Schutz  zu  gewähren.  Ich 
reiche  4.  (Dir)  dar  die  Köpfe  Deines  Widersachers,  den  ic|h 
gebunden  5.  habe.(?)  Ich  bete  an  Deine  Schönheit.  6.  Ich, 
strecke  aus  Deine  Arme  7.  nach  dem  Horizonte  des 
Himmels. 

8.  Es  spricht  Qebbsenu-f.  0  Osiris  Qa(bastru.  9.  Sohn 
des  Pedef  (sen?)  Ich  bin  Dein  Sohn,  den  Du  liebst.  10.  Ich 
bin  gekommen  um  Dir  Schutz  zu  gewähren.  Wenn  der 
Schutz  verliehen  worden  ist  11.  so  lass  Deinen  Mund^®) 
nicht  still  stehen,  denn  Dju  sprichst  das  Rechte,  12.  und 
es  wird  Dir  verliehen  was  recht  ist  zu  Deinem  Schutze. 
Es  wird  13.  von  ihnen  Verklärung  verliehen  Deinem  Leibe 
ewiglich. 

All  diese  Texte  sind  niemals  zum  Kanon  geworden,  denn  in 
anderen  Stücken  fallen  den  Kanopengöttern  oder  Todtengenien  ganz 
andere  Funktionen  zu.  Während  z.  B.  in  dem  guten  alten  thebai- 
schen    Texte  des   Pariser  Papyrus    Nebqe(  Qebbsenu-f  die   Knochen 


Setzung  dieser  Gruppe,  da  die  Grundbedeutung  derselben,  an  der  ich  son«l  fest- 
halte, in  der  That  etwas  Kriegerisches  gewonnen  hat.  Eine  besondere  Abhandlung 
über  das  maä^er  bereite  ich  für  eine  andere  Stelle  vor. 


68)  Todtenb.    133,  4.    ()     _  ."^^^^^ 


69)   Hier  wol  S^y^v— j  zu    ergänzen.      Ich    erinnere    an    Todtenbuch    t$. 


Oberschr.  ^lot    c^    «-«p  ^    v&      Kap.   «8,    \ 


I         ö      "         - fl  -^-^    c^    ^  c:.   W  K      ^  'vwv^ 


S1^- 


70)  epoR  könnte  auch  ein  reflexiver  Dativ  zu   ^  sein. 


240  Geokg  Ebers,  [40 

und  Glieder  vereint,  t^Ut  diese  Aufgabe  auf  unserem  Sarkophag  dem 
Tuamet-f  zu  u.  s.  f. 

Vorderstück  C,  rechts  Abth.  2.  An  der  Spitze  des  Abschnittes 
zwei  bärtige  Göttergestalten,    welche    in   der  Linken  das  Scepter,  in 

der  Rechten  das  -t-  halten.     Die  Überschrift  ist  nicht  in  die  für  sie 

uusgesparten    Flächen   eingeschrieben    worden ,    aber   der   Text  lehrt 

dass  sie  den   ^^  J  J)  Seb  oder  Qeb,'*)   welcher  hier  zu  den  Licht- 

geistern   gerechnet   wird^   und   den    7  zi  beq,   den    wir  aus    unserer 

Liste  S.  222,  iNr.  7  kennen,  darstellen. 

Z.  1.  Es  spricht  Seb.  2.  0  Osiris  Qatbastru,  Sohn  der 
Hausfrau  3.  Tasa^^pi.  Ich  öifne  Dir  Deine  4.  beiden 
Augen,  damit  Du  nicht  blind  seiest.  Ich  breite  Dir  aus- 
einander 5.  Deine  beiden  Beine,  welche  umwickelt  waren. '^) 
ich  gehe  6.  Dir  Dein  Herz,  (das  Herz)  Deiner  Mutter,'^) 
das  Herz  für  7.  Deinen  Leib,  dass  er  lebe  ewiglich. 

8.  Es  spricht  Heq.    O  Osiris  ^atbashu.'*)    9.  Ich  komme 

und    bin    in   Mitten   Deiner    10.    Barke,    und    ich   zähle    Dich 

unter  die  Götter.      11.    Wenn    Du   auferstanden    bist,   sehen 

.Deine  Augen  den  grossen  Gott  12.  und  die  Reinheit  dessen, 

welcher  verbunden  (versehen)  ist  mit  seinen  Strahlen.'*) 


71)  Auch  auf  dem  grossen  Sarkophag  des  museo  civico  zu  Bologna  ed.  Gzedlo 
Taf.  in,   Nr.   it    folgt   den    vier   KaoopengÖttern    und    dem  Anubia   der   Gott  Seb, 

welcher  dort   ^^    11    1^^   I   I   I    ^^^'  der  Fürst  der  GtJtter ,    genannt  wird  und 

dem  dieselben  P'unkUonen  zukommen  wie  auf  unserem  Sarge. 

^^^j  imum  A/v^/w\  .,^^>-    Q  I  w  i  ^_  i^j  A/vv\rtA 

72)  Todlenb.    26,    3   und   4    "  vÄ  ^  j^   ^^ 

73)  Todtenb.   30,    4. 

74)  Hier   nur      \     ry     <z>   geschrieben;  ohne  i    i    i- 

^ö)    f\T^^^  A     (PH!  «5)   •     ^   hinter     lo   scheint  für  ^verschrieben  zu 
sein.  ^   kommt  öfter,   z.   ß.,  in    Edfu    und  Dendera    bei  der  eponymischen 

Benennung  des  25.  Monatstages  vor.  Das  -j|  am  Ende  scheint  auf  einen  Eigen- 
oder Beinamen  zu  deuten;  doch  kann  sich  unsere  Gruppe  auch  als  Epitheton 
ornans  auf  neter  aä  beziehen. 


41]  Der  geschnitzte  holzsarg  dks  Qatbastrv  241 

Auch  im  Todtenbuch  126,  4  ist  es  Seb,  welcher  den  blind  f^e- 
wordenen  Augen  des  Verstorbenen  die  Sehkraft  und  seinen  um- 
wickelten Gliedern  die  Beweglichkeit  zurückgibt. 

Vorderstuck  B,  links,  Ablh.  2. 

Dem  Texte    voran   gehen  die    beiden    Licbtgeister     fl\  J         j) 

Xer  baq-f  und  ^     f  für  -*^  J|  j.      Beide    sind 

menschenköpfig  und  tragen  in  der  rechten  Hand  das  Scepter  und  in 
der  linken  das  -t-. 

1.  Es  spricht  ler  baq-f:  2  0  Osiris  Hatbastru  Sohn 
des  PeOef  (sen).'®)  3.  Ich  komme  vom  Himmel  auf  Befehl 
des  Rä  4.  wie  ein  Sohn  des  heimischen  Gottes  alle  Tage. 
Ich  bereite  Dir  Schutz  vor  5.  allen.  Ich  (beschenke?)  mit 
Leben  Deinen  Namen  und  6.  Erhaltung  ist  beschieden 
Deiner  Gestalt  ewiglich.") 

7.  Es  spricht  Arneft'esf:  0  Hatbastru.  8.  Ich  bin  ge- 
kommen, um  Dir  Schutz  zu  gewähren.  Ich  vernichte 
9.  alles  Üble,  das  sich  an  10.  Deinen  Gliedern  befindet.  Ich 
erweise  mich  thätig  auf  Befehl  11.  des  grossen  Gottes,  des 
Herrn  der  Ewigkeit,  um  12.  aufzurichten  Dein  Herz  für 
immer.     0  Osiris  13.  Hatbastru,  triumphirender. 

Vorderstück  C,  rechts,  Abth.  3. 

An  der  Spitze  des  Textes  steht  der  menschenköpfige  Lichtgeist 

Armäua  mit  dem  Scepter  in  der  linken  und  dem  -r*  in  der  rechten 
Hand. 

1.  Es  spricht  Armäua.  2.  0  Osiris  Hatbastru'^)  3.  trium- 
phirender.   Ich  komme  zu  Dir  auf  4.  göttlichen  Befehl,  und 


76^   Das  0   am  Anfang  des  Namens  w       ist   nicht   ausgeführt  worden, 

aber  wol  nur  aus  Versehen. 

77)  Z.    5    muss   doch   wol    verbessert   werden.     Statt    ^^   schlage   ich  vor 
^A^w> .     Dem    Gedanken   Z.    6   entspricht    Todtenb.    89,    7.      -iU.  X   [j 

^^*  ^^  ^^   Nicht  wird  er  zunichte  an  dfer  Gestalt  ewiglich. 

78)  Hier  ist  der  Name    8  W  ^  ^  •  Jf    so  ausgeschrieben. 


242  Georg  Ebbrs,  [42 

da  bin  ich  und  handle  5.  als  Dein  leiblicher  Sohn.^^)  Und 
wenn  Du  dort  aufsiebst  als  6.  ein  Lebender  zu  jeder  Zeit 
7.  und  unter  den  Gewaltigen  Tag  für  Tag,  so  ist  es  Dir  ge- 
stattet, 8.  dass  Du  anlegst  Deinen  Schmuck  unter  den 
Hauptgöttern  9.  und  wenn  Du  dann  dastehst  in  10.  Rein- 
heit, gross  durch  die  Balsamirung,  11.  gibt  es  Libation  und 
Räucherung  fUr  Deinen  Genius  12.  alle  Tage  ewiglich. 
0  Osiris  Hajbastru.^) 

Vorderstück  B,  links,  Abth.  3. 

Dem    Text    voran    geht    der    Lichtgeist     — ^    ^      Matef    (var. 


f- jj  ma  tef-f).  Er  halt  in  der  Rechten  das  Scepter,  in  der 
Linken  das  -¥-. 

1.  Es  spricht  Matef:  0  Osiris  2.  Ha(bastru,  triumphi- 
render.  Ich  begrüsse  3.  Dich.  Ich  bin  da  4.  um  Dich  zu 
beschützen,  Du,  der  Du  lebest  neu  5.  und  verjüngt  wie 
Rä  6.  alle  Tage,  der  Du  eingereiht®')  bist  unter  7.  die  Götter 
der  weissen  Mauer.  Du  trittst  ein  8.  als  Sperber,  9.  Du 
gehst  aus  als  Phönix,®^)  10.  und  Du  durchwandelst^)  das 
Immerdar  als  11.  Nel^ebka  Schlange.  12.  0  Osiris  Hat- 
bastru,  13.  triumphirender,  Sohn  des  Pedef  (sehen?) ,  des 
triumphirenden. 

Dieser  Abschnitt  schliesst  sich  eng  an  gewisse  Texte  des  Todten- 
bucbes,  ja  er  gibt  einige  unter  den  sogenannten  Yerwandlungskapiteln 

(vom  76.  an)  in  nuce  wieder,  besonders  das  77.  und  78.       i 


A/V\/VW       £^ 


79)   Der  Lichtgeist  ist  als  Sohn  des  Osiris  (oder  Horus)    auch   der    des    Ver- 
storbenen   (Osiris) . 


80)  Hier  |S^^^;9atba8tru. 

81)  flxl  doch  wol  nur  wie    auch  sonst  für  ^  ^   etc. 

88)   Hier      J    ^  ba.     Die  reine  Wurzel.'^n  VocXtion    fraglich  ist. 


83)   Das    IJ I    kann  hier  wol  auch  »zuzählen«  bedeuten,    cckccr  numerare, 


computare,    coUigere,   Brugsch    WÖrterb.  S.   1140.     Dann:    Den  sich    zuzählt  der 
Herr  des  Immerdar  als  etc. 


^3]  Der  geschnitzte  Hoizsarg  bes  IJatbastru.  243 


W   ^  f  •'^'"'^  JJ^^fssTi     Kapitel   vom  AnoehDien   die  Gestalt  eines 

goldenen  Sperbers,  »od(78}^^^^|l^ ^4J^l<^fll 

Kapitel  vom  Annehmen  die  Gestalt  eines  kräftigen  Sperbers.    Ebenso 
wird    das    83.     Kap.     berücksichtigt:     ^^^"^^  ^    (^  fl  n — t^ 

Kapitel   vom    sich    verwandeln   in    den   Bennuvogel    (Phönix).      Kap. 
122,  5  heisst  es,  ähnlich  wie  in  unserem  Texte:    "*~^ *^-«^  ^^  j  Q 

>  ^  j  TT^    ^^    ^^^^    hinein    als    Sperber    und    tritl 


heraus  als  Phönix.^)  Im  87.  Kap.  wird  von  der  Verwandlung  in 
eine  Schlange  gesprochen,   aber  nicht,   wie   auf  unserem  Sarkophag 

in  die  Nehebka-,  sondern  in  die    ^^^oo    Sataschlange.     In  diesem 

Kap.  Z.  2  heisst  es,  ähnlich  wie   in  unserem  Abschnitte  Z.  5  und  6: 

boren,  ich  erneuere  und  verjünge  mich  alle  Tage.  Übrigens  wird 
auch  im  Todtenbuche  der  Verstorbene  der  Nehebkaschlange  gleich 
gesetzt  und  diese  wieder  dem  Gatten  der  Nut,  d.  i.  Seb,  denn  Kap. 
149,   42    sagt    der    Dahingegangene    (Osiris)    von    sich    selbst    aus: 

^^^^^^IJUMj^  '^h  bin  der  Gatte  der  Nut,  die 

Nobebkaschlange.  Diese  gehört  an  die  Spitze  der  guten,  heil- 
bringenden Schlangen,  welche,  indem  sie  sich  immer  selbst  erneuern 
als  nicht   alternd    und  ewig  lebend  betrachtet  werden.^*)     Der  Herr 


84)  Über  die  luoare  Bedeutung  des  Phönix  bat  ßrugsch  jüngst  interessante 
Aufscblüsse  gegeben.  Thesaurus  inscriptionum  aegyptiacarum.  Abth.  II.  S.  387. 
Als  Neumond  im  Mondmonat  des  Frühlingsanfangs  stellt  der  Benno  (Phönix)  die 
Auferstehung  des  Osiris  dar.     Die  entscheidende  Stelle   ist  dem  Tempel  von  Den- 

dera  entnommen  (Mariette  Dend.  IV.  77)   und   lautet:     [[]  1    U 

[j  F=3  f  zd  ^^,  (1  (1  ö    Er  (Osiris  Lunus)   erwacht  aus  dem 

Schlafe.  Er  schwingt  sich  empor  als  Bennu  (Phönix).  Er  nimmt  ein  seine 
Steile  am  Himmel  als  wiedererneuter  Mond.  —  Über  die  solare  Bedeutung  des 
Benno  A.  Wiedemann.  Zeitschr.   4  878.   S.  89. 

85)  Piutarch.  Is.  und  Osiris  ed.  Parthey,  74.  Adirföa  5e  ai^  aY^po)  xal 
;(pu>^V7)v  xivTJatoiv  avopyavot^   fifit    8uireTe(a<;  xal  OYporrjToc  aotpip  itpooetxaoav* 


2i4  Georg  Ebebs,  [** 

des  Immerdar  8o§,  d-  h-  der  Zeit  ohne  Ende,  welches  dem  ^^ 
d.  i.  dem  metaphysischen  Begriff  der  Ewigkeit  gegenübersieht,  gesellt 
sich  den  Verstorbenen  als  Nehebkaschlange,  d.  h.  als  seinesgleichen 

zu.     Darum  heisst  es    auch  Todtenb.   17,  61  '  8  ^^^s^  ^ ^?®8 

QAfv  I  JjU^jlj^  Unzerstörbar  ist  er  auf  immer  gleich  der  Nehebka- 
schlange. Nach  Todtenbuch  1 49,  3  trügt  sie  die  Krone  des  Tum, 
des  Uranfönglichen.  In  Herakleopolis  wurde  sie  in  einem  eigenen 
Tempel  verehrt. 

Den  Lichtgeistern  folgen  nun  die  beiden  andern  Anubisgestallen, 
von  denen  wir  oben  geredet  haben. 

Vorderstück  C,  Abth.  4,  rechts  schreitet  Anubis  in  seiner  gött- 
lichen Halle,   schakalköpfig  mit  dem  Scepter  in  der  linken  und  dem 

■?•  in  der  rechten  Hand  dem  Texte  voran. 

1.  Es  spricht  Anubis  in  der  göttlichen  Halle.  2.  0 
Osiris  Ha(bastru  3.  triumphirender.  Ich  bin  zu  Dir  ge- 
kommen und  stehe  4.  zu  Deinem  Schutze  bereit.  Ich 
mache  gesund  Dein  5.  Fleisch  Ich  bringe  für  Dich  in  Ordnung 
Deine  Glieder  6.  und  ich  füge  für  Dich  zusammen  Deine 
Knochen.  7.  Ich  recke  für  Dich  aus  Deine  Gefässe  (Nerven 
und  Adern)  und  ich  strecke  8.  für  Dich  aus  Deine  iMuskeln. 
Ich    verleihe   Dir  9.  dass    Du    bist  wie   ein  Gott  10.  welcher 


Die  Schlange  aber^  welche  nicht  altern  soll,  und  ohne  Glieder  leichthin- 
gleitend sich  bewegt,  vergleichen  sie  dem  Sterne.  Dies  ist  richtig,  denn  wie  Sob, 
der  Gatte  der  Nut,  dem  die  Nehebkaschlange  gleichgesetzt  wird,  heisst  auch  der 
Stern  ic  —  seb.  Nach  HorapoUo  ed.  Leemans.  I^  I  und  2  bedeutet  die  Schlange 
welche  den  Schwanz  mit  dem  übrigen  Körper  bedeckt,  die  schrankenlose,  ewige 
Zeit  aicbva.  Seb  ist  den  Griechen  Kronos  und  wird  von  Lepsius^  Ghronol.  I, 
V.  94    für  die  Sternenzeit  gehalten.     Gewöhnlich  ist  er  der  Erdgott.     Die  Materie 

ist  den  Aegyptern   ewig,    und  so   wird   auch  in    a^   das   Bild   der  Schlange  und 

Erde  benutzt,  um  den  BegrilT  der  Ewigkeit  zur  Anschauung  zu  bringen.  Das 
grosse  Todtenfest  in  Theben  ist  nach  unserer ,  ein  ewiges  Leben  symbolisirenden 
Schlange  benannt  worden.  Ihr  Name  bedeutet  »Anschirren  des  Stieres«,  doch 
wohl  mit  Bezug  auf  die  erneute  Th'atigkeit  der  Natur,  welche  gleichsam  durch 
den  ersten  Schnitt  des  Pfluges  in  den  Acker  inaugurirt  wird.  Vielleicht  ist  das 
Nehebkafesi  nicht  nach  ihr,  sondern  sie  nach  ihm  benannt  worden. 


45]  Der  geschnitzte  Holzsakg  des  Qaibastrl*.  245 

ewiglich  lebt  und  beständige  Daner  besitzt  H.  im  Hanse 
des  Herren  der  weissen  Krone. 

Vorderstück  B,  links,  Abth.  4.  Anubis,  der  sich  oben  auf 
seinem  Berge  befindet  (n  ^^'^  j  schakaiköptig  mit  dem  Scepter 

in  der  rechten  und  dem  •¥•  in  der  linken  Hand  geht  dem  Texte 
voran. 

1.  Es  spricht  Anubis,  der  sich  oben  auf  seinem  Berge 
befindet:  O  Osiris  2.  Hatbastru  triumphirender.  3.  Ich  bin 
gekommen  und  bin  4.  zu  Deinem  Schutze  bereit.  Ich  pflege 
gesund^)  5.  Dein  Fleisch  und  leite  6.  Deine  Muskeln.  Ist  die 
Aufrichtung  erfolgt  (wenn  Du  in  Ordnung  gebracht  bist), 
7.  so  erblickst  Du  die  Glieder  eines  Gottes  8.  und  Du  be- 
gibst Dich  zu  der  reinen  Sldtte,  9.  an  der  Du  gerne  ver- 
weilst. 10.  Wenn  Du  das  Gestell  betreten  hast  Deines 
11.  heimischen  Gottes,  so  12.  jubelt  jeder  Gott,  welcher 
bei  Dir  ist. ^') 

Osiris  wird  als  derjenige  bezeichnet,  welcher  auf  der  Spilze 
der  Stufenleiter  oder  des  Gestelles  steht.    Todtenb.  22,  2  heisst  Osiris 

der  Herr  von  Keset  ^_^  ^  V  ^  »^  ® '  ®  ö  «^  ^^"^  deijemge, 
welcher  sich  oben  auf  der  Stufenleiter  befindet.  Diese  Stufenleiter 
bezieht  sich  vielleicht  auf  die  gesammte  Ordnung  der  Dinge.  Zu 
iVledinet-Habu  bringen  (beim  Fest  der  Stufenleiter  (x^O)  die  Stiegen 
derselben  die  Mondphasen  zur  Anschauung.  Sonst  stellt  die  Treppe 
auch  nur  das  Piedestal  und  die  Trage  dar,  auf  welcher  das  Bild 
der  Gottheit  stand.     Bei  Processionen  wurden  diese  Bilder  entweder 


86)     I  Ti  sute;(  Pap.  Ebers  44,    H    Pflegen,    gesund  pflegen,  gewöhnlich 

I         j   setu^  geschrieben.     Man  könnle  auch  an  kneleo  und  festkneten  denken, 

die  Causativform    von  (|      ^ ,    das   bei    knetenden    Männern    im   Grabe    des    Oi 
steht.     Brugsch,   Wörlerb.  S.   4  67. 


87)  Bei  der  fortwährenden  Verwechselung  von  ^^3^  und  v^ *  darf  auch  hier 

das  "«^37  für  v.^^  gehalten  werden.  Sonst  müsste  hier  »in  der  Barke  des  Herma 
übersetzt  werden.  Aber  dies  »Herr«  ohne  Determinirung  würde  Ungewöhn- 
Hch  sein. 


246  Geoug  Eqrbs^  [*6 

auf  einem  standartenartigen  Gestell  oder  auf  einem  tragbaren  Tische 
umhergefuhrt.  Darum  heisst  es  Todtenb.  128,  7 — 8  von  dem  Ver- 
storbenen, der  über  seine  Feinde  gesiegt  und  vor  dem  Neungötter- 
kreise triumphirt  hat:    nillQj^^^^       ^I^'''^'^^    ' 


y^  1^  0  Osiris,  Du  hast   empfangen  Dein  Scepter;    Dein  Stan- 

dartengestell  und  Deine  Stufenleiter  sind  unter  Dir.  —  Das  heisst: 
Nachdem  Du  das  Attribut  der  götllicheo  Würde  gewonnen  hast, 
stehst  Du  wie  ein  Götterbild  auf  dem  Standartengestell  und  der 
Stufenleiter.  Osiris  Hatbastru  wird,  nachdem  er  triumphirt  und 
die  Befähigung  erlangt  hat  jede  beliebige  Gestalt  anzunehmen 
auf  den  Platz  seines  heimischen  Gottes  gestellt, ^^)  und  die 
anderen  Himmlischen,  welche  ihn  dort  erblicken,  jubeln  ihm  zu.  Der 
Gott  hat  gewissermassen  sein  Examen  bestanden.  Dies  verlief  im 
Orient  von  den  ältesten  Tagen  an  bis  heute  anders  wie  bei  uns. 
Der  Schüler  oder  Rechtskandidat  wird  unter  die  Lehrer  oder  Richter 
aufgenommen,  sobald  er  es  gewagt  hat  den  Platz  eines  Lehrenden 
oder  Richters  einzunehmen  und  seine  erste  selbständige  Leistung 
durch  Zuruf  gebilligt  worden  ist.®*)  Mit  der  Acciamation  der  Götter 
bei'm  Anblick  des  triumphirenden  Verstorbenen  wird  diesem  zugleich 
die  Aufnahme  unter  sie  als  einem  der  Ihren  bewilligt. 

Vorderstück  C,  rechts,  Abth.  5  und  Vorderstück  B,  links,  Abth.  5 

stehen  die  Göttinnen  Jj    Net     (Neith)     und     M^^^^^cl}    einander 

gegenüber.  Der  Name,  welcher  bei'm  Vorderstück  C,  rechts  5  über 
der  dem  Texte  vorangehenden  Göttin   steht  —  sie  hält  das  Scepter 

in  der  Linken   und   das  -?-  in  der  Rechten  —  könnte  auch  für  den 

der   Maä  gehalten   werden ,   doch   gehören   auf  diesen  Texten ,   wie 


88]    In   der  merkwürdigen  Selbstapologie   des  Verstorbenen,   wie  sie  auf  den 
Buiaqer  Sorgen  des  Panehemisis  und  Horemheb  Yorkommt  sagt,  der  Verstorbene: 

1  "^^^^  / ®  ^^  ^v    ^::r:^  T  *  ^  ' ^HTff    ^      Es  geschieht  Dir  Gutes  ia 


Deiner  Stadt  und  Du  hörst  göttliche  Lobpreisungen  in  Deinem  Nomos.  v.  Bergmann 
a.  a.  0.  S.  'ii.  Es  wird  also  dem  Verstorbenen  begegnet  wie  dem  heimischen 
Gotte. 

89)   So  steigen  heute  noch  in    der  Universitätsmoschee  el-Azhar  zu  Kairo  die 
Lernenden  zu  den  Lehrenden  auf. 


47]  Der  geschnitzte  Holzsabg  des  Qatbastru.  247 

auch  auf  den  Kanopcn,  nicht  Maä  und  Selq  sondern  Neith  und  Sciq 
regelmässig  zusammen,  und  wir  haben  es  hier  also  mit  der  Neith 
zu  thuD,  zumal  diese  Göttin  auch  hier  die  ihr  zukommende  mutter- 
liche Stellung  einnimmt. 

Der  Text  Vorderstuck  C,  rechts,  Abth.  5  lautet  also: 
1.  Es  spricht  Neith:  0  Osiris  2.  Hat^bastru.  Sei  ge- 
grUsst  im  3.  Gemach  Deiner  Mutter.  Möge  Licht  spenden 
i.  Su  im  Innern  5.  Deines  Sarges.  Ich  bin  fUr  Deinen 
Schlitz  thätig  6.  so  wie  Rä,  indem  ich  Schirm  verleihe 
7.  gleich  dem  grossen  Gotte.  Es  eröffnet  Dir  8.  &p-ua-t 
(Anubis  der  Wegeröffner)  die  Wege  der  Reinheit.  9.  Voll- 
getrunken (^®  tei)  ist  Dein  Ohr  und  Dein  Vordertheil  mit 
Rauchwerk  10.  und  Dein  Hintertheil  mit  Reinigungssalz. 
Es  bieten  sich  (Deinen)  Blicken  11.  dar  die  Götter  auf 
ihrem  Wege  ewiglich. 

Vorderseite  B,  links,  Abth.  5.  Selq  mit  dem  Scepter  in  der 
Rechten  und  dem  -^   in  der  Linken. 

1.  Es  spricht  Selq.  0  Osiris  2.  Hafbastru.  Ich  stehe 
zu  Deinem  3.  Schutze  bereit.  Ich  gebe  Odem  4.  Deiner 
Nase  und  den  Hauch  des  (Lebens),  welcher  hervor  5.  geht 
von  Tum.  Ich  6.  mache  weit  Deine  Kehle,  und  wenn  7.  die 
Verklarung  vollbracht  ist  und  die  Vereinigung  mit  8.  dem 
Leben,  siehst  Du  die  9.  Schönheit  der  Sonnenscheibe  und 
wie  sich  aufrichten  10.  die  Uräusschlangen,  die  lebenden 
11.  und  Du  machst  Deine  Rundfahrt  an  der  Himmelshöhe 
alle  Tage  ewiglich. 

Der  Göttin  Selq  liegt  es  ob  die  erstarrte  Kehle  des  Verstor- 
benen weit  zu  machen.     Zu  welchem  Zwecke   lehrt  ein  kleiner  die 

Göttin    3^^   begleitender  Text  auf  dem  Sarkophags  des  Pane]^em- 


isis, ««)  in  dem  es  heisst    ^^J^^^^nn^I^'D    Ich   öffne 

(sereq)  Deine  Kehle,  um  zu  sprechen  (ut)  über  Dich  (in  Bezug  auf 
Dich  —  zu  Deinen  Gunsten).  Bei  der  hohen  Bedeutung,  welche 
die  Rede  und  das  rechte  Wort  für  den  Verstorbenen  in  der  Unter- 


90)  V.  Bergmann  a.  a.  0.  S.   4  9,  §  32 


248  Geokg  Ebbr8^  [48 

weit   hat,    inussle    einer   Gotlheil    die   Herstellung   des    Sprachorgans 
anvertraut  werden. 

Vorderstück  C,  rechts  und  B,  links,  Abschn.  6  finden  sich 
Schlusssätze,  an  deren  Spitze  das  Bild  einer  Gottheit  fehlt.  Der 
Verstorbene  ist  nun  selbst  Osiris  und  endlich  auch  Rä  wird  als 
solcher  redend  eingetllhrt. 

Vorderstück  C,  rechts,  Abth.  6. 

1.  Es  spricht  der  üsiris  Hat  2.  bastru,  Sohn  des  Pe&ef 
(sehen?) ,  Kind  3.  der  Hausfrau  Tasäj^epr,  der  triumphirenden. 
4.  0  Du  Fresser  seines  Armes  auf  5.  seinem  Wege.  Ich  bin 
Rä  und  trete  hervor  6.  aus  dem  Horizont  gegen  meinen 
Feind,  für  den  es  keine  7.  Rettung  gibt  vor  mir.  Ich 
strecke  aus  8.  als  Herr  des  UrHusdiadems  die  Hand  9.  ich 
brauche  frei  meine  Beine  10.  und  frei  beweglich  ist  mein 
Arm.  Ich  lasse  11.  den  Feind  der  Wahrheit  zu  Boden 
stürzen  unter  12.  mich  ewig  und  immer. 

Die  undeutlichsten  Stellen  dieses  Abschnittes  lassen  sich  nach 
dem  Todtenbuche  wiederherstellen.  Zeile  4  muss  es,  und  so  haben 
wir  denn  auch  ilen  schwer  lesbaren  Text  ergänzt,  nach  Todtenbuch 


11,  1    heissen    (j^^'^  ^  S<=>  (^^^''^)^^k^    ®^- 
Überhaupt  entspricht  dieser  Abschnitt  im  Ganzen   dem  11.  Kap.  des 


Todtenbuches.  *•)       Statt     unseres     ^  wi  * —          -^^j«         ^         ? 


N>lsNsf>, 


heisst   es   besser   und    verständlicher  Todtenb.    11,   2    -^«   \^ 

^  ^v  ^=c=:7  <c=>  ci  /jf     ich    strecke    aus    meine    Hand    als    Herr    des 

Uräusdiadems.  Das  will  sagen:  Ich  kann  meine  Hand  mit  könig- 
licher Macht  ausstrecken  sobald  ich  mit  dem  Uräusdiadem  gekrönt 
und    dadurch    eine     göttliche   Persönlichkeit    geworden    bin.      »Der 

Fresser   seines  Armes  auf  seinem  Wege«   ist  der  Gott   ^pc^  X^™- 

Dieser  pflegt  in  aufgerichteter  Stellung  und  ithyphall  gebildet  zu 
werden.     Er   trägt   eine    hohe    Doppelfeder   auf  dem  Kopfe  und  ein 


91        I     <;^>  <z>  »c-cw.  *^  I  Kapitel  Vom  Hervortreten  eefien 


seine  Feiode  aus  der  Unterwelt. 


49J  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastru.  249 

Schild  auf  der  Brust.  Sein  Körper  ist  muniienförmig  umwickelt  und 
zwar  so,  dass  der  rechte  Arm,  über  dem  die  Geissei  schwebt,  frei 
beweglich,  sich  wie  der  eines  Säemannes  erhebt,  der  linke  aber  von 
den  Binden  fest  eingeschnürt  ist.  Diese  ithyphalle  Gottheit  wird 
übrigens  auch  mit  dem  Monde  in  Verbindung  gebracht  und  stellt 
die  ewige  Werdekraft  dar,  welche  den  Tod  überlebt  und  der  Natur 
wie  der  menschlichen  Seele,  welche  dem  Tode  erlesen  zu  sein 
scheinen,  zu  neuem  Leben  verhilft. ^^)  In  dieser  Auffassung  wird 
lexn  wie  Amon,  für  den  er  überhaupt  häufig  eintritt,  der  Gemahl  seiner 
Mutter  genannt.  D.  h.  er  ist  derjenige,  welcher  den  beseelten  Stoff, 
aus  dem  er  selbst  hervorgegangen  ist,  zu  immerwährenden  Neubildungen 
zwingt.  Die  nicht  fortzuleugnende  Starrheit  des  Todes,  welche  er 
in  neue  Beweglichkeit  umwandelt,  wird  durch  den  in  Binden  ein- 
geschnürten einen  Arm  symbolisirt.  Auch  des  Verstorbenen  Hand 
w^ar  regungslos,   aber  in  Folge   der  Neugeburt    und  Apotheose  wird 


die  umwickelte  Gestalt  f  ^^.»^^X'^kSkküi 
mächtig  gegen  ihre  Binden  unter  den  Verklärten.  Dann  heisst  es 
Todtenbuch  46,  2  weiter:  und  gegeben  ist  es  mir  nun,^  dass  ich 
ausstrecke  meine  Hand. ^)  Todtenb.  17,  12  wird  -/em  geradezu 
Horus,  der  Rächer  seines  Vaters  Osiris,  genannt,  d.  h.  derjenige, 
welcher  den  scheinbar  Verstorbenen  seinen  Feinden  zum  Trotz  zu 
neuem'  Leben  verhilft.  Am  mondlosen  Tage  ist  Osiris-Lunus  ver- 
storben und  in  Starrheit  verfallen.  Bei'm  Treppenfeste  zu  Medinet 
Habu  ist  es  /em,  welcher  auch  ihm  zur  Auferstehung  verhilft. 

Vorderstttck  B,  links.  Entsprechend  denj  Texte  Vorderstück  C, 
rechts   enthält   auch   dieser  nur  Worte   des  Osiris   gewordenen  Hat- 

bastru. 

1.  Es  spricht  Osiris  Qa^bastru.  2.  Kind  der  (Haus)- 
herrin  Tasa^^eprau.  Es  ist  mir  3.  in  Ordnung  gebracht 
worden   mein    Hinterkopf  im    Himmel    4.   und   auf  Erden^^) 


9t)  Todtenb.     U9,     3.     ^  FM  A     ^     U    I  -^  -^^  ^      ^^^    baut 
neu  auf  den  Gonius  (oder  das  Abbild)   des  Osiris  und  seine  Seele. 

9t) 

AbhADdl.  d.  k.  S.  Oesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  48 


250  (Jkoiu;  Kbkks,  '»o 

durch  Rä,  am  Tage,  an  welchem  5.  festgestellt  wird  die 
Stutze  für  denjenigen,  welcher  schwach  ist  6.  auf  den 
Beinen  und  (an  dem)  man  abschneidet  7.  den  Bart.  Es 
ward  erhoben  8.  die  Stutze  (Standarte)  durch  Tehuti  und 
die  Neunzahl  9.  der  Götter.  Er  ist  reich  10.  indem  man 
ihm  Opfergaben  zuertheilt,  11.  nicht-*'')  begegnet  Wider- 
stand auf  12.  Iilrden  dem  Üsiris  Hatbastru. 

•     • 

Dieser  Abschnitt    entspricht   dem   50.  Kap.   des  Todlenb.     Stall 
d««    SSfl^W    hat  dieses    |^  J^  Ij  ^  (|  3  ®  1   f"r 

iP^^-^^  -  iP>l^!^^i-  »-  Gruppe  ^^^13, 
ist    mir    hier   zum    ersten  Male    begegnet.      Vielleicht    darf    sie    mit 


^         ,^  "^  zusammen   gebracht  werden,    was    Brugsch 

Haar  übersetzt.  Haar  muss  hier  freihch,  wie  schon  das  Determina- 
tivum  "jj^    lehrt,  gemeint  sein,   aber  kaum    das  Haupt-  sondern   das 

Barthaar.       Unser     Iq!^'^.  "CCl     ^^^    ^^^^    ^^'*^    '^^    ^^^'^    ^'^■^'    "^'* 

In.?     sat  der  Schwanz    verwandt;    den    Bart    als   »Schwanz  des 

Mundes«  zu  denken,  lag  nahe.     In  der  Pianj^i  Stele  Z.  5  heisst  es: 

Schliessung  gegen  Herakleopolis,  und  er  hat  es  gemacht  zum  Bart 
an  seinem  Munde.  Diese  »Redensartc(  bedeutet  anschaulich  genug: 
Er  hat  es  völlig  abhängig  von  seinem  Gutdünken  gemacht.    Brugsch, 

welcher  [1  \j     für   Schwanz   hält,    übersetzt:   »Ihr    Schwanz    ist    in 


ihrem  Rachen».     Wenn  Osiris  zu  Dendera    *»-*>        ^  genannt  wird, 

so  heisst  das  nicht  der  »Haartragende«,  sondern  derjenige,  welcher 
einen  Bart  trägt,  der  Bartige,  und  die  Osirisgestalten  werden  ja  stets 

bärtig  gebildet.  Im  Koptischen  hat  sich  fUr  cjt  nur  die  Bedeutung 
»Schwanz«  erhalten.  Im  Todtenbuche  entspricht  unserem  Iq'^^w^ 
die  Gruppe      '^  "^ji^  i    und   diese   kann    kaum    etwas    anderes    be- 


95)   Hier  ist  sicher  ^jl^  einzufügen,   da  es  an  der  entsprechenden  Stelle  des 

®       W 


Todtenbuches  50,   3  heisst:    .^^u*    ^7    /wwvs 

/www  I     I     I 


^^\  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastru.  251 

deuten  als  das  (Haar),  welches  sich  am  Antlilz  beündet.  Es  ist 
hier  also  nicht,  wie  Pierret  will,  vom  Abschneiden  der  Köpfe,  sondern 
vom  Scheeren  des  Bartes  die  Rede.  Nach  der  Apotheose  soll  wol 
dem  Osiris  statt  des  unreinen  irdischen  ein  göttlicher  Bart  wachsen. 
Es  war  überhaupt  etwas  Eigenes  um  die  aegyptischen  Barte.  Wo 
Pharaonen  oder  Götter  mit  solchen  gebildet  werden,  haben  sie  ein 
befremdliches  Ansehen.  Sie  können  so  nie  und  nimmer  natürlich 
gewachsen,  sondern  müssen  an  das  Kinn  gesetzt  worden  sein. 
Schnurrbarte  kommen  nur  in  ganz  früher  Zeit  vor.  So  auf  den 
berühmten  geschnitzten  Brettern  aus  Saqqara,  welche  zu  Bulaq  con- 
servirt  werden.  Der  natürlich  gewachsene  Bart  war  eines  der 
wesentlichsten  Merkmale,  durch  welches  die  aegyptischen  Künstler 
die  Semiten  von  ihren  Landsleuten  unterschieden.  Wer  rein  sein 
wollte,  hatte  für  die  Scheerung  des  Bartes  zu  sorgen.  Aus  dem 
weiteren  Verlaufe  des  Textes  des  50.  Kapitels  ersehen  wir  nur 
noch,     —     und     dies     ist    schon    in    der    Anmerkung     angedeutet 

worden  —  dass  in  die  sinnentstellende  Lücke  Zeile  11  über  m 
ein  ^JL*  einzufügen  ist. 

Schulterstück  E,  rechts. 

1.  Es  spricht  der  Osiris,  der  königliche  Anverwandte 
Ha(bastru.  2.  Sei  gegrüssti  Wenn  Du  aufgehst'-^)  als  Rä,  so 
bist  Du  eine  herrliche  Gestalt.  3.  Wenn  Du  hervortrittst 
am  Horizont,  erleuchtest  Du  die  Welt  mit  Deinem  Glänze. 
Ich  bin  zu  Dir  gesellt  und  schaue  &.  Deine  Schönheit. 
Gib  Du,  dass  ich  versehen  werde  mit  Leben^')  im  lenseits 
und  neige  Du  Dich  zu  mir  mit  Deinem    schönen  Angesicht. 

Derjenige,  welchen  der  Verstorbene  anredet,  ist  Rä. 


96)  nS^  J(  üben.     Diese   seltsame  Schreibung   der   bekannten   Gruppe 

hat  uns  schon  bei  der  Bestimmung  der  Herstellungszeit  unseres  Sariwophages  Dienste 
geleistet.  ^^  für  ^  ist  uns  ausser  in  der  Ptolemäerzeit  nur  noch  in  Texten 
von  durchgängig  änigmatischer  Natur  in  den  KÖnigsgrlibern  begegnet. 

muss   doch  wol  nr  gelesen    werden.      Sowohl    der    Sinn 

als  auch  die  ComplemeDte  sprechen  dafür. 

18» 


252  ÜEORti  Ebers,  [52 

Schulterstück  D,  links. 

1.  Es  spricht  Osiris  Hathastru.  Sei  gegrüsst.  2.  Der 
da  untergeht  im  Lande  des  Lebens,  Tum,  Vater  der  Götter; 
wenn  Du  Dich  vereinst  3.  mit  Deiner  iMutter  im  Lande  des 
Lebens,  gieb  Du  mir  den  4.  süssen  Hauch  des  Lebens  und 
dass  ich  schaue  Deine  Schönheit,  ich  Ha^bastru. 

Die  Seitenstücke  links  und  rechts  gehören  so  zusammen,  dass  auT 
das  Seitenstück  F  das  Rückenstück  H  und  diesem  das  Seitenstück  G 
folgt  Diese  Texte  enthalten  das  127.  und  126.  Kap.  des  Todten- 
buches;  das  letztere  in  absonderlicher  Ordnung  und  stellenweise 
recht  corrumpirl. 

iMit  dem  127.  Kap.  beginnt  auch  die  grosse  Selbstapologie, 
welche  in  der  Ptolem^erzeit  als  »Muster  und  Meisterstück«  gegolten 
zu  haben  scheint.^*)  Sie  kommt  auf  den  Sarkophagen  des  Hör  eni 
beb  zu  Bulaq  und  dem  des  Panehemisis  zu  Wien  vor,  welche  beide 
unter  den  Lagiden  hergestellt  worden  sind.^)  Leider  enthält  diese 
(Komposition  von  den  12  Zeilen  des  127.  Kap.  nur  6,  aber  diese 
leisten  bei  der  Herstellung  und  Übersetzung  unseres  Texles  gute 
Dienste.  Die  interessante  Selbslapologie  findet  sich  nicht  auf  dem 
Leipziger  Sarkophage. 

Seilenstück  F,  links.     127.   Kap.  des  Todtenbuches.*«») 
1.  Es  spricht   der  königliche   Anverwandte  Ha^bastru, 
Sohn  des  würdig  Befundenen  bei   dem  grossen  Gotte  Peöef 
(sehen?),   Kind    der  Herrin   des  Hauses,  welche  würdig  be- 
funden  ist   bei  den  Göttern,  Tasä/^pr  der  triumphirenden: 


98)  V.  Bergmann.      Sarkophag  des  Panehemisis.     S.   25. 

99)  V.  Bergmann.  Sitzungsberichte  d.  k.  k.  Akad.  der  Wissenschaften  zu 
Wien  4  876.  Bd.  82.  S.  74.  Später  mit  Vergleichung  des  Bulaqer  Hör  em  heb- 
Sarkophages  noch  ein  Mal  weit  vorzüglicher  publicirt  und  übersetzt  in  dem  oben 
angeführten  Werke. 

100)   Die  Überschrift    dieses   Kapitels    fehlt   auf   dem  Sarkophage.     Sie  lautet: 


"^T^-KMin^^^^fT^-s 


oo 


^    I       '     ^        .M^^   11   1^  \\  nr-n  Kf=:.{^  Bi^  \     ^    k^^  MI  Ml 

ca    SN      0      /  /wwvN      o 

Ljr  Das  Buch  vom  Lobpreisen  der  Götter  der  beiden  Qerti. 

Zu  sprechen  von  der  Person   (für  welche  der  Papyrus  bestimmt  ist)   wenn  sie  zu 
ihnen  gelangt  ist,  um  diesen  Gott  in  der  Unterwelt  zu  sehen. 


^^]  Drr  geschnitzte  Holzsarg  des  Qatbastrd.  253 

Seid  gegrüssl  Ihr  Götter  der  beiden  Sphären,  welche  in  der 
Unterwelt  sind.'®')  Seid  gegrüsst  IhrWächter  derThore,  2.  der 

Unierwelt,  die  Ihr  beschützt  (Todtenb.  A§^    ^   )^®^)  diesen 

Gott  und  heraufbringet  die  Botschaft  vor  Osiris.  Gebet*®^) 
Euere  Lobpreisungen  und  vernichtet  die  Feinde  des  Pe&ef 
(schen?).'^)  Verbreitet  Licht  und  zerstreuet'®^)  die  Finster- 
niss,  dass  Ihr  schauet  die  Herrlichkeit  3.  Eueres  Fürsten.'®^) 
Ihr  lebet,  so  wie  er  lebt,  Ihr  rufet  an  denjenigen,  welcher  in 
seiner  Sonnenscheibe  weilt.  Führet  auch  mich  auf  Eueren 
Weg,'®')    damit   meine   Seele    eingehe    in    Euer    geheimniss- 


götll.   Wächter,  grosse  Fürsten,   die  heraufbringen  die  Meldung. 

103)   Stau     -     n  soüte    in    unserem    Textß  A fl    stehen.      Das   Todtenb.    hat 

A  AA^/vxA ,   Panehemisis  ebenso:  A    Q       sepet    tn    Haltet    Euch     gerüstet    (zu 

preisen) . 

f04)  Hier  steht  merkwürdiger  und  interessanter  Weise  der  Name  des  Pe&ef 
(sen?),  d.  h.  des  Vaters  der  Verstorbenen,  welcher  vor  diesem  Eins  mit  Rä  ge- 
worden ist  für  Rä.    Das  Todtenb.  hat  an  SteJle  von  w    Cjj   —  0 

PanehiMi'i'^is      }J^    d.   h.  des  Rä. 

*    105)   Todtenb.:      1?     ^^     j^er  seklen.    Es  muss  also  in  unserem  Texte 

statt  X  —  Q     heissen.        Panehemisis     hat:     Erleuchtet    die    Wege,      und     dann 

—m —  m         n 

; — *    zerstreuet,     sers  ist  tgiuA  diripere,  auferre.     Brugsch  wei.st  auch 
auf  ygoAc  praeda. 

106)  Das  Todtenbuch  hat  ^"^W^^/^,  PanehenÜMs  '  V  ll  Jl  Ik 
t  D  I  4;  m  ^^^  Herrlichkeiten  des  Osiris,  dieses  Eueres  Fürsten,  gleich  einem 
Könige. 

107)  Todtenbuch  /vwnaa  .  Darnach  das  wvwv  unseres  Textes  in  ^^^^ 
zu  verwandeln. 


254  Georg  Ebers,  [^4 

volles  LandJ^*^)  (Ich  bin  Eliner  von  Euch.)*^)  Ich  schlage 
VVunden^*^')  der  Apepschlange;  ^^M  ihr  aber  zerstöret**^)  das 
Böse  in  4.  der  Unierwelt.  Dein  Wort  ist  das  rechte"^)  gegen 
Deine  Feinde,  grosser  Gott,  der  in  seiner  Sonnenscheibe 
weilt.'**)  Du  sprichst  das  rechte  Wort  (Du  triumphirst^ 
gegen  Deine  Feinde,  o  Osiris,  der  Du  weilest  im  Westen. 
Es  ist  Dein  Wort. 

Rückenstück  H.  1.  das  rechte  (Du  triumphirst)  gegen 
Deine  Feinde,  im  Himmel  und  auf  Erden,  o  Osiris  Hatbastru 
im  Süden,  Norden,  Westen  und  Osten.  Ich  bin  ein  Diener"^) 
des  Osiris,  des  grossen  Gottes  in  der  Unterwelt,^"*)  welcher 
Lohn  ertheilt  demjenigen,  welcher  vor  ihm  steht  im  Thale.**') 


4  08)   Todlenbuch  ^      /ww>a  .     Panehemisis     '^  h^  i  c^^=^o      jn     di 

verborgenen  Thore. 


409)   Todlenbuch  (1   ^\     /vww        Panehemisis 


Q 


A/VWNA 


HO)   Todlenbuch  utä  ^T"^  ,    Panehemisis     <=><^%^ ^ '""'^  "^ 

(1  ^    zu  schlagen  Wunden  der  (Apepschlange). 

1H)    Die  dem  Rä  feindliche  grosse  ly phonische  Schlange. 

H2)   Todlenbuch,     die    Gausati>form      H^     ^^   "^^^  /wwsa  .      Panehemisis 

Q  c=^>  J   S  ^-^    III  i  ^  ^ 

n  h   1^^=^     ft  um  unschädlich  zu  machen  den  Platz  der  Vergeltung 

der  (für  die)  Grossen  der  Unterwelt.     Den  Platz  der  Vergeltung  fassl  v.  Bergmann 
richtig  für  die  Stätte  der  höllischen  Strafen. 

4 1 3)  Auch    im    Todlenbuch    spricht  der  Verstorbene  in    der  2 .  Person.     Bei 
Panehemisis  thut    er's    in  der  ersten  (J  i  1  \|. 

t<4)  Panehemisis:    Ich   triuniphire   ^^  ^*^^  f]   ^or  dem  grossen  Gott  etc. 
4  \  5)   Panehemisis   g 

\  1 6)  Panehemisis  '^ir:^  >|<    U  ^  <:i    des  Herren  von  Abydos. 

\  \  7    Todlenbuch    / 1k    M  .     Panehemisis    0%   a^aaaa  . 


r 


^^]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Hatbastr».  255 

Er  triumphirt  urtler  den  Hauptgöttern. '*'*)  Als  grosser  Gott 
triumphirt  er  in  der  Unterwelt  2.  gleichwie  die  aufgehen- 
den Gestirne.*'"*)  Nicht  (fällt  anheim)**^)  seine  Seele  dem 
PVesser  der  Leiber  der  verdammten  Todten.  Die  Auf- 
steigenden sind  im  Verderben.'^')  Wir  sind  bewahrt  vor 
der  Vernichtung.  Es  triumphiren*^)  die  Seelen**^^)  aller 
edlen  Verklärten,  die  Diener  von  Tafeser,  an  der  Stätte 
des  Lebens  für  alle  SeeienJ'^^)  3.  Du,  der  Du  demjenigen 
gleichst,    welchen   Rä  lobpreist,**'^*)  Du,  der  Du  demjenigen 


H  8 1   Todtenbiich     Z%  / A         A   I  Jnl  i  ^^ 

I     A 


ilLU 


Panehemisis  PI|^^=a)^jm^f^ 

1  \  9)  Todleiibuch    Q  Q  1 J  P  J  «    Paoehemisis   0  (j  !J.  !j.  'S  •  •?■  •?••?■ 
itO)   Hier    hat     unser    Text    ;;;^    wo    das     Todtenbiich     und     Panehemisis 

1    [I^IX    ^^^^'^^     ^^  heisst  also  in  diesen  beiden  Texten:   Es  speit  Feuer  seine 

Seele  gegen  etc. 

\t\)  Todtenbuch    aww      ^^    Panehemisis  ^ö*    Roug^,   hier.  Todtenb. 

haben  v.  Bergmann    und  Brugsch   (Wörterb.)    richtig  erkannt.     Auf  unserem  Sar- 

kophag  ist  zu  ergänzen    I  8 D  *Tp '^'^^'^  J     fl  ^^  Panehemisis  hat  hier:         JT  J^ 

^Cfc^^  \j  )mih   I  ^^"    ^^  kommt  jeder  (wie  v.   Bergmann    passend  hinzu- 

fügt »ohne  Hinderniss«)   indem  ich  vernichte  die  Apepschlange  mit  Verderben. 

!22)   Hinter ^     vielleicht   |   zu  ergänzen.     Das    Todtenbuch  hat  (j  ( 


in 


,  Panehemisis     ^1^1  f  IV^VS^i'^^^IS    '"^^"'   '*^ 


Triumph  gewähren  den  Seelen  aller  vortrefflichen  Verklärten. 

123)    Auf    unserem  Sarkophag    fälschlich    ^^  l   für    Ä^    .     Wunderlich    ist 
die  Schreibung  von  men}(. 

vollkommenen  Diener  von  Tat'eser,   der  Stätte  des  Lebens  der  göttlichen  Seelen.  — 
Hier  hört  leider  der  Sarkophag  des  Panehemisis  auf  Dienste  zu  leisten. 

125)   Unser   Text    ist    in    dieser    Zeile    corrumpirt.     Statt    des      8—— -^   | 


256  Georg  Ebers,  [^^ 

gleichst,  welchen  Osiris  lobpreist,  geleite  den  Osiris  9at- 
bastra.  Erschliesset*^*)  die  Thore  (der  l)nterwelt)'27^  öffnel*^») 
seinen  Qert  (seine  Sphäre)*^)  für  ihn,  lasset  sein  Wort  das 
rechte  sein  gegen  seine  Feinde.  Da  reicht  uran  dar  die 
Speise  der  Unterweltsbewohner  und  macht  schön  zurechl 
i.  ihm  seinen  heiligen  Kopfschmuck,  welcher  zukonimt 
dem  Gotte,  der  in  der  Wohnung  der  Verborgenheit  weih. 
Siehe  eine  Nilschwelle  von  der  rechten  Art  ist  die  Seele*-**) 
eines  Verklärten.  Wohlthätig  und  gewaltig  ist  sie  an 
ihren  Händen.    Es  sagen    die  beiden  Beheb:  ^^^*)  Sehr  gross****-^) 


und      I  ^    I O  yI^    haben    andere   Texte    und    auch   das   Turiner    Todteobuch 


das    hier    zu  erwartende  " 


4  26)    Die  erste  Pers.   Pliir.    scheint   hier   irrthümlirh    zu  stehen    und    niuss  in 
die  zweite  verwandelt  werden.      Das  Turiner   Todlenbuch ,   das    von   Kouge   edirie 

hieratische  etc.   haben  statt  vielniehr     'wwva 

III  III 

Ml)   Nach  anderen  Papyrus  ergänzt.    Das  Turiner  Todtenbuch  hat    \\ic 

Uli    I    /VWS/VA  ^^ 

öl     ^    *,^ 

I 

128)   Nach  allen  mir  zu  Gebote  stehenden  Handschriften  muss  statt  des  sinn- 
losen ^  \J    —    \^m   gelesen  werden. 

4  29)   Statt  des  ubhchen     <zz>  ^ <=:>      \ 


<ir>  ^  steht  hier  <z:>  Y  .       Wir    schliessen    uns    an    Navilles 

'  <=>o  Ä 


geistreiche  Lrkräruiig  dieser  Gruppe  an.  La  Litanie  du  soleil.  Leipzig  1876.  S.  15 
und  IG.  Von  den  75  Formen  des  Rä  hat  jede  ihren  qert,  in  den  sie  eintreten 
und  verweilen,  und  den  sie  verlassen  kann.  Qert  ist  Hohle  und  Hülle  zugleich 
für  die  Geister,  und  man  darf  es  wol  mit  den  Zonen  oder  Sphären  der  Alexandriner 
vergleichen.  M.  s.  a.  Ebers.  Das  Alte  in  Kairo  etc.  S.  23.  Die  Kopfstütze  ist  ein 
ebenso  passendes  Determinativuni  für  diese  Ruhe-  und  Rückzugsstätte  der  Geister 
und  Götter  wie    (TTD  und  Q- 

130)  Statt     4^    steht  wieder  irrthünilich  ^^. 

131)  Unser  Text  hat    ""^^^^  1  I  '^  ^  ^  '     ^^^    Todtenbuch     <=>  §  §  ^  \\ 
Die  Lesung  rehehui  ist  hier  wol  die  richtige;   die  bärtigen  Determinativ- 


zeichen  sprechen  dafür.  Ed.  Meyer  hat  in  seinem  Seth-Typhoo  erwiesen,  dass 
wenn  die  Rehehui  auch  gewöhnlich  die  feindlichen  Brüder  Horus  und  Seth  sind, 
reheh  doch  auch  im  allgemeinen  einen  Zwilling  bedeutet.    Auch  Isis  und  Nephthy 


*^7]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  IIatrastri].  257 

ist  der  Osiris  Ha(baslru.  Sie  sind  enlzUckt  5.  über  ihn. 
Sie  lobpreisen^^^)  ihn  mit  ihren  beiden  Händen.  Sie  reichen 
ihm  das  Ihre  (was  ihnen  zu  geben  zukommt  oder  auch 
ihren  Schutz).'^*)  Nun  lebt  er,  und  es  tritt  der  Osiris  Hai- 
bastru  dort  feierlich  hervor*^)  als  lebende  Seele  des  Rä 
(am  Himmel).  So  wie  es  dort  für  ihn  vorgeschrieben  ist,*^) 
verwandelt  er  seine  Gestalt.  Er  Iriumphirt  unter  den 
Hauptgöttern.  Er  schreitet  fort  aus  dem  Lande  der  Tiefe 
so  wie  die  Seele  des  RäJ^^)  —  Der  Osiris  6.  IIa(bastru  der 
triumphirende,  der  sehr  fromme, *^^)  er  spricht.  Offen  steht 
mir  das  Thor^^J  des  Himmels,  der  Erde,  der  Tiefe,  und 
befriedigt  ist  darob  die  Seele  des  Osiris.  Wenn  ich  ihr 
Haus  durchschreite,  lobpreisten"^)  sie  bei  meinem  Anblick. 
Ja,  wo  ich  hingehe, *^^)    (bei  meinem  Eintritt)  erschallt  mein 


werden     <^^>  8      8  ^W  t^^    genannt.      Dümichen,    geogr.    Inschr.   I,   98,    8.     Von 

den  Mertischlangen   heisst  es  Todtenb.   37,    i   ü     |       '^'^'^'^  <3> R  8      c^r^JLJL'^ 

^/?n  J/r\    ^^'^    gegrüsst    Ihr    Zwillinge    (mit  Jn)    Ihr    beiden    Mertischlangen 

Schwestern. 

132)   Urui  aä   kann    Itaum    zu   rehehli    gehören,    denn    an  das   rehebui   des 
Todtenbuches  schliesst  sich  ein  Urtu  aälu  Usiri. 


ZU 

I   I   I 


4  33)   Statt   ^  sieht  ^. 

<34)   Vielleicht    auch  ^   zu   ergänzen   und  0  R  ^''^  t  ^^  oder  omjo  0 

lesen,  denn  es  heisst  im  Todtenb.  ^^  V  l  '^'^'^'^  Sie  verleihen  ihm  ihren  Schutz. 

I    I    i^L^^A  1 1    I    I 

135)  Todtenbuch  / ifc^   nr  I     ^      Hervortretend  als 

'  fl  jT      I       0      0      I     I   F==^ 

lebende  Seele  des  Rä  am  Himmel. 

136)  Todtenbuch    ö  ^^  ^%^^^^°^^<^  t|'    '    '    So   wie    es   ihm   vor- 
geschrieben ist  macht  er  seine  Umwandlungen. 

437)  Todteobuch  f  J  VZ*'kc^S^*  A.E1  ^^ll 

138)  x;37  ^    ®    ^1    Todtenbuch:   Osiris  auf  aiix  etc.    '^ 

139)  Ini  Todtenbuch   yc^ 
UO)    0  für 


141)      ij?  Der -Sinn  wird  durch  das  Todtenbuch  aufgeklärt.    Dort  heisst 


258  Georg  Ebers,  [58 

Lob,  und  wo  ich  hinausgehe  (^herrscht)  Liebe  zu  mir.  Ich 
bewege  mich  vorwärts."'^)  Nicht  ist  irgend  etwas  Böses 
(Seitenstück  G,  rechts)  an  mir,  dem  Osiris  Hatbastru  dem 
triumphirenden. 

Den  Schlusssatz,  welcher  auf  unserem  Sarge  bis  zur  Unleser- 
hchkeit  verwischt  ist,  glauben  wir  nach  dem  Todtenbuche**^)  so  er- 
gänzen zu  müssen :  n  <=>  v^J  np .    Die  beiden  letzten  Figuren 

W  ^    äri-ä   und   der  Name   des    Verstorbenen    sind  nicht  mehr  auf 

den  Rücken  des  Sargkastens  gegangen  und  darum  auf  das  Seiten- 
stück rechts  gesetzt  worden.  Um  ihre  Zusammengehörigkeit  mit  dem 
Texte  des  127.  Kapitels  des  Todtenbuches,  welchen  sie  zum  Ab- 
schluss  bringen,  anzudeuten,  lässt  man  sie  nach  der  gleichen  Richtung 
schauen   wie  die   Zeichen   des   Stückes,   zu   dem    sie  gehören.     Die 

dann  folgenden  Hieroglyphen  des  mit  ^'JTTt^  beginnenden 
neuen  126.  Kapitels  sehen  nach  rechts,  d.  h.  in  die  entgegengesetzte 
Richtung.     Dadurch  wird  der  Text 

Seitenstück  G,  rechts 
zu    dem    was    wir   retrograd    nennen ,    d.  h.    die    Zeilen    laufen  um- 
gekehrt fort,  als   man   nach   der  Stellung   der  Hieroglyphen  in- ihnen 
erwarten  sollte. 

Dieser  Abschnitt  enthält  ziemlich  den  ganzen  Inhalt  des  1 26. 
Kapitels  des  Todtenbuches,  indessen  sind  auf  dem  Mumienkasten  die 
einzelnen  Sätze  desselben  anders  geordnet  als  auf  dem  Papyrus,  auch 
fehlt  merkwürdiger  Weise  in  unserem  Texte  jede  Beziehung  auf  die 
vier  heiligen  Kynokephalos- Affen,  denen  gerade  dieses  Kapitel  im 
Todtenbuche  gewidmet  ist.  Hier  zeigt  die  Vignette,  welche  sich 
auch  in  älteren  guten  thebaischen  Texten  an  das  1 2ö.  Kapitel  schhesst. 


es:    """ — "  ^vÄöVnSn'^MJi  <^  ^  ^     .    Be»  meinem  Eingang 

erschallt  mein  Lob  und  bei  meinem  Ausgang  herrscht  Liebe  zu  mir. 

142)   Hier  beginnt  der   Text  unleserlich   zu    werden,   doch   glaub'    ich,    dass 

^  /www  A^WV\ 

entsprechend  dem    9 DJS  des  Todtenbuches  zusammengehört. 


U3)   Dieser  hat    ^.Y.^^!^* 


W      Jö   I 


S^]  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Patbastrv.  259 

den  Feuerpfuhl,  an  dessen  vier  Ecken  die  vier  Allen  hocken.  Sie 
werden  als  zwei  sich  anti|)odisch  gegenübersitzende  Paare  dargestellt. 
Bei  jedem  von  diesen  schaut  ein  Affe  den  andern  an.  Zwischen 
den  vier  Thieren  steigen  je  zwei  Flammen  auf.  Vor  dem  ganzen 
Bilde  steht  der  Verstorbene  und  erhebt  anbetend  die  Arme.  So 
ungewöhnlich  es  nun  wäre,  wenn  diese  Vignette  auf  unserem  Sarge 
Platz  gefunden  hatte,  so  befremdlich  muss  es  ersc^heinen,  dass 
hier   der    sonst    nirgends    fehlende    Anfang    imseres    Kapitels    völlig 

unberücksichtigt    bleibt.       Derselbe    lautet:    ^  A^ 

(Id^i    »ü  diese  vier  Uundskopfafl'en!«  Statt  dessen  hat  unser  Text, 

und  zwar  auf  der  vierten  Zeile,  nur  n^  I  I  i  ")  ^  '^''  ^'^' 
Götter.  Die  so  Angerufenen  werden  dann  gerade  so  charakterisirt 
wie  die  Affen  im  Todtenbuche;  doch  reicht  diese  (Jiarakterisirung 
nur  von  hemesu  die  Ihr  sitzet,  bis  äpt  Ihr,  die  Ihr  Schiedsrichter 
seid.  Das  schon  hier  zu  erwartende  maär  hnä  user  kommt  schon 
Zeile  3  in  ganz  anderer  Verbindung  vor.  Man  möchte  glauben,  die 
Vorlage  des  Holzschnitzers  sei  auf  Streifen  geschrieben  gewesen, 
welche  er  verwechselt  habe.  Der  Anfang  würde  gegeben  sein, 
ebenso  das  diesen  fortsetzende  Slück,  aber  bei  der  weiteren  An- 
knüpfung stösst  man  auf  Hindernisse. 

Unser  Text  lautet  also: 

Seitenstück  G,  rechts.  1.  Ich**^)  trete  ein  und  gehe  heraus 
aus  Roset.  Geh  voran**^)  und  komm!  Wir  beseitigen  Alles  was 
schlecht  ist  an  Dir,  und  löschen  aus  alles  Böse,  das  Dich  ver- 
letzt hat'^')  auf  Erden, '^^)  denn  wir  zerstören'^")   alles  Böse, 


144)  Das  G  als  Artikel  Wim  Vocativ,    (statt  JyK)   weist  auch    auf   die  späte 
finlstehungszeit  unseres  Sarges. 

145)  Der  Text  beginnt  Todtenbuch   136,   4  unten. 

446)   Todtenbuch    136,    5 


147)   Todtenbuch   <26,   5  ^ 

148) 


U9)   Todtenbuch   426,   5   (1^ 


I        I        I 


260  Gkorg  Ebers,  [60 

welches  Dir  anklebt,  o  TriumphiienderJ^)  Ihr*^*)  die  Ihr 
ohne  Trug  seid  und  denen  die  Sünde  ein  Gräuel  ist,  2.  ver- 
nichtet denn  auch  das  Böse,  welches  sich  an  mir  befindet 
und  löschet  aus  die  Unreinheit.  Ihr,  an  denen  keinerlei 
Makel  haftet,  gewähret  was  auch  immer  (mir  Noth  thut)*^^) 
im  Grabe, *^^)  dass  ich  eintrete  in  Roset  und  dass  ich 
durch  die  gcheimnissvollen  ^''^)  Thore  des  Westlandes 
schreite.*"^)        3.     Wohlan     so     gebet*"^^')      mir     nun      Opfer- 


150)  fehlt  in  der  parallelen  Stelle  des  Todtenbuches. 

4öO  Hier  springt  unser  Text  auf  Todtenbuch  126,  2  unten  über.  Die  An- 
gerufenen sind  im  Todtenbuch  die  vier  Hundskopfalfen,  in  unserem  Texte  3? 
Götter  an  der  Spitze  der  Sonnenbarke. 

162)   Todtenbuch   126,   3     f  J  ^^^  ^  zzzz  Q  ^  |    "^    •      ^^^     f  J 


vÄ     in  unserem  Texte  ist  gewiss  nur  diejenige  Gruppe,   in  welcher  Goodwin 

scharfsinnig  wie  immer  das  koptische  oywp  und  ^Siwp  quot,  quantus  wieder- 
erkannt hat.  Seine  Übersetzung  (Zeitschr.  1868,  S.  90)  »all  whatsoever^  quot  — 
quot  sunt  stimmt  auch  hier  vortrefdich.  Wir  wissen ,  dass  es  am  Ende  des 
Satzes  so  viel  wie  et  cetera  und  am  Schlüsse  von  Aufz'ählungen  auch  »und  der- 
gleichen«   oder    »so    viel   ihrer    sind«   bedeutet.     Im    Todtenbuche   wird  es  il,   3 

I     11  ^^^  geschrieben   (neben   ^-^  l   42,    11).     Der  von  Rouge  edirte  hiera- 

tische stimmt  hier  mit  dem  Turiner  Texte  zusammen. 

153)   Brugsch,  Wörterb.  übersetzt  (1  ^v    ß   Loch,   Höhlung,   auch  Grab. 

Es  muss  eine  grosse  unterirdische  Halle  gemeint  sein  ,  welche  in  der  Nähe  des 
Einganges  in  die  Unterwelt  gelegen  war.      Dafür  spricht  Papyr.  Bulaq  IH,    4,    16, 

wo    von   den  erquickenden    Nordwinden  in  der  {  / x   v\  ämhut,    welche 


bei  den  Thoren  der  ic  ^s.  ^  liegen,  gesprochen  wird.  Brugsch,  dict.  geogr. 
p.  37.  Auf  den  Serapeumstelen  ist  die  Rede  von  allen  Göttern^  Göttinnen,  die  in 
H  v\    8  (]  U  weilen.     Eine  Inschrift  des  Oasentempels  von  Charge  sagt :     Es 


Ödhet  sich  Dir  die  amhu   nach  Süden  zu.      T    jl  >5^  a/vwa  [1  a    0  >^  I 


Brugsch,   dict.  g^ogr.  S.   38. 


154)  Todtenbuch  126,    *  ^^^^"^O^^*^^^ 
1551    ^"^  ^ 


■^} 


A/WNAA 


ilt 


6']  U£R  GESCHNITZTE  HoLZSARG  DES  QaTBASTRU.  261 

kuchen,*^^)    Krüge    (Bierkrüge)    und   Backwerk*^)    gleichwie 
diesen  Verklärten  (den  übrigen  Verklärten). 

Von  hier  an  beginnt  sich  unser  Text  mit  Todtenbuch  126,  2 
zu    decken;   doch   gehört   zu   diesem   untrennbar    die    letzte    Gruppe 

von   1 26,  1    \/  ^  I .     Sie  ist  auf  unserem  Sarkophag   nachlässiger 
Weise  fortgefallen,    und   man    hat  darum    unbedingt  zwischen  '^^ 

und    ^ü  ^Q/}^   —    X^  w^i    zu  ergänzen.    Nachdem  diese  Emen- 

dation  erfolgt  ist,  können  wir  also  zu  übersetzen  fortfahren: 

Sie,  die  da  Schiedsrichter  sind  zwischen  den  Elenden 
und  Mächtigen,  mögen  sie  zur  Ruhe  bringen  die  Götter, 
welche  Flammenrachen  haben, *^^)  sobald  (x^ft)  ihnen  dar- 
gebracht^^) sind  alle*^^)  Blumengaben  und  Wasserspenden, 
sowie  die  Opfergaben  an  Rindern  und  Gänsen  der  Ver- 
klärten, 4.  welche  leben  von  Wahrheit  und  welche  sich 
speisen  mit  Wahrheit.^^) 

Nun  folgt  der  Anfang  des    126.  Kapitels  (126,  1)  in   der  oben 

angegebenen   Variation.      Statt  der   4  ^i    Hundskopfaffen 

werden  3  Götter  angerufen.     Es  heisst  auf   unserem  M umien käste n : 
0  ihr   3   Götter,    welche   sitzen   vorn  auf  der  Barke  des  Rä 


157)  Todtenbuch  ^%6,   i     9.  Das  Determinativ  des  Wasserbehälters 

in  unserem    Texte   muss    in  rs^  verwandefit  werden.     Der   Schreiber  scheint  an 
q22^3^=c  sens,    den   Namen    des    82.    (Zusatz-) Nomos   von   Unteraegypten  ge- 


dacht   oder    ihn    vielmehr    in    der    Feder    gehabt    zu    haben.  sind  ge- 

-n—  in 


wöhnUch    fiiericräge.      A.    d.    Stele   Ramses    I    im    Louvre    y       ^  vier 

A  O  H —  1 1 

Krüge  Bier. 

158)  Todtenbuch  126,   4  hat  nur:       9 


/www 


I 


a 


159)  Statt    rDrOfl'^^^^"    ^^^  Todtenbuch  126,   2   'IJJ^ [D  fP 


A/W/V/W 
<=>\l       I       I 


I  A n0 

160)    Statt    tX.     !  Todtenbuch  126,  2 


161)  <c:>    THooT  omnes. 
'   I   I    I         ^    * 

162)  Todtenbuch   126,   2   -^-^I^^R^- 


I  iczn fl 

I 
I 


262  Georg  Ebers^  Der  geschnitzte  Holzsarg  des  Hatbastru.  [6S 

und  hinaiifgelangen  lasset  die  Wahrheil  zum  Herrn  des 
Alls,  mag  mir  mein  Urtbeil  werden?^®^) 

Die  kleinen  Texte  am  FussstUck  sind  sehr  stark  beschädigt  und 
von  geringer  Bedeutung. 

Es  gibt  wenige  schöner  geschriebene  Texte  als  der  unsere;  aber 
leider  ist  er  im  höchsten  Grade  verderbt.  Dieser  Umstand  hat  uns 
verhindert  ihn  einer  genauen  Analyse  zu  unterziehen.  Obgleich  er 
auch  wenig  bedeutsames  Neues  enthält,  hat  er  uns  doch  Veran- 
lassung geboten,  manche  bemerkenswerthe,  eines  näheren  Eingehens 
würdige  und  noch  nicht  völlig  sicher  gestellte  Einzelheit  in's  Auge 
zu  fassen  und  den  Versuch  zu  wagen  sie  aufzuklären.  Darin 
pflichten  uns  alle  Aogyptologen  bei,  dass  wir  nie  genug  Texte  haben 
können ,  und  so  darf  denn  diese  Publication  schon  als  solche  auf 
eine  freundliche  Aufnahme  von  Seiten  der  Fachgenossen  rechnen. 


163)  Diese  Übersetzung  ist  gezwungen.  Ich  glaube  eher,  dass  die  erste 
Zeile  mit  ^11  ^^  y.  SA  auf  der  t.  fortfahren  sollte,  und  dass  sich  der  Ab- 
schreiber —  eine  Vermuthung,  welche  schon  oben  ausgesprochen  worden  ist  — 
in  der  Vorlage  vergriffen  hat. 


DER  i.eipzk;er  geschnitzte  holzsarg  des  hatbastru. 


VuUDKKANSlCilT  DES  DECKliLS. 


A.  J.  K. S.  Cri.  lt.  Hui.  lSS4. 


DER  LEIPZIGER  GESCHNITZTE  HOLZSARG 
DES  yATBASTRU. 


OBERER  THEIL  DES  DECKELS. 


DER  LEIPZIGER  GESCHNITZTE  HOLZSARG 
DES  yATBASTRU. 


FUSSTHEIL  DES  DECKELS. 


Mt.j.fr.  s.  c«. 


^ 


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TAF.  V. 


lOLZSARG  DES  HATBASTRU. 


Vorderstück  C. 


rechts. 


I^pxig*  Giesgcke  &>  Devrunt. 


DEK 


ABLAUT  DER  WÜRZELSILBEN 


IM  LITAUISCHEN 


VON 


AUGUST  LESKIEN 

MITGLIED  DER  KÖNI6L.  SACHS.  QKSELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


Abliandl.  d.  K.  8.  Gesellsch.  d.  WiR8(»ii8ch.  XXI.  49 


) 


Vorbemerkung. 

Die  folgende  Darstellung  der  litauischen  Ablautsreihen  hat  nicht 

den  Zweck,  eine  der  vorhandenen  Theorien  über  indogermanischen 

« 

Yocalismus  zu  stützen  oder  zu  bekämpfen,  sondern  war  ursprünglich 
nur  bestimmt,  mir  als  Hülfsmittel  bei  der  Behandlung  des  slavischen 
Yocalismus  zu  dienen.  Die  Sammlung,  der  anfänglich  das  Nessel- 
mann'sche  Wörterbuch  zu  Grunde  lag,  hat  sich  dann  durch  allmäh- 
liches Nachtragen  sonst  gefundenen  Materials  und  Aufnahme  des 
Lettischen  so  erweitert,  dass  sie,  vollständiger  als  die  bisherigen 
Zusammenstellungen ,  den  vergleichenden  Grammatikern  überhaupt 
nützlich  sein  dürfte.     Aus  diesem  Grunde  veröffentliche  ich  sie. 

Die  Schrift  zerfällt  in  zwei  Abtheilungen,  deren  erste  die  Bei- 
spiele der  einzelnen  Vocalreihen  enthält.  Hier  ist  die  Ordnung  der 
zu  einer  Ablautsreihe  gehörenden  Wortfamilien  die  gewöhnliche  al- 
phabetische, nach  dem  Anlaut  der  Wurzelsilbe  (wo  das  Lettische 
vom  Litauischen  abweicht,  ist  das  betreffende  Wort  unter  den  ent- 
sprechenden litauischen  Anlaut  gestellt,  also  df  unter  g,  z  unter  k 
u.  s.  w.).  Die  Reihenfolge  der  Vocale  innerhalb  einer  Wortfamilie  ist 
die  in  der  Überschrift  der  betreffenden  Reihe  angegebene.  Innerhalb 
der  einzelnen  bei  einer  bestimmten  Wortfamilie  vorkommenden  Vocal- 
stufen  sind  die  Worte,  getrennt  durch  ;,  so  geordnet,  dass  das  pri- 
märe Verbum  voransteht,  diesem  die  primären  Nomina  folgen,  und 
zuletzt,  durch  -  getrennt,  die  abgeleiteten  Verba.  Bei  dem  primären 
Verbum  ist  Präsens,  Präteritum,  Infinitiv  angegeben.  Unter  die  No- 
minalableitungen sind  die  Bildungen,  deren  Yocalstufe  sich  durch 
eine  feste  grammatische  Regel  von  selbst  ergiebt,  also  die  Participien, 
die  lebendigen  Nomina  actionis  und  Nomina  agentis  (auf  -iiwö-,  -utwö-, 
-ÄCÄflMo-,  -eja-  u.  s.  w.)  nicht  aufgenommen,  Nomina  act.  und  ag. 
jedoch  in  dem  Falle  aufgeführt,  wenn  ihr  Yocal  von  dem  des  In- 
finitivs abweicht.     Ferner  konnten  unter  den  abgeleiteten  Verba  die 

49* 


266  August  Leskien,  [^ 

litauischen  Causativa  auf  -din-ti  mit  der  bestimmten  Bedeutung  »das 
und  das  thun  lassen«  ausgeschlossen  werden,  weil  ihr  Vocal  sich 
nach  dem  Vocal  des  Infinitivs  der  zu  Grunde  liegenden  nicht  causa- 
tiven  Verba  richtet.  In  nicht  geringer  Zahl  sind  secundäre  Nomina 
aufgenommen,  theils  natürlich,  weil  das  primäre  Grundwort  fehlt, 
theils  weil  im  Litauischen  Suffixe,  die  ursprünglich  primär  sind,  zu 
secundären  Ableitungen  verwendet  werden,  namentlich  das  Adjectiva 
bildende  -ii-,  und  es  wünschenswerth  schien,  solche  Fälle  aus  der 
Sammlung  heraus  beurtheilen  zu  können.  Wenn  secundäre  Nomina 
auf  ebenfalls  angeführte,  ihnen  zu  Grunde  liegende  primäre  folgen, 
sind  sie  von  diesen  durch  Komma  getrennt.  Von  den  abgeleiteten 
Verben  ist  selbstverständlich  ein  Theil  leicht  als  denominativ  zu  er- 
kennen, ich  habe  sie  trotzdem  in  der  Regel  nicht  den  Nomina  an- 
gefügt, weil  eben  bei  einem  anderen  Theil  das  betreffende  Nomen 
gar  nicht  mehr  existirt  oder  nicht  mit  Sicherheit  zu  bestimmen  ist, 
und  eine  Trennung  der  abgeleiteten  Verba  nach  diesem  zuföliigen 
Moment  nicht  zweckmässig  war. 

Es  enthält  das  Verzeichniss  also  nur  diejenigen  litauischen  und 
lettischen  Worte,  die  mit  anderen  derselben  Wurzel  in  einem  Ab- 
lautsverhältnisse stehen,  dagegen  nicht  diejenigen,  deren  Stellung  in 
einer  bestimmten  Vocalreihe  sich  nur  etymologisch  durch  Vergleichuug 
der  anderen  indogermanischen  Sprachen  bestimmen  lässt;  doch  habe 
ich  am  Ende  jeder  Vocalreihe  die  primären  Verba,  die  einen  Vocal 
dieser  Reihe  ohne  sonstigen  Ablaut  enthalten,  als  Anhang  hinzu- 
gefügt. 

Der  zweite  Theil  enthält  als  Hauptabschnitt,  bei  dem  ich  mög- 
lichste Vollständigkeit  erstrebt  habe,  die  Vertheilung  der  Vocalstufen 
auf  das  primäre  Verbum  und  zwar  nach  Bedeutungskategorien,  wie 
es  für  das  Litauische  charakteristisch  ist;  ferner  Fälle,  wo  die 
Verbindung  einer  bestimmten  Vocalstufe  mit  einem  bestimmten  No- 
minalsuffix noch  durchgängig  erkennbar  ist;  endlich  den  Versuch, 
die  Abhängigkeit  der  abgeleiteten  Verba  von  Nominibus  zu  zeigen 
und  damit  nachzuweisen,  dass  zwischen  der  Stufe  des  Wurzelvocals 
und  diesen  Verbalbildungen  kein  selbständiges  Verhältniss  besteht. 
Es  versteht  sich ,  dass  eine  erschöpfende  Behandlung  der  beiden 
letztgenannten  Abschnitte  nur  mit  Hülfe  der  verwandten  Sprachen 
vorgenommen  werden  kann,  auf  die  ich  hier  verzichte. 


^]  Der  Ablalt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  267 

Der  litauische  Wortschatz  ist  weit  davon  entfernt,  vollständig 
bekannt  zu  sein.  Schon  aus  diesem  Grunde  kann  auch  meine  Samm- 
lung nicht  vollständig  sein.  Dazu  kommt,  dass  ich  auch  die  vor- 
handenen litauischen  Drucke  nur  in  beschränktem  Masse  ausbeuten 
konnte:  viele  ältere  oder  im  russischen  Litauen  gedruckte  Bücher 
sind  nicht  zu  erlangen,  manches  eignet  sich  wegen  seiner  unvoll- 
kommenen und  unsicheren  Orthographie  gerade  für  den  vorliegenden 
Zweck  nicht.  Was  ich  ausser  Nesselmann's  Wörterbuch,  Schleicher's 
auf  das  Litauische  bezüglichen  Werken  und  Kurschat's  Grammatik 
hauptsächlich  benutzt  habe,  sei  hier  mit  der  Citirweise  angegeben: 

Bezzenberger,    Beiträge  zur  Geschichte   der  litauischen  Sprache, 

GöUingen  1877  (B). 
Bezzenberger,  Litauische  Forschungen,  Göttingen  188S  (BF). 
Geitler,  Litauische  Studien,  Prag  1875  (G). 
Juskevic,  Lietüviszkos  däjnos,  3  Bde.,  Kasan  1880 — 82   (J). 
Juskevic,  Svotbin6  r^da,  Kasan  1880   (JSv). 
Iwiiiski,  Genawajle,  Wilna  1863   (IG). 

Kurschat,  Deutsch-liltauisches  Wörterbuch,  Halle  1870  (KDL). 
Kurschat,  Littauisch-deutsches  Wörterbuch,  Halle  1883  (KLD). 
Leskien-Brugman,    Litauische  Volkslieder   und   Märchen,    Strass- 

bürg  1882  (LB). 
Mittheilungen  der  litauischen  literarischen  Gesellschaft,  Heidelberg 

1880—83   (MLG). 
Wolfonczewski,    Prade   ir  iszsiplietimas   kataliku  tikieima,    Wilna 

1864  (WP). 
Wolonczewski,  Zemajcziu  Wiskupiste   (nur  zum  Theii;  WW). 
Szyrwid;  Punktai  sakimu,   (Neudruck)  Wilna  1845   (SzP). 
Szyrwid,  Dictionarium  trium  linguarum,  Wilna  1713  (Sz). 

N  bezeichnet,  dass  mir  ein  Wort  nur  aus  Nesselmann's  Wörter- 
buch bekannt  ist,  etwaige  Zusätze  zu  N  dessen  Quelle  (s.  N.'s  Wörter- 
buch S.  VI).  Wenn  Kurschat  die  von  ihm  aus  Nesselmann  aufge- 
nommenen Worte  accentuirt  hat,  ist  der  Accent  auch  bei  mir  so 
augegeben.  Der  Vorsatz  pr  bedeutet  preussisch.  Ein  Fragezeichen 
vor  einem  Worte  bedeutet,  dass  mir  die  Zugehörigkeit  zu  der  be- 
treffenden Gruppe  zweifelhaft  ist,  dasselbe  nachstehend,  dass  die 
Existenz  oder  Richtigkeit  des  Wortes  unsicher  ist. 

Fur  das  Lettische  musste  ich  mich  auf  Bielenstein's  »Lettische 
Sprache«  und  auf  Ulmann's  Lettisch-deutsches  Wörterbuch  beschrän- 
ken; wo  ein  Citat  nöthig  schien,  ist  ersteres  durch  Bi,  letzteres 
durch  ULD  bezeichnet.    Die  lettischen  Beispiele  wollen  natürlich  nicht 


268  August  Leskien,  L^ 

besagen,  dass  die  aus  dem  Litauischen  angeführten  Worte  dort  nicht 
vorhanden  wären;  wo  die  gleichen  Worte  in  beiden  Sprachen  existi- 
ren,  genügte  eben  die  Anführung  des  litauischen.  Die  Bezeichnung 
der  lettischen  Tonqualitäten  war  für  meinen  Zweck  überflüssig,  ich 
h2|be  daher  die  Vocallänge  durch  ~  bezeichnet,  und  für  ö  ü^  für  e  i  die 
Zeichen  ii,  e  angewandt.  Ausserdem  schreibe  ich  der  Bequemlich- 
keit des  Druckes  wegen  die  erweichten  Consonanten  mit ',  nicht  mit 
Querstrich.  Die  lettischen  Worte  sind  durch  vorgesetztes  le  hervor- 
gehoben. 

Beim  Litauischen  wäre  es  freilich  wünschenswerth  gewesen,  dass 
die  Tonqualitäten  nach  Kurschat's  Weise  geschieden  wären,  allein  die 
Sache  ist  nicht  durchzuführen,  da  man,  falls  das  Wort  bei  Kurschat 
fehlt  oder  man  es  selbst  nicht  gehört  hat,  zwar  sehr  oft  die  Hoch- 
tonsilbe kennen,  aber  die  Tonqualität  nicht  bestimmen  kann.  Ich 
habe  daher  Schleicher's  Accentuationsweise  beibehalten. 


A.  Alphabetisches  Terzeichniss  der  Beispiele. 

Allgemeine  Bemerkungen.  Im  Folgenden  sind  als  Ab- 
lautsreihen des  Litauischen  aufgestellt: 

L    i  y  (=  i)  e  ei  [ej)   ej  ai  {aj) 
II.    u  ü  ü  au  ov 

III.  a)   i  y  (=  i)  e  e  a  0  (=  a) 
h)  e  e  a  0  (=  a) 

IV.  e  a  ö  {=  ä) 
V.    a  0   (=  ä). 

Davon  gehören  III  a  und  III  b  eng  zusammen  und  hätten  zu 
einer  Reihe  vereinigt  werden  können;  die  Scheidung  ist  aus  dem 
äusseren  Grunde  geschehen,  um  die  Fälle  der  Stufe  i  zusammen 
übersehen  zu  können.  Es  versteht  sich,  dass  sehr  leicht  eine  Ver- 
mehrung der  Reihe  III  a  aus  III  b  eintreten  kann,  wenn  man  zu  Bei- 
spielen der  letzteren  noch  die  i-Stufe  findet.  Die  Reihe  IV  beruht 
vielleicht  z.  Th.  nur  auf  dem  Zufall,  dass  gerade  Formen  mit  e  oder  i 
in  der  Wurzelsilbe  nicht  überliefert  oder  mir  nicht  bekannt  geworden 


7]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  LiTALisciiäN.  269 

sind;  da  aber  ein  Theil  der  Fälle  auf  einem  indogermanischen  Ab- 
laut ^  0,  der  nur  diese  Stufen  umfasste,  beruhen  kann,  musste  diese 
Reihe  zunächst  als  besondere  ausgeschieden  werden.  Die  Reihe  V 
verringert  sich  vielleicht  auch  noch  durch  Auffindung  von  Formen  mit 
ß,  zunächst  war  sie  ebenfalls  festzuhalten,  weil  sie  sicher  z.  Th.  auf 
uraltem  Ablaut  a  ä  beruht.  Betrachtet  man  das  Zahlenverhältniss 
der  Beispiele  aller  Reihen,  so  zeigt  sich,  wie  stark  in  der  Sprache 
die  Ablaute  der  ersten  drei  herrschen,  wie  unbedeutend  die  übrigen 

sind: 

I.     131   Beispiele 

II.     1 30 

III.  288   (a.  227,  b.  61) 

IV.  10 
V.       22, 

also  549  Beispiele  der  ersten  drei  Reihen  gegen  32  der  beiden 
letzten. 

Wie  sich  diese  litauischen  Yocalreihen  in  die  als  indogermanisch 
angenommenen  oder  anzunehmenden  einfügen,  überlasse  ich  den  ver- 
gleichenden Grammatikern  zu  bestimmen.  Es  ist  z.  B.  möglich  oder 
wahrscheinlich,  dass  ein  äugti  (wachsen)  einer  anderen  ursprünglichen 
Reihe  angehört  als  z.  B.  raügti  (säuern),  im  Litauischen  ist  kein 
Unterschied,  und  was  im  Litauischen  gleichartig  erscheint,  ist  hier  in 
eine  Reibe  zusammengestellt. 

Bemerkenswert!!  sind  die  Consonantenverhältnisse  der  Wurzel- 
silbe bei  den  verschiedenen  Reihen,  wobei  ich  indess  wegen  der 
geringen  Anzahl,  die  keine  festen  Verhältnisse  erkennen  lässt,  von 
IV  und  V  absehe.  Auf  die  131  Beispiele-  von  I  kommen  nur  vier 
Fälle,  von  denen  man  mit  Sicherheit  sagen  kann,  dass  die  Wurzel 
auf  r  oder  l  auslaute,  nämlich  dyr-  glupen,  nyr-  dass.,  mä-  lieben, 
smilr-  naschen  (Fälle  wie  kaire\  linke  Hand,  lassen  sich  nicht  mit- 
zählen, weil  das  r  einem  Suffix  angehören  kann) ;  Auslaut  m  oder  n 
kommt  gar  nicht  vor,  so  dass  die  stehende  Form  der  Wurzelsilbe 
Auslaut  auf  einfachen  stummen  Consonanten  oder  auf  Vocal  (t)  ist. 
Unter  den  130  Beispielen  von  II  finden  sich  7  auf  r^  l^  m:  biur-^ 
glum-,  gul-^  kiur-^  mur-^  pul-^  smul-.  Sonst  ist  der  Wurzelauslaut 
einfacher  stummer  Consonant  oder  Vocal  (li).  Man  wird  wohl  sicher 
annehmen  können,  dass  sowohl  in  I  wie  II  die  Beispiele  mit  wurzel- 


270  August  Leskien,  [B 

auslauleDdem  liquiden  oder  nasalen  Consonanten  ursprünglich  nicht 
hierher  gehören.  Von  dem  sonstigen  Vorkommen  des  u  vor  Liquida 
oder  Nasal  oder  Verbindungen  mit  solchen  wird  unten  die  Rede 
sein.  —  Von  den  227  Beispielen  der  Reihe  lila  haben  214  r,  /, 
w,  n  dem  Vocal  folgend  oder  vorangehend,  nur  13  den  Vocal  von 
stummen  Consonanten  umgeben  {bizdzm,  le  dfisl,  kiblu  kvipii^  sykis^ 
lesikt^  \e  schk'ibit^  \e  stiba^  nu-szisz^s,  iiszkaü  prät. ,  tviske'li^  vipli, 
le  wifinäi).  Von  den  214  zeigen  24  r,  /,  m,  n  vor  dem  Vocal  (le  dri- 
binät^  dribti^  driksti^  glibijs^  grisli^  le  Idibl^  krisli,  midüs  {medm),  wi- 
kenli  {mekenti) ,  plpzli^  rikli^  le  riiel^  su-rizg^^^  le  skribinäty  slipti,  splisti, 
spriges,  szlikti,  sznibzdeti^  trikli^  tripseti  {trjpli)^  iriszli^  iriszeti^  zlibti). 
Bei  der  Reihe  111  b  sollte  man  als  regelrechte  Form  der  Wurzelsilbe 
den  Auslaut  auf  stumme  Gonsonanz  erwarten,  doch  darf  man  hier 
auf  bestimmte  feste  Formen  nicht  rechnen,  da  der  Zufall,  dass  bei 
einer  auf  r,  i,  iw,  n  oder  r  u.  s.  w.  -f-  Consonant  auslautenden  Wurzel 
gerade  keine  t-Stufe  vorliegt,  eine  grössere  Anzahl  Wurzeln  dieser 
Form,  z.  B.  dmu,  derkiüy  semiü  u.  s.  w.,  in  dieselbe  Reihe  mit  ieküj 
metü,  segü  u.  s.  w.  gebracht  hat. 

Eine  der  schwierigsten  Fragen  des  litauischen  Vocalismus,  die 
nach  der  Natur  des  u,  wird  durch  die  erwähnten  Reihen  nicht  er- 
ledigt, kaum  berührt.  Zwar  kommt  in  11  das  ü  vor,  aber  nur  die 
wenigen  Fälle,  in  denen  es  sich  mit  u  oder  au  begegnet.  Mit  dem 
Hineinziehen  dieser  ü  in  die  u-au-Reihe  ist  über  die  ursprüngliche 
Form  und  Geltung  dieses  Vocals  nichts  präjudicirt,  sondern  nur  das 
Factum  angegeben,  dass  er  zuweilen  im  Ablaut  mit  u  und  au  steht. 
Die  viel  zahlreicheren  anderen  Fälle,  in  denen  eine  Berührung  mit 
it-au  sicher  abzuweisen  oder  nicht  nachzuweisen  ist,  kommen  in 
den  unten  folgenden  Verzeichnissen  überhaupt  nicht  vor,  weil  sich 
kein  regelmässiges  oder  auch  nur  öfter  wiederkehrendes  Ablautsver- 
hältniss  zwischen  ihrem  ü  und  anderen  Vocalen  auffinden  lässt.  Ich 
habe  daher  das  u  als  Anhang  der  Vocalreihen  kurz  behandelt. 

Ferner  fehlen  in  den  Verzeichnissen  die  Beispiele  von  u  vor 
r,  /,  m,  n  -|-  Consonant,  und  von  u  vor  einfachem  r,  /,  m,  n  sind 
am  Ende  der  Reihe  11  nur  die  primären  Verba  dieser  Wurzelform 
aufgenommen.  Auf  die  Behandlung  dieses  u,  sowie  auf  Vollstän- 
digkeit der  Beispiele  habe  ich  verzichtet,  weil  eine  Regel  und  ein 
bestimmtes  Verhältniss  zu  anderen  Vocalnuancen  nicht  zu  ßnden  war. 


d]  Drr  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  SI71 

I.    i  y  e  ei  (ej)  ej  ai  (aj). 

i.  le  biji%-8  (prt.  zu  blte-s):  bijaü-8  bijöU-s  sich  fürchten,  pr  bin- 
Iwei.  —  f.  le  bl-stü-s  prs.  zu  bltß-s  sich  fürchten  -  le  bldit  in  Furcht 
setzen ;  le  bislile-s  sich  fürchten.  —  €•  le  bedel  schrecken,  le  bedeklis 
Popanz,  Hasenfuss.  —  wL  le  baida  Schreckniss;  le  baile  Furcht,  bai- 
lus  Sz  furchtsam,  vgl.  le  bailsch^  bailigs  dss. ;  bäime  Furcht,  baimm  N 
furchtsam;  baisä  Schrecken  Sz,  baisiis  abscheulich,  baisius  baiselis 
Abscheu  haben,  baistu  baisau  baisti  NSz  grausam  werden  (denom.  von 
baisä);  bajüs  fürchterlich  ^  pr  |7o-6attii<  strafen;  baidaü  baidpi  scheu- 
chen ;  le  baidinät  einschüchtern ;  bailinti  scheuchen ;  baisinti  (zu  baisä) 
grauen  machen. 

i.  le  bigk  Bi  I.  268  scheu.  —  Cli.  le  baigi  n.  pl.  »in  Furcht 
setzende  Zeichen  am  Himmel,  Nordlicht«;  le  baiglis  Schreckbild; 
baigsztis  N  Fliegenwedel;  baigsztüs  N  scheu;  baigm  dss.  N  «^  bai- 
ginti  N  scheuchen. 

ei.  le  beidfu  beidfu  beigt  endigen;  le  beiga  Ende,  Neige.  — 
€li.  baigiü  baigiaü  baigti  enden;  pabaigä  Ende^  Aufhören;  pabaigtüves 
Ernteschmaus. 

t«  blyksztü  blyszkaü  blf/kszli  erbleichen;  isz^lpzkelis  Bleichge- 
sicht. —  e.  isz-blieszkfs  (=  sonstigem  isz-bltjszk^s  bleich)  WP  206. 
300.  —  Cli»  blaikszlatir-s  blaihztijli-s  N  sich  aufklären  (vom  Himmel). 
Zusammenstellung  zweifelhaft;  der  gewöhnt.  Ausdruck  für  letzteres 
ist:  blaivaiir-8  blaiv^U-s. 

e.  brcziu  breziau  br'ezli  kratzen;  br'Szis  m.  und  brcUjs  das  Kratzen, 
Riss.  —  €ti.  braizan  braizijli  iter.  kratzen  BF  101;  J  150,  16. 

i«  (vielleicht  auch  i  in  le  didels  ungeduldiger  Mensch,  didelül 
unruhig  sein)  le  didit  hüpfen  machen.  —  €•  le  del  tanzen  -^  le  de- 
delet  iter.  (eig.  herumtanzen)  müssig  gehen.  —  eL  le  deiju  (Präs.  u. 
Prät.  zu  det).  —  ai.  dainä  Volkslied  (nach  Fick  VW  II.  584  eig. 
Tanzlied). 

i.  d^gsiu  dygau  dijgii  keimen  (eig.  hervorstechen,  mit  der  Spitze 
herauskommen);  le  digs  Keim,  lit.  dijgas  Dorn  IG  73;  dyge  N  Stich- 
ling,  pl.  dijges  Stachelbeeren;  di)gis  m.  das  Keimen;  d^glis  Stachel 
BF  107,  auch  dyglys^  le  dtgUs  Keim,  dyyle  Stichling;  dygubjs  Stich; 
di/gsnis  m.  Stich;  dygiis  stachlicht  -  le  didfel  dldßnät  keimen  machen; 
d^ktereti  NM  Seitenstechen  bekommen.  —   €•  degia  d'ege  dSgti  stechen 


272  August  Leskien,  [^0 

(imp.  z.  B.  vom  Seitenstechen),  pa-d'e(jü  keimen  lassen  MLG  I.  230; 
Jegas  Keim,  le  dcgs  Zwirn  [degt  auch  »einfädeln«);  le  degUs  Keim, 
lit.  deglis  BF  107  Name  einer  Krankheit;  \e  degsls  Keim.  —  deigmis 
J  1118.  13,  1168.  4,  deiginas  WP  169  Lanze.  —  ai.  pa-däigos 
»FederansUtze  junger  Vögel«,  Spielen  (nach  N  auch  padaigai) ;  daigis 
m.  das  Keimen ;  daiklas  Stelle,  Ort,  Sache  (nach  Fick  IL  738  »punctum«) 
-  daigaü  daigijti  iler.  stechen;  daiginti  keimen  machen. 

t.  dyru  dyreli  N  gaffen,  lauern;  dijrau  dfjroti  dss.;  dyrinli 
schleichend  lauern;  df/rineli  iter.  dss.  —  (iL  ajitj-daira  Sz  Vorsicht, 
apydairm  Sz  vorsichtig  (unter  ostroznosc) ,  das  einfache  dairus  in 
»Naujos  Giesmes  etc.«  (Memel  1876)  3  v.  1  -  dairaiir-s  dairyti-s  um- 
hergaffen . 

€•  devas  Goit. —  cL  deive  Gespenst;  deiväUis  Bezeichnung  des 
Perkun;  deivilas  B  Götze;  deivt)sle  Gottheit  B  (bei  dem  auch  andere 
Ableitungen  mit  ei)  -  at-s^i-deivoti  Abschied  nehmen,  z.  B.  J  1 1 72.  7. 

i»  drikä  »ein  Faden  oder  eine  Partie  Fllden,  welche  beim  Weben 
nicht  eingezogen  vom  hinteren  Webebaum  .  .  .  herabhangen«  KLD  «^ 
drikstereti  intr.  mit  einem  Ruck  reissen.  —  t.  drykstu  drykaü  drykti  sich 
lang  herabziehen  (von  Halmen  etc.);  drykrs  N  Krummstroh;  isz-dri)- 
kelis  lang  aufgeschossener  Mensch  -  dnjktereti  punkt.  sich  hangend 
herablassen.  —  €•  drckiü  drekian  drekli  (Halme)  streuen;  isz-dr'ekas 
im  blossen  Hemde.  —  dt.  draikas  N  lang  gestreckt;  pa-dräikos  KLD 
verstreutes  Stroh;  draikalas  gestreute  Halme;  draikm  zähe  MLG  L 
387  -*  draikaü  draiktjli  iter.  streuen;  draikinii  streuen. 

l.  drpas  Streifen  (in  Zeug).  —  €.  drezas  Eidechse.  Zweifel- 
hafte Zusammenst. 

e.  le  et  gehen  (Präs.  mii,  et  u.  a.  F.) ;  le  ela  Reihe.  —  €t.  inf. 
cUi  (Präs.  ei),  le  präs.  eimu  u.  a.  F.;  -eiga  Gang,  z.  B.  f-eiga  Eingang; 
eidinc  N  Gang,  vgl.  eidininkas  Passgänger;  eiklüs  behende,  schnell, 
z.  B.  J  300.  18;  eile  Reihe;  eimena  u.  eimena^  N  Bach;  eisme  N 
Gang,  Steig;  eisena  Gang;  pri-eitis  f.  N  Vorstadt;  (Schleicher  Leseb. 
hat  ein  citininkas  Gänger,  viell.  Verwechselung  mit  eidininkas) ;  kar- 
eiwis  (Kriegsgänger)  Krieger,  kel-eivis  (Weggänger)  Wanderer.  — 
€j»  öjaü  (prät.  zu  eiti),  —  (lt.  le  ailis  u.  a.  Reihe;  le  aideneks  Pass- 
gänger (auch  eidencks;  überhaupt  scheint  hier  ai  im  Anlaut  ei  zu 
vertreten) . 

i.  prät.  gijaü  (zu  gf/ti)^  le  dflju,  —  %•  präs.  gyju^  le  dfistu^  inf. 


1^1  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  273 

(jf/ti  heilen  inir.  -  gf/dau  gf/dyli  caiis.  heilen;  gijdinli  dss.  —  €•  '?\e  dfel 
hervorbluhen,  hervorragen  Bi  II.  394;  le  dfedel  caus.  heilen;  \e  dfc- 
dinät  dss.  —  eL  ?le  dfeiju  präs.  prät.  (zu  dfel).  —  (li.  gajfis  leicht 
heilend. 

i.  le  ylbslii  fjibu  gibt  ohnmächtig,  schwindlig  Jwerden;  le  gibla\ 
le  jlblis;  le  gibelis  Ohnmacht;  le  glbüns  dss.  —  ei.  le  (jeibt  (=  ^ibt)\ 
\e  (jeibules  f.  pl.;  le  geibtUis;  le  geibüns  (Bedeutung  wie  unter  i).  — 
(li*  le  gaiba  (und  geiba)  Faslerin,  Thörin. 

t.  pra-gif8iUj  gydau,  gijsli  anheben  zu  singen.  —  €•  g'Mu  gedoli 
singen ;  le  dfesma  Gesang,  gesme  Gesang.  —  d'L  gaidas  N,  gaidä  N 
Sänger,  -in;  gaidijs  Hahn;  ?Ie  gailis  Hahn. 

i.  le  dfidrums  Klarheit,  vgl.  le  g'idrs  klar,  heiter.  —  e.  ?le  dfesna 
Dämmerung,  Abend-,  Morgenrüthe;  gedras  heiter  (vom  Wetter);  gedrä 
heiteres  Wetter.  —  (lt.  gaidrus  heiter;  gaisas  Lichtschein  am  Himmel, 
le  gaiss  Luft,  Wetter;  le  gaischs  =  ^gaisja-s  (viell.  Vertreter  für  ^gai- 
sm)  klar;  le  gaisma  Licht;  gaisras  Lichtschein  am  Himmel  «^  gaidrinü 
heiter  machen   (zu  gaidrus). 

f.  pr  sen-ggdi  empfange,  sea-gidaul  empfangen  (eig.  abwarten); 
le  dfidris  Durst.  —  €i.  geidzü  geidzaü  geisli  begehren,  pr  geide  3.  pl. 
präs.  warten;  gcida  Verlangen  BF  112;  gciduhjs  Lüsternheit  -  gei- 
däuli  sich  sehnen.  —  Cli.  le  gaida  Erwartung,  le  pagaida  und  pa- 
gaids  Zins,  uzgaida  nach  K  lüsterner  Mensch,  nach  N  auch  Gelüsten 
(neben  uzgaidas  N),  gaidüs  N  erwünscht,  ?dazu  gaidau^  gaidel  mein 
Lieber  -»  le  gaidit  warten,  harren  auf. 

'L  le  ^idu  prät.  ^ift  merken,  muthmassen  -  le  (jidät  iter.  — 
€.  le  (jedu  (präs.  zu  f)ifl). 

i.  gijvas  lebendig;  le  rf/«rc  Leben,  Wirthschafl  -  gyvenli  wohnen. 
—  €li»  gaivüs  N  munter  -  gaivinti  erquicken  (zu  gaivm), 

i.  giiiis  MLG  I.  388  scharf,  widerlich.  —  t*  ggzlh  gyiaii  gyzU 
herb,  sauer  werden  ^  gtjztereli  plötzlich  s.  w.  —  €•  g'ezia  gete  g'ezU 
impers.  kratzt  (im  Halse),  geziü  pers.  grollen;  pa-gczä  Rache.  — 
Cli.  gaizüs  herb. 

i.  gnijbiu  gnybiau  gnybii  kneifen;  gmjbis  Kniff;  gnyblis  NSz  Knei- 
fer, Nussknacker.  —  ai.   gnaibis  m.  Kniff;  gnaibüs  NM,  KLD  leicht* 
kneif  bar,  zänkisch  -  gnaibaü  gnaibyli  iter.    (zu  gmjbli). 

i.  le  gribu  gribet  wollen,  verlangen;  leyri6a  Wille;  gribsznis  m. 
Griff  -  gribtereti  gribsztereli  schnellen  Griff  thun.  —  €•  grebiu  grebiau 


274  AüGL'ST  Leskien,  L^^ 

grebti  greifen.  • —  eL  greibiu  greibiau  greibli  greifen,  z.  B.  VVP  166, 
185,  sugreib^s  MLG  1.  369.  —  (li*  ap-graibomu  inslr.  pl.  handgreif- 
lich, oherflächlich  MLG  I.  62,  vgl.  apgraibas  WP  274;  graibüs  N  zum 
Greifen  geneigt;  graibszlas  Kratzharaen,  Kescher  KDL^ graibati  graibfjü; 
graibslaü  graibsl^li;  grdibszczoli  Iterativa  (zu  grSbti). 

€.  greziu  gr'eziau  grezli  einritzen  (in  der  Runde) ,  abzirkeln, 
le  grefchu  grefu  grefl  schneiden,  in  beiden  Spr.  auch  »mit  den  Zähnen 
knirschen«;  greze  Schnarrwachtel;  grezinijs  runder  Schnitt;  grezle 
Schnarrwachtel.  —  (iL  le  graifes  f.  pl.  Leibschneiden;  graiszlas  B 
Säge;  graizlos  G  Einfassung  des  Bodens  am  Eimer  {grSzti  bedeutet 
»einen  solchen  Boden  abzirkeln«)  -  le  graifil  iter.  schneiden ;  graizyti 
{rankm)  ringen  (die  Hände)  J  513.  21    (gehört  wohl  zu  grfziü  s.  d.). 

i,  iszkuß  N  deutlich,  offenbar;  iszczas  N  dss.  —  (lim  äiszkm 
deutlich. 

i.  izii  entzweigehen,  3.  prüt.  izo  z.  B.  WP  36,  174,  vgl.  menu 
par-iza  (G  s.  v.  parizimas)  der  Mond  ist  im  letzten  Viertel;  le  w^j-ife 
ULD  Windriss  im  Holze  (vgl.  ife) ;  izines  N  Schlauben  ~  izinti  aus- 
schlauben.  —  t.  le  ife  Spalte  im  Eise  ULD,  lit.  yze  yziä  Grundeis. 
—  di.  le  aifa  Spalte  im  Eise,  vgl.  par-aiza  {=  per-)  G.  Abnahme- 
zeit des  Mondes,  hz-aizos  Schlauben  -^  aizaü  aizijti  ausschlauben ; 
aizinli  dss. 

t.  prät.  su-jiszkau  inch.  zu  suchen  beginnen.  —  €•  jSszkau 
jeszköli  suchen. 

€•  kSmas  Bauerhof,  Dorf.  —  (It,  kaimas  dial.  Dorf,  vgl.  aptj- 
kaime  N  Dorfbezirk,  kaimfina^  Nachbar;  "fkaimene  Heerde. 

ci»  le  k'eiris  link.  —  (lt.  kaire   linke  Hand,  kairijs  Linkhand. 

i.  ut-kisti  G  {linus)  »die  Flachsstengel  auf  die  ardai  legen«; 
atkisas  G  »die  Arbeit,  durch  welche  das  ausgedroschene  Getreide 
von  neuem  in  die  Trockenkammer  gelegt  wird.  —  di,  le  kaisil 
streuen  (?bei  ULD  als  livisch  bezeichnet). 

i,  kiszü  kiszaü  kiszti  trans.  stecken.  —  t«  kpzau  k^szoti  intr. 
wo  stecken  -  hjszlereti  (mit  y  KLD)  dem.  (zu  kiszti),  —  di.  kai- 
szlis  m.  Riegel  <^  kaiszaü  kaiszyti  iter.   (zu  kiszti). 

i.  kitas  anderer,  -kintu  -kilau  -kisti  N  anders  werden.  —  e.  "fpa- 
si-kijzdatnis  n.  pl.  m.  abwechselnd  WP  1 23,  kann  nach  dortiger  Ortho- 
graphie c  gelesen  werden.  —  eL  keiczü  keiczaü  keisli  wechseln.  — 
di.  kaitaü  kaityli  iter.  zum  vor. 


13]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  275 

t.  le  klit  Bi  I.  373  irren,  sich  zerstreuen.  —  C  ?  Bei  Sz  ein 
Präs.  kliemi  (unter  plot^  somnio,  nugor).  —  Ci.  le  kleija  Herum- 
treiber, le  kleijüm  dss.  -  le  kleijüt  herumtreiben  {ei  dial.  für  at?, 
s.  d.).  —  ai.  le  klajsch  (=  *klajas)  geräumig,  eben;  le  klaija  Ebene; 
klajm  N  irreführend,  vgl.  klajünas  J  62.  6  Herumslreicher  -  klajöli^ 
le  klaijät  herumirren  (vgl.  klyd-). 

%.  khjstu  klijdau  klpti  irre  gehen  (le  klifl  auch  »sich  zerstreuen«) ; 
pa-kltjäelis  Irrgänger;  pa-klydm  N  verirrt  -  klyde'ti;  klydineti  iter.; 
le  klldinät  zerstreuen.  —  6.  le  klefchu  kledu  klefl  ausstreuen ;  le  kle- 
det  iter.  (zu  klift)  Bi  I.  323,  caus.  verthun  (zerstreuen)  ULD.  — 
ei.  —  kleisti  WP  103.  271  wegwerfen,  verschwenden.  —  (li.  pa- 
klaidä  NM  Irrthum,  Sz  ineptiae  u.  a.;  klaidüs  irre  führend;  le  klaists 
Herumtreiber  ~  klaidaü  klaidpi  iter.  (zu  klpti)^  le  klaidll  caus.  zer- 
streuen ;  Häidzoti  iter.  (zu  khjsli) ;  klaidinli  irre  führen ;  le  klaistUes 
sich  herumtreiben. 

t.  8ip-kligu  (3  sg.  prt.)  antele  aufschreien  J  323.  1  ;  le  klidßnät 
ULD  schreien  wie  ein  Habicht.  —  €•  le  kledfu  kledfu  klegt  schreien. 
—  (li.    le  klaigät  it.  zum  vor. 

i.  klipytuti  »mit  schiefen  Füssen  halblahm  gehen«  KLD.  — 
'L  klypstü  klypaü  kbjpii  mit  krummen  Füssen  gehen;  su-kl^pelis 
Schief bein.  —  ei-  kldpiü  kleipiaü  kleipii  schief  treten  (Schuhe).  — 
di.  isZ'klaipiu  MLG  I,  17  verschränken,  vgl.  klaipiks  »der  mit  den 
Füssen  schaufelt«  ebend.  '^  klaipaü  klaiptjli  iter.   (zu  kleipti). 

i.  kliszas  schiefbeinig,  kliszis,  kliszijs^  kliszim  subst.  —  ei.  klei- 
sziüti  KLD  mit  krummen  Beinen  eilig  laufen. 

6.    le  knebju  knebu  knebt  kneifen.  —  ui.    le  iter.  knaiplt, 

i.  knisii  knisaü  knisii  wühlen.  —  f.  knysijs  (mit  i  K)  Rüssel.  — 
di.    knaisaü  knaispi  iter. 

t.  le  krija  {krlja)  Baumrinde,  lit.  krijä  »der  am  Rande  eines 
Siebes  auf  den  Boden  gelegte  Bastring«  KLD,  krijos  N  Knaul  von 
Bast  oder  Rinde.  —  !•  ?  krpis  f.  i-st.  und  krpis  m.  Kescher  zum 
Fischen,  le  krits  m.  (vgl.  graibszlas  zu  grebiu^  dss.)  -  le  krijdt  schin- 
den. —  e.  le  krenu  kret  schmänden.  —  ei.  le  präs.  kreiju  (zu 
kret)\  le  kreims  Sahne  ~  le  kreijüt  schmänden.  —  ej.  le  prät.  kreju 
(zu  kret).  —  Cli.  le  kraisHt  iter.  (zu  krei),  —  Vgl.  lit.  grejü  grejaü 
grPli  dss.  was  le  kret^   iter.  dazu  graislaü  graistijti^   dem.  graisiineli; 


276  August  Leskien,  [^* 

su-gr'ili  ergreifen,  erraffen  J  278.  8;  zu  le  kreims  vgl.  lit.  greimas 
KLD  []  schleimiger  Niederschlag  im  Wasser. 

i.  krivis  schief  gewachsener  Mensch;  krivule  Krummstab.  — 
ei*  kreivas  schief.  —  Cli.  le  krails  gebogen;  apy-kraives  {pmzeles) 
Anyk.  Szil.  v.  1 2  bei  G  erklärt  durch  »etwas  gekrümmt« ;  Sz  schreibt 
kraivas  (z.  B.  unter  krzywy)  krumm,  schief. 

i  (i?).  isz-krikas,  adv.  isz-krikai  B  zerstreut.  —  cL  kreikiü 
kreikiaü  kreikti  streuen  (Stroh).  —  di.  kraikas  Streu;  kraikä  dss.  - 
kraikaü  kraikijli  iter. 

i.  krypslü  krypaü  krypii  sich  drehen;  i-krypai  N.  adv.  mit  halber 
Wendung,  schräg  (dass.  bedeutet  i-skripai)  -  knJptereU  dem.  — 
d»  kreipiü  kreipiaü  kreipti  drehen,  wenden.  —  wL  kraipaü  kraippi 
iter.  zum  vor.;  kraipineli  dss. 

€•  kveczü  kveczati  kvesti  einladen ;  kveslys  Hochzeitsbitter ;  kvlSstis  N 
Einlader.  —  wL  pr  quoik  (=  ^kvaiias)  Wille  -  pr  quoileii  (=  ^kvaile-) 
ihr  wollt. 

im  prät.  lijaü  (zu  Itjli) ;  i4ija  KLD  [  ]  Regenwetter  —  'l.  präs. 
lyjü  bjli  regnen,  le  prUs.  listu;  le  lija  feiner  Regen;  lytüs  Regen  -* 
hjdau  l^dyti  (Talg)  schmelzen  (vgl.  slav.  lojb  Talg);  h'fdinti  dss.;  lymli^ 
le  linät  [llnät)  fein  regnen.  —  €•  leju  lejau  leli  giessen;  nu-lejos  N 
Abgüsse;  lelüs  Regen  LB  338,  le  lelus;  leime  Tiegel.  —  ei.  le  prUs. 
leiju  (zu  lel) ;  le  aif-leija  Zuthat  zur  Speise.  —  ej*  le  prät.  leju 
(zu  lel).  —  di.  laistüvas  N  Giesskanne  -  läislau  läistyli  iter.  (zu  leli) 
laistaü  laishjli  KLD  bewerfen  (z.  B.  eine  Wand  mit  Kalk),  le  laislcklis 
Giesskanne;  laistineti  iter.  J  1245.  6;  läistereli  dem.  (zu  leli);  laidau 
laidyli  caus.  (zu  leli)  bei  Sz  (unter  dojf) :  laidau  karwes  melke. 

i.  ?  le  lidinäle-8  schweben,  von  Bi  L  360  als  iter.  zu  laifl 
genommen.  —  t»  lydzü  lydeli  geleiten ;  al-lyda  {be  allydos,  geschr. 
aüidas^  ohn  Unterlass)  WP  56;  saule-lydis  Sonnenunlergang  JSv2I; 
nurlyde  Unterdach  am  Giebel  BF  147;  to-bjdtaus  sofort,  in  einem 
Zuge.  —  ei»  leidzu  leidau  leisti  lassen ;  ?  le  leida  Zins ,  Pacht ; 
saule-leidis  Sonnenuntergang;  al-leidüs  KLD  versöhnlich  (s.  unten  aüai- 
rfj/Ä),  ap'leidmSz  nachlässig. —  €li.  le  laifchu  laidu  laifl  lassen;  le  laidas 
n.  pl.  f.  lange  Striche,  alAaidä  Erlass,  nii-laida  Sz  Abhang,  allaidm 
versöhnh'ch,  nu-laidiis  abschüssig;  pa-laidas  lose  [palaidi  plaukai  herab- 
hangende, aufgelöste  Haai*e) ;  Vläidas  Bürge;  laisvas  frei  Sz,  laisve 
Freiheil  z.  B.  J  214,  3;  palaidu  Sz  nefarius,  aplaidu  NSz  Abtrünniger 


15]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  277 

(vgl.  palaida  N  Sz  Hurerei)  ~  läidau  läidyti  »mehrfach  flössen  oder 
fliessen  lassencc  iter.  (zu  leidzu^  vgl.  leidikas  Flösser);  laidinti  laufen 
lassen  (Pferde  etc.);  läidoU  bestallen;  läidzoti  iter.  entlassen. 

e.    le  ledfu  IMfu  legt  weigern,  leugnen.  —  di.  le  laigät  iter. 

» 

i.  prät.  Ixkaü  likti  zurücklassen,  pr.  po-linka  er  bleibt  (wäre 
ein  lit.  Hinku  likli  inlr.  zurückbleiben,  die  3.  sg.  präs.  lit.  pa-linkt^ 
zu  lekü,  z.  B.  IG  37.  47  u.  s.);  4ika  (bei  den  Zahlen  von 
11 — 19).  —  i.  ät-lykis  KLD  Arbeitspause;  lijkius  Rest,  l^kinti  ab- 
nehmen (Rest  machen).  —  €.  präs.  lekü  (zu  likli);  iSkas  NM  unpaar, 
le  leks  überzählig,  äl-lekas  Rest,  le  at-leks  dss.  und  le  at4eka  dss.  — 
ai.  pä-laikas  Rest  (vgl.  palaikis  Nichtsnutz,  schlechte  Sache);  laikas 
bestimmte  Frist,  le  laih  Frist,  Zeit  (Fick  II.  652.)  .'^  laikaü  laikpi 
halten. 

e.  Mas  gross  z.  B.  J  1 022.  1 ,  le  lels  dss.,  le  lels  Schienbein ; 
?  lemu  Leibeswuchs,  Taille,  Körper  (im  Gegens.  zu  den  Gliedern), 
Stamm  ohne  Aste ;  leknas  G  schlank.  —  et.  leilas  N  dünn  schlank ; 
leinas  J  351.  9  schlank  (s.  unten  lainas).  —  läibas  schlank,  dünn; 
lainas  N  schlank. 

C.  lepiü  lepiaü  Wpti  befehlen.  —  ai.  pr  palaips  Gebot  ~  pr 
laipina  3.  sg.   befahl. 

i.  3.  sg.  lipst  »er  brennt«  Mik.;  le  lipitf  ein  Licht  anzünden 
(Bezz.  Beitr.  III,  58)  —  e.   lepsnä  Flamme. 

i.  limpü  lipaü  lipti  kleben  bleiben,  lipü  lipaü  lipti  steigen 
(le  lipu^  d.  1.  Himpu,  lipu  lipi  in  beiden  Bedeutungen);  pa-lipomis 
adv.  i.  pl.  stufenweise,  prelipa  Anbau,  Erker;  lip'^ne  Übersteigslelle; 
lipntis  N  klebrig,  le  lipns  freundlich;  lipsznm  dss.,  nach  N  auch 
»freundUch«;  lipsztus  MLG  I.  228  freundlich  «^  lipaü  liptjti  caiis.  (zu 
limpü)  kleben;  lipdau  lipdyti  dss.  J  1134.  25;  lipinti  dss.;  lipdinti 
caus.  zu  lipü  steigen  lassen;  lipineti  iter.  (zu  lipü)^  caus.  iter.  (zu 
limpü),  le  lipinät  Irans,  ankleben.  —  i.  \e  pe-llpi  m.  pl.  ULD  u.  a. 
»was  angeklebt  ist«;  dvi-hjpis  (z.  B.  r'eszulas)  aus  zweien  zusammen- 
gewachsen '^  bjpstau  l^psiyti  M  berühren ;  hjpstintis  KLD  sich  ansehmei- 
cheln.  —  C  Wplas  Steg;  lepsznus  N  (=  lipsznüs).  —  €lt.  le  /aipa 
Steg;  le  pe-laipe  Anback  am  Brode;  le  laipns  freundlich,  davon 
laipnlgs  laipnlba;  laiptas  Gerüst  G,  nach  BF  132  auch  »Steg  übers 
Wasser«.  -'  läipioli  iter.  zu  lipu;  laipiidi  caus.  steigen  lassen  (zu  lipü) 
WP  135,  JSv  74. 


278  August  Leskien,  [<6 

i.  l^slu  Ij^sau  Ipti  mager  werden.  —  €,  Vesas  mager,  le  lestu 
lern  lest  (auch  lit.  bei  N)  denom.  dazu   (mager  werden). 

l.  lylü  {lyczu)  lyteti  anrühren.  —  e.  lesli  J  420.  4,  1.  sg.  fc- 
czu  Sz,  3.  sg.  pri-lecza  B  antasten,  vgl.  An.  Szil.  v.  29,  reizen, 
necken  N  -  lelineti  [bärzdq)  zupfen  J  141.  2.  —  (li.  le  lailit  strei- 
chen (hin  und  her  mit  der  Hand). 

i.  isz-lizos  f.,  isz-lizei  m.pl.N  Zwischenraum  zwischen  den  Zähnen, 
den  Zehen;  lizitis  (Lecker)  Zeigefinger.  —  i.  isz-lyzei  N  (=  isz-lizei). 
—  €.  leziü  leziati  lezli  lecken;  hz-lezu  KLD  (Bed.  =  iszr-lizei).  — 
ui.  le  laifcha  Leckermaul ;  bliüd-laizis  Schüsseliecker  «^  laizaü  laiz^li 
iter.  (zu  ISzü). 

i.  le  miju  prät.  (zu  mit);  le  mite  Wechsel  -  le  milut  iter.  lau- 
schen. —  t.  le  präs.  miju  mit  tauschen.  —  ^.  ?le  mena  Wortstreit 
(vgl.  aber  metis  anmassender  Mensch);  ie  meli  n.  pl.;  le  metus  pl. 
Tausch,  Wechsel,  le  melul  tauschen.  —  di,  mainas  Tausch,  le  (neben 
mains  m.)  auch  f.  maina^  le  maina  dss.,  lit.  atmaina  Sz  (unter  odmiana) 
Tausch  «^  mainaü  mainpi  tauschen,  lett.  mahnt  iter.   (zu  mit). 

e.  le  wÄ,  präs.  mem'i,  bepfählen;  m'elas  Pfahl  J.  67.  3,  le  m«"te, 
le  metid  bepf^hlen.  —  d/l.  le  maide  Stange;  le  maiti  Zaunstecken  -- 
le  maidit  bepfählen. 

i,  migü  migaü  migti  Sz  drücken  (z.  B.  prtmigu  unter  nacieram).  — 
e.  le  medfu  megt  stark  drücken  ULD.  —  (li.  maigas  Sz  Haufen  (unter 
mierzwa  slramen  coacervatum) ;  pr  pele-maigis  Rötheiweihe  (nach  Fick 
IL  756  »Mausklemmer);  le  maigli  Zaunspricker ;  ?le  maiksts,  maikste 
lange  Stange  --  maigau  maigyli  N  häufen. 

!•  -mingü  migaü  migti  inch.  einschlafen;  äl-^migas  Nachschlaf  MLG 
L  65;  le  miga  Lager  eines  Thieres;  migis  m.  N  dss.;  i-migis  m.  der 
erste  Schlaf;  mignim  verschlafener  Mensch  --  migdaü  migd^i  caus. 
einschläfern;  miginli,  migdinti  dss.;  le  midßnät  dss.  —  €•  präs.  megit 
(zum  jnch.  migti,  le  ebenso  aif-megu  schlafe  ein),  präs.  megii  megöti 
schlafen;  mSgas  Schlaf;  megälius  (N  auch  megalasl)  Vielschläfer.  — 
ai.  pr  maigun  a.  s.  Schlaf;  maigünas  Schlaf bank. 

!•  su-si-milstn  milaü  milti  sich  erbarmen.  —  i.  mylif$  mjfleti 
lieben;  mylüs  lieb.  —  €•  melas  lieb.  —  üL  meile  Liebe,  meüm 
liebreich. 

i.  misztü  miszaü  miszti  sich  mischen,  durch  einander  gerathen; 
su-miszai  durch  einander;  pry-miszis  Sz  Beimischung  {przymieszanie) ; 


47]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  279 

miszinis  Mischling,  Gemengsel;  miszriü  JSv  67  durch  einander, 
sq-miszriüi  dss. ;  le  mislra  Mischmasch  -  le  misSl  mischen,  irre 
machen. —  di»  mai^za/o«  Gemengsei ;  maisztas  Aufruhr;  mamto  NSz 
dss.  ~  maiszaü  maiszpi  caus.  mischen. 

im  mintü  mitaü  misti  sich  nähren;  mUas  Lebensunterhalt,  vgl. 
zem^mit^s  durchgewintertes  Thier;  tnüulp  dss.  ~  le  milinäl  unterhal- 
ten, Aufenthalt  geben  {mist  le  wohnen).  —  dim  maistas  Nahrung  - 
pr  po-maität  nähren;  maitinti  caus.  nähren. 

im  le  at-mliu  (=  ^mintu)  mitu  mist  losthauen,  sich  erwärmen.  — 
e.  le  at-melßt  erweichen. 

i.  mizia  mize  cunnus;  mizius  penis.  —  f.  prät.  m^zau  m^zlij 
le  mifchu  mlfu  mlft  harnen;  myzalai  Urin;  le  mlßis  penis  bestiarum; 
myzeklis  penis;  le  tnifenes  Ameisenart.  —  €•  le  m^fnu  eine  Präs.-F. 
(zu  miß);  le  mefnäl  iter.  —  di.  su-si-mäizoti  iter.  JSv  73.  —  B  p,  41 
weist  die  Schreibungen  minzqs  (part.  präs.  a.)  und  minzalai  nach;  K 
schreibt  ebenfalls  miUi  und  so  in  allen  Fällen,  wo  Schi.  y\  die  letti- 
schen Formen  mit  l  können  sämmtlich  in  enthalten.  Das  Präsens 
lautet  mezu  (so  Schi.),  das  wäre  dann  m^zu  (K.  m^.zu)\  le  mef-  kann 
ebenfalls  =  menf-  sein.  Wenn  demnach  von  einer  Wurzelform  mingh 
auszugehen  ist,  so  kann  das  Präsens  ursprünglich  auch  nur  in,  nicht 
en  haben ;  das  Präsens  menzu  zu  minzau  u.  s.  w.  muss  eine  Anlehnung 
an  das  Verhältniss  renkü  rinkaü  sein.  —  Ganz  davon  zu  trennen  ist 
wohl  me'iiu  meziau  me'zti  misten,  mezlai  Mist  (K.  schreibt  ^,  vgl. 
aber  le  mßfchu  m^fu  mäß^  mösls). 

i.  le  mifu  prät.  (zu  meß)  Bi  L  344;  ?le  mifa  Rinde,  Imiful  ab- 
rinden ;  le  mißnäl  caus.  zu  meß,  —  €.  mefu  {meßu)  meßi  meß 
stumpf  werden  (von  den  Zähnen). 

tm  le  nlßu  nidu  nlß  hassen  -  le  iter.  nfd^l,  —  di.  le  e-naids 
Hass. 

i.  ninkn  nikaü  nikti  auffahren  {ap-nikti  anfallen),  le  ap-nikt  über- 
drüssig werden  (die  eigentliche  Bedeutung  der  W.  [vgl.  slav.  niknqli] 
»sich  wohin  heben  oder  senken«) ;  le  nikns  heftig,  böse  {suns  Hund, 
der  Menschen  anfällt).  —  t»  nykstü  nykaü  n^kti  verschwinden,  ver- 
gehen; le  nlkulis  Kränkelnder;  nyksztp  Daumen  ~  le  nlzinüt  caus.  (zu 
nlkl),  —  ei  [dif),  pr  neikaut  wandeln.  —  di.  le  naiks^  adv.  naiki 
schnell,  heftig;  aiikszl^'naika  adv.  rücklings;  aukszijji-naikla  KLD  dss.  ~ 
naikaü  naik^li  caus.   (zu  w^kli) ;  naikinti  dss. 

Abbandl.  d.  k.  S.  Gesellsch.  d.  Wissens  cb.  XXI.  20 


280  August  Leskien,  [^8 

f.  nffru  {kaip  szunelis^  sc.  piktas  vijrs)  J  330.  1;  157.  1  etwa 
»glupen«.  —  di.  nairomis  (sc.  ziureli)  N  schielen ;  nairiu  naireU  N 
schielen;  nairaii-s  nairyti-s  glupen,  z.  B.  WP  82,   126. 

i.  nu-nizfs  prt.  prät.  a.  eines  ungebränchl.  nizlü  nizaü  nizli 
krätzig  werden,  pa-nizlü  anfangen  zu  jucken;  nur-nizelis  Krätziger; 
nizim  dss.  —  €.  neza  [neU)  nezeii^  le  nef  nefa  nefl  jucken;  le  rief 
riefet  iter.  jucken;  nezai  Krätze,  le  nefs;  le  neßs  dss.;  le  nesls  dss.  — 
dim    le  naifs;  le  naifa  Krätze. 

i.  pa-pijusi  kurve  »eine  Kuh,  welche  beim  Melken  die  Milch 
nicht  mehr  zurückhält«  (eig.  »angeschwollen,  strotzend«)  pt.  prät.  a,; 
fpHas  paüias  rundes  Ei  NBd.  —  t»  ptjdau  p'^dyti  »eine  Kuh  zum 
Milchen  reizen«  (eig.  caus.  »strotzen  machen«),  —  e.  plSnas  Milch; 
'^p'eva  Wiese. 

i.  piklas  böse ;  pr  pikuls  Teufel.  —  t.  pykstü  pykaü  pijkli  böse, 
zornig  werden;  päpykis  papyhjs  Zorn  ^  pykeii  böse  sein  J  667.  6; 
pykinti  caus.  böse  machen;  pyklereti  dem.  (zu  piJkU).  —  &L  peikiü 
peikiaü  peikli  fluchen;  papeika  Sz  Tadel.  —  di*  paikas  dumm  (nach 
Fick  H.  606)  -  pr  popaikä  3.  sg.  prs.,  pr  popaikemai  1.  pl.  prs.  be- 
trügen. 

t*  fleplst  sich  leicht  ausschlauben  ULD;  ^\e  pislis  Stäubchen.  — 
€•  pestä  Stampfe;  peslas^  Sz  (unter  unercimak)^  dss.,  le  pesls;  pesiä^ 
peslomis^  peslü  [szökli)  gebäumt  (springen).  —  Cti.  paisa  Haufen 
Gerste  zum  Abpuchen  MLG  I.  230;  le  paise  Flachsbreche;  le  paiseklis 
Holz  zum  Flachsschlagen  (zu  paisit)  ^  paisaü  paispi  Gerste  abpucheln; 
le  paisit  Flachsbrechen;  le  paislit  einstampfen. 

e.  peszä  N  Russ;  p'Sszas  N  Russfleck.  —  di.  paiszas  Russfleck, 
pl.   Russ  -  paiszinti  berussen. 

€•  pliekszoti  WP  19  wanken,  schwanken.  —  dt.  plaikszoti  G 
flattern. 

l.  plynas  eben,  baumlos  (/>/.  laükns  freies  Feld) ;  plpw  Ebene.  — 
d»  pleine  Ebene. 

tm  le  rldit;  le  rldinät  hetzen.  —  e.  le  ret  bellen,  beissen.  — 
ei.  le  reiju  präs.  (zu  rel).  —  ej.  le  reju  prät.  (zu  ret),  —  wL  le  rai- 
du  hetzen. 

t.  le  su'-riba  Verdruss.  —  €.  le  rebju  rehu  reit  verdriessen; 
le  r^a  Verdriesslichkeit,  Ekel;  rebus  fett  (eig.  ekel,  widerlich).  — 
di.  le  sü-raibs  Verdruss;  le  raiba  Ekel. 


^^1  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  281 

i.  le  prüf,  ridu  riß  ordnen  Bi  bei  ULD  ordnen;  le  vidi  m.  pl.; 
le  ridas  f.  pl.  Geräth,  Kram.  —  6.  le  redu  präs.  (zu  riß),  — 
di»   ?le  raids  bereit,  fertig. 

i.  le  riks;  le  rika  [ap-riks^  ap-rika)  Brodschnitte.  —  €•  r^iü 
rekiaü  rekti  schneiden  (Brod) ;  al-rekai  N  Abschnittsei ;  reke'  Brod- 
schnitte; le  at^rekne  (s.  u.  alraikne).  —  (lt.  apijraika  Abschnitt  Sz 
(unter  okrawek) ;  ?  le  al-raiknis^  le  alraikne  Wittvver,  Wittwe  (wenn 
so  richtig  und  nicht  airailnis)  ^  raikaü  raikpi  iter.   (zu  r$kli), 

%•  1  njkas  Geräth,  Werkzeug,  Geschirr.  —  ei.  reikia  reiketi 
[reihii]  es  ist  nöthig;  reikalas  Bedürfniss;  reikmene   dss. 

i.  le  risiu  [rlsiu  =:  ^rinstu)  risu  risl  sich  anfügen  Bi  I.  374, 
lit.  riszn  riszaü  riszii  binden  (le  risu  risu  m^),  pr  sen-rists  verbunden; 
riszlis  NSz  (r?)  Verbindlichkeit;  riszliwas  N  Band  -  riszineti  dem.  iter. 
binden.  — l.  ryszys  Band;  ryszulfßs  Bündel.  —  e.  Bi  I.  344  als  dial. 
Präsensf.  le  reschu  (zu  risl  binden)  angeführt  (vielleicht  zu  reschu  rein 
resl  gehörig,  doch  vgl.  das  folg.).  —  ei.  pr  per-reist  verbinden.  — 
(li.  räiszas  lahm  (nach  Fick  II.  644),  dazu  räi^zlu  räiszau  räiszli  lahm 
werden  (scheinbar  primär),  räiszii$  räiszeli  lahmen;  raiszlas  N  Kopf- 
binde, gewöhnl.  raiszlis  ~  raiszaü  raiszpi;  raisziaü  raiszlijli\  räiszczoli 
Iterativa   (zu  riszii). 

i.  riszki-s  riszkile-s  »wisse  dich,  w.  euch«  (im  nördlichen  l^ilauen 
gebräuchlich  für  das  sonst  gebrauchte  zin6li-s\  ich  habe  nur  i  ge- 
hört, K  schreibt  j/),  bei  N  auch  le-si-riszla^  ebenso  ie-si-riszla-s  (=  te- 
si-zin)  MLG  I.  70.  —  ei.  reiszkiu  reiszkiau  reikszli  offenbaren.  — 
Ui.  raiszkm  N  offenbar  ^  raiszkau  raiszkyli  N  iter.  (zu  reiszkiu) ;  bei 
Sz  (s.  v.  skarga)  ap-raiszau  raiszyli  anklagen,  auch  bei  Bd  (ob 
hierher?). 

i.  rilü  rilaü  risii  rollen  trans. ;  riiinis  Rolle;  rislüvas  Walze; 
rilus  N  rollbar  ~  riieli  rollen  lassen  J  G67.  6,  aucli  intr. ,  le  rilel 
rollen  inlr. ;  ritinli  rollen  trans.,  le  rilinal  iter.;  rilineli  dem.  iter. 
trans.  —  €.  reczü  reczaü  resli  rollen,  wickeln  (J  488.  8;  584.  5  u.  o. 
aufbrechen,  von  Blumen),  le  reschu  relu  resl  abfallen,  sich  abtrennen; 
relu  releli  rollen  intr.,  le  re/w,  reM  hervorbrechen,  aufgehen  (le  re- 
taju  relel  caus.  rollen  machen) ;  äl-relas  Aufschlag  am  Ärmel,  N  auch 
al-rela;  reshjs  N  Krauskopf  (Substantivirung  des  pt.  pass.  reslas  ge- 
wunden) ;  resluvas^  le  reslava  Webebaum.  —  (li.  äl-railas  Aufschlag 
am  Ärmel,    N  auch  alraila  alraile,   Sz  alaraite  limbus;    "}  raisle  NBd 

«0» 


282  August  Leskien,  [20 

Kreis,  ?  vgl.  Iriöbas  {  raisia  hudavoti  KLD  in  geschlossenem  Quarrt 
bauen  ^  railaü  raitpi;  raiczoti  iter.   (zu  risii). 

i.  sijä  BrUckenbalken.  —  €•  te-pa-sije  (Jj  —  den  Orden  —  ant 
sava  krutinfj  WW  IL  76  anbinden,  ist  wohl  e  zu  lesen,  ij  ver- 
tritt bei  W  bisweilen  e\  le  senu  sei  binden ;  le  selava  Tuch  ums  Bein 
(statt  Strumpfes).  —  01.  älseilis  »das  vom  Schwengel  an  die  Achse 
gehende  Eisen«  BF  97.  —  ej*  le  sBju  prät.  (zu  sei),  —  di.  al-sajä 
GSz  Stränge  des  Pferdes,  »das  eiserne  Ding,  mit  welchem  der  skels 
an  der  Achse  des  Wagens  befestigt  wird«;  ät^saüe  »Verbindungs- 
stange zwischen  Bracke  und  Achse«  BF  97;  le  saiklis  Garbenband 
von  Stroh;  le  pa-sainis  Schnur,  aif-sainis  Bündel;  sailas  Strick  BF 
167,  saitai  Sz  vincula;  le  saile  Band;  le  saiwa  WeberschiflF,  Netz- 
nadel '^  le  saislit  iter.  (zu  sei). 

%•   sijöii  sieben;  äl-sijos  Abgesiebtes.  —  6.  sSlas  Sieb. 

€•  sSkiu  sekiau  s'ekli  langen  (mit  der  Hand),  schwören ;  le  seks 
eine  Art  Getreidemass ;  sSksnis  m.  Klafter.  —  ei»  seikiü  seikeli  messen 
(mit  Hohlmass);  seikm  Sz  (unter  mierny)  massvoll.  —  Cli»  saikas 
Hohlmass  «^  saikaü  saikpi  N  iter.  (zu  seikeli);  saikinli  schwören 
lassen;  saikszczoti  KLD  [  ]  iter.  öfter  langen. 

t,  le  schk'ibs  schief.  —  €.  le  schkebju  schk'ebu  schk'ebt  schief 
neigen,  kippen. 

i»  le  schk'idrs  dünnflüssig.  —  %•  le  schk'istu  schk'idu  schk'isl  zer- 
gehen, lit.  skyslu  skydau  skysti  N  dünn  werden,  fosk'^sli  sich  zer- 
streuen :  gani^klos  ap-sk^dusios  MLG  L  72  zerstreute  Heerden  {pa-skida 
WP  33  u.  sonst,  ap-skisti  G  ist  mit  y  zu  lesen);  skijstas  dünnflüssig, 
le  schk'isls  klar,  rein,  davon  schk'lslil  reinigen  ~  le  schk'idindt  caus. 
(zu  schk'isl).  —  €•  skSdzu  skediau  skesli  verdünnen,  trennen,  scheiden; 
le  schkMu  schk'edöl  in  Theile  zergehen ;  skeda  Sz  (unter  Irzaska)  Span ; 
skSdmenys  pl.  Scheidung,  skSmenys  pl.  Webergänge;  skedrä  Span; 
le  schk'psna  »die  feinen  Fäden,  in  die  der  Flachs  sich  vertheilen 
lässt«.  —  (li.  le  skaida  Span,  al-skaida  G  Abtheilung;  skaidülios 
KLD  [  ]  Fasern  (von  Flachs  u.  a.);  skaidulis  N  Faser;  skaidrus  N  hell, 
le  skaidrs;  skaislas  und  skaisliis  hell,  le  skaists  schmuck  --  skäidyli 
trennen  iter.  BF  168,  le  skaidil  verdünnen. 

1'.  le  prät.  schkiiu  schk'isl  meinen,  impers.  scheinen.  —  €•  le  präs. 
schk'elu  (zu  schk'isl).  —  €li.  le  skails  Zahl;  skaillius^  le  skaills  skaiüis 
Zahl  '^  skailaü  skaitpi  zählen,  lesen. 


S^j  ÜER  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  283 

i»  skl\slü  skündaü  sldisti  auseinanderfliessen ,  ap-sklindps  über- 
schwemmt BF  171,  sklidu  (3.  sg.  prät.)  hraujuiSlis  J  1.094.  8,  wie 
von  einem  PrSs.  ^sklindu^  die  Präsensform  wird  die  Veranlassung  zu 
dem  durchgehenden  Nasal  geworden  sein;  le  sklida  Schleife;  skli- 
dinas  voll  bis  zum  Überfliessen  «^  le  sklidet  gleiten ;  skliduriuti  schwim- 
men, fliessen  J  972.  5.  —  ^.  skl^dus  glatt  BF  171.  —  ei.  skleidzü 
skleidzaü  skleisti  ausbreiten  (bei  N  daneben  sklaidzu  sklaidtau  sklaisH). 

—  di.  le  sklaids  glatt;  ut-sklaida  N  Riegel,  davon  wohl  uz^sklaisii 
(scheinbar  primitiv)  präs.  sklaidzu  N  ein  Denom. ;  le  sklaidis  Herum- 
treiber; sklaidus  N  zerstreut,  nü-sklaidüs  N  abschüssig  --  sklaidaü  sklai- 
dpi  iter.  (zu  skleisli);  sklaidioti  iter.  zu  dems.  LB  335.  —  Vgl.  pr 
schklaits  schlails  (I.  sklails)  sondern,  sklailinl  scheiden.  —  Berührt 
sich  mit  slidr-^  wie  mit  sklind--^  stdand-, 

i.  skrijos  der  von  Bast  gefertigte  Rand  oder  die  Einfassung 
eines  Siebes.  —  t.  le  skridelöl  umherlaufen;  le  skridinät  laufen  lassen. 

—  €•  skrejü  skrcjaü  skrilli  im  Bogen  fliegen,  auch  trans.  im  Kreise 
bewegen,  zirkeln,  le  präs.  skrenu  skrgt  laufen,  fliegen;  le  skresch 
(gen.  skreja)  hitzig  (z.  B.  ßrgs),,  le  skremes  Abgänge,  Abgenutztes; 
le  skremeüs;  le  skremens  runde  Scheibe;  le  skretns  flügge  -^  le  skredinät 
laufen  lassen.  —  ei.  le  skreiju  Präsensf.  (zu  skret) ;  le  skrejsch  (gen. 
skreija)  hitzig.  —  ej.  le  skrejü  prät.  (zu  skret)  ^  vgl.  le  skrejßjs  Läufer, 
le  skrejens  Lauf,  le  skräjums  Lauf.  —  di.  le  skrajsch  (gen.  skraija 
undicht  (vom  Walde);  le  skraids  Herumtreiber;  szü  skraidiüju  spar- 
neliu  BF  171  (der  nom.  ist  skraidüs  flüchtig,  nicht  skraidias,  wie 
dort  angegeben)  --  skrajöti  i  28.  4,  101 8.  4;  skraidaü  skraidpi; 
skraidzöti;  skraidineti  iter.  (zu  skret);  le  skraidelel  iter.  dem.  viel 
herumlaufen;  le  skraidinät  caus.  laufen  lassen.  —  Die  Formen  mit  d 
sind  von  den  zu  skridr-  (s.  d.)  gehörigen  nicht  sicher  zu  scheiden. 

i.  skrindü  i  138.  5,  Sz  (unter  latam)  skridaü  skristi  fliegen, 
kreisen ;  skridule  Gerbeisen ;  skriditiij/s  [kelio)  Kniescheibe ;  skridine  N 
dss.  —  t.  skr^dauli  im  Kreise  gehen  J  276.  3;  skrydavöti  LB  343;  skry- 
dineti  kreisen  (von  Vögeln)  ebend.  —  e.  skredzu  skredzau  skrSsti  fliegen 
NBd;  skredtoti  Sz  fliegen  (unter  latänie).  —  (li.  skraidaü  skraidpi  N 
im  Kreise  herumtreiben.  —  Betreffs  der  Form  mit  d  s.  auch  skri-. 

i.  äp-skritas  rund  Sz  (unter  okrqgly),  J  1214.  1  [sirate'lis  =  Kpy- 
rjiaH  CHpoTa  vater-  und  mutterlose  Waise) ;  ap-skritm  rund ;  skriiidijs 
Kreis,   Kniescheibe,   le  skritulis  Rad,    —    f.    ski'jtis  f.  Radfelge.   — 


28 i  Aigiät  Leskik>',  ^22 

€f#  nkreczu  Hkreczaü  nkreHli  N  drehen;  nkrcHluva^  Zirkel.  —  €i.  'fskrei- 
ifie  Maolel,  Talar,  ?  ap-^i-skre'uilH  skreUlaü  «kreinii  N  den  Mantel  um- 
nehmen. —  Vgl.  skri-  und  ^krid-. 

im  le  Mda«  (.  pl.  Schüttschuhe,  schräges  Gerüst  zum  Hinauf- 
ziehen; KfliJm  rutschig,  glatt,  le  sUd^  glatt,  schräge;  le  »Udu  slidei 
gleiten;  le  slidewt  glatt,  rutschig  --  le  slidinäl  caus.  gleiten  machen.  — 
i.  ffhjslu  nlffdau  hIiJmU  gleiten ;  le  slidu  slidei   =  slidei   -  slydineli  iter. 

—  €•  "Islednas  N  -=  slednasf)  massig  geneigt,  nicht  steil;  le  siede 
Geleise  ^nach  Brückner,  Fremdwörter,  ^^  slav.  sledTj).  —  €lim  le  slaids 
abschüssig. 

i*    le  smidil^  le  smidinäl  lachen  machen ;  le  smlkäl  dem.  lächeln. 

—  6.  le  smel  lachen;  le  smekls  Gelächter  -  le  smedinäl  lachen 
machen.  —  et.  le  präs.  smeiju  (zu  smel).  —  ej.  le  prät.  smeju 
(zu  smelj ;  smüjßjs  Spötter.  —  Clt*  le  smaida  Lächeln  -*  le  smaidil 
iter.   (zu  smel). 

i.  pa-sminyü  smitjaü  smigli  BF  173  auf  einer  Spitze  hängen 
bleiben.  —  cL  smeigiü  smeußaü  smeujli  etwas  einstecken,  feststecken. 

—  (lim  smaiyas  Pfahl,  Stange  (zum  Anbinden  von  Pflanzen) ;  smaig- 
slisj  smaigsle  N  dss.  --  smaigstaü  smaigslfjU  iter.  (zu  smeigli) ;  smaigati 
smaigffti  dss.  —  Vgl.  smegli. 

i.  smilus  xMLG  I.  391  naschhaft;  smilius  Näscher,  Zeigefinger.  -- 
smiläuli]  smiline'li  iter.  naschen;  pa-smilinii  G  verlocken  (lecker 
machenj.  —  ai»  smailm  spitz,  naschhaft,  smailas  N  dss.,  sniailäuli 
iter.  naschen,  smailinti  spitzen.  —  Vgl.  übrigens  smalstutnai^  smal- 
slumifnai  KDL  Leckerbissen. 

e.  le  snedfu  snedfu  snegt  reichen.  —  CiL  le  snaigs  schlank.  ~ 
le  snaigslU  iter.   (zu  snegt), 

i.  sninga  snigo  snigti  schneien,  le  präs.  snigsl  (die  Präsensformen 
mit  »,  st  urspr.  inchoativ).  —  6.  snSga  präs.  (zu  snigti);  snegas 
Schnee.  —  dim  snaigalä  Schneeflocke;  snaigüle  dss.  -  snaigo  snaigijli 
iter.   (zu  snega), 

L  spiginli  heftig  frieren.  —  eL  speigas  starke  Kälte  MLG  I.  67. 

L  le  spldßnäl  quälen  bis  zum  Kreischen  (=  caus.  kreischen 
machen) ;  le  splgstBl  pfeifen.  —  e,  le  spedfu  spedfu  spegl  pfeifen 
(vgl.  indess  lit.  spengia  gällt  in  die  Ohren,  da  le  e  =  en  sein  kann). 

e.  le  spefchu  spedu  speft  drücken;  le  spede  Mangel  (Bedrängniss) . 

—  fCif  le  spaids  Druck,  Presse  -^  le  spaidit  (iter.  zu  speft). 


^^\  Dek   Ablaut  der  Wurzelsilben  im   Litauischen.  285 

/.  spinlii  spiUiü  splsli  incb.  ausschwärmen  (von  Bienen)  ap-Hpiniü 
JSv  umringen;  1  spünä  Dorn  der  Schnalle;  '^ spiiubjs  Stern  auf 
der  Stirn  eines  Thieres.  —  €•  speczü  speczüü  spesli  schwärmen; 
le  speis  Bienenschwarm;  spetis  dss.  B;  sp'eczus  dss.  —  €€•  speiczü 
speiczaü  speisli  umringen. 

i.  slingü  stigaü  sligli  inch.  (eigentl.  eben  anlangen)  an  einem 
Orte  ruhig  werden,  verweilen,  le  pröt.  siigu  stigl  einsinken  (doch 
vgl.  shigt) ;  le  sliga  Pfad.  —  i.  shjgau  shjgoli  dur.  verharren.  — 
€•  le  slegu  präs.  (zu  stigt^  doch  s.  u.  slrigi).  —  Bt.  le  steidfu-s 
sleidfü-s  steigte-s  eilen,  sleigtis  JSv  5  u.  ö.  sich  bemühen,  beeilen, 
i-steigti  W(oft)  stiften,  erbauen,  errichten  (fact.  zu  stigti);  steig  adv. 
J  311.  19  eilends;  sieigomis  i.  pl.  adv.  B  (wenn  nicht  ai  zu  lesen, 
vgl.  staigä)  eilends  -'  le  sleidfinät  beschleunigen.  —  di.  slaigä  adv. 
plötzlich;  le  slaigulis  unstüt  Umherwandernder;  le  staigns  mo- 
rastig, le  staignis  Morast  (doch  vgl.  unter  strig-)  -  siaigau-s  slaigyli-s  N 
iter.  eilen;  le  staigäi  wandeln;  le  staigalät  dem.  hin  u.  her  gehen; 
bei  Mielcke  auch  ein  primäres  slaigiü-s  slaigli-s  eilen  (ist  wohl  ei 
zu  lesen). 

t.  slimpii  slipaü  slipli  steif  werden;  su-stipelis  steif  Gewordener 
(vor  Kulte);  slipinis  »Stollen,  Stutze  an  einer  Schleife  zum  Auflegen 
oder  Stutzen  des  Obergestellsa,  slijnmjs^  stiptnas  N  Radspeiche;  sliprüs 
kräftig  ^  stipinli  steif  machen.  —  f.  ven-sljjpis  was  nur  einen  Spross, 
Zweig  hat  KLD.  —  6.  slepiü  slepiaü  slepti  recken  {pa-si-sWp^s  ge- 
reckt), le  stepju  slepu  stepl  strecken  (=  steif  machen).  —  wl.  stai- 
paü  slaip^ii^  le  staipU  iter.  (zu  stSpli)^  le  staipeklis  Recken  der  Glieder. 

t.  stringu  strigau  sirigti  BF  178,  KDL  hängen  bleiben,  le  prät. 
slrigu  slrigi  einsinken  (in  Morast;  vgl.  siig-)',  Isirikiä  Faser.  — 
€•  siregu  siregti  BF  178  ie  dort  =.  e,  anstecken,  le  siregu  präs.  (zu 
slrigi);  str'Sgalas  BF  177  [e  =  e)  Köder.  —  wL  le  slraignis  Morast. 
—  Bei  KLD  ein  slregiu  siregti  erstarren. 

im  strijnnis  slripimjs  Wurfknittel,  Leitersprosse.  —  i.  strypiü 
strypiaü  stnjpli  heftig  treten,  trampeln,  trippeln.  —  €.  sir'Spsfiis  m. 
Leitersprosse.  —  dim  paslräipomis  i.  pl.  f.  stufenweise;  straipsiiis  m. 
Leitersprosse  ~  le  slraipaläl  dem.  taumeln. 

ۥ  svedzu  svedzau  svesti  schleudern,  z.  B.  WP  156,  svedtu  ing 
weidu  schlage  ins  Gesicht  Sz  (unter  biJQ  kogo)^  le  swefchu  swedu  sweft 
werfen.  —  di.   le  nü-swaidigs ;   le  nü-swaidens  abschüssig  «^  svaidau 


286  August  Le8kien,  [24 

svaidyli  iter.  (zu  svMi),  z.  B.  WP  42.  47,  le  swaidil;  le  swaidelei 
iter.  dem. 

^.  le  $K;{/i(ti  ^u;i(iu  «u;t/)t  schwitzen  ^  le  «ti;id!^/  caus.  schwitzen 
machen.  —  €•  le  swedri  m.  pl.  Schweiss  -  le  swedinät  schweissen.  — 
ei,  le  sweidöl  (wohl  nur  dial.  für  stvidel). 

im  svidü  svideti  glänzen;  svidüs  NM  glänzend  -^  svidinti  caus. 
glänzend  machen.  —  i.  le  gaisma  swlde  der  Tag  brach  an  (nach 
ULD  ^i;j^/]tti  «wictu  «tt;e/i().  —  €•  f  sv'eslas  Butter.  —  (lt.  le  swaidU 
salben. 

ei.  szeima  Gesinde,  z.  B.  J  210.  3,  924.  17,  szeim^na  dss.  — 
di.   le  «aifne  dss.,  saimneks  Wirth. 

i,  szyplä  Spötter;  le  schipnis  dss.,  schlpnüi  hohnlachen  «^  szy-- 
pauti  N  Zähne  zeigen,  verhöhnen ;  szypsaü  szypsöti  grinsen ;  szijpteriti 
dem.  —  e.  szepiu'8  szepiaü-s  szepti-s  Gesicht  verziehen,  Zähne 
zeigen.  —  (li.  szaipaür-s  szaippis  iter.   (zu  szSpti). 

i.  szlij^s  pt.  prt.  a.  sich  geneigt  habend,  schief,  3.  sg.  prät. 
pa-szlije  (zu  szlpi)  WP  164;  szliiis  f.  Garbenhocke,  szlite  N  dss., 
szlite  B  Leiter,  vgl.  ?le  slila  »ein  aus  liegenden  Hölzern  gemachter 
Zaun« ;  szlivis  schief  beinig.  —  f.  pa-szlpi  KDL  (präs.  szlyju)  straucheln ; 
?le  sklljsch  (gen.  sklija)  abschüssig.  —  6.  szlejü  szlejaü  szlSti  anlehnen, 
le  präs.  slenu  sleL  —  ei*  le  präs.  sleiju  (zu  slgt) ;  le  sleijs^  sleija 
Strich,  Streifen;  ?le  skleijens  abschüssig;  at-szletmas  Vorhof  LB  373 
(s.  u.  ai)\  szleivis  schief  beinig  LB  140.  —  ej.  le  prät.  sUju  (zu  slet). 
—  ui.  szläjes  Schlitten;  at-szlaimas  Sz  {podworze),  KLD  Bd  Vorhof; 
le  slains  punvs  einschussig  (worin  man  einsinkt) ;  al-sdainis  Erker  M, 
»in  Samogitien  ein  geringer  Anbau  an  ein  Gebäude«  KLD;  szlaitas  Ab- 
hang; szlailis  m.  dss.;  szlajüs  KLD  []  schräg,  DL  von  Pferden,  die  beim 
Ziehen  seitwärts  geh^n  oder  springen  --  szlaistaü  szlaisttjU  iter.  (zu  szlSti) . 

i.  szmizu  szmizau  szmizti  N  verkümmern,  sthszmiz^s  verkümmert, 
klein;  szmizinp  B  {fchmifzinjs)  Geschmeiss,  Ungeziefer.  —  *•  "Jszniyk- 
sztu  szmykszau  szmykszti  N  (dss.  was  smizti).  —  e.  Iszmezineti  N 
[e  nach  KLD)  umherkriechen ;  ?  szmekszaü  szmekszöti  »in  unbestimmten 
Umrissen  dastehen,  etwa  von  einer  geisterhaften  Erscheinung  im 
Halbdunkel«  KLD  (doch  vgl.  szm^kszla  egle  M  die  Tanne  ragt  hoch 
empor).  —  Iszmaizm  N  kalt,  rauh  (vom  Winde,  =  verkümmernd?, 
wenn  überhaupt  das  Wort  richtig;  dieselbe  Bedeutung  hat  szaiziis). 

i.  szvinlü  szvitaü  szvisti  hell  werden,  aufleuchten;  szvitü  szvile'ti 


25]  Der  Ablaut  der  Wurzelsuben  im  Litauischen.  287 

heil  sein;  pa-szvitai  Schmucksachen;  szvH-varis  Messing,  Flitter; 
proszviczeis  l^a  regnet  mit  Sonnenblicken  '-»  szvitrine'ti  MLG  I.  70 
schimmern.  —  %•  szvylffü  J  624.  2,  szvytruti  blinken,  auch  trans. 
blinken  lassen  (schwingen)  J  518.  5;  szv^stereti  dem.  aufblinken.  — 
e.  szveczü  szveczaü  szvMi  leuchten;  szvesä  (=  ^szvßt-sa)  Licht,  szvems 
hell.  —  ei»  szveiczü  szvekzaü  szveisti  putzen;  paszveitalai  Putz.  — 
ai.  szvaisä  Glanz,  Helle,  szvaisus  hell;  pa-szvaisre  Nachdämmerung; 
ap-szvaiia  Sz  Reinheit;  ap-szvaista  KLD  [  ]  Reinheit  «^  szvaüaü  szvai- 
tpi  hell  machen  KLD,  schwingen  Sz  (vgl.  szvytüti);  szvaitinti  hell 
machen ;  szvaistaü  szvaistpi  iter.  (zu  szvJSsti ;  nach  N  auch  zu  szveisti) . 

i.  tinkü  tikaü  likti  intr.  passen,  taugen,  le  iik  {=  tinka)  tika 
tiiU  belieben ;  tikiü  tike'ti  (t  kq)  vertrauen,  glauben ;  le  partiks^  partika 
das  zum  Lebensunterhalt  Nöthige  {partikt  auskommen) ;  pre-tikis  f.  NSz 
Zufall;  le  tikls  tauglich,  vgl.  lit.  pri-tiklus  geziemend,  passend  MLG 
I.  391;  ne-likdis  Taugenichts;  tikslas  Belieben  WP  64;  tikras  recht; 
su'tikle  Sz  Zusammentreffen  (unter  poikanie) ;  tiktai  iikt  nur  (gerade)  «^ 
tikau  tikyti  NSz  zielen;  tikinti  NSz  gerathen  lassen.  —  i.  pa-si-t^k^s 
pt.  prt.  a.  JSv  8  sich  versehen  mit,  pat^kti  J  1095.  3  versehen 
(mit  Sterbesacrament),  vgl.  gitMu  pri-si-tijkusis  pl.  pt.  prt.  a.  WP  75. 
—  €•  le  präs.  teku  in  der  Bedeutung  »geschehen«  {nül^u  nü-ükt) ; 
gerat  nu-si-P^fS  KLD  gut  gelaunt  (s.  titi-si'teik^  dss.).  —  ei.  teikiü 
teikiaü  teikli  fügen;  pa-teika  Müssiggang,  pa-teiküs  mUssig;  le  teizu 
tdzu  leikt  sagen  (vgl.  slav.  praviü  »sagen«,  eig.  »recht  machen«); 
le  teika^  le  teikstna  Erzählung  (vgl.  jedoch  teigiu  teigiau  ieigti  KLD  [  ], 
WP  274,  MLG  L  61  [als  memelisch]  erzählen).  —  ai.  {-taikas  was 
zu  Gefallen  geschieht;  pa-taikd  Müsse;  sänntaike  Eintracht  JSv  18; 
taiküs  gut  eingepasst  --  taikaü  iaikpi  iter.  zusammenpassen;  täikinti 
zusammenfugen. 

i.  isz-tisas  gestreckt.  —  e.  iesiü  tesiaü  tSsti  grade  richten, 
strecken,  ap-tSsti  bedecken,  z.  B.  J  384.  15;  pra-tesas  N  Mastbaum; 
lesä  Wahrheit;  stal-tese  Tischtuch;  tesüs  gerade  (vgl.  tSs  adv.  gegen- 
über; tmog^  tesiom  geradeaus)  '-*  isz-teseti  J  746.  5  sich  bessern?  — 
ei»  teisiü  teisiaü  teisti  abmachen,  abfertigen  NSz;  atr-teisa  NSz  Ent- 
scheidung; teisüs  recht,  gerecht.  —  dt.  pa-taisä  Zubereitung;  ap- 
taisalas  Sz  Vorhang  (vgl.  aptSsti) ;  le  iaisns  gerecht  *«  taisaü  taisjti 
herrichten,  bereiten;  taisine'ü  iter.  dem.  dazu. 

if  tride  Durchfall,  tridius  wer  oft  D.  hat.  —  *.  pra-trptu  tr^dau 


288  August  Lk^skii^n,  [26 

Irijsli  iiil".  Durchfall  bekommen;  tryda  Durchfall  J  374.  5.  —  €•  ir'edzu 
tr'edzau  Iresli  Durchfall  haben;  /rerfa  N  Durchfall;  Iredalas  dünnes  Ex- 
crement,  treddlius  der  viel  Durchfall  hat.  —  di.  traidinti  Durchfall 
erregen. 

i.  triszku  Iriszkeli  spritzen  N  (vielleicht  y  zu  lesen,  N  hat  bei  dieser 
W.   überhaupt  nur  i;  auch  trikszii  B  »quellen«  wird  y  zu  lesen  sein). 

—  t.  trykszlu  trijszkau  trykszti  spritzen  intr. ;  trykszlc  Spritze  KDL. — 
e.  Ireszkiu  Ir'eszkiau  trek^zii  quetschen,  pressen;  treszke  NSz  Presse; 
Irekszlus  NSz  gepresst;  tr^kszlüve  Presse.  —  wL  ulüs  träiszkus  starkes 
Bier  KLD  [  ]  (welches  herausspritzt)  -  iräiszkau  trüiszkyti  iter.  (zu 
ir'ek4szii) ;  träiszkinti  dss. 

€•  le  Irepju  Irepu  trept  beschmieren.  —  €ti.  le  IraipU  iter., 
Iraipeklis  Fleck. 

i.  prät.  vijaü  (zu  vijti) ;  le  wija  ein  von  Strauch  geflochtener 
Zaun,  pl.  wijas  Ranken;  pa-vijijs  N  Strecke  Wegs;  vijünas  convoivulus 
arv.  —  %•  inf.  vijti  winden;  nachjagen,  le  präs.  wlju  [wiju^  wU)\ 
le  wljas  pl.  Ranken  (richtiger  wohl  wijas)  \  \e  wlle  Saum;  kaklä-vymjs^ 
kaklä-vyne  KLD  []  Halsband;  vijtis  f.  Gerte,  \e  wile  Ranke;  \e  wilfds 
Weide;  le  wliens  Flechtwerk;  vylores  KDL  Ackerwinde  (convolv.  arv.); 
vyluvai  Garnwinde;  le  tvlsts  Bündel  -  vyniöti  iter.  (zu  vijli);  vijslau 
vyslyli  wickeln  (ein  Kind,  vgl.  le  wisis);  vyturuli  JSv  9  iter.  (zu 
vj'fli).  —  €.  vejü  prüs.  (zu  vyti)\  velä  Drath  (vgl.  velioti  wickeln  LB 
347);  dazu  "f  älvejai  (=  kärtas  Mal;  e  schreibt  KLD)  eig.  )iWieder- 
kehr«.  —  €li.  vajöti  iter.    (zu  vyli) ;  vainikas  Kranz. 

e.  le  webjii'S  webü-s  webie-s  Gesicht  vei'ziehen.  —  dt.  le  wai- 
bile-s  iter. 

i.  pr  widdai  er  sah;  pa-vidalas  Erscheinung,  Gestalt;  pavidulis 
Ebenbild.  —  t»  isz-vijslu  vijdau  vpli  gewahrwerden;  pa-vijdziu  pavy- 
deli  beneiden;  pa-v^das  Neid,  pa-vydüs  neidisch,  pa-vi/rfwWts  Neider; 
vyzdijs  Pupille,  pa-vyzdtjs^  pä-vyzdis  Muster;  pr  aki-wysli  öffentlich  (*?). 

—  e.  le  wedti  wcf%  le  wedWi  sehen;  pa-vedus  ähnlich  WP  49,  83 
u.  s.  —  ei»  veizdzu  veizdeti  sehen;  veidas  Antlitz,  ap-veidüs  schön 
(von  Gesicht) ;  äp-veizdas  i  325.  5  Vorsehung,  üz-veizdas  Aufseher, 
i'Veizdm  NBd  ansehnlich;  veizdala  N  Brille.  —  di.  vaidas  N  Er- 
scheinung; vaizdai  KLD  []  Brautschau;  api)-vaizda  Vorsehung,  a/>- 
vaizdm  Sz  vorsichtig;  vaiskus  Sz  durchsichtig  (unter  nieprzejrzysty) ,  — 


27]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litaiischen.  289 

Dazu  pv  waisl  wissen  i.  pl.  waidimai^  pr  waisnan  a.  sg.  Kennlniss, 
pr  powaisennis  Gewissen;  pr  pa-waidint  unterweisen. 

im  vikrüs  munter,  rührig;  fne-viku  NQu  überaus,  überdiemassen. 

—  i.  -vykslü^  -vykaü^  -v^kü  sich  wohin  begeben,  anlangen,  eintreffen 
[i'V^kti]^  le  wikstu  wiku  wikt  gedeihen;  v^kis  ra.  N  Leben,  Lebendig- 
keit. —  €.  vekä  Kraft.  —  €i,  veikiü  veikiaü  veikti  etwas  machen, 
anfangen,  le  iveizu  weizu  weikt  ausrichten  {nihw.  =  lit.  nu-veikii  be- 
zwingen), weikle-8  gedeihen,  gelingen;  veikas  NSz  geschwind;  le  weikls 
munter,  frisch,  gut  gerathen;  vei'kalas  Geschäft;  pa-veikslas  Beispiel; 
le  weikme  Gedeihen;  le  weikne  dss. ;  veiküs  flink,  willig,  veikei  väk 
bald.  -'  le  weizinäl  gelingen  machen.  —  di.  }  vaikaü  vaikyti  Schi, 
scheuchen,  nach  KLD  in  Samog.  umherjagen,  su-vaikijti  N  nachjagen, 
haschen;  "^vaikas  Knabe;  "fväikszczoti;  "1  vaikszlineti  iter.  umhergehen, 
wandeln. 

i.  i-visü  sich  vermehren  WW  L  112  {j-visusi  daugybe)^  i-viso 
3.  sg.  prt.  WP  75,  so  mit  i  auch  BF  199,  KLD  []  schreibt  vyslu 
(vgl.  vinslu  G)  visaü  visti;  vislüs  N  fruchtbar.  —  €•  le  weschü-s 
wesle-s  sich  mehren,  gedeihen.  —  Bt.  veisiü  veisiaü  veisli  fortpflanzen ; 
veisle  Brut,  veislm  N  fruchtbar.  —  di.  vaisä  Sz  (unter  plodnosc) 
Fruchtbarkeit,  davon  denom.  (trotz  primärer  Form)  pa-vaislü  vaisaü 
vaisli  N  empfangen,  vaisus  fruchtbar  Sz  (unter  plodny);  le  waisla  Brut; 
vaisius  Frucht  ~  vaisaü  vaisijti  fortpflanzen,  fruchtbar  machen  it.  (zu 
veisii),  z.  B.  Neues  Test.  (Berlin,  Trowitzsch  1866)  Matth.  L  2  pav. 
erzeugen;  vaisinti  dss. 

i.  ven-viszys^  adv.  ven-viszei  »einsam,  ohne  Anhang,  unbeweibt 
etc.  lebend«  KLD  [  ].  —  !•  j  vyszes  oder  ant  vijszti  eil  zu  Gast  gehen 
MLG  L  71.  —  6*  le  weschu  wem  wesl  ULD  einladen?;  vesziü  veszeti 
zu  Gast  sein;  vesziu  kelias^  gewöhnl.  vhz-kelis  Landstrasse  {gosciniec 
poln.),  le  wesis  Gast;  veszne  Gastin.  —  dt»  vaisza  JSv  20  Be- 
wirthung;  vaisze  G  Gastmahl  ~  vaiszinti  als  Gast  aufnehmen,  be- 
wirthen. 

t.  vijstii  vpau  vijsti  welken  -  le  wUet  welken  lassen;  vylinli  dss. 

—  €•  le  wetet  welken  lassen.  —  Cti.  pa-vailinti  welken  machen, 
z.  B.  J  348.  7,  613.   13. 

t.  le  wlfchüt  wollen.  —  €•  uz-si-veziu  veziau  v'ezti  sich  über- 
winden zu  etwas,  vermögen.  —  Zweifelh.  Zusammenst. 

i.    le  fibu  (=   ^ßmbu;   neben  ßbu)  fibu  fibt  flimmern;   zibü  zi- 


290  August  Lbskien,  l^S 

bell  glänzen,  schimmern,  le  ßbet  blitzen;  pa-zibai  Flitterwerk  JSv 
1i,  vgl.  zibüie^  zibüczei  pl.  Flitter  im  Haarband;  le  fibins  fibenis  ßbmis 
Blitz;  zibunjs  Lichtspan,  vgl.  ziburiuti  N  flackern  --  zibinti  leuchten, 
anzünden  (Licht),  z.  B.  J  435.  4;  le  ßbinät  leuchten  lassen,  blitzen. 

—  i.  zybtere'li  dem.  leuchten  MLG  L  76  (bei  KDL  unter  »durch- 
blinken« zebtef'eti  und  zibtereli).  —  €•  zebiü  z^iaü  zSbti  leuchten 
lassen,  anzünden;  zSbas  ß  Blitz.  —  di.  zaibas  Blitz. 

i.  pra-t^8tu  i^dau  tysti  aufblühen ;  zydu  {zijdzu)  zydeti  blühen.  — 
€•  zedzu  iedzau  zSsti  NSz  formen,  bilden;  le  fedu  (fefchu)  fedet  blühen; 
iSdas  Blüthe,  Ring.  —  ei.  pr  zeidis  (Vocab.  seydis),  d.  i.  zeidas,  Wand 
(slav.  zidz  zu  Zhdaü). 

ei.  ieidzü  zeidiaü  zeisti  verwunden;  pazeida  Sz  (unter  obraza) 
Beleidigung,  Wunde,  IG  120.  —  dt.  zaizdä  Wunde,  {-zaizdus  N 
schädlich. 

%.  zyme  Merkmal,  Zeichen;  pa-tymifs  Merkmal.  —  (li.  zaim^ti-s 
sich  verstellen,  entstellen  MLG  L  76;  zaimöti-s  albern  ebend. 

i.  zvingü  [zvigü)  zvigaü  zvigli  aufquieken  --  zvigdaü  zvigdpi  caus. 

—  t.  zvygiü  ivygiaü  mjgli  KLD  [  ]  quieken.  —  e.  zvegiü  zvegiaü 
ivSgli  quieken. 

Als  Anhang  zu  der  obigen  Sammlung  folgen  hier  die  primären 
Verba,  die  keine  Ableitungen  mit  Ablaut  neben  sich  haben  oder  nur 
den  Wechsel  von  i  und  i  aufweisen  (Beispiele  für  die  Kürze  sind 
daher  nicht  weiter  nothwendig,  für  die  Länge  sind  sie  gegeben); 
ferner  die  primären  mit  ^,  ei,  ai  ohne  Ablaut.  Zum  Theil  lassen  die 
verwandten  Sprachen  das  i  als  der  hier  behandelten  Reihe  angehörig 
erkennen;  wo  es  nicht  der  Fall  ist,  beruht  die  Hereinziehung  der 
betreffenden  Verba  auf  der  Beobachtung,  dass  i  vor  einfacher  Con- 
sonanz  (mit  Ausnahme  von  r,  /,  m,  n)  fast  immer  dieser  Reihe,  i  vor 
mehrfacher  Consonanz  oder  vor  r,  /,  m,  n  fast  immer  der  Reihe  i,  e 
u.  s.  w.  (s.  d.)  zuzuschreiben  ist.  Onomatopoeia  wie  cipii^  cz^jpii^ 
pfjpli^  kmJIUi  u.  s.  w.  sind  nicht  aufgenommen. 

i  l. 

bligslu  blizgau  bligsli  aufleuchten;  blizgü  blizgeli  üimmern;  blizgai 
und  blizgei  Flitter;  blizges  dss.  —  blyzguii  flimmern  (vgl.  Fick  IL  623, 
ausser  mit  slav.  blh8{k)nqti  blSsh  mit  germ.  W.). 


29]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  391 

dizu  diiti  G  prUgeln,  nu-diie  3.  sg.  prt.  {teip  j\  nudiie  jogiei 
kaulai  buva  matomis)  WP  56;  MLG  I.  224  steht  dietli^  nu-dieiti  in 
ders.  Bedeutung.  —  Vielleicht  ist  die  Bedeutung  ursprünglich  »ein- 
tränken« (daher:  prUgeln;  vgl.  pilii  giessen  in  der  Bedeutung  »prü- 
geln«), dann  könnte  hierher  däias  Tunke  gehören. 

driztu  drizau  drhti  matt,  schlaff  werden;  driiinti  matt  machen 
MLG  L  65. 

i-m^  yij^^  gyii  erlangen. 

sU'kid^s  pt.  prt.  a.  zerlumpt,  zersausl,  KLD  nach  Muthmassung 
kindü  kidaü  kisti. 

klinkü  Idikaü  klikli  aufschreien;  klykiü  klykiaü  klijkii  schreien; 
klyka  N  Schrei ;  klyksmas  Geschrei  '^  khjkauli  iter.  schreien. 

le  knliu  (=  kninlu)  knilu  knist  keimen  (G  hat  ein  kninti  inf. 
Zweige  bekommen,  sprossen,  wohl  missverständlich  nach  einem  Präs. 
knintu) . 

ai-lizti^  3.  sg.  prt.  lizo  WP  114,  G  die  Lust  verlieren,  sich  ab- 
wenden. 

pin^  pigaü  pigli  wohlfeil  werden,  vielleicht  denom.  zu  pigüs 
wohlfeil. 

le  plljü'S  plijü'S  plite-8  sich  aufdrängen. 

ryjü  rijaü  rjjfti  schlucken;  le  iter.  ristiL 

rinkü  rikaü  rikti  beim  Sprechen  anstossen,  sich  versprechen, 
sich  verzählen;  rikus  Sz  fallax  [omylny). 

isz-si-r^kszti  sich  födeln,  sich  in  Faden  auflösen,  3.  sg.  pr.  r^fc- 
8zla  KDL  (unter  »fädeln«). 

{rizü-s)  rizaU'8  rizli-s  gesonnen  sein,  sich  unterfangen  WP  12, 
83,  vgl.  bei  G  ryzoli-s  ant  ko  etwas  vorhaben,  unternehmen  (Quan- 
tität zweifelhaft;  'wenn  i  zu  lesen,  könnte  dies  ==  in  sein  und  das 
Wort  mit  renz-^  recken,  zu  verbinden  sein). 

le  slkstu  8izu  8lkl  rauschen,  zischen  (von  kochendem  Wasser). 

s^8ti  prät.  8y8aü  ein  Kind  abhalten;  8y8taü  8y8tpi  dss. 

le  situ  situ  8i8t  schlagen. 

8kid{a)  3.  sg.  präs.  ertönt  MLG  72. 

8lyg8lu  8lygau  slygti  schlummern  N,  wohl  inch.  zu  verstehen. 

8pikiu  8pikii  ermahnen  N. 

8zikü  8zikaü  8zikli  cacare. 

8zimpü  szipaü  szipli  stumpf  werden. 


292  AüGDST  Leskien,  [30 

sziikti  prJit.  sztikaü  errathen  BF  185,  WP  215. 
tiztü  lizaü  tizti  schlüpfrig  werden;  iizüs  schlüpfrig. 
vlsgii  visgeti  schlotlern  —  f.  vysgoli  schwanken, 
le  wizinäi  schwanken;    le  wikstu  wikt  geschmeidig  werden,  sich 
biegen;  le  wlkne  Ranke;  le  wlksls  geschmeidig, 
le  wifu  wifet  flimmern. 
zypstü  zypaü  zypü  N  sich  erholen   (nach  einer  Krankheit). 

e. 

le  knefchu  knefu  knefl  dicht  aufkeimen. 

metti  süssen  (mit  Honig  etc.)  MLG  I.  229,  bei  N  prs.  mezu^  prt. 
mezaiL 

pesziu  pesziau  p'esii  schreiben  J  209.  1,  629.  2,  637.  5  {mes 
neijälim  apip'eszti  ni  iszpasaköli;  jaü  karüzi  uzpesze  \  kareivelins  jöii; 
asz  pesziu  gromaiel^),  slav.  phsali  u.  s.   w. 

skeczü  skeczan  skesli  ausbreiten   (z.  B.  von  Bliumen,  die  Äste). 

ei. 

keikiu  keikiau  keikti  fluchen. 

kreiszkiu  kreiszkiau  kreikszti  durchwühlen  MLG  L  227. 
pleikiü  pleikiaü  pleikti  Fische  ausnehmen,  »am  Bauche  aufspalten 
und  dann  breitlegen«;  vgl.  G  pripleikti  hinzufügen, 
le  reibst  reiba  reibt  impers.  schwindeln. 
skeiczü  skeiczaü  skeisti  Schi.  Leseb.  andern. 
szleikiü  szleikiaü  szleikti  wetzen. 

ai. 

gaisztü  gaiszaü  gaiszti  versäumen,  verschwinden,  zu  Grunde  gehen. 

kaipstu  kaipau  kaipti  abzehren,  kränkeln;  vgl.  le  k'eipstu  k'eipu 
k'eipt  das  Leben  kaum  durchbringen  ULD,  dort  auch  ein  kaipt  sich 
stützen,  sich  anhalten;  vgl.  Fortunatov  in  Bezz.  Beitr.  III.  56. 

kaislü  kaitaü  kaisti  heiss  werden;  kaiczü  kaiczaü  kaisti  heiss 
machen;  vgl.  kaiträ  Glut,  prä-kaitas  Schvveiss,  le  kaisls  erhitzt  u.  a. 

kai^zti  glätten  BF  119,  reiben,  schaben  G;  kaiszin  kaiszii  MLG 
I.  226  treiben,  rennen. 

klairu  klaireti  KLD  wackeln,  lose  sein. 


> 


31]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  293 

saiczn  (saitu)  saiczau  saisti  N  Zeichen  deuten;  saitas  N  Zeichen- 
deuterei. 

svaigslü  svaigan  svaigti  Schwindel  bekommen;  svaigulfis  Schwin- 
del; svaikte  N  dss.  -  ap-svaiginti  betäuben. 

le  waidu  waidu  waift  sich  wo  aufhalten,  beßnden. 

zäidzu  zäidzau  iäisli  spielen;  zäislas  Spiel. 

tnairiü  znaireti  schielen,  viell.  denom.  zu  znairiis  schielend  (auch 
sznaireli^  sznairas^  sznairüs  geschrieben). 

zvairiü  zvaireli  schielen,  viell.  denom.  zu  zvairm  schielend. 


II.    u  u  ü  au  ov. 

U.  priU.  bliuvaü  (zu  bliüli);  hluvimas  Auf  brüllen.  —  17.  prlls. 
bliüvü  bliüli  aufbrüllen  inch.;  bliüvis  m.  Gebrüll  -  bliüvauli  iter.  (zu 
bliäuli).  —  (tu.  präs.  bliäuju  bliäuli  brüllen;  Ic  bl'anha  Schreihals; 
le  bl'aure  Schreihals  ^  le  bl'auslil  iter.  (zu  Maul).  —  OV.  prät.  blio- 
viau  (zu  bliäuli)^  le  btäwu;  blovimas  n.  act. ;  blovikas  nom.  ag.  (zu 
bliäuli);  le  bl'äwa  Schreihals;  le  bl'äwejs  dss. 

UU.  briäujü-8  briäuli-s  sich  andrängen,  act.  zwlingen;  le  brauls 
ULD  geil;  briaunä  stumpfe  Kante  {peilio  br.  Messerrücken),  le  brauna 
abgestreifter  Schlangenbalg  u.  a.  —  OV.  briöviau-s  prüt.  (zu  briäuli); 
brövimas  n.  act. 

tl»  brukü  brukaü  brükti  einzwängen;  le  brüku  {=  brunku)  bmku 
bniiki  abbröckeln,  vgl.  pervas  nubrünka  memel.  MLG  I.  67  die  Farbe 
geht  ab;  le  bruzeklis  Sensenstreichholz  -  le  bruzinät  abreiben,  Sense 
streichen.  —  fl.  brükis  m.  Strich;  le  brüze  Strieme,  Schramme;  brip- 
klis  m.  Knitlel;  brükszmis  m.;  brükszni^  m.  Strich  und  brüksznis 
f.  i-st.  dss.  —  (tu.  braukiü  braukiaü  braükli  wischen,  streichen, 
le  fahren;  i-braukai  FüllwUnde;  nu-braukos  (Abschabsei)  Flachs- 
abgänge; braukis  Sz  ictus  {dos);  le  brauklis  hölzernes  Messer  zum 
Flachsreinigen;  le  braukis  dss.;  brauklüvas^  braukihve  Streich  Werk- 
zeug (beim  Flachs)  -  braukaü  braukffli  iter.  (zu  braiikli)^  le  brauzil 
streichen;  le  braukäl  iter.  fahren. 

tl,  bubenli  dumpf  dröhnen  (vom  Donner);  hiibyti;  bhbinli  dröh- 
nend schlagen;  le  bubiml  wiehern.  —  fi.  bühlf/s  iN  Rohrdommel 
{ü  KU))  -  bühauli  dumpf  brüllen;  biWuti  J  290.  I  dss.  —  (lll.  baubiü 


294  August  Lbskien,  [32 

bauHaü  baiibii  brUlleo;    baubl^s  Rohrdommel   -^  baüblereli  dem.  iter. 
(zu  baübti). 

U.  bundü  budaü  büsti  erwachen,  le  präs.  büstu  =  *bunstu\ 
bundü  budeii  wachen;  budrüs  wachsam  «^  le  budll  caus.  wecken; 
büdinli  wecken;  le  budinät  dss.  —  Ä.  büd^ne  KLD  Nachtwache.  — 
(tu.  baudzü  baudzaü  baüsti  züchtigen;  baudä  Strafe  KLD  [  ],  DL 
Scheltwort;  le  bauslis  (=  Haud-stja-)  Gebot  (zur  Bedeutung  vgl.  got. 
biudan) ;  bamme'  KLD  [  ]  Strafe ;  baüdzava  Frohndienst  -  por-st-bau- 
dyii  B  sich  erheben,  aufbrechen,  vgl.  pa-si-baudeti  NBd  sich  gegen- 
seitig aufmuntern,  sich  zusammenrotten;  su-si-baudtisi  pt.  prt.  a.  G 
»sich  in  irgend  einer  Sache  verabreden«  (wenn  für  batulzitsi,  zu  bath 
dyti^  sonst  zu  baiisti);  ?  le  baudit  versuchen,  prüfen,  kosten,  heim- 
suchen. Bi  L  249;  pr  etr4)audini^  auferweckt. 

fi»  bügstu  bü§au  bügü  intr.  erschrecken;  bügszlus  N  scheu.  — 
dU.  baugiis  furchtsam ;  baugsztüs  scheu  ~  bauginti  caus.  erschrecken ; 
baugsztaü  baugszl^ti  scheu  machen. 

U0  biurstü  (?)  biuraü  biürti  hässlich,  garstig  werden.  —  U.  biüruf 
präs.  (zu  biürli) ;  pr  bürai  scheu.  —  dtl.  biaurüs  hüsslich  -*  biauriü-s 
biaure'tis  Abscheu  haben;  biaürinti  besudeln. 

H.  sU'Czüstu  czüdau  czüsti  in  Niesen  ausbrechen.  —  €IU»  czäu- 
dzu  czäudzau  czämti  {czäudeti)  niesen;  czaud-iole  KLD  Niesswurz; 
czaudul'js  Niesen. 

tl.  czüpti  {uz  kq)  greifen  nach  MLG  L  369 ;  ap^-czupa  adv.  i.  sg. 
tastend,  vgl.  apy-czupo  N  loc.  sg.  dss.;  czupnus  greifbar  MLG  L  391; 
czupinomis  i.  pl.  Sz  palpando  «^  czupine'ti  iter.  betasten;  czüptereli  (bei 
Schi,  czüptereli)  dem.  schnell  greifen.  —  "Ü.  czupiu  czü'piau  czüpti 
betasten,  fassen  [u  KDL,  0  KLD;  czüpti  J  417.  16  u.  s.).  —  UU.  fczäu- 
piu  czaupiau  czäupti  {bürnq)  eng  schliessen  (den  Mund) ;  ?  czaupaü-s 
czaup^ti'8  iter.  zum  vor. 

tl.  czuzenti  schleifen  (beim  Gehen);  czuziniiti  dem.  iter.;  czu- 
ziuti  BF  105  schlürfend  gehen;  czuzi^ni  Rutschbahn.  —  !%•  czuiiü 
czuziaü  czu'iti  rutschen  auf  dem  Eise;  K  auch  0). 

M»  ?  le  drudet  in  der  Bed.  »zittern«.  —  li.  ?  le  drüksts  (mit  ein- 
geschobenem Ai?)  Verwarnung  ULD.  —  OM*  draudzü  draudzaü  draüsti 
drohen;  le  draudi  m.  pl.  Drohungen,  ntdratidus  N  tadelnswerth; 
le  drausma  Drohung,  drausme*  Zucht,  drausmüs  N  strafbar  --  le  draudH 
drohen,  vgl.  le  draudeklis  Drohmittel. 


^3]  1)er  Ablaut  der  Wurzalsilben  im  Litauischen.  ^9& 

U  (ö?).  su-drugii  prät.  drugo  B  sich  gesellen.  —  UUb  draügas 
Genosse.  —  ?  Dazu  le  drugt  ULD  sich  mindern,  zusammensinken 
(=  sich  zusammenziehen?). 

U.  le  drüpu  {=  ^drumpu)  drupu  drupt  bröckeln  intr.;  le  drupi 
m.  pl.;  le  drupas  f.  pl.  Trümmer;  le  drupeklis  Werkzeug  zum  Bröckeln; 
le  drupene  Brocken ;  le  drupata  Brocken  -  le  drupinät  trans.  zerbröckeln. 

—  (tu.  le  drauplt  caus.  bröckeln.  (Litauisch  hat  das  gleichbedeu- 
tende Wort  anlautend  l:  trupü  trupeti  intr.  zerfallen;  trupinei  Brocken; 
trupuiys  Brocken;   trupus  bröcklig  ~  trüpinii  trans.  bröckeln.) 

U»  le  prät.  fchuwu  (zu  fchüt) .  —  Ü.  dzüsiu  dzüvau  dzüti  dorren, 
trocken  werden;  dzüvä  KLDBd  Dürre;  su-dzüvelis  dürrer  Mensch;  dzüslä 
der  Verdorrende  KLD  [  ] ;  dzüsna  N  Schwindsucht ;  dziülis  f.  Sz  dss. 
(unter  sucholy  choroba).  —  UU.  dzäuju  dzäuti  trans.  trocknen; 
le  fchautrs  Trockenstange  ~  le  fchawH  (so  mit  a  Bi  L  410)  trans. 
trocknen;  le  fchaudet  trocknen  trans.;  dzaustpi  J  260.  7  u.  s.,  BF  110. 
iter.  (zu  dzäuti),  —  OV.  prät.  dzöviau  (zu  dzäuti)^  le  fchäwu;  dzövi- 
mas  nom.  act. ;  dzovä  Darre,  Dürre  '^  le  fchäwet  {ä  ULD)  trans.  trock- 
nen, räuchern;  dzovinii  trans.  trocknen. 

U»  dumbü  (le  dubu)  dubaü  dübli  hohl  werden,  einsinken;  le  dtibli 
m.  pl.  Koth,  Morast;  dubüs  hohl;  dubunjs  N  Loch  im  Boden  (KLD  [  ] 
schreibt  dübunjs^  daneben  dumbur^s)  -  dübinti  hohl  machen.  — 
"Um  dubiu  dubiau  dübli  aushöhlen;  le  dübs  hohl,  tief;  dube\  le  dübe 
Höhle;  le  dubuls^  le  duhule  Vertiefung;  ?le  dümis  Höhlung,  Abgrund  - 
le  düböt  aushöhlen.  —  (HIb  daiAä  Schlucht;  daubur^s  dss.,  N  auch 
daubura. 

U.  dzutigü  dzugaü  dzügti  froh  werden;  dzugülis  Sz  (unter  weso- 
lek)  Spassmacher;  dzugus  Sz  garrulus  {rzekoüiwy)  *-  dzüginii  erfreuen. 

—  Ü»  dzügstü  Schi  (Präsensf.  zu  dzügti).  —  dll.  dzaugiu-s  dzau- 
giaü~8  dzaügti-s  sich  freuen;  dzaügsmas  Freude. 

U.  duksm  B  reichlich  amplus  -  duksinti  B  vermehren.  — 
(tu.  daüg  adv.  viel  (subst.);  datijw  m.  Vielheit -' ddwgfinii  vermehren; 
däuksinti  dss. 

II»  le  düku  (=  ^dunku)  duku  dukt  matt  werden;  le  duzu  duzöt 
it.  brausen  --  le  duzinäl  caus.  brausen  machen.  —  Ü.  dükstü  dükaü 
dükti  toll  werden;  le  düzu  {dükstu)  dükt  brausen,  tosen;  dükä  M 
Rasender;  dükis  m.  Raserei,  pädükis  m.  ToUwuth;  pa-dükÜis  Ver- 
rtlckter  '->  dükinti  rasend  machen;  dükmi'ü  iter.  dem«  umherFasen.  •~» 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oesollscli.  d.  Wissensch.  XXI.  S4 


296  AüGLST  Leskien,  [34 

CUUm  tai  eit  {  padauküs  das  geht  entzwei,  zu  Ende;  padaukles  N  dss. 
was  padaukaL 

U.  duslü  dusaü  düsti  auf  keuchen,  le  dtisu  dusu  dust;  dmiü  du- 
seil  (s.  a.  ü)  hüsteln  KLD  [];  düsas^  ai-dusas  J  551.  7  Seufzer; 
le  dv^a  Ruhe,  Schlummer;  dusul^s  Engbrüstigkeit,  le  dusulis  Husten; 
le  dusmas  f.  pl.  Zorn  ~  le  dusel  (keuchen)  ruhen,  rasten;  le  dminät 
ruhen  lassen;  düsinli  dampfig  machen.  —  Ü,  dmiü  düseli  keuchen; 
ätdüsis  m.  Seufzer  ^  düsauti  seufzen.  —  dU.  daüsos  Luft,  z.  B.  J  127. 
9;  dausinti  N  Luft  machen.  —  Vgl.  dvesiü  dve'sti, 

U.  le  dufu  [düfu  =  ^dunfu  ULD)  dufu  duft  entzweigehen;  duzis 
m.  N  Bruch  (ö?) ;  le  dufma  ULD  Verwirrung;  perduzimas  NSz  Knochen- 
bruch (ö?).  —  Ü.  düzis  m.  u,  f.  Bruch  (KLD  w,  DL  o).  —  au.  dau- 
ziü  dauziaü  daüzii  heftig  stossen;  pa-dauzä  NSz  Vagabund,  vgl.  le  pa- 
daufs^  padaufe  Lllrmmacher,  Herumtreiber,  und  karvele  padauzülele 
J  387.  1,   padauzü  NSz  Vagabund  »-  dauzaü  dauzpi  iter.   (zu  daüzii). 

U.  gludm  MLG  L  388  sich  dicht  anschmiegend ;  le  gluds^  le  glu- 
dens  glatt;  gltulzöms  oder  gludzeis  begii  mit  angezogenen  Ohren  laufen 
(vom  Pferde;  KLD  das  erstere  mit  ö,  das  zweite  ohne  Quantitäts- 
bezeichnung) '^  le  gludinät  glätten;  glüstereti  dem.  leicht  anlehnen 
KLD.  —  Ü»  glüst  änt  peiSs  lehnt  sich  auf  die  Schulter  »in  Samog.« 
KLD;  glüdau  glüdoti  angeschmiegt  liegen.  —  (lU.  glaudzü  glaudzaü 
glaüsli  anschmiegen ;  le  glaudi  m.  pl. ;  le  glaudas  f.  pl.  Liebkosungen, 
vgl.  glaudas  NBdQu  Kurzweil,  le  glauda  Glätte;  pri-si-glaüste  MLD  L  65 
Zufluchtsort;  glaudüs  anschmiegend  -  glaudi/ti-s  BF  113  schmeicheln 
(iter.  sich  anschmiegen);  le  glaudit;  le  glaudät  glätten,  glaudoti  B 
heucheln;  pri-si-glaüstyli  iter.  MLG  L  66  sich  anschmiegen,  Zuflucht 
suchen,  le  glaustU  streicheln  iter. 

U.  le  glumstu  glumu  glumt  schleimig,  glatt  werden;  le  glums 
schleimig,  glatt,  lit.  glümas  hornlos  (vom  Vieh).  —  Ctll.  gliaümas 
»schleimiger  Abgang  vom  Schleifstein«,  gliaumüs  NBd  »glüpfrig«  (vom 
Essen) ;  le  glauma  eine  Schlangenart,  le  glamnas  f.  pl.  Trespen  im  Lein. 

Ü.  gniüztÜ  Faustvoll,  Faust;  gniüzulas  G  (w?)  dss.  —  dU*  gniäti- 
ziu  gniäuziau  gniäuzii  Hand  zusammenschliessen ,  damit  drücken,  N 
hat  ein  mäno  szirdis  gniäuzt  mein  Herz  ist  beklommen ;  gniauzte  Faust  '^ 
gniäuiiau  gniäuzyti  iter.   (zu  gniäuzii), 

U»  griuvaü  prät.  (zu  griüli);  gruvimas  nom.  act.;  griuvüs  N  bau- 
föllig  (wahrsch.  ö,  so  KLD,    wenn   nicht   aus  Sz  und  prt.  präs.  :^ 


35]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  297 

griüvqs).  —  Ü»  präs.  griüvü  (le  gfüstu^  lit.  bei  Sz  griüstu)  griüti  ein- 
stürzen intr.;  le  gi'üwa  eingefallene  Erde  (auch  gfuwaTj,  —  ClU.  griäuju 
griäuli  umstürzen,  donnern;  le  gfawa  (ä?)  Schlucht.  —  OV.  prät. 
graviau^  le  gräwu  (zu  griäuti) ;   griövimas  nom.  act. ;    griovä  Schlucht. 

U.  man  szirdis  pa-grüdo  3.  sg.  prt.  mir  wurde  das  Herz  weich 
KDL  s.  V.  »weich«;  grüdzu  grüdau  grüsti  stampfen,  (Eisen)  härten, 
nach  N  auch  »ermahnen,  warnen« ;  grüdas  Korn ;  le  grüdenes  Graupen 
u.  a. ;  le  grüslis  Sonnenstäubchen;  grüstüvas  Stampfe  ~  grüdau  grü- 
dyti;  grüdinli  (Eisen)  härten.  —  Ät€.  le  graufchu  graudu  grauft  pol- 
tern, donnern  \}LD ; .  graudens  Gewitterschlag,  vgl.  graudulis  Sz  Donner 
(unter  ogrom)^  ebenda  grausmas  dss.,  davon  grausmus  [ogromny^  srogi) 
Sz;  le  grauds  Korn;  \e  grauschl'i  pl.  (zu  graaslis)  Schutt;  grausme  N 
Warnung;  gramvingas  SzP  6  schrecklich,  drohend  (parallel  mit  hai- 
süs)\  graudüs  spröde,  brüchig,  rührend,  wehmüthig  -  le  graufdäl 
(Eisen)  härten;  pr  en-graudisnan  a.  sg.  nom.  act.  Erbarmen;  graudinli 
härten,  spröde  machen,  in  der  Bibel  »ermahnen«  (wofür  gewöhnlich 
graudefiii)^  su-graudinti  betrübt  machen  J  615.  3,  IG  107. 

U.  gruzdü  gruzdeti  schwelen;  gruzdis  M  Aschenbrödel  ~  gruzr- 
denii  schwelen.  —  (ZU.  gräuzdu  grauzdeli  N  dss.,  bei  KLD  auch 
griauzdü, 

U.  gruzine'ii  iter.  dem.  nagen.  —  dll.  gräuziu  gräuziau  gräuzti 
nagen.  ?  Dazu  su-gruzinti  SzP  9,  20  vernichten ;  le  grufchi  pl.  (von 
grußs)  Schutt,  Graus;  gruzötas  N  uneben,  holperig;  gräuzas  Kies; 
le  grau  fehl' i  m.  pl.   (von  grauflis)  Graus,  Schutt. 

U.  le  guwu  prät.  (zu  gut);  guvüs  gewandt,  gescheit  JSv  73; 
?  lit.  guinü  gujaü  güiti  nachjagen  (so  Schi;  guijü  guijaü  K).  — 
Ä.  le  präs.  güstu  günu  güju  [güjul  s.  Bi  I.  355),  inf.  gut  haschen, 
fangen  ~  le  güstlt  iter.  —  dU.  gäunu  gavaü  gäuti  erlangen,  bekom- 
men {ap-gäuti  betrügen);  f gaujä  Haufe,  Rudel;  ap-gaule  JSv  76 
Betrug,  üz-gaulis  m.  M  Beute,  pagaulus  adj.  Sz  [pochopny)\  gauklas 
NSz  Erwerb  -  gäudau  gäudyti  iter.  (zu  gäuti)  fangen;  ap-si-gäu- 
dinti  J  613.  6  sich  betrügen  lassen;  ap-gaudineti  betrügen  IG  122. 
—  €iV.  le  gäwu  prät.  (zu  gaut),  —  ?  Dazu  le  gausa  Genügen,  Ge- 
deihen, gausüs  reichlich  -  le  gausll  reichlich  machen;  pa-gaüsinti 
JSv  18  vermehren;  le  gausinät  Gedeihen  geben. 

U.  le  guhstu  gubu  gubt  sich  krümmen,  sich  beugöir,  kv  guba 
Heuhaufen,  zusammengestellter  Haufen  von  Garben.  lit.  guba  G  Schober, 


298  AüGüST  Leskien,  (36 

le  gubät  Heu  in  Haufen  legen,  lit.  guboti  G  Getreide  aufhäufen.  — 
du.  su-gaubli  G  »Getreide  einfuhren,  einsammeln«,  im  2em.  soll  es 
bedeuten:  von  oben  her  ganz  zudecken,  vgl.  uz-si-gaübmi  verhüllt 
J  305.  1,  galveles  uzgaubstpos  J  220.  2  (iter.  dazu),  svöcza  gaubtüviu 
JSv  47.  —  Die  gewöhnliche  Form  des  Wortes  für  »einhüllen«  ist 
gobiu  göbiau  göbti, 

Ü»  güduriüli  klagen,  jammern  MLG  I.  359.  —  "Ä.  gudzu  gudzau 
gusti  beklagen,  -s  klagen,  sich  beklagen.  —  ClU.  gaudzü  gaudzaü 
gaÜ8ti  jammern,  heulen,  summen,  klingen  (Glocken  G),  le  gaufchu 
gaudu  gauft  klagen ;  le  gauda  Klage,  Geheul,  gaudm  N,  le  gausch  = 
^gaufchs  =  ^gaudjas  (Vertretung  von  gaudüs)  kläglich ;  gaudone  Pferde- 
bremse ~  le  gaudät  iter.   (zu  gauß), 

U»  guliü  guliaü  gülti  sich  legen;  guliü  gule'li  liegen;  pre-gulä 
Beischläferin;  prS-guls  Beischläfer;  le  gul'a  Lager;  sugulda  Sz  {sklad- 
nosc  concinnitas) ,  üzgulda  Sz  Grundlage;  le  gidta  Bett,  lit.  gulla  Lager 
Sz  (unter  loznicd)  -'  guldaü  guld'^li  legen.  —  "Ü.  le  gäVa  Lager,  Nest; 
gfÜis  m.  Lagerstätte.  —  Bei  Sz  gvalis  Lager  eines  Thieres  (s.  v. 
lozysko) . 

Ü,  gusis  m.  Ruck,  Mal,  güseis  i.  pl.  hin  und  wieder,  manchmal. 
—  (tu.  ?  le  gama  Genügen,  Gedeihen,  le  gausigs  verschlagsam,  vgl. 
?le  gauss^  adv.  gausi  langsam  (=  anhaltend?);  gamüs  reichlich.  — 
Die  Worte  von  gamä  an  s.  auch  unter  git-, 

Ü.  le  jüiis  pl.  Scheideweg,  Gelenkstellen,  wo  zwei  Knochen 
sich  berühren  Bi  (nach  Fick  H.  639).  —  dU*  jäuju  jäui  aquidam 
fervidam  super  infundere  N  aus  Schnitzen,  le  jäuju  jaul  Teig  machen, 
einrühren;  le  jaws  apjaws  ULD  Mengsei  von  Viehfutter;  javai  Ge- 
treide (nach  Fick  H.  639).  —  OV.  prät.  jöviau  (zu  jäuti)^  le  jäwu; 
le  jäwums  nom.  act.  Mischung;  edalu  jovüja  nom.  ag.  f.  JSv  6;  j6- 
valas  Schweinefutter. 

U*  jundü  judaü  jüsli  anfangen  sich  zu  regen;  judü  judeti  sich 
regen;  pa-juda  BF  149  Anregung;  jüdra  N  Wirbelwind;  judüs  NSz 
zanksüchtig  '->  jüdinti  rütteln;  juduti  sich  bewegen  (vom  Meere)  J  725. 
12.  —  dU.  le  jauda  Kraft,  Vermögen  -  le  jaudät  vermögen ;  su^jau- 
dinti  J  855.  8;  jaudrinti  N  in  Bewegung  setzen.  —  Bei  IG  114 
ne-si'juodindams  sich  nicht  regend. 

W»  m-jukti  sich  vermischen,  su-jükmi  pägada  Mischwetter  MLD 
L  71,  BF  119,  le  jUku  {=  junku)  juku  jukl  verwirrt  werdtti;  X^juka 


37]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  299 

Verwirrung,  Mischmasch ;  le  juzeklis  was  Verwirrung  stiftet  -»  le  juzinät 
Verwirrung  stiften.  —  CtU.  le  jauzu  jauzu  jaukt  mengen,  mischen, 
lit.  jaukti  mischen  (so  ist  G's  jaugli  zu  lesen) . 

tl.  jünkstu  jünkau  jünkti  gewohnt  werden  -  le  juzinäl  gewöhnen. 
—  (tu*  \e  jauks  lieblich,  anmuthig;  jauküs  zahm  -  \e  jauzet  gewöh- 
nen; jaukinti  gewöhnen  (Thiere,  zähmen). 

t^.  juntü  jutaü  jüsti  durchs  Gefühl  gewahr  werden;  jutüs  Sz 
(unter  czuyny)  empfindlich ;  juirus  empfindlich.  —  dfl.  jauczü  jauczaü 
jaüsH  fühlen,  le  jauschu  jautu  jaml  nach  Bi  fühlen  lassen;  pa-jaulä 
Sz  Gefühl  (sensus),  prejauta  BF  4  58  Gewissen;  \e  jamma  Gerücht, 
Ahnung;  le  jautrs  munter;  jautrus  WP  128,  MLG  I.  388  wachsam; 
jaulüs  empfindsam  '^  le  jautäi  fragen. 

U.  prät.  kliuvaü  (zu  kliüti) ;  kliuvimas  nom.  act.  —  Ü.  präs. 
kliüvu  (le  kPüstu)  kliüti  hängen  bleiben;  le  kl'üms;  le  krüma  Hinderniss; 
kliüiis  f.  u.  kliüte  N  Hinderniss  «^  kliüdaü  kliüdijU  caus.  (zu  kliüti)^ 
le  ktüdtt  iter.  (zu  klüt) ;  kliüdinii  caus. ;  le  kl'üstite-s  iter.  hängen  blei* 
ben.  —  ÖW€.  le  kl'aujur-s  Maut&s  sich  anlehnen,  lit.  pa-si-kläuju^ 
"kläuti  vertrauen  auf;  kliaudä  Fehler,  Gebrechen,  vgl.  kliaudzu  kliau- 
dzau  kliausti  N  hindern,  aufhalten;  kliaulis  f.  G  Vertrauen;  kliaute  Sz 
(unter  wada)  Hinderniss,  Gebrechen  ~  kliaudau  kliaudyti  N  iter.  hin- 
dern; le  kl'ausilte-s  hängen  bleiben.  —  OV.  prät.  klöviau^  le  Mäwu 
(zu  kliduti). 

U.  le  Uu^is  hölzerner  Nagel,  Krücke,  u.  a.  —  au.  le  klau^is 
u.  a.  Holzklotz,  grosses  Stück,  Grossmaul,  Raisonneur  --  le  klaudßt 
anklopfen,  klappern,  raisonniren;  le  klaudfinat  anklopfen;  lit.  klaugeli 
G  schwatzen. 

U.  klumpü  klupaü  klüpti  stolpern,  in  die  Knie  fallen ;  par-klupis 
N  Anstoss;  klupüs  leicht  stolpernd  -  klupdaü  klupd^jti  caus.  stolpern 
machen ;  klupinti  dss. ;  le  klupinät  caus.  und  iter.  (zu  klupt) ;  klupi- 
nSti  iter.  dem.  (zu  klüpti),  —  Ü.  le  Uüpu  adv.  strauchelnd;  klüpo- 
mis  adv.  i.  pl.  f.  kniend  -*  klüpau  klüpoti  knien.  —  ClU.  klaupiu-s 
klaupiaü-s  klaüpti-s  fact.  refl.  knien. 

U.  pa-klustü  klasaü  klüsti  gehorchen ;  le  kluss  still ;  pr  po-klusmai 
nom.  pl.  gehorsam;  klusm  MLG  I.  226  scharfes  Gehör  habend,  pa- 
klusus  Sz  gehorsam  (u.  poslmzny) ;  paklmnüs  gehorsam.  —  Cltl,  klävn 
siu  klätisiau  kläusti  fragen;  le  klamchi  n.  pl.  (zu  klausis  =  ^klausjas) 
»der  Gehorch«  ULD;    klausä  Sz   Gehorsam  (unter  nieposlmzenstwo)  -^ 


300  August  Leskien,  [38 

klausaü  klausijii  hören;  klausine ti  iter.  fragen;  le  klaumnäl  iter. 
forschen. 

U0  le  kruva  Haufe,  lit.  kruvä;  le  kruts  steil.  —  Ü»  krüvä  Haufe, 
so  K;  le  krüte  Hümpel  auf  Wiesen;  pakrüle  N  Uferrand  (ö  KLD). 
—  (tu.  kräuju  kräuH  (le  kfaut)  häufen,  laden;  le  kfawa  Haufe, 
le  krawäl  zusammenraffen;  le  kfaujs  m.,  krauja  f.  Haufe;  le  kraulis  Ab- 
sturz, steiles  Ufer,  Bergwand;  le  kfaume  grosse  Menge;  le  krauna 
ULD  Schwärm;  le  krauta  Ufer  (ULD  hat  auch  kraujs^  gen.  krauja 
steil,  kraujums  Steilheit,  doch  vgl.  kraujsch,  steiles  Ufer,  u.  lit.  kriäur- 
8ZU8  kräuszus  steiler  Abhang,  s.  krusz-)  -^  krämtau  kräuslyli  iter.  (zu 
kräuti^\  kraustineli  iter.  dem.  (zu  dems.)  J  312.  8,  JSv  80.  — 
OV.  prSit.  kröviau^  le  kfäwu  (zu  kräuli) ;  krövimas  nom.  act. ;  krovikas 
nom.  ag. ;  le  kräw^js  nom.  ag. ;  krovä  Haufen. 

U,  krüvinas  blutig,  krüvinti  blutig  machen.  —  €ltl.  kraüjas  Blut. 

U.  krükis  m.  Schi.  Leseb.  Rüssel;  krüke  N  Gegrunze,  Schweine- 
rüssel. —  Ü.  kriükiu  kriükiau  kriükti  grunzen  J  349.  1.  —  dU.  krau- 
kiü  kraukiaü  kraükii  krächzen;  le  krauka  Husten  des  Viehes;  le  kraukls 
Rabe;  lit.  kraukhjs  N  Krähe;  le  kraukschis  Knorpel;  kraukszle  Uneben- 
heit, Frosthölsterlein  auf  Strassen  etc.,  die  beim  Fahren  krachen.  — 
Zusammenst.  z.  Th.  zweifelhaft. 

t€.  krujnü-8  krupiau-s  krupti-s  N  erschrecken  (eigentl.  sich  zu- 
sammenziehen, zusammenfahren),  nu-krüp^s  BF  129  schorfig,  le  kfüpu 
[=z  ^kfumpu)  kfupu  kfupt  verschrumpfen  (bei  ULD  unerweichtes  r); 
le  krups  Kröte,  Zwerg;  krupus  Sz  furchtsam  {bojäzliwy)  •*'  le  krupet 
zusammenschrumpfen.  —  Ü.  le  krüpis  Zwerg;  krüptereti  dem.  plötz- 
lich zusammenfahren;  krüpszczoü  iter.  —  ClU,  kraupiü  kraupiaü 
kraüpti  aufschrecken  trans.,  sur-si-kraüpü  zusammenschauern;  le  kraupa 
Grind,  Warze;  le  kraupes  Runzeln;  le  kraupis  Ausschlag,  Kröte;  krau- 
püs  schreckhaft,  man  kraüpu  es  graust  mir  -'  le  kraupei  trocken  wer- 
den  (vom  Ausschlag);  kraupsipi-s  iter.  N  sich  ängstigen. 

U.  kruszü  h^uszaü  krüszti  {kriüszti  K)  stampfen,  zerstossen; 
kruszä  Hagel,  bei  N  auch  Eisscholle.  —  Ü.  pa-kriüszis  m.  KLD 
steiler  Abhang.  —  ClU»  kraüszius^  pakraüszius  Abhang  {kriaüszius  K), 
bei  Sz  [skala  wysoka)  krauszas  -'  le  krauset  stampfen;  kriauszpi  iter. 
(zu  krüszli)  MLG  L  85. 

fi.  kügis  m.  grosser  Hammer,  grosser  Heuhaufen  (vgl.  u.  kauge); 
küjis  Hammer.  —  Uli»  käuju  käuii  schlagen,  schmieden,  z.  B.  J  790. 


39]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  301 

17,  kämpfen,  le  kaujti  kawu  kaut^  zum  le  prät.  kaum  vgl.  gelzinim 
pänczus  änt  koju  kävu  J  1162.  3;  le  kawa  Schicht,  Haufe,  le  e-kawa 
Klammer;  le  kaudfe  Schober,  lit.  kauge  G  Heuhaufen,  vgl.  kaugur^s 
u.  kaugure'  »ein  mit  Sandgras  bewachsener  kleiner  steiler  Hugel«  KLD; 
le  kauslis  Raufbold;  kavine  G  Mörser  -^  katistau  käiisiyti  iter.  be- 
schlagen (Pferde),  le  kaustit  verkeilen,  beschlagen;  pakausdinli  J  534.  1 
beschlagen  lassen.  —  OV.  prät.  koviau  (le  käwu^  Bi  I.  363,  so 
wechselnd  auch  käwöjs  kawejs  Schläger,  käwens  kawens  Schlägerei) ; 
le  käwi  n.  pl.  m.  Nordlicht  (nach  dem  Volksglauben  kämpfende  Män- 
ner); kovä  Kampf,  kovöti  kämpfen. 

U.  kuviü-s  kuveli-8  [u  oder  ö?)  sich  schämen,  sich  scheuen  Sz 
(unter  wstyd  und  wstydliwy) ;  ?  le  külrs  träge.  —  0W€«  le  kauns  Scham  -^ 
?  le  kawBl  aufhalten,  zögern. 

Um  su-kukiu  kukiau  kukli  aufheulen  N ;  kukle  N  Geheul  (zweifelh. 
ob  u  oder  ü).  —  ClU.  kaukiü  kaukiaü  kaükti  heulen;  le  kauka 
Sturmwind,  le  kaukul  heulen  (vom  Winde) ;  le  kauza  Geheul;  kat^mas 
Geheul  «^  le  kauzinäl  zum  Heulen  bringen. 

U.  kükis  m.  Misthaken  (nach  Fick  II.  538  zu  dieser  Gruppe) ; 
kukul^s  Mehlkloss;  le  kukurs  Buckel;  kukarna  N  Frosthölsterein  auf 
Wiesen.  —  Ü»  le  kükums  Höcker,  Buckel,  vgl.  le  kükis  u.  a.  Zwerg, 
le  kükscha  vor  Alter  Gebückte.  —  Utl.  kaükas  Beule,  Geschwür; 
kaükos  KDL  Drüsen;  "f  käukole  Schädel;  kaukarä  Hügel. 

U.  le  küpu  (==  %umpu)  kupu  kupt  sich  ballen,  gerinnen ;  kupiu 
kupiau  kupli  KLD  []  auf  einen  Haufen  legen,  aufräumen,  ordnen; 
le  kuph  dicht;  kuplm  dss.  MLG  I.  389;  le  kupenis  Schneehaufen; 
küpinas  gehäuft  (beim  Masse);  le  kuprs  Höcker;  lit.  kuprä  dss.;  ku- 
petä  Heuhaufen;  küpstas  Erdhöcker  «^  küpyju  küpyti  KLD  häufen 
(ein  Mass) ;  küpinti  KLD  [  ]  häufen  (beim  Masse) ;  le  kupinät  gerinnen 
machen.  —  tl.  küprinti;  küprineti  KLD  mit  gekrümmtem  Rücken 
gehen.  -7-  '^^  ktipiu  kupiau  küpti  häufeln  (Getreide),  reinigen,  fegen, 
lett.  küpt  zusammenbringen,  reinigen;  le  kups  Haufe;  le  küpa  dss., 
lit.  apküpa  Sz  (KLD  [  ]  mit  0)  Reinheit,  apkupus  (ibid.  0)  reinlich.  — 
au»  kaupiü  kaupiaü  kaüpti  häufeln;  kaüpas  Haufe;  uzkaupa  N  Über- 
gewicht, Draufgabe  ~  kaupu'ti  häufen  (Mass;  zu  kaüpas). 

Um  kiürslu  kiuraü  kiürti  löcherig  werden,  prakiür^  durchlöchert; 
pra-kiurüs  {prakiuri  zeme)  locker  -^  kiürinti  durchlöchern.  — 
(tu*   kiäuras  durchlöchert  --  kiäurinti  durchlöchern. 


302  AüGüST  Leskien,  [*0 

U.  le  küstu  (=  ^kunstu)  kusu  kust  schmelzen  intr.,  thauen,  comp, 
ermüden,  lit.  tujaus  sukuszo  il  skruzdys  visas  mestas  WP  44  (kam  in 
Bewegung,  fing  an  sich  zu  regen  wie  Ameisen) ;  kmzü  kusze'ti  sich 
regen;  le  ai-kusa  Tbauwetter;  le  kuds  klein,  zart,  vgl.  kuszlüs  KLD 
schwächlich,  kümmerlich  (von  Pflanzen) ;  le  kustunis  »lebendige  Wesen«, 
auch  »Ungeziefer«  --  küszinti  rühren,  in  Bewegung  bringen;  kitszind^li 
iter.  dem.  dss. ;  le  ktisinät  müde  machen;  le  kustel  rühren,  bewegen; 
le  kmtinät  dss.  —  Ü.  le  küsuls  Sprudel  «^  le  küsät  küsät  küsut 
wallen,  überwallen,  uf-küsäl  auflhauen.  —  ClU.  le  at-kama  Thau- 
wetter  -  le  kausät  trans.  schmelzen,  ermüden;  pr  en-kausint  an- 
rühren. 

Ü.  kiutis  f.  N  ein  Loch,  das  sich  die  Schweine  im  Schlamme 
wühlen,  darin  zu  liegen  (w  ?) ;  ?  le  kütrs  faul  (s.  oben  u.  kuviü-s)  -* 
kiütau  kiüloii  »mit  angeschmiegtem  Kopf  still  daliegen«;  nu-kiütina 
ätgal  i  karkl'^nus  MLG  L  364  (dort  übersetzt  »ging  zurück  ins  Ge- 
büsch«). —  (tu.  kiaustü  kiautaü  kiaüsti  verkümmern  (im  Wachsthum), 
ap-kiaüt§8  verkümmert,  auch  von  einem  trägen,  ungehorsamen  Jungen; 
ap-kiaülelis  ein  Verkümmerter,  Träger. 

(tUm  liäuju  liäuii  aufhören,  pr  au-laut  sterben;  pa-liauba  Sz 
(unter  mtawanie)  Aufhören;  lavönas  Leiche.  —  OV.  prät.  liöviau 
(zu  /mw/i),  le  l'äwu;  liovimas  nom.  act.  Aufhören;  pa-Uovä  dss. 

il0  liüstü  liüdaü  liüsti  traurig  werden;  liüdiü  liüde'ti  traurig 
sein;  liüdnas  traurig.  —  (Itl.  pr  lamthieiti  2.  pl.  imp.  demüthigen 
(wäre  lit.  inf.  Hiaustinti) ;  pr  laustingins  a.  pl.  demüthig  (Ableitung  von 
einem  St.  ^liausta-  Betrübniss). 

Ü»  lükiu  lükeli  ein  wenig  warten,  vgl.  pr  kaima-luke  suchte 
heim  (w?);  le  nü4üks  Ziel,  Absicht;  palüki  N  Warten;  palukanos 
Zinsen  (Wartegeld) ;  lükestis  f.  Harren  -  lükteliu  dem.  LB  338  zau- 
dern; le  lükut  schauen,  nach  etwas  ausschauen;  Itikurti^  lükurioti 
dem.  harren.  —  Cltl.  läukiu  läukiau  läukti  warten;  pr  laukit  suchen. 

t€.  lupü  (le  lüpu  =  *lumpu)  lupaü  lüpti  abhäuten,  schälen,  le 
auch  berauben;  ww-/Mj!>a  N  Abgeschältes,  Abfall,  bei  Sz  (unter  lupina) 
steht  nuoluopa  (=  mlüpa)^\  lupinai  u.  lupinos  N  Obstschalen;  lupsnis 
f.  und  lupsznis  f.  geschälte  Tannenrinde  -  lüpinti  schälen;  le  lupinäl 
dss.  iter.;  lupine'ti  iter.  dem.  —  dtl»  le  lauptt  iter.  (zu  hipt)^  lit. 
laupyti  G  rauben. 

U,  lüztu  lüzau  lüiti  intr.  zerbrechen;  lüze'ti  intr.  brechen  J  1217, 


^^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  303 

5;  lüzis  m.  Bruch;  le  lüfchni  (pl.  von  lüfnis)  Bruchstelle  im  Walde; 
lüztt$8  N  zerbrechlich,  aus  Sz  (unter  lomisty),  scheint  =  lüztqs  prt. 
präs.  zu  lüztu  -  lüztereti  dem.  ein  wenig  einknicken.  —  (Itl.  läuziu 
läuziau  läuzti  trans.  brechen;  läuzas  Ast;  le  laufa  Bruchstelle  im 
Walde,  nv!'lauza  Bruchstück;  läuiis  m.  Bruch  (z.  B.  Steinbruch); 
le  laufchni  (pl.  zu  laufnis)  Bruchstelle  im  Walde;  lauitüvas  Brech- 
instrument, Flachsbreche;  lauzüs  Sz  zerbrechlich  «^  läutau  läuzyti  iter. 
(zu  läuzti). 

Ü.  pr  aa-mü-snan  a.  sg.  Abwaschung.  —  au.  mäuju  mätiti 
streifen,  le  maut  auch  »schwimmen«;  le  pa-mawe  Umwurftuch  der 
Frauen;  le  e-mauti  pl.  Zaum  {maut  zäumen);  rank-mauste  NSz  Arm- 
binde der  kath.  Geistlichen  ~  mäudau  mäudyti  baden;  le  maudät 
schwemmen;  mäustau  mäustyti  J  790.  11;  mäusczoli  J  810.  6  iter. 
(zu  mäutt).  —  OV.  prät.  möviau  (zu  mäuti)^  le  mäwu;  mövitnas  nom. 
act. ;  movikas  nom.  ag. ;  üz-mova  was  man  aufstreift  (z.  B.  Muff).  — 
?  Dazu  ein  le  muljä-s  müjvrs  müte-s  hinderlich  sein,  unter  den  Füssen 
sein  ULD. 

Clfl.  le  mauju  und  tnaunu^  maut  brüllen  (von  Kühen;  onomatop.). 
—  Äl?.    prät.  mäwu. 

U.  le  müku  (=  ^munku)  muku  mukt  sich  abstreifen,  in  einen 
Sumpf  einsinken,  fliehen,  lit.  mükti  G  entwischen,  müka  ätgal  f  me- 
stili  (3.  sg.  prt.)  eilen  MLG  I.  386;  le  nümuka  abgestreifter  Balg, 
le  at-mukas  f.  pl.  [dfijas  ar  atmukäm  lose  gesponnenes  Garn) ;  le  mukls 
einschüssig,  sumpßg.  —  Ü.  le  nü-müki  m.  pl.  abgestreifter  Balg.  — 
dU*  maukiü  maukiaü  maükti  streifen,  MLG  I.  383  saufen;  le  nu-^auks; 
le  nümauka  abgestreifter  Balg;  le  mauka  meretrix;  maukna  G  Baum- 
rinde, vgl.  le  maukni  m.  pl.,  le  mauknes  f.  pl.  Tannenrinde  zum  Decken; 
le  emaukti  m.  pl.  Zaum. 

U.  mürstu  muraü  mürti  durchweicht  werden  (vom  Boden), 
i-mürfs  durchweicht  (z.  B.  vom  Wege)  -  le  murit  besudeln ;  miftdau 
mürdyti  einweichen,  eintauchen  WP  188  (f-).  —  Cltl»  le  maura 
Gras  ums  Haus  herum,  Rasen ;  lit.  maurai  Entenflott  -»  ?  iszmauroti  G 
aufscharren  mit  den  Hörnern  (vom  Ochsen),  vgl.  maurioli  G  herum- 
schweifen, vgl.  uzmauröju  (3.  sg.  prt.)  säva  piktä^  dainas  I  855.  8.  — 
Zweifelh.  Zusammenstellung. 

OW^.  le  nauju^  naut^  iter,  fiaudöt  miauen  (onomatop.).  —  ÜV*  le 
prät.  nmvu. 


304  August  Leskien,  [*2 

Ü»  pa-nuslu^  nüdau^  misti  (mit  gen.)  gelüsten,  sich  sehnen  nach, 
vgl.  änl  ku  panüdu  (3.  sg.  prl.)  lävu  szirdele  i  68S.  3.  —  ClU»  naudä 
Nutzen,  Hab  und  Gut;  zur  Bedeutung  vgl.  natidyti  begehren,  naudüii-s 
sich  aneignen. 

Ü.  niuksoti  im  Dämmerlicht,  im  Dunkeln  daliegen,  gire  niukso  G, 
auksztas  isz  ülos  kalnas  niukso jo  WP  120  (ä?);  niükiü  niükiaü  nitUiii 
{nükti)^  auch  nükslü  nükaü  nükti  KLD  rauschen,  dumpfes  Getöse  machen. 
—  dtl*  ap-si-niäukiu  niäukiau  nidukli^  le  apAaukte-s  sich  bewölken, 
lit.  pt.  prt.  a.  ap'si-niäukfis  besudelt,  unordentlich. 

tl,  plujoti  J  113.  2  schwimmen  (w?);  \e  pludi  und  pludini  m.  pl. 
Schwimmhölzer  an  Netzen  ^  le  pludel  obenauf  schwimmen;  le  plu- 
dinäl  überfliessen  machen;  le  pludüt  sich  ergiessen.  —  Ü.  plüstu 
plüdau  plüsli  ins  Schwimmen  gerathen;  plüdiu  plüdzau  plOsti  N 
schwatzen;  le  plüdi  m.  pl.  Überschwemmung,  Flut;  plüdis  f.  Schwimm- 
holz am  Netze;  plüdza  N  Schwätzer;  plütis  m.  N  oflFene  Stelle  im 
Eise;  le  plüskas  f.  pl.  Schleuse;  änt  pltistu  (Floss?)  pastäczus  i  üpi 
paslümli  JSv  75  -  le  plüdit  ergiessen;  \e  plüdinät  überfliessen  machen; 
plüdurti  auf  dem  Wasser  treiben.  —  Cl/U»  pläuju  pläuti  spülen; 
le  plaufchu  plaudu  plauft  nass  machen,  auch  »kund  machen,  unter 
den  Leuten  verbreiten«,  lit.  plaudzu  plaudzau  plausti  NSz  waschen; 
pa-plava  WP  238  Spülwasser  (?) ;  upe-plaudis  m.  Sz  Abspülen  durch 
die  Strömung  (unter  podbieranie) ;  pliaunä  (so  KLD)  Schwätzer; 
?  le  plauskas  f.  pl.  Schinn  auf  dem  Kopfe ;  plaüsmas  Floss ;  plaütis  m. 
Schnupfen,  pl.  plaüczei  Lunge  (nach  Fick  IL  612);  platistas  Floss  zum 
Übersetzen  MLG  L  19  -^  plaujöli  iter.  (zu  pläuti)  Schi.  Leseb.;  plau- 
stau  plaustyli  iter.  (zu  dems.)  J  870.  7.  —  OV^  plöviau  prät.  (zu 
pläuti) ;  plovimas  nom.  act. ;  plovejas ;  plovtkas  nom.  ag. ;  isz-plovos  N 
Spülwasser. 

U.  plunkü  plukaü  plükti  verschiessen ,  die  Farbe  verlieren, 
le  plüku  (=  plunku)  pluku  plukt  verbrüht  werden,  abgehen,  ver- 
schiessen, uzplunku  M  befliessen,  vgl.  J  716.  5  paplil^u  (3.  sg.  prt.) 
lentüzes  die  Bretter  —  der  Brücke  —  schwammen  weg  (zu  lesen 
ist  wohl  pa-plüku)  ~  plukpi  BF  157;  plukdaü  plukd^li  schwemmen; 
le  plttzinät  iter.  (zu  plükt) ,  caus.  zu  plukt  ULD.  —  ti.  ?  le  plüzu 
plüzu  plükt  zupfen;  le  plükät  iter.  {ü  =  wn?,  vgl.  plünksna  Feder, 
nach  Fick  II.  612  hierher  gehörig).  —  CtU*  plaukiü  plaukiaü  platikti 
schwimmen;  plaukai  Haar  (nach  Fick  II.  612),  d^v on  pläukstu pläiJuiu 


r 


i|>^ 


r-.* 


43]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  305 

pläukti  Haare  bekommen,  schössen,  pläukiu  pläukiu  pläukti  dss. ; 
le  plauks  Wischtuch;  ie  plaukas  f.  pl.  Flocken,  Fasern;  pre-plauka  Sz 
Hafen  {port) ;  plaükumas  Floss ;  ?  le  plaukts  Sims,  Scheibe  unter  dem 
Wagenkorb,  auf  der  die  Achse  ruht;  ?le  plaukstes  Schinn  auf  dem 
Kopfe  -^  plaukaü  plaukpi  iler.   (zu  plaükli), 

ti.  le  pl'upstu  pl'upu  phipt  sprudeln.  —  'Ä.  ?  pliopiü  pliopiaü 
pliöpti  platschern,  schwatzen;  pliopä  Plappermaul.  —  dU.  pliaupiü 
pliaupiaü  pliaüpti  platschern,  schwatzen. 

M.  plüszai  KLD  s.  v.  Faser;  pliüszis  f.  und  pliüsze  Schilf,  Schnitt- 
gras; le  plüsni  m.  pl.  flatternde  weisse  Birkenrinde  --  iszpluszöti  J 
757.  3,  papluszöti  1  330.  1  (ö?)  sich  zerfasern,  pliüszüti-s  sich  ab- 
fasern  KDL.  —  ?  Dazu  pluksztu  plüszkau  plükszti  zusammenfallen, 
dünn  werden.  —  dU.  plamzai  Bast. 

U.  prusnä  Maul,  die  dicken  Lippen  am  Maul  (des  Rindes).  — 
dU.  prausiü  prausiaü  praüsti  waschen  (Gesicht),  Grundbegr.  »spritzen«. 

fl.  pitivis  m.  Schnitt,  szen-piüvis  Heumäher  J  23.  3;  piüve  N 
Schnitt,  Ernte;  piüklas^  N  auch  piükle  S\^ge;  piümü  BF  155  Ernte, 
piümene  Sz  (unter  zniwo)  dss.;    piütis  f.,  auch  piute  (Schnitt)  Ernte. 

—  (tu.  piäuju  piäuti  schneiden  (le  ptaut)-,  le  pl'awa  Wiese,  Heu- 
schlag; \e  pl'aujaTivnie;  a/^-piatifc/a«  N  Abschnittsei ;  piäutuvas  Siehe] '-> 
piämtau  piäustyti  iter.;  piäustineli  iter.  dem.  {zu  piaiUi).  —  OV»  prät. 
piöviau^  le  pl'äwu  (zu  piäuti^  le  pl'aut);  piövimas  nom.  act. ;  le  pl'ä- 
wums  das  Gemähte;  piovejas,  le  pl'äwejs;  piavikas  nom.  ag. ;  piove 
(Schnitt)  Ernte  J  976.  4,  vgl.  le  pl'awa  Erntezeit. 

tl»  prät.  puvaü  (zu  puti) ;  puvimtis  nom.  act. ;  supüvelis  Nichts- 
nutz; le  papuwa^  le  papmve  Brachacker.  —  U.  präs.  püvü  püti 
(le  prs.  püstu)  faulen;  le  papüde  Brachacker,  vgl.  lit.  püdymas  dss.; 
pülei  Eiter;  le  püfnis  m.,  auch  püfnes  f.  pl.  Moder  -  le  püdet  caus. ; 
püdau  püdyli'C^ns.  faulen  machen.  —  dtl»  "!  piaulai  faules,  im 
Finstern  leuchtendes  Holz,  J  1 278.  i ;  vgl.  indess  le  prauls  moderndes 
Holz  (für  *ptaul8l). 

U.  le  pum  »Auswuchs  am  Baume,  Höcker«;  le  punis  Beule; 
le  pui'ia   und  pune   Knollen;    le  punte  Beule,   Auswuchs   am  Baume. 

—  dU,  le  pauns  und  pauna  Schädel;  le  paurs  und  paure  Schädel, 
Hinterhaupt,  Gipfel.  —  Zweifelh.  Zusammenst. 

t€*  pülli  fallen,  le  prät.  pulu;  pultis  NSz  Fall,  pra-pultis  f.  Ver- 
derben -  piildau  püldyti  fallen  lassen;  piildineti  dem.  iter.  {zu  pülli). 


30G  ArcrsT  Leskiets,  }^ 

—  U.  präs.  pulu,  prSit.  puliau  [zu  pülti  ;  ai-puleli^  Ablrünniger ; 
puliff  m.  Fall,  pre-pidns  zufällig,  zu  pr^ulU  m.  Sz  Zufall;  at-pfdinys 
Abtrünniger. 

tl»  le  pups  Weiberbrust.  —  If«  le  püpuli  m.  pl.  Weidenkätzchen. 

—  UU»  le  pavpt  schwellen,  verrecken.  —  Vgl.  pämpti,  pümpuras  u.  a. 

!€•  pukszle  Sz  (unter  guz]  Beule.  —  €ltl,  papauszkas  (ebenda)  dss. 

U»   puszkü  puszketi  knallen   (von  gährenden  Dingen}  '-*  pu»zkinti 

caus.  —  Ü,  pa-si-pÜ8zkau^  puszkyti  Schi.  Lsb.  im  Wasser  plätschern. 

—  €IU»  päuszkiu  päuszketi  knallen  '^  päuszkinti  caus. 

tl»  puczü  präs.  blase,  wehe;  puntü  puiaü  pmti  schwellen  '^sich 
aufblasen);  pulä  Blase,  pl.  Schaum;  6aiii/-pti/j^«  Wellenbläser  (Meeres- 
gotl);  le  puteklis  Staub;  isz-fiäelis  Aufgedunsener;  puilüs  NM  sich 
blähend;  pütmenos  K  Geschwulst;  puimenys  m.  pl.  dss.;  le  ptUenis 
Stühm  (Schneetreiben);  pusnis  f.  J  1056.  3  zusammengewehter 
Schneehaufen,  vgl.  davon  pusmjnas  dss.;  ^ puträ  Grütze  -  le  pittu 
pulst  stäuben,  stühmen  iter.  (zu  püst) ;  le  putinät  dss. ;  püsto  pusiyti 
stühmen  iter.  KLD.  —  U.  prät.  püczaü  pusti  blasen,  le  präs.  püschu ; 
pa-sirpütelis  aufgeblasener  Mensch ;  \Qnü-püla  Seufzer;  le  püle  Blase, 
Blatter;  le  püm  Windstoss;  le  püslis  Blase;  püsW  [ü  K)  Blase,  z.  B. 
Harnblase;  le  püsma,  püsme^  püsmis  Athemzug.  —  ClU.  "? paütas 
Ei,  Hode  (doch  vgl.  le  ptUns  Vogel);  pamatfs  sutrintus  papautus 
(Schwielen?)  ant  ju  ranku  nü  sunkio  darbo  WP  63. 

t€.  rujä  Brunstzeit  des  Wildes.  —  Ä.  le  rujas  laiks  Hegezeit 
des  Wildes.  —  Uli»  le  raunas  laiks  Brunstzeit  der  Katzen. 

Uli»  räuju  räuti  ausreissen;  le  rauklis  Raufeisen;  rävalas  Sz 
(unter  pletvidlo)  Gäten;  le  raustawa  und  rautawa  Raufe;  isz-ravus  Sz 
Unkraut  '^  raveli  jäten;  le  raustit  iter.  reissen.  —  OV.  prät.  raviau^ 
le  räwu  (zu  räuti) ;  rövimas  nom.  act. ;  le  räwäjs  nom.  ag. ;  le  räwens 
nom.  act. 

U»  rüdas  rothbraun;  rudü  rudeti  rosten  Schi.  Lsb.,  vgl.  J  42.  2 
käme  lävu  pentinelei  szvesi  surudeju]  rudu  Herbst;  le  rusta^  rüste 
braune  Farbe;  rüsvas  rothbraun  -»  le  rudlt  braunroth  machen.  — 
fl»  rüdis  f.  Rost,  rüdyjü  rüdpi  rosten;  rüdynä^  rüd^ne  Sumpf  »mit 
röthlichem,  eisenhaltigem  Wasser«  K ;  le  rüsa  Rost,  le  rüsSt  rosten  - 
le  rüdlt  Eisen  härten,  glühend  machen.  —  au,  raüdas  roth  BF  163; 
raudä  rothe  Farbe,  raudönas  roth;  f  raumü'  (=  raud-men-t)  Muskel- 
lleisch ;  raüsvas  roth  G,  MLG  I.  390. 


45]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  307 

tl.  verkia  rüdul  mergele  J  361.  6  (w?),  vgl.  szirdis  merg^tes 
mrüdu  3.  sg.  prt.  616.  4  (v\ahrscheinl.  ü),  —  Ü.  ap-si-rüstu  KLD  Bd 
werde  böse,  prat.  surüdau  i  364.  3  traurig  werden;  rudis  N  armselig 
(ö  ?),  rudulis  N  armer  Schelm  (ö  ?);  rustas  und  rüstüs  mürrisch,  grimmig 
'^  rudinti  betrüben  J  1502.  7  (ö?),  vgl.  le  rüdinät  dss.  (zum  Weinen 
bringen)  und  surüdinti  visu  szirdis  rühren  BF  166.  —  dtl.  raudä 
Wehklage  «^  rmidöti  wehklagen,  3.  sg.  raüda  J  1216.  30,  le  raudu 
raudät. 

Ü.  rügslu  rügau  rügti  sauer  werden,  gähren ;  rügiu  rügiau  rügti 
aufstossen,  rülpsen  KLD ;  le  at-rügas  f.  pl,  Aufstossen ;  isz-rügos  Mol- 
ken; rüffjjs  N  sauertöpfischer  Mensch;  su-rügelis  dss.;  rükszmjs  dss.; 
rüksznus  N  mürrisch;  le  rükts  bitter,  herb,  pr  ructan  dadan  saure 
Milch;  rtiksztas  sauer;  rüksztis  m.  (nach  N  auch  f.)  Säure  -  rügtereti 
dem.  (zu  rügti) .  —  WU»  le  at-raugü-s  raudfü-s  raugte-s  aufstossen ; 
räugas  Sauerteig;  le  at-raugas  f.  pl.  Aufstossen  ~  räugeti  aufstossen; 
le  raudfet  säuern;  le  at-rnugate-s  iter.  [zw -raugti-s) \  rau^k^i  säuern. 

U.  runkü  rukaü  rukti  faltig,  runzlig  werden  (le  mit  f) ;  sur-rükelis 
Eingeschrumpfter  (vor  Alter);  rukalotas  N  mürrisch  (Abi.  von  einem 
rukala-);  rükszle  Falte  MLG  IL  75;  su-rukszmuti  knittern  KDL  -  le 
Hninät  einschrumpfen  machen.  —  dtl.  raukiii  raidciaü  raükti  runzeln, 
in  Falten  ziehen;  raükas  Runzel;  ratdia  N  dss.;  raükszlas  Runzel; 
raukszW  dss.;  ravksztas  N  runzlig  ~  raukaü  raukpi  iter.   {za  raükti). 

U.  rüpas  rauh,  holperig ;  rupe  N  Muschel,  pl.  rup6s  eine  Pferde- 
krankheit N ;  ruple  N  rauhe  Borke ;  le  rupuls  grobes  Holzstück,  Tölpel ; 
rupt$s  grob  MLG  L  232,  akmenelis  rupm  Sz  rauh,  le  rupjsch  dss.; 
rupuze'  Kröte.  —  dU.  raupas  Pocke  Sz  (unter  odra) ;  le  raupi  m.  pl. 
abgeschnittene  Samenstengel  des  Flachses ;  le  raupa  Gänsehaut  (Schau- 
der); le  raupjsch  rauh  anzufühlen;  raupte  Blatter;  raup^ai  Aussatz; 
raupeze  Sz  Kröte  (unter  iaba  wielka).  —  Zu  derselben  Wurzel  rup 
(brechen)  nach  Fick  II.  645  auch:  Ü»  rüp'  man  rüpeti  kümmert  mich, 
inch.  parüpo  (prät.)  z.  B.  J  467.  3,  BF  166;  le  rüpas  f.  pl.  Sorgen; 
rüpestis  f.  Sorge;  rüpus  Sz  {rupus  unter  pilny)  besorgt  '^  rüpinti  be- 
sorgen. —  ?  iSf.  ap-^vpiu  röpiau  röpti  etwas  beschicken,  fertig 
kriegen. 

Um  rüsinti  schttren  (doch  vgl.  rusiti  glimmen  G,  ruslds  Bratrost 
G);  le  ruschinät  wühlen,  Feuer  schüren.  —  fl.  peletir-rüsis ,  f.  -e, 
pelen-rnsa  Aschenbrödel;  U)  rüsa  Karloffelmielo;  w?v^v,  N  auch  rüsas, 


308  August  Leskien,  [46 

Grube  für  den  wialerlichea  Kartoffel vorra Ib.  —  dU.  rausiü  rausiaü 
raüsti  wüblen;  rausis  m.  N  Höhle,  kürm-ratms  m.  Maulwurfsbaufea  <« 
ie  ratiset;  rausaü  rausyti  iter.   (zu  raüsti);  le  raustelet  dem.  zupfen. 

U.  ruszus  N  geschäftig,  rührig  -  rusziu  ruszeti;  rmzauti  N  ge- 
schäftig sein;  rüszinti  berühren.  —  'Ä.  ruszti  JSv  6  besorgen  (präs. 
Sz  unter  sprawuj^:  rusziu,  geschr.  ruosiu),  ap-si-ruszii  [apS)  sich  zu 
thun  machen  MLG  I.  376,  dss.  G  sich  tummeln,  vgl.  JSv  6  had  [gaspa- 
din(i\  rusztu  sävu  rusztq  aplink  ühj;  ruszus  Sz  (unter  sprawny)  ge- 
schäftig, rührig,  le  rüschs  {=  *rusjas,  Vertretung  von  ^rusus)  dss.  -' 
rüszavo-s  3.  prt.  schaffen,  arbeiten  MLG  L  377;  le  rusUe-s  geschäftig 
sein.  —  UU»  ^.räuszau  räuszyti  M  (wenn  nicht  Fehler  für  rausaü) 
wühlen. 

dU,  le  skauju  skaut  umarmen.  —  ÜV.  le  prät.  skäwu  (zu 
skaut)  '^  le  skäwet  iter. 

ClUm  le  präs.  schkauju  und  schk'aunu,  schk'aut  niesen,  vgl.  schk'ewas 
f.  pl.  das  Niesen;  le  schk'audas  f.  pl.  dss.  -  le  schk'audet  niesen.  — 
Ü/V»   prät.  le  schk*ätvu. 

U.  pra-skundü  skudaü  sküsli  anfangen  zu  schmerzen,  zu  er- 
müden; skündzu  skündzau  skifsti  klagen,  sich  beklagen;  le  skundu 
skundit  missgönnen,  murren,  wohl  denom.  zu  skundä  Anklage,  pra- 
skunda  NQu  Schmerz,  nü-skünda  J  539.  7  Mitleid;  skudurelis  G  Ge- 
schwür; skudrus  Sz  scharf  (unter  ostry)  IG  84,  vgl.  skudrus  kirvis, 
peilis  =  scharf  MLG  I.  233,  bei  G  auch  »flink,  geschickt«  -  sküdinti 
weh  thun  machen  J  643.  18  (mit  ü);  le  skundet  missgönnen,  murren. 

—  dUm  skaüst  skaudeti  schmerzen;  le  skaufchu  skaudu  skauft  neiden; 
le  skaudel  dss.  (vgl.  indess  le  skau^is  Neider,  lit.  skauge  Neid  G, 
skaugus  neidisch  G) ;  skaudulys  Geschwür;  skatismas  J  961.  7  Schmerz; 
le  skaudrs  scharf;  le  skaudre  scharfe  Kante;  skaudüs  schmerzlich. 

U,  skulü  (le  skütu  =  *skuntu)  skutaü  sküsti  schaben,  scheeren; 
skütas  i  651.  9  kleines  Stück;  skutä  Staub,  skütos  Abschabsei;  skutnä 
N  Kahlkopf,  nach  KLD  auch  »abgeschabte  Stelle«;  skuste  N  dss.  -- 
skutineti  dem.  iter.  (zu  sküsti).  —  "Um  le  skutite-s  sich  schubben.  — 
(tu.  Ie  schk'aute  scharfe  Kante,  lit.  skiäute  Hahnenkamm,  Flick; 
le  schk'auteris  scharfe  Kante,  lit.  skiaulere  skiauture   Hahnenkamm. 

Ü.  slügstu  slügau  slügti  <>ich  setzen,  abnehmen  (von  Geschwulst). 

—  ClU.  pa-slauginti  Jemand  bei  der  Arbeit  vertreten  BF  174,  vgl. 
pa-slaugpi    i    1487.    8     {äsz    säva    matuszeles    daugiaüs    neslaug^siu 


^'^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  iu  Litauischen.  309 

1487.  9;  jau  män^s  neslaug^si  i483.  5;  pnjimkit  martel^  man  uz 
slaugelf^  also  ein  Nom.  slauga-),  paslauga  B  III,  59  von  Forlunatov 
als  »Hilfe,  Hilfeleistung«  gefasst.  —  Zusammenst.  zweifelh.,  jeden- 
falls zu  slav.  sluga. 

U.  smunkü  smukaü  smükti  hinabgleiten;  sthsmükelis  zusammen- 
gesunkener Mensch;  f  smükles  Schilfgras.  —  (lU,  smaukiü  smatJüaü 
smaükti  aufstreichen,  streifen;  par-smaukas  (=  per-)  G  wahrschein- 
lich »Streifen«. 

U.  le  smulis  Sabbeier,  le  smul'a  dss.  <^  le  smutät^  smulinät 
sabbeln,  sudeln.  —  (tu.  le  smaulis  und  smaule  Fresse  -  le  smaulet 
sabbeln. 

U.  snudä  und  snüdis  KLD  Schläfer,  Träumer.  —  Ü.  snüstu 
snüdau  snüsti  einschlafen  (einnicken).  —  Cltl.  snäudzu  snäudzau 
mämti  schlummern;  le  snauda  Schlummer;  le  snaufcha  verschlafener 
Mensch;  snaudälius^  le  snaudafa  schläfriger  Mensch ;  matidul^s  Schlum- 
mer -  le  snaudet  iter. ;  le  snaudekt  dem.   (zu  snauft), 

O/il.  le  sprauju^s  spraute-s  ULD  emporkommen,  empordringen 
(z.  B.  von  Saat) ;  spriaünas^  spriaunüs  stattlich,  keck.  —  CiV*  le  prät. 
spräwü-s  (zu  spraule-s), 

Um  spriüdulas  KDL  s.  v.  Knebel  (bei  K  alle  Formen  mit  er- 
weichtem r,  richtiger  wahrscheinlich  ohne  Erweichung).  —  Ü,  sprüstu 
sprüdau  sprüsti  intr.  herausdringen  aus  einer  Klemme,  herausfahren, 
le  sprüstu  sprüdu  sprüst  eingeklemmt  werden;  le  sprüds  Knebel; 
le  sprüslis  dss.;  sprustis  IG  149  f.  i-St.  Gedränge  (wahrsch.  ö).  — 
dU.  spräudzu  spräudzau  spräusti  zwängen,  le  sprauft;  le  spraude 
Zäpfchen;  le  sprausla  Gestell  zum  Einstecken  des  Pergels;  spraustis 
m.  N  Sperruthe  des  Leinewebers  -  spräudau  spräudyti,  le  spraudii 
iter.   (zu  spräusti). 

U.  le  sprüku  {=.  ^sprunku)  spruku  sprukl  entspringen,  entwischen, 
lit.  spruka  3.  sg.  prt.  WP  60  entschlüpfte,  iszr-sprük^s  entschlüpft  MLG 
I.  366;  le  spruksis  ein  Leichtfüssiger.  —  (lU*  le  sprauzü-s  spraukle-s 
entwischen.  —  Vgl.  sprügstu  sprügau  sprügt  N  entspringen,  entwischen; 
le  sprauga  Zaunlücke,  lichte  Stelle;  ?le  spraudfu  spraudfu  spraugt, 
iter.  spraugät  grob  mahlen,  schroten. 

ClU^  spiäuju  spiäuti  speien  (le  spl'aut) ;  spiäudalas  Speichel ; 
spiäudelis   Spuker;    le  spl'audeklis   Spuke    --    spiäudau  spiäudyti    iter. 


310  August  Leskien,  [*8 

speien.  —  OV.  spiöviau^  le  spl'äwu  präi.  (zu  spiäuti^  le  spl'aut) ;  spiö- 
vimas  nom.  act. ;  spiovejas;  spiovikas  nom.  ag. 

U.  Ü.  pa-spudeti  B  sich  quälen,  sich  abmühen ;  spudinti  WP  54 
eilen,  sich  davon  machen  [spudina  isz  mesta),  so  auch  bei  G  »ent- 
wischen, davonschleichen^,  vgl.  MLG  I.  379  is^spüditw  isz  übersetzt 
mit  »kam  aus  ...a.  —  du.  späudzu  späudiau  späusti  drücken;  spaudä 
N  Presse,  prespauda  Bedrückung;  spausiüvas  und  spatistüve  Presse  - 
Spandau  späudyü  iler.  (zu  späusti). 

U.  pa-srüv^s  pt.  prt.  a.  blutunterlaufen,  pasrüvo  3.  sg.  prt.  [aszaras 
zmoniun  dar  didesnei  pasruwa)  fliessen  IG  1 49;  srudzu  Sz  (unter  rozkrwa- 
wic)^  prt.  srudzau  sruMi  N  blutig  machen,  le  slrufchu  strufl  ULD  eitern; 
sruja  (ü?)  G  Strömung;  srutä  Jauche,  le  strulas  f.  pl.  Eiter,  Jauche.  — 
U.  le  sirükla  und  slrükle  Wasserader,  Wasserstrahl,  vgl.  N  strukle 
Abflussröhre,  Wasserstrahl,  %*a  siriüklemis  KLD  regnet  in  Strömen, 
strükleis  MLG  L  71  dss.  —  Uli.  sraviti  sraveii  sickern,  leise  fliessen 
(wohl  denom.) ;  sravä  N  Fluss  (z.  B.  menstrua),  prä-srava  Blanke  (nicht 
gefrorene  Stelle)  im  Eise,  bei  N  prä-sravas;  sraujas  Sz  (unter  bystry)^ 
slraujas  N  reissend,  slrauje  upe  BF  1 77,  le  straujsch  (=  slraujas) ;  le 
strauls  reissend;  le  straule  Stromenge;  le  straume  Strom;  srauniis 
[upelis)  fliessend,  strömend ;  le  strauls  Regenbach,  lit.  srautas  G  Strom  - 
srävinti  bluten  machen.  —  OV.  srove  Strom,  le  sträwa  und  sträwe  - 
le  sträwöt  strömen. 

li.  sriubä  Suppe.  —  "Ü*  srubiü  srfibiaü  srubti  schlürfen.  — 
Cltl»    sriaubiu  sriaubiau  sriaubti  Sz  dss.  (unter  pohjkam), 

Ü.  stügauti  NSz  heulen  (w  nach  KLD).  —  (lU.  staugiti  staugiaü 
slaügli  heulen  (von  Wölfen). 

U,  subine  Hintere.  —  t€.  süböti^  sübuti  schaukeln,  mit  dem 
Körper  wackeln.  —  ObU.  ?le  schaubit  zum  Wackeln  bringen  (setzt 
ein  siub'  voraus). 

1€.  sugiu  sugiau  sugti  heulen,  winseln  NQu.  —  Ü*  le  südfu 
südfet  klagen.  —  Cltl.  saugiu  saugiau  saugti  N  tönen,  schallen;  N 
daneben  saukii  dss.,  vgl.  dazu  nu-saukli  MLG  L  230  beim  Gesänge 
dehnen,  sauküti  MLG  L  233  dss.,  aber  auch  »heulen«  [kaip  vilks). 

U.  sukü  sukaü  sukti  drehen;  le  süku  (=  "^sunku)  suku  sukt 
(eigentl.  »sich  drehen,  winden«)  entwischen,  schwinden;  ap-sukai 
adv.  N  gedreht;  ap-suka  Sz  Wirbel  (cardo),  apsuküs  Sz  drehbar  (unter 
nieobrotny)^  susuka  N  WlnkrlziXge;  f  päsukos  DiUermWch;  ap-sukalas  M 


id]  Dbb  Abladt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  311 

Thürangel;  le  sukrs  drall;  sukrüs  beweglich,  flink;  sükata  Dreh- 
krankheit; sukütis  Kreisel;  sukluve'  Drehscheibe  <^  sukau  sukyti  N  in 
die  Runde  eggen  (iter.  zu  siikti) ;  sukineti  iter.  dem.  (zu  sükti ;  vgl. 
bei  NSz  mkinis  Kreisel).  —  Ü.  eik  sükais  pack  dich  KDL  (unter 
»packen«);  sükur^s  [ü  K)  Wirbel,  Wirbelwind.  —  "Ü.  pri-sffkti  be- 
wegen zu,  zwingen,  z.  B.  WP  37  ne  maz  zmoniu  prisuk^  itiketi  i 
Kristin  u.  ö.  —  (tu.  ?  pa-si-sauklinti  »höher  sich  machen  zu  sitzen«  NBd. 

U*  8um  susaü  süsii  räudig  werden,  le  susu  susu  sust  trocken 
werden;  nti-süselis  Räudiger,  Grindiger.  —  Cttl*  saüsas  trocken,  denom. 
saustü  samaü  saüsti  trocken  werden,  den.  satisiü  sausifti^  le  sausH 
dss. ;  sama  N  Dürre;  sailms  m.  Räude;  le  saumis  vertrockneter  Baum  ^ 
saüsinti  trocken  machen. 

U.  siuniü  siulaü  siüsii  toll  werden,  le  schütu  (=  ^siuniu)^  schuiu 
schusi  böse  werden;  püs-siulis  halbverrückt;  pa-siüUlis  Rasender; 
siuslas  N  Wtithrich;  siüsla  Toben  -  le  schutinät  böse  machen.  — 
CXM«  siauczü  siauczaü  siäusti  wüthen ,  toben ,  ?  le  schamchu  schauiu 
schaust  stäupen  <^  siaule'ti  dur.  toben. 

"A,  szlü'ju  szlü'ti  wischen,  fegen ;  szlfüa  Besen  «^  szlustau  szlustyii 
iter.  —  (tu.  prät.  szlaviaü;  szlavimas  nom.  act. ;  szlave'jas  nom.  ag. ; 
sq-szlavos  Kehricht  --  szlavine'ü  iter.  dem.   (zu  szluti). 

!€•  le  schl'üku  (=  ^sliunku)  schluku  schl'ukt  glitschen;  szliuksztu 
KLD  [  ]  gleiten  (auf  dem  Eise) ;  szlukszUjnd  {szliuk.)  Rutschbahn  auf 
dem  Eise  -  szluksztindti  N  iter.  —  Ü.  le  schVüzu  schl'üzu  schtükl 
spinnen  (gleiten  machen)  --  le  schVükät  iter.  (zu  schl'ukt) ;  le  scMüzinät 
gleiten  machen.  —  Ä,  ?le  schXuka  Weg,  den  das  Vieh  im  Getreide 
tritt,  Spur  im  thauigen  Grase.  —  CLU.  le  slauzu  slauzu  slaukt  melken ; 
le  nüslauka  woran  man  etwas  abwischt,  le  paslauka  Abschaum; 
\e  slauze  Milcheimer;  le  slaukulis  Wischtuch;  le  slaukts  Geschirr  mit 
Öffnung  im  Boden;  le  slauktuwa  Milcheimer  «^  le  slauzit  wischen. 

U»  szluzai  N  Steinschleife ,  szliüzas  (mit  i  K)  Lab,  nach  N  eine 
Fischart  ohne  Schuppen;  szliüte  Schwert  am  Kahn,  pl.  Schlittschuhe 
(KLD  schreibt  den  pl.  szliüies)  --  le  slufchät  und  schl'ufchät  schlurren, 
glitschen.  —  "&•  szlüiiü  szluziaü  szluzti  schleifen  (z.  B.  ein  langes 
Kleid  auf  dem  Boden) .  —  dU.  szliaüzti^  prt.  3.  sg.  szliaüze  schleichen 
J  1 66.  7,  szliauiti  kriechen  Sz  (das  slauziu  bei  KLD  aus  Sz  ist  eine 
Verlesung  für  gelegentlich  bei  Sz  vorkommendes  slauziu^  d.  i. 
szliauiiu) . 

Abhandl.  d.  K.  S.  Uesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  22 


312  August  Leseien,  [^0 

U»  le  schAukurs  Rotznase  '^  le  schtiukstM  schnuckern,  schluchzen ; 
szniuksztuü  schnauben  (vom  Pferde)  J  1174.  20.  —  Ü.  \e  schüüzu 
schnüzu  schnükt  schnauben;  le  schMka Nasenschleim.  —  CLU*  le  sckAauzu 
schiiauzu  schnaukt  schnauben,  vgl.  lit.  szniaükti  (Taback)  schnupfen 
J  248.  1,  szniaükqs  pt.  prs.  a.  J  858.  11 :  le  schAauze  Prise;  le  schnau- 
kalas  f.  pl.  Nasenschleim  --  le  schnaukät  iter.   (zu  schnaukt). 

Ü»  szüvis  m.  Schuss.  —  Clll.  szäuju  szäuti  schiessen,  le  scliaui 
=  "^sziaiUij  nu-szavaü  1.  sg.  prt.  J  1257.  4;  paszavä  (und  paszuvä  N), 
»ein  Beifaden  beim  Weben,  der  durch  den  Kamm  nicht  gehoben 
wird«;  le  schaudrs  hastig,  hitzig;  szaul^s  Schutze  J  834.  5  «^  szäudau 
szätidyti  iter.  (zu  szäuti) ^  le  schaudUy  vgl.  le  schaudeklis  Weberspuhle, 
lit.  szaud^kle  Weberschiffchen.  —  OV»  prt.  szaviau^  le  schäwu^  (zu 
szäuti);  szövimas  nom.  act. ;  le  schäwums;  le  schäwöns  dss.;  nü-szovis 
m.  KLD  [  ]  Stromschnelle. 

U.  szunkii  szukaü  sziikti  aufschreien.  —  Ü,  szükauti  iter.  schreien; 
sztiktereti  dem.  iter.  —  ClU»  szaukiii  szaukiaü  szaükti  schreien,  rufen; 
szaüksmas  Geschrei;  szauküs  N  schreiig  ^  le  saukät  iter.  (zu  saukt); 
szaukine'ti  dem.  iter.  (zu  szaükti). 

U  (w?).  pa-szune  B  Kraft,  Stärke.  —  ClU.  szaünas  und  szaur- 
rm^  derb,  tüchtig. 

U.  szuntti  szulaü  szüsti  intr.  gebrüht  werden,  schmoren,  le  sütu 
(=  ^suntu)  sutu  sust  heiss  werden,  bähen;  le  suta  Bähung;  le  suti 
m.  pl.  dss.;  atsuczei  NBd  Flachstrespen;  le  sulnis  m.  schwüles  Wetter; 
le  smla  schlechter  Absud ;  nu-szütelis  Abgebrühter  (Schimpfwort) ; 
le  sutra  Dunst  ^  le  sutöt  trans.  bähen,  brühen ;  sziitinti  trans.  schmo- 
ren; le  sutinät  trans.  bähen,  brühen.  —  Ü.  le  süstöt  iter.  (zu  smt). 
—  (tu,  idant  surink^  saujq  zolin  isz  to  szeno  sav  valgi  iszvirtumes^ 
bet  parneszusis  retai  patys  tq  szautq  (etwa:  Brühe)  te-srebe  WP  61 ; 
le  saute  und  sautrs  »ein  Frühlingsgericht  aus  Nesseln  u.  s.w.«  --  le  sautH 
trans.  bähen,  brühen. 

U,  trunkii  trukaü  triikti  sich  verziehen,  zögern,  le  sa-trüku 
(=  trunkii)  truku  trukt  zusammenfahren,  erschrecken;  patrukis  m.  NSz 
Zögerung;  triikszmas  Zug,  Menge  (von  Thieren  z.  B.);  le  truksnitis 
Bündel;  uz-trunkus  N  säumig  (wohl  prt.  präs.  =  trünkqs)  -  trukdaü 
trukdpi;  triikinti;  trükdinti  causa tiva  (zu  triikti);  trukiniuti  zögern 
J  41.  12.  —  f€.  trükstu  trükau  triikti  intr.  reissen,  le  auch:  ge- 
brechen,   fehlen;    trtikis  m.  Zug,   Riss;    nu-trükelis  KLD  []    Galgen- 


/ 


K^l  Der  Ablaut  der  WuRZELsaaEN  im  Litalischen.  *^lä 

strick;  galva-trükszczeis  i.  pl.  no.  über  Hals  und  Kopf  -  trüknöti 
zucken;  le  irüzinät  mangeln  lassen,  mit  if-  erschrecken  Irans.;  trük- 
szczoti  zucken;  trüktereli^  vgl.  trükleliu  LB  346,  zucken.  —  (lU.  träukiu 
träukiau  träukti  ziehen;  per-traukas^  Wegegeld;  per-lrauka  NSz  Zer- 
streuung; trauktuve  NSz  Winde  --  Iräukau  träukyii  Her.  (zu  träukli) ; 
le  trauzet  Irans,  aufschrecken;  le  trauzinät  erschüttern;  traukineli  iter. 
dem.  .(zu  träukli). 

U*  Ufipü  trupeti  intr.  zerbröckeln;  su-trupos  Sz  Schutt;  Irupin^s; 
trupul^s  Brocken;  h'upüs  bröcklig  --  trüpinii;  le  trupinäl  trans.  bröckeln. 

—  (tu»  traupus  MLG  I.  391  spröde.  —  Vgl.  Irapus^  le  Irepans  und 
trapains  morsch,  le  treppt  und  trapet  verwittern. 

U.  le  trusu  trtist  struppig  werden;  le  irusls  zerbrechlich.  — 
U»  hiüsai  die  langen  Schwanzfedern  des  Hahnes ;  ?  trtmü  [triüm)) 
trüsiaü  irüsH  sich  bemühen,  geschäftig  sein;  trüsas  {iriüsas)  Be- 
mühung; trüsffti;  trüsineti  iter.  (zu  trüslt).  —  Cltl»  le  Irauschs 
(=  *trau8Ja8)  zerbrechlich;  le  IrausU  dss. 

Um  le  lüw8^  tüU^  tüms  nahe.  —  dU.  ?  le  laujät  fragen,  forschen 
nach;  le  taustU  tasten;  pr  tawischan  (1.  taviska-)  a.  sg.  Nächster, 
Nachbar. 

tC.  tunkü  tukaü  tükti^  le  tüku  (=  Hnnku)  tuku  iukt  fett  werden ; 
le  lukk   feist;    lit.  tuklns  mästbar;    tukrm  dss.  '->  tükinli  fett  machen. 

—  1*.  le  tukstu  lilku  tükl  schwellen;  le  tüks  Geschwulst  -  le  tüzet 
schwellen  machen.  —  ClU.  le  tauks  fett;  tatikai  Fett  ~  taükinti  fetten. 

U»  le  tupju  tupu  tupt  hocken;  tupiü  tupeli  hocken,  kauern, 
le  tupet\  uz-tup^s  der  dritte  Mann  einer  Frau  ~  tupdaü  tupdpi  hocken 
lassen  J  170.  4;  tüpinti]  le  tupinät  dss.  —  U.  tüpiü  tüpiaü  tüpii 
sich  kauern;  le  tüplis  Gesäss  -  tüptereti  dem.   (zu  tüpli)]  tiipczoli  dss. 

—  (JtU»  siP-taupyti  aufeinanderlegen,  z.  B.  lüpas,  die  Lippen  zu- 
sammenkneifen, Uberh.  zusammenhalten,  sparen,  le  taupU  aufhalten, 
schonen,  sparen;  bei  G  auch  ein  taupti  schonen,  pflegen. 

ft.  udis  m.  einmaliges  Gewebe,  das  Weben  eines  bestimmten 
Stuckes.  —  (tu*  äudzu  dudzau  äusti  weben;  le  aiidi  m.  pl.  Gewebe, 
at-audai  Einschlag;  at-audos  N  dss.;  äudeklas  Gewebe. 

U.  "frud-ugp  September.  —  Ü.  pa-^o  3.sg.  prt.,  WP  38  wuchs 
auf,  pa-wj^  prt.  prät.  a.  ib.  86  erwachsen  (ö  ?) ;  uz^ugiu  NSz  er- 
ziehe (ö?);  ügp  und  ügis  m.  Wuchs,  Jahreswuchs,  uz-ügis  m.  NSz 
Erziehung;    üglis  m.  Wuchs,  Schössling  -  pa-ügeti  KLD,  pa-si-ugeti 

22* 


314  AuGcsT  Leskibn,  [^i 

J  466.  2  heranwachsen;  uginti  B  aufziehen  (w?);  ügtereti  dem. 
wachsen.  —  li.  ügis  N  Schössling,  ^  szil-ugis  Haidekraut;  üglis  N 
Schössh'ng.  —  (111.  ätigu  äugau  äugli  wachsen;  le  angs  Gewächs, 
lit.  per-äugas  schmerzhaftes  Hautgewächs;  augä  N  Wachsthum,  isz- 
auga  N  Auswuchs  in  der  Haut,  le  at-augas  f.  pl.  Wiederwuchs  aus 
der  Wurzel;  le  ataudfe  dss.;  augltis  N  Gedeihen;  le  auglis  Frucht, 
Gewächs;  äugalim  Wachsthum,  äugalüti  schnell  wachsen;  augmu 
Jahreswuchs;  "f  äuksztas  hoch,  vgl.  pr  auktimiska-  Obrigkeit;  äugyve 
Mutter;  pr  augm  geizig  (nach  Fick  II,  706)  -  le  audfst  aufziehen; 
auginti;  le  atidfinät  dss. 

tl.  ?  unksna  Sz  Schatten,  vgl.  uksne  dss.  B.  —  Ü.  iiksta  üko 
likli  N  sich  beziehen  (vom  Himmel) ;  tikas  caligo  N.  Test.  Trow.  AA. 
13.  11;  üir-üksmis  m.  wettergeschiltzter  Ort,  uz-uksme  dss.  IG  66; 
tikana  bewölkter  Himmel;  ükanas  bezogen,  bewölkt  «^  tikstati-s  ükstyli-s 
sich  beziehen  (vom  Himmel).  —  Cl/U.  le  auka  Sturmwind. 

tl.  zlungü  {zliungü  K)  zlugaü  zlügli^  präs.  auch  zlugslü  triefen, 
von  Wasser  durchzogen  sein;  zlüklas  Bückwäsche;  ilüklis  BF  203 
das  Waschen  -  zlüginii  J  870.  4  anfeuchten,  durchs  Wasser  ziehen. 
—  fl.  zliüges  KLD  [  ]  »feinblättriges  Wasserkraut,  Miere«.  — 
au.  ilaükiys  f.  pl.  Traber. 

U.  prät.  zuvaü;  zuvitnas  nom.  act.  Umkommen;  pra-zuvä  Sz  (ii?) 
Untergang,  vgl.  pra-zuvas  BF  158  (ö?)  Verlust.  —  le  füdu  (=  ^fundu) 
fudu  fuft  verschwinden,  verloren  gehen ;  imog-zud^s  Mörder  »^  itidaü 
zudpi  umbringen;  le  fudinät  verloren  gehen  lassen  —  Ü.  präs.  iüvu 
züli  umkommen;  le  füdUa-s  sich  härmen.  —  dU.  m-zaveli  WP  228 
verderben,  krank  machen;  iavinti  tödten;  le  faudBt  verderben, 
verlieren. 

U.  zuvis  f.  Fisch;  pr  zukans  a.  pl.  Fische;  zukl^s  KLD  []  Fischer, 
zukläuli  ib.  Fischerei  treiben ;  bei  N  nach  Sz  zustu  zuvau  zuii  fischen 
(lies:  ö).  —  €I/U.  pa-ziäune  Flosse.  —  Vgl.  zvejä  Fischfang;  zvejp 
Fischer. 

U.  ziuklereti  M  mucken,  mucksen.  —  €ltl.  iiäukczäii  ziäuk- 
szczuli  Aufstossen  haben.  —  Vgl.  zekter^ü  Aufstossen  haben  (bei  KDL 
unter  »schluchzen«  auch  zektereti)^  zeksiü  zekse'ti  iter.,  zekczoti  iter.  K; 
mir  ist  die  Aussprache  ziklereti  bekannt,  das  von  ziiditere'ti  kaum  zu 
unterscheiden  ist;  vgl.  ferner  zegulp  K  SchlixckeUj  zagsyti  schnucken, 
zagiUis  MLG  238;  bei  Sz  (unter  szczkam)  ziaksiu  ziakseli. 


J 


^3]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  lu  Litauischen.  315 

Es  folgen  die  primären  Verba  mit  Uj  au  ohne  Ablaut,  mit  Aus- 
schluss wieder  der  deutlich  onomatopoietischen.  Die  Verba  mit 
innerem  u  sind  hier  ausgeschlossen.  Innerhalb  der  Verba  mit  u 
sind  diejenigen  weggelassen,  welche  auf  Liquida  oder  Nasal  -j-  Con- 
sonant  auslauten,  da  bei  ihnen  keinerlei  Vocal Wechsel  vorkommen 
kann;  bei  den  mit  stummem  Consonanten  oder  einfacher  Liquida, 
einfachem  Nasal  auslautenden  kann  ü  eintreten,  für  welches  Beispiele 
angegeben  werden. 

u  u. 

fl.  blükstu  bliikau  blükti  N  schlafT,  welk  werden,  von  den  Mus- 
keln; isz-blükfs  N  erschlafft;  bltiksztu  blüszkau  blükszti  N  dss. 

U  (tl^?)«  blum  blusau  blusti  NSz  verzagen,  traurig  werden. 

U0  be-hruzdant  ger.  WP  48,  bruzde  3.  sg.  prt.  ib.  41  sich  auf- 
halten, seine  Thätigkeit  irgendwo  haben. 

U.  bruzgü  bruzgeti  rascheln,  vgl.  bruzgai  Gestrüpp,  Schi.  Lsb. 
schreibt  die  Ableitung  brfizgpias  (Strecke  Gestrüpps);  darbeliu  bruz- 
giüju  (nom.  sg.  wohl  bruzgüs)  J  300.  15;  dvi  verpe  bruzgetm,  treczöji 
Uneliiis  szukävo  J  77.  9  (vgl.  bruzgülis  KLD  Knebel  u.  a.,  bruzguliuti 
KLD  »knebeln,  klöppeln,  würfeln«). 

U.  buvaü  prät. ;  buvimas  nom.  act. ;  buias  Haus  (nach  Fick  U. 
618)  ^  buvineti  dem.  sich  eine  Weile  aufhalten.  —  Ü.  inf.  büH  sein; 
büvis  m.  Aufenthaltsort;  bükla^  bükle  Statt,  Wohnstatt,  u.  anderes, 
dessen  Quantität  nicht  sicher  steht. 

U»    bukslü  oder  bunkü  bukaü  bükti  stumpf  werden ;  buküs  stumpf. 

Um  buriü  bürti  allerlei  Wahrsagerei  oder  Zeichendeuterei  trei- 
ben; bürtas  Loos;  burla  Zauberei  WP  228,  vgl.  le  burla  Verzeich- 
niss,  burtas-küks  Kerbstock;  le  burvis  Zauberer.  — ^  Ü,  buriau  prät. 
(zu  bürti) ;  bürimas  nom.  act. 

tl.  dumiü  dümti  decken,  zusammentragen.  —  Ü.  dümiau  prät. 
(zum  vor.);  dtimimas  nom.  act. 

U.  iszr-dumtumbit  2.  pK  opt.  bei  B  (Übersetzung  von  Luthers 
»pajusteta  Hieb  6.  26),  von  ihm  mit  slav.  d^fnq,  dqti  zusammenge- 
stellt, dann  wäre  u  aus  a  entstanden.  Bei  der  Masse  von  Schreib- 
fehlern der  betreffenden  Quelle  (Bretkun)  ist  ein  solches  vereinzeltes 
Wort  unsicher. 

Üb    düzgu  düzge'ti  (=  dunzg-Tj  dumpf  dröhnen. 


316  AcGcsT  Leskien,  [5* 

II.  äuriü  dnrti  stechen;  dürstau  dürsttjU  iter.  —  t€.  präl.  rff- 
riauj  le  düru;  dürimas;  le  dürums;  le  dürens  nom.  act.;  le  dürBjs 
Stecher;  duris  m.  Stich. 

?€•    ie  glünti  glünH  lauern. 

II.  grumbü  grubaü  grübti  holperig  werden ;  grublai  Unebenheiten 
(z.  B.  im  Wege/;  grubüs  holperig;  le  grumbu  grumbu  grtifnbt  Runzeln 
bekommen;  le  grumba  Runzel;  le  grumbud  Unebenheilen. 

M.  grumiti-8  griimli-s  ringen.  —  U.  grumiat^s  prät.;  grümimas 
nom.  act.;  grümikas  nom.  ag. 

t€.   gundü  gudaü  güsti  klug  werden;  gudrüs^  le  gudrs  schlau. 

tl.  le  gumsiu  gumti  gumt  ȟberfallen,  sich  langsam  auf  einen 
senken«  ULD. 

t€.  le  gurstu  guru  gurt  ermatten ;  le  gurdens  ermüdet,  matt,  vgl. 
man  szirdis  gürsta  mir  bricht  das  Herz,  bei  N  sich  legen  (vom 
Winde),  bei  N  auch  ein  gurti  bröckeln,  gurus  N  bröckelig,  su-gurinti 
Sz  zerbröckeln  trans.;  bei  M  ein  aüsys  gürsta  die  Ohren  gellen. 

tl.  su-si-güzti^  prt.  prät.  a.  -güzfs  sich  zusammenkauern ;  güsztä 
Lager  (eines  Hundes,  Huhnes)  u.  a.  Abi.;  dazu  wohl  guzine'ti  Blinde- 
kuh spielen  (?!?);  G  hat  ein  guiti  beschützen  (syn.  mit  glöbti);  Schi. 
Don.  i-si-giisztfs  sich  eingehüllt  habend,  nach  K  ist  das  fem.  'güsztusi; 
vielleicht  ist  auch  gmzczusi  möglich,  das  käme  dann  von  einem  iter. 
güsztyli,  —  Vgl.  bei  Sz  (6o;V  ^^)  i^si-guftu  (ebenso  unter  przelfh- 
nqc  «ip),  lies  i. 

t€.  le  jumju  jtimu  jumt  Dach  decken.  —  tl.  le  jümu  Form 
des  Prät. 

Ü.  ne  iinaü  keliu^  kltihiu  päkeliu  (Bedeutung  ?)  JSv  1 7,  isz-kltik^s 
{platiczu  biski)  ib.  73;  ?  dazu  auch  kur  pakluk  {lüde  ir  müsze  ne- 
kaum  kalalikus  WP  53),  nach  G  »hie  und  da«. 

tl.  Ü.  le  ktlupt  und  knüpt  zusammengekrümmt  liegen,  vgl.  lit. 
kniüpsau  kniüpsoti  gebückt  dasitzen;  knüpszczas  auf  dem  Gesicht  lie- 
gend; le  knüpi$  adv.  gebückt;  vgl.  auch  le  kntibt  {sä-)  biegen,  knur- 
Unat  (knoten),  lit.  kmibu  NBd  gebückt  sein. 

tl.    kruniii  kruni'ti  hüsteln. 

tl.  at-krüsti,  prt.  krüsaü  BF  129  aufleben  (vom  Erfrornen), 
sich  erholen,  präs.  wohl  krüstü, 

tl.  krutu  kruteli  sich  regen;  krutüs  N  rührig.  —  tl.  krütuliu^ 
krülulioju  iter.  dem. 


55]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  317 

U.  le  kukslu  kuku  kukt  die  Flügel  hängen  lassen;  ?  vgl.  pa-si- 
kiuksedama  tai  verke  mergele  J  1128.  12. 

tl.  kuliü  kidti  dreschen;  \e  kuls  Tenne  u.  a.  Ableit.  —  M.  ktl- 
liau  prSit. ;  külimas;  le  külums  nom.  act. ;  le  küls  ein  nach  dem 
Dreschen  zusammengestossener  Getreidehaufen;  küle   Dreschzeit. 

U*  kuriü  kürti  bauen,  heizen  (Feuer  anmachen;  der  eigentl. 
Begr.  scheint  »schichten«  zu  sein) ;  le  kurstu  kuru  kurl  intr.  heizen. 
—  U.  prät.  küriau;  kürimas  nom.  ac(.;  le  kürSns  malkas  Holzhaufen 
zum  einmal.  Heizen;  kürejas;  kürikas  Heizer  '*•  kürenli'  iter.  heizen. 

i€.  le  ap-küpstu  küpt$  küpt  beräuchert  werden;  le  küpu  küpet 
rauchen;  vgl.  lit.  küpffti  keuchen  u.  s.  unter  kvep-. 

tl.  kustü  und  kuntü  kutaü  küsti  sich  aufrütteln,  sich  erholen; 
kutu  kuteti  N  aufrütteln,  le  kut{a)  kutH  kitzeln;  le  kutinät  kitzeln 
trans. ;  kutd  Quaste,  Franze;  kutrus  N  hurtig;  kutenti  franzen,  fa- 
sern u.  s.  w. 

l^t).   küisziu  küiszau  küiszti  KLD  sachte  und  mühsam  laufen. 

t€.   kiuzü  kiuiaü  kvuiti  KLD  [  ]  wimmeln,  kribbeln. 

tl*  sur-lüjo  3.  sg.  prt.  bellte  auf,  KLD  giebt  den  inf.  als  li$iti 
an  (ob  der  je  vorkommt?). 

tC.  ?  Ittgnas  N  geschmeidig,  biegsam,  palügnas  N  gefällig,  schmeich- 
lerisch, palugnüs  dss.  (J  1190.  4  das  fem.  geschrieben  palügfii).  — 
Ü»  le  lüdfu  lüdfu  lügt  bitten,  lit.  lugoti  bitten  G  (Quantität  zweifelh.). 

U.  mmzü  mmziaü  müszti  schlagen.  —  Ü.  müszis  m.  Schlacht. 

U.  m-niürf8  prt.  prät.  a.  finster,  sauertöpfisch  aussehend  KLD; 
pa-niürelis  Gluper.  —  H*  tiiüriü  niürüti  glupen  KLD  [  ].  —  Ablei- 
tungen wie  niuTomis  ziure'ti  u.  a.  mit  zweifelh.  Quantität. 

tl»  pliuszkiü  pliuszke'ti  schwatzen ,  plappern  (onomat.) ;  plimzis 
Schwätzer. 

tl.  le  pur^t^  purinät  schütteln,  rütteln;  bei  J  774.  15  kaseles  st^ 
piiru  (3.  sg.  prt.)  die  Haare  sind  aufgelockert,  wirr  (wohl  ü  zu 
lesen,  vgl.  dort);  ?le  pums  und  purna  Schnauze,  Rüssel;  f  purvas 
Koth  -*  purlau  pürlyli  rütteln  iter.  —  Ü,  pa-pürfs  pt.  prt.  a.  aufge- 
rüttelt, lose  liegend,  isz^pür^s  KLD  innen  faul,  hohl  (von  Bäumen), 
le  if-^üris  struppig  (wohl  .part.  prät.  a.)  ULD  -^  pürinli  auflockern. 

Ü,    le  füzu  füzu  tükl  brausen,  brüllen. 

U,  rumiü  rümti  N  stampfen,  rümli-s  G  sich  balgen.  —  Ü*  ru- 
miau  prät.  —  Accente  u.  Quantität  nach  Yermuthung  angesetzt. 


/ 


318  August  Leskien,  [56 

tu  rüzgiu  rüzgeti  murren;  rüzgm  N  mürrisch. 

U,  pa-skumbü  skubaü  skübti  eilig  thun,  fertig  werden  mit;  da- 
von z.  B.  8kubÜ8  N  eilig;  skubrüs  dss.;  skübinli  beeilen  u.  a. 

U.  le  nü-skumstu  skumu  skumt  traurig  werden ;  le  skumjas  f.  pl. 
Kümmernisse. 

U  (i^?).   snuzti^  3.  sg.  snuz  rauschen  G. 

U.   le  spurstu  spuru  spurt  intr.  ausfasern;  le  spurs  Faser. 

Ü.  stügstu  stügau  stügti  steif,  in  die  Höhe  stehen  KLD;  Schi. 
Lsb.  hat  ein  inch.  pa-stügü  stugaü  stügti  steif  werden  (ob  die  Quan- 
titäten sicher?). 

tl.  stumiü  stümti  stossen,  schieben.  —  Um  stümiau  prät.;  slü- 
mimas  nom.  act. ;  stümikas  nom.  ag.  --  pa-stümeti  KDL  (unter 
»drängen«)  dem. 

U,  siuvaü  prät.;  le  präs.  schuju^  prät.  schuuni;  siuvimas  nom. 
act.  Nähen;  siuvejas;  siuvikas  nom.  ag. ;  siuvinp  ^ISAizeug  ^  siüvineti 
dem.  iter.  —  Ü»  präs.  »iüvü  inf.  siüti,  le  schünu  schüt;  siülas  Fa- 
den;  siüle   Naht  ^  le  schüdit  nähen  lassen,  lit.  siüdyti  J  27.  15. 

U.  supü  supaü  süpli  trans.  schaukeln.  —  Ü.  süp^ne;  süp^kle 
Schaukel  «^  ^t/|}m(i  schaukeln;  le  schüpät^  schüput  wiegen  (setzt  ein 
siup-  voraus). 

U.  le  schukstu  schuku  schukt  schartig  werden  (wäre  =  szitik-) ; 
szükos  Kamm;  szüke^  le  schtike  Scharte,  Scherbe;  f  sziükszmes  feine 
Späne,  Geröll  u.  dgl;  sziukszti  du  na  Brot  von  ungereinigtem  Ge- 
treide. —  le  schukt  soll  auch  »erschrecken,  beben,  klappern«  bedeu- 
ten (s.  ÜLD),  daselbst  auch  ein  schaukuns  Schauder.  —  ?Dazu  lit. 
szäuksztas  Löffel  (=  Scherbe?). 

U*  szupü  szüpti  KLD  [  ]  faulen  (von  Holz),  surszüp^s  pt.  prt.  a. 
verfault. 

Ü.  pa-sziürü  sziüraü  sziütii  KLD  [  ]  schauern  intr.  (von  der 
Haut);  gleichbedeutend  sziürpti;  ersteres  aus  dem  Deutschen? 

U.  truniü  truneti  faulen,  modern  (K  schreibt  triuneti)^  le  trunet^ 
wohl  denom.  von  einem  St.  ti-una-^  vgl.  le  trüdi  m.  pl.  Moder,  trüdöl 
modern. 

U»  pra-türslu  turaü  türti  MLG  in  Besitz  kommen,  reich  werden 
(bei  KLD  [  ]  turstü  turstaü  türsti  als  denom.  von  türtas  Habe) ;  turiü 
tureti  haben. 

Um    üziü  üziaü  üzti  sausen,  rauschen. 


57]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  319 

Ü.  pra-ziürstu  iiüraü  ziürti  zu  sehen  anfangen,  sehend  werden ; 
iiüriü  iiüri'li  sehen. 

au. 

aunü  aviaü  aüti  Schuhwerk  anziehen,  vgl.  von  Ableitungen: 
atJile  Fussbinde;  aiUas  Stiefelschaft;  avalai  G  Schuhe;  aütas  Fuss- 
läppen;  aviü  aveti  Schuhe  anhaben. 

aüszta  aüszo  aüszti  anbrechen  (vom  Tage) ;  le  ausa  Tages- 
anbruch; auszrä  Morgenröthe. 

ämzlu  ätiszau  äuszti  ktthl  werden;  le  anksts  kalt. 

czauszkiü  czauszkiaü  czaükszti  rieseln. 

gauju  gaujau  gautif  NBd  heulen  (von  Wölfen).  —  Sehr  zweifel- 
haftes Wort. 

le  ^aubju  ^aubu  ^aubt  ergötzen,  doch  auch  ^augte-s  sich  er- 
götzen ? 

kiäusziu  kidmziau  kiäuszti  nach  KLD  Scherzwort  fUr  »schnell 
gehen«. 

maumiu  mugio  Sz. 

mattsziu  mausziau  mauszii  N  brünstig  sein  (von  der  Kuh),  vgl. 
BF  140  käp  maüszes  (=  kaip  manszis)  manp  maüsze  (=  maüsze)  »er 
rannte,  indem  er  ohne  aufzusehen  vor  sich  hin  ging,  mich  über  den 
Haufen«,  uz-mauszti  ibid.  »auf  etwas  treten,  laufen«,  mauszis  »bedeutet 
vermuthlich  brünstiges,  stössiges  Thier«  ibid. 

le  paufchu  paudu  pauft,  iter.  paud^t  ruchbar  machen,  unter  die 
Leute  bringen. 

saubiü  saMaü  saübli  toben,  rasen  (=  wild  herumlaufen) ;  pa- 
saubä  wer  viel  herumtobt,  vgl.  pimaubulele  [karvele)  i  736.  1  (KLD 
hat  sovvohl  saubiü  wie  siaubiü);  saubl^s  dss. 

naudzu  siatulzau  siausti  summen  (von  Bienen  J  157.  2),  rauschen 
(von  Fichten  J  434.  3). 

säagmi  und  säugu  (meist  saugöju)  saiigöli  hüten,  bewahren,  le 
saudfu  saudfet  schonen.  «. 

siauczü  üauczaü  siaüsti  einhüllen,  umgeben;  siaustüve  JSv  15 
{szilkü  8.)  -  siaustpi  iter.  ibid.  —  WP  274  übersetzt  den  Namen 
der  christlichen  Secte  Circumcelliones  durch  pasiutelei  (gemeint  ist 
wohl  pasiütelis  Rasender,  Tobender). 

su-9i-8klau8ti  (W.  t)  G  sich  zusammendrängen,  ausis  sklausli  G  »die 


320  AcGcsT  Leskien,  [58 

Ohren  zusammenziehen«;  sklaustas  G  Gewölbe.  —  ?  vgl.  slaudzu  slausli 
NSz  drücken,  drängen. 

skraudu  skratisH  NSz  rauh  werden ;  skraudus  NSz  rauh,  brüchig. 

smäugiu  smäugiau  smäugti  wUrgen,  nach  N  auch  »ohrfeigen^,  vgl. 
le  schmaugu  schmaugu .  schmaugt  einen  Schlag  (auf  den  Mund)  geben. 
—  Für  den  Begriff  »würgen«  hat  das  Lettische  fmaudfu  fmaugl; 
fchmaudfu  fchmaugt;  fchnaudfu  fchAaugt. 

ap-sraupiu  »umfassen,  poln.  ogarnywam«  G. 

8zidu8zit(-8  8ziäu8ziau-s  8ziäuszti~s  sich  sträuben  (von  Haaren  u.  s.  w.); 
le  8chau8ma8,  le  8chaU8chala8  f.  pl.  Schauder. 

täu8zkiu  lauszketi  anklopfen  (onomatop.?,  tot//»z<  ist  die  Interjec- 
lion,  welche  den  Schall  des  festen  Anklopfens  bezeichnet). 

in.  a)  i  i  e  e  a  o  (ä). 

t*  biUtu  JSv  1 7  bilti  B  zu  reden  anfangen ;  le  bilfchu  bildu  bilft 
reden  (in  compos.,  eig.  inchoativ);  le  aibilda  Antwort  ~  le  bild^l^ 
präs.  6t/du  iter.  reden;  le  bildinäl  caus.  anreden;  pr  bilUwei  reden  (im 
Katech.  immer  //,  also  i).  —  t^  bylä  Rede,  Process,  davon  ne-bylp^ 
f.  -e  Stummer,  prll8zbyli8  widersprecherisch,  bylüs  JSv  14  redefertig 
'*'  bylineti  iter.  processiren;  bylöti  reden.  —  Ct.  bälsas  Stimme. 

i.  bildu  bilde  ti  poltern  intr. ;  bildesis  m.  Geklopfe  NBd  '^  bil- 
dinli  caus.  klopfen.  —  €•  beldiu  bddzau  bikti  klopfen;  beldu  beldeti 
N  klopfen.  —  d,  baldas  N  Stössel,  baldus  stössig,  holperig  (vom 
Wege)  -'  bäldau  bäldyli  iter.  (zu  bekti). 

i.  bimbe  3.  sg.  pit.  J  1090.  6  summen;  bimbilas  bimbalas  Ross- 
käfer.  —  CIb  bambu  bambe'li  brummen,  vgl.  le  bambät^  bamb€t  hohles 
Geräusch  machen;  le  bambals  bambuis  Käfer. 

t«  bing8lü  bingaü  bingti  muthwillig  werden  (eigentl.  wohl  »sich 
heben«);  bingm  muthi^  (von  Pferden).  —  e.  bengiü  bengiaü  bengti 
beenden  (eigentl.  heben) ;  pa-bengtüvis  Schmaus  am  Ende  einer  Arbeit. 
— ^d.  bangä  Welle;  le  bügs  und  buga  dichte  Menge,  vgl.  lit.  pra-bangä 
Uebermass  (und  Sz  [u.  rozrzutnos'c  profusio  divitiarum]  prabinkte; 
prabingeja8  prodigus) ;  pä-bangas  u.  pabangä  Beendigung;  batigüs  letalis 
i  1204.  4  (übermässiger?  Regen),  bangÜ8  alüs  widerlich  (»der  sich 
wieder  hebt  beim  Trinken«);  bangtas  KLD  ungestüm;  bänglos  jüriu 
ebend.  Ungewitter. 


^9]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  321 

i.  prät.  biraü  birti  (zu  präs.  byrü)  sich  verstreuen,  ausfallen,  le 
präs.  birstu;  pa-birp  was  sich  stieut;  le  pa-bires  f.  pl.  ausgefallener 
Same;  le  birda  feiner  Schnee,  Staubregen;  ?le  birfe  »Strich  Landes 
zwischen  zwei  Furchen,  dessen  Breite  der  Säei*  mit  einem  Wurfe 
besäet«  Bi  L  298  --  le  birdu  birdlt  caus.  ausstreuen ;  le  birdeUt  dem. 
it.  in  feinen  Theilchen  ausfallen;  le  birinäi  und  birdinäl  caus.  streuen. 

—  f.  präs.  bym  (zu  birti)  -  byr'Sju  byreti  dem.  trans.  ein  wenig 
streuen,  auch  intr.  (J  596.  19  bireti  geschrieben,  dort  intr.).  — 
€•  beriü  berti  streuen;  bertuve  N  Wurfschaufel.  —  ^.  prät.  fc^iaw, 
le  beru,  (zu  berti) ;  berimas  nom.  act. ;  berikas  nom.  ag. ;  le  b^lba 
Schüttung;  beralas  umgeworfeltes  Getreide.  —  €1.  at-barai  und  ätr- 
baros  beim  Worfeln  verstreutes  Korn;  bäras  in  einem  Zuge  gemähtes 
Stück  Feld  (vgl.  le  baris  Schwade);  le  uf-bars  Uebermass  -  barstaü 
barstpi  iter.   (zu  berti). 

t.  birbiü  birbiaü  birbti  summen ;  birbikas  Summer ;  birb^ne  Summ-, 
Schnarrinstrument  --  birbinti  caus.,  daher  auch  »blasen«  (ein  derartiges 
Instrument).  —  U.  barbözius  Summer. 

i.  le  birfe  Saatfurche.  —  6.  le  berfchu  berfu  berft  scheuem, 
reiben.  —  Zweifelh.  Zusammenst.,  vgl.  unter  birti. 

i.  le  birfe  Birkengehänge,  Laubgehänge:  birilis  KLD  M  Birken- 
zweig; biritva  J  497.  3  Birkenwald?  —  e.  berias  Birke. 

i.  bizdzm  N  und  K  =  bezdälim  Stänker,  nach  Schi.  Lsb.  ein 
Dicker,  schwerfällig  Gehender,  wozu  bizdöne^  Räthselwort  für  Schwein, 
das  fem.  —  €•  bezdü  bezdi'ti  pedere;  bezdas  {bizas)  crepitus  ventris; 
bezdalas  {bezalas)  dss. 

i,  bljsta  blindo  blisti  dunkel  werden;  prj-blinde  Abenddämmerung. 

—  e.  blendz&s  blendiaü-s  bl^sti-s  NM  sich  verfinstern.  —  Cl.  blan- 
daü  bland^ti,  sc.  akis  die  Augen  niederschlagen  (eigentl.  »verdunkeln«), 
blandpi-8  sich  schämen,  vgl.  dangus  isz-si-bländ^  der  Himmel  hat 
sich  aufgeheitert  BF  1 00  (gehört  nicht,  wie  dort  angegeben,  zu  einem 
inf.  blqsti,  sondern  zu  blandpi^  vgl.  ebend.  das  pt.  prt.  f.  isz-si-- 
bländitm). 

i.  le  bhfchu,  blldu  und  blifu^  bllft  ULD  (Bi  hat  nur  e)  aufdinsen, 
t  =  m,  le  bliflgs  ein  sich  noch  Entwickelndes,  Zunehmendes  (z.  B. 
Kind),  lit.  prirbl^ta^  blindo^  blfsti  KLD  []  »im  poln.  Litauen,  in  Ge- 
brauch«: fester  werden  -^  Iblijzau  blfzoti  KLD  still,  woran  geschmiegt 
daliegen  (dann  blizau  zu  schreiben).  —  e.  le  blefchu^  bledu  und  blefu^ 


322  August  Lbskien,  [60 

blefl  aufdinsen,  dick  werden,  e  =  en.  —  Ä.  le  blufe  Gedränge, 
ü  =  an;  blandüs  nach  KLD  »bündig«  (von  der  Suppe),  nicht  wäs- 
serig, nach  N  das  Gegentheil :  dünn,  wässerig.  —  Ausser  der  Reihe 
le  blaißt  quetschen,  schmettern,  schlagen.  —  Zweifelhaft  wegen  des 
Wechsels  von  f  {£)  und  d. 

%.  prät.  bridaü  bristi  (zu  bredü)  waten  -  le  caus.  bridinät  waten 
lassen.  —  i.  br^dis  m.  das  Waten  -^  br'^dau  br^doii  dur.  intr.  im 
Wasser  stehen.  —  €•  präs.  bredü  (zu  bristi)  ^  daneben  brendü  i 
638.  9  (Sz  brindu  =  brendu)^  vgl.  le  bredu  =  "^brendu  ~  bredzoti 
Sz  iter.  —  flt.  bradä  das  Waten,  die  Pfütze;  le  braslis  m.  Furt; 
bi^asta  Furt  --  bradaü  bradpi;  le  bradät  iter.  (zu  bristi);  le  brafchät 
iter.;  bradinti  caus.  waten*  machen.  —  Ausser  der  Reihe  lit.  iter. 
braidaü  braid^ti;  bräidzoti  (vgl.  le  brafchät  =  Hradzoti). 

im  bfisia  brindau  bristi  aufquellen  ^  brindau  brindyti  quellen 
machen.  —  €•  br^stu  brendau  bristi  kernig  werden,  reifen,  le  breßu 
bredu  brifti  quellen,  reifen;  pr  brende-kermnen  schwanger;  brendfd^s 
Kern  -  brendinti  reifen  lassen  caus.  —  Ä.  ?le  brüds  Dachfirst; 
brända  N  das  Kern-,  Kornansetzen;  le  brüfchs  (=  ^brandjas^  das 
brandus  vertreten  kann)  stark,  völlig,  vgl.  brandj  a.  sg.  J  1018.  6; 
brändalas  NSz  Kern;  le  brüsls  (=  Hrand-sla-s)  stark,  dick;  brandus  N 
körnig,  gefüllt,  Sz  (unter  nieplenny)  ~  pr  nom.  act.  po-brandisnan  a. 
sg.  Beschwerung,  doch  vgl.  pr  pobrendints  beschwert  (s.  lit.  bren- 
dinti) . 

i»  bringstu  bringau  bringti  theuer  werden.  —  d.  brangus  theuer, 
denom.  davon  brangstu  brangau  brangti  theuer  werden  N  ^  branginü 
theuer  machen. 

i.  brinkstu  brinkau  brinkli  quellen,  schwellen  ~  brinkinti  caus.  — 
(Z.  brankä  das  Schwellen  (z.  B.  ins  Wasser  gelegter  Kömer) ;  ?le 
adv.  brankti  fest  anliegend,  gedrang;  "fbränksztas  Bruch  im  Felde. 

im  brinksztereti  Schnippchen  schnellen,  vgl.  den  Ausruf  brinkszt, 
der  das  Schnippchenschlagen  bezeichnet.  —  tt»  bränkszlereti  einen 
kurzen  schlagenden  Ton  hervorbringen,  vgl.  den  Ausruf  bränkszt  dafür, 
dass.  bräkszt  und  braksztereti. 

i.  czirszka  Kreischer;  czirszkl^s  Wespe  ~  czirszkinti  kreischen 
machen. .  —  €•  czerszkiü  czerszkiaü  czerkszti  klirren  u.  a.  (doch  auch 
czirszkiü);  czerszkü  czerszke'ti  dss. 

f.  le  dile  saugendes  Kalb  ^  le  dillt  säugen.  —   €•  le  döl  d^ju 


64]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  323 

nach  ULD  auch  »saugen«  (an  der  firust) ;  le  dBls  Sohn ;  deW  Blut- 
egel, le  d^le]  pirmdele  kärve  Kuh,  die  z.  e.  M.  geboren  hat,  pirmdel^s 
Erstgeburt  (von  Thieren) ;  le  d^jals  Mutlermilch. 

i.  prät.  dilaü  dilti  sich  abnutzen,  le  präs.  dilstu;  püs-dilis  (s. 
-dylis);  le  diluns  Auszehrung  --  dilinti;  dildinii;  dildyti  J  841.  21 
caus. ;  le  dilinät  caus. ;  le  dilüt  abschleifen  Irans,  iter.  —  i»  präs. 
dylü  (zu  dilti) ;  püs-dylis  {me'nü)  Mond  im  letzten  Viertel.  —  e.  le 
präs.  delu  (zu  dilt);  delna  flache  Hand  (nach  Fick  II.  581);  delczä 
abnehmender  Mond  «^  le  deld^t  caus.  abnutzen. 

i.  nur-dilh-slü  dilbaü  dilbti  inch.  die  Augen  niederschlagen ;  dilba 
Gluper;  dilbinas  dss.  ^  dilbinti  glupend  umhergehen;  dilbineti 
dem.  iter.  dss.;  dilbsü  dilbse'ti  glupen;  dilbsaü  dilhsöti  dss.  — 
€•  delbiü  delbiaü  delbli  {akis)  die  Augen  niederschlagen,  »vielleicht 
nur  in  dem  Part,  nudelbfs  akis^  die  Augen  niedergeschlagen,  in  Ge- 
brauch« K. 

i.  le  dilba;  le  dilbis  m.  Röhrknochen,  Schienbein.  —  €•  le 
delbs  {delms)  Ellenbogen;  delba  KLD  Forkenstiel,  vgl.  le  delbis  zwei- 
zinkige  Gabel.  —  Cl.  le  dalbs^  le  dalba  Fischerstange  u.  a.  (Zur  An- 
knüpfung an  das  Vorherstehende  vgl.  Fick  IL  583). 

i«  dilgstu  dilgau  dilgti  von  Nesseln  verbrannt  werden;  dilge  N 
Nessel  (gewöhnl.  dem.  dilgde)^  davon  dilg^ne  Nessel;  dilgus  stechend, 
brennend  MLG  I.  387  '^  dilgau  dilgyti  caus.  mit  Nesseln  brennen; 
dilginti  dss.  —  U.  dälgis  m.  Sichel  (vgl.  Fick  II.  582),  bei  Sz  auch 
dalge. 

i.  le  dimstu  dimu  dimt  dröhnen;  le  dima  Dröhnung  --  le  dimdst 
iter.  —  e.  Präsensf.  le  demu  (zu  dimt). 

€.  dingstü  dingaü  dingti  wo  hingerathen  (eigentl.  wo  verdeckt 
werden,  wo  sich  verbergen);  ?dazu  dimstis  f.  N  Hof,  Gut, 
nach  N  am  Haf  gebräuchlich,  wenn  für  dingstis^  wie  nach  N  ebenda 
dimsta  man  für  dingsta  man  (mich  dünkt).  —  e.  dengiü  dengiaü 
dengti  decken;  dengä  N  Decke;  uzdengalas  Sz  [azudingalas ;  unter 
zaslana)  Decke;  dengle  N  dss.;  uidengtüve  N  Schild  ~  dengine ti  iter. 
dem.  decken.  —  CL.  ap-^angä  Kleidung;  dängalas  Decke;  dängtis  m. 
Deckel;  uidangte  Sz  {u.  pokrywka)  Decke;  dangtuve  N  Deckel;  dangus 
Himmel  «^  dangaü  dangpi;  dangsiaü  dangst^i  iterativa  (zu  dengti); 
danginti-8  sich  wohin  begeben  (caus.  zu  dingti)  MLG  I.  62,  BF  106. 

i.  dirti  schinden  WP  100,  nu-dirtas  prt.  prftt.  p.  WP  75,  PrSs. 


und   Prdl.   zweifelfiaft.    ELD   hat   nach    Kekb    ein   Jynw    ifjfriiii   dirli 
af>»tecfK;o:    Idirrä  Acker     d.  b.    bestellbares  Ackerland  .  — 


f#  le  Jirä/  eiu.  iter,  scbinden.  —  <¥•  le  nit-dara  Stande  mit  be- 
kappten  Aei^teo,  le  nii-dara$  t  pL  Abfalle    von  Bast  o.  a.'. 

i«  dirtm  dirhau  dirbü  aiiieiten  -^  dirlnmeü  iler.  dem.  —  C7.  dar- 
ha$  Arb^5it,  darbm  arbeitsam. 

i#  dirgnlu  dirgau  dirgti  in  Unordnung  geralhen  vom  Gewehr: 
loifgehen),  $u^irgü  zornig  werdai  J  876.  16,  9u-dirgo  N  ist  schlechtes 
Wetter  geworden  -^  dirginti  caas.  in  Unordnung  bringen^  piiszkq  pa- 
dirgirUi  Flinte  abdrücken;  dirgau  dirgyü  in  Unordnung  bringen.  — 
<^.  d^gia  d^gi  dirgü  ist  schlechtes  Wetter;  dergeiis  ELD  Unfläther 
'«^  le  derdfetS-s  Ekel  empfinden;  pr  derge  sie  hassen.  —  A.  darga 
N  schlechtes  Wetter,  dargm  NSz  garstig;  padargas  künstliche  Ma- 
schine KLD,  nach  N  allerlei  künstliches  unnützes  Machwerk,  doch 
auch:  Gerath;  därgana  schlechtes  Wetter. 

i«  dirilü  diriaü  dirili  zähe,  hart  werden;  apHlirzelis  verhärteter 
Mensch;  dirias  Riemen.  —  ttm  'Idärzas  Garten,  le  darfs  auch  »Hof, 
Kinzäunung«. 

i#  le  dribinät  (neben  drebinäl)  caus.  zum  Zittern  bringen,  vgl. 
pr  dirbinman  a.  sg.  Zittern.  —  €•  drebii  drehe  li  zittern ;  le  drebeklis 
Schreckbild;  drebulp  Schauer;  drebule  Espe;  drebüs  N  zitterig  ^ 
drölnnti  zittern  machen.  —  (I0  drabüs  zitterig  KLD  s.  v.  drebüs. 

i.  drimbü  dribaü  dribli  langsam,  dickflüssig  herabtropfen;  su- 
drihMis  (Scheltwort)  Zusammengesunkener;  pa-dribä  N  Augentriefen. 
—  i«  dri'jfbau  drifboli  dur.  dick  herabhangen,  anhangen.  —  e.  präs. 
drehiü  (zu  dr^'bli)  mit  Dickflüssigem  werfen;  '^drebüzis  (neben  dra- 
büttH)  Kleidungsstuck.  —  ^.  prät.  drebiaü  drehti  (zu  präs.  drebiü): 
drMmaa  nom.  act. ;  drdbikas  nom.  ag. ;  ?  le  drehe  Zeug,  Gewand.  — 
U»  drabnm  N  leicht  anhangend,  feist;  'fdrapanä,  gewöhn),  plur.  drä-- 
panos  Woisszoug  =  ^drab-  pana{'!);  *?  drafewm  Kleidungsstück  (neben 
drcbülis)  ^ drahstaü  drabslpi  iter.  (zu  drehti).  —  O.  "f drohe  Leinwand,  vgl. 
Fick  11.  381,  drobüU  Laken;  ?le  dräna  (für  *drdh-na1]  Zeug,  Wäsche. 

i.  dristü  drisaü  dristi  dreist  werden,  wagen;  le  drlkslet  wagen 
(oig.  iterat. ;  l  der  Bildungszusatz,  k  eingeschoben).  —  e.  Präs.- 
form  drfm  (zu  dr{Bti).  —  d.  drqsä  Dreistigkeit,  davon  drqsiis  dreist, 
le  drihchs  =  ^dransjas^  Vertretung  von  dransm;  drqslm  NSz  dss. 
~  drisinti  caus.  dreist  machen. 


63]  Der  Ablaut  deb  Wcbzelsilben  im  Litauischen.  325 

i*  prät.  sip-driskaü  (gebrauch),  prtic.  sthdriskfs)  driksti  intr.  zer- 
reissen;  ap-dri^kelis  Zerlumpter;  isz-driskei  pl.  N  Weichen  (der 
Tbiere) ;  le  driska  ein  Zerreisser ;  ~  drikstere'ti,  driksterti  dem.  ruck- 
weise reissen  intr. ;  le  driskät  trans.  zerreissen.  —  %.  su-drykslü 
präs.  (zu  dnskaü\  so  Schi.  Gl.  Don.).  —  6.  dreskiü  präs.  (zu  dreksti) 
Irans.*  reissen.  -^  <§•  prät.  driskiaü  drä'ksli  (zu  präs.  dreskiu)  reissen 
trans.;  dreskimas  nom.  act. ;  dreskikas  nom.  ag. ;  dreskejas  nom.  ag. 
—  Cl.  le  draska  Lump  «^  draskaü  drtisk^U  iter.  (zu  dre'ksli) ;  le  draskäl 
dss.  zerreissen.  < —  Ausser  der  Reihe  le  draiska  ein  Zerreisser,  le 
draiskät  (=  draskäl). 

i.  gilüs  tief;  jfi/m^'  Schi.  Lsb.  als  zem.  Tiefe.  —  l.  gyU  N 
Tiefe,  le  dfile  Abgrund.  —  e.  gelme'  Tiefe;  le  dfdwe  Strudel. 

i.  gilsta  gilo  gilti  anfangen  zu  stechen  (von  Schmerzen),  plötzlich 
schmerzen  impers.,  bei  NM  ein  güu  gilau  gilti  stechen  (z.  B.  von 
Bienen);  giltine  Todesgöttin.  —  i.  gylä  KLD  heftiger  Schmerz;  gylp 
Stachel  -^  gyliöti  iter.  stechen.  —  6.  präs.  geliü  gelti  stechen;  le  dfelde 
Auflauf  der  Haut  von  Brennnesselstich;  gelu  (St.  gelenr-)  N  Stachel; 
gelonis  f.  stechender  Schmerz,  Stachel ;  gelinenis  (Vertreter  eines  älteren 
^gelmu)  N  heftige  Kälte;  le  dfelwa  (neben  dfelba)  Auflauf  der  Haut 
von  Brennnesseln  ~  le  dfeldit  iter.  stechen.  —  ^«  geliau  prät.  (zu  gMi)^ 
le  dßlu]  gelimas  nom.  act.;  gelä  KLD  heftiger  Schmerz.  —  Um  'Igalas 
Ende  (=  punctum?). 

i«  gilbstü  gilbaü  gilbli  sich  erholen,  genesen  ~  le  at-^lbinät  caus. 
aufleben  lassen.  —  €•  gelbu  gilheli  helfen.  —  C*.  pchgälba  Hülfe. 

i.  prUt.  gimiaü  gimti  geboren  werden,  pr  nom.  act.  gimsenin 
a.  s.  Geburt;  pr  per-gimam  a.  pl.  Creaturen;  po-gimis  m.  Natur  J  128. 
7;  pr  preigimnis  bhe  pergimnis  (gen.  sg.  im  Text)  Art  und  Natur; 
gimine'  Geschlecht  (Verwandtschaft);  le  dßmta  Geburt,  Geschlecht; 
gimtis  f.  Geschlecht  (sexus),  pry-gimtis  angeborene  Art;  gimtine'  Ge- 
burtsort (zum  adj.  ^gimtinis);  gimtuve  Geburtsort  «^  gimdaü  gimdpi 
caus.  gebären,  vgl.  pirma-gimde  primipara  Sz  (unter  pienviastka) .  — 
%•  g^mis  m.  Geburt,  Gesicht.  —  €•  präs.  gemü  (zu  gimti) ^  im  pr. 
Kat.  in  mehrere  Formen  des  primären  Verbums  mit  e,  z.  B.  gemton 
inf,  »gebären«,  gemmons  prt.  prät.  a.  geboren,  act.  in  gemmans  ast  hat 
geboren  —  die  Richtigkeit  dieses  e  wie  die  trans.  Bedeutung  sind 
nicht  sicher;  gema  NBdQu  Frühgeburt;  le  dfemde  ulerus '^  le  dfemdet 
gebären  -  le  dfemdinät  caus.  erzeugen.  —  Ct.  gdmas  B  Art,  Geschlecht, 


326  August  Leskien,  [64 

äp-gamas  prS-gamas  Muttermal;  gamta  G  Natur  (?)  --  gaminH  cans. 
ei*zeugen. 

i.  [genü)  giniaü  ginli  treiben,  hüten  (Vieh);  ginü  [g^niau)  ginti 
wehren,  schützen;  gine'jas  Yiehtreiber;  ginikas  dss. ;  ginklas  Wafle, 
ap-ginkle  Sz  Schutzwehr,  n{e)apginklm  Sz  (unter  nieobwarowany)  un- 
vertheidigl,  unbewehrt;  ap^ntis  f.  i-st.  IG  158  Vertheidigung ;  ginczä 
Streit;  ginluve'  N  Festung  «^  gindinti  caus.  (zu  genü)  treiben  lassen; 
le  dfidinät  iter.  (zu  dßt  =  ginti  treiben).  —  i.  g^niau  prät.  (zu  ginü); 
gifnimas  nora.  act. ;  prSszr-gynis^  f.  -e  Widerspenstiger,  vgl.  prisx-gyniuii, 
-gyniäuii  sich  widersetzen.  —  €•  genü  präs.  (zu  ginti  treiben);  genesis 
Trift  MLG  I.  72;  genest^s  dss.  -  le  dfenät  iter.  (zu  dflt  =  ginti  trei- 
ben). —  U»  le  gans  Hirt,  le  gani  ra.  pl.  Weide;  iszr-ganus  N  heilbringend; 
gäniava  das  Hüten  -  ^anati  ganpi  iter.   (Thiere)    hüten,    weiden.  — 

0.  nakli-gon^  Nachthut;  nakti-gonis  m.  i-st.  Nachtschwärmer  KDL.  — 
Ausserhalb  der  Reihe:  gainiöti  iter.  (zu  genü  ginti)  J  127.  3,  le  gaiAät 
abwehren;  le  gainit  treiben,  verfolgen;  geinis  »ein  Ast  nebst  einem 
Stück  Holz,  behauen  wie  ein  Brettchen  zum  Zurückschlagen  des 
Kreisels    (n/^ä)«,    vgl.    su^ginti    »den    Kreisel    zurückschlagen«    MLG 

1.  225. 

i.  le  ^inftt$  ^indu  ^int  zu  Grunde  gehen  Bi  1.  374.  —  €•  gendü 
gedaü  gesti  entzweigehen,  verderben  inlr.,  pa-si-gesti  sich  sehnen 
nach;  gedü  gedeti  trauern  (um  einen  Verstorbenen).  —  ^.  g^'da 
Scham,  Schande  (pr  gldan  Scham,  negidings  schamlos,  hat  wahr- 
scheinlich f  =  ß);  gedzu-8  gedeti-s  sich  schämen  (eine  3.  sg.  prt. 
su-si-ge'do  J  166.  6,  von  einem  präs.  ge'stu);  gedus  N  Schamhafligkeit  -- 
gedinti  beschämen.  —  tt.  pagadas  N  Verderben  -  gadinti  caus.  ver- 
derben. —  Zusammenstellung  zweifelhaft. 

im  girä^  le  dßra  Trunk,  Getränk;  giria  Trank  KLD  [  ],  pä-girios 
Nachrausch ;  girklas  Sz  Getränk  (unter  napoj) ;  girtas  betrunken  (altes 
pt.  prt.  pass.  zu  gMi) ;  girtüs  berauschend ;  girtis  f.  u.  girte  N  Sauf- 
gelage; ap-giriis  m.  KLDBd  kleiner  Rausch;  girtuvii'  Schenke  ^  giru'ti 
und  giräuti  N  zechen  (iter.),  letzteres  bei  Sz  (unter  napijam  sif);  girdau 
girdyti  caus.  tränken;  girdinti;  le  dßrdinät  dss.;  girmuti  {jgirsndti), 
girksznöti  J  1046.  3  dem.  iter.  fortgesetzt  ein  wenig  trinken.  — 
i.  le  dßras^  dßres  f.  pl.  Gelage.  —  €•  geriü  girti  trinken;  gerkU* 
Kehle;  ui-gertüvds  f.  pl.  Verlobungsschmaus;  gerove'lis  dem.  Trinker 
J  849.  3.  —   <5.   ge'riau  prät.   (zu  gerti)\  gi'rimas  nom.  act.;  gerikas 


^^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  3S7 

nom.  ag. ;   ge'ris  Trunk,  Trinken  J  669.  1,  bei  KLD  [  ]  als  fem.  i-st. 
aus  NSz;  ge'ralas  Getränk  BF  112. 

i0  giriü  girli  loben;  pr  girman  a.  sg.  nom.  act. ;  pr  po-girim 
a.  sg.  Lob.  —  t»  prät.  g^riau  (zu  girti) ;  g^rimas  nom.  act. ;  gyrüjas 
nom.  ag.;  gyrä  SchL  Lsb.  Ruhm,  Prahlhans;  gitjrius  Ruhm.  —  €•  geras 
(nach  Fick  IL  549)  gut.  —  d.  geruhe  Güte;  gere'ti-s  Wohlbehagen 
empfinden,  sich  gefallen.  —  d.  garbe\  garbä  Sz  Ehre,  s.  u.  gerbti. 

i.  girslü  girdaü  girsli  zu  hören  bekommen,  vernehmen;  girdiü 
girde'ti  hören;  girdij/s  Hörer  -  girdma  girdenti  es  geht  das  Gerücht; 
girdinti-s  N  sich  hören  lassen,  sich  verbreiten  (vom  Gerücht).  — 
e.  gerdas  giardas  =  gerdas  B  Geschrei,  Botschaft,  gerd-neszis  Herold  B 
-  pr  po-gerdaut  sagen;  gerdenü  Sz  (unter  gloszfi)  Gerücht  verbreiten, 
viell.  fehlerhaft,  denn  z.  B.  unter  gruchnplo  steht  girdena  (doch  mehr- 
mals gierd-  unter  rozglasza).  —  Ä.  gärsas  {=  ^gard-sas)  Schall,  garsus 
schallend,  gärsinti  schallen  machen;  garstnas  Ruf  von  etwas  (=  ^gardr- 
Brnos)  WP  221. 

*.  girgzdzu  girgzdeti  knarren ;  ?  le  dßrksts^  dßrksle  Gicht,  Späth, 
auch  Hüftgelenk ;  ?  le  dßrksnis  Leistengegend  (ULD  indess  auch 
zirksnis,  zirkste  Biegung  am  Unterleibe,  Weichen,  dazu  lil.  kirksznis  f. 
»das  Gelenk  zwischen  dem  Dickbein  und  Bauch«)  --  girgzdinti  caus. ; 
girgzduti  caus.  J  908.  1 .  —  6.  ?  le  dferkste  =  dßrksle.  —  €1.  le 
gargfda  grauer,  sandiger  Boden.  —  Daneben  gurgzdii'ti  in  derselben 
Bedeutung. 

i.  le  prät.  dßsu  dßst  (zu  präs.  dfMu)  erlöschen  intr.,  kühl 
werden;  gistu  Sz  exstinguor  (unter  gasn^)\  ne-gisunei  SzP  5  unlösch- 
bar  (?);  le  dßsinät  trans.  löschen.  —  6.  gestü  gesaü  gesti  intr.  er- 
löschen; le  dfeschu  dfest  trans.  löschen,  bei  Sz  (unter  gaszfi)  gesiu 
(geschrieben  giesiu^  wo  i  die  Erweichung  des  g  bezeichnet);  gesm^' 
kleines  eben  noch  glimmendes  Feuer;  le  dfesma  {dfäsma)  der  kühle 
Hauch  am  Morgen;  le  dfestrs  kühl  «^  gesaü  gespi  caus.  löschen;  ge- 
Sinti  dss.  —  €•  le  dfesu  pröt.  (zu  dfest;  auch  präs.  dfeschu,  inf.  df^st 
werden  angegeben)  Bi  I.  368.  —  Das  le  präs.  dfestu  kann  als  ausser- 
halb der  Reihe  liegend  {e  ^=l  Diphth.)  gefasst,  aber  auch  als  ^dfenstu  =. 
^genstu  erklärt  werden. 

t.  le  gllwe  grüner  Schleim  auf  dem  Wasser,  Schleim;  le  gllftu 
glidu  gllfi  schleimig  werden.  —  €•  KDL  unter  »breiartig«  hat  ein 
gWja-s  {  dantis  (klebt  an  die  Zähne,  sc.  breiiges  Brod) ;  le  glews  zäh 

Abhandl.  d.  k.  S.  aeselUch.  d.  Wissenscb.  XXI.  23 


328  August  Lbskien,  [^^ 

(sich  ziehend  wie  Schleim),  schlaff  u.a.;  glemes  zäher  Schleim  (rich- 
tiger gUmesTj^  vgl.  glemis  G. 

i»  glibp  N  triefäugig.  —  €•  glembü  glebaü  glebti  N,  G  weich 
werden,  zerfliessen. 

i»  grimsiü  grimzdaü  grifnsti  sinken,  le  grimstu  grimu  grimt  ~ 
le  grimdinät  caus.  versenken.  —  6.  gremzu  gremzau  gremsti  NQu 
senken  (2;  dial.  für  zd)\  le  gremdet;  \e  gremdinät  caus.  versenken.  — 
CI0  gramzdüs  tief  sinkend  --  gramzdaü  gramzdpi;  gratnzdinti  ver- 
senken. 

*•  grindzü  grindzaü  grisH  dielen;  le  grids  (=•  ^grindas)  Fuss- 
boden,  Diele,  pa-grindai  Bohlenlage  auf  Brücken  u.  s.  w.;  grinda  IG 
178,  le  grida  Diele;  grindis  f.  Dielenbrett;  gristds  N  Diele.  — 
ßm  ?le  gresii  (=  ^grenstai)  m.  pl.  Oberlage,  Zimmerdecke.  —  C*.  le 
grudi  (=  ^grandai)  m.  pl.  Holz  zum  Einfassen,  lit.  grändai  BF  Latten 
auf  den  Deckbalken  des  Stalles;  pagranda  Sz  (u.  poklad)  Diele;  le  grth- 
des  f.  pl.  Holz  zum  Einfassen;  grandis  N  aus  M,  nach  N  f.  Radreifen, 
Armband. 

i.  gr\8tü  grisaü  gristi  überdrüssig  werden.  —  C  ^resiu  gresiau 
gresti  entwöhnen  (so  lese  ich  G's  griesii^  at-gnesii,  nt^griesli,  wo  i 
wohl  nur  das  weiche  r  bezeichnet).  —  «.  grasä  Ekel,  grasus  ekel- 
haft -  grasaü-s  gras^ti-s  sich  ekeln;  grasinti  Jemandem  etwas  verekeln. 

i.  grizlü  grizaü  gr{zli  zurückkehren ;  gr{zo  rätas  der  grosse  Bar ; 
grizulas  Reitbahn,  grosser  Bär;  gr\zule  KLD  []  Deichsel;  le  grifeklis 
eine  Art  Riegel;  grizte  Büschel  (Flachs);  su-griitis  f.  i-st.  IG  157 
Rückkehr  <^  griiöti  KLD  schwanken;  griztereti  dem.  sich  ein  wenig 
verdrehen,  verrenken.  —  €•  gr^ziü  grffziaü  grfili  drehen,  bohren, 
le  grefchu  grefu  grefl;  le  grgfa,  gref-galwa  Wendehals  (=  ^grenf-); 
le  grefchi  m.  pl.  (=  ^grenfjch)  Mondphasen;  gr^zule  N  Deichsel; 
le  grefnis  Drillbohrer.  —  d.  at-grqias  N  Wiederholung,  Strophe; 
surgrqza  Sz  (unter  odwrot)  Rückzug;  le  grusch  (=  ^granf-jas)  drall, 
stark  gedreht;  le  grufchi  m.  pl.;  le  grufchas  f.  pl.  Lenkseil  (=  *  granf- 
ja-) ;  grqzulas  NSz  Deichsel ;  grqztas  Bohrer  ^  grqzaü  grqz^ti  (le  grüßt) 
iter.  (zu  gr§iti);  grqsztau  grqsztyli  N  dss.;  grqzinti  umkehren  machen. 
—  Ausser  der  Reihe  le  graiftt  in  der  Bedeutung  »hin  und  her  wen- 
den« iter.   (zu  grgft) ;  ?  le  greifs  schief. 

if  gvüdisj  gvildp  KLD  [  ]  Ausschlauber ;  gvtldau  gvildyti  aus- 
schlauben;  vgl.  gvilbinU  schlaubig  machen  J  1018.  3,  4.  —  6.  pa- 


67]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  8Sd 

gvelbti  WP  155  entwenden,  aber  173  pa-gveldi,  d.  i.  pa-gveldf  pt. 
prt.  a.  plur.  m.  —  Ä.  gvaldm  leicht  aushttlsbar  MLG  I.  388  ~  gval- 
daü  gvaldyti  ausschlauben  ]  683.  6,  gvalbyti  6  dss. 

i.  ilslü  ilsaü  ilsli  müde  werden ;  ilsiu-s  iketi-s  ruhen ;  ätnlsis  f. 
Ruhe  -  ilsinti  N  müde  machen.  —  €•  ?Ie  elschu  elsu  eist  keuchen, 
vgl.  elsuü  und  dsuti  WP  183,  16S  keuchen,  athmen.  —  U.  alsä 
Müdigkeit,  alsüs  müde,  isz-ahüli  ~  alsau  alsyii  N  erniüden  caus.; 
alsinii  dss. 

i»  imü  imti  nehmen ;  isz-imga  KLD .[  ]  Ausgedinge,  Altentheil ; 
ime'jas  Nehmer  -*  imdineli  Sz  iter.  —  €•  le  pras.  jemu,  inf.  jemL  — 
d.  emiau  prät.  (zu  imli) ;  emimas  nom.  act. ;  ^ikas  nom.  ag. ;  le 
prät.  jemu. 

%•  ingsta  ingo  ingti  abgehen  (von  Haaren  des  Felles  u.  a.)  MLG 
I.  68;  ingis  Faullenzer;  ?dazu  le  Igstu  idfu  igt  innerlich  Schmerz 
haben,  verdriesslich  sein,  torpere;  le  idfinät  verdriesslich  machen, 
necken.  —  €•  nu-engti  BF  abschinden  (Stück  Haut),  skürq  iszengti 
beim  Gerben  abstreifen,  zv^nes  nuengti  abschuppen  MLG  I.  68,  iszengti 
kaili  WP  159,  160,  bei  KLD  engiu  engiau  engti  »etwas  mühsam  und 
schwerfällig  thun,  ärkli  nuengti  ein  Pferd  abquälen,  abtreiben,  vgl. 
le  engst  ULD  turbiren.  —  Ä.  f  angä  Öffnung;  änksztis  f.  i-st.  Hülse 
(z.  B.  von  Bohnen). 

i.  nur-inksla  inko  inkti  verschiessen  (von  der  Farbe);  le  ikls 
(lies  ikls'f)  und  ils  (=  ^inUasf)  stockfinster.  —  6.  jenkü  jekaü  jekti 
erblinden;  ap-jekelis  Verblendeter.  —  d.  äMas  blind. 

i,  iriü  irti  rudern;  irkhs  Ruder.  —  f.  j^mti  prÄt.  (zu  irti); 
^imas  nom.  act.;  le  ir^js  nom.  ag.;  isTryra^  iszyri  N  Anfahrt  für 
Kähne  (wenn  eigentl.  »Uferausschnitt«  bedeutend,  zum  folgenden).  — 
(Im  pr  artwes  Schiffreise. 

i.  prät.  iraü  irti  sich  auftrennen,  le  präs.  irstu  (auch  lit.  bei  NSz); 
sur-irelis  gewissermassen  »einer,  der  entzweigeht«,  d.  h.  Unentschlos- 
sener, Verwirrter;  pä-iras  locker;  ankszt-irai,  änkszi-iros  Maden 
(eigentl.  Hulsen-trenner,  -bohrer,  äfiksztis  Hülse) ;  le  irdens  locker  ~ 
le  irdlt;  le  irdinät  trennen,  lockern.  —  f.  yru  präs.  zu  irti.  —  C  le 
erfcku  {erstu)  erdu  erst  ULD  trennen;  Srdvas  weit,  geräumig,  le  erds 
locker,  bequem;  erdvä  KLD  []  Geräumigkeit;  ertas  geräumig  WP  211. 
—  d*  j6rkä  pra-j^ka  Schlitz.  —  CK.  ärdai  Stangengerüst  zum  Flachs- 
trocknen;   le  ardaws  ULD  =  irdens  locker;    ardus  zerstörend  MLG 


330  August  Leskien,  [68 

I.  386;  f  arklai  {arkilai)  Stangengerüst  in  der  Brechslube  (=:  ärdai); 
le  ?  ap-arms  »bei  der  Scheune  ausgebreitete  Heuhaufen  zum  schliess- 
liehen  Übertrocknen«  ULD  -  ardaü  ardyti  trennen.  —  Ä.  öras  Luft, 
le  ärs  das  Draussen  (nach  Fick  IL  518  hierher  gehörend). 

i.  kimbu  kibaü  kibti  hangen  bleiben,  i-kibti  über  Jemand  her- 
fallen, angreifen,  z.  B.  WP  98,  108;  kibü  kibeli  sich  regen  (zum 
Bedeutungsübergang  vgl.  u.  kijburti)^  vgl.  kibzdü  kibzde'U  wimmeln; 
kibjs  G  Klette;  kib-irksztis  f.  Funken;  kibeklas  KLD  [  1  (N  kybeklas) 
Fischerhaken,  kibekle  N  Art  Haken,  kibeklas  KLD  künstlicher,  in 
einander  greifender  Mechanismus;  kibiras  Eimer  ~  kibinli  caus.  (zu 
ktbi^'ii)  eigentl.  zappeln  machen,  necken,  zupfen;  le  k'ibinät  reizen.  — 
i.  k'^bau  k^boli  dur.  hangen;  k'jburti^  k'^burioti  hangend  zappeln, 
überh.  zappeln.  —  €•  kebeklis  m.  Haken;  keblikas  dss.;  keblüs  N 
holperig  (vom  Wege),  vgl.  keblineli  hin-  und  herhüpfen;  kebenekas 
Haken;  kebesza  N  Misthaken.  —  6.  "( ke'psztereti  »einmal  leicht  zu- 
hauen, oder  zuschlagen,  etwa  mit  dem  Schnabel«  u.  s.  w.  KLD.  — 
Ct.  kabu  kabe'ti  hangen;  le  kaba  Sparrbalken  mit  Wurzelende  u.  a. 
Gebogenes,  üz-kaba  Vorhang,  ap-kabä  Umhang;  kabe'  Haken;  le  kablis 
Häkchen,  Heftel,  kablis  Misthaken  u.  a.,  auch  »Necker«;  kabüs  sich 
leicht  anhängend;  kablm  dss.  MLG  L  388  ^  kabinti  caus.  hängen; 
le  kabinät  dss.;  kabine'ü  iter.  dem.  (zu  kabinli);  1  kapsznöti  picken 
KDL  s.  V.  bicken. 

i.  kiktu  kilaii  killi  sich  heben;  kiltne  Abkunft,  Geschlecht  WP 
160,  iszr-kilme  dss.  z.  B.  JSv  61;  kilnas  N  erhaben;  pra-künüs  statt- 
lich ;  kiltis  f.  i-st.  Geschlecht,  le  zills  (i-st.)  dss. ;  le  zilta  dss. ;  atr-kilüs 
offen  -  kileli  dem.  trans.  heben  J  599.  6  (s.  kyleti);  kiluli  iter. 
trans.  heben,  z.  B.  J  274.  3;  le  zilät  iter.  heben;  le  zildit;  le  zildinäl 
zu  etwas  bewegen;  le  zilinät  iter.  beben;  kilnöti  iter.  heben;  kilsnöti 
dss.  —  l.  Präsensf,  kylü  (zu  kilti);  isz-kyla  N  Anhöhe-  kyleli  dem. 
ein  wenig  beben;  kyloti  LB  336  iter.  heben.  —  e.  keliü  kelti  heben; 
3k^lia8  Weg;  nom.  ag.  kele'jas  Hebender;  Ikelmas  Baumstumpf;  kein 
tiiv^  StocV  am  Dreschflegel,  le  zeltawa  kleine  Fähre  -  le  zelal  iter. 
{tM  zeit  z=:  kelti).  —  e.  prät.  keliau  (zu  käti),  le  zSlu;  ke'limas 
nottiu  öct.;;  le  nom.  act.  2;eich«  zu  Tragendes,  Garbenreihe  u,  a. ;  le 
aoin.  %  ze/4j^;z^%>  Überfabrer  (Fährmann).  -—  a.  le  kaSa  Hebel; 
iali»a«  Berg;  hoUvä  Hiigel. 


69]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  331. 

i.   kilpa  Steigbügel,  Schlinge,  kilpine  und  kilpinis  it).  Anubrusl. 

—  Ä.  kälpa  Querholz  am  Schlitten,  das  die  Kufeti  verbindet. 

i.  kimslü  kimaü  kimti  heiser  werden;  kimüs  heiser ;  kimülis 
Heiserkeit  -^  kimirUi  heiser,  dumpf  machen  (die  Stimme).  —  ft.  A4- 
mine  Feldbiene,  kamane  KLD  []  Art  Erdbiene  (nach  Fick  IL  3StO 
hierher  gehörig),  le  kamines  Hummeln,  pr  kämm  Hummel. 

i,  pvM.  kimszaü  kimszti [{zu  präs.  kemszü)  stopfen;  kimsza  Dach- 
luke; kimszis  f.  i-st.  N  Stöpsel;  kimsztis  f.  i-st.  N  dss. -^  kimsztereli  dem. 

—  €•  kemszü  präs.  (zu  kimszti).  —  £€•  i-kamszai  Füllsel  KDL;  kam-- 
8za  Stopfung,  Damm,  nach  MLG  I.  69  auch  »unnützer  Ballast(c ;  kamsz-- 
lij8  Stopfer,  Vielfrass;  kämsztis  m.  Stöpsel  ~  kamszaü  kamsz^U  iter» 
(zu  kimszti). 

i,  kinka  Kniekehle  der  Thiere,  Hesse;  pakinkä  Anspann  '^  kinkäü 
kinkpi  anspannen.  —  €•  kenkle   Kniekehle. 

i.  zem-kintis  adj.  den  Winter  über  aushaltend  (z.  B.  dbulas),  — • 
€•  kenczu  kenczaü  (le  zelu  =  %eniau)  k^sti  (und  kente'ti)  aushalten, 
leiden.  —  d»  pa-kanlä  Geduld,  nap^kanta  Gehässigkeit  {n'apkenczü 
ich  hasse),  napykanttis  verhasst  Sz  {ux\iev  nienawistny) ;  kanczä  Schmerz, 
Qual;  kantrüs  geduldig;  ne-kantus  unruhig  BF  1.45. 

i — f.  i'kirli  G  sich  ekeln;  por-k^r  3.  sg.  präs.  überdrüssig  wer- 
den JSv  42;  kireti  J  855.  10  böse  werden,  ap-kireti  WP  72  über- 
drüssig werden,  j-kyreti  MG  I.  70  zum  Ekel  werden  (bei  N  ein 
kyru  kyrti;  kyru  kyreti  in  der  Bedeutung  von  kerSti);  f-kirus  WP  25 
feindselig,  jr-kyrm  MLG  I.  70  widerwärtig.  —  €•  keriü  kere'U  Jem. 
verzaubern,  Böses  anthun.  —  Ä.  ?  käras,  le  kafsch  =  *karjas  Krieg. 

i»  ?  le  k'irna  Plackerei,  Händel  (vgl.  indess  das  vorstehende 
f-kirli  u.  s.  w.)  •*•  le  k'irinät  iter.  (zu  k'ert),  —  6.  le  Kefu  k'ert 
fassen,  greifen.  —  A  prät.  le  k'eru  (zu  k'ert) ;  le  k'i^ens  Griff;  le  k'ö-^ 
riba  Ergreifung;  le  k'er^js  Dieb  (Greifer).  —  «•  le  kannät  iter. 
necken,  reizen  (vgl.  aif-kafu,  käru^  karl  anrühren,  antasten).  — • 
Zweifelhafte  Zusammenstellung. 

i.  le  zirta  (=  ^kirta)  Locke  (?zu  zirst  =i  kirsti^  vgl.  zirste-s 
sich  kräuseln).  —  €•  le  zera  (=  *kera)  Haupthaar;  le  zerba  (=  *kerbd) 
Locke. 

i»  lit.  kirmele'  Wurm,  kirmis  N  dss. ;  kirminas  grosser  Wurm, 
le  zirmifisch  Milbe.  —  e.  le  zerms,  zerme  Wurm. 

i.   prät.  kirpaü  kirpti  scheeren ;  pchkirpos  Abschnittsei ;  le  k'irpis 


332  Ai}GU8T  Leskien,  [70 

Holzwurm;  le  zirpe  Sichel ;  kirptüves  Schafschurfest  -^  kirptereti  dem. 
iter.  ein  wenig  scheeren.  —  €•  kerpü  präs.  (zu  kirpti) ;  ?  ketpe  Moos 
auf  Dächern,  Steinen,  le  zerps^  zerpa  Humpel,  GrasbUschel  u.  s.  w.  — 
a,  kärpa  Warze,  ät-karpos  Abschnittsei;  ai-karpai  dss.;  le  karpis 
Warze  -  karpaü  karp^ti  iter.   (zu  kerpti)^  le  karplt  dss.  scharren. 

i,  prät.  kirtaü  kirsti  hauen;  at-kirta  N  Schlacke;  kirtis  m.  und 
kirt^g  Hieb;  kirsczä  (in  kirsczomis  eiti  auf  den  Hieb  gehen,  sich 
schlagen);  kirstüvas  N  Lanzette  -  kirslereti  dem.  iter.  (zu  kirsti).  — 
€•  präs.  kertü  (zu  kirsti).  —  (l.  kartä  Schicht;  kärtas  Mal;  ^karlüs 
bitter  (=  schneidend,  Fick  IL  3SSI),  davon  denom.  karstü  karktü 
kärsti  bitter  werden. 

i,  prät.  kirszau  kirszti  N  zornig  werden,  pakirszti  B  entbrennen  -- 
kirszinti  zum  Zorne  reizen.  —  6.  präs.  kersztu  N  (zu  kirsztiy  kann 
richtig  sein,  eher  erwartet  man  kerszu  oder  kirsztu) ;  kerszingas  zornig; 
kersztas  Zorn ;  kerszüs  NSz  zornvoll  ~  kerszyü  zürnen.  —  CK«  le  karstu 
karsu  karst  erhitzt  werden;  kärsztas^  le  karsls  heiss;  kärszlis  m.  Hitze«« 
karszinti  N  erzarnen;  le  /parket  erhitzen. 

"^^  le  ap'klibstu  klibu  klibt  lahm  werden;  klibü  klibeti  wacklig 
sein;  le  klibs  lahm;,  klibis  Messer  mit  wackliger  Klinge  ~  klibinti 
wacklig  machen.  —  e»  khbii  klebe'ti  wackeln,  klappern  (Zähne).  — 
a.  klabü  klabi'ti  klappern;  le /r/a6iA^'i^  Thürklopfer;  \q  klabeklis  Klopf- 
brett; le  klabata  Klapper  <«  klabinti  N  caus.  klopfen;  le  khbinät  an- 
klopfen, klappern. 

im  klimpstü  klimpaü  klimpU  einsinken  (in  Schlamm  etc.).  — 
a.  klampä  N  Sumpfstelle,  klamp^ne  Morast,  klampüs  sumpfig  <^  klam- 
poU  iter.  mit  Einsinken  über  einen  Sumpf  gehen. 

im  knibü  knibaü  knibti  zupfen,  klauben  --  le  knibßl  und  knibinäl 
iter.  klauben.  —  f.  kn^burioü  KLD  »mit  irgend  einer  Hand-  oder 
Fingerarbeit  beschäftigt  sein«  (auch  kniburioü).  —  e.  knebönti  klau- 
ben; knebine'ti  iter.  dss.  —  S»  knebiü  knebiaü  knd'bti  KLD  leise  knei- 
fen. —  dm  knabii  knabeti  N  schälen  (Kartoffeln  u.  dgl.) ;  knabüs  NM 
langfingerig,  diebisch,  geschickt  ^  knabine'ti  N  =  knebine'ti;  le  knab- 
slU  ULD  picken.  —  ttm  le  knäbju  knäbu  knäbt  picken,  zupfen  -^  le  knäbät 
iter.  —  Vgl.  dazu  le  knebju  knebu  knebt  zwicken  (K's  kne'bti  viel- 
leicht auch  knSbti  zu  schreiben:  e  und  e  gehen  bei  K  beständig 
durcheinander);  le  knaiblt  iter. 

im  kribzdü  kribideti  wimmeln.  —  6.  krebidü  krebideti  rascheln. 


'J^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  333 

i.  prät.  krimtaü  krimsli  nagen;  le  hnmsli  m.  pl.;  le  krimslas 
f.  pl.  Abgenagtes,  Überbleibsel;  X^krimslk  Knorpel;  \q  krimBlalas  uiid 
krimsteles  f.  pl.  Knorpel;  krimstus  Sz  bissig,  gefrässig.  —  €•  präs. 
kremtü  (zu  krimsti);  kremsle'  Knorpel.  —  <*.  kramsle  KLD  [  ]  Knorpel; 
kramtüs  Sz  {krumtus;  unter  uszczypliwy)  bissig,  zänkisch;  kramslus 
Sz  (dort  krumslus)  bissig  (übrigens  sind  vielleicht  krumtus  wie  krum- 
8tu8  part.  präs.)  ~  /rramtoti  kraml^li  iter.  (zu  krimsti) ;  /e  kramstit  dss. ; 
kramsnöti  dem.  iter. 

i.  kripszteri'ti  kurz  und  leise  rascheln.  —  a.  krapsztas  N  Kratz- 
hamen «^  krapsztaü  krapszt^ti  umherstochern,  scharren;  krapsztineli 
iter.;  krapine'ti  stolpernd  umhertappen. 

i«  ftmtö  fcritoti  ftm/t  fallen  (von  Blättern,  Tropfen  u.  a.) ;  kritis 
f.  i.-st.  Fall;  le  kritals  Lagerholz;  le  krital'a  umgestürzter  Baum; 
krislas  Brocken,  le  krisls  Stäubchen.  —  l.  le  kritaPät  dem.  iter.  oft 
ein  wenig  fallen.  —  €•  präs.  kreczü  schütteln;  kretü  kreleü  sich  hin 
und  her  bewegen,  sich  schütteln,  wackeln  z.  B.  ]  866.  8;  le  kre- 
ttdis  Art  Sieb.  —  S.  prät.  kreczaü  kresti  schütteln,  schütten ;  krelimas 
nom.  act.;  krelikas  nom.  ag.;  krelöjis  dss.;  "ikrBts  und  krele  Hahnen- 
kamm, Mähne ;  kretin^s  gedüngtes  Ackerstück.  —  a.  j-kratas^  inkratas 
Betteinschüttung;  pa-krdczos  zu  Boden  fallender  Heusamen  KDL; 
kralüs  hart  trabend  *«  krataü  kratpi  iter.  (zu  kre'sti) ;  le  kratinät  iter. 
schütteln.  —  Ausser  der  Reihe  le  kraität  taumeln. 

i.  kvimpü  kvipaü  kvipti  anfangen  zu  riechen.  —  e.  präs.  kvepiü 
(zu  kve'pti) ;  kvepiü  kvepe'ti  duften ;  kveputi  keuchen  J  628.  5  (KLD 
kveputi).  —  d.  prät.  kvepiaü  kvepti  (zu  präs.  kvepiü)^  bei  KLD 
kvipiü  (Schi,  kvepiü)  kvepiaü  kvepti^  vgl.  le  kwßpsiu  kwöpu  kwept 
qualmen;  kvepä  KLD  kurzer  Athem,  davon  kveputi  keuchen,  kvepus 
KLD  [  ]  engbrüstig ;  le  kwäpes  f.  pl.  Qualm ;  kvepalai  wohlriechende 
Dinge  ^  le  kw^it]  le  kwöpinät  räuchern;  kvepszczöti  keuchen.  — 
a»  kväpas  Hauch,  Duft,  kvapus  wohlriechend  MLG  L  389;  kvapnus 
dss.  ebend.  *-*  kvapstaü-s  kvapstpi-s  iter.  fortgesetzt  athmen.  —  Vgl. 
dazu  le  küpstu  küpu  küpt  beräuchert  werden ;  küpH  rauchen ;  küpinät 
Rauch  machen;  küpains  rauchig;  lit.  küpu'ti  schwer  athmen. 

i.  le  l'imstu  l'imu  timt  ULD  unter  schwerer  Last  zusammen- 
sinken, knicken  (eigen tl.  brechen?),  pr  limtwei  brechen  trans.  — 
€•  lemiü  lemti  Jemandem  etwas  als  Schicksal  bestimmen;  pr  lemlai 
3.  sg.  opt.  präs.  —  d.  le'miau  prät.   (zu  lemti).  —  d»   le  lams  und 


lama  '=  lumu  io  der  Bedeuf.  «  limdau  lamdyfi  zätiioeo.  zureilen. 
zur  Artieit  anhalteo  Fick  II,  681  :  lamimti  dss..  zur  BedeuL  vd. 
KLD  aplamdyli^  aflaminii  geschmeidig  macben:  lam$i4im  lam^fü  Ter- 
1% iloimben  i(er  zu  Umti  .  —  ff«  foinii  Ziel  zo  üpmli  .  Schicksal 
uz  $äto  UimfßJK.  küre  derg  bm  lemfs  5ILG  I,  65  ,  le  /f/ma  Mal:  le 
Idma  lamjf  Diedriire  Stelle,  Eiiu»eDkuii£r  des  Ackers,  lil.  lowui  dss. 
N,  \iA.  J.   H7i.   16.  —  Die  ZusamiDeiistellaii^  zweiFelhafl. 

i«  pr^L  /ffiJati  /f«/i  zu  präs.  /^ni/fi  kriechen:  /iiid«  limdzü 
lindSti  N  kriechen;  lindyne  Versteck  -  /mi/ati  /rnJofi  wo  stecken; 
Undineti  dem.  iter.  zu  l\^ii .  —  €•  präs.  lendü  zu  /f*li  .  — 
U0  lunda  Flugloch  der  Bienen  ,  landyne  Winkel;  le  lufcha  =  *landz4t 
Schleicher,  vgl.  lit.  landzus  Kriecher;  landonis  f.  Wunn  Finger- 
krankheit^ ;  le  liufUf  '=  *lamtm  Versteck,  Taubenschlag:  Iqsia  KLD 
Imla^  pl.  ImloH^  bei  1  IqmtoSj  Nest  zum  Brüten  für  Gdnse  ^  landzoü 
iter  zu  Ipfii,^  le  /uJä/;  landinli  caus.  kriechen  machen;  le  lufchinät, 
lüfchnal  iter.  hin-  und  herkriechen. 

i#  lifujüli^  limjoti  iter.  hin  und  her,  auf  und  ab  bewegen, 
Kf;haukeln;  lingeü  )  591.  2  schwanken;  lingau  [lingoju  Ungoti  N 
Hchweben,  wackeln  (mit  dem  Kopfe  ;  linktereti  dem.  it.  ein  wenig 
mit  dem  Kopfe  nicken  (wohl  zu  lenkiü^ ;  lingine'le  J  793.  4  Schaukel 
(dem.  eines  Ungine];  le  ligste  Schwungstange  der  Wiege;  "^palingnas 
N  demüthig.  —  €1»  langau  [langoju)  langoti  N  schweben,  sich  >viegen, 
le  (iujalß'H  wanken;  le  tüdfiles  sich  schaukeln,  recken;  'llängas 
Fenster. 

i.  linhtlü  linkaü  linkti  sich  biegen,  sich  neigen;  linkiü  linke ti 
JSv  9,  MLG  I,  377,  Schi.  Lsb.  wünschen  (sich  neigen  zu),  bei  KLD 
als  dem.  sich  ein  wenig  neigen  (zur  Bed.  vgl.  kam  prilink^  buü 
Jem.  geneigt  sein;  änl  kö  linkes  zu  etwas  geneigt);  -linkai^  4ink 
-wUrts,  ap4inkui  herum,  ap-linka  Sz  Umgegend,  aplinkonm  mkti  Sz 
umdrehen  (unter  obracam),  vMinkas  einfach;  le  hks  (=  ^linkas) 
krumm;  linkis  m.,  le  llzis  Biegung;  linkus  N  biegsam;  "? linksmas 
fröhlich  ^  Imklerili  it.  dem.  ein  wenig  mit  dem  Kopfe  nicken; 
linkszczoli  dem.  intr.  einknicken;  Ihiksaü  linksöti  gebückt  stehen.  — 
e.  lenkiü  lenkiaü  Unkli  trans.  biegen;  Umke  Vertiefung,  kleines  Thal; 
perlenkis  m.  Antheil  an  etwas;  lenkmene  BF  135  Knie-,  Ellenbogen- 
gelenk; le  lekns  und  /efcwa  Niederung,  feuchte  Wiese;  le /e&w^  niedrig 
gelegen  (von  Feldern) ;  lenken  be'gti  in  die  Wette  laufen.  —  d.  länkas 


73]  Der  Ablaut  der  WtRZELgiLBEN  im  Litauischen.  335 

Reifen,  le  luki  m.  pl.  Handhaspe] ;  ie  lüks^  lükans^  lukains  biegsam; 
lanküs  biegsam;  j-lanka  Einbiegung,  lankä  Thal,  ap^jj-lanka  adv.  inst. 
s.,  af^-lankomis  adv.  i.  pl.  auf  Umwegen,  apylanka  Sz  convexitas; 
lanksmas  Biegung;  länkstas  Sz  dss. ;  länktis  m.  Haspel  ~  lanköti; 
lankiöti  iter.  (zu  lenktt) ;  lanlffiü  lankpi  besuchen ,  le  luzit  iter.  (zu 
lekt  =.  lefikti) ;  hnkslaü  lankstpi  iter.   (zu  lenkti) . 

i,  midüs  Meth.  —  €•  medüs  Honig. 

i.  mikenli  KLD  [  ],  als  sUdlit.,  meckern,  stottern.  —  €•  mekenti 
meckern,  stottern;  mekl^s  Stotterer;  mekn^s  dss.  —  d.  maknijg 
Stotterer. 

i.    milinp  Stock   der  Handmtthle;    le  milna  dss.;    miltai  Mehl. 

—  e.  melmu  Nierenstein  (nach  Fick  II,  630);  pr  meUan  Mehl.  • — 
d.  maliü  maliaü  mäüi  mahlen;  malünas  Mühle;  inalnos  N  Hirse 
(nach  Fick  I.  c).  —  Ct.  mölis  ra.  Lehm,  le  mäls  =  ^mälas  (nach 
Fick  I.  c). 

t.  mildm  Sz  fromm,  mildybe  Sz  Frömmigkeit.  — -  €•  meldzü 
meldzaü  milsti  bitten,  refl.  beten.  —  d.  malda  Bitte  ~  maldaü  mal- 
dpi  iter.   (zu  mehii). 

i.  milszti  (Jaü  präded  milszti  das  Gewitter  fängt  an  sich  zu- 
sammenzuziehen) BF  143,  le  milst  milsa  milst  es  wird  dunkel,  ein 
präs.  miktu  ich  rede  verwirrt  Bi  I.  368;  le  mik  ULD  Phantasie, 
Alp  (kann  =  ^mils(is  sein,  aber  auch  =  ^milas^  Casusformen  sind  bei 
U  nicht  angegeben).  —  B.  le  mehchu  melsu  meist  verwirrt  reden; 
?  vgl.  le  melns  schwarz  (Bi  I.  378  auch  ein  prät.  melu  schwarz 
werden) ;  lit.  melas  Lüge.  —  €•  lit.  me'lys  pl.  f.  i-st.  blaue  Farbe, 
melynas  blau.  —  d*  le  maldit  in  die  Irre  gehen ;  le  maldinät  in  die 
Irre  führen.  —  Zusammenstellung  z.  Th.  zweifelhaft. 

i.  prät.  le  milfu  milft  schwellen;  le  müfe  grosser  Haufe;  le 
milfens^  lit.  milzinas  Riese.  —  6.  präs.  le  melfu  (zu  milft), 

i.  prät.  milz<iu   milUi  (zu  melzu)    melken;   milUuve   Melkgefäss. 

—  e,  meliu  präs.  (zu  milzti);  oszka-melze  Ziegenmelker  (Vogel).  — 
d,  pamalii  kärve  leichtmelkige  Kuh,  m.  wäre  malzüs  --  mälzau  mal- 
zyli  iter.   (zu  milzli) ;  mdlzinti  dss.,  ap-m.  bändigen. 

i.  prät.  miniaü  minti  (zu  präs.  menü)  gedenken ;  {menü)  mineti 
gedenken,  erwähnen;  le  mifia  {nü  mna  ne  minas  naw  von  ihm  ist 
keine  Erinnerung,  keine  Spur);  pa-minklas  Andenken;  le  mikla  = 
*minkla  Räthsel;   at-mintis  f.  i-st.  Gedächtniss.  —  %•   myniä^  nur  in 


336  AuGosT  Lbskien,  [74 

der  Redensart:  nei  m^nio  neiuriü  ich  habe  es  nicht  einmal  in  Ge- 
danken. —  e*  menü  präs.  (za  minti,  mine'tt) ;  menas  NSz  Yerständniss ; 
atrfnenüs  (auch  aUmanüs  nach  KLD)  leicht  erinnernd.  —  CL.  iszmanas 
J  693.  10  Verstand,  vgl.  f-maniis  verständig;  le  a(-mana  Besinnung ; 
isz-mane  J  844.  11,  1162.  9  Yerstaiyl;  mq^tis  f.  i-st.  Erwftgung 
(zum  Nasalvocal  vgl.  Sz's  mustis  =  manstis,  s.  v.  mysl)^  mqstaü 
mqsipi  überlegen,  bei  J  1205.  1  und  oft  »die  Todtenklage  halten«, 
mqsii'jas  Todtenbeklager,  mqsUle  (dem.)  Todtenklage  «^  manaü  ma- 
npi  verstehen.  —  Ci.  nu-mona  {isz  numonos  kq  danjü  nach  dem  unge-- 
fähren  Mass,  aufs  Gerathewohl  etwas  machen) ;  isz-monis  J.  1211.  12 
Verstand;  prär-nwne  Erfindung  {pra-manpi  erfinden),  sq-mane  guter 
Verstand,  sq-monüs  begabt. 

i.  minü  minti  treten,  mintp-s  N  ringen;  pär-minos  Abgänge  beim 
Flachsbrechen,  le  pa-mina  Tritt  (z.  B.  am  Wagen);  le  ädHUiifiis 
Gerber  (eig.  Hauttreter);  mintis  f.  i-st.  N  Ringkampf;  mmtovat  Flachs* 
breche  --  mindioti  iter.  —  i.  m^niau  prät.  (zu  minti) ;  mpiimas 
nom.  act. ;  mynia  N  Haufen,  Gedränge  (bei  Sz,  der  die  Quantitäten 
nicht  scheidet :  minia ;  ebenso  IG  1 50) ;  le  mtnis  und  tnine  Stelle, 
wo  Lehm  getreten  wird  '^  mi^nioti^  le  mlnät  iter.  (zu  minü^ ;  le  mldü 
dss.  —  e.  Nach  Fick's  (II,  636)  Vermuthung  hierher  meneniwey 
(führen)  im  2.  Gebot  des  1.  preuss.  Katech. 

i.  minklas  Teig ;  le  mikla  dss. ;  le  mikns  weich  (vom  Wetter) ; 
je  mikne  weiches  Wetter  {i  =  in) ;  minksztas  weich  *«  minkau  minkyti 
kneten.  —  U»  manksziaü  mankszt^li  erweichen;  mänkszUnli  MLG  I.  71 
dss.,  mankszlinti  KDL. 

i,  mirsztu  miriaü  mirti  sterben;  numirelis  der  Todte;  bad-mir^s 
Hungerleider;  nu-mindis  Sz  Epilepsie;  mirtis  f.  i-st.  Tod,  bad-mirte 
N  Hungersnoth,  vgl.  bad-mirszczöü  Hungersnoth  leiden;  mirtina  das 
Sterben;  mirszlus  Sz  sterblich  (unter  niesmiertelny^  wenn  nicht  pt. 
präs.  =  mirsztqs)^  vgl.  le  mirsttba  Sterblichkeit  «^  mifineti  iter.  dem. 
fortgesetzt  langsam  hinsterben.  —  f.  m'^ris  m.  das  Sterben  MLG  I. 
229.  —  €•  m^dzu  mirditi  im  Sterben  liegen;  le  merdit  trans.  ab- 
mergeln.  —  e.  le  märis  m.  Pest.  —  Cl.  märas  Pest  (gegen  Brückner 
doch  wohl  echt  litauisch,  bei  J  bedeutet  es  oft  nur  »Tod«,  z.  B. 
1150.  23);  nu-maru  Sz  Epilepsie;  martuwe  Sz  Pest  (u.  powietrze)  «^ 
marinti  eig.  »sterben  lassen«,  beim  Sterben  Jem.  zugegen  sein,  auch 
»tödten«  {nth-marinti) . 


75]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  337 

i.  le  mirgstu  mirgu  mirgt  flimmern,  bÜDken;  mirgu  mirge'ti  flim- 
mern; le  mir  gas  f.  pl.  plötzliches  Hervorblinken  «^  \q  mirdfinöt  &c\i\mr 
mern  lassen.  —  d.  märgas  bunt,  davon  denom.  margslü  margaü  märgti 
bunt  werden,  märguti  bunt  schimmern,  märginii  bunt  machen;  le 
marga  Schimmer  ^  märgaliuti  bunt  schimmern;  märgslyti-s  {mislys 
präded  —  die  Gedanken  fangen  an  sich  zu  verwirren)  BF  139. 

i.  mirkslü  mirkaü  mirkti  eingeweicht  werden;  mirka  N  Flachs- 
röste «^  mirkaü  mirk^ti  einweichen;  mirkinti  dss.;  mirksaü  mirksöU 
eingeweicht  sein.  —  €•  merkiü  merkiaü  merkli  einweichen ;  le  fnerza 
Feuchtigkeit;  le  merze  Tunke  -  le  merzet  iter.  tunken.  —  <*•  marka 
Flachsröste;  le  marks  und  marka  dss.  ^  markaü  markpi  iter.  (zu 
merkti). 

i.  pus-mirkis  {püsmirkes  äkys  halbgeschlossene  Augen);  mirklp 
Blinzler,  le  mirklis  Blick,  vgl.  mirldioli  blinzeln,  mirkline'ti  iter.  dem. ; 
mirksnis  m.  Blick,  davon  mirksnioli  blinzeln  --  mirksiu  mirkse'ti  blin- 
zeln; mirksaü  mirksöti  mit  oßenen  Augen  dasitzen;  mirkczöti,  mirk- 
szczöti  blinzeln;  mirklereti  iter.  dem.  schnell  Blicke  thun.  —  e.  merkiu 
merkiau  merkli  die  Augen  schliessen.  —  Um  üzmarka  einer,  der  etwas 
anblinzelt  '^  markslaü  marksipi  iter.   (zu  merkli), 

i»  mirsztü  mirszaü  mirszli  vergessen  «^  mirszeti  dur.  nicht  im 
Gedächtniss  haben.  —  €•  merszu  {merszeju)  merszeti  N  ausser  Acht 
lassen  (viell.  für  richtigeres  mirszeti).  —  d.  märszas  das  Vergessen; 
üz-marsza  N  Vergesslichkeit,  uzo-marsza  und  üzr-marsza  vergesslicher 
Mensch,  marszüs^  uz-marszüs  vergesslich;  le  aif-marscha  (=  ^mars-ja) 
Vergessenheit  ~  marszinti  vergessen  machen. 

i.  prät.  niraü  nirti,  prt.  prät.  a.  iszHiir^  aus  dem  Gelenk  ge- 
kommen (präs.  zweifelhaft,  KLD  nj/m,  niru1);  vgl.  le  nir/,  nirtes  ULD 
tauchen  intr. ;  le  nira  Taucherente  --  le  nirdät  untertauchen  trans.  — 
€•  neriü  nerti  untertauchen,  einftideln.  —  e.  prät.  neriau  (zu  nerti) ; 
nSrimas  nom.  act.;  nerikas  nom.  ag.  —  d»  näras  Taucherente; 
zälczo  tsznara  abgeworfener  Balg  der  Schlange;  naromis  (i.  pl.  zu 
einem  narä)  plaükli  unter  Wasser  schwimmen ;  narp  Knöchel,  Gelenk, 
Kettenglied,  sq-naris  m.  Glied;  nartas  N  Ecke;  narva  N  Zelle  der 
Bienenkönigin,  vgl.  üznarve  KLD  [  ]  Versteck  -v  naraü  narpi  ein- 
renken ;  narinti  dss. ;  närdau  närdyti  iter.  (zu  nerti)  untertauchen ; 
närslau  närslyti  dss.  —  Ü*  le  närs  und  näre  Klammer,  närüt  ver- 
klammern. 


338  August  Lbskiek,  [76 

i«  nirsziü  hirszaü  nirszti  ergrimmen  (so  KLD),  daneben  nirslü 
nirtaü  nirsti  starrsinnig  werden,  j-nirtps  ergrimmt  (die  Wurzel  ist  nirt; 
nirsziü  ist  vielleicht  aus  nirstü  entstanden,  vgl.  mirsztu^  daraus  ein 
nirsz-  für  die  weitere  Flexion  abgezogen) ;  ajh-nirtelis  Starrkopf,  apHir- 
szelis  dss.  5  i-nirszelis  Jähzorniger;  nirstus  N  (vielleicht  prt.  präs.  = 
nirstqs)  zornig  ~  nirünti  KIjD  [  ]  in  Zorn  bringen.  —  B.  nerczu-s  ner-- 
czaU'S  nersti-s  Sz  (unter  bäwip  «if )  einer  Sache  obliegen  (eigentl. :  sich 
auf  etwas  versteifen);  isznerteti  G  seinen  Eigensinn  ausdauern  lassen; 
pr  er-nerlimai  wir  erzürnen;  pr  nertien  a.  sg.,  nerties  g.  sg.  Zorn.  — 
a.  närsas  (=  %ar^-«a-'«)  Zorn,  narsiis  grimmig  J  1082.  12;  närsztas 
Zorn  BF  145  -  y-nartinti  Sz  ferocem  reddere  (unter  beslwi^);  nar- 
8inti\  narszinti  N  dss. 

i.  pilkas  grau,  davon  den.  pilhtu  pilkau  pilkti  grau  werden.  — 
6.  peliü  peleti  schimmeln;  pele  Maus.  —  Ct.  pälszas  fahl,  davon 
den.  pälsztu  pälszau  pälszti  fahl  werden;  fälvas  falb. 

i.  \Qpimpis  penis;  le /nmjpa/a  dss. ;  \e  pimpfdis  eine  zu  Zauberei 
verwendete  Wachskugel,  vgl.  le  pimpalains  knotig. —  €•  le  pempt  {neben 
pampt  und  pumpt)  aufschwellen;  le  pempis  Schmeerbauch ;  le  pempe 
Stummelschwanz.  —  W.  pampstü  pampaü  pämpti  aufdinsen;  le  püpe 
(=  ^pampe)  Httmpel,  Polster  -  pampyti  prügeln  (caus.  zu  pampti) 
WP  98  prügeln;  pampsaü  pampsöti  aufgeschwollen  daliegen. 

i.  pinü  pinti  flechten;  pinikas  nom.  ag.;  pine'jas  dss.;  käs-pinas 
Haarband,  pinai  Strauchwerk  zum  Flechten ;  vyz^pinp^  v^i-pinis  Bast- 
schuhflechter;  le  pine  Falz;  le  pinka  Zotte;  pinklas  Geflecht  JSv  23, 
pinklm  verwickelt,  künstlich  -  piniöti  iter.  verflechten.  —  i.  prät. 
p^niau  {z\x  pinti);  p^nimas  nom.  act. ;  pynejüie  (demin.)  J  813.  6 
Flechterin;  ;>yn^' Flechte  —  e*  f  pentis  f.  i-st.  Rücken  der  Axt,  der 
Sense,  nach  N  auch  Ferse,  le  pele  Rücken  des  Beils  (nach  Fick  II. 
600).  —  a.  pänlis  m.  Fessel;  1  päntas^  pänta  Hahnenbalken;  IXepule 
Pfropfreis,  pullte  (dem.)  Knöchel  am  Fusse. 

i.  pirtis  f.  i-st.  Badstube.  —  6.  periü  perti  baden,  eigentl.  mit 
dem  Badequast  schlagen.  —  e,  pe'riau  prät.  (zum  vor.);  perimas 
nom.  act.;  perikas  nom.  ag. 

6.  le  prat.  pirdu  pirst  pedere;  pirdä  Furzer;  le  pirfcha  und 
pirfche  dss.;  pirdis  m.  Furz;  pirdzus  Furzer.  —  e.  le  präs.  perdu 
(zu  pirst) ;  perdiu  pSrdzau  pSrsti  pedere. 

i,   prät.  pirkaü  pirkti  kaufen;    nii-pirkis  m.  Abkauf;  pirklas  Sz 


77]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  339 

Waare  -  pirkineti  iter.  dem.;  le  pirkalät  dss.  —  6.  präs.  perkü  (zu 
pirkti).  —  d.  parksipi  iter.   (zu  pirkii)  MLG  I.  385. 

i»  pirksznys  f.  pl.  i-st.  Asche  mit  glühendey  Funken;  le  pirkstes 
f.  pl.  glühende  Asche,  Funken  in  der  Asche.  —  €•  le  perslas  f.  pI. 
Eisnadeln  in  der  Luft  <-  le  persit  bereifen.  —  d.  le  parslas  f.  pl. 
Flocken  von  Schnee  oder  Asche.  —  Zweifelh.  Zusammenst. 

i.  prät.  pirszaü  pirszii  freien  (für  Jemand) ;  pirsdp  Freiwerber, 
pirszlioti  {pirszliüti)  N  iter.   (zu  pirszii).  —  €•  präs.  perszü. 

i.  isz-plind^s  prt.  prät.  a.  G  dünn,  fadenscheinig,  möglicher 
Weise  zu  einem  ^plin-A-yli  iter.  sich  ausbreiten,  oder  zu  einem 
^pljstu  ^plindau  ^plisti  breit  werden.  —  e.  Bei  M  unter  platüs  eine 
3.  sg.  iszsplenda  wird  breiter,  das  isz^lenda  gelesen  werden  mag.  — 
a,  le  plandit  ausbreiten.  —  Ä.  plönas^  le  pläns  dünn,  fein.  —  Zweifel- 
hafte Zusammenstellung. 

tm  pl'jisztu  pl'jfszau  pljszti  reissen  intr. ;  su-pl'^szelis  Zerlumpter; 
plyszjs  Riss,  Spalte ;  plysze  dss.  —  S.  plesziu  plesziau  ple'szti  reissen 
trans. ;  pra-pleszä  Bruch ;  pleszus  N  rSiuberisch  (aus  Sz  unter  lupiezny, 
wird  aber  prt.  präs.  =  ple'sziq^  sein) ;  pleszinp  frisch  aufgerissener 
Acker  *-  ple'szau  pleszyti  iter.  (zu  pleszti) .  —  ft.  ?  le  plüsU  iter. 
reissen,  zerren;  "f pUsztas  plöksztas  Handvoll,  Wisch,  Bündel.  — 
Ausser  der  Reihe  pl^zu  plmzeti  reissen ,  platzen  (von  der  Haut) ; 
le  plaisa,  plaisums  Riss;  le  plaisU  Risse  bekommen;  plaiszinti  KLD 
bersten  machen,  BF  155. 

i.  le  sa-rikt  gerinnen  ULD;  le  sa-rika  Gallerte.  —  €•  sa-rezH 
gerinnen. 

i.  rimslü  rimaü  rimti  (eigentl.  sich  stützen)  ruhig  werden,  rimtas 
G  fest  (pt.  prät.  pass.) ;  ne-nü-rima  N  unruhiger  Mensch;  rimastis  f.  i-st. 
Ruhe;  rimus  ruhig  MLG  L  390.  —  t«  r^mau  r^moti  aufgestützt 
sitzen,  stehen.  —  6.  remiü  remti  stützen  -  le  remdet  caus.  (zu  rimt) 
ruhig  .machen;  le  remdinät  dss.  —  6.  prät.  remiau  (zu  remii);  re- 
mimas  nom.  act. ;  remikas  nom.  ag.  —  (€•  rämas  N  Ruhe,  ramüs 
Tuhig;  rämtis  m.  Stütze;  rämsüs  m.  dss.  ««  ramaü  ram'^ti  I  524.  8 
caus.  (zu  rimti)  besänftigen ;  raminti  beruhigen ;  rämdau  rämdyU  caus. 
(zu  rimti)  dss.;  ramstaü  ram^tpi  iter.  {zm  remti). —  «.  romüs  sanfl- 
roüthig,  le  rüms  dss. 

i.  rir^ä  Krippe  (eigentl.  Röhre,  Rinne,  vgl.  stögo  rindä  Dachr.), 
le  rinda  Reihe,  Zeile.  —  6.   nu-si-rendant  prt.  präs.,  nu^rendusi  prt. 


340  Adgcst  Leskien,  [78 

prat.  a.,  nu^rendejusi  dss.  untergehen  (von  der  Sonne)  B  (eig.  Bed. : 
rinnen?).  —  Cl.  rändas  Striemen,  Narbe;  le  randa  das  Laichen; 
le  randa  »Vertiefung  in  Wiese  und  Wald,  wo  das  Wasser  ab- 
fliessl«  ULD. 

i.  ringa  wer  vor  Frost  u.  s.  w.  krumm  dasitzt  KLD  ~  ringuti 
krümmen;  rinksaü  rinksöli  gekrümmt  sitzen,  stehen.  —  €•  rengiu-s 
ren^aü-s  rengtis  (eig.  sich  krümmen)  sich  anstrengen,  sich  anschicken, 
act.  rengti  rüsten.  —  d*  ranga  Einrichtung  J  587.  1 2,  Sv  9,  su-ranga 
Sz  (unter  krfgi)  die  kreisförmig  zusammengelegten  Schiffstaue;  pa- 
rangüs  geschmeidig,  i-rangus  N  rührig,  rüstig  zur  Arbeit;  rangsius  N 
eih'g,  bei  KLD  das  adv.  ränkszczei^  das  adj.  ränkszczas  DL  (unter 
»hastig«),  rankszius  LD  ~  rangaü  rang^ti  iter.  krümmen. 

i.   rinkü  rikaü  rikti  aufschreien.  —  t.  rgikauti  schreien,  jubeln. 

—  ^.  rekiü  rekiaü  r^'kti  schreien;  re'ka  Schreihals;  reksmas  Geschrei; 
r^kmp  Schreier  -  re'kauti  iter.   (zu  re'kti);  rekinti  caus.   (zu  rekli). 

i»  prät.  rinkaü  rinkti  sammeln;  parinka  Sz  {pobierki)  Nachlese; 
sihrinkis  m.  NSz  Sammlung;  varpa-rinkte  N  Aehrenlese,  su-rinkie  Sz 
Sammlung  -  rinkineti  iter.  J  312.  7.  —  €•  präs.  renkü  {zu  rinkti). 

—  CT.  ranka  Hand,  paranka  Nachlese;  ranke  N  CoUecte,  Lese;  ran- 
kirn  Collecte  «^  ränkioti  iter.   (zu  rinkti) ;  rankine  li  i  76.   1 9  dss. 

i»  rintp  und  rintis  Kerbe.  —  €•  renczü  renczaü  rfsti  kerben; 
rentas  N  Kerbe;  renlin^s  hölzerne  Einfassung,  Ringwände  u.  a.  — 
a.  räntas  N  Kerbholz;  iszr-ranta  Kerbe  BF  118;  rqnsta^  J  780.  7, 
ranslas  G,  rästas  (d.  i.  rqstas)  K  abgesägtes  oder  abgehauenes  Ende 
eines  Baumstammes  --  rantaü  ranlpi  iter.   (zu  r^sti). 

%•  le  rUu  rität  dünn  werden.  —  e»  rStas  dünn,  undicht,  selten, 
davon  rentü  {reslü)  retaü  resti  »dünn  werden«  wohl  denominativ. 

i.  rizgfs  verwirrt  BF  165  (von  einem  intransitiven  inch.  rigsU 
sich  verstricken,  bei  Schi.  Gr.  §  113  ryzgü  rizgaü  rigsti).  —  €•  rezgü 
rezgiaü  regsti  stricken;  rezgis  m.  N  Geflechte,  Korb.  —  d»  razgaü 
razgpi  iter.  (zu  regsti) ;  razgiöti  dss.  —  Ausser  der  Reihe  raizgaü 
raizg^ti  und  raizgioti  iter.,  vgl.  raizgis  und  reizge  B  Korb,  su-raizga 
Sz  (unter  matanina)  Verstrickung. 

i,  pr.  Kat.  L  IL  sindats  syndens  prt.  präs.  sitzend  (in  111.  sldons^ 
sldansj  wo  l  viell.  Vertreter  von  ö),  vgl.  slav.  s^dq.  —  ^.  sefdu  se'dau 
se'sti  (auch  -s)  sich  setzen;  sefdzu  sideti  sitzen.  —  CK.  pr  sadina  er 
setzt.    —    ä»    södas  Baumgarten  (Pflanzung,   slav.?);    söslas  Sessel; 


79]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  341 

pasöst^  Wagensitz;  at-sodä  N  Absatz  am  Gebäude  ~  sodinli  sitzen 
machen,  pflanzen. 

i.  le  stku  (=  ^sinku)  siku  sikl  versiegen,  fallen  (vom  Wasser). 

—  f«  le  slks  klein.  —  €•  senkü  sekaü  sekli  sieb  senken,  fallen  (vom 
Wasser) ;  sSkis  m.  N  seichte  Stelle,  Sandbank ;  le  sekla  Sandbank,  lit. 
bei  N  seklis  und  sekle,  seklüs  seicht. 

f#  s^kis  m.  Hieb,  Mal.  —  €  (e?).  f-sekli  B  eingraben,  einschnei- 
den, isz-sekü  B  sculpere  (zu  lesen  sektif,  vgl.  slav.  sfkq). 

i.  le  8a-9iru  sirl  mit  Sand  überdecken,  sa-sirle-s  mit  etwas  be- 
deckt werden.  —  i.  le  siru  prät.  (zu  sirt).  —  e.  le  sehi  sert  Ge- 
treide in  die  Rije  stecken.  —  €•  le  pröt.  säru  (zu  sert).  —  €1,  le 
sarts  Scheiterhaufen,  Holzhaufen  zum  Verbrennen.  —  Zweifelhafte 
Zusammenstellung. 

i.  prät.  sirgaü  sirgti  krank  sein,  le  präs.  sirgsiu;  le  sirguns 
Krankheit,  kränklicher  Mensch  ~  sirgineti  iter.  dem.  kränkeln.  — 
€•  präs.  sergu^  le  sergu  (zu  sirgti) ;  le  serga  Krankheit.  —  Cl»  sarga- 
lingas  kränklich,  von  einem  St.  sargala-^  vgl.  särgalioti  kränkeln  <«' 
särginti  als  Kranken  behandeln,  pflegen,  sarginti  krank  machen. 

i.  sirpslü  sirpaü  sirpti  reifen  ^  sirpinti  caus.  reifen  lassen.  — 
a.   sarpinti  caus.,  z.  B  J  232.  2;  697.  3. 

i.  le  nÄ-«irm  pt.  prät.  a.  (=  "^sirkfs)  »vom  Bier,  wenn  der 
Schaum  oben  die  Gährung  anzeigt«  ULD.  —  €•  szerksznas  M  schim- 
melig, vgl.  k^  änt  iirgelio  szerksznu  plaukdiu  J  437.  9;  szerksznas 
Sz  Reif;  le  serksnis  Schneekruste.  —  Zweifelh.  Zusammenst. 

i*  le  schkiblt  (==  ^skibyti)  hauen,  schneiden,  ästein.  — 
CK.  skabu  skabe'ti  hauen,  ästein ;  le  skabrs  splittrig,  scharf;  le  skabargs 
Splitter;  skabus  N  scharf  -^  skabaü  skab^ti  iter.  pflücken;  skabinti  dss., 
le  skabinät  Aeste  abhauen.  —  ä.  nu-sköbti  BF  171  abpflücken, 
nunskobe  3.  sg.  prt.  WP  113. 

%•  prät.  sküaü sküti sich  spalten;  le^cMt/a,  schk'ile Scheit;  le  schk'üis 
Spaltmesser;  pusiäip-skilis  zweispaltig;  skiltis  f.  i-st.  abgeschnittene 
Scheibe;  le  schKilsts  dünn;  skilstis  f.  N  Klauenspalte  der  Thiere; 
skiliAS  N  spaltbar.  —  %.  skylü  präs.  (zu  skilli) ;  le  schkllis  Spaltmesser ; 
skylS  Loch.  —  €•  skeliü  skiüi  spalten ;  skilda  skildeti  sich  spalten, 
bersten  iter.,  le  schVildH  trans.  —  ^.  prät.  ske'liau  (zu  skilti)\  ske- 
limas  nom.  act.;  le  schüre  abgehauenes  Stück  <«  le  schk'det  spalten. 

—  d»  le  skals  und  skala  Lichtspan,   lit.  skalä;    at^skala  JSv  79  er- 


342  August  Leskien,  [80 

klärt  durch  zopöslas  (Vorrath);  skalüs  spaltig,  le  skal'sch  (=  ^skaljas^ 
Vertretung  von  skalüs)  -^  skäldau  skäldyti  iter.  (zu  skeliü) ;  skalineti 
dem.  iter.   (zu  skeliü). 

%•  skiliü  skilti  Feuer  anschlagen,  le  präs.  schk'il'u;  skiltuvai 
Feuerzeug.  —  t»  sk'^liau  prUt.  (zu  skilti).  —  (l.  le  skal'sch 
[=z  ^skaljas)  helltönend ;  Fick  11,  680  verbindet  skilti  mit  deutschem 
»schallen«,  daher  die  Zusammenstellung  oben ;  das  bei  Fick  angeführte 
skälyli  »anschlagen«  (vom  Hunde)  ist  slavisch.  Vielleicht  gehören  die 
Worte  eher  zu  skelti  spalten. 

i.  prät.  skilaü  skilti  in  Schulden  gerathen.  —  i.  skylü  präs.  — 
e.  skelü  bei  N  präs.  zu  skilti^  wohl  missverständlich  für  skeliu; 
skeliü  skeleti  schuldig  sein;  pr  part.  präs.  skellänts  schuldig.  — 
Cl.  pr  skallisnan  a.  sg.  Pflicht  (Schuldigkeit),  nom.  act.  eines  iter. 
^skalyti,  —  ä.  skolä  Schuld. 

i»  pra-skilhti  MLG  I.  62  bekannt  werden  (präs.  wohl  skilbslu^ 
prät.  skübau).  —  6.  skelbiu  skelbiau  skelbti  Gerücht  verbreiten.  — 
n.  paskälba  Gerücht. 

i.  skimbtereti  JSv  89  erklärt  mit  i^tnesti  einwerfen ,  eig.  wohl 
»klingen  lassen«  iter.  dem.  —  d.  skambu  skämbeti  klingen;  skAm- 
balas  Schelle;  skambüs  N  tönend  ~  skämbinti  caus.  klingen  machen. 

i«  le  schk'indet  klingen.  —  (l.  le  skaria  Klang;  le  skansch 
(=  *skanjas)  hell  tönend;  le  skanu  skanBt  klingen  «^  le  skandel\  le 
skandinat  tönen  lassen. 

i.  skiriü  skirti  scheiden ;  at-skirai  adv.  abgesondert  KLD  [  ] ; 
le  scMiita  Unterschied;  le  schk'irba  Ritze;  skirejas  Schiedsmann;  le 
schk'ir&ns  Abschnitzel;  le  schk'irme  Gedeihen  {schk'irte-s  gelingen)  ^ 
skirslau  skirslyti  iter.  (zu  skirti).  —  t.  prät.  sk^riau  (zu  skirti);  «fcj^ 
rimas  nom.  act.;  skyrejas,  le  schVirejs  nom.  ag.;  shjrius  Unterschied. 
—  d.  skarä  abgerissener  Fetzen,  Lumpen,  le  skara  krause  Wolle, 
Zotte,  Büschel,  davon  denom.  skärü  skaraü  skärti  zerlumpt  werden, 
nur-skär^s  pt.  prt.  a.  zerlumpt,  skarineti  zerlumpt  einhergehen;  ?Ie 
skarba  Splitter. 

i*  ap-skirb^s  G  {p'Snas)  pt.  prt.  a.^  stinkend  geworden,  ange- 
gangen. —  6.  ?le  schk'erbs  herb,  bitler-sauer.  —  <*.  ?le  skarbs 
scharf,  streng,  rauh. 

i»  si^skirdusios  köjos  aufgesprungene  Füsse  KDL  (s.  v.  auf- 
springen). —  €•    skerdzü  skerdzaü  skersti  (Schwein)  schlachten,  eig. 


S1]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  343 

spalten,  le  schkerfchu,  schk'erdu  schk'erft  spalten,  aufschneiden,  theilen, 
verschwenden;  skerdzu  skerdeti  Risse  bekommen,  aufspringen  (Haut). 
—  U,  skardyli  iter.  G  schroten,  le  skardlt  zertheilen,  zerstampfen, 
J  1131.  8  u.  ö.  vom  Pferde  »stampfen«  (die  Erde:  zemüz^  skard^- 
datnas);  skardp  Abhang,  Steile,  Ufer,  dem.  skardelis  J  28.  6  u.  ö., 
WP  82,  vgl.  den  Dorfnamen  Skurdupenai;  skardus  IG  117  steil. 

i.  le  schk'irpta  Scharte.  —  €•  le  schk'erpele  Holzsplitter;  le 
schk'erpis  das  Pflugmesser  zum  Rasenpfluge ;  scIik'erpH  Rasen  mit  dem 
Rasenpfluge  schneiden. 

%•  sklindas  N  Riegel.  —  €•  sklendzü  sklendzaü  skl^sli  schleudern 
intr.,  z.  B.  vom  Schlitten,  auch  »schweben«  (vom  Vogel).  —  tt.  le 
sklanda  »die  schräge  glatte  Schleuderstelle  auf  dem  Winterwege«  ÜLD, 
päsklanda  N  Ort,  wo  der  Schlitten  schleudert,  pasklandüs  schief- 
liegend, Schleudern  verursachend,  uz-sklanda  B  Riegel,  \g\.pa'-sklandinti 
B  versch Hessen ;  le  sklandis  abschüssig;  sklqstis  m.  Riegel  <^  sklandaü 
sklandpi  iter.  (zu  sklendzü).  —  Die  Bedeutungen  und  ähnliche  Bil- 
dungen auch  bei  sklid"^  s.  d. 

i.  le  skribene  krummes  Eisen,  Hohlmesser;  le  skribinät  nagen.  — 
€•  ?  skrebü  skrebeti  rascheln ;  ?  änt^skrebai  Krampe  (bei  N  ein  zem. 
skribele  dss.).  —  a.  1  skrabeti  rascheln  J  252.  5;  le  skrabstul 
{skrabufj  skrabu  skrabt  schaben;  le  skrabindt  benagen;  le  skrabstU 
iter.  schaben;  äl-skrabai  Abfall  von  Zeug  u.  s.  w.  BF  97. 

%.  skvirbinü  prickeln,  bohren.  —  6.  skverbiü  skverbiaü  skverbti 
bohrend  stechen.  —  €t.  skvarbaü  skvarb^ii  iter  zum  vor. 

i.  prät.  slinkaü  sUnkti  schleichen ;  le  slikstu  sllku  slikt  sich  neigen, 
sich  senken,  untersinken  (gleiten) ;  slinka  Schleicher,  Faulenzer ;  slin- 
kos  J  181.  21  dss.,  le  slinks  faul,  le  slinküt  faulenzen,  vgl.  slinkine'ti 
BF  172  dss.;  slinkis  m.  BF  172  Erdschnecke;  le  slikum  was  im 
Wasser  untergeht;  le  sltkmis  Morast  -  slinkeii  N  iter.  dem.  ein  wenig 
rutschen ;  slinklereli  dss.  —  €•  präs.  slenkü  (zu  slinkti) ;  ?  slenkstis  m. 
Schwelle,  bei  Sz  auch  slenkmis  (geschr.  slynksnis^  unter  prog)^  vgl. 
jedoch  ein  le  sledfu  siegt  stutzen  ULD,  Bi  I.  365.  —  a.  slankä  und 
släiike  Schnepfe;  slankä  Schleicher,  Faulenzer;  slanke  N  Triebsand; 
slänkius  Schleicher;  slänkius  KLD  steiles  Flussufer,  richtiger  iemiu 
slänkius  Erdfall  an  steilen  Ufern  KDL '->  slänkioti  iter.  (zu  slenkü).  — 
Vgl.  slünkim  bei  Don.  Name  eines  faulen,  liederlichen  Bauern,  le 
slunk'is   Lümmel,    Schlingel.    —    ?  Vielleicht    dazu  ausser  der  Reihe 

Abliaiidl.  d.  K.  8.  Oesellscli.  d.  Wissenscb.  XXI.  24 


34i  August  Leskien,  [82 

le  daiks  gefügig  {slaika  ruka  freigebige  Hand' ;  le  slaika  eine  Art 
Schlitten. 

i.  pa-slipli^  prät.  slipo  BF  172  unbemerkt  verschwinden.  — 
6.  skpiü  präs.  verbergen;  le  slepju  slepH  iter.  verbergen;  le  slepens 
heimlich.  • —  S»  prät.  slepiaü  inf.  slepti  (zu  präs.  slepiü) ;  slepimas 
nom.  act.;  slepikas  nom.  ag.;  le  slepSjs  Hehler;  "? pa-sle'psnei  Wei- 
chen (bei  N  auch  Schamtheile) ,  slepmos  N  dss.,  le  paslepenes  dss.  — 
a.  slapiä  adv.  instr.  sg.,  slaptomis  adv.  i.  pl.  heimlich  zu  slapia  N 
Heimlichkeit,  paslaptä  Hinterhalt;  slapte  Sz  Verborgenheit  {potajem" 
nosc) ;  släpczas  verborgen ;  paslaptis  f.  i-st.  Geheimniss  WP  29 ;  slapus 
heimlich  thuend  ^  slapaü  slappi;  slapstaü  slapst^ti  iter.  (zu  slepiü)  \ 
slapinti  N  verstecken. 

t*  smiltis  f.  i-st.  Sand.  —  €•  le  snieltains  sandig  (le  stnilts  f. 
Sand);  smeltis  f.  NBd  sandiger  Acker,  vgl.  le  smelis  Wassersand  im 
Felde.  —  €•  smüynas  G  sandiger  Acker,  vgl.  le  »melis  Wassersand 
im  Felde. 

%•  le  smilgstu  smilgu  smilgi  winseln  '^  le  smildßt  iter.  dss.  — 
6*   le  smeldfu  smeldfu  smelgt  schmerzen. 

{•  ?  smilkinp  Schläfe  (am  Kopfe) .  —  6.  le  smelknes  feines  Mehl, 
das  beim  GrUtzemachen  abfällt  (daneben  smalknes  Feilstaub,  Säge- 
späne). —  €1»  le  smalks  fein.  —  Lit.  smulküs  fein,  smülksiu  smidkau 
smülkti  fein  werden. 

i»  smilkstü  smilkaü  smilkti  dunstig  werden,  glimmen,  le  pS- 
smilkstu  smilku  smilkl  versanden  (eigentl.  ersticken,  vgl.  unten  stnel- 
kiü);  smUkalas  G  Weihrauch;  smükmenai  N  Räucherwerk  --  smilkaü 
smilkpi  caus.  Dunst  machen,  räuchern ;  smUkinü  dss.  —  €•  smelkiu 
srnelkiaü  smelkli  ersticken  (von  Pflanzen,  die  andere  erdrücken).  — 
a.  smälkas  Dunst;  ap-smalka  G  Lack;  smälktas  N  Stelle  im  Walde, 
wo  das  Holz  dicht  steht;  smälklis  m.  und  smälkstis  m.  Dunst. 

i»  smirstu  smirdau  smirsli  stinkend  werden;  smirdiu  smirdeti 
dur.  stinken;  pasmirdelis  Stinkender  (Schimpfwort);  smirdas  Stänker; 
smirdis  und  smirdzm  dss.;  le  smirda  dss.;  le  smirfcha  dss.;  le  smir- 
dekl'i  m.  pl.  Unrath;  smirdulis  N  Gestank;  smirdälius^  smirdelius 
Stänker,  smirdele  Zwerghollunder ;  smirdm  N  stinkend  (aus  Sz  unter 
parkotem,  wenn  nicht  ein  prt.  präs.  zu  smirdu  Sz)  «^  le  stnirdeUl 
stänkern  (vgl.  smirdelis  Stänker);  smirdinli;  le  smirdinät  stinkend 
machen.  —  €•  le  smerdelis  (und  smirdelis)  Stänker.  —  U.  le  smards 


83|  Deh  Ablaut  der  Wuhzelsilben  m  Litauischen.  345 

Gestank,  Geruch  überh.;  le  smarfcha  (=  *8fnard-ja)  dss.;  (wenn  bei 
ULÜ  smarscha  richtig,  so  ist  es  =  ^smardr-sja^  vgl.)  lit.  smarsas  N 
(schlechteres)  Fett  (=  ^smardsas)^  smärstas  N  Gestank;  smarsU 
KLD  [  ]  dss.;  smärve  (=  ^smard-ve)  dss.  -  smardinli  stinkend 
machen. 

i.  pr  spigsna  Bad  (i  vielleicht  Vertreter  von  ö) .  —  CK.  pr  spag- 
tan  Bad. 

i.  le  spilwa  »Teichgras,  Samenwolle,  Hopfentraube  u.  a.,  die 
Seele  der  Federpose«,  le  spilwens  Bettkissen;  le  sjnlwines  feine  flat- 
ternde Birkenrinde.  —  d.  le  späh  Heft,  Stiel;  spal^s,  pl.  spälei^ 
]e  spafi  Schaben  (Abfall  beim  Flachs);  le  spalwa  Feder  (des  Vogels). 
—  Z.  Th.  zweifelhafte  Zusammenstellung. 

i«  spindis  m.  N  Stellstätte,  geradlinig  durchgehauene  Waldlich- 
tung; spindzm  K  dss.  (doch  vielleicht  zu  spindi'ti  glänzen).  — 
6.  spendzu  spendzau  spfsli  Fallen  stellen  (spannen).  —  d»  spqslai 
Falle,  le  spüsls  Fallstrick  '**  spandyti  B  iter.  (zu  spfsti) ;  le  spuslit 
Fallen  stellen  (zu  spmls). 

i.  spistu  spindau  spisti  inch.  erglänzen;  spindiu  spindeti  g\}Sinzen^ 
le  sptdu  spidel;  al-spindis  m.  N  Wiederschein  am  Himmel;  spinduh^is 
Glanz,  Strahl  -  spistereii  ein  wenig  aufleuchten.  —  d»  le  spüfchs 
(=  ^spandjas)  glänzend;  le  spudrs  (=  ^spandras)  blank.  —  Dazu 
viell.  spindis  (s.  das  vor.) 

%•  spingti  spingeli  Schi.  Lsb.  (»Räthselwort«)  glänzen,  vgl.  ebenda 
als  Räthselwort  spinge'  die  Glänzende;  spingi^  m.  N  Durchhau  im 
Walde  (vgl.  oben  sphidis);  le  splgana  eine  Lufterscheinung,  le  spi- 
gans  dss.;  le  ^p^am^  Irrlicht ;  le  splgulis  Johanniswürmchen  ~  le  spi- 
gtUiU  schimmern.  —  d»  1  spangi^s  Schielender;  le  spügalas  Glanz  ^ 
le  spugui  glänzen. 

i»  spiriü  spirti  hinten  ausschlagen,  mit  dem  Fusse  stossen; 
spirä:  aviü  spirä  Schafmist,  ziög-spiros  Sägespäne;  spiris  m.  N  Leiter- 
sprosse; atrspirth  f.  i-st.  Stütze  -  spirdau  spirdyti  iter.  KLD  [  ].  — 
i.  prät.  sp^riau  (zu  spirtt) ;  spjrimas  nom.  act. ;  ät-spyris  m.  Stütze  -*' 
spyre'ti  dem.  (zu  spirti).  —  e.  le  speH*  spert  mit  dem  Fusse  stossen  ->* 
le  sperinät  iter.  —  B.  ie  spßru  prät.  (zu  spert);  le  spSr^ns  starker 
Schlag.  —  d.  le  spars  Wucht,  lit.  ai-sparas  Widerstand  WP  246; 
pa-spara  G  Stütze,  sq-spara  Gehrsass;  spardus  N  von  einem  aus- 
schlagenden Pferde    (aus  Sz  unter  kon\   ist  aber  vielf.  prt.  präs.  = 


346  August  Leskien,  [8* 

spärdqs  von  spärdyti);  spardulis  N  Schlag,  Stoss;  spärnas  Flügel; 
pr  sparts  stark;  pr  spariin  a.  sg.  Kraft,  pr  sparlint  stärken;  1  spärtas 
N  Band;  sparlüs  J  97.  16  anhaltend,  verschlagsam  -  spärdau  spar- 
dyli  iter.   (zu  spirti), 

%•  splintü  splitaü  splisti  KLD  [  ]  breit  werden.  —  €•  präs. 
spleczü  und  pleczü  breite  aus,  le  pleschu  (neben  pUschu)  inf.  plesi 
(neben  plest)  breit  machen.  —  ^.  prät.  spleczaü  und  pleczaü,  inf. 
spie  Sil  und  plesti,  le  prät.  /)/^^w;  spletimas  nom.  act.;  spletikas  nom. 
ag.  '-'  plesteleti  ein  wenig  ausbreiten  MLG  I.  375.  —  tt.  le  p/afe  breit; 
platüs  breit,  le  plaschs  (=  ^platjas,  Vertretung  von  platüs)^  davon 
denom.  plantü  plataü  plästi  breit  werden;  vandu  eü  sam-plalä  das 
Wasser  steht  oder  geht  dem  Ufer  gleich  hoch.  —  Ä.  plötas  in  der 
Phrase:  rugei  plötais  iszplik^  KLD  das  Korn  ist  platz-,  stellenweise 
ausgebrannt;  plötis  m.  Breite  -  le  plätil  iter.  ausbreiten.  —  Die  Zu- 
gehörigkeit der  Worte  von  platüs  an  ist  fraglich. 

i.  le  spridfigs  rasch,  munter;  spriges  BF  175  Knipse,  Schnipp- 
chen; le  sprigulis  Dreschflegel  -  le  spridßnät  klatschen,  spritzen.  — 
€•  le  sprägshi  sjjregu  spregt  (neben  sprägt)  platzen,  bersten ;  le  spr^- 
gains  rissig,  geborsten  -  le  iter.  spregät,  —  Cl»  spragü  sprageti 
prasseln,  platzen;  spragä  Zaunlücke;  sprägilas  Dreschflegel;  spmgüs 
prasselig  -  spraginti  N  rösten  (=  prasseln  lassen) ;  spragsiü  spragseti 
KLD  [  ]  prasselnd  anschlagen;  le  spragstet  prasseln.  —  Ö.  sprögstu 
sprögau  sprögti  prasseln,  spriessen , .  le  sprägt^  le  spradfens  n.  act. 
Knall;  isz-sprogas  Schössling;  sproga  N  Spalte,  WP  161  fliegender 
Funke;  sprogalas^  Schössling;  sprogaläKLH  ausgesprungenes  Stück; 
le  sprägste  Spalte  im  Holz  ^  sproginti  platzen,  spriessen  machen. 

t.  sprindis  m.  Spanne.  —  €•  spr^ndzu  sprendzau  spr^sti  spannen 
(mit  der  Hand),  nti-sprfsti  BF  175  abschätzen,  le  sprefchu  spredu 
spreft  spannen,  abschätzen,  urtheilen,  refl.  sich  recken,  sich  drängen; 
sprendulis  KLD  [  ]  eingespaltener  Stock  zum  Schleudern ;  le  sprSsls 
Stütze;  le  spreslis  Gewölbe. —  U.  sprändas  Nacken;  spranstas  B  Buckel, 
Knauf;  le  whisch  ir  sprusiä  er  ist  in  der  Klemme.  —  Ausser  der 
Reihe  le  spraids  Stelle,  wo  man  gedrängt  steht;  le  spraislis  Stütze, 
Keil,  debeS'Spraislis  Himmelsgewölbe. 

i.  springstü  springaü  springti  würgen  intr.  (beim  Schlucken)  ^ 
pri-springseU  J  264.  8.  —  €•  sprenge  ti  BF  175  würgen  intr.  — 
€i,    sprangiis    würgend    (beim    Schlucken)    -    spranginii    caus.   beim 


85]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  347 

Schlucken  ersticken,  würgen  machen;  le  sprängät  einschnüren,  ein- 
sperren. 

i.  le  stiba  Stab,  Ruthe ;  le  slibenes^  slibini  Stützhölzer  der  Schlit- 
ten; slibüklas  1  246.  11  (=  stebüklas)  --  le  slibät^  stibut  ULD  schwer- 
fällig gehen,  lahmen.  —  Aus  Stender  ein  ?  le  stibu  slibu  stibl  betäubt 
werden.  —  6.  stebiu-s  stebeti-s  staunen;  ein  nu^stebf^s  entsetzt  Sz 
{nuostebis,  unter  zdumialy);  nü-sleba  Sz  Erstaunen;  slebule  Radnahe; 
stebüklas  Wunder  -  slebinti  N  in  Erstaunen  setzen.  —  €•  stebiü-s 
stebiaür-s  stebti-s  sich  stemmen;  stebas  Stab,  Strebepfeiler.  —  d*  le 
Stabs  Pfosten,  stäbas  B  Bildsäule,  Götze,  släbas  Schlagfluss  --  slabaü 
stab^ti  aufhalten,  hemmen;  stabd^ii;  stabinli;  stabdinti  dss.;  slaptereli 
dem.  augenblicklich  stillstehen.  —  Ü.  stöbas  NBd  Gewalt;  slöbras  B 
Säule ;  siobrp  Baumstumpf.  —  Vgl.  staibis  m.  KLD  [  ]  Pfosten, 
Schienbein;  staibülas  {ränku)   Unterarm  BF  176;  slaibus  N  stark. 

i»  siilgur-s  ich  eile  G.  —  €•  stelgiü  sielgiaü  stelgti  starr  hinsehen, 
}  kq  stelgti  Jem.  anstarren,  stelgtirs  B  prahlen,  {-stelgti  »sich  gewöh- 
nen auf  die  Heuschläge  und  Kornfelder  zu  laufen«  (von  Pferden)  MLG 
I.  233.  —  Ct.  stalgus  trotzig,  frech  B,  von  Pferden,  die  jene  Ge- 
wohnheit haben  MLG  a.  a.  0.  «^  stalgauti  B  trotzen,  stolz  sein. 

i.  slimbras  Stummel  (Schwanz);  stimbenjjs  dss.  —  €•  stembiü 
stembiaü  stembti  N,  KLD  [  ]  schössen,  in  Stengel  schiessen ;  stembras  N 
Stengel,  le  stä)rs  Binse;  stembras  Stengel.  —  d.  stämbas  N  Strunk; 
stämbras  N  Stengel,  le  stübrs  Halm;  stambüs  grob. 

i.  pr  stinsennien  a.  sg.  eines  nom.  act.  Leiden,  pr  stinons  prt. 
prät.  a.  gelitten  habend  (so  Kat.  III,  aber  I  slenuns^  also  wohl  richtiger 
stinom  in  III).  —  €•  stenü  steneli  seufzen. 

i»  slingstu  stingau  siingti  gerinnen  (eig.  starr,  steif  werden) ; 
le  stingrs  stramm,  steif  -  stinginti  N  caus.  —  €•  slengiü-s  stengiau-s 
stengti'S  sich  widersetzen,  sich  anstrengen;  le  stengs  und  stengrs 
trotzig,  streng.  —  Cl.  atstangä  Widerspenstigkeit,  i-slanga  Kraft, 
stangüs  widerspenstig. 

t«  stirpstü  stirpaü  stirpti  etwas  emporkommen  (beim  Wachsen), 
etwas  zunehmen.  —  €•  sterpti-s  [üz  säwo  teistjb{'i)  auf  seinem  Rechte 
bestehen  (etwa:  sich  starr  machen,  sich  aufrichten?).  —  Unsichere 
Zusammenstellung. 

i.  le  stringstu  stringu  stringt  stramm  werden,  verdorren  Bi  I.  376. 
—  (l.  le  Strangs  muthig,  frisch  (zweifelhaftes  Wort?). 


348  AüGüST  Leskien,     -  [86 

i.  prät.  svilaü  svilti  schwelen,  le  präs.  svilslu;  le  sivilis  Holz, 
das  nicht  brennen  will ;  svilmis  brenzlicher  Geruch  MLG  I.  20 ;  svilus 
N  glimmend;  svilim  KLD  ein  Versengter  -  svilinti',  le  swilinäU  swil- 
dinät  caus.  versengen.  —  f.  präs.  svylü  (zu  svilti);  pri-svijlos  An- 
gesengtes (bei  Speisen) ;  svyl^s  »eine  Senge«  KLD  [  ] .  —  6.  le  präs. 
^wel^u  swelt  sengen  trans. ;  le  swelme  Dampf.  —  €•.  le  prät.  stvelu 
(zu  swelt).  —  U.  le  swals  und  swala  Dampf. 

i.  svimbaliuti  N,  KLD  [  ]  baumeln.  —  d.  svämbalas  Senkblei, 
Loth ,  svämbaliüti  baumeln ;  svambus  durch  Schwere  schwankend  (von 
Aehren)  LB  344. 

i.  prät.  sviraü  svirti  das  Übergewicht  bekommen,  präs.  svirstü 
MLG  L  73;  le  swira  Hebebaum;  le  swiris  (neben  stviris)  dss.;  ptmäu- 
sviris  halb  überhangend;  svirtis  f.  i-st.  Brunnenschwengel;  le  svirte 
Hebebaum;  svirus  KLD  nach  N  (bei  N  svyrtss^  aus  Sz  unter  uwisty^ 
wohl  sicher  prt.  präs.  =  sv^rqs)  schwebend.  —  %.  präs,  svyrü  (zu 
svirti) ;  pusiäu-svyrä  adv.  halb  überhängend ;  svyrus  N  schwebend 
(s.  o.)  -  svyrü ti  J  386.  12  baumeln,  nu-svyre'ti  {rankäs)  J  794.  4 
trans. ;  svyr&ti  taumeln,  K  svyröti  taumeln ;  svyrineti  dss.  —  e.  sveriü 
sverti  wägen  -  sverdeti  J  1055.  1  schwanken;  sverdineti  J  141.  13 
taumeln.  —  ^.  prät.  svüriau  (zu  sverti) ;  svetimas  nom.  act. ;  sverikas 
nom.  ag. ;  le  sw^e  Ziehbalken  am  Brunnen.  —  €1.  sväras  Gewicht, 
svarüs  schwer;  svarbüs  schwer,  gewichtig;  le  swarts  und  swarte  Hebe- 
baum; svärtis  m.  Gewicht,  Brunnenschwengel,  Wagebalken  ~  ^ar^toti 
svarstpi  iter.  (zu  sverti),  —  Ä.  svöras  KDL  (unter  »Gewicht«)  u.  a. 
Gewicht  an  der  Uhr.  —  Ausser  der  Reihe  le  sweitis  Hebebaum. 

i,  szirmas  grau,  le  sirms^  davon  denom.  sirmt  grau  werden; 
szirvas  Sz.  —  (€•  szarmä  Reif;  szärmas^  le  sarms  Lauge.  —  Zweifel- 
hafte Zusammenstellung. 

i.  szirdyti  speisen  B  (iter.  zu  szerti).  —  e,  szeriü  szerli  füttern; 
szermens  m.  pl.  Begräbnissmahl.  —  6.  prät.  szeriau  (zu  szerti) ;  sze- 
rimas  nom.  act.;  szerikas  nom.  ag.  —  d.  pä-szaras  Futter. 

i.  szirszu  Wespe;  szirsztjs^  szirszlijs  dss.,  le  sirsis  Hornisse,  pr 
sirsilis  dss.  —  €•  szeriü s  szerti-s  sich  haaren;  szer^s  Borste;  szermü 
nach  N  Wiesel,  nach  K  wilde  Katze,  Hermelin ,  le  sermvlis  Hermelin ; 
szernas  wilder  Eber  (nach  Fick  II,  695).  —  €•  szeriavns  prät.  (zu 
szerti).  —  d.  le  sari  Borsten,  Strahlen.  —  Zweifelhafte  Zusammen- 
stellungen. 


S7]  Der  Ablaut  der  WuRZELsasEN  im  Litauischen.  349 

im  nu-szisz^s  N  prt.  prdt.  a.  grindig.  —  tt.  szäszas  Grind,  davon 
denom.  szasztü  szaszaü  szäszti  grindig  werden. 

im  kraujas  szlikdamas  WP  110  triefendes  Blut ;  szliknati  N  triefen. 

—  Sm  szlekiu  szlekiau  szlekti  N  spritzen.  —  CK.  szläkas  Tropfen  ~ 
szlakü  szlaketi  tröpfeln  N;  szläkinti  spritzen;  le  slazü  iter.  spritzen; 
le  slazinät  dss. ;  szlakstaü  szlakstijti  iter.  spritzen. 

i.  sznibzdü  sznibzde'ti  zischeln;  dem.  it.  sznibzdineti;  sznibzdomis 
adv.  i.  pl.  (eines  sznibzdä)  zischelnd.  —  dm  sznabzdü  sznabzde'ti 
rascheln;  por-sznabzdomis  (adv.  i.  pl.  eines  sznabzdä)  zischelnd  J  320.  3. 

im  szvilujenti  nendriale  schwankendes  Rohr  G  aus  Fort.- Miller 
(daneben  zvilüti  und  zvilli  aus  Mikuckij:  schaukeln,  wiegen,  und 
zvüti  blasen,  sauseb,  vom  Winde) .  —  6.  ?  szvelnüs  weich,  sanft  (an- 
zufassen) ~  le  swehtst  iter.  hin  und  her  bewegen.  —  ^  le  swalsls 
Übergewicht  «^  le  gwalstU  iter.  hin  und  her  bewegen,  refl.  sich  schau- 
keln, schwanken.  —  Zu  den  Worten  mit  i  vgl.  übrigens:  le  fwel'u 
fwdu  [weit  »wälzen,  fortbewegen,  umwerfen«  u.  a.  ULD  (wenn  /*  nicht 
Rest  einer  Präposition). 

im  szvüpiü  szvilpiaü  szvilpti  pfeifen;  szvilpa  einer,  der  viel  pfeift 
KLD  [  ] ;  le  swilpis  Dompfaff;  le  swüpe  Pfeife ;  szvüp^ne  Pfeife  '^  szvil- 
pauti]  szvilpinti;  szvtlpczoti;  le  stvilpüt  iter.;  szvilptereti  dem.  iter. — 
6«  swelpju  swelpu  stvelpt  pfeifen,  MLG  I.  371  su-ßzvelpe  3.  sg.  prt. 
(wenn  hier  nicht  e  für  i  steht). 

im  le  swirkslu  swirku  swirkt  knistern,  prasseln,  szvirksziu  szwirk- 
szczau  szwirkszti  N  pfeifen,  sausen.  —  Mit  (l  vgl.  szvarkszczü  szwark- 
szczaü  szvärkszti  quaken  (von  Enten). 

im  tiles  Bodenbretter  im  Kahn;  le  tilandi  dss.;  Ullas  Brücke  -- 
le  tilät,  tilinät  ausbreiten.  —  6«  le  telinät  (=  tilinät).  —  dm  pä-tßlas 
Bett;  pr  lalus  Fussboden.  —  ^*  ?  tolüs  fern,  toli  ad.  fern,  isz  tölo 
von  weitem. 

im  ap'tilkfs  zmogüs  M  durchtriebener  Mensch,  K  construirt  dazu 
ein  tilkstu  tilkau  Hlkti  (die  Bedeutung  ist  »herumgestossen  werden^ 
sich  herumtreiben«;  slav.  tl^kq  tUSti  stossen;  zu  aptilkfs  vgl.  russ. 
tolo6nt/j  pareii  geriebener  Bursche,  von  ders.  W.),  bei  N  ap-tilku 
tükau  iilkti  zahm  werden  (sich  die  Hörner  ablaufen).  —  6.  telkiü 
teUdaü  telkti  eine  Arbeitergesellschaft  zusammenbitten  (eig.  zwingen). 

—  dm  talkä  eine  so  zusammengebetene  Arbeiterschaft  (slav.  tlaka 
Frohne) . 


350  AcGUST  Le8kien,  [88 

i.  pr^t.  tilpaü  tilpti  Raum  haben;  le  tilpe  Kramkammer.  — 
€•  präs.  telpu.  —  Ct.  talpä  ausreichender  Raum,  talpüs  geräumig, 
fassend  KDL;  talpnus  fassend,  umfangreich  MLG  I.  391  —  talpinti 
Raum  schafifen,  unterbringen. 

i.  ttmsras  schweissfüchsig.  —  €•  temslu  temaü  temti  dunkel 
werden;  uz-temu  m.  N  Verfinsterung  '-  temdau  temdyli  caus.  dunkel 
machen.  —  e.  sü-teme  3.  sg.  prt.  LB  166  dunkel  werden.  — 
(€•  tamsä  Dunkelheit,  tamsüs  dunkel,  tämsinti  verdunkeln.  —  Vgl.  le 
turnst  tuma  turnt  dunkel  werden;  le  tumsa  Dunkelheit;  le  tumschs 
(zz:  Humsjas^  Vertretung  von  tamsüs)  dunkel. 

i.  timpstü  timpaü  timpti  sich  recken ;  i-timpas  KLD  [  ]  Ansatz 
zum  Sprunge;  timpa  Sehne  (des  Körpers)  «^  titnpinti  »langsam  mit 
vorgestrecktem  Halse  und  langgestreckten  Beinen  gehen«  KLD;  nu- 
timplioti  skürq  JSv  32,  vgl.  le  debeschi  tlpufüjä-s  die  Wolken  ziehen 
hin  und  her,  le  tlpul'üt  trübes  Wetter  werden,  le  tipuPains  trübe  ULD; 
timpsaü  timpsöti  {timsöti  Schi.  Don.)  ausgestreckt  liegen.  —  6.  tem- 
piü  tempiaü  tempti  spannen ;  tempt^va  Bogensehne ;  temptuve  N  dss.  — 
Cl.  tamprus  G  zäh,  hartnäckig  -  tampaü  tamppi  iter.  (zu  tempti).  — 
Vgl.  {-tumpas  KLD  [  ]  =  \timpas. 

i.  t{stu  tinaü  tinti  schwellen.  —  d.  tänas  Geschwulst,  tanüs 
KLD  [  ]  geschwollen. 

i.  le  tinu  tinu  tlt  winden,  wickeln,  eig.  spannen,  dehnen,  lit. 
tinü  tinti  {dälgi)  klopfen  (die  Sense) ;  tinklas  Netz.  —  t.  prät.  tijniau 
(zu  tinti).  —  e.  tenvas  G  dünn,  le  tms  {=  lenvas).  —  Wohl  mit 
dem  vorigen  identisch. 

i.  tistü  tjsaü  tjsti  sich  recken;  p^-tiselis  lang  aufgeschossener 
Mensch,  Lümmel;  tisis  m.  N  Fischzug  «^  tjsau  tisoti  ausgestreckt, 
lümmelhaft  daliegen ;  tistereti  MLG  L  79  dem.  iter.  sich  strecken.  — 
€•  t^MÜ  tfisiaü  tQsti  dehnen;  uz-t^sas  N  Leichentuch;  pra-tfsa  N  Auf- 
schub; ap-tfstüve  N  Tapete.  —  d.  tusas  KLD  [  ]  Fischzug  (dial.  = 
tansas^  tqsas)]  vükü  isztqsa  Wolfsfrass;  tqms  dehnbar  ^  tqsaü  tqsijti 
iter.    (zu  teMi). 

i.  tirti  erfahren  -*  le  tirät  ausfragen,  nach  ULD  auch  »schütteln«, 
vgl.  le  tirinät  »schütteln,  reizen« ;  le  th*dit  forschen ;  tirdineti  iter.  dem. 
nachforschen.  —  f.  präs.  tyriü^  prt.  tyriau  (zu  tirti) ;  t^rimas  n.  act.  - 
tyrineti  iter.  dem.  ausfragen.  —  d»  tärdau  tärdyti  ausforschen;  tär- 
dinli  dss.  —  Ausser  der  Reihe  iter.  leiräuli-s  JSv  5  sich  erkundigen. 


89]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  351 

i.  le  ÜMl  viel  und  laut  reden.  —  Cl.  tariü  tariaü  tärti  sagen; 
nu-tarios  Sz  (unter  podeyrzenie)  Verdacht;  sqtaris  f.  i-st.  Eintracht; 
patarlü  g.  pl.  (nom.  wohl  pa^tarle)  Redensart  MLG  I.  62;  tarmä  und 
tarme  Rede,  Aussage;  nurtariis  f.  i-st.  Tadel,  presz-tariis  f.  Wider- 
spruch; presz-larte  dss.;  preszr-tarüs  N  widersprecherisch  ^  presz- 
taräuli  widersprechen.  —  Ä.  pr  tärin  a.  sg.  Stimme.  —  Die  Zu- 
sammenstellung zweifelhaft,  da  le  iiMl  nicht  mit  Sicherheit  hierher 
gestellt  werden  kann. 

t.  le  tirkschis  Nachtwächterschnarre;  le  lirkschät  schnarren; 
tirszkinti  klappern  u.  ä.  —  €•  pa-lerszkia  terszke  lerkszti  frösteln 
(klappern  vor  Frost);  le  lerkschH  schnarren;  le  terkschens  Schnarre;  le 
terkschk'inäl  schnarren,  klappern.  —  d.  tärszku  iarszkiaü  tärkszti  KLD 
klappern ;  larszkiü  iarszketi  klappern,  le  tarschket  schnarren ;  le  tarksis^ 
tarschk'is^  tarschk'ins  Schnarre;  tarszkülis  (dem.)  Kinderklapper;  tärszkalas 
Klapper  --  Idrszkinli  caus.  klappern  lassen;  tarksztereti  dem.  iter.  (zu 
tarszketi).  —  Vgl.  treszkü  ireszkeli  knistern,  prasseln,  treszkinti  caus.; 
traszkü  traszketi  prasseln,  träszkinti  caus. ;  trahzmas  KLD  [  ]  Krachen. 

i»  tirpsiü  tirpaü  tirpli  schmelzen  intr.;  tirpinis  geschmolzen  «^ 
iirpaü  tirppi  caus.  schmelzen  trans. ;  iirpinti  dss.  —  Cl»  tarpas 
Zwischenraum  (indess  Je  starpa) ;  le  tarpenis  Sudwestwind.  —  Zweifel- 
hafte Zusammenstellung;  vgl.  noch  Hrpstü  tirpaü  iirpH  erstarren; 
tirpulp  Erstarren,  Schaudern  (der  Haut). 

i.  iirsztu  tirszau  tirszti  N  dickflüssig  werden ;  iirszlas  dickflüssig, 
trübe,  tirsztas  lylüs  dichter  Regen  «^  tirsztinti  (von  lirsztas)  dickflüssig 
machen.  —  €•  tersziü  iersziaü  terszli  schmutzen. 

im  prät.  tiszkaü^  isztiszko  spritzte  auseinander  intr.  (präs.  tyksztui 
bei  KLD  tiszkü).  —  €.  teszkiü  präs.  dickflüssiges  werfen;  teszkü 
ieszkeii  in  dicken  Tropfen  fallen;  teszlä  (neben  taszlä)  Teig;  teszmu 
Euter  -'  teszkinti  dickflüssiges  werfen.  —  ^.  prät.  teszkiaü  te'kszti  (zu 
präs.  teszkiü);  teszkimas  nom.  act.  —  Ä.  taszkas  Sz  Tropfen,  Punkt; 
taszlä  Teig  «^  taszkaü  taszkpi  iter.    (zu  teszkiü). 

i.  trimstu  trimaü  trimti  sich  beruhigen  (von  Schmerzen;  eig. 
niederfallen),  bei*N  präs.  trimu  und  ein  trimü  trimaü  trimti  {sur-) 
zittern  vor  Frost  (eig.  gestossen,  erschüttert  werden),  vgl.  sutrimdinti 
B  zittern  machen;  le  trimda  Getrampel,  Lärm,  Angst,  le  trimdinät 
trampeln  -  trimtereti  dem.  ein  wenig  nachlassen.  —  6.  tremiü  tremti 
niederstossen,  -werfen.    —    €•    prät.   Iremiau    (zu   tremti) ;   tremimas 


352  AuGD8T  Lbskien,  [90 

nom.  act.;  tremikas  nom.  ag.  —  (€•  le  tramda  unruhiger  Mensch; 
le  tramigs  und  iramdigs  scheu  --  su-iramdyti  B  redigere,  le  IramdU 
scheuchen ;  traminti  beruhigen ,  stillen  (Schmerzen) ,  su-iraminli  MLG 
I.  21   verstauchen,  ebend.  136  leise  anstossen. 

i.  irifJiü  trikaü  trikti  fehlgehen,  nicht  zu  Stande  kommen,  vgl. 
JSv  7,  sich  beim  Zählen  versehen  «^  trikinti  irre  machen  (beim 
Zahlen  u.  a.).  —  €€•  träkas  Narr,  le  traks;  vgl.  patrakusi  pt.  prt.  a. 
f.  WP  118  verrückt  geworden;  iraküs  N  toll,  albern;  "f iraknei 
Krummstroh. 

i.  trinü  trinti  reiben,  le  prät.  trinu;  üztrinas  J  246.  8  Abmachsei; 
trinia  bei  KLD  nach  Sz  (wohl  trynia  zu  schreiben,  der  pl.  auch  bei 
K  als  tn^nios  angegeben)  SägespSine;  trintine  N  Feile;  trintüvas  N 
Spulrocken,  Fiedelbogen,  le  tritawa  und  trltaws  Wetzstein.  —  %•  prät. 
tr^jiniau  (zu  trinti) ;  trpiimas  nom.  act. ;  trytiei  KLD  [  ]  Schwielen 
(bei  Sz  unter  odrftwialosc:  trinei);  ftryn^s  Eidotter;  tryne  N  Sz 
Pustel  ~  trpiioti  iter.  (zu  trinti).  —  CT.  le  trüts  (=  HranU^s)  Wetz- 
stein. —  Ausser  der  Reihe  träiniotl-s  iter.  sich  herumreiben,  herum- 
stossen  (im  Gedränge). 

i.  prät.  trinkaü  trinkti  (zu  präs.  trenkü)  Behaartes  (z.  B.  den 
Kopf)  waschen  (rumpeln);  trinkü  {trinkiü)  trinke*ti  dröhnen,  le  trizu 
trizH  zittern;  le  trizens  Erbeben;  trinka  Haublock;  trinkis  m.  Anstoss; 
pr  per-trinklan  a.  sg.  prt.  pass.  verstockt  ~  le  trtzinät  erschüttern; 
trinkczoti  iter.  slossen;  trinktereti  dem.  it.  dröhnen,  trinkteliu  LB 
346  dss.,  MLG  I.  84  klopfen.  —  e.  trenkü  pras.  {zu  trinkti);  trenkiü 
trenkiaü  trenkli  stossen  (heftig)  ~  le  trezinät  erschüttern;  trenkseti 
schmettern  (von  lauten  Tönen).  —  d.  i-tranka  N  Anstoss,  pchtranka 
holpriger  Weg,  tranküs  holperig;  tränksmas  Gedränge,  Lärm;  le 
truksnis  Lärm  ~  trankaü  trank^ti  iter.   (zu  trenkti). 

i.  tripse'ti  JSv  30  auftrapsen.  —  i.  trypiü  trypiaü  tr^ti  stampfen, 
treten.  —  €•  trepstu  trepti  N  stampfen ;  trepseti  strampeln.  —  In  pr 
Kat.  III  inf.  trapt  treten,  er-treppa  3.  prs.  sie  übertreten. 

i.  trisüu  trisziau  triszti  Sz  düngen,  stercorare.  —  €.  tresztü 
(bei  K  trfsztü)  treszaü  treszti  trocken  faulen,  verwesen.  —  Ä.  pa- 
traszas  N  verfaultes  Holz;  träszkanos  Eiter  in  den  Augen.  —  Vgl. 
mit  u:  trusza  NSz  Dünger,  trusznus  MLG  I.  391  faul,  morsch.  — 
Dazu  auch  ?  träiszus  geil  (von  Pflanzen) ,  bei  N  auch  »morsch«,  träisza 
N  Fettigkeit,  vgl.  träiszi  dirvä  fetter  Acker. 


9^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  353 

i.  ivistu  tvinaü  tvinti  anschwellen  (vom  Wasser)  '-*  tvindau  tvindyli 
caus.  —  €1.  tvdnas  Flut,  le  tvans  und  tvana  Dampf,  Danst,  tvanüs 
leicht  schwellend  (Fluss).  —  Ausser  der  Reihe  tvainpp-s  {aplink 
v^rus  tvain^te-s  buhlen,  von  Jacoby  MLG  I.  75  als  »schwellen« 
gefasst) . 

i.  tvinkstü  tvinkaii  tvinkti  schwären,  anschwellen,  le  tvlkt 
Schwüle  fühlen,  vor  Hitze  schmachten;  le  twlkulis  Schwindel  «^  le 
twizinät  schwül  machen;  tvinkszczoti  iler.  »von  Pulsen,  in  schmerz- 
haften Geschwüren  fühlbar  schlagen«  KLD.  —  €•  tvenkiü  tvenkiaü 
tvenkti  schwellen  machen,  tvenkia  N  es  ist  schwül.  —  (l.  tvänkas 
Schwüle,  tvanküs  schwül.  —  Ausser  der  Reihe  le  tweizinät  schwül 
machen;  le  twaiks  Dunst,  Schwüle. 

i»  tvirtas  fest  (altes  pt.  prt.  pass.  von  Iveriü)^  davon  tvirtinti 
befestigen.  —  e.  tveriü  tvSrti  fassen;  le  tversme  und  tversmas  pl. 
f.  Rückhalt,  Schutz.  —  ^.  tveriau  prät.  (zu  tveriü);  tve'rifnas  nom. 
act.  —  U.  ap-tvaras  NBd  Gehege;  ap-tvara  N  das  Netz  umfassender 
Strick,  f-tvara  »von  der  Nussruthe  abgeschälter  Streif  zur  Befestigung 
der  Sense  am  Stiel«  MLG  I.  236  (die  Thätigkeit:  f-tverti}^  le  pa- 
tvara  Halt,  Schutz;  tvarUas  B  Hirt;  tvärsles  N  Fahrleine;  tvartas 
Verschlag  -  tvärstau  tvärstyti  iter.  (zu  tvMi).  —  Ä.  tvorä  Zaun, 
le  tväre. 

i.  isz-tvirkti  liederlich  werden,  aus  Rand  und  Band  gehen 
MLG  L  226.  —  d.  tvarkä  Ordnung,  tvarkm  ordentlich  -  tvarkaü 
tvarkpi  in  Ordnung  bringen. 

i.  tviska  tviske'ti  stark  blitzen.  —  f.  tvykstu  tvysketi  knallen 
(beim  Blitzeinschlagen),  bei  N  blitzen,  nach  K  auch  »flackern«  (von 
der  Flamme) ;  tv^skinU  stark  anklopfen ;  tv^ksteriti  plötzlich  knaüen. 
—  €•  (c?)  tve'skia  malka  N  nach  M  das  Holz  schwelt,  glimmt.  — 
Ct.  tvasketi  J  1524.  3  blitzen,  präs.  tvasku  Sz  (unter  btyszcz^  sif) 
(vgl.  SzP  13  akis  wieszpaties  toi  labiam  zibuncios  ira  ir  twcJistunöios 
negi  saule)^  tvaskü  tvasketi  plappern,  viel  schwatzen;  tväska  KLD 
Plapperer,  nach  N  Geschwätz.  —  ä.  tvoskü  tvoskiaü  tvöksti  KLD  [  ] 
viel  schwatzen;  tvoskoti  N  flackern;  tvoskinti  N  stark  schlagen. 

i.  le  pa-wila  Füllung  (als  Fundament);  vilna  Wolle;  vilnis  f. 
i-st.  Welle  «^  le  tvilät  rund  machen,  beschütten  mit  .  .  .;  le  witinät 
zwischen  den  Fingern  rollen.  —  e.  veliü  velti  walken ,  le  well  wälzen, 
walken;   le  pa-vel'es  (=  pavil'a);    le  1  weide  das  vom  Regen  nieder- 


354  Algust  Leskiex,  (92 

gelegte  Korn ;  velenas  KLD  [  Walke ;  ?  veletiä  Sittck  ausgestochenen 
Rasens,  Rasen  (überb.),  vgl.  le  welens  Rasen,  Erdkloss;  vellüvas 
Walke  --  le  welit  iter.  (zu  well).  —  €.  pröt.  veliau  (zu  velti  ;  veli- 
mas  nom.  act.;  velikas  nom.  ag. ;  vele  KLD  nach  N  Walke  (bei  N 
steht  we/^^.  —  n.  välas  Schweif  haare  des  Pferdes;  ap-^ala  Sz 
(unten  okrqg)  Kreis,  ap-valüs  rund;  nu-valai  und  nu-valos  Nach- 
geburt ;  valimjs  Tuchrand ;  ?  vältis  f.  i-st.  Kahn  ~  valaü  val^ti  fort- 
schaffen (j-val^li,  nth-val^lij  pa-valyti)^  vgl.  knäto  nuvala  abgeputzter 
Docht  KDL  (unter  »Lichtputze«),  Lichtschnuppe;  le  walslU  iter.  (zu 
well),  —  Cl»  le  wäls  und  wäle  Heuschwade;  le  wäls  und  wäle  Wasch- 
bleuel; völas  N  ünterlageholz  (slav.?j ;  volai  Wellen  MLG  L  21 
(slav.?)  -  völioli  iter.  hin-  und  herwälzen,  le  wättUj  wätät  (slav.?). 

i.  le  wil'u  will  betrügen,  lit.  privilli  betrügen,  z.  B.  J  706.  9, 
villi-ff  hoffen  WP  204,  nach  N  S.  86  das  Präs.  vilslu  oder  vilu,  pr 
pra-ü'ilts  verrathen ;  villis  f.  i-st.  Hoffnung,  z.  B.  WP  46,  MLG  L  383 ; 
le  wiltus  Betrug  '^  viliöti^  le  wil'äl;  le  wilinät  locken.  —  f.  le  prät. 
wilu^  lit.  vylau^  z.  B.  v^le-s  3.  sg.  MLG  L  377  (zu  villi);  vylius  Be- 
trug; v^lis  dss.  J  193.  26;  vyla  N  dss.,  vylm  N  trügerisch.  — 
€•  pr  po-wela  sie  verrielhen;  le  wells  vergeblich,  lit.  ve/to«  G  unnütz, 
veltü  i  181.  27,  bei  N  vellüi  adv.  vergeblich. 

i.  vilbti  G  zwitschern.  —  6.  velbejöti  N  lispeln. 

i.  pa-vilslu  vildau  vilsti  N  ererben;  pa-vildeti  N  besitzen.  — 
6.  por-veldu  veldeii  ererben.  —  (l.  valdzä  Regierung;  le  valsts  i-st. 
(lebiet,  Gemeinde,  Staat;  valdöviis  Herrscher;  pr  waldüns  Erbe  (neben 
pl.  weldünai)  -^  valdaü  valdijti  regieren. 

i.  le  wilgans  (neben  welgans)  feucht;  le  wilksls  noch  nicht  recht 
trocken  <«  vilgau  vilgyti  anfeuchten.  —  €•  le  weldfu  weldfu  welgl 
waschen  (daneben  walgt  geschrieben) ;  le  welgs  (neben  walgs)  Feuchtig- 
keit; pr  welgen  Schnupfen;  le  welgans  (neben  wilgans)  feucht  -  le 
weldfet  anfeuchten.  —  U.  le  walgs  feucht,  subst.  Feuchtigkeit;  ?le 
pa-walgs  Zukost;  f  välgis  m.  Speise;  ^välgau  välgyti  speisen. 

i,  prät.  vilkaü  vilkti  ziehen ;  vilkiü  vilkeli  bekleidet  sein  mit .  . ; 
ap-vilkas  N  Sammetblume;  nü-vilkis  Sz  (unter  zewloka)  exuviae, 
nach  N  f.  i-st.  Abgezogenes;  vaid-vilkis  Ränkestifter;  vilksne  N 
Schleuder;  vilkslyne  N  Schleuder  -  le  wilzinät  in  die  Länge  ziehen. 
—  €•  velkü  präs.  (zu  vilkti);  velke  Schleife,  le  wehe  Strecke;  veUcelä 
Zochschleife  —  (l.  le  walks  und  walka  Zug,  le  nu-walka  Schlangen- 


93]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  355 

balg,  lit.  üz-valkas  Bettbezug;  üz-valkalas  dss. ;  väUismas  Zug;  le 
walkans  was  sich  zieht;  \ewalk8ne^  lit.  valksne  ^  Yischzng;  le  walksts 
Fischzug;  valküs  zähe  -  vd/feio^i,  le  walkät  iter.  {zavelkti);  ap-sir-valk- 
stpi  iter.  sich  anziehen  MLG  I.  364,  isz^sir^alkstpi  KLD  [  ]  sich  ver- 
ziehen (von  Wolken). 

i.  ?  le  wimbas  f.  pl.  herabfliessender  Speichel,  Geifer  -  vimdau 
vimdyti  erbrechen  machen  (caus.  von  vemti).  —  €•  vemiü  vemti  sich 
erbrechen,  speien;  le  wemes  f.  pl.  Erbrechungsreiz,  Vomirtes;  vemalai 
Ausgebrochenes  (KLD  schreibt  sing,  ve'malas,  plur.  vemalai^  DL  ve- 
malas) .  —  €•  prät.  ve'miau  (zu  vemti) ;  vemimas  nom.  act. ;  vemikas 
nom.  ag.;  ve malas  K  (s.  vemalai), 

t.  vtngis  m.  Krümmung;  t;in^6  N  dass. ,  vingmii  Bogen  machen, 
sich  schlangeln  J  485.  4;  le  wingrs  hurtig;  vingrüs  sich  schlängelnd, 
vgl.  pr  vingriskan  List;  vingus  krumm,  gewunden  {vingiu  kelüziu  i 
635.  7)  -*  vingurioti  iter.  krümmen.  —  €•  vengiu  vengiau  vengii 
meiden.  —  d.  ätvanga  Rast;  ?le  wanga  Handhabe  (zum  Tragen, 
von  der  Krümmung?),  ?Ie  pl.  wangas  fesseln;  ?  le  wangals^  wangale 
Mangelholz  (aus  dem  Deutschen?);  vangüs  träge,  dazu  denom.  pa- 
vangstu  vangau  vangti  N  verdrossen  sein  ^  vangstaü  vangstpi  iter.  (zu 
vengti) . 

i.  at-vipti  (präs.  vimpu)  MLG  L  68  herabhangen  (von  Fetzen, 
von  den  Lippen) .  —  f.  vypsaü  vypsöti  mit  offenem  Munde  dastehen, 
gaffen;  vifpslas  N  Maulaffe,  Tölpel;  v^plinti  KLD  gaffen;  le  wipnut 
lächeln;  le  wipnigs  heiter,  scherzhaft  ULD. —  d,  vepiu-s  vepiaü-s  vepti-s 
den  Mund  verziehen  (K  schreibt  e,  indess  le  weplis  Maulaffe,  Lüm- 
mel, le  weplüt  gaffen);  isz-si-ve'pelis  einer  der  mit  offenem  Munde 
dasteht;  veplp;  vepelis;  veparis  Maulaffe  ~  vep^ati  vepsöti  gaffen,  das 
Maul  verziehen  (K  trennt  vepsöti  »den  Mund  halb  öffnend,  schief 
ziehen«  und  vepsöti  mit  etwas  geöffnetem  Munde  dastehen;  es  ist 
dasselbe  Wort) ;  veplinti  mit  offenem  Munde  herumlaufen.  —  Ausser 
der  Reihe:  vaipaüs  vaippi-s  das  Maul  verziehen,  gaffen. 

i*  prät.  viriaü  virti  kochen,  trans.  u.  intr.  (eigentl.  wallen, 
sprudeln,  vgl.  kraüju  szirdis  suvirim  J  842.  S5) ;  le  wira  Gekochtes, 
Gebräu;  le  ap-wirde  Geschwür  unter  dem  Nagel  [kur  asinis  ap-wirti- 
schas  ULD);  le  wirags  Strudel;  püs-viris  halb  gar;  viralas  Gericht; 
le  wirtdis  Sprudelquelle;  virtis  m.  Strudel;  virtuve'  N  Küche  -  virinti 
kochen  lassen;  le  wirinät,  —  f.    at-vyrs  Gegenstrom   am   Ufer  MLG 


356  August  Leskien,  [^* 

I.  21 ;  v^rius  Strudel.  —  6.  präs.  verdu  (zu  virti) ;  versme  Quelle, 
le  wersme  Glut  -  le  werdlt  sprudeln.  —  d»  le  at-wars  Wirbel;  varüs 
kochbar  Sz  [warzysiy),  —  Ä.  le  wärs  Suppe;  isz-vora  Sz  Suppe;  le 
ifwäres  f.  pl.  Ausgekochtes;  le  wärags  Gericht  <^  le  wäril  kochen 
trans. 

t.  pr  et-wiriuns  pt.  prt.  a.  (Präsens  2.  sg.  opt.  pr  et-werrais 
öflFne);  ät-viras  offen;  at-viromis  adv.  i.  pl.  (eines  -vira)  N  offen, 
klar;  le  sth^res  f.  pl.  Querstangen  bei  der  Egge;  ?le  wirkne  Auf- 
gereihtes, Schnur;  virtinis  Schlinge;  virvef  Strick  -^  le  wirinät  iter. 
auf-  und  zumachen.  —  €•  venu  verti  öffnen  und  schliessen,  einfädeln. 

—  6.  prät.  vertäu  (zu  verti)  \  verimas  nom.  act.;  le  w^rens  Stich 
mit  der  Nadel;  le  w&rens  Faden.  —  a.  per-^ara  Netzleine;  api-^ara 
JSv  23  Strick,  vgl.  ap^are'  KLD  []  Schnur;  per-varas  Langbaum 
am  Leiterwagen,  ap-varas  G  Schnur  der  Bastschuhe,  par-{=:  per-) 
varai  G  Thor;  vartai  Thor;  ap-värtis  f.  i-st.  Strick;  ap-värte  Schnur 
der  Bastschuhe  •**  värstau  värstyti  iter.  (zu  verti).  —  Ä.  le  sa-wäri 
(neben  sa-wari,  sa-wares)  Querstangen  bei  der  Egge;  f  vor as  Spinne; 
fvorä  Reihe;  apy-vora  NSz  Schanze. 

im  pr  wirds  Wort.  —  Ct.  värdas  Name. 

t.  pra-virkstu  virkau  virkti  anfangen  zu  weinen,  nach  KLD  auch 
wirksztu  wirszkau  wkkszti  --  virkauti  iter.  J  849.  11  weinen;  virkdau 
virkdyti;  virkinti  caus.  weinen  machen;  virkulioii  N  dem.  ein  wenig 
weinen.  —  €•  verkiü  verkiaü  verkti  weinen;  verksmas  das  Weinen; 
verksme  N  dss.;  verksmas  Heuler,  Schreihals. 

i.  virpstu  virpau  virpti  [pa-)  verkommen  (am  Körper) ;  virpiu 
virpe'ti  beben,  zitterig  sein,  bei  N  auch  virpu  virpti;  pä-virpas  N,  KLD 
[  ]  armseliger,  verkommener  Mensch,  Losmann,  pr  po-wirps  frei  (vgl. 
pv  piMvierpi  verlassen),  pr  gruntr-powirpun  grundlos;  le  wirpeles  f.  pl. 
Herumdrehen  eines  Schlittens  auf  dem  Eise;  le  wirpuls  (auch  werpels) 
Wirbelwind;  virptd^s  N  das  Zittern.  —  €•  verpiü  verpiaü  verpti 
spinnen,  pr  et-werpeis  2.  sg.  opt.  präs.  vergib  (erlass),  pr  et-^erpsnä 
Vergebung,  et-werpsennien  a.  sg.  dss.;  verpalai  Gespinnst;  verpole  N 
dss.;  verpöne  Gespinnst;  \e  werpata  Scheitel;  verptüvas  N  Spinnmvbel. 

—  €€•  värpas  Glocke;  värpa  Aehre;  vdrpstis  BF  195  dünne  Stange; 
varpste'  Welle,  um  die  sich  etwas  dreht,  Spindel  ~  varpaü  varp^ü 
N,  Sz  aushöhlen,  durchlöchern,  spicken,  vgl.  kirmrvarpa  Wurmfrass 
im  Holz.  —  Fick  II.  663  unterscheidet  drei  Wurzeln  varp:   werfen; 


95]  Der  Ablast  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  357 

zittern;    loslassen,    schwanken.      Die    Grundbedeutung    wird    »los- 
lassen« sein. 

i»  virstü  virtaü  virsti  umfallen,  stürzen  intr. ;  virtis  m.  Sturz, 
virtTJne  Stelle,  die  zu  Fall  bringt;  isTr^rszczas,  iszr-virkszczas  auswärts 
gekehrt  -'  virtäuti  N  laviren;  virteliüti  N  wackeln.  —  €•  verczü 
verczaü  versti  wenden ;  at-verslüvi  N  eine  Art  Klappbank ,  le  werstawa 
Pflugsterz.  —  d.  iszr-vartas  N  Umdrehung;  pr^-varta  Zwang;  le 
warscha  (=  *wart-ja)  Thorriegel;  värsmas  Gewende,  le  warsms  Strich; 
varmä  Pfluggewende,  nach  N  auch  varmas^  varmis,  vgl.  le  ap-varmis 
Kleidersaum ;  värstas  Gewende ;  pr  aina-^arst  einmal  (Orig.  ä)  «^  vartaü 
vartjti  iter.  (zu  versli);  varialioti  WP  163  umstürzen;  pr  wartitU 
wenden. 

i.  le  wirfchuns  wirfu-s  wirftg-s  rücken,  vgl.  if-mrßtg-s  ausfasern; 
virz^s  (neben  verzya)  N  Strick;  pa'i)irzi8  m.,  pavirzes  f.  pi.  Zugabe 
zum  Lohn  <«  virzeti  binden,  z.  B.  J  857.  1 4 ;  virzau  virzyü  N  binden. 
—  e.  verziü  verziaü  verzti  schnüren,  le  werfchu  werfu  werft  wenden, 
drehen,  iter.  lewerfH,  vgl.  verze'ti  i  386.  15  umgewickelt  sein;  isz- 
veria  N  Beute,  Raub;  verzp  (neben  virip)  N  Strick. —  Ct.  värzas 
Fischreuse;  le  warfa  dass.  <«  varzaü  varzijli  iter.  (zu  verai)\  ?le  sa- 
warfät  zusammenklecksen,  Arbeit  schlecht  machen. 

t.  le  wißnät  umherfahren.  —  %•  pa-vyie'ti  ein  Stück  Wegs  mit- 
fahren lassen  BF  200;  v^zoti  ein  wenig  fahren.  —  €•  veiü  veziaü 
veiti  fahren;  mart-vezijs  Brautführer.  —  6.  prorveta  tiefes  Geleise; 
vezd'  Gleis  «^  vezinti  caus.  fahren  lassen;  vezineli  iter.  dem.-  ein 
wenig  umherfahren.  —  d»  üz-vazas  N  Auffahrt;  pa-vazä  Schlitten- 
kufe; väzbas  Fuhrlohn;  le  wafchas  pl.  t.  und  wafchw  pl.  t.  Schlitten; 
vdzis  m.  dss. ;  vazmä  Fuhre;  vazta  Fuhre  Sz  (unter  podwoda)  *^  va- 
zivili  fahren;  vazinüti  dss.  iter.  dem.;  le  wafät  herumführen,  herum- 
schleppen. —  €t.  pra-^ozä  tiefes  Fahrgleis;  pra-^oz^  N  Anfurt. 

i.  zilstü  Sz  (unter  siwiejf)  züaü  zilti  grau  werden;  iilas 
grau,  le  fils  blau,  le  ßinäl  blau  färben,  le  ßlgans  bläulich.  — 
i.  iylü  präs.  (zu  iilti).  —  €•  ziliü  ieUi  grünen,  wachsen;  idmä 
Schössling;  ielvijH  N  grünender  Stamm  '^  zädau  zeldyti  wachsen 
machen;  le  felinät  dss.  —  ^.  pr&t.  ze'liau  (zu  zeUi);  zeUmas  nom. 
act.  —  CS«  at-zalas  N,  le  at-fals  Schössling;  at-ialä  Nachtrieb;  i&lias 
grün,  le  faVsch  dss. ;  le  falgans  grünlich  ««  ialiüti  grünen ;  zälifUi  grün 
machen.  —  &•  ioW  Gras,  Kraut  «^  iolineti  Kräuter  lesen. 


358  AüGLST  Leskien,  96] 

im  züpstü  zilpaü  zHpti  dunkel,  trübe  werden  (von  den  Augen). 
—  €•  ap-zelpimas  akiü  Augenveiblendung  (so  zu  lesen  das  bei  N 
S.  515  aus  Bd  angeführte  apszelpimas;  es  kommt  von  einem  transi- 
tiven zelpti  trübe  machen) ,  äkys  apzelptmos  B  {ap-fchalpmes  ebend. 
ist  nur  andere  Orthogr.  für  e;  das  apsülpusios  äkys  B  Verschreibung 
der  Handschrift?).  —  Vgl.  le  fchilbstu  fchilbu  fchilbl  erblinden  (da- 
neben fchulbt). 

i,  zindu  zindau  z\8t%  saugen  (an  der  Brust),  le  präs.  fifchu^  d.  i. 
Hindzu,  nu-zisti  trans.  (aussaugen)  ausmergeln;  iindis  N  f.  i-st. 
Nahrung  der  Mutterbrust;  le  fidals  Muttermilch;  zindulp  Sz  Säug- 
ling [osesek]  ^  zindau  zindyti  caus.  säugen;  le  ßdU  u.  fidinät.  — 
dm  zändas  Kinnbacken;  zqslai;  zqslos  B  Gebiss  (am  Zaum). 

i.  pa-zistu  zinaü  zinti  kennen;  zinaü  zinöti  wissen;  ziniä^  zine 
Kunde,  sq-zine  Gewissen;  pa-zintis  f.  i-st.  Kenntniss.  —  t*  zymjs 
Zauberer,  zyne   Hexe.  —  C  zenklas  Zeichen. 

i.  zijgis  m.  Gang,  Geschäftsgang,  zygeli  einen  Gang  thun  (wenn 
=  zigis);  zingine  das  Schrittgehen;  zingsnis  f.  u.  m.  Schritt.  — 
€0  zengiü  zengiaü  zengti  schreiten.  —  (l.  prazanga  Uebertretung  BF 
158,  Sz  (unter  wysl^pek);  zängosios  kojeles  (im  Volksliede)  die 
schreitenden  Füsslein  (von  einem  m.  zangus)  --  zangstaü  zangstpi  iter. 
(zu  zengti), 

t.  prät.  ziraü  zirti  zerstreut  werden,  auseinander  fahren.  — 
i.  präs.  zyrü.  —  e*  zeriü  zerti  scharren.  —  €•  prät.  ze'riau  (zu 
zerti);  zerimas  nom.  act. ;  zerikas  nom.  ag.  —  €1,  zarstaü  znrstpi  iter. 
(zu  zeriü). 

t.  zirgas  Boss ;  zirgei  N  Kreuzhölzer  auf  dem  Dache ;  zirges 
Schrägen,  Holzbock;  zirgles  KLD  »zwei  an  einem  Ende  schräg  ver- 
bundene Stangen,  welche  statt  der  Zochschleiche  gebraucht  werden«  - 
zirglioti  gespreizt  gehen;  zirglenti;  zirglinti  dss.;  zirglineli  dem.  dss.; 
iirgsaü  zirgsoti  gespreizt  stehen.  —  €•  zergiü  zergiaü  zergti  die  Beine 
spreizen,  gespreizt  gehen.  —  d.  ap-zargomis  (i.  pl.  f.  adv.)  sc.  jöii 
rittlings;  ap-zargei  adv.  dss.  (von  einem  Adj.  zargm)  ^  zargaü  zar- 
gpi;  zargstaü  zargsttjti  iter.   (zu  zergti);  zargine'ti  iter.  dem. 

im  ap-dimbu^  zlibau^  zlibti  Triefaugen  bekommen  MLG  I.  223; 
zlibds  triefäugig,  blödsichtig.  —  6.  ilebiü  zlebiaü  zle'bti  schwach 
sehen  können. 

im  zvilgu  zvilg^'ti  KLD  [  ]  glänzen ;    zvilgiu   zvilgeti  schnell   hin- 


d7]  Der  Ablaijt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  359 

blicken;  zvilgis  m.  Blick,  i-ivilgis  Anblick;  at-ivilga  N  Rücksicht  «^ 
ivilgtere'ti  dem.  blicken,  zty^lglereti  Schi.  Gr.  —  C.  zvelgiü  zvelgiaü 
zvelgti  blicken.  —  CT.  zvälgas  Beschauer,  pl.  zvalgai  Brautschau; 
ap-zvalga  Sz  Umsicht  (unter  niebacznie)^  ap-zvalgüs  umsichtig  --  zvalgaü 
zvalg^ti  iter.   (zu  ivelgli). 

i.  zvingu  (oder  zvingstu)  zvingau  zvingli  anfangen  zu  wiehern  -- 
zvingauti  wiehern  iter.  —  6.  zvengiu  zvengiau  zvengti  wiehern,  le 
fwegt  —  a.  aukso  pazvange'U  J  550.  7  Theil  des  Pferdegeschirrs  - 
3.  sg.  pr.  zvänga  inf.  zvange'ti  klingen,  z.  B.  J  194.  14;  1348.  3; 
zvanginli  klirren,  klingen  lassen  IG  1 77.  —  Ausser  der  Reihe  le  fwai- 
gät  iter.  (zu  fwegt). 

Es  folgen  die  primären  Verba  mit  i  vor  r,  /,  m,  n  oder  einer 
diese  Consonanten  enthaltenden  Gruppe,  bei  denen  kein  Ablaut 
nachweisbar,  zugleich  solche,  bei  denen  i  nach  r  u.  s.  w.  steht,  und 
beliebige,  wo  die  verwandten  Sprachen  ein  correspondirendes  e  oder 
0,  a  nachweisen. 

1.  brizgu  brizgau  brigsti  fasern  MLG  I.  224,  brizgü  brizge'li  aus- 
fasern; iszbrizga  Faser;  brizgilas  Zaum. 

i.   le  dirschu  (und  dirstu)  dirsu  dirst  cacare;  le  dirsa  podex. 

i.   i'drinkfs  (B  indrinkens)  prt.  prät.  a.  »frech,  gierig«. 

i.  pa-kirsli  B  aus  dem  Schlafe  auffahren,  isz  mSgo  pakird^s 
WP  113,  pakirdo  3.  sg.  prt.  ib.  33,  pakird^s  aukszt'^  ib.  195;  pa- 
kirdinti  B  erwecken,  bei  Sz  präs.  pakirdzu  erwecke  {przebudzam) . 

i.  pr  au'klipts  verborgen. 

i.  knimbü  knibaü  knibti  {su-)  zusammenknicken  intr.  (Halme,  Knie), 
N  hat  auch  knefnbti  als  präs.,  daher  ist  das  Wort  hierhergestellt. 

i.  püü  pilli  giessen  (füllen),  prügeln,  le  pilslu  pilu  pilt;  le  pilu 
pikt  triefen;  al-pildas  Ersatz  J  1016.  7;  püncLs  voll;  pilvas  Bauch  «^ 
le  pilinät  träufeln;  pilstau  pilstyti  iter.  (zu  pilti).  —  f.  prät.  p^liau 
(zu  pilti) ;  p^limas  nom.  act. ;  pylä  Prügel ;  pylus  (1.  p^lius)  N  Vollmond, 
preszpylis  N  zunehmendes  Mondlicht. 

*.  le  if'pilzis  ULD  prt.  prät.  a.   (=  ^pilk^s)  übermüthig. 

i*  pim  pisaü  pisti  coire  c.  fem.  (hierher  wegen  tooc,  s.  Fick 
IL  605). 

i*  silpstu  silpau  silpti  schwach  werden;  silpnas  schwach. 

im  skinü  skinti  pflücken,  le  schk'inu  schk'inu  schklt.  —  t.  prät. 
skijniau;  nom.  act.  sk'^nimas;  le  schk'lnis  Heuraufe. 

Abliandl.  d.  K.  S.  Gesellsch.  d.  Wisseiisch.  XXI.  25 


360  ACGCST    Le$KJ£5,  >8 

i#  le  sifu  ?^  ffirt  »kriegerische  Streif-  ond  Raubzüge  machen; 
omherschwänneD «  a.  a. ;  le  sira  und  sifa  das  Herumstreicheo ;  le  sifi 
Marodeure.  —  f#  le  siru  präl.   (zu  sirt]   -  le  giräl,  sirH  iler. 

i#  3.  sg.  nü-slimpa  entschlüpft  JSv  6,  le  slip^tu  slipu  dipl  gleiten, 
schief  werden;  le  slips  schräge,  steil  -  slimpineü  J  312.  6;  417.  19 
entschlüpfen;  le  slipet  caos.  schräge  machen. 

i«   smilu  smilti  sich  versengen  G. 

im  pa-^piUjf8  prt.  prät.  a.  BF  174  dünn  im  Stroh  (von  Korn), 
im  Wachsthum  zurückgeblieben. 

i.  le  spirgslu  spirgu  »pirgl  frisch  werden,  erstarken  (eig.  auf- 
spritzen intr.?);  spirgas  Griebe;  le  spirgts  frisch,  munter  '^  spkgau 
spirgyli  Feltstückchen  (Grieben)  braten  (prasseln  machen). 

i»   ie  swirkstu  ffwirku  swirkt  rieseln,  knistern. 

i.  szile-8  3.  sg.  prt.  WP  74,  211  sich  bestreben  [Arius  szilies 
darodili  sunu  diewa  mazesni  tejsant  uz  dietva  tiewa  211). 

i»  prät.  szilaü  szilti  warm  werden ,  le  präs.  silstu ;  sziüas  warm  -- 
Hzildau  szildyti  caus.  wärmen.  —  f.  präs.  szylü. 

f.  styntü  slyraü  shjrti  erstarren ;  stijroB  äkys  starre  Augen  KLD. 

i«  szvinkslu  szvinkau  szvinkti  übelriechend  werden. 

i»  prät.  tilaü  tilti  schweigend  werden;  tilstus  Sz  schweigsam  <- 
iHdau  tildyti  zum  Schweigen  bringen.  —  %.  präs.  tylü  (zu  tüli) ; 
lyliü  tyleti  schweigen;  tylä  das  Schweigen,  lylüs  schweigsam.  — 
Vgl.  slav.  tolili  besänftigen. 

i*  lingslu  tingau  tingti  faul  werden;  tingiu  tinge'ti  faul  sein; 
tinginp  Faulenzer,  tinginiäuti  faulenzen;  lingüs  faul. 

i»   triszu  triszeli  N  zittern. 

i.  tvHkli,  3.  sg.  prät.  tvüke  (WP  274  ^  undeniu  karsztu  tvilkiej 
(las  indess  zu  tvilkyti  gehören  kann),  auch  G,  (mit  heissem  Wasser) 
bcgiessen;  iter.  bei  G  ap-tvilkyti  bespritzen,  benetzen. 

i.  Ie  fwirgslu  fwirdfu  fmirgt  rieseln,  grobkörnig  zerfallen;  le  fwirg- 
fde  Kies,  lit.  ivirgtdas  Kies. 


ni.  b)  e  e  a  o  (ä). 

6.  bedu  Sz  (unter  kopam)  grabe,  le  befchu  bedu  befl  schütten, 
begruben;  mol-bedis  m.  NBd  Lehmgrube;  le  bedeklis  Maulwurfshaufe; 
lo  bvilrc  Grube   ~   le  bedil  graben,  begraben.    —    €l.   f  baslis  ra.  Sz 


dd]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  361 

PfabI,  J  159.  8  «^  f  badaü  hadpi  stechen,  mit  spitzen  Dingen  stossen; 
Ihastaü-s  bastytis  sich  herumtreiben,  vgl.  bei  ^  pabastä  Herumtreiber. 
—  Die  Zusammenstellung  zweifelhaft. 

e.  8U-berbdj^  auzulas  WP  260,  su-berbijim  Upa  WW  260,  nach 
G  alt,  moosig.  —  CL.  le  ba[h)rbala^  ba{h)rbani  feine  weisse  Birken- 
rinde (lose  hangend),  alte  Lumpen,  Klunker;  "fbarbalas  N  ein  von 
Strauch  gedrehtes  Tau  an  den  Holzflössen.  —  Zusammenstellung 
zweifelhaft. 

e.  degü  degiaü  degü  brennen  trans.  u.  intr.;  degas  N  Feuer- 
brand; le  degas  f.  pl.  ausgebrannte  Stelle;  le  deglis  Feuerbrand;  le 
deguls  brennender  Schwamm;  degsnis  f.  Brandstelle;  ugnä-dektis  f.  i-st. 
und  figm-dekstis  f.  i-st.  brennende  Kälte;  dege'se  und  dege'sei  in.  pl. 
Brandstelle,  degesas  BF  106  brennendes  Stück  Holz;  degus  NSz 
Feuerbrand  -  degmti  caus.  brennen  lassen.  —  €•  nude'gulis,  nüdegul^s 
Feuerbrand  K.  —  d.  dägas  Ernte,  isz-dagas  ausgebrannte  Stelle 
(durch  Ausbrennen  urbar  gemacht) ;  dagä  Ernte,  isz-daga  von  der 
Sonne  versengte  Stelle  des  Feldes;  dag'^s  Klette,  dageti  J  584.  6 
wie  eine  Klette  stechen  (oder  wachsen?);  däglas  (daneben  diglas) 
weiss  und  schwarz  gestreift;  le  dagla  Brandfleck,  daglaim  gestreift ;^ 
le  daglis  Zunder  -  dagiöti  iter.  (zu  degü)^  z.  B.  J  380.  6;  186.  4.  — 
^«  atö-dogei  Sommerroggen. 

€•  deriü  [derü)  dereti  dingen;  taugen,  wozu  dienen,  J  498.  2 
gedeihen;  siiderme  Sz  Vertrag  (unter  rokosz)  -^  derinti  versöhnen.  — 
€1»  sändara  JSv  Einwilligung;  pa-darm  Sz  officiosus;  padaras  Sz 
{skutek)  eventus,  üz-daras  Abmachsei,  Gewürz  (vgl.  dar^ti);  äl-daras 
oflen  {at-darpi  aufmachen) ;  ap-darüs  geschickt  <«  daraü  darpi  machen 
(zum  Bedeutungsverhältniss  vgl.  d.  »machen«  =  fügen).  —  €1.  dorä 
Eintracht,  sur-si-doröti  i  1245.2,  nedorasN  lasterhaft,  pa-doHis  fried- 
fertig, das  einfache  dorus  [donos  szirdes)^  z.  B.  IG  12;  daneben  dora 
als  f.  [dora  szirdis  IG  158)  von  doras  ib.  159  bescheiden;  üz-doris 
verschliessbarer  Raum  {üzdanjti). 

e.  derkiü  derkiaü  derkti  besudeln«  —  tt.  ?  le  darks  und  darzs 
(=  ^darkis)  Schecke;  därktas  N  hässlicher  Mensch;  darkem  NM 
unreinlicher,  hässlicher  M.;  darküs  garstig  -^  darkaü  darkpi  iter.  (zu 
derkti)  entstellen,  schmähen. 

€•  dvesiü  präs.  ich  athme.  —  €.  prUt.  dvesiaü  dvesli  [nu-dv. 
verenden);  dvesimas  das  Verenden;  pri-dvesas  N  dumpfig;  le  dwesele 

25* 


362  August  Leskien,  [100 

AtheiD,  Seele,  Leben  -  dvesuti  Athem  holen.  —  a.  dvasiä  [dvase] 
le  dwascha^  dväse  Geist;  at-dvasiis  f.  oder  m.  Sz  Athmen  (unter  od- 
dech).  —  Vgl.  dus-, 

€•  elgiu'-s  elgiaür-s  elgtis  sich  betragen,  sich  wie  verhalten.  — 
a,  algä  Lohn.  —  Zweifelhafte  Zusammenstellung. 

C  erziu  knurren  -  ^zinti  caus.  zergen.  —  ft.  arza  G  Streit  (in- 
dess  kann  a  =  anl.  e  sein). 

e.  gerbiu  gerbiau  gerbti  ehren  Sz  {szanuj^),  WP  200;  ap-si- 
gerbti  sich  ankleiden  JSv  6,  8,  le  ^erbju  ^erbu  ^erbt  kleiden  (Ver- 
mittelung  der  Begriffe  »schmücken«?);  le  ap-^erbs  Kleidung.  — 
d.  garbÜ  Ehre,  bei  SzP  8  garba^  garbüs  Sz  ehrwürdig  -*  ?  le  garbät 
schonen,  pflegen,  warten;  gärbirUi  rühmen;  garbstaü  garbst'jiti  iter. 
(zu  gerbti)  KLD  rühmend  herzählen. 

€•  glemziü  glemziaü  gUmiti  zusammendrücken,  stopfen.  — 
d.  glamiaü  glamz^li  iter. 

e.  le  grebju  grebu  grebt  schrapen,  aushöhlen;  le  greblis  Harke, 
Hohleisen  -^  le  grebinät  iter.  —  <5.  gre'biu  gre'biau  grebti  harken, 
raffen;  grebhjs  Harke  -^  grebstaü  grebstpi  iter.;  grebstineü  dem.  — 
€K«  le  grabas  f.pl.  Zusammengerafftes;  grabüs  fingerfertig  '^  grahine'ti 
iter.  dem.  hin-  und  hergreifen;  le  grabinät  iter.  (zu  grebt).  —  Ä.  le 
gräbju.gräbu  gräbt  greifen,  packen,  harken,  lit.  gröbti  raffen,  packen, 
z.  B.  J  503.  1,  JSv  66;  grobi  G  Beute;  le  gräbulis  Langfinger  -  grob- 
styti  WP  14  7,  le  gräbstit  iter.   (zu  gröbti). 

e.  le  gremüt  wiederkäuen.  —  ^,  ?  le  grSmem  Sodbrennen  ULD. 

—  d.  gramsnoti  N  kauen.  —  Ä.  le  f  gräms  Sodbrennen  ULD;  gra- 
mulys  Wiederkäuballen,  grömuliüti  wiederkäuen. 

€0  gremzdu  gremzdau  gremszii  schaben ,  le  gremfchu  gremfu  gremß 
nagen,  beissen.  —  d,  pa-gramdis  N  Nachschrapsel ;  le  gramschVi  m. 
pl.  Nachbleibsei,  AbfUUe  <^  grämdau  grämdyti  iter.  schaben;  le  gramr- 
stU  iter.  zusammenraffen,  aufharken. 

6.  grendu  [grendzu)  grendau  gr^sli  reiben,  scheuem,  abschinden. 

—  d.  grandinis  m.  u.  a.  Schabwerkzeug  -  grändau  grändyti  iter. 

€•  le  grefm  prächtig.  —  d,  graziis  schön ;  grazna  Schönheit.  — 
€l»  groie  G  Schönheit,  grozybe  dss. ;  grözinti  schmücken. 

€•  kedenü  kedönti  zupfen.  Wolle  krämpeln;  le  kedinät  Wolle 
zupfen,  vgl.  le  keda^  k'edra  Spindel;  kedeti  N  bersten.  —  d»  ködas 
Wickel  von  Flachs  u.  a.,   Federbusch  der  Vögel,    Schopf  (Schleicher 


104]  Der  Ablaut  der  Würzelsilben  im  Litauischen.  363 

schreibt  kudas^  wozu  das  le  kudaVa  kudeUch  =  Hl.  küdelis  Wickel 
von  Flachs  etc.  stimmt).  —  Zweifelhafte  Zusammenstellung. 

€•  kenkia  kenke  kenkti  weh  thun.  —  CK.  känkas  NSz  und  kanka 
NSz  Qual  --  kankinti  peinigen. 

C.  pri-kergü  WP  H,  101  anbinden,  beifügen.  —  a.  su-kargpi 
iler.  verknüpfen  MLG  I.  80,  BF  121. 

ۥ  klestinti  Schi.  Don.  (nach  SchU  jetzt  klestenti)  hin  und  herschlagen 
(vom  Winde).  —  ^.  kle'styti  Schi. Don.  peitschen,  stäupen  (KLD  schreibt 
kleslyti);  dazu  einige  Worte,  deren  Schreibung  ebenso  unsicher  ist: 
klesczu  {klestu)  klesczau  klesti  N  (e;  e  KLD)  sich  bewegen,  rauschen 
(z.  B.  von  Blättern) ,  dss.  Wort  bei  N  peitschen,  stäupen ;  klestereli  N 
flattern.  Bei  KLD  [  ]  klesziü  klesziaü  kleszti  fegen  (Getreide)  und 
ebenda  ein  kletii  kleczau  klesti  (Getreide)  abstäuben.  Dazu  wohl  auch 
m-klesti  J  438.  3  (3.  sg.  fut.  svkles)  dicht  werden  lassen,  spriessen 
lassen  (Blätter),  kUstüti  (3.  sg.  prät.  kleste  J  481.  3;  806.  17, 
3.  sg.  prt.  kleste jo  J  481.  2,  kleste jo  689.  1  wohl  Druckfehler) 
spriessen;  vgl.  auch  bei  G  pa-kliesti^  ap-kliesti  (d.  i.  klesti)  bedecken, 
schützen.  —  CK.  nthklasiu  klastau  klastil  NQu  herabfallen  (wohl: 
herabflattern) ;  nü-klastai  und  nu-klastos  N,  KLD  [  ]  Getreideabfegsel  - 
klastau  klastyti  iter.   (Getreide)  abfegen. 

€•  at'si-kvempti  sich  mit  dem  Ellbogen  aufstützen  MLG  1.  130, 
BF  131  —  ät-kvampte  Seitenlehne  MLG  L  130. 

€•  präs.  lekiü  fliegen.  —  ^.  prt.  lekiaü  lekli]  lekimas  nom.  act.; 
lekikas  nom.  ag.;  le  iBkas  f.  pl.  Herzschlag;  lekei  {ä)  NQu  fliegende 
Spreu;  le  lekts  Aufgang  (der  Sonne);  le  lökschüs  (loc.  pl.  m.)  im 
Galopp  <*»  le  l6kät  iter.  hüpfen,  springen;  lekineti  dss.  —  d.  läkas 
KLD  Flug;  lakä  Flugloch  der  Bienen;  läkim  KLD  dss.;  pirmlakai  und 
pirm4akos  das  beim  Worfeln  vorausfliegende;  lakünas  Flieger  J  605. 2; 
le  lakta  Hühnerstange,  lit.  lakta  und  laksztä,  bei  N  auch  laktas;  lak- 
stus  Sz  flüchtig  (unter  pierzchliwy;  viell.  prt.  präs.  =  lakstqs  zu 
lakstaü);  läksztas  Blatt  (besonders  breites;  nach  Fick  H.  648);  laktis 
behende  MLG  I.  389.  «^  lakinti  caus.  fliegen  lassen;  lakiöli  iter.  (zu 
lekti) ;  lakine'ti  iter.  dem. ;  lakstaü  lakst'^ti  iter. 

€•  lesü  lesaü  lesti  picken,  le  lest  {lest)  rechnen,  zählen;  lesalas 
KLD  Vogelfrass  -  lösinti  caus.;  lesine ti  iter.  dem.  —  €•  le  leschu 
{listu)  Usu  lest  (neben  lest)  zählen,  rechnen.  —  U.  lasa  N  Vogel- 
frass, ap^lasa  Sz  Auswahl,  apylasus  N  wählerisch;   iszlasas  peklos  G 


364  AüGüST  Leskien,  [*02 

Auswurf  der  Hölle;  läsalas  N  (=  lesalas)  -^  lasati  lasijli  iter.  (zu  lesli)^ 
le  lasit  sammeln,  lesen. 

e.  metü  meczaü  mesti  werfen ;  ajh-melai  Schergarn ;  at-meialas  Sz 
Abwurf ,  Auswurf  (unter  odmiot) ;  tiz-meteklis  Thürriegel ;  le  e-mesls 
Einwurf;  metmenys  pl.  Schergarn;  mestüvai  Scherrahmen;  metm  N  ab- 
werfend (vom  Pferde)  -  le  metinäl  iter.  werfen.  —  d»  ät-metis  ra. 
KLD  [  ]  Stutze  am  Heu-  oder  Strohhaufen  -  metau  metyti^  le  metät 
iler.  (zu  mesti);  mÜczoti  KLD  iter.  dem.;  metliöti  BF  141  dss.;  me- 
tineti  KLD  [  ]  dss.  —  CT.  at-matas  N  Abwurf,  Auswurf,  le  atmats 
und  atmata  Dreeschland,  Stütze,  le  ufmats  und  ufmata  Zugabe  zum 
Futter.  —  Ä.  nei  mötais  einerlei  (nach  Schi,  mötas  =  Auswurf, 
Kehricht),  äp-motas  Bewurf;  isz-mota  Kehricht,  pre-mota  Anwurf 
(z.  B.  von  Kalk). 

6.  mezgü  mezgiaü  megsti  knoten,  stricken;  mezgä  Strickerin; 
mezginys  Strickzeug.  —  d»  mäzgas  Knoten;  tnahtas  N  Nadel,  Strick- 
brett der  Netzstricker  -^  mazgaü  mazfftjli  iter.  (zu  mezgü)  JSv  43; 
mazgiöti  dss.;  makstyti  dss.  flechten  BF  138. 

€•  nersziü  nersziaü  nerszti  laichen;  net^sziu  nerszeti  KLD  [  ]  dss. 
—  €t.  närszas  Laich ;  isznarszos  Rogen  (KDL  unter  »Fischbrut«) ;  d/>- 
narszas  Milchner;  narszlai  Laich;  närsztas  Laich  und  Laichzeit  [närszto 
czesas)^  le  narsts  und  narsta  ***  le  narstil  laichen. 

€•  neszü  nesziaü  neszti  tragen ;  lauk-neszä  Holzgefäss  zum  Hinaus- 
tragen des  Essens  aufs  Feld;  -neszi^s  (in  Comp.)  Träger.  —  6.  le 
nSsis  Achseljoch  {koromyslo) ;  neszczä  schwanger  (so  K)  ^  le  nösäl 
iter.  (zu  nesl).  —  €€•  pränaszas  Prophet;  sq-naszos^  le  sa-naschas 
(zm  ^nas-jäs)  Zusammengetragenes,  Zusammengespültes;  le  naslis^  pl. 
naschti  Schilf,  Rohr  (vom  Flusse  getragenes);  nasztä  Last;  näszczei 
Wassertrage  (Achseljoch);  naszüs  KLD  fruchtbar,  naszus  iirgas  IG  13 
Reitpferd  -  naszinti  NSz  Gerücht  verbreiten.  —  Ä.  sq-noszai  Zu- 
sammengespUltes  (bei  Überschwemmungen) ;  le  näscha  Achseljoch ; 
le  (dial.?)  nüsa^  nusis  Heutrage  -»  noszczoti  Gerücht  verbreiten. 

€•  le  pel'u  pell  schmähen.  —  ^.  le  prät.  p^lu\  le  p(tläjs  nom. 
ag.  -  le  pelH  iter.  schmähen.  —  €1.  le  patas  f.  pl.  Tadel. 

€•  le  perpt  ULD  quienen,  verrecken.  —  d.  parpiü  parpiaü 
pärpli  knarren,  quarren;  parplp  KLD  knarrender  Käfer;  parpstü  par- 
j)aü  pärpH  aufdinsen;  vgl.  pürpti  sich  aufblähen. 

e*  pra-perszis  m.  N  Blanke  im  Eise.  —  (€•  praparszas  NSz  Graben. 


103]  Der  Ablalt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  365 

€•  peszü  pesziaü  peszti  abreissen,  rupfen,  pflücken ;  peszeklis  Mis(- 
haken;  peszlüves  Rauferei  '^  peszinüli  iler.  dem.  —  (l.  päszinas  Splitter 
(eingerissener,  in  die  Hand)  --  paszaü  paszpi  iter.;  pasziöü  J  556. 
3  dss. 

e.  pr  issprestun  verstehen,  isspresnan,  mpressenien  nom.  act.,  iss- 
prettingi  nämlich  (die  Formen  sind  mit  Ausnahme  des  einmaligen 
ispresnä  immer  ss  geschrieben,  woraus  indess  auf  eine  Wurzelform 
sprel  nicht  geschlossen  zu  werden  braucht).  —  fl.  pranlü  prataü 
präsii  gewohnt  werden  {sthpr.  verstehen).  —  Ä.  prötas  Verstand. 

6«  regiü  rege'li  schauen;  nur-rega  Sz  Scharfsinn;  le  nü  regas  von 
Angesicht;  le  redfe  Sicht,  nu  redfes  so  viel  man  sehen  kann.  — 
Cl.  surragi^hos  Brautschau  MLG  I.  76;  ^  rägana  Hexe. 

€•  rembiu  rimheti  KLD  [  ]  träge  sein,  von  Pflanzen:  nicht  recht 
wachsen,  le  apremhH  im  Wachsthum  zurückbleiben.  —  d.  rambiis  träge. 

6.  f-si-renz^s  prt.  prät.  a.  sich  gereckt  h.,  isz-sl-rfzU  MLG  L  226 
(geschrieben  isz^-si-reiti)  sich  ausrecken,  sich  stemmen.  —  Ol.  rqzas^ 
pl.  rqiai  (geschrieben  räzas)  »ein  blätterloses,  dürres  Reis,  eine  Stop- 
pel, pl.  Stoppeln,  Besenstumpf,  Zinken  einer  Forke«,  vgl.  tfi-rqzis 
dreizinkig,  vgl.  auch  jis  eil  sävo  raiü  »er  geht  seine  Nath  weg,  nach 
seinem  Kopfe«  KLD  (dieselbe  Bedeutung  hat  eüi  rmtö.Don.,  viell. 
r^sziüf,  und  eiti  sävo  röszlu  KLD  [  ];  le  rufe  langgestreckter  Hügel 
Bi  L  261 ,  le  rüfes  Reissen,  Gliederschmerz  (=  ^ranzes)  -  rqzau  rq- 
zyli  recken  (bei  B  ransziti-s  ist  zu  lesen  raniyli-s)^  le  rüfiles  sich 
recken,  Reissen  haben.  —  Ausser  der  Reihe  ?  reiziü-s  rciziaus  reizli-s 
sich  brüsten,  sprändq  i-si-reizfts  pt.  prät.  a.  Nacken  aufsetzen,  hart- 
näckig sein,  vgl.  die  Schreibung  räizau-s  räizyti-s  sich  recken  {=  rq^ 
zyli-s).  Diese  Formen  mit  t-Diphthong  setzen  eine  mir  nicht  bekannte 
Stufe  mit  i  voraus. 

€•  le  repu  repu  rept  Callus  ansetzen,  zur  Heilung  bewachsen.  — 
(Im  ap-rapstaü  rapstpi  iter.  mit  etwas  Dickflüssigem  bespritzen  KLD 
nach  M. 

€.  reszkiu  reszkiau  rekszti  pflücken  N.  —  CK«  faszkau  raszkyli 
iter.  NSz,  JSv  49,  BF  162. 

€•  segiü  segiaü  segti  heften.  —  €•  apsega  Einfassung,  Clausur 
(so  schreibt  K  N's  apsega).  —  CT.  sägas  und  sagä  etwas,  womit  die 
Leinwand  beim  Bleichen  festgelegt  wird,  pnysaga  N  Heflnadel,  pa- 
saga  Sz  (unter  poprqg)  cingula,  pä^sagas  Hufeisen  J  958.   17;  sagtis 


366  AoGüST  Leskien,  [^04 

f.  i-st.  Schnalle  (bei  J  84.  7  sägtis  m.),  le  sagts  und  sagte  -  sagaü 
sagyli  iter.  (zu  segti)^  z.  B.  J  1134.  SS5;  sagiöti  dss.,  z.  B.  J  SJO.  8; 
sagstaü  sagst^ti  dss.  J  831.  7. 

€•  sekü  sekiaü  sekti  folgen ;  sehne  N  Gelingen ;  ped-sekis  N,  KLD 
Spürhund.  —  (Z.  ped-sakas  Aufspürung  der  Fährte,  Fährte  -  sakiöti 
iter.  N;  le  sakstit  iter.  suchen,  spüren  nach  etwas.  —  (%•  pe'd-sokas 
(=  pe'd-sakas)  LB  S.  1 50  in  einer  Daina. 

€•  sekme  Sz  Fabel,  Erzählung  (bei  Sz  unter  bäm  steht  sekmes) ; 
sekmis  f.  i-st.  NSz  dss.  (bei  KLD  [  ]  m.) ,  sekmim  NSz  Fabelerzähler  - 
pä'saka  Märchen;  üi-sakas  JSv  10  Aufgebot  «^  sakaü  sakpi  sagen. 

e.  sein  seleti  schleichen;  selomis  N  adv.  i.  pl.  schleichend.  — 
e.  ?»e/ena  Getreidehülse;  selintiKLD  schleichen,  nachstellen;  selineti 
ib.  [  ]  iter.  —  €?.  pa-salä^  davon  isz-pasalü^  pasalöms  unvermerkt, 
vgl.  pasalü  G  in  aller  Stille,  pasalus  G  einer,  der  hinterlistig  über- 
fällt, pasalas  N  betrügerisch. 

€•  semiü  semti  schöpfen.  —  C.  prät.  semiau;  nom.  act.  semi- 
mas,  —  n.  sämtis  m.  Schöpflöffel  -^  sanislaü  safnshJÜ  iter.  J  144.  3 
{sämstau  sämstytt). 

€•  sergiu  sergeti  behüten,  bewachen.  —  Ä.  sarga  N  Wache, 
al'sargä^  ap-sargä  Hut;  särgas  Wächter;  sargüs  wachsam  «^  le  sargät 
hüten. 

€•  skelsiü  skelsiaü  skelsti  verschlagen,  vorhalten  (ausreichen).  — 
€1.  skalsä  das  Verschlagen,  skalsüs  versch lagsam  -^  skälsinli  caus. 
machen,  dass  etwas  verschlägt. 

€•  skfstü  skendaü  sk^sti  untersinken,  ertrinken;  skendtUis  N  ein 
dem  Ertrinken  naher,  Ertrunkener;  skendin^s  N  dss.;  skendanis  KLD 
dss.;  skendu  {skSndeju)  skendeli  im  Ertrinken  sein.  —  d.  paskandü^ 
lele  (demin.  eines  paskandtde^  m.  -dtdis)  Ertrunkene  J  278.  6  -  skanr- 
dau  skmidpi  ertränken ;  skandinti  dss. 

€•  smengü  smegaü  smegti  wo  hineinfahren  und  stecken  bleiben. 
—  (l.  präs.  smagiü  schleudern;  smagüs  geschmeidig,  handlich,  ange- 
nehm ,  smagurei  Leckerbissen ;  ?  le  smags  und  smagrs  schwer  von 
Gewicht,  lastend;  smagüs  N  schwer  zu  tragen,  zuziehen;  ^  smägenes^ 
smägines^  le  smadfenes  Gehirn,  Mark,  lit.  dantü  smägines  Zahnfleisch, 
le  smaganas.  —  ^«  präs.  smogiaü  smögti  (zu  smagiü);  srnogimas  nom. 
act.;  smogikas  nom.  ag. ;  sq-smoga  NBdM  Meerenge;  smögis  m.-  hef- 
tiger Wurf,  Schlag;  smoge  N  Hieb.  —  Vgl.  smeigiü. 


105]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  367 

e.  smerkiü  smerkiaü  smerkti  nach  KLD  in  Noth  zu  versetzen 
suchen,  nu-smerkti  umbringen,  pa-smerkti  B  verderben.  —  tt.  smar- 
küs  grausam. 

e.  le  snerdfe  Rotz;  le  snerglis  dss.,  nach  N  auch  lit.  snerghjs.  — 
a.  snargljs  Rotz. 

€•  stegenjs  Stengel,  Strunk.  —  «•  slägaras  dss. 

€•  szelpiü  szelpiaü  szelpti  helfen.  —  U.  paszalpä  Hülfe. 

€•  szvelpiu  szvelpti;  präs.  szvepliü;  szvepliöti;  szvepletUi  lispeln; 
szveplys  Lispler.  —  «.  szvaplp  Lispler;  szvapus  MLG  I.  391  viel 
lispelnd.  —  Vgl.  oben  szvilpti  pfeifen. 

e.  tekü  teketi  laufen,  fliessen;  le  teka  Fusssteig,  vgl.  lit.  isz-teka 
Mündung  (eines  Flusses) ;  ^^rm^'  Quelle,  Bach;  tekinas  laufend,  im 
Lauf  ^  tekineti  iter.  dem. ;  le  tezinät  caus.  laufen  lassen.  —  €•  le  iter. 
tökät,  —  Cl»  täkas  Pfad;  nutaka  mannbares  Mädchen  {nur-teketi  hei- 
raten), iszr-taka  Mündung,  ap-takä  Umlauf  (Geschwulst  an  der  Nagel- 
wurzel) ;  nütakana  in  der  Wendung  vandu  yrä  nütakanoj  das  Wasser 
föllt  KLD  [  ].  —  ä.  i-toka  N  Mündung. 

6.  telzu  telzti  bei  G  soll  »beharnen«  bedeuten;  ebenda  ein  su- 
talzli  durchprügeln.  —  (l.  talzyti  MLG  L  383  prügeln,  talze  3.  sg. 
prt.  WP  97  schlagen,  le  talßt  u.  talstit  durchprügeln. 

€•  tepü  tepiaü  tepti  schmieren;  tepalas  Schmiere;  pa-tepte  Sz 
Schmutzfleck  -  tepliöti\  ieplenti  schmieren.  —  d.  tapioti  iter.  WP  75; 
tapineti  G  iter. 

€•  ?le  terpju  terpu  terpt  kleiden,  schmücken;  pr  en-terpo  es 
liülzL  —  (€•  iarpä  Gedeihen,  tarpslü  tarpaü  lärpti  gedeihen  (denom.?). 

e.  le  teschu  lest  mit  dem  Beil  behauen;  le  tesele  eine  Art  Beil. 
—  e.  prüt.  iBm  (auch  präs.  teschu^  inf.  lest).  —  (€•  taszaü  taszpi 
iter.  dss. 

€•  trendu  [trendzu)  Irendeti  von  Motten,  Würmern  zerfi-essen 
werden.  —  d.  trandis  f.  i-st.  Holzwurm,  Motte,  nach  KLD  pl.  irändys 
Staub  des  Holzwurms, '  nach  N  trandis  m.  dss. ;  trande  Motte  -  tratir- 
deti  KLD  nach  M  von  Motten  zerfressen  werden. 

€•  präs.  tresiü  läufisch  sein.  —  ^.  prät.  tresiaü  tresti,  —  CT.  Irasä 
käle  KDL  (s.  v.  brünstig)  läufische  Hündin  -  trasyti  iter.  B  (==  te- 
kineti) . 

6.  treszkü  treszketi  knistern,  prasseln.  —  €€•  trakszmas  NSz 
Krachen;  traszkü  traszketi  (=:  treszketi) ;  träszkinti  caus.  prasseln  machen. 


368  August  Leskien,  [<06 

e.  vedü  vedziaü  vesti  führen,  heirathen  (vom  Manne);  nauvedä 
und  nanvedzä  Bräutigam;  vedp  und  vedlp  Freier.  —  (l.  vädas  Führer, 
le  wads,  üzvadas  I  622.  1  Vertheidiger ;  pa-vadä  zweite  Frau;  vädzois 
Fahrleine  ~  vadzöti^  le  wadät  iter.  —  Ä.  i-voda  N  Wasserleitung 
(Einführung) . 

ۥ  zembu  zembeti  zu  keimen  anfangen  (eig.  spalten,  zerreissen). 
—  Ct.  iämbas  Balkenkante  KLD  [  ]  N,  i-zambis  {izumbis)  Sz  (unter 
ukosny)  schräge. 

€•  zvelgstu  zvelgti  Sz  plappern;  zvelgseü  ebend.  dss.  —  U.  le 
ftvalkschet  Scherben  an  einander  schlagen,  mit  Schellen  läuten, 
schwatzen  ULD. 

Die  primären  Verba,  bei  denen  kein  Ablaut  (ausser  etwa  e 
neben  e)  nachweisbar  ist: 

ۥ  berszti  (3.  sg.  pr.)  javai  bei  M  das  Getreide  wird  weiss. 
Unsicheres  Wort. 

e»  tiThblesta  ugnis  das  Feuer  wird  klein;  blestereti  sich  legen 
(vom  Winde). 

6.  brezü  brezeti  rasseln. 

e*  brezgü  brezgeli  stammeln. 

e.  delsiü  delsiaü  delsli  säumen,  zögern. 

e»  densti  sich  bedecken,  schützen  G. 

e»  esmi  ich  bin.  —  €•  esqs  prt.  präs. 

e.  gebu  gebeli  pflegen  =  gewohnt  sein,  giebieli  WP;  giebus  G 
gewohnt  {ie  nur  zur  Andeutung  des  erweichten  jf,  nicht  =  e  oder  e). 

e.  geniü  gene'ti  ästein;  genp  Specht  (Baumhacker,  Fick  11.546). 

ۥ  le  gwelfchu  gtvelfu  gwelft  verklatschen,  verleumden. 

€•  isz-gver^s  ausgeweitet  (daneben  m-dverf«),  bei  KLD  von  gver- 
slu  gveraü  gveiti  sich  ausweiten;  isz-gverinti  caus.  KDL  unter  »aus- 
buttern «. 

€•  kepü  kepiaü  kepli  backen;  kepsnis  f.  i-st.  Gebackenes,  Ge- 
bratenes. 

€•  Ig  k'eschü-8  [wirsü]  k'esü-s  k'esle-s  sich  aufdrängen.  —  ^.  ?  fce- 
saü-s  kesijti-8  sich  unterfangen,  Miene  machen  etwas  zu  thun. 

€•  kelü  keleli  beabsichtigen. 

6.  klenkü  klekaü  klekti  gerinnen,  stiklek^s  geronnen,  daneben 
sii-krckfs;  le  krezu  krezSt  gerinnen,  bei  N  lit.  kreku  kreketi;  vgl.  sq- 
krekos  N  Glumse  u.  a.;  sth-kldkinti  gerinnen  machen. 


^07]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  369 

m 

ۥ  ap'klepiu^  -klepti  B  fassen,  begreifen. 

€•  üz-lempu  lepau  lepii  N  sich  verzärteln,  gewöhnl.  lepstü  lepaü 
lepti^  viell.  denom.  von  lepus  weichlich. 

ۥ  ap'lepti  Sz  unter  ogatmqc  amplecti  (mit  /,  also  nicht  wie  bei 
KLD  lepti  zu  schreiben). 

e.  le  nemu  nemt,  —  d.  le  A€mu  nehmen. 

e.  peldu  peldeti  B  sparen,  schonen,  unterlassen. 

ۥ  le  peldu  peldH  schwimmen. 

€•  penü  peneti  nähren,  mästen;  penas  Futter. 

ۥ  pendzu  {pende'ju)  pende'ti  stocken,  trocken  faulen;  iszpendis 
m.  KLD  trocken  Ausgefaultes. 

e.  periü  pereti  brüten;  peras  Brut. 

€.  perszt  perszeti  schmerzen;  persztdp  Schmerz. 

ۥ  plaukai  pa-peie  G  die  Haare  stehen  aufrecht. 

6.  plempti,  prt.  prät.  a.  f.  plempus[i)  JSv  9,  J  348. 3  schlemmen  (?). 

€.  plezdü  [splezdü)  plezdeti  flattern. 

€•  pleszkü  pleszkeli  prasseln. 

e.  selbe  3.  sg.  prt.  J  965.  10  schwatzen  (?). 

€•  sklepiu  sklepiau  sklepti  wölben  N;  sklepas  Gewölbe. 

e.  sklempiü  sklempiaü  sklempü  glatt  behauen. 

€•  skrentü  skretaü  skresti  sich  mit  einer  (Schmutz) kruste  über- 
ziehen, ap-skresli  verharschen  (Wunde). 

6.  le  stnel'u  smelt.  —  6.  le  prät.  sm^lu  schöpfen. 

ۥ  spengia  spenge  spengti  klingt  in  den  Ohren. 

€•  srebiü  schlürfen.  —  €•  prät.  srebiaü  srebti  (K  auch  präs. 
srebiü).     Daneben  sriobiü  sriobiaü  möbti  {sriübti). 

€•  stelbiü  stelbiaü  sleWli  schal  werden. 

€•  8zelbiu-8  szelbiaü-s  szelbti-s^  M  sich  zu  helfen  suchen. 

e.  sznetikü  sznekaü  sznekli  anfangen  zu  reden;  sznekü  sznekeli 
sprechen;  szneküs  gesprächig;  szneklä  Gerede. 

6.  tenkü  lekaü  tekti  hinreichen. 

e.  -tesiü  'teseti  ausführen,  ausrichten. 

6.  vebzdü  vebzdeti  wimmeln. 

€•  pa-^elti  B  erlauben;  velyti  wünschen. 

ۥ  le  sa-ivergt  eintrocknen,  einschrumpfen  ULD. 

€•  zerplü  {zerpliü)  zerpleti  glühen. 

€•  zlembiu  zlembiau  zlembti  etwa  »jammern«,  z.  B.  J 1 1 28. 5,  1 21 6. 3. 


370  AüGüST  Leskien,  [^08 

IV.    e  a  ö  (a). 

e.  begti  be'gau  begti  lauFen,  fliehen;  he  gas  Lauf;  prj-bega  Asy\; 
be'gis  m.  Lauf;  hegte*  Lauf;  le  heglis  Flüchtling;  begus  N  flüchtig  ^ 
beginti  caus.  laufen  machen;  b^gineü  dem.  iter. ;  begioti  iter.  — 
ä.  boginti  etwas  flüchten,  fortschaffen. 

d.  le  brßzu  brezu  brekt  schreien  -  le  brekal  iter.  —  €1.  le 
bräk'^t  iter.  schreien. 

ۥ  glebiu  glebiau  gle'bii  umfassen  (mit  den  Armen),  le  gUbt\ 
glebp  Armvoll.  —  CT.  le  ghbät  hüten,  bewahren,  warten,  lit.  ap- 
glaböti  sich  um  Jem.  bemühen,  pflegen  MLG  L  69,  ?  dazu  auch 
glaboü  bitten,  anflehen,  z.  B.  WP  196.  —  CT.  glöbiu  glöbiau  glöbti 
umarmen,  umhüllen,  le  gläbju  gläbu  gläbt  retten,  schützen;  globa  N 
Umarmung,  le  gläba  Lebensunterhalt,  Auskommen  >-'  globöti  iter.  (zu 
glöbti) . 

^.  plekiu  plekiau  plekti  prügeln  (Schi.  Don.  schreibt  e,  schwer- 
lich richtig) ;  plekis  m.  das  Prügeln.  —  CT.  plakü  plakaü  pläkti 
schlagen,  peitschen ;  le  plüku  {:=  ^planku)  plaku  plakt  flach  werden, 
platt  hinfallen ;  nu-plakos  Schwingelheede ;  le  plaku,  plakam  adv.  flach, 
platt  auf  der  Erde;  le  plakans  flach;  plakte  N  Hieb;  plaktüvai  Sensen- 
klopfzeug,  plaktuve  Schwingmesser  (beim  Flachs) ;  plaksztas  N  der 
Prügel.  —  CT.  plökas  N  Estrich;  plökis  N  Streich,  Hieb;  le  pläze' 
Schulterblatt,  \g\.  pläzenis  flacher  Kuchen;  le  plakans  {neben  plakans) 
flach;  plökszczas  flach;  ?  le  plüzi  m.  pl.  Lage,  Schicht. 

6.  reju  rejau  reti  heftig  losschreien.  —  CT.  le  räju  räju  rät 
schellen. 

e.  replomis  (i.  pl.  eines  repla)  eiti  kriechend,  auf  allen  Vieren 
^ehen '^  repliöli  kriechen;  replinti  etwas  plump  (gewissermassen :  auf 
alle  Viere)  hinstellen;  replineti  iter.  kriechen;  repsaü  repsöti  plump 
daliegen.  —  CT.  le  räpju  räpu  rapt  kriechen,  iter.  le  räpät;  le  räpu 
et  kriechen. 

^.  reziu  reziau  rezli  schneiden;  rez^s  Schnitt  **'  rezau  rezyli 
iter.  —  e  ist  die  urspr.  Form  (vgl.  slav.  rfzati  —  razi),  aber  da- 
neben steht  e:  reziu  rSziau  rSzti;  at-rezai,  ätrezos  K  Abschnittsei, 
und  dazu  ai:  raizti^f  BF  162  schneiden;  le  raife  schneidender 
Schmerz;  raisztas  N  Kreis  -  rditau  räizyli  iter.  schneiden. 

^.  sle'giu  slegiau  slegti  bedrücken,  pressen,  le  sUgl  schliessen ;  le 


409]  Der  Ablaut  der  Wurzelsuben  im  Litauischen.  371 

slegs  Bürde;  le  at-slöga  Schloss;  slegtis  f.  Presse;  siegte'  dss.  KDL.  — 
ttm  slogä  Plage,  at^slögo  3.  sg.  prt.  (eines  präs.  atslogstu)  J  589.  5 
vomDrucke  frei  werden;  slogai  N  Hölzer  zum  Beschweren  eingeweichten 
Flachses;  slogüs  N  beschwerlich;  le  slügs  Last,  aif-slügs  Riegel  - 
sloginti  plagen ;  le  slüdßt  bedrücken,  beschweren ;  le  slügät  und  slügut 
dss.  —  Vgl.  übrigens  le  sluga  Last,  Plage  Bi  L  257. 

€•  stegiu  ste'giau  stegti  Dach  decken;  ste'gius  Dachdecker.  — 
€1.  stögas  Dach. 

e.  zeriü  zere'ti  strahlen.  —  (l.  pazäras^  paziäras  Schein  am 
Himmel;  zarijä  glühende  Kohle.  —  Ä^  paziwa  Wiederschein  am 
Himmel;  zioröti  K  glühen. 

Primäre  Yerba  mit  e  ohne  Umlaut: 

le  hleju  biet  blöken. 

hre'kszta  breszko  brekszti  anbrechen  (vom  Tage) ;  ap^-brdszkis  m. 
Tagesanbruch. 

demi  {dedü)  dejau  de'ti  legen  (doch  sind  dabei  Formen  wie 
prS'das  Zugabe  zu  berücksichtigen). 

drä'kstu  drekau  dre'kti  feucht  werden;  dregnas  und  dregnüs  feucht 
Das  k  in  dre'kau  ist  vielleicht  aus  Präs.  und  Inf.,  wo  k  lautgesetz- 
lich für  g,  eingedrungen. 

edu  {emi)  ediau  e'sti  fressen;  edrä  NBD  Thierfutter,  edriis  ge- 
frässig;  ^'dem  m.  Frass;  edis  m.  N  Frass;  edzos  Raufe';  edmenys 
pl.  N  Fresse  (Maul),  u.  s.  w. 

jegiü  jegiaü  jegli  Kraft  haben,  vermögen,  le  jSgt;  nu-jegä^  le 
jpga  Einsicht. 

ap-ke!i§8  verkommen,  im  Wachsthum  zurückgeblieben,  pt.  prät. 
a.  [e  schreibt  KLD  unter  kezu^  dagegen  ap-kiezelis  Zwerg). 

me'gstu  megau  megti  Wohlgefallen;  meginti  prüfen. 

meziu  meziau  mezti  Dünger  machen,  misten,  mezlai  Mist,  le 
mBfchu  mefu  meft^  mBsls  (also  nicht  mSzti  zu  schreiben). 

plekstu  plekau  pU'kti  moderig  werden. 

reju  rejau  reli  KLD  aufschichten;  rekles  Stangen  hinter  dem 
Ofen  zum  Holztrocknen. 

se'ju  sejau  seil  säen;  semü  Same;  seklä  dss.;  sejis  m.  das 
Aussäen. 

skeczu  skeczau  skesti  ausbreiten  (von  Pflanzen:   Blätter,  Aeste). 

speju  spejau  speli  Müsse  haben  u.  s.  w. 


372  AcOlsT    U»K1£5.  HO 

Mzehtü-ii  $zMßiaU'$  nzehii-n  aufzukommea.  sich  za  helfen  suchen, 
M  u.  MDÄt  lief  N. 

pa-Hzel^jf  toll  geworden  pL  prt.  a. 

le  r^/r/ti  wepu  v^t  Decke  omlegen  Bi  L  3o8. 

re'iflu  renau  re$Ü  sich  abkühlen:  re^a  Sz  unter  ocModa  Külüe: 
pa-^rf^fOH  m.  kühler  Schatten;  reiswt  kühl. 

iebih  zi'biaü  zebti  »langsam,  mit  langen  Zähnen  essen«. 

V.    a  o  (a). 

Um  ariü  ariaü  ärii  pflügen;  le  ara  und  are  Ackerland;  arklas^ 
le  arkls  Pflog;  arkl;js  Pferd  ^Pflüger  .  —  «.  ore  Pfliigezeit. 

a»  balü  balaü  bälti  weiss  werden;  le  balgans  weisslich;  bällas 
weiss ;  ballU  bei  Sz  f.  und  m.  bieliJlo  ,  bei  K  m.  weisser  Farbstofl*; 
balwoH  MLG  l  387  weisslich  -  bälinti  bleichen  J  251.  23,  le  fra- 
lifiäL  —  l!l#  le  pt.  prät.  a.  nubälis  erblichen  ^lit.  ^nu-bolfs) ;  le  bäls 
'wäre  lit.  *^bolas)  bleich  '«^  le  frä/e/  erbleichen. 

Um  bariü  [barü]  bariaü  bärti  schelten;  bamis  f.  i-st.  Zank;  barus 
und  barnüs  N  (letzteres  bei  Sz  unter  niespamy)  streitsüchtig.  — 
Ä.  le  prät.  bäru  zu  bafu  bart  —  wäre  lit.  ^fconaii);  le  bär^js 
Zänker. 

(Im  bäimas  Masse,  Menge;  le  bafcha  Habe,  le  bafchas  f.  pl. 
Verlegenheit  {bafchäs  tikl  zwischen  Thür  und  Angel  gerathen).  — 
^«  le  bafchu  bäfu  bäft  stopfen ;  le  bäßs  Senkstein  im  Netzbeutel ; 
bdimas  Netz  (des  Bauches) ;  ?  böte  [buze)  Keule,  Klöppel  am  Dresch* 
flegei,  vgl.  aber  le  bufe^  baufe  dss. 

Um  blaszkai  N  x> vorgeklopftes  Getreide«  (bei  N  auch  bleszkaiT]  *« 
bloMzkaü  blaszkpi  iter.  hin-  und  herschleudem ;  blaszkinii  dss.  — 
dm  bloszkiü  bloszkiaü  blokszli  bei  Seite  schleudern,  bei  N  auch  »Ge- 
treide vorklopfena. 

Um  braszkü  braszkeli  krachen,  prasseln;  bräkszmas  das  Krachen; 
iäz^braszkos  bei  KDL  s.  »Buttermilch«  (mit  ?  vers.) ;  braszküs  prasselig 
--  surbraszkau  braszkyti  N  zusammenschutteln  (einen  Sack  Getreide) ; 
bräszkinli  prasseln  machen.  —  Um  broszkiü  broszkiaü  brökszti  [svSstq) 
buttern  (eigentl.  »schütteln«);  brokszlüvas  Butterfass. 

Um  gabdnti  bringen,  holen;  gabanä  Armvoll.  —  ä.  par-gobinti 
WP  !18  bringen  lassen,  N  hat  gobinli  als  »schachern«,  pra-gobelis  als 


Hl]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  373 

»Durchbringer ,   Verschacherer«.   —  Hierher  auch  "!  gobeli  begehren, 
gobus,  gobszas,  gobszis  begierig,  gobuiis  Begier,  alles  bei  G. 

a.  atr-kalte'  und  ät-kalta  Rückenlehne  MLG  I.  45,  BF  97.  — 
&•  atsikölti^  pt.  prät.  a.  at-si-köl^s  angelehnt  KDL  unter  »lehnen«. 

dm  kariü  kärti  hängen;  le  pa-kars  Haken;  aüs-kara  Ohrring; 
karulei  N  hangende  Eiszapfen;  kärtuves,  le  kartawas  Galgen;  kärlis 
f.  i-st.  Slange;  karüs  N  hängend,  schlafif  (aus  Sz  unter  obwisly^  wenn 
nicht  pt.  präs.  =  kariqs)  «^  le  iter.  karäle-s  hangen ,  sich  schaukeln ; 
kärstau  kärstyti  iter.;  karstine' ti  dem.  iter.  —  €1.  prät.  köriau,  le 
fcärw,  (zu  kariü);  körimas  nom.  act.;  ?  le  kärs  lüstern;  pa-kore  Galgen; 
tkonjs  Wabe. 

d.  klänas  Pfütze.  —  Ä.  klone  KLD  dss.;  klonü  m.  niedrige 
Stelle  im  Acker. 

U.  läbas  gut.  —  Ci.  löbis  m.  Gut,  Reichthum,  davon  wohl 
denom.  lobsln  lobaü  lobti  reich  werden  (kann  indess  primär  sein)  -- 
lobinti  bereichern. 

d.  laszü  lasze'li  tropfen;  läszas  Tropfen  --  läszinti  träufeln; 
lasznöti  tröpfeln.  —  Ä.  le  läsa  und  läse  Tropfen;  le  /ö^tnaf  tröpfeln. 

d*  mäzas  klein,  denom.  davon  mazlü  mazaü  mäzli  klein  werden; 
üz  mazens  von  klein  an.  —  d,  mdzis  m.  Wenigkeit,  mäz-mozei 
Kleinigkeiten. 

d*  skanüs  wohlschmeckend.  —  d.  skän-skonei  Leckerbissen; 
skoneii  wohlschmecken;  ?le  skänsch  (=  ^skänjas^  das  ein  skänus 
vertreten  kann)  sauer. 

d.  skapias  Schnitzmesser;  skaplis  G  Hohlaxt  •«  skapoti  N  schaben, 
schnitzen;  skapstaü  skapsUjti  KLD  [  ]  dss.  —  d.  skopiü  skopiaü  sköpli 
mit  dem  Messer  aushöhlen  (K  u)\  skoptuvas  G  Hohlmesser. 

d.  stäkles  Webstuhl  (eigentl.  nur  »Gestell«) ;  le  staklis  Zacken, 
iÜlinke;  pr  stallt  {stalllt)  stehen;  le  stats  Pfahl;  üz-statas  Pfand;  pa- 
State  NM  Ansehen,  natürliche  Beschaffenheit;  pastatuve  NSz  Unter- 
läge;  statüs  steil;  statines  Zaunlatte  «^  stataü  statyti  stellen;  statine li 
dem.  iter.  {zu  staUjli).  —  d»  stöju  stojau  stöti  sich  stellen;  pr  stä" 
nintei  adv.  eines  part.  präs.  einer  Präsensbildung  wie  slav.  stane-tb; 
le  stads  Pflanze,  le  städit  setzen,  stellen,  pflanzen;  pa-stölas  Gestell; 
stomu  Statur;  le  stästs  Erzählung,  le  stästlt  erzählen;  le  stäws 
Wuchs,  Gestalt,    le  stäws  aufrecht  stehend,   steil,    le  släive  und  stäwi 


374  August  Leskien,  [442 

m.  pl.  Webstuhl,  stovä  Stand,  Standort,  davon  stöviu  stovüti  stehen, 
stovineti  dss.  dem.  iter. ;  stovis  NSz  f.  i-st.  Zustand. 

a.  szälü  szalaü  szälli  frieren,  le  präs.  saktu;  le  sals  Frost; 
szalnä  Reif;  szältas  kalt;  szältis  m.  Kälte  -^  szäldau  szäldyti  caus. 
frieren  machen;  le  saldBt;  saldinät  (lit.  szäldinti)  dss.  —  (t.  pa- 
szohjs  Frost  in  der  Erde,  Nachtfrost. 

(l.  szankm  Sz  (bei  Sz  szunkus  =  szankus)  behende,  beweglich ; 
at-szanke  Widerhaken,  bei  N  auch  alszanha  '^  szankinti  springen 
lassen  (ein  Pferd) .  —  Ä.  szöku  szökau  szökti  springen ,  ?  dazu  le 
säkt  anfangen;  szökis  m.  Sprung  «^  szokinli  N  caus.  (=  szankinli); 
szökczoti;  szokineti;  szoktereti  iter.  dem.    (zu  szökti). 

CL.  szlampü  szlapaü  szläpti  nass  werden  (kann  auch  denom.  sein 
von)  szläpias  nass  '^  szläpinti  nass  machen ;  le  slapät  dss.  —  Ü»  szlop- 
me'  [szldp-me')  BF  183  Nässe. 

a«  präs.  vagiü  stehle;  vagis  m.  i-st.  Dieb  -^  väginti  des  Dieb- 
stahls beschuldigen;  vagine ti  iter.  dem.  (zu  vagiü).  —  Ct.  vogiaü 
vogti  (prät.  u.  in  f.  zu  vagiü) ;  vogimas  nom.  act. ;  vogte  und  vogczä  N 
verstohlen  adv. 

U»  pri-valüs  nöthig ;  prir-valaü  valpi  bedürfen ;  ?  valioti  etwas 
zwingen    =   vollbringen  können.  —  Ct.  pr^vole^  pr^ole  BedUrfniss. 

Cl.  zadü  zadeti  versprechen ,  präs.  pra-zandu  Sz  (unter  nazywam) 
benennen,  isz^zandu  Sz  aussprechen;  iädas  in  be  zädo  sprachlos;  pa- 
zadä,  prt-zada  Gelübde;  pre-zastis  f.  i-st.  Ursache;  pra-zastis  m.  N 
Spottname,  Beiname  ~  zädinti  sprechen  machen,  anreden.  —  ä.  zödis 
ra.  Wort,  denom.  zostu  zodau  zosti  N  Worte  machen;  zosme  JSv  48 
Rede  -  zösczoti  sprechen  JSv  8. 

Die  primären  Verba  mit  a  ohne  Ablaut: 

adaü  adpi  nähen  (Form  des  Iterativs);  adatä  Nähnadel. 

ap-äl§8  pt.  prät.  a.  KLD  [  ]  aus  Bd  abgemergelt. 

ankü  akaü  äkti  Augen  bekommen,  wohl  denom.  von  akis  Auge. 

älkstu  älkau  älkti  Hunger  bekommen,  hungern  nach;  iszalkis  m. 
Hunger. 

alpBtü  alpaü  älpli  schwach  werden;  älpnas  schwach. 

barszkü  barszketi  klappern;  barksznöti  iter.   (vgl.  burksznöti). 

bläzgu  bläzgeli  klappern;  bläzgyti  und  bläzginü  caus. 

galiü  galeti  können;  gale\  galiä  das  Können. 

gqstü  gandaü  gqsti  erschrecken  intr.;  iszgqslis  f.  i-st.  Schrecken. 


4  43]  Der  Ablaut  der  Wurzelsubbn  im  Litauischen.  375 

galändu^  galändau  galqsti  wetzen. 

sii-grambti  6  fassen,  fangen. 

kaliü  kaliaü  käüi  schmieden. 

kalhü  kalbe li  reden;  kalhä  Rede,  Sprache,  kalhüs  gern  redend, 
gesprächig, 

le  kalstu  kaltu  kalst  trocknen,  verdorren;  le  kals  mager  (=  ^kalt- 
sa-s);  le  kaltüm  Auszehrung;  le  kältet  trocknen  Irans.,  doch  vgl.  kal- 
dans  mager  ULD. 

kalstu  kaltaü  kalsti  schuldig  werden,  wohl  denom.  von  kältas 
schuldig;  kalte'  Schuld. 

le  kampju  kampu  kampt  fassen,  greifen. 

kandu  (le  küfchu  =  "^kandzu)  kändau  kqsti  beissen;  le  küda 
Motte;  lit.  kandis  f.  i-st.  dss. ;  kändis  m.  Biss;  kqsnis  f.  u.  m.  Bissen; 
kandüs  bissig. 

kankü  kakaü  käkti  hinreichen,  genügen. 

karsziü  karsziaü  kärszti  kämmein  (Wolle). 

kärszttt  kärszau  kärszti  alt  werden;  kärsziu  kärsziau  kärszti  alt 
sein;  n&karszis  Altersschwäche;  karsze  N  dss. 

kasü  kasiaü  kästi  graben;  äp-kasas  NSz  Graben. 

lakiü  lakiaü  läkti  Dünnes  fressen,  schlappen,  le  präs.  luku 
[=  Hanku) ;  lakalas  N  Frass. 

parpstü  parpaü  pärpti  aufdinsen. 

plastü  plaste'ti  intr.  schlagen  {g^slos  die  Adern). 

rankü  rakaü  räkti  aufpicken,  aufstochern,  le  rüku  raku  rakt 
graben;  ät-rakas  oflfen;  räktas  Schlüssel;  raksztis  f.  i-st.  KLD  [  ] 
Splitter  '->  rakineti  [däntts)  stochern  iter. 

sälü  salaü  sälti  süss  werden  KLD,  daneben  salstü  als  Präs.  an- 
gegeben; saldüs  süss;  le  salgans  süsslich;  le  e-sals  Malz. 

skalbiü  ekalbiaü  skälbti  waschen  (d.  h.  mit  dem  Waschholz 
schlagen);  bei  B  ein  isz-skelbti  {iffkelpti)  auswaschen. 

skantü  skaczaü  (richtiger  skataü)  skästi  mit  sth  bei  M  aufhüpfen; 
skatinti  G  caus.  »Jem.  anstiften  etwas  schnell  auszuführen«. 

le  smuku  (=  ^smanku)  smaku  smakt  ersticken,  erlöschen;  le 
smaka  Geruch. 

tampit  tapaü  täpti  werden. 
pa-^älpfs  gelbsüchtig,  pt.  prät.  a. 

Abli&ndl.  d.  k.  S.  QeBellscli.  d.  Wissenscb.  XXI.  26 


376  August  Lbskien,  [^** 

vapü  vape'ti  plappern. 

varviü  varveti  triefen. 

zdgiü  zagiaü  zägii  N,  KLD  [  ]  versehren,  verunreinigen,  le  fugu 
[=  ^fangu)  fagu  fagt  stehlen;  ne-i-zagas  Sz  Unversehrtheit,  Keusch- 
heit; le  faglis  Dieb. 

Primäre  Verba  mit  o  {ä)  ohne  Ablaut: 

böju  böjau  böti  beachten. 

böstu  bödau  bösti  Ekel  bekommen;  bodzu-s  bodzaü-s  bösti-s  sich 
ekeln;  nu-boda  Ekel;  bodus  N  ekelhaft. 

le  bläfchu  blädu  bläß  schwatzen. 

le  bräfchu  bräfu  braß  streifen,  sausen;  le  bräfe  Gedränge;  le 
bräfma  Zugwind. 

nu-döbiu  döbiau  döbti  Schi,  zu  Tode  quälen. 

dröziu  dröziati  drözti  schnitzen;  drozle   Hobelspan. 

droviu-8  droveti-s  blöde  sein  (wie  stoveli  ein  Denom.,  vgl.)  dro- 
vüs  blöde  KLD. 

dvökti  stinken,  präs.  dvoku  WP  126. 

le  prät.  gäju  ich  ging;  gätis  f.  pl.  i-st.  Fluglöcher  am  Bienenstock. 

göbiu  göbiau  göbti  einhüllen. 

le  gäfchu  gä[u  gäß  schütten,  lit.  gozti  G  giessen;  le  pagäfa  und 
pagäfne  Neige. 

gröju  gröjau  gröli  krächzen. 

grösli  M  poltern,  dort  3.  sg.  grödza^  bei  KLD  eine  3.  sg.  gröiia^ 
N  hat  ein  grodzu  grosti  suchen. 

jöju  jöjau  jöti  reiten. 

klöju  klöjau  klöli  zudecken;  üi-klodas  Bettdecke;  paklöde  Bett- 
laken; paklötis  f.  i-st.  Unterbett  --  klöstau  klöstyti  iter. 

klökiu  klökiau  klökii  gluckern  (vom  Wasser)  J  219.  5,  bei  N 
»speien«;  bei  G  ein  par-klökti  müde  werden. 

kopiu  köpiau  kopti  klettern,  steigen;  fköpos  die  kurische  Neh- 
rung; köpes  Leiter  J  269.  6;  koptos  dss.  WP  227. 

kösiu  köseti  husten;  kosul^s  Husten. 

kosziu  kösziau  köszti  seien. 

le  kräju  krät  sammeln;  le  kräja  gesammeltes  Gut;  f  apkrqja  Sz 
(unter  oblogi)  impedimenta  itineris. 

le  kräpju  kräpu  kräpt  stehlen,  lit.  kröpü  WP  69,  230,  auch 
bei  G 


4  4^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  377 

sur-kröszfs  sitzen  geblieben,  alt  geworden  (zu  einem  inch.  krosztu) ; 
krosziü  kroszeti  faul  dasitzen;  kröszau  kröszyti  hocken,  faulenzen. 

kvöcza-s  kvöte-8  kvösti-s  {man)  mich  dünkt,  isz-kvösü  JSv  9  aus- 
forschen, präs.  3..sg.  kvöcza]  kvötimas  Examen  ib.  10;  iszr-du'li  kvolq 
Rechenschaft  geben  ib.;  kvotineti  iter.  hin  und  her  fragen  J  656.  3; 
692.  5. 

loju  Ujau  Uli  bellen,  le  lät  auch  »fluchen«;  le  läsls  Fluch;  le 
lädH  fluchen. 

loszlu  löszau  löszti  toben,  Muthwillen  treiben. 

atr-gi-losziä'S  losziaür-s  lösztir-s  sich  anlehnen ;  dt-loszas  und  ailoszä 
Rücklehne;  llöszas  lahm. 

moju  möjau  möti  winken;  mojis  m.  Wink. 

mökstu  mökau  mokti  {isz-^  pri-)  lernen;  tnöku  moketti  verstehen, 
vermögen,  bezahlen;  mökslas  Lehre,  mokslüs  gelehrig;  mökesnis  m. ; 
mökestis  m.  Zahlung. 

le  mäzu  tnäzu  mäkt  drängen,  drücken,  mäktes  sich  bewölken; 
le  mäkunis  dunkle  Wolke. 

nökstu  nökau  nökli  reifen;  le  näku  näzu  näkt  kommen. 

noriu  naritti  wollen;  noras  Wille. 

osziü  osziaü  öszti  summen;  oszljs  Schwätzer. 

plöju  plöjau  plöti  breit  zusammenschlagen;  plönas  fein. 

rökia  röke  rökli  es  regnet  fein;  roki  N  Staubregen. 

röpiu  röpiau  röpti  mit  etwas  fertig  werden,  ap-ropti  bestreiten 
können,  bei  G  f-«i-rop<t  hineindringen.  —  Vgl.  indess  rup-. 

le  skäbstu  skäbu  skäbt  sauer  werden,  wohl  denom.  von  le  skäbs 
sauer,  lit.  bei  G  sköbas  dss.,  sköbli  sauer  werden. 

le  a(-,  nu-skärstu  skaru  skärt  gewahr  werden,  bemerken. 

skrödtu  skrödtau  skrösti  aufschneiden,  spalten  (Thiere). 

le  släpstu  släpu  släpt  dürsten,  sticken,  nu-szlopa  WP  84  (3.  sg. 
prät.  scheint  verächtlich  »krepiren«  zu  bedeuten,  richtig  slopaTj^  vgl. 
slopsiu  G  schwach  werden,  shpinti  caus.  G,  BF  172  ersticken,  slöpti 
ersticken  intr.  BF  172;  le  släpes  f.  pl.  Durst;  le  släpet  trans.  ersticken. 

le  snäju  snät  locker  zusammendrehen, 

sokiü  sokiaü  sökti  unarticulirt  singen. 

sopü  sap^'ti  Schmerz  haben;  le  at-säpes  Nach  wehen;  söpulisy  so- 
pulijs  Schmerz. 

sosiü  sosiaü  sösli  quälen  mit  Bitten  u.  a.;  sosW  Beschwerde. 

26* 


378  August  Leskien,  [^^^ 

slokstü  slokaü  slökii  in  Mangel  gerathen,  viell.  denom.  von  sloka 

Mangel . 

nu-stopti  NRM  ertappen. 

siropslu  stropau  slropli  N  emsig  sein,   wohl  denom.  von  slropüs 

emsig. 

svöti  J  342.  2   {asz  negaliü  tävej  svdli;  Bedeutung?). 

patosu  loseli  (auch  mit  sz)   N  zu  Gefallen  reden. 

tröksztu  Irökszau  trökszti  dürsten;  troszkulp  Durst,  Gier. 

tvöju  tvojau  ivöti  schlagen  J  460.  7  u.  s.,  auch  G. 

vöjfs  leidend;  voiis  f.  i-st.  Geschwür;  ?  vgl.  le  waijät  weh 
thun  trans. 

vökiu  vökiau  vökli^  svr-  etwas  auffinden,  ap-  bereinigen,  be- 
schicken, nu-  verstehen,  le  wäzu  wäzu  wäkl  zusammennehmen,  fort- 
schaffen; ?dazu  le  wäks  Deckel,  vökas  Augenlid,  bei  Sz  Deckel,  bei 
N  vöka  Deckel;  nuwoka  Sz  Verstand. 

voziii  vöziau  yozli  stülpen;  änt-vozas  Deckel. 

zioju  ziojau  ziöti  den  Mund  aufsperren;  f  ziögas  Heuschrecke; 
"fziögris  Stacket  KLD,  J  1016.  6;  zioiis  f.  i-st.  N  Kluft;  zioplp  einer, 
der  Maulaffen  feil  hat  ~  ziopsaü  ziopsoti  mit  offnem  Munde  dastehen ; 
ziögauti  N  gähnen,  u.  a. 

Anhang. 

Eine  Untersuchung  über  diesen  Vocal  leidet  unter  der  Schwierig- 
keit, dass  die.  Ueberlieferung  des  Preussischen  nicht  mit  Sicherheit 
erkennen  lässt,  wie  weit  dieselbe  oder  eine  vergleichbare  Yocalförbung 
hier  Geltung  gehabt  hat,  dann  aber  unter  dem  weit  grösseren*  Uebel- 
stand,  dass  die  litauischen  Dialekte  ü  und  o  in  einander  übergehen 
lassen  und  dass  z.  Th.  in  Folge  davon  auch  in  dem  Dialekte,  den 
die  preussisch-<litauische  Schriftsprache  repräsentirt,  die  grösste  Un- 
sicherheit in  der  Anwendung  von  ü  und  o  herrscht.  Man  braucht 
nur  Kurschat's  Werke,  die  Grammatik  und  die  beiden  Wörterbücher 
zu  vergleichen,  um  die  grösste  Regellosigkeit  in  der  Schreibung  eines 
und  desselben  Wortes  zu  finden.  Weit  besser  ist  man  mit  dem  Let- 
tischen  daran,  wo  Bielenstein's  Grammatik  und  das  Ulmann'Sche 
Wörterbuch,  an  dessen  Vollendung  jener  betheiligt  war,  einen  sichern 


^1*7]*  Der  Abladt  der  WurzelshTben  im  Litauischen.  379 

Anhalt  bieten.  Unter  diesen  Umständen  scheint  es  mir  zunächst  noth- 
wendig  festzustellen^  wie  weit  sich  das  Litauische  und  Lettische  im 
u  decken,  um  von  den  Fällen,  wo  die  Sprachen  im  ü  übereinstimmen, 
als  von  den  älteren  und  sicheren  auszugehen.  Ich  lasse  daher  ein 
alphabetisches  Verzeichniss  der  Beispiele  folgen,  so  weit  meine  Samm- 
lung derselben  reicht. 

apuka^^  le  apügs  Steinkäuzchen. 

fewze,  le  büfe  Keule. 

dübe   Höhle,  le  dube,  vgl.  oben  unter  Reihe  IL 

duna^  le  düna  dune  ULD  Brod. 

duti^  le  düt  geben,  pr  dä-twei. 

ffubä^  le  guba  Rüster. 

le  güds  Ehre,  güdät  ehren,  bei  N  als  iem.  goda^  godoü,  also  wohl 
guda, 

gülis  Lagerstätte,  le  gül'a  Bett,  vgl.  oben  u.  R.  II;  gülti  nach  Fick 
II,  550  zu  gal  abfallen  (ßdXXü)). 

Judas  schwarz,  le  juds  Teufel ;  nach  Fick  I,  1 5  zu  skrt.  andha. 

jukas^  le  juks  Scherz;  jühti-s  lachen  —  zu  lat.  jöcusi 

jusiu  ju'sti,  le  just  Igürten;  justa^  le  justa  Gürtel  —  e-Cü)0-(i.(xt. 

le  kluns  Estrich,  lit.  klunas  (neben  Monas)  Bleichplatz  hinter  der 
Scheune. 

kudas  Schopf,  küdelis  Flachswickel,  le  küdel'sch. 

kupiu  kupti  häufen  u.  a.,  le  küpt  vgl.  oben  u.  R.  IL 

kusa  küsas  Dohle,  le  kusa. 

lübas  Baumrinde,  le  lübs  Schale. 

liübiü-s  liübti'S  das  Hauswesen  beschicken,  le  labt  ULD. 

mümu  Hirnschale,  wenn  damit  zusammenhängend  mümelis  das 
Zäpfchen  (im  Munde),  le  mümelis  (geschrieben  wird  meist 
momü). 

numas  nümä  Zins,  le  nüma,  nach  Fick  I.   127  von  W.  nem, 

pü'das^  le  puds  Topf,  Fick  II,  599  päda-. 

pulu  (Präs.  zu  pülti  fallen),  le  pulu^  vgl.  oben  u.  R.  IL,  nach  Fick 
II,  253  zu  acpdXXco. 

püsziü-s  pu'szti-s  sich  putzen  J  1489.  4  u.  oft,  le  püschu  pust. 

ruszus  geschäftig  {ruszti  besorgen),  le  rüschs  rührig,  s.  o.  u.  R.  IL 

su'dzei  Russ,  le  südeji  dss. 

SU  las  Bank,  le  süls^  vgl.  Fick  IL  798,  zu  lat.  solum  u.  s.  w. 


380  August  Leskibn,  [^^8 

szluta  Besen  (zu  szlüti  fegen),  le  sl&ta  s.  o.  u.  R.  IL 

szüleis  i.  pl.  im  Galopp  (n.  sg.  szüljs),  le  sulis  Schritt. 

udas  Mücke,  le  üde. 

üdegä  Schwanz,  le  udega. 

uga  Beere,  le  uga,  vgl.  slav.  jago-da. 

ülektis  {ölektis)  Elle,  le  ülekt8,  vgl.  sl.  lakih  =  ^olküh, 

ülä  Fels,  le  üla  Kiesel. 

usis  Esche,  le  usis^  vgl.  serb.  jasen. 

udzu  ü'sü  riechen,  le  üft^  vgl  6C(o  6S-(oSa. 

uszvis  Schwiegervater,  ffszve  Schwiegermutter,  le  üsa  Schwägerin 
ULD. 
Diese  Zahl  von  35  Beispielen  ist  klein  im  Vergleich  zu  den  in 
beiden  Sprachen  insgesammt  vorhandenen  Fällen  von  u.  Diese  hier 
aufzuzählen  unterlasse  ich  einmal  wegen  der  schon  hervorgehobenen 
Unsicherheit  im  Litauischen,  dann  wegen  des  Mangels  an  sicheren 
Etymologien.  Wie  wenig  noch  die  Worte  nach  dieser  Richtung  be- 
kannt sind,  davon  mag  Fick's  Wörterbuch  ein  Zeugniss  ablegen.  In 
dem  grossen  Werke  kommen  nur  folgende  litauische  Worte  mit  u 
vor:  dfflij  ju'das,  jukas,  jusli^  kulas,  küpä^  nu'gas^  nu'glas^  nü'mas^ 
pffdas,  p&lu,  szlübas  lahm  (ich  kenne  nur  szlübas),  stumff  (richtiger 
ist,  wie  auch  von  F.  daneben  geschrieben  wird  stomu)^  sulas^  szluti^ 
uga,  usis,  ü'sti.  Davon  sind  kulas,  n&gas,  nuglas  als  sicher  oder 
vermuthlich  slavische  Lehnworte  noch  zu  streichen,  hinzukommt  dübe 
(bei  Fick  (]?fi6^  geschrieben) .  Von  den  obigen  35  Fällen  gehen  sicher 
oder  vermuthungsweise  auf  o-  oder  a-Vocal  zurück:  dffti,  g&'lis,  judas, 
jükas,  jü'sti,  numas,  pudas,  pü'lu,  su'las,  u'ga,  ülektis,  &sis,  udzu. 
Bei  dieser  Lage  der  Dinge  scheint  es  mir  verfrüht,  wenn  man  mit 
so  grosser  Sicherheit,  wie  es  öfter  geschieht,  behauptet,  htauisches 
ü  könne  nur  o-Vocal  sein,  nicht  auf  eu  oder  ou  {au)  beruhen. 


4^9]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  381 


B.  Die  Sphäre  der  einzelnen  Vooalstufen. 

I.  Im  primären  Verbum. 
1.  Die  Keilien  I— m. 

I.     Im    primären    Yerbum,    dessen    Nichtpräsensformen 
keinen  durch  6  oder  o  erweiterten  Stamm  haben. 

A.    Dieselbe  Stufe  bleibt  im  ganzen  Formensystem  oder  wechselt  nur  mit  der 

entsprechenden  Länge. 

a)  i  der  Reihe  i^  y^  e  u.  s.  w. 

Im  primären  Yerbum,  dessen  Infinitivstamm  gleich  der  Wui*zel 
ist  (die  Verba  -e-ii  mit  primärem  Anstrich  werden  unten  besonders 
behandelt),  ist  diese  Stufe  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  von  in- 
choativer oder  intransitiv-passiver  (oft  zugleich  inchoa- 
tiver) Bedeutung  begleitet.  Wo  ein  Durativum  oder  Transitivum 
daneben  vorhanden  ist,  zeigt  dies  die  Stufe  e.  Die  Präsensbild üng 
geschieht  mit  -tu  [s-tu)^  wenn  die  Wurzel  auf  zwiefache  Consonanz 
(r,  /,  m,  n  -|-  Cons.)  oder  auf  einfaches  m,  n  auslautet,  durch  in- 
figirten  Nasal,  wenn  sie  auf  einen  beliebigen  andern  Consonanten, 
durch  Dehnung  des  %  (bei  Suffix  -a-)  oder  mit  -«-/u,  wenn  sie  auf 
r,  /  auslautet.  Im  zweiten  Falle  (ritt  ganz  vereinzelt  -tu  auf  (le  klibstu, 
plpzlu),  vielleicht  auch  Doppelbildungen:  infigirter  Nasal  und  -tu  zu- 
sammen {gtislü).  Die  erwähnte  Bedeutung  ist  selten  bei  Präsenssufßx 
a  (e-o)  ohne  Dehnung. 

1.  Yerba  mit  inchoativer  oder  intransitiver  Bedeutimg. 

a)    Präsens  auf  -tu, 

bilstu  bilti  anfangen  zu  reden. 

bingstü  bingaü  bingti  muthwillig  werden  (sich  :heben)  —  bengiü 
bengti  beendigen  (heben). 

le  birstu  biru  birt  {byrü  biraü  birti)  ausfallen,  sich  verstreuen  — 
beriü  berti  streuen. 

blista  blindo  blfsti  dunkel  werden  —  blendzu-s  blpsti-s  sich  ver- 
finstern. 

blista  blindo  blisti  fester  werden. 


382  August  Lbskien,  [420 

brisiu  brindau  bristi  quellen. 

bringstu  bringti  theuer  werden. 

brinkstu  brinkti  quellen,  anschwellen. 

le  dilstu  diu  sich  abschleissen   (neben  delu\  lit.  dylü  dilti). 

dilbslü  dilbii  {nu-)  die  Augen  niederschlagen  inch.  —  deWiü  delbli 

[akis) . 
dilgstu  dilgau  dilgti  von  Nesseln  gebrannt  werden, 
le  dirnstu  (neben  demu)  dimt  dröhnen. 

dingstii  dingti  wohin  gerathen  (sich  bergen)  —  dengiü  dengti  decken. 
dirgstu  dirgti   in   Unordnung   gerathen  —  dergia  dergti  eigen tl.  es 

macht  schlechtes  Wetter«. 
dirilü  dirzti  zäh  werden. 
drjstü  dristi  (präs.  auch  dr^sü)  dreist  werden. 
drykstü  Schi,  driskaü  driksti  [sur-drisk^s]  zerreissen  intr.  —  dreskiü 

drSksti  zerreissen  trans. 
gilsta  gilli   anfangen   zu   stechen    (von   Schmerzen)    —  geliü  geUi 

stechen. 
gilbstü  gilbaü  gilbti  sich  erholen  —  gelbu  gelbeli  helfen, 
le   dial.    dßtmtu   (gew.  dfemu)    dßmt  geboren   werden    (lit.  gemü 

gimti) . 
girsiü  girdaü  girsti  zu  hören  bekommen, 
le   grimstu  grimt   sinken,    lit.  grimstü  grimzdaü  grimsli  —  gremzu 

gremsti  senken. 
grystü  {=gri8tü  Doppelbildung  =  ^grins-tuT)  grisaü  grisli  überdrüssig 

werden  —  gresiu  gresti  entwöhnen. 
griztü   grizäü   gr{zti  sich    wenden,  zurückkehren   —   gr^ziü  gr^'zti 

drehen. 
ihtü  ilsaü  ilsti  müde  werden. 

ingsta  ingti  sich  abstreifen,  abgehen  —  engti  abstreifen. 
inksta  inko  inkti  verschiessen  (von  Farbe), 
le  irstu  iru  irt  sich  auftrennen  (lit.  yrü  irti). 
kilstü  (neben  kylü)  kilti  sich  heben  —  keliü  kelti  heben. 
kimstü  kimti  heiser  werden. 
"^kirsztu  kirszau  kirszti  zornig  werden. 
*kirstu  kirdau  kirsti  aus  dem  Schlafe  auffahren, 
le  klibstu  klibt  lahm  werden  (wahrscheinlich  denom.  von  klibs  lahm). 
klimpstü  klimpti  einsinken. 


421]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  383 

le  timstu  limt  zusammenknicken  intr.  —  lemiü  Umli. 

linkstü  linkti  sich  biegen  —  lenkiü  lenkti  biegen. 

le  milst  tnilsa  milst  (iit.  milszti)  dunkel  werden. 

mirsztu  mhii  sterben. 

le  mirgstu  mirgt  flimmern. 

mirkstü  mirkaü  mirkti  eingeweicht  werden  —  me$*kiü  merkti  ein> 

weichen. 
mirsztü  mirszü  vergessen. 
nirsztü  nirszti;  nirstü    nirsH  ergrimmen    —   nerczu-s  nersti-s   sich 

ereifern, 
le  pilstu  pilt  voll  werden,  3.  sg.  pepilst  gebräuchlich,  vielleicht  de- 

nominativ  von  dem  wie  pik  gesprochenen  pilns  voll. 
phjsztu  plifszli  zerreissen  intr.  —  ple'sziu  pleszti  zerreissen  trans. 
rimstü   rimaü  rimti  (sich   stutzen)    ruhig   werden  —  remiü   reinli 

stützen. 
silpstu  silpau  silpti  schwach  werden, 
le  »irgstu  sirgu  sirgt  (Iit.  sergü  sirgaü  sirgti)  erkranken. 
sirpstü  sirpti  reifen. 

^skiWstu  skilbti  bekannt  werden  —  skelbiu  skelbti  bekannt  machen. 
^skirbstu  skirbau  skirbti  angehen   (stinkend  werden;  ap-skirbfs). 
^skirstu  skirdau  -skirsti   aufspringen    {suskirdps)    —  skerdzü  skersli 

spalten, 
le  slipstu  slipu  sllpt  gleiten  (Iit.  slimpu  slimpti  entschlüpfen), 
le  slikstu  sltku  sllkt  sich  senken  (Iit.  slenkü  slinkti  schleichen), 
le  smilgstu  smilgt  winseln  —  smeldfu  smelgl  schmerzen. 
smilkslü  smilkli  dunstig  werden  —  smelkiü  smelkti  ersticken. 
smirstu  smirdau  smirsti  stinkend  werden. 

^spilgslu  spilgau  {pa-spilg^s)  spilgti  im  Wachsthum  zurückbleiben. 
spistu  spindau  spisti  erglänzen, 
le  spirgstu  spirgu  spirgt  frisch  werden,  erstarken. 
springstü  springti  würgen  (im  Halse). 
stingstu  stingti  gerinnen  (starr   werden)  —  stengiü-s  stengti-s  sich 

widersetzen. 
stirpstü  stirpti  etwas  zunehmen,  emporkommen  — :  sterpti-s  auf  etwas 

bestehen. 
styrstü  s^rti  starr  werden. 
.    le  stringstu  stringt  stramm  werden. 


384  AiJGi38T  Lbskibn,  l^^^ 

le  9wilsiu  9wilu  9w%U  sengen  inir.  (lit.  srnflü  mlti)  —  le  gwetu  sweU 
sengen  trans. 

svirslü  (neben  svyrü)  mraü  wirti  das  Uebei^ewicht  bekommen  — 
sveriü  sverti  wägen. 

le  ^rkstu  swirkt  rieseln,  knistern. 

le  »Ustu  silu  siU  warm  werden  (lit.  9zylü  szüaü  sziUt). 

szvinkstu  szvinhti  übelriechend  werden. 

üUislu  tilkti  heramgestossen  werden,  sich  abreiben  —  teUdü  telkU. 

timpstü  timpü  sich  recken  —  tempiü  tempU  spannen. 

tingstu  lingti  faul  werden. 

tistu  tinaü  tinli  schwellen. 

tisiü  tisaü  tisti  sich  recken  —  tpsiü  t§sti  dehnen. 

tirpstü  tirpti  schmelzen;  erstarren. 

tirsztu  tirszti  dickflüssig  werden  —  tersziü  terszti  schmutzen. 

*tyksztu  tiszhaü  auseinanderspritzen  — -  teszkiü  te'kszti  dickflüssiges 
werfen. 

trimstu  trimti  sich  legen  (von  Schmerzen)  —  tremiü  tremti  nieder- 
werfen. 

tv^kstu  {tvyske'li)  knallen  (vom  Blitz). 

tvistu  tvinti  anschwellen  (vom  Wasser). 

tvinkstü  tvinkti  schwären  —  tvenkiü  tvenkü  schwellen  machen. 

"^tvirkstu  *ivirkau  iszr-tvirkti  in  Unordnung  gerathen. 

vilstu  vildau  vilsti  (pa-)  erwerben. 

virkstu  virkti  {pra-)  anfangen  zu  weinen  —  verkiü  verkti  weinen. 

virpstu  virpti  verkommen  (körperlich)  —  vetpiü  verpti  vgl.  oben. 

virstü  virtaü  virsti  umfallen  —  verczü  versti  wenden,  umwerfen. 

iilpstü  iilpti  trübe  werden  (Augen)  —  ielpti  trübe  machen. 

iistu  (por-)  zinaü  iinti  erkennen. 

ivingstu  {ivingu)  zvingti   anfangen  zu   wiehern   —  ivengiu  zvengti 
wiehern. 

le  fwirgstu  fwirgt  rieseln. 

Unter  der  grossen  Zahl  dieser  Verba  sind  nur  vier,  deren 
Wurzelauslaut  durch  einfachen  momentanen  Gonsonanten  oder  Sibilan- 
ten oder  sk  gebildet  wird  (das  wahrscheinlich  denominative  le  klibstu 
nicht  mitgerechnet) :  grystü,  drykstü,  tv^kstu,  plpztu ;  das  erste  kann  als 
Doppelbildung  aufgefasst  werden  (=  ^grinstu)^  die  Auffassung  ist  in- 
dess  nicht  nothwendig,  da,  wie  sich  unten  bei  %  der  Reihe  i,  i  u.  s.  w. 


423]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  385 

und  bei  u  zeigen  wird,  diese  Bildung  langen  Vocal  bevorzugt,  bei  den 
andern  ist  Nasalvocal  ohnehin  ausgeschlossen. 

ß)    Präsens  mit  infigirtem  Nasal. 

dritnbu   dribaü  dribti    langsam   herabtropfen  —  drebiü  dre'bti  mit 

dickflüssigem  werfen. 
gristü  (wenn  nicht  grystü  richtiger)  grisaü  gristi  (Präsens  mit  Doppel- 

bildung  =  ^grinstu), 
kimbu  kibti  hängen  bleiben. 
knimbü  knibti  zusammenknicken  intr. 

krinlü  kritaü  kristi  herabfallen  —  kreczü  kri'sti  abschütteln. 
kvimpü  kvipti  anfangen  zu  riechen  intr.  —  kvepiü  kve'pti  duften. 
rinkü  rikti  aufschreien  —  rekiü  ri'kti  schreien, 
le  8tku  (=  ^sinku)  siku  sikt  versiegen  (iit.  senkü  sekaü  sekli). 
^slitnpu  slipau  slipti  {pa-)  verschwinden  —  slepiü  sle'pti  verbergen. 
splintü  splitaü  splisti  sich  ausbreiten  —  spleczü  sple'sti  ausbreiten. 
trinkü  trtkti  fehlgehen,  irrig  werden. 
vimpu  vipti  (at-)  herabhangen  (von  Lippen  u.  a.)  —  ve'piä-s  vüpti-s 

den  Mund  verziehen. 
ilimbu  ilibti  Triefaugen  bekommen  —  ilebiü  iU'bli  schwach  sehen 

können. . 
Es  ergiebt  sich,  dass  die  Wurzel  niemals  langen  Vocal  hat. 

y)    Präsens  mit  Dehnung  zu  y. 

byru  biraü  birti  sich  verstreuen,  ausfallen  —  beriü  berti  streuen: 

yrü  iraü  irti  sich  auftrennen. 

kylü  kilaü  kiUi  sich  heben  —  keliü  kelti  heben. 

*kyru  (3.  sg.  pakj^  überdrüssig  werden)  kirti  —  keriü  kere'ti  s.  o. 

nyrii  niraü  nirli  {iszr-)  aus  dem  Gelenk  kommen  —  neriü  nerti  ein- 
tauchen, einfädeln. 

skylü  skilaü  skiüi  sich  spalten  —  skeliü  skSUi  spalten. 

skylü  skilaü  skilti  in  Schulden  gerathen  —  skeliü  skele'ti  schuldig 
sein. 

svylü  svilaü  svilti  sengen  intr.  —  le  swetu  Bwelt  sengen  trans. 

svyru  sviraü  svirti  das  Uebergewicht  bekommen  —  sveriü  sverti 
wägen. 

szylü  szilaü  sziUi  warm  werden. 


386  August  Leskien,  [12^ 

tylü  lilaü  tilti  verstummen. 

zylü  zilaü  zilli  grau  werden. 

zyrü  ziraü  zirti  zerstreut  (zerscharrl)  werden  —  zeriü  zerli  scharren. 

ä)    Präsens  mit  Suffix  a  (e-o)   ohne  Dehnung  des  Wurieiv. 

brizgu  brizgau  brigsti  fasern. 

le  ilgu  ilgt  nach  Stender  bei  Bi  I,  344  verziehen  (vgl.  ilgas  lang), 
lit.  iszr-si-ilgstu  ilgau  ilgli  wohl  denom. 

ryzgü  rizgaü  rigsti  ausfasern   intr.   (ob  die  Quantität   des  Präsens 
Schi.  Gr.  §  113  richtig?). 

slimpu  entschlüpfen  (vgl.  oben  le  slipstu). 

smilu  smilü  (bei  G.,  vielleicht  smylu  zu  lesen)  sich  versengen. 

trimü  trimli  zittern  —  tremiü  tremti  stossen   (vgl.  trimstu). 

virpu  virpti  bei  N  zittern  —  verpiü  vei^pii  (vgl.  o.  virpstu). 

ivingu  zvingti  anfangen  zu  wiehern  (vgl.  ivingstu). 

Ganz  vereinzelt  steht  le  dfestu  dfisu  dfist  auslöschen  intr.  (gegen- 
über lit.  geslü  gesaü  gesti  dss.  und  trans.  le  dfeschu  dfest).  Vom 
lettischen  sa-^ki  (gerinnen)  wird  das  Präsens  nicht  angegeben. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  dem  Lettischen  die  Bildung  mit  y  fehlt. 
Kurschat  schreibt  die  betreffenden  Präsentia  bald  mit  y^  bald  mit  t 
{kylü,  kilü)^  in  Juskewic  Sammlung  finden  sich  Schreibungen  wie 
binra  (3  sg.  =  b^ra),  allein  dass  der  Schreiber  hier  einen  Nasal- 
vocal  gehört  habe  und  nicht  vielmehr  einer  grammatischen  Theorie 
gefolgt  sei,  ist  noch  zu  entscheiden.  Die  Nasalität  der  Wurzelsilbe 
ist  mir  aus  dem  Grunde  sehr  zweifelhaft,  weil  bei  anderen  Yöcalen 
als  i,  z.  B.  in  szälü  (von  Kurschat  szqlü  geschrieben)  im  Ostlitaui- 
schen nicht  die  zu  erwartende  Vertretung  der  nasalen  Silbe  erscheint, 
bei  Sz  heisst  es  szalu,  nicht  ^sztdu.  Vereinzelt  steht  die  Länge  in 
ryzgü^  das  allerdings  für  *rinzgu  stehen  kann. 

2.  Terba  ohne  ausgeprägte  InchoatlTe  u,  s«  w.  Bedeutung  (s.  o.). 

Die  Präsensbildung  geschieht  entweder  mit  Suffix  a  (e-o)  oder 
ja  (Je-jo). 

a)    Präsens  mit  Suffix  a. 

dirbu  dirbti  arbeiten. 

le  dirsu  (neben  dirstu  und  dirschu)  dirsu  dirst  cacare. 

ginü  g^niau  ginti  wehren. 


^^^]  Der  Ablaut  dbr  Wurzelsilben  im  Litauischen.  387 

imü  e'miau  imti  nehmen. 
knibü  knibti  zupfen. 
minü  mijniau  minti  treten. 
pilü  p^liau  pilli  giessen. 
pinü  pijniau  pinti  flechten. 
pisü  pisli  coire  c.  fem. 
skinü  skpiiau  skinti  pflücken. 
stilgu-8  G  eile. 

tinü  t^niau  tinti  (Sense)  klopfen. 
trinü  tri^niau  tnnti  reiben. 
zindu  zisii  saugen. 

ß)  PrSlsens  mit  Suffix  ja. 

le  bilfchu  bildu  hilft  reden. 

birbiü  birbti  summen. 

le  dirschu  dirsu  dirst  cacare  (neben  dirsu  und  dirstü). 

giriü  g^riau  girti  rühmen. 

grindzü  gristi  dielen. 

iriü  'f^riau  irti  rudern. 

le  lifchu  (neben  ledu  =  lendu)  lldu  lift  kriechen. 

skiliü  sk'^liau  skilti  Feuer  anschlagen. 

skiriü  sk^riau  skirli  scheiden. 

spiriü  sp^riau  spirti  mit  dem  Fusse  stossen. 

szvilpiü  szvilpti  pfeifen. 

trisziu  triszti  Sz  stercorare. 

le  wil'u  wilu  will  betrügen    (lit.  präs.    bei  N    angegeben  als  vilsiu 
und  mh^ . 

le  mrfchur-s  wirfü-s  wirfte-s  rücken. 

le  ßschu  jidu  fift  (lit.  zindu)  saugen. 

Vereinzelt  steht  mit  Dehnung  im  Präsens  tyriü  t'^riau  tirti  er- 
fahren. Von  dirti  schinden  ist  das  Präsens  nicht  sicher  bgkannt, 
von  vilbti  (zwitschern)  nicht  angegeben. 

b)   u  der  Beihe  u  u  ü  u.  ».  vf. 

Es  wiederholt  sich  hier  die  Erscheinung,  dass  mit  der  inchoa- 
tiven oder  intransitiv-passiven  Bedeutung  die  Stufe  u  oder  ö  ver- 
bunden ist:  das  Präsens  hat  -tu  oder  infigirten  Nasal  oder  Suffix  a 


1 


388  AccrsT  Lsmie»,  -  [<26 

e-o^ .  BLsweiieo  scheinen  Doppelbildungen  votrzokoouDen.  Die  weitaus 
meisten  Verba  gehören  den  angegebenen  Bedeutongsclassen  an,  ein 
kleinerer  Theil  mit  verschiedenen  Präsensbildungen  ist  ohne  jene 
Bedeutungen.  Wenn  den  Inchoativen  oder  Intransitiv-passiven  ein 
Durati vum  oder  Transitivum  gegenüber  steht,  hat  es  in  der  Regel 
die  Stufe  au. 

1.  TertM  mit  inchoatiTer  oder  intransitlT-passifer  Bedeatmig. 

a)  Präsens  auf  -tu. 
A.   Consooantisch  auslautende  Wurzel. 

4.   Vocal  ü. 

blükstu  blükau  blükü  schlaff  werden. 

biigstu  bügau  bügti  erschrecken  intr. 

czüstu    czüdau    czüsli    in    Niesen    ausbrechen    —    czaudiu  czausti 

niesen. 
diügslü  diügaü  diügti  (so  Schleicher  Gr.)  froh  werden  (vgl.  indess 

dlungü)  —  diaugiü-s  dzaügti-s  sich  freuen  (sich  erheitern). 
dükstü  dükaü  dükti  toll  werden. 

glüstu  (3.  sg.  glfist)  sich  anlehnen  —  glaudzü  glaiisti  anschmiegen. 
güitu  guiti  sich  kauern  s.  S.  316. 
*grü8tu  grüdau  grüsti  weich  werden. 
^krüstü  krüsaü  krüsti  aufleben,  sich  erholen, 
le  küpstu  küpu  küpt  beräuchert  werden. 
liüHtü  liüdaü  liüsti  traurig  werden. 

lüilu  lüiau  lüiti  brechen  intr.  —  läuiiu  läuiti  brechen  trans. 
nüslu  nüdau  nüsti  gelüsten. 
nükstü  nükaü  nükti  rauschen  (inch.). 
plüstu  pliidau  plüsti  ins   Schwimmen  gerathen  —  plaudiu  plausti 

schwemmen. 
plüksztu  plüszkau  plühzti  zusammenfallen,  dünn  werden. 
rüstu  rüdau  rüsti  ergrimmen. 

rügstu  rügau  rügti  sauer  werden  —  le  raugt^-s  aufslossen. 
slügstu  slügau  slügti  sich  setzen  (von  Geschwulst). 
snüstu  snüdau  müsti  einschlummern  —  snäudiu  snäusti  schlummern. 
sprüstu    sprüdau    sprüsti    sich     zwangen    —    spräudtu     spräusü 

zwängen. 
sprügslu  sprügau  sprügti  N  entwischen. 


^27]  Dek  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  'Litauischen.  389 

stügstu  stügau  stügti  steif  werden  (und  stügu  stügaü  stügti). 
trükstu  trükau  tnikti  reissen  intr.  —  träukiu  träukti  ziehen, 
le  tükstu  tüku  tükt  schwellen. 
üksta  tifco  ükli  sich  beziehen  (vom  Himmel). 

2.  Vocal  ü. 

le    büftu    (Doppelbildung  =z  Hunftu^)    budu    buft    erwachen    (lit. 

bundü) . 
bukstü  bukaü  biikti  stumpf  werden,  aber  daneben  präs.  bunkü. 
biurstü    biuraü    biüiii    garstig    werden.     Bei   K  das  Präs.    biurstü 

oder  biürü^  überhaupt  als  zweifelhaft  angegeben. 
di4stü  dusaü  düsti  (le  präs.  dum)  ins  Keuchen  kommen, 
le  glumstu  glumu  glumt  glatt  werden, 
le  gubstu  gubu  gubt  sich  krümmen, 
le  gumslu  gumu  gumt  sich  langsam  auf  einen  senken, 
le  gurstu  guru  gurt  ermatten. 
junkstü  junkaü  jünkti  gewohnt  werden  (W.  juk  mit  festgewordenem 

Präsensnasal),    le    wird    Bi    I.   374    als    prät.    neben    jüku 

(=  ^junkau)  auch  jiiku  angeführt. 
klustü  klusaü  klüsti  {pa-)  gehorchen, 
le  kukstu  kuku  kukti  die  Flügel  hängen  lassen. 
kiürstu  kiuraü  kiürti  löcherig  werden, 
le  kurstu  kuru  kurl  heizen  intr.  Bi  I.  378.  —  kuriü  küriau  kürti 

trans.  heizen, 
le  küstu  (Doppelbildung  =  ^kunstu^)  kttsu  kust  schmelzen  intr. 
kustü  {kuntü)  kutaü  küsti  sich  aufrütteln. 
mürstu  muraü  mürti  durchweicht  werden   (vom  Boden), 
le  pl'upstu  pl'upu  pl'upt  sprudeln, 
le  skumstu  skutnu  skumt  traurig  werden, 
le  spurstu  spuru  spurt  faserig  werden, 
le  schukstu  schuku  sehtet  schartig  werden. 
türstu  turaü  türti  in  Besitzung  *  kommen. 
ilugstü  (neben*  ilungü)  Üugaü  zlügti  durch  und  durch  nass  werden, 

triefen. 
Dazu  verdient  bemerkt  zu  werden,  dass  unter  den  Fällen  mit 
ü  keine  auf  r,  /,  m,  n  auslautende   Wurzel   vorkommt   (eine    Aus- 
nahme wäre  iiürstü  üüraü  iiürti  [pror]   zu  sehen  beginnen,    allein 


390  AüGüST  Leskien,  [<28 

hier  wird  ziüriü  ziüreti  zu  Grunde  liegen),  dass  unter  den  Fällen 
mit  ü  (im  ganzen  22)  10  r  oder  m  als  Auslaut  der  Wurzel  zeigen, 
7  die  Bildung  mit  Nasal  neben  oder  zugleich  mit  -tu  haben,  1  [dustü) 
im  Lettischen  dusu  hat.  Es  bleibt  somit  nur  ein  litauisches  Verbum 
mit  ä,  das  diese  Form  rein  hat  pa-klmtü,  in  solchem  vereinzelten 
Falle  ist  man  aber  nicht  sicher,  dass  nicht  ein  Denominativum  der 
Art  wie  saustü  (zu  saüsas)  vorliegt;  ferner  drei  lettische,  davon 
pl'upstu  ein  Schallwort,  schukstu  vielleicht  Denominativum  zu  schuke 
Scherbe,  vielleicht  schükstu  zu  lesen  (inf.  schükt  ULD  als  Nebenform 
angegeben,  prt.  schüku^  inf.  schükt  Bi  I.  376  mit  Fragezeichen), 
kukstu.  Es  liegt  bei  diesen  Verhältnissen  der  Schluss  nahe ,  dass 
die  Bildung  auf  -tu  bei  Wurzelauslaut  auf  momentane  Consonanten 
und  Sibilanten  ursprünglich  nur  ü  haben  konnte.  Dafür  spricht  auch 
Schleichers  dzügstü  dzugaü^  wo  keine  Doppelbildung  angenommen 
werden  kann,  während  le  büftu  und  küstu  allerdings  eine  solche 
enthalten  können. 

B.  Vocalisch  auslautende  Wurzeln. 

Das  Litauische  hat  hier  die  Form  s-tu  nur  ganz  vereinzelt  oder 
als  dialektische  Nebenform  der  Präsentia  nach  Art  von  iüvü^  das 
Lettische  dagegen  durchgehend. 

dzüstu  dzüvau  dzüti^   le  fchüstu  fchüwu  fchüt   trocken  werden  — 

diäuti  trocknen, 
le   gHlstu  (lit.    bei   Sz   griüstu)    gfüwu  gfüt  einstürzen  {^riüvü)  — 

gtaut  stürzen  trans. 
le  güstu  [günu]  güwu  gut  haschen. 
.  le  kl'üstu  Müwu  kl'üt  gelangen  {kliüvü  hängen  bleiben)  —  kfaute-s 

sich  anstemmen, 
le  püstu  püwu  püt  faulen  {piüvü). 
iüstu  Sz  {züvü)  züvaü  züti  umkommen. 

Dem  Lettischen  fehlt  die  Bildung  nach  Art  von  iüvü. 

ß)    Präsens  mit  infigirtem  Nasal  (le  ü  =  un), 

le  brüku  bruku  brukt  abbröckeln,  sich  abstreifen  -^^  braukiü  braükti 

abstreifen. 
bundü  budaü  büsti  erwachen. 
bunkü  bvkwä  bukti  (auch  bukstü)  stumpf  werden, 
le  drüpu  drupu  drupt  bröckeln  intr. 


129]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  391 

dumbii  (le  dubu)  dubaü  dübti  hohl  werden  —  dubiu  dubti  aus- 
höhlen. 

dzungü  diugaü  dzügti  (auch  dziügslu)  froh  werden  —  dzaugiu-s 
dzaügü-s  sich  freuen. 

le  düku  duku  dukt  malt  werden. 

le  düfu  (neben  dufu)  dufu  duß  entzweigehen  —  dauziü  daüzti 
heftig  stossen. 

grumbii  grubaü  griibti  holperig  werden. 

gundü  gudaü  güsti  klug  werden. 

jundü  judaü  jüsti  sich  regen  inch. 

le  jüku  juku  jvkt  sich  vermischen  —  le  jauzu  javkl  mischen. 

juntü  jutaü  jüsti  durch  Gefühl  wahrnehmen  inch.  —  jauczü  jaüsli 
fühlen. 

klumpii  klupaü  klüpti  stolpern  —  klaupi&s  klaüpti-s  knien. 

le  kfüpu  kfupu  krupt  {krupl)  verschrumpfen  —  kraupiü  kraüpti 
aufschrecken  u.  s.  w. 

kuntü  {ktistü)  kulaü  küsti  sich  erholen. 

le  küpu  kupu  kupt  sich  ballen  —  küpiu  kupli  häufeln,  kaüpti  dss. 

le  küstu  kusu  kmt  (Doppelbildung?)  schmelzen  intr. 

le  müku  muku  rnukt  sich  abstreifen  —  mmdciü  maükti  streifen. 

plunkü  plukaü  plükti  befliessen,  verschiessen  —  plaukiü  plaükti 
(fliessen)  schwimmen. 

ptmlü  pulaü  püsti  schwellen  —  puczü  pmti  blasen. 

runkü  rukaü  rukii  faltig  werden  —  raukiü  raükli  falten. 

skumbii  skubaü  skübli  sich  beeilen. 

skundü  skudaü  sküsti  anfangen  zu  schmerzen. 

smunkü  smtdiaü  smükti  abgleiten  —  smaukiü  smaükti  abstreifen. 

le  sprüku  spruku  sprukt  entwischen  —  le  spraiizü-s  spraukle-s 
entwischen. 

le  8üku  suku  sukt  entwischen  (lit.  sukü  sukti  drehen  trans.). 

siunlü  siutaü  siüsli  toll  werden  —  siaucziü  siaüsti  toben. 

le  schl'üku  schl'uku  schl'ukt  glitschen  —  le  schl'üzu  schl'üki  spinnen. 

szufdiü  szfjikaü  szükti  aufschreien  —  szaukiü  szaükli  schreien. 

szuntü  szulaü  szüsti  schmoren  intr. 

trunkü  trukati  triikti  sich  verziehen  (zögern),  le  trüku  Irukt  zu- 
sammenfahren —  träukiu  iräukti  ziehen. 

tunkü  tukaü  tükti  fett  werden. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Qesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  27 


392  AüGüST  LssEiEif,  [^3ö 

zlungii  (und  zlugstü)   zlugaü  zlügli  triefen. 
,  le  füdu  fudu  fust  verschwinden. 

Von  vocalisch  auslautenden  Wurzeln  kommt  hier  nur  in  Be- 
tracht : 

le  günu  {güstu)  gut  haschen  (vgl.  lit.  guinii^  g^iji*  nachjagen). 
S^mmtliche  consonantisch  auslautende  haben  in  den  Nicht- 
präsensformen nur  kurzen  Vocal,  der  Gegensatz  gegen  die  te-Classe 
zeigt  sich  klar  bei  zwiefacher  Formation  von  derselben  Wurzel,  vgl. 
trükslu  irükau  Irükli  mit  trunkü  Irukaü  iriikii;  le  tükstu  tüku  tükt  fett 
werden  mit  itmkü  tukaü  tükti  fett  werden. 

y)    Präsens  mit  Suffix  a  [e-o). 
A.    Consonantisch  auslautende  Wurzeln. 

hlusu  blmau  blusti  NSz  (Quantität  unsicher)  verzagen. 

le  dubu  dubu  dubl  (lit.  dumbü  dübii)   hohl  werden  —  dubiu  dubii 

höhlen, 
le  du8u  dtssu  dml  keuchen   (lit.  dmiü  dÜ8ti)^  viell.  nicht  u  2h. 
le  dufu  (neben  düfu  =  ^dunfu)  dufu  duft  entzweigehen  —  dauziü 

daüzli  quetschen,  stossen. 
susü  smaü  süsli  (so  nach  KLD  flectirt,  Präs.  ungebräuchlich)  räudig 
(eigentl.  trocken)   werden,  le  su$u  mm  sust  trocken  werden, 
le  trmu  irusu  trust  struppig  werden. 
szupü  szupaü  szüpti  faulen   (Holz). 

Der  Vocal  ist  durchweg  kurz,  nur  bei  Schi.  Lsb.  findet  sich 
ein  pa-stügii  siugaü  siügti  (steif  werden)  mit  Dehnung  im  Präsens, 
vgl.  oben  slü^slu  stügau  siügti, 

B.    Vocalisch  auslautende  Wurzeln. 

Das  Präsens  hat  Dehnung  zu  ü ;  bei  consonantisch  anlautendem 
Suffixe  haben  die  hierhergehörigen  Wurzeln  wie  sämmtliche  vocalisch 
auslautende  Wurzeln  des  Litauischen  stets  langen  Vocal.  Dem  Let- 
tischen fehlt  die  Präsensbildung  dieser  Art.  Die  Nebenformen  auf 
-s-te  s.  oben. 

bliüvn  bliüvaü  bliiili  aufbrtillen  —  bliäuju  bliäuti  brtillen. 

griüvü  griiivaü  griüti  stürzen  intr.  —  griäuju  griäuti  stürzen  trans. 

kliüm  kliüvaü  kliüti  hängen  bleiben  —  le  klaute-s   sich   anlehnen. 

püvü  piivaü  püti  faulen. 

iüvü  züvaü  züti  umkommen. 


434]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  393 

Zu  dem  prät.  sruvo^  pt.  pa-sriiv^s  wird  präs.  ^srüm^  inf.  ^srüH 
zu  construiren  sein. 

cJ)    Präsens  mit  Suffix  7a  (je-jo), 

gnliü  guliaü  giilti  sich  legen. 

kukiu   kukiau  kukli   N    aufheulen    (Quanliläl   unsicher)    —  kaukiü 

kaükti  heulen. 
tüpiü  tüpiaü  tüpti  sich  kauern,  hocken. 

Es  bleiben  einige  Verba  übrig,  von  denen  das  PrUsens  nicht 
belegt  ist:  su-drugli  (3.  sg.  prt.  drugo)  sich  gesellen;  3.  sg.  prt. 
pa-rfipo;  3.  sg.  prt.  pa-ügo^  prt.  pa-üg^s;  prt.  prät.  su-niür^s;  3.  sg. 
pr.  m-piiro  (ö?) ;  s.  oben  unter  den  betreffenden  Worten. 

2.  Terba  ohne  aasgeprägt  Inchoative  u.  s.  w.  Bedeutung. 

a)    Mit  Prasenssuffix  o  [o-e). 
A.    Consonantisch  auslautende  Wurzel. 

brukii^rukaü  brukti  zwängen. 

kruszü  krmzaü  hiiszli  stampfen. 

kiuiü  kiuzaü  kiüzli  wimmeln. 

lupü  lupaü  lüpti  abschälen;  le  präs.  lüpu  =z   Humpu, 

muszü  mmziaü  müszti  schlagen. 

skutü  skuiaü  sküsti  schaben;  le  präs.  skfitu  =  ^skuntn. 

sukü  sukaü  sukli  drehen. 

supü  supaü  süpti  schaukeln. 

Nur  kurzer  Vocal.  ^r 

B.   Vocalisch  auslautende  Wurzel. 
siüvu  siüvaü  siüti  nähen,  le  schünu  schüwu  schul, 

ß)    Präsenssuffix  ja  {je-jo). 

A.  Durchgehend  kurzer  Vocal. 

le  sirufchu  slruft  eitern,  lit.  N  srudzu  srudzau  srüsti  blutig  machen, 
le  lupju  lupu  tupl  hocken. 

B.  Durchgehend  langer  Vocal. 

grüdzu  grüdzau  grüsli  stampfen.  le  plüzu  plüzu  plükl  zupfen. 

kriükiu  kriükiau  kriükti  grunzen,  rügiu  riigiau  rügti  Aufslossen  haben, 

le  lüdfu  lüdfu  lügt  bitten.  le  rüzu  rüzu  rüki  brüllen. 

niükiü  niükiaü  niükti  rauschen  le  schtüzu  schtüzu  schl'ükl  spinnen. 

87* 


394  AccisT  Leskiex.  [^32 

Ui  H4'huuzu  Hvhnüzu  Hchnüki  srhnau-  Iriümi  iriüsiaü  /rtilsli  geschäftig  sein. 
\atfi    'rH;l>en  Hchnauzu  nchnaukl  .  üziü  üziaü  fizii  sausen,  rauschen. 

C.    Wechsel  von  u  und  «. 

Imriü  buriau  Imrii  wahrsagen.  kuliü  küliau  kitUi  dreschen. 

äumiü  dümiau  Jümli  zudecken.        kuriü  kuriau  kürli  bauen;    beizen. 
äuriü  düriau  dürti  siechen.  rumiü  rumiau  rumli  stampfen. 

yrumiü'H  grümiau-H  f/rümlU  ringen,  slumiü  slümiau  stümti  stossen. 
le  jumju  jümu  jumt    ^präs.    auch 
jumu^  prül.  jumu]  Dach  decken. 

Der  Auslaut  ist  also  r,  /,  m,  dazu  kommt  eines  mit  auslauten- 
dem t:  jnivzü  jmczaü  jmsti^  wo  lettisch  durchgehend  ü:  püschu  püiu 
pml^  blasen. 

Es  bleibt  noch  ein  Rest,  wo  die  Präsensform  nicht  bekannt 
oder  die  QuantitSIt  nicht  sicherzustellen  ist:  krupiü-s  krupiau-s  kntpit-s 
zusammenfahren  ((erschrecken);  kupiu  kupiau  kupii  zu  Haufen  legen; 
czüpti  greifen  nach  etwas;  snüzli  (3.  sg.  snuz)  rauschen. 

c)  i  der  Reihe  i,  2/,  e  n.  s.  w. 

Die  Erscheinungen  sind  dieselben  wie  unter  b).  Dem  i,  y  des 
Inchoativs  oder  Intransitiv-passivs  steht  e  oder  ei  beim  Durati vum 
oder  Transitivum  gegenüber. 

1.  Yerba  mit  Inchoativer  oder  intransitiv-passiver  Bedeutung. 

a)    Präsens  auf  -tu, 

A.    CoDSonantisch  auslautende  Wurzeln. 

4.   Vocal  durchgeheDd  y. 

hlykszlü  blyszkaü  bk/kszli  erbleichen. 

dijyslu   df/yau   dijgli    keimen    (hervorstechen    inlr.)    —    dSgia  dSgii 
'  stechen. 

drykslü  drykaü  dnjkli  sich   herabziehen    —    drekiü   drSkii  streuen 

(Halme), 
lo  ijihHlu  (Jlbu  (jibt  schwindlig  werden. 

gfistu  gtjdau  gf/sli  anheben  zu  singen  —  gSdu  gedöii  singen. 
yytln  gyinti  gi)ili  herb  werden. 
Ic  gliflu  glidu  glifl  schleimig  werden. 

klijslu    klffdau   kh)sli   irregehen    (le  sich   zerstreuen)  —   le   klefchu 
klefi  ausstreuen. 


^33]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  395 

klypstü  klypaü  klijpli  inch.  die  FUsse  schief  biegen  beim  Gehen  — 

kleipiü  kkipti  schief  treten  (Schuhe). 
krypstü  krypaü  knjpli  sich  wenden  —  kreipiü  kreipli  wenden. 
hjslu  hjsau  Ifisli  mager  werden, 
le  niftu  nidu  nift  hassen  (inch.  Hass  werfen  auf  .  .). 
nykstü  nykaü  nijfkti  verschwinden. 

pykstü  pykaü  p^kti  böse  werden  —  peikiü  peikli  fluchen, 
le  3.  sg.  pisi  inf.  plsti  ULD  sich   (leicht)  ausschlauben. 
njkszla  rfjkszli  sich  in  Fäden  auflösen, 
le  sikstu  {slzu)  slzu  sikl  zischen  (von  kochendem  Wasser), 
le  schk'iflu  schk'ldu  schJiiß   zergehen,    lit.  skystu   skydau  skysU  — 

skedzü  sk'esü  scheiden,  dünn  machen. 
slyslu  shjdau  slysti  gleiten. 

slygslu  slygau  slygli  N  schlummern   (wohl  inch.). 
le  swiflu  swldu  swifl  schwitzen, 
le  swift  sivida  mvifi  anbrechen  (vom  Tage). 
szmykszlu  szmyszkau  szmykszii  N  verkümmern. 
InJ/stu  Irjjdau  trf/sli  Durchfall  bekommen   —   trSdzu  Iresli  Durchfall 

haben. 
iiilkszlu  Iryszkau  Injkszti  spritzen  intr.  —  treszkiu  IrSkszli  quetschen. 
vjljslu  v^jdau  v^sii  gewahr  werden, 
le  wlkstu  wikl  geschmeidig  werden,  sich  biegen. 
vykslü  vykaü  wjkti   sich   wohin   begeben  u.  s.  w.   —   veikin   veikti 

machen. 
vj^stu  mjlau  mjsti  welken. 

zyslu  zydau  zysli  aufblühen  —  zedzu  zesü  formen. 
zypsiü  zypaü  zijpli  sich  erholen  (von  Krankheit). 

2.    Vocal  durchgehend  i. 
bligslu  blizgau  bligsti  aufleuchten. 
drizlu  drizau  drizti  matt,  schlaff  werden. 

lipslu  lipii  brennen  (s.  o.  an  der  betreffenden  Stelle  —  die  Quan- 
tität ist  unsicher). 
tnilslü  {sii-si-)  milaü  milti  sich  erbarmen. 
miszlü  miszaü  miszti  sich  mischen ;  bei  Bi  I.  374  das  lettische  Präs. 

zu  prät.  mim  mist  zweifelnd  ob  misiu  oder  mlstu  angesetzt. 
niztü  nizaü   nizti  krätzig   werden,   Präs.  bei   K   nach   Vermuthung 

angesetzt.  —  nSza^  le  nef  nefa  neft  jucken. 


39ß  ArccsT  Lcmic^.  1*34 

le   ri$tii   rufu  rui,   oebeo   präi».    risiu     Doppelbildung  =  *ria«ltf? 

.sich  anfügen, 
le  inif^ür^  4r/iijya  üntf'iyl    lit.  $ninga    es  schneit    eig.  inchoativ.. 
vt/fflü  'Dop()elhildong,  zu  schreit>en  rulü'^   vi^aü  vidi  sich  vermehren 
—  rmm  rm/i  fortpflanzen. 
Vereinzelt  steht  hUIihIü  sklindaü  M{sli  auseinanderOiessen,  wo  aus 
einem   Präs.  ^»klindu  der  Nasal   fest  geworden   und  das  Verbum  in 
ilies^^r  fiestalt   in  die  /u-Classe  übergegangen  ist.     Die  ursprüngliche 
Kegel  scheint  auch  hier  die  Verbindung  der  Länge  mit  der  Präsens- 
bildung  auf  -tu  gewesen  zu   sein.      Die  Formen   le   ruiu,   lit.  üyslu 
müssen  nicht  nothwendig  als  Doppelbildungen  aufgefasst  werden. 

B.    Vocalisch  auslautende  Wurzeln. 

PrUsens  auf  -tu.     Die  Bildung  ist  aufs  Lettische  beschränkt, 
le  hiHlü-s  hijii-H  hile-s  sich  fürchten, 
le  dfuflu  Jffju  dfil  heilen  intr. 
le  zislii-if  zijü-s  zlale-s  ringen, 
le  UhI  lija  hl  regnen  (eig.  sich  ergiessen). 

Die  litauische  Bildung  dieser  Verba  s.  unten. 

(i)    Präsens  mit  Nasal  (le  l  =  in). 

kindü  kidaü  khli  (gebrauchlich  su-kid^  zerlumpt),   so  nach  Muth- 

massung  von  K. 
kinlu  kitau  kinti  anders  werden  —  keiczn  keisli  wechseln. 
klinkü  klikaü  klikli  aufschreien  —  klykiü  klykli  schreien, 
le  knilu  knilau  kninl  keimen 
pr  po-lifika  er  bleibt. 
limpü  lipaü  lipli  kleben  bleiben. 

minyn  migaü  migli  einschlafen  —  megü  megöti  schlafen. 
minlu  tnilaü  misli  sich  nähren, 
lo  mttu  mihi  nml  losthauen. 
ninkii  nikaü  nikti  auffahren. 

pingü  pigaü  pigli  wohlfeil  werden  (Denominativ  von  pigiAsTj, 
rinkü  rikaü  rikti  sich  verzählen  u.  s.  w. 
lo  ristn  (Doppelbildung?,  neben  rislu)  risu  rust  sich  anfügen. 
hklindu  Hklidau  sklisti   auseinanderfliessen    (vgl.    oben   sklfslü)    — 

skleidiii  Hkleisli  ausbreiten. 
skrindn  skridaü  akristi  kreisen,  fliegen  inch.  —  skredzu  akr&fti  fliegen. 


^35]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  397 

smingü  smigaü  smigti  stecken  bleiben   (auf  einer  Spitze)  —  smeigiü 

smeigti  feststecken  trans. 
sninga  snigo  migti  schneien   (eig.  inch.). 

spinlü  spitaü  spisti  ausschwärmen  —  speczü  spesli  schwärmen. 
slingü  stigaü  sligti    (wo  anlangen)    ruhig  werden,    wo   bleiben  — 

sleigti  stiften. 
slimpü  slipaü  slipti  steif  werden  —  slepiü  slepli  recken. 
slringü  slrigaü  slrigii  hängen  bleiben  —  slregli  anstecken. 
szimpü  szipaü  szipli  stumpf  werden. 
szvinlü  szvitaü  szvisU   aufleuchten,   hell   werden  —  szveczü  szv'esü 

leuchten;  szveiczü  szveisti  putzen. 
tinkü  tikaü  tikli  passen  intr.  —  leikiü  teikli  trans. 
vystü    (Doppelbildung   =    vislü'f)    visaü   visU    sich    vermehren    — 

veisiü  veisli  fortpflanzen, 
le  ßbu  (neben  fibu)  fibu  ßbt  flimmern  —  zebiü  zebii  anzünden. 
zvingü  zvigaü  zvigti  aufquieken  —  zvegiü  zvegli  quieken. 

Keines  dieser  Verba  zeigt  t,  den  Gegensatz  zu  der  fw-Classe 
veranschaulicht  ninkü  nikaü  nikti  und  mjkslü  nykaü  mjkli  von  der- 
selben Wurzel.  —  Von  vocalisch  auslautenden  Wurzeln  ist  die  Bil- 
dung mit  Suffix  -na-  [lijna  es  regnet)  dialektisch  als  Nebenform  der 
Bildungen  wie  hjja  vorhanden. 

Y)    Präsens  mit  Suffix  a  (e-o). 
A.    Consonantisch  auslautende  Wurzel. 

skida  3.  sg.  präs.  ertönt. 

szmizu  szmizau  szmizli  verkümmern. 

le  ßbu  (neben  ßbu  =  *ßmbu)  ßbu  ßbt  flimmern. 

B.    Vocalisch  auslautende  Wurzel. 

gyjü  gijaü  gpi  heilen  intr.;  i-gyju  u.  s.  w.  erlangen. 

hjja  lijo  Ipi  regnen   (eig.  sich  ergiessen)  —  VSju  ISli  giessen. 

*8zlyjü  szlijaü  szlyli  sich  neigen  —  szlejü  szlSli  anlehnen. 

Von  einigen  diesen  Bedeutungsclassen  zuzurechnenden  Verben 
ist  die  Präsensform  nicht  bekannt:  izti^  prät.  Hau  entzweigehen;  prät. 
8Ur-]hzküu  anfangen  zu  suchen  {jeszkau  jeszköti  suchen);  le  klit  sich 
zerstreuen;  su-kligo  schrie  auf;  3.  sg.  prät.  mjro  glupen;  jm-pijusi 
{kärve)  strotzend;  u^kisti  (Flachs  zum  Trocknen  legen)  s.  ob.;  al-lizli 


398  AcGcsT  Le8sie5,  [*36 

die  Lust  verlieren,   sich  abwenden     prat.  3.  sg.  lito  ;    sziikti,  prät. 
Hzlikaü  errathen. 

2.  Terlw  ohne  inchoatlre  n.  s.  w.  Bedentmig. 

a)    Mit  Präsenssuffix  a    o-^). 
A.    CoDsoDantisch  auslautende  Wurzeln. 

kiszu  k'iHzaü  khzli  stecken  trans.      rinzh  rUzaü  riszU  binden. 
ktÜHU  knimü  knixU  wühlen.  rilü  ritaü  risli  rollen. 

lipü  lipaü  lipli  steigen.  le  situ  situ  sisl  schlagen. 

mujn  mifjaü  mifjli  drücken.  sziku  szikaü  szikli  cacare. 

Von  xysaü  (pvM.)  sysU  abhalten  (ein  Kind],  pa-si-itjkfs  versehen 
mit  /^Sterbesacrunienten)  ist  das  Präsens  mir  unbekannt. 

B.    Yocalisch  auslautende  Wurzel. 

le  miju  mtju  mli  tauschen. 

Ic  plijü-H  plijüs  plllC'S  sich  aufdrängen. 

rijjh  rijaü  ri/li  schlucken. 

Ic  wiju  wiju  wU  flechten,  winden   (lit.  vejü  vijaü  vyti). 

ß]    Mit  Prüsenssuffix  ja  (je-jo). 

(fnijbiu  (jnfibiau  gnifbti  kneifen. 

klykiü  klykiaü  klffkli  schreien. 

ic  mifchu  viifu  miß  harnen  (lit.  mein  myzau  myzii). 

Hlrypiü  slrypiaü  sln'ipli  trampeln. 

ivyyiü  ivyfjiaü  ivygli  quicken. 

Zu  diesen  mit  langem  Vocal  das  bei  N  stehende  spikiu  spikli 
ermahnen  mit  der  Kürze. 

d)   Yocal  e^  allein  oder  im  Wechsel  mit  e. 

Nur  consonantisch  auslautende  Wurzeln. 

Ebenso  charakteristisch,  wie  für  die  Stufe  i  die  inchoative  oder 
intransitiv-passive  Bedeutung,  ist  für  die  Stufe  e  die  durative  oder 
transitiv-active,  so  dass  nur  eine  geringe  Zahl  der  hierhergehörigen 
Vorba  jene  Bedeutung  hat. 

1.  Yerba  mit  inchoativer  oder  intransitiv-passiver  Bedeutung« 

a)    Präsens  auf  -tu. 
br{*'stu  brmdau  br^'sli  körnig  werden  (vgl.  brislu  brindan  bristi  auf- 
quellen). 


137]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  399 

geslü  gesaü  gesii  erlöschen. 

gverstu  gveraü  gvärti  sich  ausweiten    (so  nach  KLD;   in   Gebrauch 

nur  pt.  prät.  isz^gver^). 
lepsin   (N  auch   kmpu)    lepaü  lepti  sich   verzärteln    (wohl   denom. 

von  lepüs), 
reslü  (renlü)  relaü  resli   dünner  werden  (wohl  denom.  von  retiis), 
sk^siü  skendaü  sk^sli  untersinken,  ertrinken. 
temstu  temaü  lemli  dunkel  werden. 

trepslu  Irepli  N  stampfen  (mit  den  Füssen;  wohl  inch.  zu  fassen). 
treszlü  Ireszaü  Ireszli  faulen. 
zvelgslu  zvelgli  plappern  Sz  (wohl  inchoativ). 

ß)    Präsens  mit  Nasal.  ^ 

gendü  gedaü  gesli  entzweigehen. 

glembü  glebaü  glebli  weich  werden,  zerfliessen. 

jenkü  jekaü  jekti  erblinden. 

lempii  lepaü  lepti  {lepstü)  sich  verzärteln  (wahrscheinl.  denom.  von 

lepiis) . 
renlü  {restü)  relaü  resli  dünner  werden  (wahrscheinlich  denom.  von 

relas) . 
senkü  sekaü  sekti  sich  senken  (vom  Wasser). 
smengü  smegaü  smegli  hineinfahren. 
Idenkü  klekaü  Idekli  gerinnen. 

skrenlü  skretaü  skresli  sich  mit  einer  Kruste  beziehen. 
sznenkü  sznekaü  sznekli  anheben  zu  sprechen. 
lenkü  tekaü  tekti  hinreichen,  zufallen. 

y)    Präsens  mit  Suffix  ja. 

le  blefchu  bledu  blefl  aufdinsen. 

slelbiü  .slelbiaü  slelbti  schal  werden. 

Als  Inchoativ  kann  auch  das  lettische  repu  repu  repl  einen  Gallus 
ansetzen  (Suffix  a)  angesehen  werden,  inchoative  Bedeutung  hat  auch 
le  sa-wergt  einschrumpfen  ULD  (Präs.?). 

2.  Yerba  mit  durativer  oder  transitiver  Bedeutang. 

Die  etwa  gegenüberstehenden  inchoativen  oder  intransitiv-pas- 
siven mit  i  s.  0.  S.  381   bei  diesem  Vocal. 


400  August  Leseien,  [^^^ 

ä)   Suffix  a. 

bedu   grabe    (le   befchu    bcdu   befl  mezgu  mezgiaü  megsii  knoten. 

schütten,  begraben).  neszü  nesziaü  nesüi  tragen. 

defiü  degiaü  degli  brennen.  peszü  pesziaü  peszii  pflücken. 

gremzdu  gremzdau  gremszli  schaben,  rezgü  rezgiaü  regsli  stricken. 

gremzu  gremzau  gremzli  versenken,  sekü  sekiaü  sekli  folgen. 

grendu    (grendzu)     grendau    gr^'sti  telzu  lelzli  G  beharnen. 

reiben,  scheuern.  lejm  lepiaü  tepti  schmieren. 

kepü  kepiaü  kepli  backen.  vedü  vedzuü  vesli  führen. 

lesü  lesiaü  lesli  picken.  vezü  veziüü  veUi  fahren. 
melü  meczaü  mesti  werfen. 

ßj    Suffix  ya. 
1.    e  ohne  Wechsel  mit  e. 

le  befchu  bedu  befl   schütten,    be-  glemziü   glemüaü   gleniszli    zusam- 
graben.  mendrücken. 

beldzu  beldzau  behli  klopfen.  le  grebju  grebu  grebl  schrapen. 

bengiü  bengiaü  bengli  enden.  grendzu     {grendu)     grendau    grfsti 

le  berfchu  berfu  berfl  scheuern.  reiben. 

blendzü'8   blaidzatl-s   bl^'sli-s    sich  greniu  gredau  gresU  (verekeln)  ent- 
verfinstern, wohnen  (Quantität  unsicher). 

czcrszkiü  czerszkiaü  czcrkszli  klirren  gr^ziü  gr^^ziaü  gr^'zti  drehen, 

(neben  czirszkiü).  le  gtvelfchu   gwelfu  gwelft   verklat- 

delbiü  delbiaü  dclbii  [akis)  nieder-       sehen. 

schlagen   (die  Augen).  kenkia  kenke  kenkli  weh  thun. 

delsiü  delsiaü  delsU  säumen,  zögern,  kenczü  kenczaü  k^'sli  erdulden. 

dengiü  dengiaü  dengli  decken.  le    k'eschü-s    k'esü-s    k'esle-s    sich 

dergia  derge  dei'gti  es  ist  schlechtes       aufdrängen. 

Wetter  (eig.  es  macht  schl.  W.).  klepiu  {ap-)klepli  begreifen. 

derkiü  derkiaü  derkli  besudeln.  lenkiü  lenkiaü  lenkli  biegen. 

elgiü-8    elgiaüh-s    clgU-8    sich    ver-  meldzü  meldzaü  melsli  bitten, 

halten.  le    melschu    melsu    meist    verwirrt 

le  elschu  elsu  eist  keuchen.  reden. 

engiü  engiaü  engti  abstreifen.  merkiü  merkiaü  merkti  einweichen. 

le  erfchu  {er flu)  erdu  erft  trennen,  merkiu  merkiau  nierkii   die  Augen 

erziu  knurre.  schliessen. 

gerbiu  gerbiau  gerbli  ehren ;  kleiden,  nersziü  nersziaü  nerszli  laichen. 


439]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  '401 

nerczu-s  nerczaths  nersli-s  sich  be-  slelgiü    slelgiaü    slelgti    slarr    hin- 

eifem.  sehen  u.  a. 

perdzu  perdzau  persti  pedere.  slengiü-s    slengiaur-s    stengti-s    sich 

rengiü  rengiaü  rengti  rüsten.  widersetzen. 

renczü  renczaü  rpsti  kerben.  szelpiü  szelpiaü  szelpli  helfen. 

reszkiu  reszkiau  rekszti  pflücken.      le    swelpju    swelpu    swelpt   pfeifen 
segiü  segiaü  segli  heften.  (dss.  wohl    lit.  szvelpiu    szvelpli 

skelbiu  skeWiau  skelbli  Gerücht  ver-       lispeln). 

breiten.  lelkiü  telkiaü  telkli  Arbeiter  zusam- 

skelsiü  skelsiaü  skelsti  verschlagen       inenbitten   (s.  o.). 

(ausreichen).  tempiü  lempiaü  lempli  spannen. 

skerdiü  skerdzaü  skersli    (spalten)   le  lerpju  lerpu  tcrpt  kleiden. 

schlachten.  l^siü  t^iaü  t^sli  dehnen. 

sklempiü    sklempiaü    sklempli   glatt  lerszkia     terszke     lerkszU     frösteln 

behauen.  (klappern) . 

sklendzü  sklendzaü    skl^sli    schien-  tersziü  tersziaü  lerszli  schmutzen. 

dem.  trenkiü  trenkiaü  trenkii  stossen. 

sklepiu  sklepiau  sklepli  N  wölben,    tvenkiü   tvenkiaü   Ivenkli   schwellen 
skverbiü  skverbiaü  skverbli  bohrend       machen. 

stechen.  le  weldfu  weldfu  welgl  nass  machen, 

le  sledfu  sledfu  siegt  stützen  (wenn  vengiü  vengiaü  vengti  meiden. 

e  =z  en).  verkiü  verkiaü  verkü  weinen. 

\e  smeldfu  smeldfu  smelgt  schmerzen,  verpiü  verpiaü  verpti  spinnen. 
smelkiü  smelkiaü  smelkli  ersticken,  verczü  verczau  versli  wenden. 
smerkiü  smerkiaü  smerkti  verderben,  verziü  verziaü  verzti  schnüren. 
spendzu8pendzau8p^8tiFsA\ensle\\en,  zengiü  zengiaü  zengli  schreiten. 
spengia  spcnge  spengti  klingt  in  den  zergiü    zergiaü     zergti    die    Beine 

Ohren.  spreizen. 

sprendzu  sprendzau  spr^sti  spannen,  zlembiu  zlembiau  zlembli  jammern. 
stembiü  stembiaü  stembli   schössen  zvelgiü  zvelgiaü  zvelgli  blicken. 

(Stengel  ansetzen).  zvengiu  zvengiau  zvengli  wiehern. 

Mit  Ausnahme  von  le  beß^  le  grebt^  le  keste-s^  segti  und  den  in 
Quantität  oder  Form  nicht  zweifellos  überlieferten  gresti^  klepii^ 
rekszti^  sklepli  haben  alle  anderen  als  Wurzelauslaut  r,  /,  m,  n  -{-  Con- 
sonant.  —  In  diese  Reihe  gehören  wahrscheinlich  auch  kergti  an- 
binden; kvempti'S  sich  aufstützen;  ri't'iii  recken;  sterpli-s  bestehen  auf, 
deren  Präsens  mir  nicht  vorgekommen  ist. 


402'  August  Leskien,  [HO 

2.    e  im  Wechsel  mit  t. 
A.    Wurzelauslaut  momentane  Consonanten  oder  Sibilanten. 

drebiü  drebiaü  drebli   dickflüssiges  lekiü  lekiaü  lekti  fliegen. 

werfen.  slepiü  slepiaü  slepti  verbergen. 

dreskiü  dreskiaü  dreksli   zerreissen  spleczü  spleczaü  splesli  ausbreiten. 

trans.  srebiü  srebiaü  srebli  schlürfen. 

dvesiü  dvmaü  dvesti  athmen.  leszkiü  leszkiaü  tekszli  dickflüssiges 

kreczü  kreczaü  kresti  schütteln.  werfen. 

kvepiü  kvepiaü  kvepli  duften.  Iresiü  Iresiaü  Iresli  läufisch  sein. 

Ausgenommen  die  Fälle  dvesti^  kvepti^  iekszti  geht  dem  e  ein 
r  oder  l  voran.  Im  Lettischen  hat  dfest  löschen  trans.  die  Neben- 
form dfest^  Prot,  wird  nur  dfesu  angegeben,  Präs.  df^chu  und 
dfeschu;  ebenso  bei  tösl — lest  behauen  (u)it  dem  Beil),  prät.  tösu^ 
präs.  teschu  und  teschu, 

B.    Wurzelauslaut  r,  /,  m. 

beriü  beriau  berü  streuen.  scmiü  semiau  semli  schöpfen. 

geliü  (je'liau  gelli  stechen.  le     sefu     seru    sert    in    die    Rije 

geriü  geriau  gerti  trinken.  stecken. 

keliü  keliau  k4lli  heben.  skeliü  skeliau  skclti  spalten  trans. 

le  k'efu  k'eru  Kerl  fassen.  le  smel'u  smelu  smelt  schöpfen. 

lemiü  le'tniau  lemti   Schicksal  be-  le  spefu  speru  spert  mit  dem  Fusse 

stimmen.  stossen. 

le  nemu  nemu  nemt  nehmen.  le  swel'u  swdu  swelt  sengen  trans. 
neriü  neriau  nerti  eintauchen  trans.  sveriü  sveriau  sverti  wägen, 

le  pel'u  pelu  pell  schmähen.  szeriü  szeriau  szerli  füttern. 
periü  pe'riau  perti  mit  dem  Bade-  szeriü -s     szeriau-s     szerli- s    sieh 

quast  schlagen.  haaren. 

remiü  remiati  remli  stützen.  le  fwel'u  fwelu  fwell  wälzen. 

süteme    prät.   3.  sg.   LB  344    würde    ein    präs.    ^lemiü    voraussetzen 
lassen,   die  Form  würde  zur  Bedeutung  indess  nicht  recht  stimmen. 

tremiü     Iremiau      tremli      nieder-  veriü  veriau  verli  öffnen  u.  a. 

stossen.  zeliü    zeliau    zelti    wachsen     (von 

Iveriü  tveriau  Iverü  fassen.  Pflanzen,  grünen). 

veliü  veliau  velti  walken.  zeriu  zcriau  ierti  scharren. 

vemiü  vemiau  vemti  sich  erbrechen. 


4^^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  403 

Der  Unterschied  in  der  Verwendung  des  e  zwischen  A  und  B 
besteht,  wie  bekannt,  darin,  dass  jene  das  e  in  allen  Nichtpräsens- 
formen des  Verbums  haben,  diese  nur  im  Präteritum. 

e)  Vocal  au. 

Bekanntlich  sind  im  Litauischen  ursprüngliches  eu  und  ou  in  au 
zusammengefallen  und  nicht  mehr  sicher  zu  scheiden;  bei  den  pri- 
mären Verben  mit  Suffix  ja  liegt  bei  der  Parallelität  mit  e  und  e,  ei 
sicher  durchweg  eu  zu  Grunde.  Inchoative  Bedeutung  mit  dem  ent- 
sprechenden PräsenssufQxe  ta-  ist  ganz  vereinzelt;  die  durchgehende 
Bedeutung  ist  die  durative  oder  transitiv-active  gegenüber  inchoativen 
und  intransitiv-passiven  Verben  mit  der  Stufe  u. 

h  Yerba  mit  inchoaÜTer  Bedeutung  (Suffix  des  Präsens  -ta-), 
aüszta  aüszo  aüszti  anbrechen  (vom  Tage). 
äuszta  äuszo  äuszii  kühl  werden. 
kiauslü  kiaustaü  kiaüsti  verkümmern   (im  Wachsthum). 

Es  versteht  sich,  dass  Denominativa  wie  pläukstu  pläukau  pläukti 
(von  plaukai  Haar)  Haare  bekommen  hier  nicht  aufgenommen  sind. 
—  Bei  NSz  ein  skraudu  skrausti  rauh  werden,  wenn  richtig,  viel- 
leicht denom.  von  skraudus. 

2.  Terba  mit  transitiT-aetiTer  oder  dnrativer  Bedeutung. 

a)    Suffix   a   im   Präsens, 
le  fiauku  Aauzu  naukt  (lit.  pr  niäukiu)  mit  Wolken  beziehen, 
le  raugü-s  (at-)  raudfü-s  raugte-s  rülpsen, 
le  schmaugu  schmaugu  schmaugt  auf  den  Mund  schlagen. 
äugu  äugau  äugti  wachsen. 

ß)    Suffix  jo. 
A.    Consonantisch  auslautende  Wurzeln. 

braukiü  braukiaü   braükti  wischen,  dzaugiü-s  dzaugiaü-s- dzatiffü-s  sich 

baubiü  baubiaü  baübti  brüllen.  freuen. 

baudzü  baudzaü  baüsti  züchtigen,      dauziü  dauziaü  daüzti  heftig  stossen. 

czäudiu  czäudzau  czäusti  niesen.      glaudzü  glaudzaü  glaüsti  anschmie- 

czäupiu  czäupiau  czäupti  den  Mund       gen. 

eng  schliessen.  gniäuziu  gniduziau  gniäuzti  zusam- 

czauszkiü  czauszkiaü   czaükszti  rie-       menquetschen. 

sein.  le  graufchu  graudu  grauft  poltern. 

draudzü  draudzaü  draüsti  drohen,    gräuziu  gräuziau  gräuzti  nagen. 


40 i  August  Lbskibn,  [14^ 

le  ^aubju  ^aubu  ^aubt  ergötzen.      raukiü  raukiaü  ravkli  falten. 
gaudzü  gaudzaü  gamti  klagen,  jam-  rausiü  rausiaü  raüsti  wühlen. 

mern.  le  skaufchu  skaudu  skauft  neiden, 

lo  jauzu  jauzu  jaukt  mischen.  sklatidzu  sklaudzau  sklausti  drängen. 

jauczü   jauczaü   jaüsli    fühlen    —  smäugiu  smäugiau  smäugii  würgen. 

le  jauschu  jauiu  jaiisi  zu   ver-  smaukiü  smaukiaü  smaiikti  zwlSmgen. 

nehmen  geben.  snäudzu  snäudzau  snämti   schlum- 

klaupiu'S  klaupiaü-s  klaüpli-s  knien,       mern. 
kliaudzu  kliaudzau  kliausii  N  [kliaU'  spräudzu  spräudzau  sprämli  zwän- 

da)  hindern.  gen. 

kläusiu  kläusiau  klänsti  fragen.         lo  spraudfu  spraudfu  spraugt  schro- 
kratdiiü  kraukiaü  kraiikli  krächzen.       ten. 
kraupiü    kraupiaü   kraüpti    zusam-  späudzu  späudzau  spämti  drücken. 

menfahren  machen,  aufschrecken,  sraubiu     [sraubiau)      {sriaubti)    Sz 
kaukiü  kaukiaü  kaükli  heulen.  schlürfen. 

kaupiü  kaupiaü  kaüpti  häufeln.         8raupiu{sraupiau)  [sraupli)  nmtassen. 
kiämziu  kiäusziau   kiäu^zti  schnell  slaugiü  slaugiaü  staügti  heulen. 

gehen.  saubiü  saubiaü  saübti  toben. 

lätikiu  läukiau  läukli  warten.  siaudzu  siaudzau  siausti  summen. 

maukiü  maukiaü  maükti  streifen.       saugiu  saugiau  saugti  tönen. 
mausziu  mausziau  matiszH  brünstig  siauczü  dauczaü  siaüsti  toben. 

sein.  siauczü  siauczaü  siaüsti  umhüllen. 

niätdiiü'8  niäukiau-s  niäukti-s  sich  le  slauzu  slauzu  slaukt  melken. 

bewölken.  szliauiiu  [szliauziau)  (szliauszlt)  krie- 

plaudzu  plaudzau  plausii  waschen,       chen. 

le   plaufchu  plaudu  plauft  nass  le     scMauzu     schnauzu     schAauki 

machen.  schnauben. 

plavkiü   plaukiaü   plaükli  schwim-  szaukiü  szaukiaü  szaükli  rufen. 

men.  sziatisziff-s    sziausziaü-s    sziaüezti-s 

pliaupiü  pliaupiaü  pliaüpti  schwa-       sich  sträuben   (Haare). 

tzen.  träukiu  träukiau  träukti  ziehen. 

prausiü  praimaü  pi^aüsti  (Gesicht)  äudzu  ätidzau  äusti  weben. 

waschen.  le    fcMaudfu    fchnaadfu    fchiiaugl 

le    paufchu   paudu   pauft    ruchbar       {fchmaudfu    fchmaugt;    fmaudfu 

machen.  fmaugt)  würgen. 

Hierher  wohl  auch  le  paupt  schwellen;  taupti  G  schonen. 


4i3]  Der  Ablalt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  405 

B.    Vocalisch  auslautende  Wurzel. 

Das  Präterilum  hat  ö  (le  ä). 

le  auju  (Nebenform  von  auna)  awu  liäuju  liöviau  liäuti  aufhören. 
{äwu)  atU  (Schuhe)  anziehen.      mäuju  moviau  mäuli  streifen. 

bliäuju  bliöviau  bliäuli  brüllen.  le  mauju  mäwu  maut  brüllen. 

briäujü-s   briöviau-8   briäuti-s    sich  le  iiauju  üäwu  naut  miauen, 
drängen.  pläuju  plöviau  plduli  spülen. 

(fzdf/ju  Jzomat/ (/zdt//t  trocknen  trans.  piäuju  piöviau  piäuti  schneiden. 

griäujugriöviaugridulislüTzenivans.  räuju  rtwian  räuti  ausreissen. 

jäuju  jöviau  jäuti  mischen.  le  skauju  skäwu  skaut  umarmen. 

le  kl'auju-8  kl'äwü-s   ktaule-s  sich  le  schk'auju  schk'ävm  schkaut  nie- 
anlehnen   (lit.  pa-si-klätUi  ver-       sen. 
trauen  auf).  le   spraujü-s  spräwu-s  spraut   em- 

kräuju  kröviau  kräuti  häufen.  porkommen,  empordringen. 

käuju    kaviati     käuli     schmieden ;  spiäuju  spioviau  spiäuti  speien, 
kämpfen.  szäuju  szoviau  szäuti  schiessen. 

Die  lettischen  Nebenformen  der  Präsentia  wie  kf-aunu^  raunu 
u.  s.  w. ,  die  dialektisch  auch  im  Litauischen  vorkommen,  sind 
Weiterbildungen  einiger  alter  Muster  wie  annü  und  können  hier  un- 
berücksichtigt bleiben. 

y)    Suffix  na. 

Es  kommen  hier  nur  vor  aunü  aviaü  aüli  (Schuhe)  anziehen; 
gäunu  gavaü  gäuti  bekommen. 

f)  Yocale  e  und  ei. 

Verba  inchoativer  oder  intransitiv- passiver  Bedeutung  fehlen 
hier  so  gut  wie  ganz,  daher  auch  die  entsprechende  Präsensbildung 
auf  ta-:  es  lassen  sich  nur  anführen  le  meftu  (neben  mefu)  mefu 
meft  stumpf  werden  (von  den  Zähnen) ,  le  reibst  reiba  reibt  es 
schwindelt.  —  Sehr  spärlich  ist  femer  bei  den  Verben  durativer  oder 
transitiv-activer  Bedeutung  a)  das  Präsens  auf  a  vertreten,  bei  der 
Stufe  ei  fehlt  es  ganz,  bei  e  gehören  hierher: 

le  b^fu  befu  beft  gerinnen   (dessen  ^  übrigens  =  en  sein  kann), 
le  degu  degu  dSgt  (lit.  degiü  dSgti)  stechen. 
tnSzu  mezau  mezti  N  mit  Honig  süssen. 


406  August  Leskien,  L^^^ 

le  nefu  nefa  tieft  jucken. 

slregu  str^gli  ansiecken. 

Es  bleibt  also  nur  ß)  die  PrUsensform  mit  ja,  die  bei  den 
vocalisch  auslautenden  Wurzeln  im  Lettischen  z.  Th.  die  Nebenform 
auf  -na-  hat  (vgl.  le  ki-auju  und  kfaunu). 

A.    Consonantisch  auslautende  Wurzeln. 

4.  Vocal  e\ 

hvHiu  briziau  hrezti  kratzen.  skredzu    skredzau    skresli    kreisen, 

degiü  degiaü  dSgti  stechen.  fliegen. 

dräiiü     dr^aü     drSkli     (Halme)  skreczü  skreczaü  skrMi  drehen. 

streuen.  le  sledfu  sledfu  siegt  stutzen  (wenn 
geziü  geziaü  geili  grollen,  impers.       e  nicht  =  en), 

gSzia  kratzt  im  Halse.  le  medfu  snedfu  snegt  reichen. 

grebiu  grebiau  grSbti  greifen.  le  spefchu  spedu  speft  drücken. 

gr'Sziu  grSziau  grezti  einschneiden.  Ic  spedfu  spedfu  spegt  pfeifen, 

le  klefchu  kledu  kleft  ausstreuen,  speczü  speczaü  spMi  schwärmen, 

le  kledfu  kledfu  klegl  schreien.  stepiü  stepiaü  st'epti  recken, 

le  knefchu  knefu  knefl  keimen.  svedzü  svedzaü  sv'^sti  schleudern. 

kveczü  kveczaü  kvesti  einladen.  szepiu-s  szepiaü-s  szSpti-s  Gesicht 
le  IMfu  ledfu  legt  weigern.  verziehen. 

lepiü  lepiaü  lepti  befehlen.  szveczü  szveczaü  szvMi  leuchten. 

Irczu  leczau  lesti  anrühren.  tesiü  tesiaü  iesti  strecken. 

leziü  l^ziaü  lezti  lecken.  trSdzu  trSdzau  tr'estiDurchfall  haben. 

le  medfu  medfu  megt  drücken.  treszkiu  trSszkiau  trtkszti  spritzen. 

p(S8ziu  pSsziau  pSszti  schreiben.  le  Irepju  trepu  Irept   beschmieren, 

le  r^ju  rebu  rebl  verdriessen.  le  webjü-s  webü-s  webte-s  Gesicht 
rekiü  rekiaü  rlSkti  schneiden.  verziehen. 

reczü  reczaü  rSsti  rollen.  le  weschu-s  wesu-s  weste-s  gedeihen. 

sSkiu  sekiau  sl^ti  langen.  le  weschu  wem  west  einladen, 

le  schk'ebju  schk'ibu  sclik'ä)t  schief  vSziu  {uz-si-)  veziau  vSzti  vermögen. 

neigen.  zebiü  zebiaü  z'Sbti  anzünden. 

skSdzu  skedzau  skSsti  scheiden.  iedzu  zedzau  zSsti  formen. 

skiczü  skeczaü  skPMi  ausbreiten.  zvegiü  zvegiaü  zvSgti  quieken. 

2.   Vocal  ei. 

le  beidfu  beidfu  beigt  endigen   (lit.  geidzü  geidiaü  geisti  begehren. 
baigiü  baigti).  greibiu  greibiau  greibti  greifen. 


445]  Der  Ablaut  der  Wurzelsuben  im  Litauischen.  407 

keikiu  keikiau  keikti  fluchen.  skleidzü  skleidiaü  skleisti  ausbreiten. 

keiczü  keiczaü  keisti  wechseln.  skeiczü  skeiczaü  skeisti  ändern. 

kleipiü  kleipiaü  kleipti  schief  treten,  smeigiü  smeigiaü  smeigti  anstecken. 

kreikiü     kreikiaü     kreikti     (Stroh)  le  steidfu-s  steidfu-s  steigte-s  eilen. 

streuen.  szleikiü  szleikiaü  szleikti  wetzen. 

kreipiü  kreipiaü  kreipti  wenden.  szveiczü  szveiczaü  szveisti  putzen. 

kreiszkiu  kreiszkiau  kreikszti  durch-  teikiü    teikiaü    teikti    fUgen  —    le 

wühlen.  teizu    teizu    teikt    sagen    —  Hl. 

leidzu  leidau  Uhti  lassen  (le  laift).       teigiü  teigiaü  teigti  erzählen. 

peikiü  peikiaü  peikti  tadeln.  teisiü  teisiaü  teisti  abmachen. 

pleikiü  pleikiaii  pleikti  Fische  aus-  veikiü  veikiaü  veikti  machen. 

nehmen  u.  s.  w.  veisiü  veisiaü  veisti  fortpflanzen. 

reiszkiu  reiszkiau  reikszii  offenbaren,  zeidzü  zeidzaü  zeisti  verwunden. 

B.    Vocalisch  auslautende  Wurzel. 
1.    &  durchgehend. 

grejü  grejaü  griSti  schmänden. 

iSju  l'Sjau  Uli  giessen. 

skrejü  skrejaü  skrSli  im  Kreise  bewegen,  fliegen. 

szlejü  szlejaü  szl'Sti  anlehnen. 

2.    e  [t]  im  Wechsel  mit  ei,  ej,  nur  lettisch. 

le  deiju  deiju  det  tanzen.  le  reiju  reju  r€t  bellen,  beissen. 

le  dfeijti  dfeiju  dfet  hervorblühen,  le  skreiju  skreju  skret  laufen, 

hervorragen.  le  smeiju  smeju  smet  lachen, 

le  kreiju  kreju  kr  et  schmänden.  le  sleiju  sleju  slet  anlehnen, 
le  leiju  leju  let  giessen. 

Einige  dieser  Verba  haben  im  Präsens  die  Nebenform  mit  Suffix. 
na:  krenu,  skrenu^  slenu;  dazu  kommt  senu  seju  set  binden.  —  Im 
Lettischen  entspricht  die  Form  sleiju  sleju  slet  vollständig  der  von 
kfauju  kfäwu  kraut  {kräuju  kröviau  kräuti).  Das  Litauische  hat  die 
entsprechende  Bildung  nur  im  Prät.  ejaü  (zu  einü  eiti). 

B.  Die  Vocalstufen  wechseln  im  Formensystem  desselben  Verbums. 

Die  Verhältnisse  sind  aus  den  Grammatiken  bekannt,  der  Voll- 
ständigkeit wegen  mögen  indess  die  Fälle  auch  hier  aufgezählt 
werden. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Geselldch.  d.  Wissensch.  XXI.  2g 


> 


408  August  Leskien,.  [U6 

4 .    Die  Reihe  t,  y,  e  u.  s.  w. 
le  ^edu  §\du  ^ift  merken.  werden  (von  den  Zähnen)  Bi  I. 

läiü  likaü  likti  lassen.  ^**' 

^  ,  .     ,        ,    .  le  redu  ridu  rist  ordnen. 

megu    \min^u]    mtga      mtgt     i  -  ^^  g^hketu  schk'itu  schk'ist  noeinen. 

schlafen.  .,      ,    ,  ,         w «  u     • 

mega  [sntnga)  sntgo  sntgh  schneien. 

le  mefnu  (kann  indess  =  menf-4iu  \q  ^teg^  ^tigu  stigt  einsinken. 

sein,  vgl.  lit.  mfzü  myzaü  mpti)   \q  ^tregu  strigu  strigt  einsinken. 

mifu  mift  ]q  fgku  tiku  tikt  geschehen, 

le  mefu  mifu    (mefu)    meft  stumpf  vejü  vijaü  v^i  wickeln. 

2.    Die  Reihe  i,  e  u.  s.  w. 

bredü  bridaü  bristi  waten.  le  melfu  milfu  milft  schwellen, 

le  dein  {düstu)    dilu  dill  sich    ab-  melzu  miliau  milzli  melken. 

schleifen.  menü  miniaü  minti  gedenken, 

le  demu  [dimstu)  dimu  dimt  dröhnen,  le  perdu  pirdu  pirft  pedere. 
dr^sü  {dristü)    drisaü   dristi   dreist  perkü  pirkcü  pirkti  kaufen. 

werden.  perszü  pirszaü  pirszti  freien. 

gemü  gimiaü  gimti  (le  auch  dßm-  renkü  rinkaü  rinkti  sammeln. 

stu)  geboren  werden.  sergü  sirgaü  sirgli  krank  sein. 

genü  giniaü  ginti  austreiben  (Vieh),  slenkü  slinkaü  slinkti  schleichen. 
kemszü  kimszaü  kimszti  stopfen.       telpü  lilpaü  tilpti  Raum  haben. 
kerpü  kirpaü  kirpti  scheeren.  trenkü  trinkaü  Irinkli  (eig.  abstossen) 

kertü  kirtaü  kirsli  hauen.  waschen. 

kremiü  krimtaü  krimsti  nagen.  velkü  vilkaü  vHkti  ziehen. 

lendü  lindaü  listi  kriechen. 

Vereinzelt  steht  mit  abweichender  Präsensbildung  verdu  viriaü 
virti  kochen,  und  mit  anderer  Ablautsform  imü  emiaü  imti  nehmen. 
—  Bekannt  ist,  dass  die  Verba  unter  2.  sämmtlich  den  Wurzelaus- 
laut /,  m,  n  oder  r,  /,  m,  n  -{-  Consonant  haben,  ausgenommen  nur 
bredü  bristi^  wo  r  dem  Vocal  vorangeht.  Femer  ist  zu  bemerken, 
dass  bei  1.  wie  bei  2.  nur  die  Prasensbildung  auf  -a-  vorkommt 
(abgesehen  von  dem  zweifelhaften  lettischen  mefnu).  —  Der  Reihe 
u,  u,  au  fehlt  dieser  Wechsel,  das  eigenthümliche  pü'lu  puliau  pülti 
ausgenommen. 

Aus  dem  Bisherigen  ergeben  sich  für  die  Vertheilung  der  Vocal- 
stufen  folgende  allgemeine  Sätze: 


H7]  Der  Abladt  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  409 

I.  Die  Stufen  i  (der  e-Reihe),  i  (der  ei-Reihe),  u  (der  ew-Reihe) 
sind  gleich werthig ;  die  Bedeutung  der  Yerba  mit  diesen  Stufen  ist 
in  der  grossen  Mehrzahl  die  inchoative  oder  intransitiv-passive  (gegen- 
über entsprechenden  durativen  oder  transitiv-activen  Verben).  Für 
das  Lettische  hat  dieses  Verhältniss  schon  Bielenstein  L  334  ff.  richtig 
erkannt.    Länge  und  Kürze  vertheilen  sich  wie  folgt: 

1)  bei  i  (der  c-Reihe)  findet  sich  nur  vereinzelt  durchgehende 
Lange:  pljszlu  plpzau  plpzti^  der  aber  ein  ebenso  durchgehendes 
e  im  transitiven  ple'sziu  ple'sziau  pleszti  gegenübersteht,  so  dass  ge- 
Wissermassen  dieser  Ablaut  eine  Reihe  für  sich  bildet;  dazu  nur 
noch  tv^kstu  tvyske'tu  .  Wechsel  mit  der  Kürze  findet  vor  momen- 
tanem Consonanten  oder  Sibilanten  statt  in  drykstü  gegenüber  driskaü 
u.  s.  w.  {grystü  und  ryzgü  können  Nasal  enthalten),  sonst  ist  die 
Länge  auf  die  litauische  Präsensbildung  der  auf  J,  r  auslautenden 
Wurzeln  beschränkt  {byrü^  kylü). 

2)  u  und  ü,  i  und  y  vertheilen  sich  so,  dass  die  Kürzen  mit 
der  Präsensbildung  durch  Nasal,  die  Längen  mit  der  durch  -to-  ver- 
bunden sind,  und  die  betreffende  Quantität  durchgeht  [irunkü  trukaü 
Irükti  —  trükstu  trükau  trtikli;  ninkü  nikaü  nikti  —  nykstü  nykaü 
njjkti).  Wechsel  zwischen  den  Quantitäten  findet  nur  statt  bei  vo- 
calisch  auslautenden  Wurzeln,  indem  das  Präsens  ü  oder  l  gegen- 
über dem  Präteritum  mit  ü  oder  i  hat,  z.  B.  bliüvü  bliüvaü,  gyjü  gijaü 
(bei  consonantisch  auslautendem  Suffix  versteht  sich  im  Litauischen 
die  Länge  des  Wurzelvocals  vocalisch  schliessender  Wurzein  von  selbst). 

II.  Die  Stufen  e,  ä',  ei,  au  sind  gleich  werthig,  die  Bedeutung 
der  Verba  mit  diesen  Stufen  ist  durchgängig  die  durative  und  tran- 
sitiv-active ;  die  Präsensbildung  geschieht  in  der  grossen  Mehrzahl 
durch  Suffix  ja.  Quantitätswechsel  kann  nur  bei  e  stattfinden,  und 
nur  in  Nichtpräsensformen  i  erscheinen: 

i)  bei  Wurzelauslaut  r,  /,  w  hat  das  Präteritum  allein  e  {beriü 
be'riau  berli), 

2)  bei  andern  Consonanten  im  Wurzelauslaut  mit  r  oder  /  vor 
dem  e  das  Präteritum  und  die  Infinitivformen  {lekiü  lekiaü  lekli). 

III.  Die  Verba  mit  nicht  bestimmt  inchoativ  u.  s.  w.  fixirter 
Bedeutung  bei  Tiefstufe  i  (zu  e),  i,  u  haben  als  Präsenssuffix  ent- 
weder a  [o-e)  oder  ja  {jo-je) ;  die  Quantitäten  vertheilen  sich 
folgendermassen : 

28* 


410  AuGC8T  Leskieh,  [148 

1)  beim  i  (der  ^-Reihe)  ist  der  Vocal  des  Präsens  stets  kurz 
mit  einer  Ausnahme:  tyriü  {t^j/riau  lirti);  wenn  die  Wurzel  auf  r,  /,  n 
auslautet,  hat  das  Präteritum  Dehnung:  minü  m^niau  minti;  giriü 
gpiau  girli;  skiliü  sk^liau  skilti, 

2)  beim  u  haben,  wenn  die  Wurzel  auf  momentanen  Consonanten 
oder  Sibilanten  auslautet,  die  Präsentia  auf  a  die  Kürze:  brukü,  die 
auf  ja  die  Länge:  grüdzu^  die  Yocale  verbleiben  in  ihrer  Quantität 
dann  im  übrigen  Formensystem  des  Yerbums  (brukaü  brükü  —  grüdzau 
grusti).  Vocalwechsel  findet  statt  bei  Wurzelauslaut  r,  /,  m,  indem 
das  Präteritum  die  Länge  erhält:  duriü  düriau  dürti.  Bei  vocalisch 
auslautender  W.  hat  das  Präs.  ü  gegenüber  dem  präteritalen  ü  (nur 
siüvü  siüvaü  siüti). 

3)  bei  i  (der  et-Reihe)  scheinen  nach  den  wenig  zahlreichen 
Beispielen  zu  schliessen  die  Verhältnisse  ebenso  wie  bei  u  zu  sein, 
daher  kiszü  kiszaü  kiszti^  aber  strypiü  slrypiaü  strypli,  und  ryjü 
rijaü  rpi. 

Anhang. 

Die  Stufen  a  6  o  (der  e-Beihe)  und  ai  im  primären  Terbum. 

\.   Vocal  a. 

Es  lassen  sich  nur  sehr  wenige  Beispiele  anfuhren,  deren  Zu- 
gehörigkeit zu  dieser  Reihe  überdies  z.  Th.  zweifelhaft  ist  und  von 
denen  einige  als  denominativ  angesehen  werden  können, 
le  aif-karu  käru  kart  antasten  (zweifelhaft,  ob  hergehörig), 
le  karstu  karsu  karst  erhitzt  werden. 
maliü  maliaü  tnälti  mahlen. 
pampsiü  pampaü  pämpii  aufdinsen   (le  pampig  pempt^  pumpt,   vgl. 

lit.  pümpuras  Knospe  u.  a.). 
parpiü  parpiaü  pärpti  knarren,  quarren ;  parpstü  parpaü  pärpU  (und 

pürpti)  sich  aufblähen. 
plantü  plataü  pläsli  breit  werden    (zweifelh.,  ob  zu  dieser  Reihe, 

und  wohl  sicher  denom.  von  plaiüs). 
prantü  praiaü  präsii  gewohnt  werden    (su-  verstehen);  zweifelh., 

ob  hierher  gehörig. 
skärü  skaraü  skärti   zerlumpt   werden  (gebräuchlich   nur  nu-8kar§s 

zerlumpt;  das  Wort  ist  wohl  sicher  denom.  von  skarä  Lumpen). 


449]  Der  Ablaut  der  Würzelsilben  im  Litauischen.  iH 

le  skrabt  prät.  skrabu  (präs.  skrabu^  skrabstuf)  schaben. 
smagiü  smogiaü  smögti  schleudern. 
tarpslü  tarpaü  tärpti  gedeihen  (denom.?). 
tärszku  tarszkiaü  tärkszü  klappern. 
szwarksxczü  szwarkszczaü  szwärkszti  quieken. 

Die  onomatop.  Worte  wie  pärpti,  szwärkszti  kommen  dabei  kaum 
in  Betracht. 

2.  Vocal  ^. 

grebiu  gre'biau  gre'bti  raffen,  harken. 

klesziü  kUsziaü  kle'szü  fegen   (Getreide). 

knebiü  knebiaü  knebti  leise  kneifen  (e?). 

le  kwepstu  kwepu  kwSpt  qualmen  (lit.  kvepiü  kvepiau  kvepti  neben 

Präs.  kvepiü  duften). 
plesziu  plesziau  pleszti  zerreissen. 
rikiü  rekiaü  re'kti  schreien, 
le  sprägstu  sprägu  sprBgt  platzen  (neben  sprägt). 
stebiü-s  stebiavhs  ste'bti-s  sich  stemmen. 
szldkiu  szlekiau  szlekti  spritzen  trans.  N. 
vepiu-s  vepiaü'S  ve'pü-s  den  Mund  verziehen. 
zlebiü  zlebiaü  zle'bti  schwach  sehen. 

3.  Vocal  ö  (ä). 

le  gräbju  gräbu  gräbt  greifen   (lit.  gröbti). 
le  knäbju  knäbu  knäbt  picken,  zupfen. 
skobiu  skobiau  skobti  abpflücken. 
sprögstu  sprögau  sprögti  prasseln,  spriessen. 
tvoskü  tvoskiaü  tvöksti  viel  schwatzen. 

4.  Vocal  Ol. 

Diese   Stufe  ist  in  den  Fällen,  wo  sich  ein  Ablaut  constatiren 
lässt,  nur  ganz  vereinzelt  vertreten: 

baigiü  baigiaü  baigti  (le  bdgt)  endigen. 

klaipiu  [isz-)  »verschränken«  ist,  wenn  nicht  ein  Denominativ,  wohl 

nur  andre  Schreibung  für  kleipiü. 
le  laifchu  laidu  laift  lassen  (gegenüber  lit.  leisti)» 
sklaidzu  sklaisti  N  {uz~)  riegeln,   die   Schreibung  mit   ai   ist  ohne 

Gewähr,  vielleicht  das  Wort  denominativ. 


412  August  Leskien,  [450 

Die  anderen  noch  vorhandenen  sind  die  oben  S.  292  aufgezählten 
Beispiele,  bei  denen  kein  Ablaut  vorliegt. 


II.   Yerbalstämme  auf  e  mit  primärer  Präsensbildung 

auf  a  oder  %  (ja). 

Es  dürfte  hier  unmöglich  sein,  die  primären  Verba  von  den 
denominativen  mit  Sicherheit  oder  auch  nur  mit  annähernder  Ge- 
nauigkeit zu  scheiden,  namentlich  so  lange  eine  plausible  Erklärung 
der  Präsensstämme  auf  i  fehlt  {m^li-me);  trnßiu  mylilti  kann  primär 
sein,  aber  auch  ein  Denominativum  zu  mylüs,  smtrdzu  smirdeti  ist 
wahrscheinlich  primäre  Bildung,  kann  aber  auch  von  einem  Nominal- 
stamm smirda-  herkommen,  pav^dzu  pavyde'ti  beneiden  von  pav^das 
Neid  u.  s.  w.  Ausserdem  sind  sie  nicht  scharf  trennbar  von  den 
abgeleiteten  Verbalstämmen,  deren  e  durch  sämmtliche  Formen  bleibt, 
weil  die  eine  Classe  zuweilen  in  die  andere  übergreift.  Der  Werth 
der  folgenden  Aufzählung  ist  daher  gering.  Am  sichersten  wird 
man  diejenigen  als  primär  ansehen  können,  die  Präsens  auf  -a- 
haben  und  dem  Inchoativum  gegenüber  die  ausgeprägte  Bedeutung 
des  intransitiven  Durativums  besitzen,  »in  dem  und  dem  Zustande 
befindlich«  bedeuten.  Die  ursprüngliche  Regel  scheint  hier  die  Tief- 
stufe zu  sein,  vgl. 

szvitü  szviteti  hell  sein   {szvintü  szvisti  hell  werden). 

Einigermassen  deutlich  tritt  dies  Yerhältniss  indess  nur  hervor 
bei  der  i-  und  w-Reihe,  bei  der  e-Reihe  erscheint  es  ganz  verwischt. 
—  Es  dürften  folgende  Verba  hierher  zu  rechnen  sein. 

A.  Wurzelvocal  /,  y  (der  Reihe  i  a  u.  $.  w.). 

i.  Präsens  auf  a. 

dyru  dyreti  gaffen.  svidü  svideti  glänzen, 

le  gribu  gribet  wollen.  szvitü  szvite'ti  hell  sein, 

le  ktuitu  kwitit  flimmern.  triszku    triszketi    {yf   N)    spritzen 
lytü  {lyczü)  lyle'ii  anrühren.  (Irans,  oder  intr.  ?). 

le  nidu  nldet  hassen.  visgü  visgeti  schlottern, 

le  ritu  ritöt  rollen  intr.  le  wifu  wifet  flimmern, 
le  slidu    slidät    und    slldti    slldH     zibü  zibe'ti  schimmern, 

gleiten.  zi^du  {zijdzu)  zydeti  blühen. 


154]  Der  Ablaut  der  Wcrzelsuben  im  Litauischen.  i13 

Ganz  vereinzelt  ist  diese  Bildung  bei  der  Stufe  €: 
le  nef  neßt  jucken,  lit.  fiSU  nezeti. 
ritu  reteti  intr.  rollen, 
le  scWedu  schkedU  in'Theile  zergehen, 
le  fedu  ififchu)  fedet  blühen. 

2.  Präsens  auf  i  {ja). 

lydzü  lyde'ti  Geleit  geben,  geleiten  trans. 

lyczü  {lytü)  lyteti  anrühren. 

m^liu  myle'ti  lieben  (vielleicht  denominativ) . 

tikiü  tiketi  vertrauen  auf,  glauben  an. 

v^dzu  {pa-)  vyde'ti  beneiden  (vielleicht  denominativ). 

ijdiu  {i^du)  zyde'ti  blühen. 

Mit  e  oder  ei:  vesziü  veszeii  zu  Gast  sein  (wohl  sicher  deno- 
minativ, vgl.  v'esz-kelis) ;  reikia  reike'ti  nöthig  sein ;  seikiü  seiketi  messen 
(mit  einem  Hohlmasse);  veizdzu  veizdeti  sehen. 

B.  Wurzelvocal  u,  ü. 

1.  Präsens  auf  a. 

bruzgü  bruzgeti  rascheln  (ü?).  le  küpu  küpH  rauchen. 

bundü  hude'ti  wachen  (Präsens  nach  kiiszü  kmze'li  sich  regen. 

der  Inchoativbildung).  kutu  kuteti  sich  zerfasern  N. 

le  dum  dusel  ruhen  (eig.  keuchen),  puszkü  pwzkeü  knallen. 

düzgu  düzge'ti  dröhnen  {^t).  le   putu   puUt    stäuben,    stühmen 
le  glünu  glünel  lauern.  (Schnee). 

gruzdü  gruzde'ti  schwelen.  rudü  rudeti  rosten. 

judü  judeii  sich  regen.  trupü  Irupeii  bröckeln. 
krutü  krute'ti  sich  regen. 

2.  Präsens  auf  i  {ja). 
le  duzu  duzH  brausen.  nüriü  nüreli  glupen. 

dtmü  duse'ti  hüsteln.  pliuszkiü  pliuszkd'ii  plappern. 

düsiü  düsSti  keuchen  (vielleicht  de-  riip'  rüpi'ti  Sorge  machen,  impers. 

nom.,  vgl.  z.  B.  äl-düsis  Seufzer).       man  r.  mir  liegt  am  Herzen. 
guliü  guU'li  liegen.  rusziu  ruszeti  geschäftig  sein. 

kruniü  kruni'ti  hüsteln.  ruzgiu  rüzge'ti  murren. 

kuviu-s  kuveti-8  Sz  sich  schämen,  le  südfu  südßl  klagen. 
liüdiü  liüdd'ü  traurig  sein.  tupiü  tupe'ti  hocken. 

lukiu  lüke'ti  harren. 


414 


August  Leskien, 


[452 


Auch  hier  ist  die  Zahl  der  Bildungen  mit  au  gering:  le  glatulu 
glaudät  streicheln  (iterativ?) ;  le  schk'audu  [schk'aufchu)  schk'audM 
niesen;  czäudiu  czäudeii  niesen;  päuszkiu  päuszketi  knallen;  tämzkiu 
tauszketi  anklopfen;  skaüst  skaude'ti  weh  thun;  sraviü  sravi'ti  sickern; 
aviü  aveti  Schuhe  anhaben;  die  beiden  letzten  Bildungen  müssen  als 
Denominative  gelten  (vgl.  sravä)^  wären  die  Verba  primäre,  so  wür- 
den sie  ^srauju^  ^auju  lauten. 

C.  Wurzelvoca!  i,  e. 

Hier  lässt  sich  eine  Regel  nicht  constatiren;  i  erscheint  zwar, 
wie  sonst,  mit  wenigen  Ausnahmen  nur  in  der  Begleitung  von  r,  /, 
m,  n,  allein  ebenso  in  derselben  Verbindung  auch  e;  es  mögen  daher 
im  folgenden  die  betreflfenden  Verba  einfach  aufgezählt  werden. 

4.   Präsens  auf  a. 


a.  Vocal  i. 


bildu  bildeti  poltern. 
brizgü  brizgeti  ausfasern  intr. 
kibü  kibeti  zappeln. 
klibü  klibeti  wacklig  sein. 
kibzdü  kibideti  wimmeln. 
kribzdü  kribzdeti  wimmeln. 
lindu  (lindzu)  lindeti  kriechen. 
mirgu  mirgeti  flimmern. 


le  pilu  pikt  triefen, 
le  ritu  ritet  dünn  werden. 
spingu  spingeti  glänzen. 
sznibzdü  sznibzdeii  zischeln. 
irinkü  {trinkiü)  trinketi  dröhnen. 
triszu  triszeli  zittern. 
iviska  tvisketi  stark  blitzen. 
zvilgu  zvilgeti  glänzen. 


b.  Vocal  e. 


beldu  beldeti  klopfen. 
bezdü  bezdeti  pedere. 
brezgü  brezgeli  stammeln. 
brezü  breze'ti  rasseln. 
czerszkü  czerszketi  klirren. 
drebü  drebeti  zittern. 
gebu  gebeli  pflegen. 
gedü  gedeti  Leid  tragen. 
gelbu  gelbeti  helfen. 
kein  keteti  beabsichtigen. 
klebü  klebe  ti  wackeln. 
krebzdü  krebzdeli  rascheln. 


kreiü  krete'ti  wackeln. 
merszu  merszeti  ausser  Acht  lassen. 
peldu  peldeti  sparen,  schonen, 
le  peldu  peldu  schwimmen. 
penü  peneti  nähren. 
perszt  perszeti  schmerzen. 
plezdü  plezdeüi  flattern. 
pleszka  pleszke'ti  prasseln. 
selü  sele'ti  schleichen. 
skeldu  skeldeti  sich  spalten. 
skendu  skendeti  im  Ertrinken  sein. 
skrebü  skrebeti  rascheln. 


153]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  415 

stenü  steneti  stöhnen.  treszkü  treszke'ti  knistern. 

sznekü  szneketi  Teden,  vebzdü  vebzdeti  wimmeln. 

tekü  teke'ti  laufen.  veldu  {pa-)  veldeti  ererben. 

teszkü  teszketi  tropfen.  zembu  zembeti  keimen. 
trendu  [trendzu]  trende'ti  von  Motten 
zerfressen  werden. 

2.  Präsens  auf  i  (ja), 

a.  Vocal  i. 

girdzü  girdeti  hören.  fyKw /t//e'fi  schweigen  (wohl  denom., 
girgzdzu  girgideti  knarren.  vgl.  tylä  das  Schweigen). 

iUiu-8  ilseti-s  ruhen.  tingiu  tingeti  faul  sein  (vgl.  tingus 
linkiü  linke'ti  geneigt  sein;  sich  ein       faul). 

wenig  neigen.  trinkiü  {trinkü)  trinke' U  dröhnen,  le 
miniü  {menü)  mine'ti  gedenken.  trtzu  trlzet  zittern. 

smirdzu  smirde'ii  stinken.  vilkiü  vilketi  bekleidet  sein  mit. 

spindzu  spindeti  glänzen.  virpiu  virpe'ti  zittern. 

b.  Vocal  e. 

deriü  dereti  dingen.  regiü  regeti  schauen. 

geniü  geneti  ästein.  rembiu  rembeii  träge  sein. 

kenczü  kente'ti  leiden.  sergiu  sergeti  hüten. 

keriü  kereti  verzaubern.  skeliü  skeleti  schuldig  sein. 

» 

kvepiü  kvepeti  duften.  skerdzu  skerdeti  Risse  bekommen. 
mördzu  merdeti  im  Sterben  liegen,  le  slepju  slepei  verbergen  (iter.?). 

nersziu  nerszeti  laichen.  slebiu-s  siebe ti-s  staunen. 

peliü  peleti  schimmeln.  tesiü    [at-)  teseti  ausrichten,    aus- 
pendzu   {pendeju)  pendeti  trocken       führen. 

faulen.  trendzu  {trendu)  trendeti  von  Motten 

periü  pere'ti  brüten.  zerfressen  werden. 

D.  Wurzelvocal  a  (der  ^-Reihe). 

kabü  kabeti  hangen.  skämbu  skämbeti  klingen. 

klabü  klabe'ti  klappern  (neben  klebü  le  skanu  skanBt  klingen. 

klebe  ii  und  klibü  klibe'ti).  skrabe'ti  rascheln  (gewöhnl.  skrebü 

knabü  knabe'li  N  schälen  (zupfen).       skrebe'ti). 
skabü  skabe'ti  ästein.  spragü  sprageti  prasseln. 


416  Aggcst  Lbskien,  [134 

szlakü  szlaketi  tröpfeln.  traszkü    iraszke'U    prasseln    (neben 
H7/nabidü  sznabideü  rascheln  (neben       treszkü  ireszke'ti) . 

sznibidü  sznibidelt) .  tvaskü  tvasketi  blitzen  (neben  ivisku 
larszkiü  tarszkeli  klappern.  tviskettj. 

2.  Die  Eeihen  IV  nnd  V. 

Bei  den  wenigen  Beispielen  der  Reihe  IV  lässt  sich  ein  be- 
stimmtes Yerhültniss  der  Yocalstufen  in  der  Bildung  primärer  Verba 
nicht  erkennen.     Die  vorkommenden  Fälle  s.  o.  S.  37U. 

Bei  der  Reihe  V  ist  die  Zahl  der  Beispiele,  die  überhaupt  Ab- 
laut zeigen,  ebenfalls  gering,  indess  kann  man  einige  Male  beobachten, 
dass  die  Stufe  a  Inchoativ-  und  Intransitivbildungen,  die  Stufe  o 
transitiv-activen  Verben  zukommt,  vgl. 

hroHzkü  hraszketi  —  hroszkiü  broszkiaü  brökszli  (wenn  die  Zusam- 
menstellung richtig  ist) 
und  vgl.  die  transitive  Bedeutung  von  bloszkiü  blökszti  bei  Seite 
schleudern,  skopiü  skopli  aushöhlen,  al-si-költi  sich  anlehnen.  Zu 
einem  bestimmten  festen  Resultat  reichen  indess  die  vorhandenen 
Fälle  nicht  aus. 

Als  Anhang  mag  hier  der  Wechsel  von  ä  und  a  oder  von  a 
und  ö  [a)  innerhalb  des  Formensystems  desselben  Verbums  folgen. 

A.  Präsens  ä,  sonst  a. 

Es  kommen  nur  Beispiele  vor,  die  sonst  keinen  Ablaut  zeigen; 
die  Bedeutung  ist  die  inchoative. 

balü  balaü  bälli  weiss  werden. 

szälü  szalaü  szalii  kalt  werden. 

8älü  salaü  sälti  süss  werden. 
Diese  Bildung  läuft  also  parallel  der  von  byrü  biraü  birli  und  fehlt 
wie  diese  dem  Lettischen  in  dem  einzigen  entsprechenden  Beispiel: 
salstu  salu  sali  (=  szälti). 

B.   Präteritum  o  (ä),  sonst  a. 

Wurzelauslaut  r,  /.  Nur  Verba  ohne  sonstigen,  wenigstens 
sichern  Ablaut. 

kariü  köriau  kärti  hängen, 
le  aif-kaHi  käru  karl  antasten. 


455]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  417 

le  bafu  bäru  hart  schelten  —  lit.  barü  {bariü)  bariaü  bärti. 
\e  pt.  prät.  nü-bälis  erbleicht. 
Dies  entspricht  dem  Vorgänge  in  beriü  beriau,  duriü  düriau  u.  s.  w. 

C.  Präsens  a,  Nichtpräsensformen  o  (ä). 

Auslaut  stummer  Consonant. 
smagiü  smogiaü  smögti  schleudern  (Ablaut  in  smengü). 
vagiü  vogiaü  vögli  stehlen. 
Es  entspricht  drebiü  drebiaü  dreblij  püczü  püczaü  pmii  u.  s.  w. 


n.   In  der  Nominalbildung. 

Die  folgende  Darstellung  berücksichtigt  nur  diejenigen  Bildungen, 
bei  denen  sich  überhaupt  eine  festere  Regel  oder  eine  Neigung  zu 
bestimmten  Yocalstufen  erkennen  lässt,  die  also  für  den  Stand  des 
Litauischen  charakteristisch  sind ;  es  werden  daher  nicht  alle  primären 
Nomina,  die  in  der  alphabetischen  Aufzählung  vorkommen,  hier  an- 
geführt. Ferner  kommen  hier  nur  solche  Worte  in  Betracht,  deren 
Wurzel  überhaupt  einen  Ablaut  zeigt,  so  dass  die  unten  folgende 
Aufzahlung  nicht  als  ein  vollständiges  Yerzeichniss  der  Bildungen 
mit  dem  betreffenden  Suffix  angesehen  werden  darf,  ebensowenig 
als  ein  vollständiges  Yerzeichniss  der  im  Litauischen  vorhandenen 
stammbildenden  Suffixe.  Die  Anordnung  ist  nach  den  stammbilden- 
den Suffixen  gemacht,  innerhalb  des  einzelnen  Suffixes  nach  den 
Yocalstufen,  doch  sind  die  Bildungen  auf  -a-  ans  Ende  geschoben. 

-i-.  Die  wenig  zahlreichen  Beispiele  zeigen,  dass  das  Suffix 
sich  wesentlich  mit  der  tiefsten  Yocalstufe  verbindet:  i.  pre-tikis 
Zufall.  —  U.  U.  plüdis  Schwimmholz  am  Netze;  pliüszis  Schilfgras 
(neben  pliusze);  rüdis  Rost;  iuvis  Fisch.  —  %•  (der  e-R.)-  grindis 
Dielenbrett;  ätilsis  Ruhe;  kritis  Fall;  zindi«  Nahrung  der  Mutterbrust. 
—  Als  Abweichungen  von  dieser  Regel  weiss  ich  mit  Sicherheit 
nur  zu  nennen  sq-taris  Eintracht;  trandis  (neben  trandü)  Holzwurm. 
Das  aus  M  bei  N  angeführte  grandis  f.  ist  möglicherweise  m.,  da  M 
keine  Genusbezeichnung  dazusetzt  und  das  dabeistehende  Deminutiv 
grandele  nicht  nothwendig  ein  femininales  grandis  beweist.  —  Noch 


418  AcGDST  Leskieic,  [456 

anders  geartet  sind  die  ebenfalls  vereinzelten:  geris  bei  KLD  fem. 
Trank;  melys  pl.  blaue  Farbe. 

i- Suffixe.  Nur  zum  Theil  sind  durchgehende  gleichartige 
Erscheinungen  zu  erkennen.  Mit  beüebigen  Yocalstufen  kann  das 
-//a-  (-/j^ä),  welcher  nomina  agentis  bildet,  verbunden  sein:  kvesl^s 
Einlader  (Hochzeitsbitter);  dfjglp  Stachel;  grezle  Schnarrwachtel; 
bublp  und  baublp  Rohrdrommel  (eig.  »Brüller«) ;  kraukl^s  Krähe 
(Krächzer) ;  szaulifs  Schütz;  saubl^s  Herumtreiber;  pirszlys  Freiwerber; 
mirklys  Blinzler;  kamszlp  Vielfrass  (Stopfer,  wohl  an  das  iter.  kam- 
szpi  angelehnt) ;  vedhjs  Freier  u.  s.  w.  Das  -Ija-  setzt  ein  ein- 
facheres Aor-  voraus,  das  gelegentlich  noch  vorkommt,  vgl.  le  kraukls 
Rabe.  Die  Yielgestaltigkeit  der  Wurzelsilbe  hängt  damit  zusammen, 
dass  das  SufBx  zur  Zeit  seiner  lebendigeren  Anwendung  allgemeines 
Suffix  für  nomina  actorum  geworden  war  und  daher  nicht  an  eine 
bestimmte  Vocalstufe  gebunden  blieb.  Es  hätte  hier  unerwähnt 
bleiben  können,  ich  wollte  aber  bei  der  Gelegenheit  hervorheben, 
dass  dies  Suffix  dasselbe  ist  wie  das  slav.  -h  des  prädicativen  Part, 
prät.  act.,  das  ursprünglich  ein  Substantiv  war  {dah  jesmh  bedeutete: 
dator  sum).  Heute  lebendig  ist  zur  Bildung  von  nom.  ag.  (meist 
mit  deteriorirendem  Sinn)  -elis  {ne-tikelis  u.  dgl.),  das  einfach  die 
Vocalstufe  des  zu  Grunde  liegenden  Verbums  theilt.  Von  den  übrigen 
^Suffixen  zeigen  mehrere  einigermassen  regelmassig  die  gleiche 
Vocalstufe. 

a)  -ii/o-,  -ulja-  bevorzugt  die  tiefste  Stufe:  i.  dtjgulp  Stich; 
le  fibulis  Ohnmacht;  mittdp  durchwintertes  Thier;  le  nikulis  krank- 
licher Mensch;  ryszulys  Bündel;  spituhjs  Stern  auf  der  Stirn  von 
Thieren;  skriduW  Gerbeisen;  skritulp  Scheibe;  pavidulis  Ebenbild.  — 
tl0  dzugülis  Spassmacher,  dtmdys  Engbrüstigkeit;  gniuzulas  Faustvoll; 
kukul^s  Kloss;  le  küsuls  Sprudel;  rudulis  armer  Schelm;  le  rupuk 
grobes  Holzstück;  sprüdulas  Knebel.  —  i.  (der  e-R.)  grizidas  Reit- 
bahn, gr{zule  Deichsel;  le  kritul'i  Lagerholz;  nü-mirulis  Epilepsie; 
smirdulis  Gestank;  spindul^s  Strahl;  le  splgulis  Johanniswürmchen; 
le  sprigulis  Dreschflegel;  le  ttpula-  in  ttpulains  trübe  (vgl.  tipuMt) ; 
le  wirulis  Sprudelstelle;  virpuhjs  Zittern,  le  wirpuls  Wirbelwind;  zin- 
dulp  Säugling.  —  Abweichungen  davon  sind  seltener:  geidul^s 
Lüsternheit ;  le  ^eibulis  Ohnmacht  (neben  ^ibulis) ;  skaidülios  (Fasern) 
ist  wohl  als  denom.  anzusehen  (vgl.  le  skaida  Span);   —   czaudulp 


457]  Der  Ablaut  deb  Wurzelsilben  im  Litauischen.  419 

Niesen;  graudulis  Donner;  skauduhjs  Geschwür;  maudul^s  Schlummer; 
le  slaukulu  Wischtuch ;  —  le  bambuls  (neben  bambals)  Käfer ;  grqzulas 
und  grpiule  Deichsel.  In  Bildungen  von  Wurzeln  mit  momentanen 
Consonanten  oder  Sibilanten  im  Auslaut,  wie  le  deguls  brennender 
Schwamm,  vgl.  nur-de'gulis,  nt^-ei^^ti/j^«  Feuerbrand;  le  kretulis  eine  Ari 
Sieb ;  slebule*  Radnabe  darf  das  e  als  die  Tiefstufe  angesehen  werden. 

b)  'ola-.  Mit  ziemlicher  Regelmassigkeit  treten  hier  die  höheren 
Yocalstufen  ein:  e^  Btj  €i%.  seikulas  BedUrfniss;  strSgalas  Köder;  pa^ 
szveitalai  Putz;  trSdalas  dünnes  Excrement;  veikalas  Geschäft;  drai- 
kalas  gestreute  Halme;  maiszalas  Gemengsei;  snaigalä  Schneeflocke 
(wohl  Denominativ) ;  aptaisalas  Umhang.  Mit  i  nur  pa-vidalas  Er- 
scheinung, Gestalt  und  etwa  myialai  {mizalai)  Harn.  —  dU.  äugalius 
Wachsthum;  rävalas  Gäten;  le  schnaukalas  f.  pl.  Nasenschleim; 
wozu  noch  mit  ov  angereiht  werden  mag  jövalas  Traber.  Mit  U 
nur  apsukalas  Thurangel.  —  CS.  le  bambals  Käfer;  brändalas  Kern; 
dängalas  Decke ;  läsalas  Vogelfrass ;  sargala-  in  8argalinga$  kränklich ; 
skämbalas  Schelle;  le  spugalas  Glanz;  svämbalas  Senkblei;  tätszkalas 
Klapper ;  üz-valkalas  Ueberzug.  Daneben  mit  € !  bezdalas ;  uir-dengalas 
Decke;  lesalas  Vogelfrass  —  wobei  es  nahe  liegt,  an  spätere  An- 
lehnung an  die  Yerba  dengti^  lesti  zu  denken  — ;  atmetalas  Abwurf, 
Auswurf;  t;erpa/af  Gespinnst;  mit  6.*  be'ralas  umgeworfeltes  Getreide ; 
^eVa/a«  Getränk;  kvepalai  wohlriechende  Dinge;  venialai  {und  vemalai) 
Gespeie;  endlich  mit  i:  bimbalas  {mAbimbilas)  Rosskäfer;  le  kritals 
Lagerholz,  kritaPa  dss.  und  umgestürzter  Baum;  le  pimpalä  penis, 
vgl.  pimpalaim  knotig ;  smilkalas  Weihrauch ;  smirdälius  Stänker,  von 
einem  smirdala-;  viralas  Gericht  (gekochtes);  le  fidals  Muttermilch. 

Wl-Suffixe.  —  a)  -mew-  (nom.  -mw  und  die  abgeleiteten  Formen 
auf  -mene  u.  ä.);  die  c-Stufe  ist  hier  die  Regel:  ei,  eimena^  eimenas 
Bach;  reikmene'  BedUrfniss;  skedmenys  und  skemenys  (Scheidungen) 
Scher-,  Webergänge ;  le  skremem  runde  Scheibe.  —  CIM*  aügmu 
Jahreswuchs;  raumu  Muskelfleisch.  Abweichend  piütnü  Ernte;  put- 
menos  Geschwulst.  —  €•  gelmenis  stechende  Kälte;  lenkmene  Gelenk; 
melmti  Nierenstein ;  meimenys  pl.  Scheergarn ;  szermem  Leichenmahl ; 
teszmu  Euter;  zelmü  Schössling.  Die  einzige  Abweichung  ist  smilk- 
menai  Räucherwerk. 

b)  -ma-s^  -sma-s',  -ma^  -sma,  -me,  -sme.  —  et^  €•  eisme  Gang, 
Steig;  gesme,  le  dfesma  Lied,  Gesang;  le  kreims  Sahne,   lit.  greimas 


420  August  Leskien,  [458 

schleimiger  Niederschlag;  le  skr&nes  Abgänge;  atszleimas  Vorhof; 
le  teiksma  Erzählung;  le  weikme  Gedeihen.  Ganz  vereinzelt  ist  di. 
bäime  Furcht;  le  gaisma  Licht;  ai-sdaimas  bei  Sz  {at-sdeimas) .  — 
dU.  hausme  Strafe ;  dramme'  Zucht,  le  dramma  Drohung ;  diaügsmas 
Freude;  grausmas  Donner;  grausme  Warnung;  le  jamma  Gerücht; 
kaiiksmas  Geheul ;  le  kfaume  Menge ;  plaüksmas  Floss ;  plaüsmas  Floss ; 
skaüsmas  Schmerz ;  le  straume  Strom ;  szaüksmas  Geschrei.  Hier 
sind  die  Fälle  mit  l^-Stufe  etwas  zahlreicher:  brükszmis  Strich;  le 
dusmas  f.  pl.  Zorn;  le  dufma  Verwirrung;  le  ktüms  und  kl'üma 
Hinderniss;  le  püsma,  püstne^  püsmis  Athemzug;  trükszmas  Zug;  üz-- 
üksmis^  uir-üksme  geschützter  Ort.  —  In  der  e-Reihe  ist  mit  diesen 
Suffixformen  bald  e,  bald  a  der  Wurzel  verbunden,  sehr  selten  i. 
€•  sudertnd  Vertrag;  geltne  Tiefe;  glemes  {gle'mes)  zäher  Schleim; 
gestne'  GUmmfeuer,  le  dfesma  {dßsma)  kühler  Morgenhauch;  re'k^mas 
Geschrei;  sekme  Fabel  {sekmis  f.  dss.) ;  le  swelme  Dampf;  tekme 
Quelle;  le  twersme^  twersmas  pl.  Rückhalt;  versme  Strudel;  verksmas^ 
verksme  Weinen.  —  Ct.  garsmas  Ruf;  länksmas  Biegung;  tarmä^  tarme 
Rede;  träkszmas  Krachen;  tränksmas  Lärm;  välksmas  Zug;  värsmas 
Gewende;  vazmä  Fuhre.  —  i.  kilme  Abkunft;  le  ^cAfc'iriwö  Gedeihen ; 
svilmis  brenzlicher  Geruch. 

^«Suffixe.  Nur  einige  der  mannigfachen  Formen  dieser  Classe 
lassen  feste  Verhältnisse  erkennen.  Die  wenigen  als  solche  deutlich 
erkennbaren  alten  Participia  prät.  pass.  auf  -na-  haben  die  Tiefstufe, 
z.  B.  kilnas  erhaben;  le  mlkns  weich;  lipnüs  (Vertretung  von  Hipnas) 
klebrig;  liüdnas  traurig;  wohin  wohl  auch  Bildungen  w\e  skutna^  ab- 
geschabte Stelle,  zu  rechnen  sind.  —  Die  alten  Verbalnomina  auf 
-sni"  f.  haben  die  Tiefstufe:  brüksznis  (auch  m.  bmiksznis)  Strich; 
lupnis  und  lupsznis  abgeschälte  Rinde  (eig.  Schälung);  pumis  zu- 
sammengewehter Schneehaufen;  iingsnis  Schritt;  dazu  stimmt  auch 
degsnis  Brandstelle.  Die  Worte  dieser  Art  sind  (wie  die  Feminina 
auf  -ti")  öfter  in  die  Flexion  der  masculinen  ja-Stämme  übergegangen 
vgl-  d^gnis  Stich;  gribsznis  Griff;  mirkmis  Blick.  —  Sonst  lässt  sich 
ein  festes  Verhältniss  mit  einiger  Sicherheit  nur  constatiren  bei 
dem  primären  Hna-,  -inja-^  das  mit  wenigen  Ausnahmen  von 
der  Tiefstufe  begleitet  ist:  i,  izines  Schlauben;  miszims  Mischling; 
ritinis  Rolle;  slidinas  übervoll;  skridin^s  Scheibe;  stipinas^  stipinf^s 
Speiche;   stripinis   Sprosse,   Knittel;    szmizinijs  Geschmeiss;    le  fibins 


459]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  421 

Blitz.  Abweichend  grezin^s  Schnitt.  —  U.  kmvinas  blutig  (denom.  ?) ; 
küpinas  gehäuft;  lupinai,  lupinos  Schalen;  le  pludiM  pl.  Schwimm- 
hölzer  am  Netze;  subin^'  podex;  sakinis  Kreisel;  trupinp  Brocken.  — 
i  (der  6-Reihe).  dilbinas  Gluper;  ^tmine  Geschlecht;  kilpinis,  kilpini 
Armbrust;  lingine'U  Schaukel;  miliwjs  Stock  der  Handmühle;  milzinas 
Riese;  le  stibini  Stutzhölzer  des  Schlittens;  tirpinis  geschmolzen;  le 
m/ztTi^c/^  Brummkreisel ;  zin^me  Schritt.  Dazu  stimmt  tekinas  laufend; 
mezgin^s  Strickzeug.  Abweichungen  sind  selten:  renlinp  Brunnen- 
einfassung ;  skendiw^s  Ertrinkender ;  grandinis  Schabwerkzeug ;  päszinas 
Splitter  (eingerissener);  valin^s  Tuchrand. 

9-Suffixe.  Bei  -sa-s,  -sa  scheint  die  höchste  Stufe  die  ursprüng- 
liche Regel  zu  bilden,  soweit  eine  solche  aus  der  geringen  Zahl  der 
Beispiele  entnommen  werden  darf:  (lim  baisä  Schrecken;  gaisas 
Lichtschein;  szvaisä  Glanz  (doch  szvesä  Licht).  —  ClU»  le  gausa 
Genügen;  raupsai  Aussatz|;  abweichend  le  rüsa  Rost.  —  €1*  gärsas 
Schall;  närsas  Zorn;  smärsas  schlechtes  Fett;  tamsä  Finsterniss. 

f-Suffixe.  Unter  diesen  zeigt  ein  constantes  Yerhdltniss  zum 
Wurzel  vocal : 

a)  -fo-,  daneben  -«te-,  -tja-,  -stja-^  meistens  masculin.  Die  Be- 
deutung ist  vorwiegend  die  eines  nomen  instrumenti;  die  Yocalstufe 
at,  au^  a.  (li.  baigsztis  Fliegenwedel;  daiktas  Stelle,  Ding;  graib-- 
sztas  Kescher;  graisztas  Säge;  graiszlos  Einfassung  des  Eimerbodens; 
kaiszlis  Riegel;  le  klaists  Herumtreiber  (vgl.  Adjectiva  in  vereinzelter 
Bildung  dieser  Art:  skaistas  hell,  klar);  maisztas,  maiszta  Aufruhr; 
laiptas  Gerüst,  Steg;  le  maihts,  maikste  {mig')  lange  Stange;  maistas 
Nahrung;  raiste  Kreis;  raisztas^  raisztis  Kopf  binde;  saitas  Strick,  le 
satte  Band;  smaigstis,  smaigste  Stange;  szlaüas,  szlaitis  Abhang; 
ap'Szvaista  Reinheit.  Daneben  findet  sich  seltener  die  Stufe  €  bei 
Worten  gleicher  oder  ähnlicher  Bedeutung:  le  digsts  Keim;  leptas 
Steg;  mSlas  Pfahl;  le  meli  Tausch;  le  nests  Krätze;  p^sta,  le  pests 
Stampfe;  sStas  Sieb;  svSstas  Butter.  Ganz  vereinzelt  i  {t)^  le  wlsts 
Bündel.  —  O/U.  le  braukls  Streich  Werkzeug ;  pri-si-glatiste  Zufluchts- 
ort; gniauite'  Faust;  le  krauta  Ufer;  pr.  liausta-  BetrUbniss;  le 
e-maukti  Zaum;  le  e-^mauti  Zaum;  rank^mausle  Armbinde;  le  plaukts 
Sims  u.  s.  w.;  platssias  Floss;  plaülis  Schnupfen;  le  slaukts  Art  Ge- 
schirr; spraustis  Sperruthe  des  Webers;  le  sprauste  Gestell  für  den 
Pergel;  srautas^  le  slrauts  Strom  (Regenbach);  zlaüktai  Traber.     Ab- 


422  August  Leskien,  [^60 

weichuDgen  davon  sind  kaum  vorbanden,  allenfalls  kann  man  dahin 
rechnen:  küpstas  Erdhöcker;  le  rusta^  rusle  braune  Farbe;  le  sruste 
abgeschabte  Stelle;  srutä  Jauche;  zluktas  Buckwäsche;  die  letzten 
beiden  haben  die  Form  alter  Participia  prät.  pass.  —  Cl.  hängtos 
;wnw  Ungewitter,  bängtas  ungestüm;  bränkszias  Bruch  (im  Felde); 
brastä  Furt;  ddngtis  Deckel,  uz-dangte  Decke;  därktas  Scheusal;  a^ 
dvaslis  (auch  f.)  Athem;  gamta  Natur;  grqztas  Bohrer;  kämsztis  Stöpsel; 
kärsztis  Hitze  (indess  wohl  denom.  von  karsztas  heiss);  nur-Uastai, 
nuklaslos  Abfegsei;  krapsztas  Kratzhamen;  äl-kvampte  Seitenlehre;  lakiä 
Huhnerstange,  laksztä  dass.;  läksztas  Blatt;  länktis  Haspel,  länkslas 
dass.;  le  lusts  Versteck,  IqMä  Brutnest;  magstas  Art  Stricknadel; 
ndrszlas^  le  narsts  und  narsta  Laichzeit;  ndrsztas  Zorn;  nartas  Ecke; 
nasztä  Last;  näszczei  Achseljoch;  päntis  Fessel;  rämiis  und  rämstis 
Stütze;  rqstas  Ende  eines  Baumstammes;  sägtis  [sagtis  t^  le  sagis  und 
sagtet.)  Schnalle;  sämtis  Schöpflöffel;  le  ^arfo  Scheiterhaufen;  sklqstis 
Riegel;  smälktis  und  smälkstis  Dunst;  smälktas  dichte  Stelle  im  Walde; 
slaptä^  slapte  Heimlichkeit  (slapczas  heimlich) ;  smärstas^  smarste  Ge- 
stank; spqstai  Falle;  spärtas  Band;  sprqstas  Buckel,  le  sprusta  Klemme; 
le  Stuarts^  swarie  Hebebaum,  lit.  swärtis  Brunnenschwengel;  le  Irüis 
Wetzstein  (=  "^tran-ta-s)  ]  tvärtas  Verschlag;  le  walksts  Fischzug;  le 
walsts  Gebiet;  värpstis  dünne  Stange,  var pste' WeWe,  Spindel;  värstas 
Gewende;  vartai  Thor;  vaztä  Fuhre.  Ganz  selten  sind  gleichartige 
Worte  mit  andern  Vocalstufen :  kersztas  Zorn ;  miltai  Mehl  (altes  Par- 
ticip?);  tiltas  Brücke  (altes  Particip?);  le  dfimta  Geburt;  gr\stas  N 
Diele   (Particip?);  le  ligsle  Schwungstange. 

b)  -<i-.  Die  Bildungen  auf  das  alte  femininale  -<i-  lassen  sich 
im  Litauischen  nicht  genau  mehr  von  den  masculinen  auf  -tis  und 
den  femininen  auf  -te  sondern,  da  sie  in  deren  Flexion  übergehen, 
indess  lässt  sich  die  alte  Regel,  nach  welcher  die  Tiefstufe  die  Be- 
gleiterin des  Suffixes  ist,  deutlich  wahrnehmen:  t.  knjtis  f.  und  m. 
Kescher;  szlitis  (daneben  szliie)  Garbenhocke;  vijtis  Gerte;  dahin  ur- 
sprünglich auch  su-tikte  Zusammentreffen.  Abweichend  ist  pri^is 
Vorstadt.  > —  tl,  le  jütis  pl.  Gelenk  u.  s.  w. ;  kliütis  (und  kliüle)  Hin- 
derniss;  pra-pultis  Verderben;  piütis  (und  piüte)  Schnitt;  rüksztis 
Säure;  sprüsiis  Gedränge;  lükestis  Harren,  rüpestis  Sorge  sind  wohl 
als  Denominative  zu  nehmen.  Abweichend  kliautis  (und  kliaute)  Hin- 
derniss;  zlaüktys  pl.  Traber  (vgl.  zlaüktai  dss.).    Hierher  zu  rechnen 


1^4]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  423 

sind  auch  gniüite  Faustvoll;  pakrüle  Uferrand,  le  krüle  HUmpel; 
plütis  m.  offene  Stelle  im  Eise;  zlugtis  das  Waschen.  —  *  (der 
e-Reihe).  gimtis  Geschlecht;  ap-giniis  Verlheidigung;  girtis  Gelage 
sur-griztis  Rückkehr;  kütis  Geschlecht;  kimsztis  Stöpsel  (eig.  Stopfung) 
at-minüs  Gedenken;  mintis  Ringkampf;  mirtis  Tod;  pirtis  Badstube 
skiklis  Klauenspalle ;  skiltis  Scheibe;  smillis  Sand;  at-spiriis  Stutze 
sviftis  Brunnenschwengel;  pa-zintis  Kunde;  viltis  Hoffnung.  Dazu 
stimmt  fignär-degtis^  ugna-degstis  brennende  Kälte.  Bildungen  wie  ri- 
mastis  werden  als  denominativ  anzusehen  sein.  Eine  Anzahl  Bil- 
dungen, die  nur  mit  -te  überliefert  sind,  gehört  ursprünglich  sicher 
hierher:  prabingti  Uebermass;  griite  Büschel;  rinkte  Sammlung; 
pa-tepte  Schmutzfleck;  ebenso  vir^i^  m.  Strudel.  Ganz  selten  ist 
die  abstufe:  at-dvastis  (auch  m.)  Athem;  sagtis  Schnalle  (auch  m.); 
paslapiis  Geheimniss;  nü^tartis  Tadel;  ap-wärtis,  apwärte  Strick;  mqstis 
Erwägung  ist  vielleicht  secundäre  Bildung. 

"lirm  Für  dies  Suffix  lassen  sich  im  Litauischen  keine  regel- 
mässigen Yocalstufen  mehr  feststellen,  erstlich,  weil  die  Adjectiva 
auf  urspr.  -a-  mit  denen  auf  -tf-  beständig  durcheinanderlaufen,  so 
dass  man  im  einzelnen  Falle  des  Ursprünglichen  nicht  sicher  ist, 
zweitens,  weil  es  eine  grosse  Zahl  denominativer  Adjectiva  auf  -w- 
giebt,  die  doch  wieder  von  den  primären  nicht  sicher  geschieden 
werden  können.  Die  alte  Regel,  dass  -w-  von  der  Tiefstufe  be- 
gleitet war,  ist  an  vielen  Beispielen  ersichtlich,  vgl.  slidüs  rutschig; 
diAus  hohl;  gludüs  anschmiegend;  klupüs  stolperig;  bingus  muthig; 
at-kilÜ8  offen;  kimüs  heiser  u.  s.  w.  Eine  Aufzählung  würde  aus 
dem  ersten  der  angeführten  Gründe  hier  zwecklos  sein.  Als  Bei- 
spiele denominativer  Bildungen  seien  genannt:  grams  ekelhaft  {jgrasä) ; 
klampüs  sumpfig  {klampä  Sumpfstelle) ;  skalsus  verschlagsam  {skakä) ; 
talpüs  geräumig  {talpä) ;  ivanüs  überflutend  {tvänas) ;  tvanküs  schwül 
{Ivänkas  Schwüle)  u.  s.  w. 

Suffix  -O«,  "U^m  Feminina  und  Masculina  sind  hier  nicht  ge- 
schieden, theils  weil  das  Genus  nicht  selten  wechselt,  theils  weil 
durch  das  Hineinfallen  der  alten  Neutra  in  die  beiden  anderen 
Genera  eine  festere  Scheidung  ursprünglicher  iMasculina  und  Femi- 
nina nicht  mehr  durchzuführen  ist.  Die  Bildungen  mit  diesem  Suffix 
vermeiden  in  solchem  Grade  die  Mittelstufe,  dass  diese  in  einigen 
Yocalstufen    ganz    zurücktritt;    am    auffallendsten    ist    das    bei    der 

Abband),  d.  K.  S.  aeselldcb.  d.  WisRcnscb.  XXI.  39 


424  August  Lrskien,  [4^2 

e-Reihe,  daher  diese  hier  vorangestellt  wird;  die  Zahl  der  Fälle 
mit  e  ist  verhältnissmässig  gering,  die  mit  i  bedeutender,  die  mit 
H  durchaus  überwiegend:  Ci.  a/^d  Lohn;  an^d  Oeffnung;  a2«d  Müdig- 
keit; arza  Streit;  baldas  Stössel;  le  bügs^  buga  dichte  Menge,  pror- 
bangä  Uebermass,  päbangas,  pabangä  Beendigung,  bangä  Welle;  le 
uf-bars  Uebermass,  atr-barai,  ätbaros  beim  Worfeln  Verstreutes;  bradä 
Waten,  Pfütze;  brända  Kernansetzen;  6ranfed  Schwellen ;  dägas  Ernte, 
isz-dagas  von  der  Sonne  ausgebrannte  Stelle,  iszdaga  dss.,  dagä 
Ernte;  apdangä  Kleidung;  le  nur-daras  pl.  Abfälle,  ätdaras  offen,  sätir- 
dara  Einwilligung;  därbas  Arbeit;  darga  schlechtes  Wetter,  padärgas 
verwickelte  Maschinerie;  le  draska  Lump;  därias  Garten;  dvfisä 
Kühnheit;  pagadas  Verderben;  gälas  Ende;  pagälba  Hülfe;  gämas 
Geschlecht,  äp-gamas  Muttermal;  le  gans  Hirt,  le  gani  pl.  Weide; 
le  gargfda  sandiger  Boden;  le  grabas  pl.  Zusammengerafftes;  grändai 
Latten  zum  Decken,  pa-granda  Diele;  grasä  Ekel;  at-grqzas  Wieder- 
kehr, su-grqza  Rückzug;  le  kaba  Sparrbalken,  üikaba  Vorhang;  kMpa 
Querholz  am  Schlitten;  i-kamszai  Füllsel,  kamsza  Stopfung;  kankas, 
kanka  Qual;  tiap^-kanta  Hass;  karas  Krieg;  at-karpai,  älkarpos  Ab- 
schnittsei, kärpa  Warze;  kartä  Schicht;  kärtas  Mal  (beim  Zählen); 
klampä  Sumpfstelle;  i-kratas  Betteinschüttung;  kväpas  Hauch;  lak{is 
Flug,  lakä  Flugloch  der  Bienen,  pirm-lakai,  pirm-lakos  das  beim 
Worfeln  vorauffliegende  Korn;  le  lams^  /ama  Mal;  /andd  Flugloch  der 
Bienen;  längas  Fenster;  le  luks  biegsam,  länkas  Reif,  i4anka  Einbie- 
gung, lankä  Thal;  iszlasas  {peklos)  Auswurf  der  Hölle,  hsa  Vogel- 
frass,  apTJ'lasa  Auslese;  maldä  Bitte;  isz-manns  Verstand;  maras  Pest; 
le  marga  Schimmer,  mdrgas  bunt;  le  marks  Flachsröste,  marka  dss.; 
üz-marka  Blinzler;  märszas  Vergessen,  üz-marsza  Vergesslichkeit,  iiid- 
marsza  Vergesslicher ;  at-matas  Abwurf,  le  ufmats  und  ufmata  Zu- 
gabe (zum  Futter);  mdzgas  Knoten;  näras  Taucherente,  isz-nara  ab- 
geworfener Balg,  naromis  plaükti  mit  Untertauchen  schwimmen; 
närszas  Laich,  isz-narszos  Rogen;  pra-naszas  Prophet,  s^-mmzos  Zu- 
sammengespttltes;  pra-parszas  Graben;  rämas  Ruhe;  le  randa  rinnen- 
artige Vertiefung,  rändas  Striemen;  ranga  Einrichtung,  Zurüstung; 
pa-rankä  Nachlese,  rankä  Hand;  räntas  Kerbholz,  isz-ranta  Kerbe; 
rqzai  Stoppeln;  sägas  und  sagä  Klammer  zum  Festlegen  der  gebleichten 
Leinwand;  pä-saka  Erzählung,  üi-sakas  Aufgebot;  püdrsakas  Fährte; 
pa-salä   {pasalöms  unvermerkt);    le    sari    Borsten;    särgas    Wächter; 


163]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  425 

ap-sargä  Hut;  le  skals  Lichtspan,  skdädss.;  paskälba  GerUichi;  skalsä 
Verschlagen;  skarä  Fetzen;  le  «fc/an^ia,  ;>a«fc/aii(](a  schleudernde  Wege- 
stelle, uz-sklanda  Riegel;  ät-skrabai  Abfall  von  Zeug;  slankä  Schnepfe, 
Schleicher;  le  smags  schwer;  le  smalks  fein;  smälkas  Dunst,  apsmalka 
Lack;  le  smards  Gestank;  le  spars  Wucht,  at-sparas  Widerstand, 
sq-spara  Gehrsass;  sprändas  Nacken;  le  stabs  Pfosten,  stäbas  Bild- 
säule, stäbas  Schlagfluss;  stämbas  Strunk;  at-stangä  Widerspenstigkeit; 
le  muals  und  swala  Dampf;  sväras  Gewicht;  paszalpä  Hülfe;  pä-szaras 
Futter;  szläkas  Tropfen;  pa-sznabidomis  z\sche\nd;  <dfta«  Pfad,  isz-taka 
Mündung,  nü-taka  mannbares  Madchen;  pätalas  Bett;  lalkä  Arbeiter- 
gesellschaft (s.  o.  unter  titk-);  talpä  ausreichender  Raum;  tänas  Ge- 
schwulst; tü'sas  (=  ^tansas)  Fischzug,  vilkü  isztasa  Wolfsfrass;  tarpä 
Gedeihen;  tärpas  Zwischenraum;  täszkas  Tropfen;  träkas  Narr; 
pa-trankä  holpriger  Weg,  i-tranka  Anstoss;  trasä  käU  läufische  Hün- 
din; pa-traszas  verfaultes  Holz;  tvänas  Flut,  le  tvans  und  tvana  Dampf; 
tvänkas  Schwüle;  ap-tvaras  Gehege,  aptvara  Netzslrick;  tvarkä  Ord- 
nung; tväska  Geschwätz,  Schwätzer;  vädas  Führer,  pa-vadä  zweite 
Frau;  välas  Schweifhaar  des  Pferdes,  knäto  nu-vala  abgeputzter  Docht, 
ap-^ala  Kreis;  le  walgs  Feuchtigkeit,  feucht;  le  walh  Zug,  üir-valkas 
Ueberzug,  le  nurwalka  Schlangenbalg;  ät-vanga  Rast;  le  at-wars  Wir- 
bel; pSrvaras  Langbaum  am  Leiterwagen,  pervara  Netzleine;  värpas 
Glocke,  värpa  Aehre;  w^^arto«  Umdrehung,  j^rj^-varto  Zwang;  värias^ 
le  warfa  Reuse;  üi-vaias  Auffahrt,  pavaiä  Schlittenkufe;  al-zalas  Schöss- 
ling,  at-ialä  Nachtrieb ;  zämbas  Balkenkante ;  zändas  Kinnbacken ;  pror-, 
ianga  Uebertretung ;  ap-zargomis  rittlings;  zvälgas  Beschauer,  ap-zvalga 
Umsicht.  —  im  czirszka  Kreischer;  %/d  Rede;  di/6a  Gluper;  le  dima 
Dröhnung;  dirias  Riemen;  pa-dribä  Augentriefen ;  le  driska  Zerreisser 
gylä  heftiger  Schmerz;  girä  Trunk,  le  dftras  pl.  Gelage;  gyrä  Ruhm 
grindüj  le  grida  Diele,  pa-grindai  Bohlenlage,  le  grids  Fussboden 
griio  rätas  der  grosse  Bär;  isz^ra  Anfurt  für  Kähne;  paAras  locker 
isz-kyla  Anhöhe;  ktmsza  Dachluke;  päkirpos  Abschnittsei;  atr-kirta 
Schlacke;  le  klibs  lahm;  kilpa  Steigbügel;  kinka  Fesse;  le  llks 
krumm,  vSn-linkas  einfach,  ap-linka  Umgegend,  ap-linkomis  mkti;  le 
mils  Alp;  päminos  Abgänge  von  Flachs,  le  pamina  Tritt  (am  Wagen); 
le  mirgas  pl.  Blinken;  tnirka  Flachsröste;  le  nira  Taucherente; 
käs'pinas  Haarband;  pirdä  Furzer;  ne-nurrima  unruhiger  Mensch; 
rindä  Krippe;   ringa  krumm  Dasitzender;   pa-rinka  Nachlese;    le  siks 


426  August  Leskien,  [^ä* 

klein;  at-skirai  adv.  abgesondert;  sklhidas  Riegel;  slinkas  faul,  slinka 
Schleicher;  smirdas  Stänker,  le  smirda  dss.;  le  stiba  Stab;  pri-svf^los 
Angesengtes;  le  swira  Hebebaum,  pmiäunsvyrä  adv.  halb  überhangend; 
sznibzdomis  zischelnd;  szvilpa  wer  viel  pfeift;  i-timpas  Ansatz  zuai 
Sprunge ,  timpa  Sehne  (des  Körpers) ;  üz-trinas  Abmachsei ;  trinka 
Haublock;  vyla  Betrug;  le  wira  Gekochtes,  at^yrs  Strudel;  ät-viras 
offen,  at'Viromis  adv.  i.  pl.  f.  offen;  pä-virpas  Losmann;  zilas  grau; 
zirgas  Ross;  zlibas  triefäugig;  aUzvilga  Rückblick.  —  6.  degas  Feuer- 
brand, le  degas  f.  pl.  ausgebrannte  Stelle;  dengä  Decke;  gema  (?)  Früh- 
geburt; geras  gut;  le  ap-^erbs  Kleidung;  gerdas  Botschaft;  le  grefa 
Wendehals;  le  zerps  and  zerpa  Grasbüschel  u.  s.  w.;  melas  Lüge; 
menas  Verständniss ;  ap-metai  Schergarn;  mezgä  Strickerin;  Uwk-neszä 
Gefäss  zum  Speisentragen  (aufs  Feld);  le  nü  regas  vom  Sehen  (von 
Angesicht),  nürega  Scharfsinn;  rentas  Kerbe;  retas  dünn;  selamis 
schleichend;  le  serga  Krankheit;  änt-skrebai  Krampe;  nusteba  Er- 
staunen; le  slengs  trotzig;  le  teka  Fusssteig,  isz-ieka  Mündung;  ui^t^sas 
Leichentuch,  pror-l^sä  Aufschub;  nau-t;edd  Bräutigam ;  le  welgs  feucht. 
Diesen  mögen  die  wenigen  Fälle  mit  e  folgen:  pri-dvesas  dumpfig; 
geda  Scham;  gelä  heftiger  Schmerz;  le  krßls  Hahnenkamm,  Mähne; 
kvepä  kurzer  Athem  (Dampf);  le  iBkas  pl.  Hei^schlag;  praplesza  Bruch.; 
reka  Schreihals;  ap-sega  (?)  Einfassung;  stebas  Stab;  pra-veiä  Ge- 
leise. 

Nicht  ganz  so  stark  ist  der  Unterschied  in  der  ei-Reihe,  aber 
immerhin  deutlich  genug,  um  die  Bevorzugung  der  Stufen  (X/i  und  i 
gegenüber  dem  ei  und  e  erkennen  zu  lassen,  dt.  le  baigi  Nord- 
licht; pa-baigä  Ende;  pa-däigos  Spielen;  ap^-daira  Vorsicht;  draikas 
lang  gestreckt,  pa-dräikos  verstreutes  Stroh;  le  ^aifra  Faslerin;  gaidas 
Sänger,  fem.  gaidä;  le  gaida  Erwartung;  ap-graibomis  handgreiflich; 
le  aifa  Eisspalte,  par-aiza  Abnahmezeit  des  Mondes,  isz^aizos  Schlau- 
ben; le  klajsch  geräumig;  pa-klaidä  Irrthum;  kraikä  Streu;  pr  kvaUa- 
{quoits)  Wille;  le  Iaidos  pl.  lange  Reihen,  at-laidä Erldiss;  pä-laikas  Rest; 
le  laipa  Steg;  prpa-laips  Gebot;  maigas  Haufen;  pr  mai^a-  (acc.  maigun) 
Schlaf;  le  e-naids  Hass;  le  naiks  heftig,  auksztj-naika  adv.  rücklings; 
nairomis  schielend;  le  naifs^  naifa  Krätze;  paikas  dumm;  paisa  Haufen 
Gerste  zum  Abpuchen;  paiszas  Russ;  le  sur-raibs,  le  raU)a  Verdruss; 
ap^-raika  Abschnitt;  räiszas  lahm;  ät-raitas^  atraita  Aufschlag  (am 
Aermel);   at-sajä  Strang;  saikas  Hohlmass;   le  skaida  Span;  le  skaits 


<65]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  427 

Zahl;  uT^sklaida  Riegel,  le  sklaids  glatt;  le  skrajsck  undicht;  \e  slaids 
abschüssig;  smaigas  f(ah\;  le  snaigs  schlank;  le  spaids  Druck;  staigä 
adv.  plötzlich;  pa-sträipamis  stufenweise;  ap-szvaita  ^einheii ;  j-taikas 
was  zu  Gefallen  geschieht,  pa-taikä  Müsse;  pa-taisä  Zubereitung; 
vaizdai  Brautschau,  ap^-vaizda  Vorsehung,  vaidm  Erscheinung;  vaikas 
Knabe;  vaisä  Fruchtbarkeit;  vaisza  Bewirthung;  taihas  Blitz;  zaizdä 
Wunde.  —  i  (*)•  di^gas  Dorn,  le  dlgs  Keim;  drikä  herabhangende 
Fäden;  le  jfnfca  Wille;  Uiszas  schiefbeinig;  isz-krikas  verstreut;  ir-krypai 
adv.  mit  halber  Wendung;  at-lyda  Unterlass;  pr$4ipa  Anbau,  pa-lipomis 
stufenweise,  le  pe-lipi  Angeklebtes;  isz-lizos  Zahnlücken;  ät-migas 
Nachschlaf,  le  tniga  Lager  eines  Thieres;  suntniszai  adv.  durchein- 
ander; mitas  Lebensunterhalt;  le  suriba  Verdruss;  le  riks  und  rika 
Bix>dschnitte;  le  schk'ihs  schief;  le  sklida  Schleife;  le  slidas  pl.  Schlitt- 
schuhe, le  slids  glatt;  äp-skritas  rund;  le  sliga  Pfad;  paszvitai  Schmuck- 
sachen; \e  par-tiks  und  "tika  LehensunievhsAi;  iszr-tisas  gestreckt;  tryda 
Durchfall;  pa-v^das  Neid;  porzibai  Flitter.  —  €  und  ei:  €,  dSgas 
Keim;  isz-dr^as  im  blossen  Hemde;  porgetä  Rache;  Ukas  unpaar, 
ät-lätas,  le  atrlgka  Rest;  /&tfö  mager;  nezai  Krätze;  m^gas  Schlaf; 
mJSlas  lieb;  pSszas,  pesza  Russ;  at-rSkai  Abschnittsei;  ätr-retas^  at-reta 
Aermelaufschlag;  le  seks  Gelreidemass ;  snSgas  Schnee;  le  speis  Bienen- 
schwarm; tesä  Wahrheit,  pra-tesas  N  Mast;  treda  Durchfall;  zSbas 
Blitz;  iSdas  Ring,  Blüthe.  —  ei.  le  beiga  Neige;  le  ^eiba  Faslerin; 
geida  Verlangen ;  pa-peika  Tadel ;  speigas  starke  Kälte ;  pa-teikä  Müssig- 
gang;  ai-teisa  Entscheidung;  vöidas  Antlitz;  veikas  geschwind;  pa-ieida 
Verletzung. 

In  der  et^Reihe  kann  altes  eu  von  altem  OU  nicht  geschieden 
werden,  da  bekanntlich  beide  Formen  litauisch  in  dU  zusammen- 
fallen, die  folgende  Aufzählung  kann  also  auch  Über  das  ursprüng- 
liche Verhältniss  der  Vocalstufen  nichts  ergeben :  ClU.  le  audi  pl.  Ge- 
webe, at-atuiai,  ataudos  Einschlag;  le  augs  Gewächs,  augä  Wachs- 
thum,  le  alr-augas  pl.  Wiederwuchs;  le  auka  Sturmwind;  baudä 
Strafe;  i-braukai  Füllwände,  nu'-braukos  Abschabsei;  daubä  Schlucht; 
i  padauküs  entwei;  daiisos  Luft;  le  padaufs  Lärmmacher,  por-dauzd 
Vagabund;  le  draudi  Drohungen;  draügas  Genosse;  le  gatula  Klage; 
le  glatida  Glätte;  gliaümas  schleimiger  Abgang  (vom  Schleifstein) ;  le 
grauds  Korn ;  gräuzas  Kies ;  le  jaws  Gemengsei ;  le  jauda  Kraft ;  le 
jauks  lieblich;  pa-jautä  Gefühl;  le  g-kawa  Klammer;  le  kauka  Sturm- 


428  ACGDST   LfiSKIEN,  [466 

wind;  kaükas  Beule,  kaükos  Drüsen;  kaüpas  Haufe,  uz-kaupa  Ueber- 
gewicht;  kiäuras  durchlöchert;  klausä  Gehorsam;  le  kfawa  Haufen; 
le  krauka  Husten  des  Viehes;  le  kraupa  Grind;  krauszas  Fels;  lauzas 
Ast,  nulauza  Bruchstück,  le  laufa  Bruchstelle  im  Walde;  le  nu-mauks, 
le  nür-mauka  abgestreifter  Balg,  le  mauka  meretrix;  nauda  Nutzen; 
paütas  Ei,  papautas  Schwiele;  pa-plava  Spülwasser;  \e  plauks  Wisch- 
tuch, le  plaukas  pl.  Flocken,  Fasern,  pre-plauka  Hafen;  plauszai  Bast; 
raudä  Wehklage;  raüdas  roth,  raudä  rothe  Farbe;  räugas  Sauerteig, 
le  atnfaugas  f.  pl.  Aufstossen;  raükas  Runzel,  rauka  dss.;  raüpas 
Pocke,  le  raupa  Gänsehaut;  saüsas  trocken,  sausa  Trockenheit;  pa- 
slauga  Hilfe;  persmaukas  Streifen;  spauda  Presse,  pre-spauda  Be- 
drückung; le  sprauga  Zaunlücke;  le  snauda  Schlummer;  sravä  Fluss 
(menstrua) ;  pa-szavä  Beifaden  u.  s.  w.  (s.  o.  unter  szäuli) ;  szauton 
Brühe;  sq'szlavos  Kehricht;  le  pd-slauka  Abschaum;  le  tauks  fett, 
taukai  Fett;  per-traukas  Wegegeld  (Durchzug),  pertrauka  Zerstreuung. 
—  U  (il).  apj'Czupa  adv.  tastend;  le  drupas  pl.  Trümmer;  düka  Ra- 
sender; düsas  Seufzer;  dzüvä  Dürre;  le  gluds  glatt;  glümas  hornlos, 
le  glums  schleimig,  glatt;  le  gHiwa  eingefallene  Erde;  grüdcts  Korn; 
guba  Heuhaufen,  Schober;  pa-juda  Anregung;  klüpomis  kniend;  le 
klwB  still ;  kruvä  krüvä  Haufen ;  le  krups  Kröte ;  ktiiszä  Hagel ;  le  al- 
kusa  Thauwetter;  le  nu-lüks  Ziel;  nür-lupa  Abgeschältes;  le  nu-mükij 
le  nvr-muka  abgestreifter  Balg;  plüszai  Fasern  ;  le  pa-puwa  Brachacker; 
putä  Blase;  rüdas  rothbraun;  isz^ügos  Molken;  rupas  rauh;  le  rüpas 
f.  pl.  Sorgen;  rüsas^  le  rüsa  Kartoffelgrube ;  skütds  kleines  Stück, 
skulä  Staub;  mudä  Schläfer;  le  sprüds  Knebel;  sriubä  Suppe;  sükais 
(s.  0.  unter  sükti)^  ap-suka  Wirbel;  szliüzas  Lab;  le  schnüka  Nasen- 
schleim ;  le  mti  pl.  Bähung,  le  suta  dss. ;  sur-trupos  Schutt ;  trimai 
Schwanzfedern  des  Hahnes;  Ükas  caligo;  prazuvas,  prazuva  Verlust. 

Bei  den  ja-Suffixen  (-w  m.,  -ia-«,  -e,  -ja)  lässt  sich  keine 
festere  Gestaltung  bemerken,  ich  sehe  daher  von  einer  Aufzählung 
der  Beispiele  ab,  füge  aber  zum  Schluss  die  Fälle  an,  wo  in  der 
Nominalbildung  O  (Ä)  erscheint  bei  -a-  und  -jo-Suffixen:  1)  der 
Reihen  UI  und  IV:  a)  mit  Suffix  -a-,  -ä-:  dorä  Eintracht;  le  gräms 
Sodbrennen;  lomä  Ziel,  Schicksal;  le  mäls  Lehm;  äp-motas  Bewurf, 
prUmota  dss.;  le  närs  Klammer;  sq-noszai  Zusammengespültes;  oras 
Luft;  prölas  Verstand;  le  räms^  lit.  romüs  sanft;  skolä  Schuld;  sq-smoga 
Meerenge;    ped-sokas    Fährte;    isz-sprogas  Schössling,    sproga    Spalt, 


467]  Der  Abladt  der  Wdrzelsilben  im  Litauischen.  429 

fliegender  Funke;  stöbas  GewaM;  svöras  Gewicht  (an  der  Uhr);  i-toka 
Mündung;  ivorä  Zaun;  f-voda  Wasserleitung;  vöras  Spinne,  le  sa- 
wäri  Querstangen  der  Egge,  apy-  vora  Schanze;  le  wärs  Suppe,  m- 
vora  Suppe;  pra-voiä  tiefes  Geleise.  —  b)  Suffixe  mit  j:  atö-dogei 
Sommerroggen;  üir-dom  verscbliessbarer  Raum;  drohe  Leinwand; 
naktt-gone  Nachthut;  grobe  Beute;  groie  Schönheit;  prä-mone  Er- 
findung; le  näre  Klammer;  le  näscha  Achseljoch;  smögis,  stnoge  hef- 
tiger Schlag ;  pr  tärin  Stimme ;  le  tväre  Zaun ;  le  wäls,  wäle  Waschr- 
bleuel,  Heuschwaden ;  le  if-iväres  Ausgekochtes ;  zole  Gras.  —  2)  der 
Reihe  V:  le  gläba  Lebensunterhalt,  globa  Umarmung;  plökas  Estrich, 
plökis  Hieb,  le  pläze  Schulterblatt;  slogai  Presshölzer,  slogä  Plage; 
paziöra  Schein  am  Himmel.  —  3)  der  Reihe  VI:  le  bäls  bleich;  le 
bäfis  Senkstein  am  Netz;  pa-korÜ  Galgen;  Honis  niedrige  Ackerstelle, 
khni  Pfütze;  lobis  Gut;  le  läsa,  le  läse  Tropfen;  moiis  Wenigkeit; 
ore  Pflügezeit;  skan-skonei  Leckerbissen;  szökis  Sprung;  pa-szolp 
Nachtfrost;  pnj-vole  Bedürfniss;  iödis  Wort.  —  Endlich  die  O  der 
u-Reihe:  le  bl'äwa  Schreihals;  dzovä  Dürre;  griovä  Schlucht;  le  käwi 
Nordlicht,  kovä  Kampf;  krovä  Haufen;  pa-liovä  Aufhören;  üz-mova 
MuflF;  piöve  Schnitt,  le  pl'äwa  Erntezeil;  isz^plovos  Spülwasser;  srove 
Strom;  nu-szovis  Stromschnelle. 


III.   Im  abgeleiteten  Verbum. 

In  den  Grammatiken  finden  sich  für  die  abgeleiteten  Yerba 
recht  viele  verschiedene  Termini,  theils  nach  der  Bedeutung  theils 
nach  der  Ableitung  gegeben :  Denominativa,  Causativa,  Factitiva,  Fre- 
quentativa,  Iterativa,  Intensiva,  Durati va,  Deminutiva,  Benennungen, 
die  nur  zum  Theil  zutreffend  sind;  denominativ  sind  z.  B.  nicht  nur 
die  gewöhnUch  so  bezeichneten  Verba,  sondern  sehr  viele,  wenn 
nicht  ursprünglich  alle  Causativa,  so  wie  die  Deminutiva,  durativ 
sind  an  sich  auch  die  meisten  primären  Verba,  iterative  und  demi- 
nutive Bedeutung  sind  oft  zusammen.  Ich  möchte  daher  eine  Ein- 
theilung  vorschlagen,  die  solche  Vieldeutigkeiten  vermeidet: 


430  AuGCST  Lbskien,  [468 

1)  Factitiva:  Verba,  welche  bedeuten,  das  machen,  sich  be- 
schäftigen mit  dem,  was  das  zu  Grunde  liegende  Nomen  aussagt, 
oder  sein,  wie  dieses  aussagt,  z.  B.  davanöti  {dovanä  Geschenk) 
schenken;  gerinti  {geras  gut)  gut  machen,  bessern;  klastuti  [klastä 
Betrug)  betrügerisch  handeln;  szykszte'ti  {szfjksztas  geizig)  geizen. 
Es  sind  also  die  gewöhnlich  sogenannten  Denominativa.  Der  Aus- 
druck Factitiva  ist  ungenügend,  in  Ermangelung  eines  besseren  mag 
vorläufig  diese  Benennung  bleiben. 

2)  Causa tiva,  bedeutend,  die  Handlung  des  bezüglichen  pri- 
mären Verbums  veranlassen,  an  etwas  anderem  hervorrufen,  z.  B. 
täikinti  zusammenpassen  [tikti  passen  intr.). 

3)  Iterativa,  die  Wiederholung  der  Handlung  des  bezüglichen 
primären  Verbums  bezeichnend,  z.  B.  bradaü  bradpi  (zu  brisli  war- 
ten). In  diese  Classe  fällt,  was  man  auch  als  Frequentativa,  z.  Th. 
als  Intensiva  und  Durativa  bezeichnet.  Mit  der  Iterativbedeutung 
verbindet  sich  zuweilen  die  Deminuirung,  z.  B.  tekine'ti  oft  ein  wenig 
hin-  und  herlaufen. 

4)  Intensiva.  So  möchte  ich  die  intransitiven  Verba  nennen, 
die  ein  gewissermassen  energisches  Verharren  in  einem  Zustande 
bedeuten,  z.  B.  rjjmau  rjjjfnoti  dauernd  aufgestützt  dasitzen. 

5)  Deminutiva,  mit  verschiedenen  Nebenbegriffen :  der  plötz- 
lichen ,  dauernden ,  wiederholten  Handlung ,  z.  B.  mirktereti  einen 
kurzen  Blick  thun ;  särgaliüti  fortgesetzt  kränkeln ;  begine'ti  oft  ein 
wenig  umherlaufen. 

Die  erste  der  angeführten  Classen  bedarf  in  Bezug  auf  den 
Vocal  der  Wurzelsilbe  keiner  weiteren  Auseinandersetzung,  da  es 
sich  von  selbst  versteht,  dass  sie  die  Vocalstufe  der  zu  Grunde  lie- 
genden Nomina  aufweisen  muss.  Die  Classen  der  Gausativa  und 
Iterativa  sind  dagegen  auch  für  unsern  Zweck  in  Betracht  zu  ziehen. 
Vergleichen  wir  sie  auf  die  Bildungssuffixe  hin,  so  fällt  auf,  dass 
dieselben  Suffixe  für  beide  Gattungen  von  Verben  dienen,  femer, 
dass  die  Factitiva  (Denominativa)  zum  Theil  wieder  diese  Suffixe 
zeigen.  Lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  die  Tabelle  bei  Bielen- 
stein  I,  446  mit  ihrer  statistischen  Zusammenstellung,  der  ich  das 
folgende  entnehme: 


469]  Der  Abladt  der  WuRZELsaBSN  m  Litauischen.  431 


Factitiva  (Denom.) 

Iterativa. 

Gausativa. 

-äju 

-ät 

58 

65 

4 

-ttjtt 

-M< 

148 

24 

-eju 

-et 

80 

14 

36 

~inu 

-inät 

SO 

56 

105 

-u 

-it 

134 

23 

-u 

-et 

57 

-iju 

-tt 

50 

Im  Litauischen 

bildet 

-Ol« 

-Ott 

Factitiva    wie    Iterativs 

'inü  Factitiva  und  Causativa,  -au  -yti  Iterativa  und  Gausativa,  um 
nur  die  Hauptformen  zu  nennen.  Der  Grund  dieser  Uebereinstiminung 
muss  in  einer  inneren  Bedeutungsgleichheit  oder  -Verwandtschaft 
liegen  und  diese  ist  nicht  schwer  zu  finden.  Zunächst  zwischen 
Factitiven  und  Iterativen:  wenn  z.  B.  le  waidät  klagen  zu  waida 
Klage  als  »Klage  machen«  übertragen  werden  kann,  so  lässt  sich 
gaudät,  das  Iterativum  zu  dem  einfach  durativen  gauft  klagen,  genau 
so  zu  gauda  (Klage)  beziehen  und  ebenfalls  als  »Klage  machen« 
fassen,  walkät^  Iterativ  zu  wilkt  ziehen,  von  walks,  walka  (Zug)  ab- 
leiten und  mit  »Zug  machen«  übersetzen.  Nur  muss  man  dabei  im 
Auge  behalten,  dass  der  Begriff  des  zu  Grunde  liegenden  Nomons 
in  solchen  Ableitungen  nicht  auf  einen  einzelnen  Fall  zu  beziehen 
ist,  sondern  in  unbestimmter  Begrenzung  vorschwebt,  so  dass  die 
richtigere  Erläuterung  wäre:  Klagen  machen,  Züge  machen,  woraus 
sich  die  Bedeutung  der  wiederholten  Handlung  ergiebt.  Besitzt  die 
Sprache  ein  wurzelgleiches  primäres  Verbum  einfach  durativer  Be- 
deutung, so  wird  eine  solche  Ableitung  auf  -ät  zu  dessen  Iterativum, 
wie  hier  walkät  zu  wilkt^  im  anderen  Falle  kann  man  nur  die  Fac- 
titivbedeutung  empfinden.  Die  Yermittelung  von  Iterativ  und  Cau- 
sativ  und  damit  auch  von  Gausativ  und  Factitiv  beruht  ebenfalls  auf 
dem  gemeinsamen  Grundbegriff  »sich  mit  dem  und  dem  abgeben, 
das  und  das  herstellen«,  z.  B.  le  mainit  tauschen  gilt  als  Iterativ 
von  mit  (tauschen),  ist  aber  offenbar  eine  Ableitung  von  maina  Tausch 
und  heisst  nichts  anderes  als  »Tausch  machen,  sich  mit  Tausch  ab- 
geben«. Dies  als  Vorbemerkung,  die  folgende  Ausführung  wird 
diesen  Gesichtspunkt  weiter  verfolgen.  Da  es  sich  aber  hier  um 
die  Frage  handelt,  wie  der  Wurzel vocal  einzureihen  sei,  d.  h.  ob 
die   betreffende   Yocalstufe   diesen   Bildungen   als   solchen   angehöre, 


432  August  Leskien,  [470 

muss  untersucht  werden,  wie  weit  die  abgeleiteten  Verba  denomi- 
nativ  sind,  wie  weit  nicht,  also  die  Anordnung  von  den  Suffixen 
ausgehen,  innerhalb  deren  erst  die  Bedeutungsclassen  geschieden 
werden. 

1)  lit.  -^nu  -inti]  le  -inu  -inät;  lit.  Hneti.  Im  Litauischen 
bildet  'inu  -inti  Factitiva  und  Causativa,  Iterativa  nur  vereinzelt 
(davon  unten),  die  Iterativbedeutung  (öfter  verbunden  mit  Demi- 
nuirung)  hat  -ineti;  im  Lettischen  giebt  -inu  -inät  sowohl  Factitiva 
wie  Iterativa  und  Causativa  (s.  die  obige  Tabelle].  Zunächst  ist  hier 
eine  Regel  in  ihrem  Werth  zu  bestimmen,  die  Schleicher  Gramm. 
S.  166  giebt:  die  Denominativa  (Factitiva)  »haben  den  Accent  auf 
der  Stammsilbe,  nicht  auf  der  Endung,  z.  B.  äuksinti  (vergolden), 
äuksasn  u.  s.  w.  Sie  würde  nur  dann  einen  Werth  haben  für  die 
Frage  nach  der  Auffassung  der  Causativverba ,  wenn  die  letzteren 
den  Hochton  auf  der  Stammsilbe  vermieden,  das  ist  aber  keines- 
wegs der  Fall,  der  Hochton  steht  bald  auf  dieser,  bald  auf  einer  der 
folgenden  Silben.  Sieht  man  also  davon  ab,  so  wird  man  nicht 
anstehen,  zunächst  die  Möglichkeit  denominativer  Ableitung  bei  einer 
Anzahl  von  Causativen  zuzugeben,  vgl.  alsinti  müde  machen  —  alsä 
Müdigkeit,  alsiis  müde;  branginti  theuer  machen  —  brangüs  theuer; 
grasinti  verekeln  (eklig  machen)  —  grasä  Ekel,  grasüs  eklig;  lakinti 
fliegen  machen  —  läkas  Flug;  marinti  tödten  —  märas  Tod;  baugifUi 
angstigen  —  batigüs  ängstlich ;  jaukinti  gewöhnen,  zähmen  —  jauküs 
zahm;  rauginti  säuern  —  räugas  Sauerteig  (Säure);  daigifUi  keimen 
machen  —  daigis  das  Keimen;  läikinti  fügen  —  taiküs  passend; 
vaiszinti  bewirthen  —  vaisza  Bewirthung  u.  s.  w.  Der  Umstand  nun, 
dass  von  derselben  Wurzel  primäre  Verba  intransitiver  oder  über- 
haupt nicht  causativer  Bedeutung  vorhanden  sind,  macht  die  Bil- 
dungen auf  -in-  zu  Causativen  dieser  letzteren,  also  alsinti  zum  Cau- 
sativ  von  iktü  ikli  müde  werden,  branginti  von  bringti  theuer  wer- 
den, täikinti  zum  Caus.  von  tinkü  Ükü  passen  u.  s.  f.  Würde  z.  B. 
bringti  fehlen,  so  würde  branginti  einfach  als  Factitivum  von  brangüs 
(theuer)  erscheinen. 

Eine  weitere  Frage  ist,  woher  das  Element  -t»»-,  und  die  Ant- 
wort, dass  diesen  Verben  zunächst  abgeleitete  Adjectiva  auf  -inas 
"inis  zu  Grunde  liegen;  z.  Th.  lassen  sich  solche  neben  den  Verben 
belegen :  äklinti  blind  machen  —  adv.  aklinai  gewisserm.  »blindlings« 


171]  Der  Ablaut  der  WüRZELsaaBN  im  Litauischen.  433 

(dazu  auch  aMineü  blind  herumlaufen,  s.  u.);  iiinti  ausschlauben  — 
iiines  Schlauben  (subst.  Adjectiv,  von  *izini8  schlaubig);  kruvinti 
blutig  machen  —  kruvinas  blutig;  küpinti  häufen  —  küpinas  gehäuft; 
paiszinti  berussen  —  paiszinas  russig  (paiszas  Russ);  taükinti  fetten 
—  tatikinis  von  Fett  {tatskai  Fett);  trupinti  bröckeln  —  trupinys 
Brocken  u.  a.  Von  solchen  Bildungen  aus  ist  dann  das  -in-  ver- 
allgemeinert, zunächst  in  der  Weise,  dass  von  jedem  Substantiv  im 
gegebenen  Falle  ein  entsprechendes  Adjectivum  vorschwebt.  Be- 
grifflich ist  aber  das  nothwendig,  um  den  Verben  transitive  Bedeu- 
tung, Beziehung  auf  ein  Object  zu  geben,  z.  B.  lakinti  als  unmittel- 
bar auf  läkas  bezüglich  gedacht  würde  »Flug  machen«  heissen,  auf 
ein  Hakinas  bezogen  heisst  es  etwa  »flüchtig  machen«  und  wird  so 
Gausativum  zu  le'kti  fliegen.  Es  ist  dieselbe  Verallgemeinerung  wie 
die  der  Verba  auf  -igen  im  Deutschen,  wo  sie  aus  demselben  Grunde 
geschieht:  heiligen  empfinden  wir  als  Ableitung  von  dem  vor- 
handenen heüig  und  zwar  als  heilig  machen,  nicht  als  Heil  machen, 
betheüigen  als  Ableitung  von  Theil,  obwohl  es  nicht  Theü  machen 
heisst,  sondern  theilhaft  machen  bedeutet,  weil  ein  ^theilig  nicht 
existirt,  es  ist  aber  klar,  dass  ein  solches  Adjectiv  eben  in  dem 
Sinne  von  theilhaft  vorschwebt  (eine  gleichartige  Verallgemeinerung 
hat  das  Litauische  auch  im  Suffix  -in-^nkas,  vgl.  Wangininkas  wer 
theuer  verkauft,  obwohl  kein  "^branginas  existirt).  Ist  die  Sprache 
einmal  so  weit,  so  wird  der  eigentliche  Sinn  der  Ableitung  vergessen 
und  das  betreffende  Ableitungselement  beliebig  weiter  verwandt  zu 
Factitiven,  z.  B.  von  Adjectiven,  wie  beschönigen,  wo  ein  beschönen 
vollkommen  geAügte.  Genau  so  ist  im  Litauischen  mit  -iV  verfahren, 
z.  B.  tvirtinli  {tvirtas  fest)  deckt  sich  ganz  mit  unserm  fest^g-en, 
ebenso  tirsztinti  dickflüssig  machen  {lirsztas).  Was  nun  die  Vocal- 
stufe  der  bisher  ins  Auge  gefassten  Ableitungen  betrifft,  so  ist  es 
selbstverständlich,  dass  sie  dieselbe  Stufe  zeigen  müssen,  wie  das  zu 
Grunde  liegende  oder  voraussehbare  Nomen.  —  Von  den  denomina- 
tiven  Bildungen  schreitet  aber  die  Sprache  fort  zur  allgemein  cau- 
sativen  Anwendung  des  -in-,  d.  h.  zur  Anfügung  desselben  an  pri- 
märe Verbalstämme,  wie  lipinti  ankleben  (trans.)  zu  limpü  lipti  an- 
kleben intr.,  büdinti  wecken  zu  bundü  büsli  aufwachen.  Bielenstein 
macht  L  416  die  Bemerkung,  dass  die  entsprechenden  lettischen 
Causa tiva  auf  -inät  mit  Vorliebe  die  tiefe  Vocalstufe  zeigen,  und  ebenso 


434  AcGi'ST  Lbskiek,  [47S 

ist  es  im  LitauiscbeD.  Das  beroht  aber,  was  für  unsere  Betracbtung 
des  Ablautes  von  Wichtigkeit  ist,  oicbt  auf  einer  altererbCen  Verbin- 
dung des  -in^Suffixes  mit  dieser  Stufe,  sondern  darauf,  dass  die 
Verba  auf  -inr-ti  vermöge  der  ihnen  wirklich  oder  ideell  zu  Grande 
liegenden  Adjecliva  auf  "ina-  das  Versetzen  in  einen  Zustand  bedeuten, 
folglich  auch  zu  Anfang  nur  von  solchen  primären  gebildet  werden 
konnten,  die  intransitiv  einen  Zustand  oder  inchoativ  das  Uebergehen 
in  einen  Zustand  bezeichnen.  Diese  Verba  haben  aber  im  Litaui- 
schen, wie  die  Behandlung  der  primSiren  Verba  S.  381  u.  ff.  nachweist, 
durchgehends  die  Tiefstufe,  also  auch  die  zu  ihnen  gehörigen  Cau- 
sativa,  z.  B.  mirkmli  (einweichen)  eigentlich  in  den  Zustand  des  Ein- 
geweichtwerdens versetzen  {mirkstü  mirkti  eingeweicht  werden).  Und 
ferner  beruht  das  fast  gänzliche  Fehlen  von  Verben  auf  -tfili  mit  der 
Stufe  e  oder  ei  auf  dem  Umstände,  dass  die  primären  mit  diesem 
Wurzelvocal  durchgängig  Transitiva  sind  (die  Causativbildung  von 
Transitiven  geschieht  durch  -d-in-ti',  vom  d  weiter  unten).  Eine  Auf- 
zählung der  Causativa  mit  Tiefstufe  ist  nach  diesen  Bemerkungen 
überflüssig,  ich  gebe  daher  zur  Erläuterung  nur  noch  eine  Auswahl 
von  Beispielen:  brinkinti  schwellen  machen  —  britikU  schwellen; 
dirginli  in  Unordnung  bringen  —  dirgti  in  Unordnung  gerathen ;  iUinti 
müde  machen  —  ilsti  müde  werden;  sirpinti  reifen  lassen  —  sirpti 
reifen ;  smirdinti  stinkend  machen  —  smirdeti  stinken ;  jüdinti  rütteln 

—  jüsti  sich  regen;  Mupinti  stolpern  machen  —  klupti  stolpern; 
kiürinti  durchlöchern  —  kiürli  löcherig  sein  (vgl.  kiäarinti  dss.  zu 
kiäuras  löcherig);   tükinü   fett  machen  —  tükti  fett  werden  {taäkinti 

—  taukinis  —  taukai) ;  miginli  einschläfern  —  migü  einschlafen ; 
pjkinti  böse  machen  —  pijkü  böse  sein  u.  s.  w. 

Aus  der  oben  auseinandergesetzten  Grundbedeutung  der  Verba 
auf  "inti  erklärt  sich,  dass  dieselben  im  Litauischen  fast  nur  als  Cau* 
sativa  auftreten,  das  ist  eben  ihr  ursprünglicher,  aus  der  Factitivbe- 
deutung  entwickelter  Sinn;  fiielenstein  L  416  meint  sogar,  dass  im 
Litauischen  gar  keine  Iterativa  dieser  Form  vorkämen,  jedenfalls  ist 
ihre  Anzahl  verschwindend  klein ;  es  gehören  dahin  Fälle  wie  szvilpinü 
öfter  pfeifen;  skabinli  iter.  pflücken;  snkinti  iter.  drehen  {sidili); 
drumstinli  trüben  [drümsti)  und  vielleicht  noch  eins  oder  das 
andre.  Die  Iterativa  des  Litauischen,  die  in  diesen  Zusammenhang 
gehören,   haben   durchweg  die   Weiterbildung    -i«^  \{-ineju  -tnefc*), 


173]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  435 

und  diese  Form  erklart  sich  einfach  aus  denselben  Adjectiven  auf 
-tn-,  z.  B.  tökinas  im  Lauf,  gewissermassen  »läußsch«,  tekineti  »läußsch 
sein«  (vgl.  szykszteti  geizig  sein,  zu  sz^ksztas)^  daher  iler.  zu  leke'ti 
laufen;  dilbinas  glupend,  Gluper,  dilbineti  umherglupen  (eig.  »glupisch 
sein«);  stnüine'ti  intr.  iter.  naschen  (naschig  sein),  von  einem  vorschwe- 
benden *8fnüinas]  lakineti  iter.  fliegen  (fluchtig  sein),  iter.  zu  lekti 
fliegen;  mirineli  nach  und  nach  hinsterben  {mirti)\  lindine ti  (zu  listi 
kriechen).  Es  liegt  in  der  Natur  der  Bildung  auf  -eti^  dass  sie  zu- 
nächst nur  Intransitiva  bildet,  von  diesen  aus  ist  sie  aber  auf  Tran- 
sitiva  übergegangen,  vgl.  pirkini'ti  (zu  pirkti  kaufen),  vagine  ti  (anzu- 
sehen als  Ableitung  eines  zu  vagis  Dieb  gehörigen  ^vaginis  diebisch) 
zu  vogti^  ritini'ti  (zu  risti  rollen)  u.  s.  w.  Der  Begriff*  der  Deminui- 
rung  liegt  nicht  nothwendig  in  diesen  Bildungen  und  ist  auch  nicht 
immer  vorhanden,  stellt  sich  aber  namentlich  da  leicht  ein,  wo  das 
-iniü,  was  im  Litauischen  recht  oft  geschieht,  an  sich  schon  itera- 
tiven Verben  angefügt  wird,  wodurch  gewissermassen  Iterativa  zwei- 
ten Grades  entstehen,  z.  B.  iarginUti  zu  zarg^ti,  iter.  zu  zergti  schrei- 
ten; kraustinitti  zu  krätistytiy  iter.  zu  kräuti  häufen;  piämtineti  zu 
piämtyti,  iter.  zu  pidtUi  schneiden ;  kraipine'ti  zu  kraip^ti^  iter.  zu  kreipti 
wenden;  UUstine'ti  zu  Idislyti,  iter.  zu  l&i  giessen.  Es  bedarf  keiner 
weiteren  Auseinandersetzung,  dass  kein  selbständiges  Yerhältniss  zwi- 
schen dem  Wurzelvocal  und  dem  Suffix  -ine-  besteht,  sondern  die 
Vocalstufe  des  Yerbums  abhängig  ist  von  der  des  zu  Grunde  liegen- 
den Wortes. 

Im  Lettischen  entsprechen  den  litauischen  Factitiven  und  Cau- 
sativen  auf  -inu  -inti  die  Bildungen  auf  -inu  -inäl,  diese  haben  aber, 
wenn  auch  nur  zum  dritten  Theil  des  Gesammtbestandes  (vgl.  oben 
die  Tabelle  Bielensteins),  doch  häufig  genug  auch  Iterativbedeutung. 
Die  Factitiva  und  Causativa  erklären  sich  wie  die  litauischen  auf 
-tn(f,  der  lettische  Infinitivstamm  auf  -inä-  muss  der  Sonderenlwick- 
lung  dieser  Sprache  angehören,  da  Preussisch  und  Litauisch  im  -An^ti 
übereinstimmen,  vgl.  pr  swintint  heiligen,  pO'U\aidint  unterweisen, 
wartint  wenden  u.  s.  w.  Vereinzelte  Ansätze  zu  einer  ungefc^ihr 
gleichartigen  Bildung  zeigt  auch  das  Litauische  in  Verben  wie  stip- 
prinoju  stiprinöti  stärken,  neben  stiprinti  (zu  stiprus),  oder  linksminöti 
erheitern,  neben  Rnksminti  (zu  Unksmas),  der  Unterschied  vom  Letr- 
tischen  ist  die  Behandlung  des  Präsens.     Das  lettische  ä  stammt  von 


436  Adgcst  Leskien,  [47i 

den  zahlreichen  Factitiven  und  Iterativen  auf  dieses  Suffix,  von  denen 
unten  die  Rede  sein  wird,  und  es  beruht  seine  Annahme  auf  der 
Neigung  zur  deutlichen  Erhaltung  der  charakteristischen  Form,  da 
-Anti  lettisch  zu  -it  werden  musste  und  dadurch  ein  Zusammen- 
fallen mit  der  fast  durch^ngig  zur  Iterativbildung  verwendeten 
Classe  auf  -u  -it  (lit.  -au  -^tt)  eintrat.  Die  Verwendung  der  Bildung 
im  iterativen  Sinne  geht  vom  Factitivum  aus.  Vereinzelte  Fälle  der 
Art  besitzt  auch  das  Litauische,  z.  B.  lüpinli  schälen,  eigent.  »Schalen 
machen«,  zu  lupinai  lüpinos  abgeschälte  Schale  (von  Früchten  u.  dgl.), 
kann  als  Iterativ  von  lüpti  gefasst  werden,  und  daher  die  Iterativ- 
bedeutung des  lettischen  lupinät;  ßbinät  blitzen  gilt  Bielenstein  L 
426  als  Iterativ  zu  ßbt  schimmern,  ist  aber  in  der  That  ein  Facti- 
tivum zu  ßbim  Blitz.  Von  dergleichen  Fällen,  die  sich  ,noch  weiter 
ausführen  Hessen,  geht  dann  die  Bildung  auf  Beispiele  wie  brauzinät 
oft  abstreichen  (zu  braukl)  über.  Im  Ganzen  ist  die  Neigung  zu 
Iterativen  dieser  Bildung  im  Lettischen  nicht  gross,  und  von  der 
bei  Bielenstein  I.  424  gegebenen  Liste  dürften  einige  zu  strei- 
chen sein. 

Das  Resultat  der  ganzen  Betrachtung  ist  also,  dass  sämmtliche 
abgeleitete  Verba  mit  -tn-  im  letzten  Grunde  auf  Adjectiva  mit  dem- 
selben Elemente  zurückgehen,  also  ihre  Vocalstufe  nicht  etwas  für 
sie  selbst  ursprünglich  charakteristisches  ist.  Zu  erwähnen  ist  noch, 
dass  das  Lettische  die  Adjectiva  auf  -in-  fast  ganz  aufgegeben  und 
durch  andere  Bildungen  ersetzt  hat. 

2)  -öju  -oti,  le  -äju  -ö/,  bildet  Factiliva  und  Iterativa.  Die 
Facti tiva  wie  z.  B.  päsakoti  erzählen  von  päsaha  Erzählung,  byloU 
reden  von  bylä  Rede  u.  s.  w.  müssen  natürlich  die  Vocalstufe  des  be- 
treffenden Nomens  zeigen.  Die  Iterativa  dieser  Form  sind  aber  ebenfalls 
Denominativa.  Bei  einer  grossen  Zahl  ergiebt  sich  das  einfach  daraus, 
dass  ein  Nominalstamm  mit  consonantisch  anlautendem  Suffix  an  der 
Wurzel  in  ihnen  vorliegt,  vgl.  kilnöti  und  kilsnöti  iter.  zu  kSUi  heben, 
ersteres  von  kilna-s  (altes  Particip.  prät.  pass.)  hoch,  letzteres  zu  einem 
alten  Verbalsubstantiv  ^kilsnor-  Hebung ;  kramsnöti  (zu  krimsti  nagen) ; 
mirkmioti  blinzeln,  vgl.  mirkmis  Blick  (also  eigentl.  »Blicke  machen«), 
iter.  zu  mirkti\  girsnöti  zu  gerti  trinken;  vyniöti  (zu  v^ti  wickeln), 
vgl.  kakla-vynijs  Halsband;  pirszlioti  (zu  pirszti  werben),  vgl.  pirszlp 
Frei  Werber;  r^pliöti  kriechen,  vgl.  replomis  kriechend  adv. ;  mirkUoti 


47^]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  437 

blinzeln,  vgl.  mirklp  Blinzler,  le  mirklis  Blick.  Nach  solchen  Mustern 
können  dann  Bildungen  entstehen,  ohne  dass  entsprechende  Nomina 
dazwischen  liegen,  vgl.  tepliöti  schmieren  {tepti)^  metliöti  werfen 
[mesti).  Ziemlich  häufig  sind  solche  Iterativa  von  Nominibus,  die 
ein  (-Suffix  enthalten,  daher  das  Verbum  auf  -czoti,  -szczoti  lautet. 
So  wenig  zweifelhaft  es  sein  kann,  dass  z.  B.  bad-mirszczöii  »vor 
Hunger  sterben,  Hunger  leiden«  mit  seiner  Iterativbedeutung  ein  De- 
nominativum  von  had-mirU!  »Hungersnoth«  ist,  ebenso  sicher  gilt  das 
von  Bildungen  wie  mirkczöti  oder  mirkszczöti  blinzeln,  räiszczoti  iter. 
zu  riszii  binden,  U^ükszczoti  zucken  (auch  trtikczoH;  dasselbe  bedeutet 
trükmti)  u.  s.  w.  Der  Ausgangspunkt  der  Bedeutung  ist  die  facti- 
tive  »Blick  machen«,  »Zuckung  machen«  u.  dgl.  Ist  das  primäre 
Verbum,  zu  dem  diese  Bildung  bezogen  wird,  ein  transitives,  so 
nimmt  das  Factitivum  ebenfalls  transitiven  Sinn  an,  und  es  entstehen 
so  für  unsere  Empfindung  reine  Iterativa,  wie  kilnöti  u.  dgl.  Etwas 
weniger  deutlich  liegt  die  denominative  Ableitung  vor  Augen,  wo 
das  Nomen  ein  vocalisches,  namentlich  ä-Yocal  enthaltendes  Suffix 
hat.  Litauisch  und  Lettisch  unterscheiden  sich  hier  so,  dass  ersteres 
j  vor  dem  ä  (o)  bevorzugt,  letzteres  meist  reines  ä  hat.  Der  Aus- 
gangspunkt der  Bildung  sind  die  femininalen  d^-Stämme,  vgl.  päscJca 
—  päsakoti.  Ebenso  muss  man  bei  den  Iterativen  zunächst  solche 
Stämme  suchen,  vgl.  le  bräkät  iter.  schreien,  brökä  Geschrei,  also 
eigentl.  Geschrei  machen,  daher  iter.  zu  brikt;  gaudät  klagen,  iter. 
zu  gauß,  von  gawla  Klage;  glaudät  streicheln,  zu  glauft^  von  glatida 
Glätte,  glaudas  Liebkosungen;  jaudät,  vermögen,  gibt  Bielenst.  I.  386 
als  Iterativ  neben  lit.  judü  judd'ti  sich  regen,  es  heisst  aber  eigentl. 
»Kraft  haben«,  von  jauda  Kraft;  kfawät  packen  zusammenraffen,  zu 
kfaut,  von  kfawa  Haufen  (also  »Haufen  machen«] ;  alrvaugäie'S  rülpsen, 
von  atr-raugas  f.  pl.  Aufstossen,  u.  s.  w.  Die  Verpflanzung  dieses 
so  entstandenen  ä  auf  die  gleichbedeutende  Yerbalableitung  von 
andern  Nominalstämmen  bedarf  keiner  weiteren  Erläuterung,  sie  ge- 
schieht wie  bei  den  noch  rein  factitiv  empfundenen  (vgl.  maität  zu 
Aas  machen  vom  f.  maita^  so  g&dät  ehren  vom  m.  güds).  Im  Li- 
tauischen sind  die  Bildungen  ohne  j  bei  iterativer  Bedeutung  selten, 
vgl.  lanköti  (zu  lenkti  biegen)  neben  lankiöü;  globöti  (zu  globti  um- 
armen); mit  j  z.  B.  dagiöti  (zu  de^M  brennen);  lakiöti  [lekiü  fliegen); 
tdndioti,  le  lüdät  und  lufchät  (zu  lendü  kriechen);  pasziöti  (zu  peszti 


438  August  Leskien,  [476 

abreissen) ;  ränkioü  (zu  renkü  sammeln) ;  razgioti  (zu  rezgü  stricken) ; 
tapioti  (zu  tepli  schmieren);  vadzöti^  le  wadäl  {vedü  fuhren);  sagidli 
(zu  segü  heften) ;  sakiöti  (zu  sekü  folgen) ;  slankioii  {slenku  schleichen) ; 
välkioti^  le  walkät  {velkü  ziehen) ;  räiczoti  (zu  risti  rollen) ;  Uipioti 
{lipn  steigen);  gyliöti  (zu  gelli  stechen,  vgl.  gyla  heftiger  Schmerz, 
Stechen,  gyl^s  Stachel)  u.  s.  w.  Diese  Formation  muss  sich  von 
jä-Stdmmen  aus  verbreitet  haben,  vgl.  rankd  Lese  zu  ränkioli; 
päine  Verflechtung  zu  päinioti  (iter.  zu  pinti  flechten).  Es  scheint 
dann  allerdings,  dass  das  -jo-ti  wesentlich  zur  Bildung  der  als 
solche  schärfer  empfundenen  Iterativa  im  Gegensatze  gegen  die 
in  ihrer  Sphäre  verbliebenen  Factitiva  verwendet  ist,  wie  sich 
solche  secundäre  Unterschiede  bisweilen  ausbilden,  ohne  dass  man 
ihren  Ausgangspunkt  genau  bestimmen  kann.  Mit  der  denominativen 
Entstehung  der  ganzen  Bildung  hängt  es  zusammen,  dass  Formen 
wie  neszioti  (iter.  zu  neszti  tragen),  die  nun  ohne  Vermittlung  eines 
Nomens  gebildet  sind,  selten  vorkommen. 

Charakteristisch  für  die  Bedeutungssphäre  dieser  Verba  ist  die 
Beschränkung  auf  den  factitiven  und  iterativen  Sinn.  Dass  sie  nicht 
als  Causativa  verwendet  werden,  beruht  auf  dem  Mangel  eines  ad- 
jectivischen  Mittelbegrißes,  vermöge  dessen  die  Factitiva  auf  -iV  zu 
Causativen  werden  konnten. 

3)  -üju  -ä/i,  le  -^ju  -ut.  Die  Bedeutung  ist  factitiv  und,  viel 
seltener  (vgl.  S.  431  die  Bielenstein'sche  Zählung),  im  Litauischen  ganz 
selten,  iterativ.  Die  Ueberleitung  der  einen  Bedeutung  in  die  andere 
bedarf  nach  den  obigen  Darlegungen  keiner  weiteren  Ausführung 
mehr,  als  Beispiel  sei  angeführt  juku'ü  als  Iterativ  zu  j&'kti  lachen, 
das  nichts  anderes  ist  als  das  von  jukas  Lachen,  Scherz  abgeleitete 
Factitivum,  also  »Lachen  erregen,  Scherze  machen«,  le  laiput  als 
Iterativ  zu  lipt  steigen  ist  Factitiv  von  laipa  Steg,  Steig,  also  eigent- 
lich, wie  es  auch  in  der  That  übersetzt  wird:  Steige  suchen,  St^ 
machen.  Die  Bildung  ist  nicht  anders  als  wie  etwa  äszar&ü^  le 
asarut  Thränen  vergiessen,  zu  aszarä^  und  es  ergiebt  sich  von  selbst, 
dass  die  Vocalstufe  der  Wurzelsilbe  dieselbe  sein  muss,  wie  die  des 
zu  Grunde  liegenden  Nomens.  Der  Grund,  weshalb  diese  Verba 
nicht  in  causativem  Sinne  verwendet  werden,  ist  derselbe,  wie  bei 
denen  auf  "Oii. 

4)  le  -äju  -U.     In  der  Verwendung  dieser  Bildung  unterscheidet 


477]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  439 

sieb  das  Litauische  vom  Leitischen,  ia  jenem  sind  die  Verba  auf 
^eju  -eii^  abgesehen  von  den  oben  besprochenen  Bildungen  auf  -tn^<t, 
überhaupt  nicht  häufig;  wo  die  Form  vorkommt,  bildet  sie  erstens 
Factitiva  wie  ätAleti  Kinderwärterin  sein  {äukli)^  baleti  bleich  werden, 
güdd'ti'S  gierig  sein  {g&das  Geiz,  Habsucht),  ge^reti-s  Wohlbehagen 
ftthlen  {geras),  kereti  staudenartig  wachsen  {k^as),  kerpeti  mit  Moos 
bewachsen  {kirpe)^  kSteti  hart  werden  {k'£tas),  maloni'ti  gern  haben 
{malonüs)^  seile'ti  geifern  [seile  Geifer),  seneti  alt  werden  {setMs)^ 
trande'li  von  Motten  zerfressen  werden  {trandis^  trande'),  ^yg^'ti  einen 
Gang  thun  {i^gis)^  ap-st-imonHii  mit  Menschen  [zmones)  verkehren 
n.  a.  d.  A.  Zweitens  kommt  eine  kleine  Anzahl  von  Verben  vor, 
die  nicht  als  denominativ  angesehen  werden  müssen  und  deren  Be- 
deutung theils  deminuirend,  theils  iterativ  oder  vielleicht  besser  aus- 
gedrückt intensiv  in  Bezug  auf  die  Dauer  der  Handlung  erscheint: 
hifre'ti  ein  wenig  streuen  oder  gestreut  werden,  kyUti  ein  wenig 
heben,  klydäti  ein  wenig  herumirren,  lüke'ti  ein  wenig  harren,  mir- 
szeii  nicht  im  Gedächtniss  haben,  siaute'ti  anhaltend  toben,  skSndeti 
im  Ertrinken  sein,  sütJceti  ein  wenig  schleichen  oder  rutschen,  pa- 
üge'ti  ein  wenig  wachsen.  Diese  .Classe  auf  -e;u,  -Hi  ist  von  der 
auf  -w,  -iw  -eii  übrigens  nicht  scharf  trennbar.  —  Im  Lettischen  da- 
gegen ist  "^ju  -H  eine  geläufige  Factitivbildung,  wie  gaUt  endigen  [gaU 
Ende),  melH  bepfählen  {mets  Pfahl),  pratU  klügeln  [prats  Verstand) 
u.  s.  w.  Der  vom  zu  Grunde  liegenden  Nomen  abhängige  Wurzel- 
vocal  bedarf  hier  keiner  weiteren  Erörterung.  Die  Iterativbedeutung 
(s.  Bielenst.  L  410)  fehlt  hier  fast  ganz,  von  den  13  Beispielen  Bielen- 
steins  sind  sicher  noch  einige  zu  streichen,  wie  geJbH  helfen,  kasH 
husten.  Dagegen  wird  eine  etwas  grössere  Zahl  (25  mit  Abrechnung 
der  ein  suffixales  d  enthaltenden,  von  denen  unten)  der  Gausati v- 
classe  zugeschrieben  (ebenda  I.  408).  Auch  diese  Zahl  verringert 
sich,  wenn  man  die  offenbaren  Factitiva  (Denominativa) ,  die  darunter 
stehen,  ausscheidet,  z.  B.  dldfst  keimen  lassen,  in  Keime  legen,  zu 
dlg%  Keim;  dvb^t  höhlen,  zu  dube-,  jauzät  gewöhnen,  zu  jauks]  kw^H 
räuchern,  zu  hwBpes  Dunst;  slapSt  nass  machen,  zu  slapjsch  [szläpias) 
nass;  slipät  schräge  machen,  zu  sllps  schräge.  Bei  Bielenstein  er- 
scheint slapöt  nur  deswegen  als  Causativum,  weil  litauisch  ein  in- 
transitives szlampü  szläpti  nass  werden  vorhanden  ist.  Ausserdem 
ist  zu  beachten ,  dass  neben  den  Formen  auf  -6t  mehrmals  Neben- 

Abhandl.  d.  k.  S.  Geaellech.  d.  Wissenscli.  XXI.  30 


440  AuGDST  Lbskien,  [479 

formen  auf  -irUU  existiren,  z.  B.  audßnät  neben  audfst  wachsen  lassen, 
aufziehen;  balinät  bleichen,  bal€t;  didßnät^  didfät;  kaltinät  dörren, 
kaltät'^  karsinät  erhitzen,  karsBt.  Mir  erscheint  daher  die  Sachlage 
so,  dass,  weil  Factitiva  wie  z.  B.  draudßnäl  Freund  machen,  be- 
freunden und  draudßt  dss.  (zu  draugs)  gebildet  werden  können,  ge- 
legentlich auch  ein  Factitivum  auf  -H  der  Analogie  des  Anät  in  seiner 
causativen  Anwendung  gefolgt  ist.  Jedenfalls  liegt  eine  selbständige 
Beziehung  zum  Wurzelvocal  auch  bei  den  Iterativen  und  CausaÜTen 
nicht  vor. 

5)  le  -^  (primäre  Präsensbildung)  -H.  Von  einer  Abtheilung 
dieser  Verba,  so  weit  sie  den  litauischen  primären  auf  -u  (-tu),  -et» 
(wie  smirdi'U  u.  dgl.)  parallel  laufen,  war  bereits  S.  412  als  einer 
Classe  der  primären  die  Rede.  Bielenstein  führt  I.  441  unter  seiner 
Abtheilung  d  Frequentativa  (Iterativa,  Durativa,  Intensiva)a  43  Verba 
als  solche  Bedeutung  tragend  auf  (wobei  die  mit  suffixalem  d  oder 
andern  Suffixen  an  der  Wurzel  abgerechnet  sind).  Will  man  aber 
die  Gattung  »Iterativum«  rein  herausschälen,  so  müssen  beträchtlich 
viele  abgerechnet  werden,  die  entschieden  keine  Wiederholung  aus- 
drücken; ich  führe  hier  nur  an:  nür-bäletj  einfach  Denominativ  von 
bäh  (bleich),  erbleichen;  dusSt  keuchen,  lit.  düse'ti;  gribU  wollen; 
küpet  rauchen;  minH  gedenken  =  lit.  mine'ti;  n€fH  jucken  =  lit. 
neiüti ;  riUt  rollen ;  riUt  dünn  werden ;  sausH  trocken  werden,  denom. 
von  saüsas  trocken,  von  Bielenstein  als  hierhergehörig,  betrachtet, 
weil  es  ein  übrigens  ebenfalls  denominatives  primär  flectirtes  saustu 
im  Litauischen  giebt;  smirdet  =:  lit.  smirde'ti;  spidH  glänzen  =  lit. 
spinde'ti ;  ßbet  flimmern  =  lit.  iibi'ti ;  dßrdöt  =  lit.  girde'ti  hören  u.  a. 
Bei  allen  diesen  kann  von  iterativer  Bedeutung  nicht  die  Rede  sein, 
und  es  ist  mir  beim  Durchgehen  des  Bielensteinschen  Verzeichnisses 
überhaupt  zweifelhaft  geworden,  ob  darin  ein  im  eigentlichen  Sinne 
iteratives  Verbum  enthalten  sei.  Jedenfalls  ist  ihre  Anzahl  sehr 
unbedeutend.  Im  Litauischen  giebt  es  in  dieser  Flexionsciasse  eine 
ziemliche  Anzahl  entschiedener  Denominativa ,  vgl.  baisi&'s  baisi'tis 
Abscheu  haben  {baisä^  baisüs),  biaurd^ti-s  dss.  {biaurüs)^  laimiu 
laimüti  gewinnen  {}aima  Glück),  nortu  norüti  wollen  {noras  Wille), 
räisziu  raiszi'ü  lahmen  [raiszas  lahm),  sausiü  sausHii  trocknen  intr. 
{saüsas  trocken),  at-siüliü,  -siüle'ü  besäumen  {siüle  Nath,  von  näti 
nähen),  süriü  süre'ti  salzig  werden  (^ro«  salzig),  sz/i^kszczu  szykszli'ti 


^79]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  441 

geizen  {sz^ksztm  geizig);  ebenso  wird  es  sich  wenigstens  z.  Th.  auch 
mit  solchen  verhalten,  die  im  Präsenssuffix  nicht  j  (i)  zeigen,  wie 
badü  hade'ti  Hunger  leiden  {bädas),  dülka  didketi  stäuben  {dülkes  Staub), 
penü  pene'ti  mästen  {p^nas  Futter).  Natürlich  können  Fälle  wie  pene'ti 
und  selbst  nore'ti  als  primär  angesehen  werden. 

6)  'ifju  -^/ti,  le  -tju  'iL  Ueber  die  Natur  dieser  Verba  wird 
man  kaum  mit  Sicherheit  ins  Reine  kommen.  Unter  den  litauischen 
Beispielen  ist  eine  solche  Menge  slavischer  Lehnworte,  dass  man 
zweifeln  kann,  ob  die  ganze  Bildung  überhaupt  ursprünglich  dem 
Litauischen  zukommt  und  nicht  die  wenigen  Beispiele,  wo  echt  li- 
tauische Worte  zu  Grunde  liegen,  wie  dalpi  theilen,  von  dalis  Theil, 
nur  Nachbildungen  der  aus  dem  Slavischen  aufgenommenen  sind. 
Jedenfalls  ist  die  Zahl  der  Beispiele,  deren  nominale  Grundlage 
litauisch  ist,  gegen  die  Zahl  der  Lehnworte  und  der  sonstigen  Facti- 
tivbildungen  (auf  -(hii,  -Ur-ti^  An-ti)  sehr  gering.  Bielenstein  rechnet 
die  von  ihm  L  400  aufgezählten  50  Beispiele  alle  als  Denominativa 
(Factitiva  in  unserm  Sinne).  Das  leuchtet  bei  vielen  ohne  weiteres 
ein,  z.  B.  müdtü  ermuntern,  zu  mudrs  munter,  pelnü  erwerben,  nur 
pelns  Erwerb  u.  s.  w.,  bei  anderen  aber  keineswegs,  z.  B.  rufilß-s 
sich  recken  entspricht  dem  litauischen  iterativen  rqzyti  recken,  präs. 
rqzau  und  kann  ganz  wohl  sein  Präsens  r&fiju  statt  eines  älteren 
^rufu  (=:  lit.  rqzau)  einem  Uebergang  in  diese  Flexionsciasse  ver- 
danken, wie  sich  denn  überhaupt  im  Lettischen  -iju  -it  und  -^  -U 
nicht  ganz  scharf  auseinanderhalten  lassen,  vgl.  z.  B.  le  dalu  dalU 
neben  lit.  dalyjü  dalpi.  Und  hier  tritt  eben  die  Frage  ein,  wie  das 
lettische  f  eigentlich  aufzufassen  sei.  So  weit  die  Worte  dem  Litaui- 
schen und  Lettischen  (ohne  Fremd  werte  zu  sein)  gemeinsam  sind, 
hat  das  erstere  entweder  -au  -yfo*,  z.  B.  pelnaü  pelnijü  —  le  pelniju 
pelnit;  we'tau  we'tyti  worfeln  —  le  wBltju  wötit;  oder  -inti,  z.  B.  gausinti 
reichlich  machen  —  le  gausiju  gaimi;  szvinlinti  heiligen  —  le  switit\ 
oder  -jyM  -yft:  romyju  römyii  castriren  —  le  rämit;  szirdyti-'S  sich 
zu  Herzen  nehmen,  zürnen,  le  sirdUS-s.  Da  nun  ein  älteres  gatmnti 
auf  normalem  Wege  der  Entwicklung  zu  gautslt  im  Lettischen  werden 
musste,  wir  aber  oben  sahen,  dass  die  geläufigen  Factitiv-  und  Gau- 
sativbildungen  auf  -4^1  späteren  Ursprungs  sind,  so  bleibt  die  Mög- 
lichkeit, dass  eine  Anzahl  dieser  lettischen  Verba  auf  -it  ältere  auf 
•4nti  in  sich  schliesst,   die  ganze   Classe  also   eine   Mischklasse   aus 

80» 


442  AuGDST  Leskien,  [4^0 

drei  verschiedenen  Bildungen  (urspr.  -au  -yti;   -inu   -inti\  -jyti  -yti) 

» 

darstellt.  Die  beiden  letzteren  Fälle  sind  jedenfalls  Denominativa, 
kommen  also  für  die  Betrachtung  des  Ablauts  nur  in  Bezug  auf  die 
zu  Grunde  liegenden  Nomina  in  Betracht.  Die  Yerba  auf  hiu  -j^lt 
betrachten  wir  besonders. 

7)  lit.  -a«-  -yri,  le  -u  --lt.  Diese  Form  ist  in  beiden  Sprachen 
die  geläufigste  Iterativbildung,  die  namentlich  im  Litauischen  die  Zahl 
der  anderen  Iterativformen  bei  weitem  überragt.  Daneben  bildet  sie 
Causativa,  aber  z.  B.  im  Lettischen  stehen  den  134  von  Bielenstein 
aufgezählten  Iterativen  eigentlich  nur  7  Causativa  gegenüber,  da  die 
weiteren  Beispiele  (I,  435)  durch  Zusatz  von  d  an  die  Wurzel  ge- 
bildet sind  und  besonders  gestellt  werden  müssen.  Im  Litauischen 
ist  eine  genauere  Bestimmung  über  das  Verhältniss  der  Bedeutungs* 
classen  (iterativ  und  causativ)  sehr  erschwert  durch  die  fast  allge- 
mein eintretende  Ersetzung  der  Form  auf  -inli  durch  -{11  (veranlasst 
durch  die  Futura  auf  -fstu),  was  bei  der  z.  Th.  sehr  mangelhaften 
Ueberlieferung  litauischer  Worte  nicht  selten  zu  Verwechslungen  mit 
den  Verben  auf  ursprünglich  -^ti  geführt  und  zur  Gonstruction  eines 
Präsens  auf  -au  veranlasst  hat  (so  ist  z.  B.  ein  bei  Nesselmann  stehen- 
des alsau  alsyti  neben  dem  gewöhnlichen  alsinti,  müde  machen, 
durchaus  unsicher).  Aber  auch  aus  dem  sicheren  Material  ergiebt 
sich,  dass  die  Causativa  durchaus  in  der  Minderzahl  sind;  dazu 
kommt,  dass  manche  von  den  sichrer  belegten  gebräuchlichere  oder 
ebenso  gebräuchliche  Nebenformen  auf  -41111  haben,  vgl.  grasaü-s 
gras^ti-8  Ekel  haben  —  grasinti  verekeln;  gesaü  gesujü  löschen  trans. 

—  ge9%nU\  gramzdaü  gramzdpi  versenken  —  grarnzdifUi-,  grüdau  grü- 
dyti  härten  (Eisen)  —  grudinti ;  naikpi  —  natkinti  vertilgen ;  skand^ 

—  skandinti  ertränken  u.  s.  w.,  so  dass  man  zweifelhaft  bleibt,  ob 
nicht  ein  lautlich  mit  skatidpi  zusammenfallendes  skahdiü  in  solchen 
Fällen  erst  die  Veranlassung  eines  skandaü  gewesen  sei. 

Das  formale  Hauptcharakteristicum  dieser  Classe  ist  die  Differenz 
des  Präsensstammes  vom  Infinitivstamm ,  ersterer  lautet  auf  -o-  (ä), 
letzterer  auf  -1-  (j/)  aus:  däng-o-^me,  aber  äang-^-ti;  diese  Bildungs- 
elemente treten  entweder  unmittelbar  an  den  Wurzelauslaut ,  oder 
zwischen  diesem  und  jenen  steht  st  {däng-sUhme,  dang-st^Ü).  Die 
Wurzelsilbe  hat  mit  Ausnahme  einer  geringen  Zahl  von  Fällen  die 
Hochstufe;  mit  Tiefstufe  (z.  Th.  bei  Nebenformen  auf  -init)  kommen 


4B:4]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  443 

vor:  brindau  brindyti  quellen  machen;  dilgyti  mit  Nesseln  brennen; 
dirgyti  in  Unordnung  bringen  (zu  dirgstu  dirgti  in  U.  geratben); 
gvildyti  ausschlauben ;  ftm/^j^ti  anspannen;  minkyti  kneten ;  mirkpi  ein- 
weihen; spirgyü  braten;  smilk^ti  Dunst  machen;  tirj^ti  schmelzen; 
vilgyti  anfeuchten ;  zindyii  säugen ;  —  gnidyti  härten ;  plukpi  schwem- 
men ;  püszkyti  plätschern ;  sukyti  in  die  Runde  eggen ;  —  lip^ti  kleben 
trans.;  tikyti  zielen.  Mit  -str-:  pilstytiiier.  zu  pilti;  skirstyii  iter.  zu  skirti; 
ie  iistlt  iter.  wickeln ;  —  dürstyti  iter.  zu  dürti ;  le  güstü  iter.  haschen ; 
le  ktdstU  iter.  zu  kult;  Ie  kurstU  iter.  zu  kurt;  pustyti  stuhmen  iter. 
zu  püsH;  ukstyli-s  sich  beziehen  (vom  Himmel);  —  l^pstyti  berühren; 
le  ristU  schlingen  iter.  zu  nt;  v^styti  wickeln  iter.  zu  v^ti. 

Bei  den  Bildungen,  die  in  der  Wurzelsilbe  Hochstufe  aufweisen, 
wie  skandaü  skandpi^  liegt  es  ja  nahe  genug,  eine  Verbindung  mit 
der  indischen  Causativform  zu  suchen.  Bei  Schleicher  (Comp.^  330) 
wird  auch  gelehrt,  -o-  des  Präsens  sei  aus  -o/o-,  -y-  des  Infinitivs 
aus  demselben  zu  -iji-  geschwächten  -aja-  entstanden,  nachdem  das 
j  ausgefallen.  Dass  dies  lautliche  Unmöglichkeiten  sind,  bedarf  jetzt 
keines  Beweises  mehr,  es  wird  auch  jene  Ansicht  wohl  allge- 
mein aufgegeben  sein.  Wir  sind  nicht  im  Stande,  das  präsentische 
-0-  weiter  zu  analysiren,  ebenso  wenig  wie  das  infinitivische  -y-  und 
zwischen  beiden  ist  keine  lautliche  Beziehung  herstellbar,  so  weit 
unsre  Erkenntniss  der  Vocalverhältnisse  jetzt  reicht.  Das  Slavische 
legt  den  Vergleich  mit  seinen  Denominativen  (Factitiven  und  Itera- 
tiven) wie  moriti,  nositi  nahe,  allein  hier  fehlt  ebenfalls  eine  plau- 
sible Erklärung  des  I,  ausserdem  hat  das  Präsens  dasselbe  l 
{nosir-mz),  lässt  sich  daher  mit  der  litauischen  Form  nicht  zusammen- 
bringen. Bei  dieser  Sachlage  hat  man  zunächst  den  Versuch  zu 
machen,  ob  diese  Bildung  sich  aus  dem  Litauischen  selbst  erklären 
lässt  oder  wenigstens  ein  Ansatz  zu  einer  Erklärung  gefunden  wer- 
den kann.  Nun  scheint  es  mir  zweifellos,  dass  die  zahlreichen  Verba 
dieser  Glasse  auf  -sto-,  -sty-  (-szfo-,  -szly-)  reine  Denominativa  von 
Nominibus  auf  -«fo-  {'SZta-)  sind,  vgl.  krapsztpi  stochern  (mit  einem 
spitzen  Instrument)  —  krapsztas  (eig.  Kratzer)  Kratzhamen;  lankstpi 
iter.  biegen  —  lankstas  Biegung;  maksipi  iter.  flechten,  stricken  — 
makstas  Netzstricknadel  {mezgü);  ramstjliti  stützen  —  rämstis  Stütze; 
vaUistpi  iter.  schleppen  —  le  walksts  Zug;  baugsztjliü  scheu  machen 
—  batigsztüs  scheu;  raisztaü  raiszbjti  iter.  binden  —  raisztas  Binde; 


444  August  Leskien,  [482 

smaigstpi  einstecken  (in  die  Erde)  —  smaigstis  Stange  (also  eig. 
pfählen,  Stangen).  Von  solchen  Mustern  aus  sind  die  übrigen,  bei 
denen  ein  derartiges  Nomen  nicht  nachweisbar  ist,  ausgegangen,  wie 
barstpi  zu  beriü  streuen;  dangstijti  zu  dengiü  decken  u.  s.  w.,  die 
schliesslich  zahlreicher  geworden  sind  als  diejenigen,  bei  denen  die 
Vermittelung  eines  Nomons  noch  erkennbar  ist.  Ist  dieser  Gesichts- 
punkt richtig,  so  wird  eine  Wahrscheinlichkeit  für  die  denominative 
Abstammung  auch  der  Verba  dieser  Classe  auf  -o — y-  ohne  -st-  ge- 
wonnen. Ich  stelle  nur  als  Thesis  hin,  dass  diese  Iterativa  ursprünglich 
Factitiva  sind,  bedeutend  »dies  oder  das  herstellen,  sich  mit  dem  und 
dem  abgeben«,  woraus  dann  auf  dem  früher  angegebenen  Wege  die 
Iterativbedeutung  hervorgegangen  ist.  So  wäre  also  z.  B.  bradaü 
{brädo-me)  bradpi  (iter.  zu  bristi  waten)  eine  Ableitung  von  bradä 
das  Waten;  dangaü  [dängo-me)  dangpi  (iter.  zu  dengiü)  von  einem 
'dangä  {ap-dangä),  also  eig.  »Deckung  machen«,  und  ich  bin  der 
Meinung,  dass  das  -o-  des  Präsens  ursprünglich  von  zu  Grunde  lie- 
genden femininalen  ä-Stämmen  ausgegangen  ist,  genau  wie  das  ä  (o) 
in  den  Iterativen  auf  -o;u,  -o2t,  von  da  aus  sich  aber,  wie  bei  der 
letztgenannten  Classe,  auf  Ableitungen  von  Nominibus  beliebiger  an- 
derer Form  verbreitet  hat,  dass  endlich  Verba  dieser  Form  auch 
ohne  Vermittelung  eines  Nomons  auf  der  einmal  vorhandenen  Grund- 
lage entstehen  konnten.  Was  die  Flexion  des  Präsens  betrifft,  so 
besteht  der  Unterschied  von  den  Präsentia  der  Factitiva  und  Iterativa 
auf  -oti  darin,  dass  letztere  als  Präsenssufßx  -jor-  haben,  bei  den  uns 
hier  beschäftigenden  Verben  aber  die  Personalendungen  unmittelbar 
dem  Nominalstamm  angefügt  werden:  dängo-^ne.  Ich  brauche  kaum 
hervorzuheben,  dass  die  oben  ausgeführte  Hypothese  so  lange  eine 
sehr  unsichere  bleibt,  als  es  nicht  gelingt,  den  Infinitivstamm  auf  -jf- 
befriedigend  zu  erklären.  Was  die  Stufe  des  Wurzelvocals  betriflO^  so 
hätte  sie  ihren  Grund  in  der  durchgehenden  Bevorzugung  der  Hochstufe 
bei  den  betreffenden  Nominalsuffixen.  Ferner  würde  die  gegebene 
Erklärung,  die  diesen  Verben  facti tiven  Sinn  zuschreibt,  den  Grund 
enthalten,  warum  sie  durchweg  in  iterativer,  nicht  aber  in  causativer 
Bedeutung  gebraucht  werden. 

8)  Die  Bildungen  mit  dem  Zusätze  d  an  der  Wurzel :  Causativa 
und  Iterativa  auf  -dau^  -dyti,  Schleicher's  Beobachtung  Gramm. 
S.  1 58,  dass  diese  Bildungen  selten  Iterativ-,  meist  Causativbedeutung 


483]  Dbr  Abladt  der  Worzelsilbbn  im  Litacischen.  445 

uad  öfter  geschwächten  Yocal  hätten,  ist  richtig ;  bei  einer  grösseren 
Zahl  von  Beispielen  als  Schleicher  giebt  tritt  der  Unterschied  noch 
stärker  hervor.  Im  Lettischen  sind  bei  Bielenstein  unter  134  Itera- 
tiven auf  -ti  U  nur  13  mit  d,  dagegen  unter  22  Causativen  auf  -u 
"U  15  mit  d.  Da  nun  auch  das  Litauische  überhaupt  nur  schwache 
Neigung  zur  causativen  Verwendung  der  Bildung  auf  -au  -yti  hat, 
mit  dem  Bildungselemente  d  aber  eine  grössere  Anzahl  in  dieser 
Bedeutung  besitzt,  muss  die  causative  Anwendung  ursprünglich  von 
dem  d  abhängen.  Charakteristisch  ist  fUr  die  Causativa  die  Tiefstufe 
der   Wurzelsilbe,  während  die  Iterativa  die  Hochstufe  zeigen,  vgl. 

a)  Tiefstufe:  i  (der  e-Reihe).  Causativa:  le  birdit  streuen  {birti 
ausfallen),  dildyti  abnutzen  {dilti  sich  abnutzen),  gimdpi  gebären 
{gimti  geboren  werden),  girdyti  tränken  {gerti  trinken),  le  irdtt  reffein 
{irti  sich  trennen),  le  zildit  zu  etwas  bewegen  (eigentl.  »sich  heben 
machen«,  kilti  sich  heben),  pildau  pildyti  füllen  (le  pilt  sich  füllen), 
szildaü  szüdyti  wärmen  {szilti  warm  werden),  tildyti  schweigen 
machen  {tilti  verstummen),  Ivindyii  schwellen  machen  {tvinti  an- 
schwellen), vimdyli  erbrechen  machen  [vemti  sich  erbrechen),  virkr- 
dyti  weinen  machen  {vei'kti  weinen).  Iterativa:  le  midit  (zu  minti 
treten),  spirdyti  (zu  spirti  mit  dem  Fuss  ausschlagen),  le  tirdlt  forschen 
{zntirti,  vgl.  lit.  tirdine'ti  iier.  dem.). — U.  Causativa:  gtUdpi  legen 
{gulti  sich  legen),  kliüdpi  anhaken  machen  [kliüti  anhaken  intr.),  klupdpi 
stolpern  machen  {klüpti  stolpern),  plukdpi  schwemmen  {plukti  schwim- 
men), püdyti  faulen  machen  [püti  faulen),  siüdyti  nähen  lassen  {siüti 
nähen),  tupdpi  hocken  machen  {tüpü  hocken),  trukdpi  weilen  machen, 
aufhalten  {irukti  sich  hinziehen,  zögern),  zudpi  umbringen  [iüti  um- 
kommen). —  i,  Causativa:  le  bidit  in  Furcht  setzen  [btte-s  sich 
fürchten),  le  didlt  hüpfen  machen  (d^r  hüpfen),  g^^dyti  heilen  {g^ti 
intr.),  hjdyti  schmelzen  (eigentl.  sich  ergiessen  machen,  vgl.  Ipi 
regnen  ==  sich  ergiessen),  lipdyti  ankleben  {lipti  intr.),  migdpi  ein- 
schläfern {migti  einschlafen),  püdyti  zum  Milchgeben  reizen  (eigent. 
strotzen  machen),  le  rldtt  hetzen  {ret  bellen),  le  smldit  lachen  machen 
{smgl    lachen),     ivigdpi    quieken    machen     [ivigti    aufquieken).    — 

b)  Hochstufe:  d.  Iterativ:  tdrdyti  (zu  tirii  forschen),  spar  dyti 
(zu  spirtt),  le  tramdit  »durch  Trampeln  scheuchen«  {tremt).  Causa- 
tiv: ' Stabdpi  aufhalten  (vgl.  ste'bti-s  sich  stemmen).  Einige  kann  man 
zugleich  als  causativ  und   iterativ  ansehen:   ardpi  trennen   iter.   ist 


i46  August  Leskien,  [1S4 

Causativum  zu  irti  sich  auftrennen;  nard^ii  iter.  zu  nerti  untertauchen, 
caus.  zu  nirti  intr.  untertauchen;  rämdyti  beruhigen  iter.,  caus.  zu 
rimti  ruhig  werden ;  skdldyti  iter.  zu  skelti  spalten,  caus.  zu  diilti  sich 
spalten.  —  (lU.  Iterativ:  spiäudyti  (zu  spiäuti  speien),  gäudyti 
fangen  (zu  gäutt)^  szäudyti  (zu  szäuti  schiessen).  —  ai.  Iterativ:  le 
smaidll  (zu  smet  lachen),  skraidyti  (zu  skreti  kreisen,  fliegen).  C  au  sa- 
li v:  baidpi  scheuchen  [bijöti-s  sich  fürchten).  — Sehr  selten  sind  andere 
Yocalstufen:  temdyti  dunkel  machen  {temti  dunkel  werden),  ieldyti 
wachsen  machen  {zelti  wachsen,  grünen).  Es  ist  nicht  zu  verwundern, 
dass  mit  der  Causativbildung  auf  -d-  sich  die  gewöhnliche  Causativform 
auf  -fV  verbindet,  und  so  Formen  zu  Stande  kommen  wie  le  birdinäl 
(neben  birdlt)^  smidinät  neben  smidlt^  lit.  girdinti  tränken  neben 
girdyti^  vgl.  trimnd-inti  zittern  machen,  stab-d-inti  aufhalten,  kliüdinti 
anhaken  machen,  g^dinti  heilen,  l^dinti  schmelzen,  wozu  zum  Theil 
oben  die  gleichbedeutenden  Yerba  auf  -yti  angeführt  wurden.  Femer 
ist  es  begreiflich,  dass  im  Lettischen  bei  seiner  Verwendung  des 
-inät  zugleich  in  iterativem  Sinne  bisweilen  auch  ein  Iterativum  auf 
-dmä^  erscheint,  z.  B.  jädimt  reiten  lassen  und  oft  reiten.  Bekanntlich  be- 
sitzt das  Litauische  fast  unbeschränkt  die  Möglichkeit,  von  jedem  beliebigen 
Verbum  vermöge  der  Anfügung  von  -din-ti  ein  Causativum  zu  bilden 
in  dem  bestimmten  Sinne  unseres  »das  und  das  thun  lassen«,  z.  B. 
kirs-dinti  »hauen  lassen«  {kertü,  kirsti) ;  sv^kinu  (Factitivum  zu  »veütas 
gesund)  grüssen  —  sveikindinii  grüssen  lassen ;  sverdinti  wägen  lassen 
{ßverti  wägen)  u.  s.  w.  Bei  solchen  Ableitungen  von  selbst  bereits 
abgeleiteten  Verben  versteht  sich  die  Stufe  des  Wurzelvocals  von 
selbst,  bei  der  Ableitung  von  primären  ist  die  des  Infinitivs  mass- 
gebend. Das  Lettische  kennt  nun  eine  so  weit  gehende  Anwendung 
des  d  nicht,  bei  dem  sonst  gleichartigen  Auftreten  desselben  ist  es 
daher  sicher,  dass  im  Litauischen  dieser  Gebrauch  von  einer  Anzahl 
ältererer,  in  ihrer  Art  mit  den  Lettischen  sich  deckender  Fälle  aus- 
gegangen ist.  Geht  man  die  oben  angeführten  Beispiele  durch,  so 
zeigt  sich,  dass  durchweg  das  dem  Causativ  auf  -dy-ti  gegenüber- 
stehende primäre  Verbum  ein  inchoativ-intransitives  oder  einfach  in- 
transitives Verbum  ist,  also  jedenfalls  etwas  Zuständliches  bezeichnet, 
vgl.  iudpi  umbringen  —  ziUi  umkommen,  püdyti  —  püti  faulen, 
g^^yti  gjSfdinii  zu  g^ti  (heilen  intr.)  u.  s.  w.,  woraus  sich  von  selbst 
der  Sinn:  umkommen,  faulen,  heilen  lassen  ergibt,   und   ich  glaube. 


485]  D£R  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauischen.  447 

dass  diese  Beziehung  der  Anlass  zu  der  allgemeineren  Verwendung 
des  d  gewesen  ist.  —  Den  Ursprung  dieses  d  zu  untersuchen  ist 
hier  nicht  meine  Aufgabe,  es  milsste  in  weiterem  Zusammenhange 
geschehen.  Nur  darauf  möchte  ich  hinweisen,  dass  in  einigen  hier- 
her gehörigen  Verben  wohl  sicher  Nomina  mit  (2-Suffixen  zu  Grunde 
liegen,  vgl.  le  birdity  birdinät  streuen  —  birda  Sprühregen  (Streuung) ; 
baidpi,  le  baidit  baidinät  —  le  baida  Schreckniss;  le  dfemdät  dfem- 
dinüt  gebären  —  dfemde  uterus;  le  smaidlt  (iter.  zu  smit)  —  le 
smaida  Lächeln;  guldpi  legen  —  üz-gulda  Grundlage  u.  a. 

9)  Die  Verba  auf  ^auju  -auti  des  Litauischen.  So  weit  die- 
selben denominative  Factitiva  sind,  wie  sz^äuti  Heumachen,  karäuii 
Krieg  fuhren,  keliäuti  reisen  u.  s.  w.  zu  szinas,  käras,  kelias  bedarf 
der  Vocal  der  Wurzelsilbe  keiner  Erörterung.  Daneben  giebt  es  aber 
eine  geringere  Anzahl  von  Iterativen,  fast  nur  zu  solchen  Verben, 
die  einen  Schall  irgend  welcher  Art  bezeichnen.  In  diesem  Falle 
hat  der  Wurzelvocal  mit  Vorliebe  Tiefstufe  und  Länge,  wo  diese 
eintreten  kann,  vgl.  bliüvauti  (zu  bliüti  brUllen),  bubatUi  dumpf  brüllen, 
düsauti  seufzen,  kl^kauti  schreien,  r^kauti  jubeln,  schreien,  stügatUi 
heulen,  szükauti  dss.  {szaükti),  virkauti  weinen,  szvüpatUi  pfeifen, 
ivingatUi  wiehern  u.  a.  d.  A. 

10)  -au  'Oti,  -sau  -sott  im  Litauischen,  bildet  Intensitiva  (s.  o. 
S.  430);  charakteristisch  ist  die  Tiefstufe  des  Wurzel vocals  und 
zwar  die  Länge,  wo  diese  eintreten  kann  (vor  einfachem  Gonso- 
nanten),  vgl.  i^  (der  e-Reihe).  bl^iau  (plur.  bl'^iome)  bl^ioti  ange- 
schmiegt daliegen;  br^dau  brjjidoti  im  Wasser  (nach  Hineinwaten) 
stehen;  drj^bau  dr^boti  in  Klumpen  hangen;  k^bau  kijboti  sich  im 
hangenden  Zustand  befinden;  Itndau  lindoti  wo  stecken  (hineinge- 
krochen sein) ;  lingau  lingoti  schwanken ;  njmau  njmoti  aufgestützt 
liegen,  sitzen  u.  s.  w.;  sti^au  scroti  steif  dastehen;  i^au  tisoti  aus- 
gestreckt liegen.  Mit  s:  dilbsaü  dübsöti  glupend  dastehen;  linksaü 
linksöti  gebückt  dastehen ;  mirksaü  mirksöti  eingeweicht  liegen ;  mirksaü 
mirksöti  mit  halb  ofienen  Augen  dastehen ;  rinksaü  rinksöii  {ring-,  rengiü) 
gekrümmt  sitzen;  titnpsaü  timpsöti  ausgestreckt  daliegen;  vypsaü 
vypsöti  mit  halb  offenem  Munde  dastehen;  iirgsaü  zirgsöü  mit  ge- 
spreizten Beinen  dastehen.  —  Ü.  glüdau  glüdoti  angeschmiegt  da- 
liegen; kiütau  kitUoti  dss.;  klüpau  klüpoti  auf  den  Knien  liegen.  Mit 
8:  kniüpsau  kniüpsoti  gebückt  dasitzen;  niuksoti  im  Dunkeln  daliegen; 


448  August  Lbskibn,  [486 

stügsau  stügsoti  steif  dastehen.  —  %•  dp'au  d^roti  glupend  dastehen; 
h^szau  kijszoli  irgendwo  stecken;  slijgau  st^goti  auf  einer  Stelle  ver- 
weilen; sz'^psaU'S  szi/psoti'S  grinsen.  Gelegentlich  verfallen  diese 
Verba  im  Präsens  in  die  Flexion  der  Denominativa  auf  -oju  -oH^ 
daher  mögen  umgekehrt  so  flectirte  Verba,  deren  Vocal  die  Tiefstufe 
hat,  wie  grizöti  {-dju)  schwanken,  svyröti  dss.  ursprunglich  hierher- 
gehören. 

Sehr  selten  sind  andere  Yocalstufen,  z.  B.  derksaü  derksaU 
lümmelhaft  (wohl  eigentl.  unfläthig)  dasitzen  (zu  derkti);  vepsaü  vep- 
söti  (neben  vypsöti) ;  repsaü  repsöti  plump  (eigentl.  in  Kriechlage)  da- 
liegen; szmgkszaü  szmekszoti  im  Halbdunkel,  gespensterhaft  dastehen; 
in  tekszaü  tekszöti  lümmelhaft  daliegen  repräsentirt  e  die  Tiefstufe. 
Um  das  Yerzeichniss  dieser  «-Bildungen  zu  vervollständigen  füge  ich 
noch  die  mir  bekannten  übrigen  Beispeile  hinzu,  die  theils  in  ihrer 
Ableitung  unklar  sind,  theils  überhaupt  keinen  Ablaut  der  Wurzel- 
silbe zeigen:  branksaü  branksoti  emporstarren;  dunksaü  dunksöti  da- 
liegen ;  kiurksaü  kiurksöti  eingehüllt  dasitzen ;  kumpsaü  kumpsöti  krumm 
dastehen,  -sitzen  (kümpas  krumm,  kümpti  krumm  werden);  niurksaü 
niurksöü  düster,  brütend  dasitzen;  pampsaü  pampsöti  aufgedunsen  da- 
liegen (vgl.  pämpti  aufdinsen);  sziurpsaü  sziurpsöti  aufgerichtet  stehen 
(von  Haaren),  zu  sziürpti  horrere;  tursaü  tursöti  mit  vorgestrecktem 
Hintern  stehen ;  rqksaü  roksöti  plump  dasitzen,  -liegen ;  vampsaü  vamp- 
söti  mit  offenem  Munde  dastehen  (vgl.  vamplp) ;  iiopsaü  ziopsöti  dss. 
(vgl.  zioplp).  Es  möge  endlich  noch  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  eine  Bildung  mit  s  z.  Th.  gleicher  Bedeutung  mit  e-Vocal  be- 
steht, Inf.  'Seti^  Präsens  -su  oder  -^'ti,  vgl.  dilhm  dilbsUti  glupen, 
mirksiu  mirksefti  blinzeln  u.  e.  a.  Die  Zahl'  dieser  Verba  ist  indess 
so  gering,  dass  ein  bestimmtes  Verhältniss  des  Wurzelvocals  sich  nicht 
ergiebt. 

1 1 )  Iterativa  mit  gedehnter  Wurzelsilbe.  Die  Dehnung  des  Vocals 
wie  in  den  slavischen  Iterativen  Hkati  (zu  tekq),  birati  (zu  bhraU}^ 
sylati  (zu  szlati)  u.  s.  w.  findet  sich  ebenfalls  im  Litauisch-Lettischen, 
wenn  auch  selten,  z.  B.  ^.  me'tau  metyti,  le  metät  werfen  (vgl.  sl. 
milati),  zu  metü  werfen;  le  n€8ät,  zu  nest  tragen;  le  pdit  schmähen, 
zu  pelt;  le  r^gätß-s  sich  umsehen,  zu  redfet^  lit.  rege'ti  sehen;  le 
schk'elel  spalten  (indess  wohl  Factitiv  zu  schkßle  Spalt)  von  schk'elt 
spalten.   —  %•    le  dirät  schinden  (vgl.  sl.  dirati  zu  derq  dbrati)^  zu 


487]  Der  Ablaut  der  Wurzelsilben  im  Litauiscben.  449 

dirti;  m^iotiy  le  mtnät^  zu  mirUi  treten  (vgl.  sl.  minati  zu  mhnq); 
tn^toti,  zu  trinti  reiben.  —  Ü,  le  schl'ükäl  gleiten,  zu  schlvkl\  le 
küsäl  aufthauen,  zu  hast. 

12)  Die  mit  verschiedenen  Suffixen  gebildeten,  ursprünglich 
sämmtlich  denominativen  Deminutiva  haben  selbstverständlich  die 
Vocalstufe  des  zu  Grunde  liegenden  Nomens,  daher  a)  die  mit  -ab- 
gebildeten (vgl.  oben  S.  419)  vorwiegend  die  Hochstufe,  vgl.  därba- 
liuti  arbeiten,  gargaliuti  röcheln,  margaliüti  bunt  schimmern,  särga- 
liüti  kränkeln,  svämbaliuti  baumeln,  vartalioii  wenden ;  dugalüti  schnell 
wachsen;  le  straipal'ät  taumeln,  le  staigal'ät  hin  und  her  gehen. 
Dagegen  le  krltarät  öfter  ein  bischen  fallen,  le  pirkalät  dem.  zu  pirkt 
kaufen,  mmbaliuti  taumeln.  —  b)  Die  auf  -ur-,  -id-  gebildeten  be- 
vorzugen die  Tiefstufe,  öfter  mit  Dehnung,  vgl.  k^burti  hjburioti 
zappeln;  kniburioti  kn^burioti  Fingerarbeit  thun,  kniewein;  le  tipul'ut 
trübe  werden  (sich  beziehen) ;  vingurioti  krümmen ;  virkulioti  weinen ; 
güduriuti  jammern;  krütulioti  sich  regen;  lükurii  lükurioti  harren; 
plüdurti  auf  dem  Wasser  treiben;  ziburiuti  flackern  {iiburjjis);  sklidi^ 
riüti  gleiten,  schwimmen.  —  c)  Bildungen  auf  -ter-  (daneben  -tef-) 
mit  dem  Nebenbegriff  des  schnellen,  plötzlichen  Geschehens ;  sie  sind 
im  Litauischen  am  häufigsten  und  haben  als  ursprüngliche  Regel 
wohl  die  Tiefstufe,  zuweilen  gedehnt,  wo  Dehnung  eintreten  kann, 
vgl.  gr{itereti  ein  wenig  knicken,  sich  verdrehen;  kimsztereti  leicht 
anstossen  {kemszü  kimszti) ;  kirptereti  (zu  kerpü.  kirpti  schneiden, 
scheren) ;  kirstereti  (zu  kertü  kirsti  hauen) ;  kripsztereti  rascheln  (vgl. 
krapsztpi  stochern) ;  linMereti  ein  wenig  mit  dem  Kopfe  nicken  {lenkti 
biegen);  mirktereli  blinzeln  {merkti  die  Augen  schliessen);  slinkt^eti 
ein  wenig  rutschen  {slenkü  slinkti  schleichen,  gleiten);  szvilptereti 
pfeifen  {szvilpti) ;  tistereli  {tisti  sich  strecken) ;  trimlereti  ein  wenig 
nachlassen  (von  Schmerzen;  trimti);  trinktereti  erdröhnen  {trinke'ti 
dröhnen,  trenkti  stossen);  ivilgtereti  kurzen  Blick  thun  [zvelgti). 
—  czüptereti  und  czüptereti  zupfen;  glüstereti  sich  leicht  anlehnen; 
krüptet'eti  zusammenfahren;  lükteliu  ich  zaudere;  lüztereti  ein  wenig 
einknicken;  rügtereti  ein  wenig  sauer  werden;  szüktereti  etwas 
schreien ;  tnikteriti,  trukteliu  zucken ;  iüptereti  schnell  kauern ;  üglereti 
schnell  ein  wenig  wachsen.  —  d^gtereti  Seitenstechen  bekommen ; 
drjjktereti  sich  plötzlich  etwas  herablassen  {drj^kti  herabhangen, 
sich     herabziehen ) ;     drikstereti     plötzlich     reissen     (zu     demselben 


150      AC4&lftT  LCMIES,  DfLM  AmjUT  »CB  WcftZElÄlUD  Ol  LffACBCMKa.      l^ 

drt^kti^ ;  kffpUreü  »ich  äcbaell  eia  wenig  wenden:  pjkiereii  etwas 
ly>.^^  Herdeo:  k^ztereti  {ilotziich  ein  wenig  stecken;  zgbter^ü 
iihtereli  auch  tehlereii^  dem,  leachten.  Von  diesen  Beispielen  ans 
g^^hl  dann  dai»  -Inreli  weiter,  es  ent^teben  Biklongen  wie  ImstereU^ 
da»  Deioinutiv  vom  Iterativ  lauAyii  zu  /Si  gieäs^i  n.  a.  d  A. 


Verbessenmgen  und  Nachträge. 


S.  270  Z.tf  V.  o.  K  anderen  st.  stammen. 

8,  293  in  der  Ueberschhft  füge  nach  au  ein:  at^. 

H.  t93  Z.  IS  V.  o.  1.  bUcrifnoM  bUavikas;  Z.  2«  ▼.  o.  1.  brkkimas, 

8.  940  anter  Hs^fj  ist  einzafügen :  ^  rifkssczei,  r^ks:tesos  ans  Stricken  geflochtene  Hea- 

trage. 
9«  373  einzufligen:  o*  raiulM  radaü  räsU  finden.  —  €U  rödam  rödyti  zeigen   (caaa.  finden 

machen). 
H,  37S  ZU  vöffs  ist  das  Cilat  aosgeCallen  and  mir  nicht  mehr  auffindbar,  so  dass  ich  für 

die  Richtigkeit  der  Form  nicht  einstehen  kann. 
8.  404  einzofilgen:  fnaudiu  maudiaü  tnaüsU  sehnlich  verlangen  [äp-mtmdas  Yerdrass). 


Inhaltsverzeichniss. 


N  -s   -v'V'^ 


Seite 

Vorbemerkung 865 

A.  Alphabetisches  Verzeichniss  der  Beispiele. 

Allgemeine  Bemerkungen 268 

l.  i  y  S  ei  {y)  ^'  od  (q/) 27« 

II.  u  ü  u  au  [av]  ov 293 

III».  i  i  e  i  a  o  (ä) 320 

IIP.  e  i  a  o  [a] 360 

\V.  e  a  e  [ä) 370 

y.  a  0  [a] 372 

Anhang  ö 378 

B.  Die  Sphäre  der  einzelneii  Vocalstnfen 38« 

I.  Im  primären  Verbum 381 

1.  Die  Reihen  1— III 384 

I.     Im  primären  Verbum,    dessen   Nichtpräsensformen 

keinen  durch  d  oder  o  erweiterten  Stamm  haben   .  381 

A.  Dieselbe  Stufe  im  ganzen  Formensystem 381 

a.  %  der  Reihe  %  y  e  \x,  s,  vf 384 

1.  Yerba  mit  inchoativer  oder  intrans.  Bedeutung     ...  384 

a)  Präsens  auf  -^« 384 

ß)  Präsens  mit  infigirtem  Nasal 385 

Y)  Präsens  mit  Dehnung  zu  y 385 

S)  Präsens  mit  a  [e~o) 386 

8.  Yerba  ohne  ausgeprägt  inchoative  u.  s.  w.  Bedeutung  386 

a)  Präsens  mit  Suffix  a 386 

ß]  Präsens  mit  Suffix  Ja 387 

b.  u  der  Reihe  t«  «  S  u.  s.  w 387 

4.  Yerba  mit  inchoativer  oder  intrans.-pass.  Bedeutung   .  388 

a)  Präsens  auf  -^tf 388 

A.  Gonsonantisch  auslaut.  Wurzel 388 

4.  Yocal  ü 388 

2.  Yocal  ö 389 

B.  Yocalisch  ausl.  Wurzel 390 

ß)  Präsens  mit  infigirtem  Nasal 390 


452                                        August  Leskkn,  [490 

Seit« 

y)  Präsens  mit  Suffix   a 392 

A.  GoQSonantisch  auslautende  Wurzeln 392 

B.  Yocalisch  auslautende  Wurzeln 392 

6)  Präsens  mit  Suffix  ja 393 

2.  Yerba  ohne  ausgeprägt  inchoative  u.  s.  w.  Bedeutung. 

a)  Mit  Präsenssuffix  a 393 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzel 393 

B.  Yocalisch  auslautende  Wurzel 393 

ß)  Präsenssuffix  ya 393 

A.  Durchgehend  kurzer  Yocal 393                   | 

*    B.  Durchgehend  langer  Yocal 393                    j 

C.  Wechsel  von  u  und  ü 394 

c.  i  der  Reihe  i  y  e  u.  s.  w 394 

1.  Yerba  mit  inchoativer  oder  intrans.-pass.  Bedeutung  .  394 
er)   Präsens  auf  -tu 394 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzeln 394 

4.  Yocal  durchgehend  y 394 

2.  Yocal  durchgehend  i 395 

B.  Yocalisch  auslautende  Wurzeln 396 

ß)  Präsens  mit  Nasal 396 

y)  Präsens  mit  Suffix  a 397 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzel 397 

B.  Yocalisch  auslautende  Wurzel 397 

2.  Yerba  ohne  inchoative  u.  s.  w.  Bedeutung 398 

a)  Mit  Präsenssuffix  a 398 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzeln 398 

B.  Yocalisch  auslautende  Wurzeln 398 

ß)  Mit  Präsenssuffix  ja 397 

d.  Yocal  e,  allein  oder  im  Wechsel  mit  i 398 

\,  Yerba  mit  inchoativer  oder  intrans.-pass.  Bedeutung  .  398 

a)  Präsens  auf  -tu 398 

ß)  Präsens  mit  Nasal 399 

y)  Präsens  mit  Suffix  ja 399 

2.  Yerba  mit  durativer  oder  transitiver  Bedeutung   ...  399 

a)  Suffix  a 400 

•  ß)  Suffix  ja 400 

4.  e  ohne  Wechsel  mit  ä 400 

2.  e  im  Wechsel  mit  ä 402 

A.  Wurzelauslaut  momentaner  Consonant,  Sibilant  402 

B.  Wurzelauslaut  r,  l,  m 402 

e.  Yocal  au 403 

1.  Yerba  mit  inchoativer  Bedeutung 403 

2.  Yerba  mit  transitiv-activer  oder  durativer  Bedeutung  .  403 

a)  Suffix  mit  a  im  Präsens 403 

ß)  Suffix  ya 403 


4^4]                Der  Ablaut  deb  Wcbzelsilben  im  Litauischen.  453 

Seite 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzeln 403 

B.  Vocalisch  auslautende  Wurzeln 405 

y)  Suffix  na 405 

f.  Vocale  e  und  ei 405 

a)  Präsens  auf  a 405 

ß)  Präsens  auf  ja 406 

A.  Gonsonantisch  auslautende  Wurzeln 406 

i,  Vocal  ä 406 

%.  Vocal  ei 406 

B.  Vocalisch  auslautende  Wurzeln 407 

4.  ä  durchgehend 407 

%.  d'  im  Wechsel  mit  ei  ej  (lettisch)     ....  407 

B.  Die  Vocalstufen  wechseln  im  Formensystem  desselben  Verbums  407 

1.  Die  Reihe  iy  y,  e  u.  s.  w 408 

8.  Die  Reihe  i,  e  n.  s.  w 408 

Allgemeine  Sätze  aus  dem  Bisherigen 408 

Anhang.     Die   Stufen  a  ö  o  (der  6-Reihe)  und  ai  im  primären 

Verbum . 44  0 

4.  Vocal  a 410 

8.  Vocal  4 44  4 

3.  Vocal  0  [ä] 444 

4.  Vocal  ai •    •        •  ^^^ 

II.    Verbalstämme  auf  e  mit  primärer  Präsensbildung 

auf  a  oder  i  {ja) : 442 

A.  Wurzelvocal  i  y  (der  Reihe  ♦  e  u.  s.  w.) 44  2 

4.  Präsens  auf  a 44  2 

2.  Präsens  auf  i  {Ja) 44  3 

B.  Wurzelvocal  uü 443 

4.  Präsens  auf  a 44  3 

2.  Präsens  auf  i  {Ja] 44  3 

G.   Wurzelvocal  i-e 44  4 

4.  Präsens  auf  a 44  4 

a.  Vocal  i 44  4 

b.  Vocal    e 44  4 

2.  Präsens  auf  i  {Ja) 44  5 

a.  Vocal  i 44  5 

b..  Vocal  e    . 44  5 

D.  Wurzelvocal  a  (der  e-Reihe) 44  5 

2.  Die  Reihen  IV  und  V 446 

Wechsel  von  a-a;  a-ö. 

A.  Präsens  a^  sonst   a 44  6 

B.  Präteritum  o  (ä),  sonst  a 44  6 

G.  Präsens  a,  Nichtpräsensformen  o  (ä)     .    .    .    . 44  7 

II.   In  der  Nominalbildung 44  7 

Suffix  i 447 


454     August  Lbskibn,  Der  Ablaut  deb  Wurzelsilben  im  Litauischem.  [^ dS 

8«it6 

/-Suffixe 418 

a.  -tt/o-,  -td/ct- 118 

b.  -ala- 419 

m-Suffixe 419 

a.  -men- 419 

b.  -maSy  -sma-8  u.  s.  w 419 

»-Suffixe 420 

Ä-Suffixe 421 

^-Suffixe.    . 424 

a.  -to-,  -«te-  u.  s.  w 421 

b.  -^ 422 

-w- 423 

-a-,  -ö- 423 

0  (ä)   in  der  Wurzelsilbe  bei  Suffix  -a-,  -^Vi- 428 

0  iD  der  t^-Reihe 429 

in.  Im  abgeleiteten  Verbum 429 

1.  -inu  --intiy  le  -mu  -inät\  -initi 432 

2.  -oju  Ott,  le  -äju  'ät 436 

3.  'Uju  -4iti^  le  -&ju  -üt 438 

4.  le  -eju  -ei 438 

B.  le  -M  -^^ 440 

6.  -fffu  -yti,  le  -yw  -It 441 

7.  -au  -yti,  le  -«  -i< 442 

8.  Die  Bildungen  mit  d  an  der  Wurzel 444 

9.  -auju  -auti 447 

10.  -au  -Ott,  -sau  -sott 447 

11.  Iterativa  mit  gedehnter  Wurzelsilbe 448 

12.  Deminutiva 449 


itoiB— 


CHRISTIAN  REUTER 


DER  VERFASSER  DES  SCHELMÜFFSKY 


SEIN  LEBEN  UND  SEINE  WERKE 


VON 


FRIEDRICH  ZARNCKE 

MITGLIED  DER  KÖNIGL.  SACHS.  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


Abhandl.  d.  K.  S.  Gesellsch.  d.  Wiiisensch.  XKl.  31 


L  Christian  Benter. 

Der  Verfasser  des  Schelmuffsky  gilt  unseren  Litterarhistorikern 
noch  immer  als  unbekannt:  weder  Koberstein,  noch  Gervinus,  ob- 
wohl dieser  gerade  auch  hier  seinen  treffenden  litterarhistorischen 
Instinct  bekundet,  noch  auch  Goedeke  und  neuerdings  W.  Schcrer 
wissen  seinen  Namen.  So  steht  es  nun  doch  nicht,  der  Name  ist 
bereits  genannt  worden,  freilich  so  nebenbei  und  von  einem  so  wenig 
volles  Vertrauen,  zumal  für  eine  nur  beiläufige  Erwähnung,  ver- 
dienenden Schriftsteller,  dass  man  sich  nicht  wundern  darf,  wenn 
die  Forschung  seine  Angabe  übersehen  hat.  Emil  Weller  ist  es,  der, 
nachdem  er  1853  noch  den  Schelmuffsky  ausdrücklich  für  anonym 
erklärt  hatte  %  im  Jahre  1856  zuerst  das  Pseudonymen  des  Ver- 
fassers kennt^),  sich  dann  1858  unterrichtet  zeigt  von  der  Abfassung 
des  Schelmuffsky  durch  denselben^),  1864  sogar  die  persönlichen 
Verhältnisse  andeutet,  die  einem  Theile  der  von  ihm  geschriebenen 
Dichtungen  zum  Ausgangspunct  gedient  haben  ^).  Woher  Weller  seine 
Kenntniss  geschöpft  hat,  ist  mir  unerfindlich  geblieben.  Er  selber 
nennt  in  seiner  flüchtigen  Weise  keine  Quelle.  Ob  er  irgend  einer 
alten  Randnotiz  seine  Angabe  verdankt?  Dass  er,  direct  oder  in- 
direct,  die  Acten  gekannt  habe,  aus  denen  ein  Theil  der  nachstehenden 
Darstellung  geschöpft  ward,  ist  wenig  glaublich,  einmal  weil  die- 
selben erst  kürzlich  aus  ihrem  Versteck  ans  Tageslicht  gezogen  wor- 
den sind,   sodann   weil  Weller  1853   bereits   in   der  Schweiz  lebte, 


*)   Vgl.  Petzholdt's  Anzeiger  für  Bibliographie  elc.    <853,   S.  268,  Anm.:   »Den 
Verfasser  hat  man  nicht  in  Erfahrung  gebracht«. 

2)  Im  Index  Pseudonymorura  ^856  S.  72  unter  Hilarius. 

3)  In:  Die  falschen  und  fingierten  Druckorle,   ^858,  S.  29. 

4)  In  seinen  Annalen  II  (<864),   277,  Nr.  3U. 

81» 


438  FsieDBicH  Zai^cks,  [^ 

aus  der  er  nicht  wieder  nach  Leipzig  zarückgekehri  ist^).  Wie  dem 
sei,  Weller's  Angaben  sind  richtig,  der  Verfasser  des  Schelmuffsky 
heisst,  wie  wir  bei  ihm  lesen,  Christian  Reuter,  sein  Pseudo- 
nymen ist  Hilarius,  er  hat  1695  geschrieben,  und  das  von  Weller 
namhaft  gemachte  Werk  ist,  wie  es  wenigstens  ein  Theil  der  Zeitge- 
nossen aufTasste,  wirklich  gegen  Eustachius  Muller's  Wittwe  gerichtet'). 
Es  ist  das  Verdienst  des  Ehrendoctors  unserer  philosophischen 
Facultät,  des  gelehrten  Buchhändlers  und  Geschichtsforschers  A.  Kirch- 
hoff,  die  Acten  in  ihrer  Bedeutung  erkannt  zu  haben,  die  uns  über 
Christian  Reuter  und  Über  einen  Theil  seiner  Werke  zusammen- 
hängende Mittheilungen  bieten;  sie  waren  ihm  im  hiesigen  städti- 
schen Archive  bei  seinen  Studien  über  die  Leipziger  Bücher-Com- 
mission  durch  die  Hände  gegangen,  und  er  hatte  die  Freundlichkeit, 
die  weitere  Erörterung  derselben  mir  zu  überlassen.  Meine  Aufgabe 
ward  es,  das  Angedeutete  näher  zu  verfolgen,  die  persönlichen  Ver- 
hältnisse, die  für  das  richtige  Verst^ndniss  offenbar  eine  grosse  Be- 
deutung hatten,  möglichst  genau  festzustellen  und  so  die  schrift- 
stellerische wie  die  ethische  Persönlichkeit  Reuter's  klarer  herauszu- 
arbeiten. Das  Kgl.  Sachs.  Hauptstaatsarchiv,  das  fULr  den  ersten  Theil 
der  Untersuchung  im  Stiche  Hess,  gewährte  dann  unerwartete  wei- 
tere Ausblicke  über  den  Dichter  und  seine  Schriftstellerei.  Leider 
versagte  unser  Universitätsarchiv  fast  ganz,  dessen  Acten  doch  in 
erster  Linie  hätten  in  Betracht  kommen  müssen:  der  wichtige  Acten- 
band  über  unseren  Dichter,  der  an  150  Folioblätter  umfasst  hat,  ist 
spurlos  verschwunden,  auch  viele  der  anderen  gleichzeitigen  Docu- 
mento,   die  wenigstens  beiläufige  Angaben  gewährt  haben  würden, 


^)  Wohl  von  Weller  ist  die  Angabe  entnommen  in  dem  131.  Katalog  von 
Wllh.  Koebner  in  Breslau,  S.  35  und  32.  Der  Kataloge  der  eine  Anzahl  hand- 
schriftlicher bibliographischer  Reperlorien  zum  Verkauf  bot,  ward  1878  versandt 
und  als  Sammler  nannte  sich  mir  Herr  Hugo  Hayn,  Schriftsteller  und  Antiquar, 
gegenwärtig  in  München.  Ob  die  von  ihm  zusammengetragenen  Notizen  etwas  zur 
Sache  enthalten  haben,  vermag  ich  nicht  zu  sagen  (gegenwärtig  werden  sie  sich 
aus  dem  Nachlasse  des  Dr.  H.  U.  im  Besitze  des  Herrn  Prof.  M.  B.  in  M.  be- 
finden],  glaube  es  aber  nicht:  die  Angaben  von  Weller  und  von  Gervinus  in 
seiner  Gesch.  d.  d.  Dichtung  genügen,  um  die  Worte  in  dem  Katalog  zu  erklären. 

^)  In  Leipzig  muss  zu  Gottsched*s  Zeit  noch  eine  bezügliche  Tradition  gelebt 
haben.  Er  sagt  im  Nöth.  Vorrath  I,  259  :  Es  hat  damals  hier  (in  Leipzig]  wirk- 
lich solche  Originale  gegeben,  die  darinnen  lächerlich  gemachet  werden. 


^]  Christian  Reuter.  iS9 

fehlen  uns*).  Um  so  vortrefif lieber  bewährten  sich  die  Documenten- 
schätze  unseres  städtischen  Archivs,  die  Personallisten  des  hiesigen 
Standesamtes  und  der  hiesigen  Kirchen,  die  fast  immer  die  ge~ 
wünschte  Auskunft  ertheilten.  Mancher  Orten  habe  ich  noch  sonst 
anklopfen  müssen,  Mancher  hat  mir  Zeit  und  Mühe  geopfert:  ihnen 
Allen  bin  ich  dankbar,  und  doppelt  dann,  wenn  ihre  Bereitwilligkeit 
einen  Erfolg  nicht  ergab,  ich  sie  also  umsonst  bemüht  hatte.  Zu 
ganz  besonderem  Danke  verpflichtet  bin  ich  ausser  Hr.  A.  Kirchhoff, 
der  auch  im  Verlauf  der  Arbeit  manchen  schätzbaren  Wink  aus  sei- 
ner reichen  Kenntniss  der  alten  Acten  zu  geben  wusste,  den  Herren 
Pastor  H.  Bilieb  in  Kutten,  Archivrath  Dr.  Distel  in  Dresden,  Dr.  H. 
Georges  in  Gotha,  Oberbibliothekar  und  Director  des  städtischen 
Archivs  Prof.  Dr.  Wustmanu  hieselbst,  ferner  den  Vorständen  der 
Bibliotheken  hier  und  in  Berlin,  Dresden,  Gotha,  Göttingen,  Weimar, 
Wolfenbüttel,  die  mich,  neben  Hr.  Heinrich  Hirzel  dahier,  ausgiebig 
mit  der  einschlagenden  Litteratur  und  mit  mancherlei  Auskunft  ver- 
sahen, wie  auch  der  Direction  des  Kgl.  Hauptstaatsarchivs  in  Dresden. 
Ich  meine  nunmehr  die  Arbeit  abschliessen  zu  dürfen,  in  der  Hoff- 
nung, dass,  je  früher  ich  der  gelehrten  Welt  ihre  Ergebnisse  vor- 
lege, es  um  so  eher  gelingen  wird,  die  von  mir  gelassenen  Lücken 
zu  ergänzen. 

Christian  Reuter  ward  am  9.  October  1665  geboren,  oder  rich- 
tiger getauft,  in  Kutten^),  einem  Pfarr-  und  Bauerdorfe  in  einer  Thal- 


^j  Nach  dem  erst  in  diesem  Jahrhundert  angelegten  Repertorium  fehlt  nur 
das  wichtige  Actenhefl  6.  A.  IX,  H5,  das  Allerlei  über  unseren  Fall  enthalten 
haben  wird;  aber  schon  früher  müssen  grosse  Verluste  eingetreten  sein,  denn 
G.  A.  IX,  H4  führt  die  alte  Bezeichnung  86,  G.  A.  IX,  446  dagegen  4  44;  es 
fehlen  also  nicht  weniger  als  57  Fascikel,  die  Jahre  4  683 — 4  697  umfassend. 

2]  Diesen  Ort  festzustellen,  gelang  erst  nach  manchen  Umwegen.  Denn  die 
Relegationspatente  nennen  unsern  Christian  Guttensis  Misnicus.  Ich  glaubte  mich 
also  in  erster  Linie  nach  Guttau  bei  Bautzen  gewiesen,  und  Herr  Pastor  Mättig 
daselbst  hat  sich  weidlich  bemüht^  den  Gesuchten  in  den  dortigen  Kirchenbüchern 
aufzufinden.  Dann  rieth  ich  auf  die  beiden  Gotta  in  der  Nähe  Dresdens,  und  die 
Geistlichen  dieser  beiden  Orte  sind  nur  soeben  der  Gefahr  entgangen,  auch  ihrer- 
seits Zeit  und  Bemühung  umsonst  zu  verlieren,  indem  ich  gerade  noch  im  rechten 
Moment  die  Entdeckung  machte,  dass  jene  Eintragung  ungenau  sei,  dass  Christian 
Reuter  zwar  meissnischer  Unterthan  war,  aber  aus  dem  Ghurkreise  stammte,  also  der 
Nation  nach  ein  Sachse  war,  und  dass  sein  Geburtsort  Kutten  heisse.  Das  Schwanken 
von  K  und  G  wird  erklärt  durch  den  Dialekt  und  die  falsche  Nationalitätsangabe  durch 


(60 

i^Dj^^Dkung  jener  Hügelkette,  die  sich  dem  östlichen  Abhänge  des 
PeU^ti^M^rge»  bei  Halle  vorlegt.  Dieser  letztere  erhebt  sich  mit  semer 
alten  Kirche  maleriscb-romaDtÜKrh  und  grenzt  in  nächster  Nähe  den 
weBtlichen  Horizont  ab.  ChrLstians  Vater,  Sieflen,  war  ein  wohlhabender 
Bauer,  d^^m  von  1646  bis  1670,  also  durch  einen  Zeitiaom  von  2i 
Jahren^  10  Kinder  getauft  wurden,  6  Knaben,  von  denen  dn  1661 
getKirener  nach  wenigen  Wochen  wieder  starb,  and  4  Mddchoi'). 
unser  Christian  war  das  achte  Kind.  Die  Glieder  einer  so  zahl- 
reichen Familie  waren  wohl  darauf  angewiesen,  zum  Theil  aosser- 
balb  des  Ortes,  in  dem  sonst  viel  Heimathsgefühl  gewaltet  zu  haben 
scheint,  ihr  Fortkommen  zu  suchen,  eigene  Neigung  mag  hinzuge- 
kommen sein.  Nur  so  erklärt  sich,  dass  die  Kttttener  Kirchenbücher 
wenig  Aufschluss  über  ihren  Verbleib  gewähren.  Im  Jahre  1683 
starb  der  Vater,  ihm  folgte  1691  die  Mutter,  wohl  von  einer  epi- 
demischen Krankheit  dahingerafft,  denn  an  demselben  Tage,  dem 
31.  August,  ward  ihr  damals  ältester  Sohn  Caspar  mit  ihr  zu^eich 
in  dieselbe  Gruft  gesenkt;  zu  dieser  Zeit  war  Christian  schon  lange 
auswärts.  Eine  Tochter  verheirathete  sich,  als  unser  Christian  sechs 
Jahre  alt  war,  die  jüngste  erst  viel  später,  als  er  längst  die  Heimath 
verlassen  halte.  Im  Jahre  1699  ist  der  jüngste  Sohn,  Stephan,  der 
Nachfolger  auf  der  väterlichen  Hufe^).  Leichtes,  zum  Leichtsinn  ge- 
neigtes Blut  mag  in  den  Adern  der  Familie  pulsiert  haben ^). 


die  LandcMzugchÖrigkcit.  Auch  dem  Auffinden  in  der  Matrikel  stand  jene  falsche 
Angilbe  im  Wege,  da  ich  den  Namen  lange  nur  unter  den  Meissnem  suchte. 

1]  Alle  dicMC  auf  Reuter^s  Familie  und  auf  Kutten  bezüglichen  Miltheilungen 
verdanke  ich  Herrn  Pastor  Bilieb  in  Killten.  Die  4  0  Kinder  Steffen  Reuter^s  wa- 
ren: UrHuia  (get.  18.  März  1646],  Gottfried  (get.  20.  Juni  1648),  Maria  (get. 
10.  Januar  1650,  verheirathet  1672  nach  dem  etwas  südlicher  liegenden  Teicha), 
Caspar  (gel.  20.  April  1657,  f  1691),  Andreas  (get.  4.  Juli  1659),  Steffen  (get. 
12.  Juni  1661,  f  d.  29.  Juni),  Dorothea  (get.  14.  Juni  1662),  Christianus 
(gut.  9.  October  1665),  Stephan  (get.  22.  Februar  1668),  Anna  Elisabeth  (get. 
8.  October  1670,  verheirathet  im  Orte  1696). 

3)  Noch  heute  giebt  es  eine  Familie  Reuter  in  dem  Orte,  aber  sie  hängt  mit 
der  früheren  nicht  direct  zusammen.  ^ 

^)  Vgl.  die  Einzeichnung  im  Kirchenbuche:  »Anno  1696  am  4.  Februar  ist 
llnns  Brandt,  llnns  firandes  Sei.  gewesenen  Einwohners  allhier  hinterl.  Eheleib- 
Hoher  Suiin,  mit  Jgf.  Anna  Elisabeth,  Steffan  Reuters  Sei.  gewesenen  inwohners 
allhier  hinter!.  Eholoiblicheu  Tochter,  öffentlich  getraut  worden,  Undt  haben  am 
5.  Aprilis  einen  Sohn  tauffen  lassen.« 


"^j  Christian  Rbcter.  461 

In  Kutten  scheint  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  ein  regeres 
geistiges  Leben  vorhanden  gewesen  zu  sein.  Der  Ortsgeisth'che,  der 
»wohlehrwUrdige  und  wohlgelahrte a  Herr  Johannes  Rappsilber,  der 
von  1658  bis  1700  der  Seelsorge  waltete,  entstammte  dem  Dorfe, 
ebenso  sein  naher  Verwandter,  der  Schulmeister  Salomon  Rappsilber, 
der  1673,  20  Jahre  alt,  sein  Amt  antrat  und  bis  1719  verwaltete. 
Des  Pfarrers  Sohn  Christian  studierte  Theologie,  und  auch  den  Sohn 
des  Bauern  Gottfried  Median  erwähnt  das  Kirchenbuch  als  Studenten. 
Unser  Christian  scheint  schon  bei  der  Taufe  dem  gelehrten  Stande 
gewidmet  worden  zu  sein,  da  sein  Name  allein  von  allen  Kindern 
die  stolze  lateinische  Endung  erhielt.  Er  führte  ihn  gemeinsam  mit 
dem  damaligen  LandesfUrsten ,  dem  Herzoge  Christian  von  Sachsen- 
Merseburg.  In  den  beiden  Rappsilber  haben  wir  zweifelsohne  die 
ersten  Lehrer  und  geistigen  Förderer  des  heranwachsenden  Knaben 
zu  erblicken. 

Ob  etwa  die  Familie  des  Kirchenpatrons  sich  des  jungen  Spröss- 
lings  der  kinderreichen  Familie  angenommen  hat?  Das  Kirchen- 
patronat  führte,  und  führt  noch,  die  Familie  der  Freiherren  von  Veit- 
heim,  und  zwar  die  sogen,  schwarze  Linie,  sesshaft  auf  dem  be- 
nachbarten Ostrau.  Die  Pfarre  zu  Kutten  bewahrt  noch  heute  manche 
Erinnerungen  an  das  Wohlwollen  und  die  Liberalität  der  damaligen 
Glieder  dieser  Familie,  zumal  auch  die  Bibliothek. 

Wo  er  dann  seine  weitere  gelehrte  Ausbildung  empfangen  hat, 
ist  uns  nicht  überliefert.  Aber  entscheidende  Gründe  sprechen  für 
das  Domgymnasium  in  Merseburg.  Zörbig  mit  Umgegend,  zu  der 
Kutten  gehört,  war  1 657  im  Hauptvergleiche  zu  Dresden  an  Sachsen- 
Merseburg  gekommen ;  hier  residierten  die  geistlichen  wie  weltlichen 
Oberherren  des  Dorfes,  von  hier  aus  ergingen  alle  höchsten  Anord- 
nungen; die  Blicke  der  Ortseingesessenen  waren,  sobald  sie  sich 
höher  wendeten,  gewiss  zunächst  nach  Merseburg,  und  somit  auf  das 
dortige,  seit  dem  Jahre  1 668  neu  organisierte  Domgymnasium  gerichtet. 
Ja,  der  Landesherr  verlangte  dessen  Besuch^);  und  schon  1695  beruft 


^)  So  heisst  es  in  der  Schulordnung  des  Herzogs  Christian  von  1668  aus- 
drücklich: »So  wollen  Wir,  dass  hinführo  alle  Unsere  Landes  Kinder  im  Stiefft 
und  Erblanden  dieser  orthe,  wenn  sie  soweit  kommen,  dass  sie  auf  Gymnasia  zu 
verschicken,  in  diese  Unsere  Landtschule  gethan  werden  oder  wiedrigenfalls  künf- 


462  Friedrich  Zarngkb,  [8 

Reuter  sich  auf  eine  Erfahrung^  die  er  zu  Merseburg  gemacht  habe. 
Auch  sehen  wir  später,  dass  er  sich  während  der  Zeit  seiner  Rele- 
gation dort  aufhielt;  in  der  Umgegend  finden  wir  ihn  bekannt  und 
zu  Gliedern  der  Sächsischen  Nebenlinien  scheint  er  in  persönlichem 
Yerhältniss  gestanden  zu  haben,  wenigstens  war  ihm  der  Herzog 
Christian  August  aus  der  Linie  Sachsen- Zeitz  während  seines  Auf- 
enthaltes in  Merseburg  behttlflich,  die  Zurücknahme  der  Relegation 
zu  erwirken. 

War  Reuter  wirklich  in  Merseburg  auf  der  Schule,  so  ist  er 
doch  kaum  noch  unter  dem  Rector  M.  Heinr.  Crazenstein  (1668 — 
1674)  dort  gewesen,  sondern  wohl  erst  unter  M.  Friedr.  Hildebrand 
(1674  bis  21.  December  1687),  der  gegen  Schluss  seines  Lebens 
wegen  Kränklichkeit  durch  M.  Conrad  Sittig  vertreten  ward.  Unter 
ihm  wUthete  die  Pest  in  Merseburg  und  die  Schule  musste  vom 
3.  Januar  1683  bis  19.  März  1684  geschlossen  werden,  während 
welcher  Zeit  denn  auch  Reuter  wohl  anderweit  unterzukommen  hat 
versuchen  müssen.  Unter  dem  berühmten  M.  Christoph  Cellarius, 
der  im  Mai  1 688  als  Rector  eingeführt  ward,  hat  Reuter  dann  noch 
im  Sommersemester  die  Schule  besucht.  Als  Conrector  fungierte 
während  der  für  ihn  in  Betracht  zu  ziehenden  Zeit  nur  Georg  Ilmer 
(1671—1698),  als  Tertius  Heinr.  Kiesewetter  (1667  —  1677)  und 
Nie.  Kupfer  (1677 — 1726).  Ueber  die  damalige  Methode  des  Unter- 
richts vergleiche  man  F.  Witte's  Gesch.  des  Domgymnasiums  in  Merse- 
burg, II.  S.  25  fg.  Wichtig  ist,  dass  auch  dem  Deutschen  besondere 
Aufmerksamkeit  zugewendet  ward.  Es  heisst  in  der  Schulordnung: 
»Der  Unterricht  in  den  beiden  oberen  Classen  soll,  nächst  der  Ehre 
Gottes  und  der  gemeinen  Wohlfahrt,  die  Fundamente  der  lateinischen, 
griechischen  und  hebräischen  Sprachen  wohl  legen,  dabei  aber  die 
Reinlichkeit  der  deutschen  Sprache  nicht  hintenansetzen«.  Ob  bereits 
damals  bei  den  Schulactus  auch  deutsche  Verse  vorgetragen,  oder 
gar  deutsche  Schauspiele,  in  denen  auch  die  komischen  Personen 
nicht  fehlten,  aufgeführt  wurden,  wie  wir  es  vier  Decennien  später 
finden,  lässt  sich  nicht  sicher  feststellen.  Beim  ersten  Jubiläum  der 
Schule  1 675  wurden  auch  deutsche  Reden  gehalten.    Ob  Reuter  dies 


tiger   Beförderung  in  Unseren   Landen    verlustig   sein   sollen«.     Witte,    Gesch.  d. 
Domgymn.  zu  Merseburg  11,  S.  56. 


d]  Christian  Reutbb.  463 

bereits  mitgefeiert  hat?  Ob  er  als  Currendaner  auch,  was  damals  lei- 
der eingerissen  war,  in  der  Stadt  und  auf  den  benachbarten  Dörfern 
sich  bei  Hochzeiten,  Begräbnissen,  Kindtaufen  u.  s.  w.  herumgetrieben 
hat?  Wir  wissen  es  nicht.  Leider  beginnen  die  Verzeichnisse  der 
Schüler,  der  Abiturienten  etc.  erst  später,  so  dass  alle  Bemühungen 
vergebens  gewesen  sind,  darüber  Gewissheit  zu  erlangen,  ob  und 
wie  lange  etwa  Reuter  in  Merseburg  gewesen  ist^). 

Mit  dem  Jahre  1688  wird  es  wieder  lichter.  In  diesem  Jahre, 
im  Beginne  des  Wintersemesters,  ward  unter  die  Studierenden  der 
Universität  Leipzig  aufgenommen 

Christianus  Reuter,  Küttensis  Saxo. 

Er  erscheint  in  demselben  Semester  zweimal,  einmal  in  der  Zahl  der 
Depositi  und  dann  sogleich  auch  in  der  Zahl  der  Jurati ;  daraus  geht 
hervor,  dass  er  noch  auf  keiner  anderen  Universität  sich  aufgehalten 
hatte,  sonst  wäre  die  Deposition  in  Wegfall  gekommen.  Er  bezahlte 
beide  Male  16  ggr.  Das  ist  ein  Zeichen,  dass  er  sich  in  leidlichen 
Vermögensverhältnissen  befand.  Eigentlich  sollte  jeder  Act  einen 
Thaler  kosten,  aber  man  behandelte  damals  einen  Jeden  nach  seinen 
Kräften.  Ganz  arme  Schlucker  liess  man  wohl  ganz  umsonst  herein 
»propter  Deum«;  bei  der  Deposition,  bei  der  man  es  oft  noch  mit 
Kindern  zu  thun  hatte,  war  man  überhaupt  nicht  so  strenge,  hier 
waren  es  eigentlich  nur  die  Nobiles,  die  Equites,  die  ihren  Thaler 
voll  bezahlten,  die  übrigen  pflegten  sich  wenigstens  auf  22  Groschen, 
andere  auf  18  und  16,  einige  wenige  auf  8  herunterzuhandeln. 
Strenger  nahm  man  es  mit  der  eigentlichen  Immatriculation,  hier  hielt 
man  seitens  der  Universität  gerne  an  dem  Thaler  fest,  musste  sich 
freilich  auch  hier  die  Herabsetzung  auf  20,  16,  12,  ja  auf  8  ggr. 
und  auf  Gratisaufnahme  gefallen  lassen.  Wenn  also  Chr.  Reuter 
1 6  Groschen  zahlte,  so  kam  er  zwar  nicht  als  Begüterter,  aber  doch 
auch  nicht  als  larmoyanter  Hungerleider.  Unserer  Bibliothek  frei- 
lich, der  damals  jeder  Ankömmling  eine  kleine,  in  sein  Belieben  ge- 
stellte Summe  verehren  musste,  die  in  der  Regel  in  4  ggr.  bestand, 
hat  er  nur  2  ggr.  zugewandt.     Die  Liste   dieser  Beiträge   bietet  uns 


*)  Herrn  Conreclor  Prof.  Dr.  F.  Wille,  dem  kundigslen  Führer  durch  die  Ge- 
schichte der  Schule,    bin  ich  zu  besonderem  Dank  verpflichtet. 


i64  Fbj£»ucb  Zabücke.  !<« 

aeia  dltCdteä  Autographoo:  mil  klarer,  zierlicher  HandacbriA  hat  er 
iseinen  NameD  eiDgetragen. 

Das  Studium,  welches  er  ergriff,  war  zweifeläohne  Theologie 
^die  Studentenverzeichnisse  neaDea  damals  das  Studium  nodi  nicht . 
Nur  »o  sind  die  Worte  in  seinem  Relegationspatente  zu  ¥erstefaen, 
welche  ihn  mit  den  untreuen  Dienern  Gottes  vergleichen,  die  an- 
ders handelten  als  sie  predigten  und  Andere  lehrten;  ja  ich  meine, 
es  geht  aus  diesen  Worten  sogar  hervor,  dass  er  schon  einmal,  und 
zwar  am  Michaelisfeste,  als  Prdparande  auf  der  Kanzel  der  Pauliner 
Kirche  gestanden  haben  muss.  So  würde  auch  die  später  von  ihm 
verfasste  satirische  Leichenrede  ihre  besondere  Motivierung  finden. 
Auch  der  erste  spöttische  Brief  an  Götze  verrdth  den  im  geistlichen 
Stil  Geübten. 

Aber  bis  ans  Ende  seiner  Studien  ist  er  nicht  bei  der  Theo- 
logie geblieben,  denn  1697  nennt  er  sich  »Stud.  juris«.  Ob  die  Theo- 
logie die  Schuld  trug?  Für  aufgeweckte  Geister  war  wohl  die  in 
Leipzig  herrschende  starre,  kampfsUchtige  Orthodoxie  wenig  an- 
sprechend. Wissen  wir  doch,  dass  auch  Benjamin  Schmolcke,  der 
bald  darauf  (Herbst  1694)  nach  Leipzig  kam,  in  Gefahr  gerieth,  der 
Theologie  Valet  zu  sagen  und  Medicin  zu  studieren.  Aber  wir  brau- 
chen wohl  bei  unserem  Reuter  nicht  der  theologischen  Facultät  die 
Schuld  zuzuschieben:  sie  hätte  besser  sein  können  als  sie  war,  und 
er  würde  doch  wohl  kaum  auf  die  Dauer  für  sie  gepasst  haben. 
Als  er  ihr  schliesslich  officiell  Valet  sagte,  stand  es  bereits  so,  dass 
ihm  in  ihrem  Bannkreise  eine  Aussicht  nicht  mehr  geboten  war. 

Es  war  ein  anderes  Interesse,  das  ihn  bald  ganz  gepackt  zu 
haben  scheint,  das  fürs  Theater.  Theatralische  Aufführungen  waren 
schon  längst  in  Leipzig  beliebt  gewesen  und  Studenten  spielten  da- 
bei eine  Hauptrolle.  Im  Jahre  1669  ward  der  Polyeuctes  von  einer 
»Htudicrcnden  Gesellschaft«  aufgeführt.  Der  Schauplatz  war  in  dem 
sog.  FleiHchhausc,  über  den  sog.  Fleischbänken,  d.  h.  in  dem  Hause 
zwischen  Naschmarkt  (Nr.  2)  und  Reichsstrasse  (Nr.  53/54),  dessen 
erste  Etage  ausser  der  Messe  von  Tanz-,  Fecht-  und  Exercitien- 
meistern  benutzt  ward,  während  der  Messe  zu  Aufführungen  diente. 
Hier  spielte  auch,  es  ist  unbestimmt  wie  oft,  die  »berühmte  Bande« 
dos  Joh.  Vclthoim  oder  Veiten  (Bruder  des  bekannten  Jenenser  Pro- 
fessors),  die   seit  1678   als  Auszeichnung  den  Titel  der  Ghursäcbsi- 


^^]  Christun  Rboter.  465 

sehen  Comödiantengesellschaft  führte,  und  die  nach  Velten's  Tode  im 
Jahre  1693  durch  die  Gebrüder  Möller  wieder  zusammen  gebracht 
ward^).  Epochemachend  aber  ward  für  Leipzig  das  Jahr  1693  da- 
durch, dass  in  ihm  am  8.  Mai  das  von  dem  Dresdner  Capeilmeister 
Strungk  in  Gemeinschaft  mit  dem  Dr.  Glaser  erbaute  Opernhaus  am 
Brühl  (auf  dem  westlichen  Terrain  der  gegenwärtigen  Allgemeinen 
Deutschen  Creditanstalt)  eingeweiht  ward;  die  Churfürstliche  Con- 
cession  vom  13.  Juni  1692  lautete  auf  die  Aufführung  »deutscher 
Singspiele«  zur  Zeit  der  Messe.  Als  während  der  Michaelismesse 
1699  das  Beilager  des  Erbprinzen  von  Bayreuth  mit  der  Herzogin 
von  Sachsen -Weissenf eis  in  Leipzig  gefeiert  ward  und  auch  der 
König  von  Polen  Friedrich  August  mit  zahllosen  polnischen  Magnaten 
und  sonstigem  Adel  sich  auf  mehrere  Wochen  einstellte,  ward  sogar 
noch  an  einem  dritten  Orte,  in  dem  Hause  zu  den  3  Schwanen 
(Brühl  Nr.  85),  gespielt,  und  zwar  hier  von  den  »raren  französischen 
Gomödianten «.  Trotzdem,  dass  die  herumziehenden  Truppen  bereits 
das  Normale  waren,  wurden  die  Studenten  immer  noch  sehr  in  Mit- 
leidenschaft gezogen,  und  zwar  nicht  bloss  für  die  Comödie,  sondern 
auch  für  die  Oper.  Strungk  in  einer  Eingabe  an  den  Stadtrath  vom 
Jahre  1 695  empfahl  seine  Opern  besonders  auch  damit,  dass  dadurch 
»auch  manchem  Studioso  sein  Unterhalt  zuwüchse«,  und  noch  1725 
sagt  Iccander  in  seinem  Galanten  Leipzig  S.  26:  »Das  grosse  im 
Brühl  befindliche  Opernhaus,  darinnen  alle  Messen  von  denen  unter 
den  Studenten  befindlichen  Virtuosen  die  schönsten  Opern  präsentiret 
werden«.  Wir  sind  vielleicht  nicht  zu  kühn,  wenn  wir  annehmen, 
dass  auch  Chr.  Reuter  sich  ums  Jahr  1 695  mit  unter  den  spielenden 
Studenten  befunden  habe.  Im  Januar  1 695  hatte  eine  Merseburgische 
Bande  unter  Hermann  Heinrich  Richter,  auch  sie  hervorgegangen  aus 
der  Velten'schen,  gespielt:  nach  dem  was  wir  oben  über  Reuter's 
Aufenthalt  in  Merseburg  vermuthen  durften,  wird  es  ihm  vielleicht 
nicht  an  directen  Beziehungen  zu  dieser  Truppe  gefehlt  haben. 

Wie  dem  sei,  wir  werden  annehmen  dürfen,  dass  mit  dem 
Jahre  1693  Chr.  Reuter's  Hauptinteresse  sich  dem  Theater,  der  Oper 
wie   dem  Lustspiel,   zuwandte.     Er  fand  dabei   einen   Genossen  an 


^)   Ich  verdanke  diese  Sf ittheiluDg  Herrn  Dr.  Wustmann ;  gewöhnlich  gilt  noch 
die  Annahme,  Veiten  habe  bis  ins  18.  Jahrh.  gelebt. 


166  Feieducb  Zabbkxe.  It2 

dern  SludenUfn  Johann  Grcl  aus  Rü£:enwalde  in  Pommem,  deo  die 
Acten  i»teLs  fälschlich  AKreli«  scbrcit>en'  .  Er  ward  schon  früher  als 
RcuU]*r,  9^;hon  im  Beginn  d^^  Sommersemesters  1687.  immatriculierL 
Da  er  nicht  erst  deponiert  zo  werden  braocbte,  so  war  er  bereits 
anderweit  deponiert,  also  schon  auf  einer  andern  Universität  gewesen, 
vielleicht  in  Greifswald,  vielleicht  auch  in  Frankfurt  a.  d.  Oder.  Mit 
den  Studien  wird  auch  er  es  nicht  eben  genau  genommen  haben, 
denn  im  Jahre  1700  unterzeichnet  er  sich  noch  als  Studiosus.  Da 
er  nur  für  ^inen  akademischen  Aufnahmeact  Gebühren  zu  entrichten 
hatte,  so  ward  ihm  Nichts  erlassen:  er  zahlte  einen  vollen  Thaler. 
Mit  diesem  hat  Reuter,  wenigstens  eine  Zeit  lang,  zusammengewohnt; 
die  Welt  sah  beide  als  Complicen  an  und  pflegte  sie  gemeinsam 
für  ihre  vermeintlichen  Schandthaten  verantwortlich  zu  machen. 
Ausserdem  stand  zu  ihm  in  näherem  Verkehr,  der  auch  noch  im 
Jahre  1700  fortdauerte,  ein  Leipziger,  Samuel  Rudolph  Behr  oder 
Biihr;  er  ward  im  Wintersemester  1690  auf  91  zugleich  deponiert 
und  immatriculiert.  Es  scheint  ein  armer  Geselle  gewesen  zu  sein, 
denn  er  zahlte  nur  8  Groschen.  Er  wohnte  bei  dem  Advocaten 
Mor.  Volkmar  Götze.  Für  die  Bühne,  besonders  fUr  die  damals  sehr 
beliebten  Ballette,  muss  er  sehr  beanlagt  gewesen  sein;  wenigstens 
wird  er  mit  Beziehung  darauf  im  Jahre  1700  »der  Täntzer«  ge- 
nannt. Ob  er  etwa  mit  dem  Concertmeister  Johann  Bahr  in  Weissen- 
fels  zusammenhing,  der  1 697  so  lebhaft  und  so  sarkastisch  für  Theater 
und  Musik  gegen  den  Gothaischen  Gymnasialdirector  Yockerodt  auf- 
trat^, vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Zu  Reuter's  näheren  Bekannten 
gehörte  spS&ter  auch  ein  weit  jüngerer  Studierender,  Christian  Sieg- 
mund W ticke  aus  der  Gegend  von  Delitzsch  (deponiert  im  Sommer 
1692,  immatriculiert  erst  im  Sommer  1695),  und  Phil.  Dan.  Hugwarl 
aus  Sirassburg  (ohne  Deposition  immatriculiert  im  Wintersemester 
1695/96).    Ob  auch  der  fromme  Benjamin  Schmolcke  (Schmolcky), 


^j  Sein  richtiger  Name  ergiebt  sich  aus  der  eigenhändigen  Unterschrift  unter 
den^  Schreiben  an  die  Universität  im  J.   1700. 

^)  In  drei  » Pasquinaden « :  Ursus  murmurat;  Ursus  saltat;  Ursus  triumphat, 
die  mittels  Colportage  vertrieben  wurden.  Vgl.  Opel,  Kampf  d.  Univ.  Halle  gegen 
das  Theater,  in  Blätter  f.  Handel,  Gewerbe  etc.  (Beiblatt  zur  Magdeb.  Zeitung  t88t) 
Nr.  20.  Der  Angegrilfene  nannte  seinen,  allerdings  derb  humoristischen  Gegner 
droistwcg  einen  Pasquillanten. 


J 


13]  Christian  Reuter.  467 

der  seil  dem  Winterseraester  1694  (nicht,  wie  gewöhnlich  angegeben 
wird,  1693)  hier  studierte,  zu  seinen  Freunden  gehörte,  lässt  sich 
nicht  entscheiden:  aber  die  Wahrscheinlichkeit  spricht  eher  für  das 
Gegentheil,  denn  Schmolcky  erscheint  mehr  wie  ein  Angebeir  als  wie 
ein  Freund.  Mit  dem  Dr.  Weidling,  der  damals  in  Leipzig  eine 
grosse  Figur  machte,  war  er  ebenfalls  bekannt.  Zu  diesem  älteren 
Kreise  seiner  Freunde  sehen  wir  in  späteren  Jahren  einen  neuen 
Kreis  hinzutreten,  in  welchem  ausser  einigen  jüngeren  Leuten  der 
Dr.  von  Ryssel  und  der  damalige  Inhaber  von  Aeckerleins  Keller, 
David  Fleischmann,  nebst  dessen  lebenslustiger  Ehefrau  eine  Haupt- 
rolle spielen^). 

Von  dem  Leben  Reuter's  und  seiner  Genossen  wollte  man  nicht 
viel  Gutes  sagen;  ihre  Hauptforce  bestehe  im  Trinken  und  Spielen; 
es  seien  wilde  verwegene  Gesellen,  vor  denen  Niemand  sicher  sei. 
Gehen  auch  diese  Urtheile  meist  von  erbitterten  Gegnern  aus,  so 
werden  wir  uns  angesichts  der  Acten  doch  wohl  selber  zu  der  Ansicht 
gedrängt  sehen,  dass  die  Freunde  offenbar  keine  akademischen  Muster- 
jünglinge waren,  und  dass  ihr  Auftreten  nicht  frei  gewesen  sein 
wird  von  jenen  herausfordernden  und  übermüthigen  Formen,  in 
denen   sich   damals   noch   die  Studentenschaft  zu  gefallen  pflegte^). 


^)  Ob  Reuter  in  diesen  Jahren  einmal  in  Hamburg  gewesen  ist»  wo  damals 
das  Theater  so  sehr  in  Flor  war?  Die  genauere  Localkenntniss  von  Hamburg  und 
Altona,  und  von  den  dortigen  theatralischen  Aufführungen,  die  Schelmuffsky's  Reise- 
beschreibung verräth,  möchte  dahin  weisen ;  von  seiner  Oper  behauptet  der  Titel, 
sie  sei  in  Hamburg  aufgeführt  worden,  was  auf  dortige  Verbindungen  hinzu- 
weisen scheint.  Freilich  genügt  zur  Erklärung  beider  Umstände  eine  Bekannt- 
schaft mit  den  reisenden  Schauspieler iruppen.  Auch  Veitheim  hatte  ja  in  Ham- 
burg gespielt   [4  687/88  und   169S). 

*^)  Aus  diesem  Kreise  dürfte  jener  Miscellancodex  der  Wiener  Bibliothek 
Nr.  13S87  herstammen,  der  ausser  vielen  und  meist  anzüglichen  deutschen  Liebes- 
liedem>  einigen  lockeren  lateinischen  Vagantenliedem ,  einer  obscönen  Erzählung 
U.  ä.  allerlei  Satirisches  und  Dramatisches  enthält,  darunter  Reuter's  Hochzeit- 
Schmauss  und  Kindbetterio-Schmauss ,  ferner:  CantUena  inscripta  »Schelm  Mufsky 
Ehren-Gedichte  Auff  des  Herrn  Bruder  Graffens  Hochzeit«;  Cantilena,  qua  Studio- 
sus valedicit  vii^inibus  et  Marti  se  dedicat.  Speciell  nach  Leipzig  weist  Cantilena 
inscripta  »Abend-Music  .  .  .  Stephan  Packbuschen  ...  am  Tage  seines  Magisterii 
.  .  29.  Januarii  1694  .  .  gebracht«.  Auch  dies  Lied  muss  satirisch  sein;  allerdings 
fand  die  Magistercreation  1694  am  89.  Januar  statt,  aber  unter  den  Creierten  be- 
findet  sich    nicht  Steph.  Packbusch;    war   der   Angesungene   etwa   durchgefallen? 


468  Friedrich  Zarngkb,  [U 

Aber  allzuviel  dürfen  wir  auf  absprechende  ürtheile  über  Studenten, 
selbst  im  Munde  officieller  Behörden,  nicht  geben:  vergessen  wir 
nicht,  dass  auch  Theodor  Körner  von  unserer  Universität  relegiert 
worden  ist  und  dass  das  Relegationspatent  auch  ihn  als  einen  Aus- 
wurf der  Studentenschaft  behandelt. 

Also  deutsche  Comödie  und  deutsches  Singspiel  war  es,  was 
um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  in  Leipzig  das  Interesse  der  auf- 
geweckteren Geister  beschäftigte. 

Für  die  erstere  boten  sich  zwei  Muster,  Christian  Weise  und 
Mohäre,  beide  in  ganz  verschiedener  Weise. 

Christian  Weise's  Stärke  liegt  nicht  in  seiner  Composition.  Dazu 
war  er  als  Schuldirector  zu  sehr  gebunden  durch  allerlei  Rücksicht- 
nahmen, dazu  rausste  er  auch  zu  schnell  schreiben.  Ja,  wer  freie 
Hand  hätte,  der  könnte  schon  etwas  Gutes  machen,  meint  er.  Aber 
sein  Hauptaugenmerk  musste  sein,  dass  jeder  seiner  Schüler  eine  Rolle 
bekam,  und  zwar  eine  seinem  Naturell  anstehende,  dass  dann  nicht 
etwa  der  Vornehmere,  wenn  er  auch  weniger  beanlagt  war,  kürzer 
abgefertigt  werde  als  ein  Geringerer  aber  Talentvollerer.  Dann  durfte 
auch  der  gelehrte  Schulmeister  keineswegs  allzuviel  Gewicht  zu  legen 
scheinen  auf  so  populäre  und  ungelehrte  Dinge,  wofUr  deutsche 
Dramen  doch  noch  immer  gehalten  wurden.  Weise  ergreift  jede 
Gelegenheit,  uns  zu  erklären,  wie  wenig  Zeit  er  sich  durch  diese 
Spiele  rauben  lasse,  wie  schnell  und  hastig  er  sie  hinschreibe.  Und 
er  hatte  doch  viel  fertigzustellen:  in  jedem  Jahre  vier  Spiele,  ein 
Stück  aus  dem  alten  Testamente,  eins  aus  der  Profangeschichte,  eine 


er  promovierte  erst  am  34.  Januar  1695,  und  kam  am  8.  April  4701  bei  der 
Bereitung  von  Weingeist  um.  Auch  andere  Gedichte  weisen  in  die  Umgegend 
Leipzigs  und  wenigstens  nach  Sachsen.  So  Nr.  4  4  auf  den  Junker  Adrian  Steger 
von  und  zu  Plaussig  (Ort  bei  Leipzig) ;  gemeint  ist  wohl  der  Sohn  des  damaligen 
Bürgermeisters,  der  wie  der  Vater  Adrian  hiess;  freilich  war  Plaussig  nicht  im 
Besitze  der  Steger,  sondern  der  Sieber:  vielleicht  also  ein  Scherz?;  Nr.  4  7, 
Cantilena  satyrica  inscripta  »Als  die  Gräfin  von  Rochlitz  (Maitresse  Job.  Georgs  IV, 
f  4  694)  mit  einer  jungen  Tochter  darniederkam a ;  Nr.  4  8,  Drama  satyricum  ver- 
sibus  expressum  et  inscriptum  »Auff  die  Generalin  Neutzschin  (die  Mutter  der 
Gräfin  von  Rochlitz),  noch  bey  ihrem  Leben  verfertiget«;  Nr.  49,  Cantilena 
satyrica  in  Polonos,  praecipue  nobiles  eorumque  feminas.  —  Ob  von  diesen  Ge- 
dichten das  eine  oder  andere  für  Chr.  Reuter  in  Anspruch  genommen  werden 
dürfe,  könnte  nur  das  Resultat  einer  eingehenden  Untersuchung  sein. 


^^]  Christian  Rectbr.  469 

freie  Erfindung  und  dazu  noch  ein  lustiges  Nachspiel  oder  ein 
Zwischenspiel;  die  Spiele  fanden  an  3  Tagen  statt,  waren  an  jedem 
Tage  auf  5  bis  8  Stunden  berechnet;  im  Druck  pflegt  jedes  der- 
selben über  200  bis  über  300  Seiten  einzunehmen.  Dass  da  das  un- 
leugbare Talent,  das  Weise  auch  für  die  Composition  und  Charakteristik 
besass,  nur  sehr  wenig  herausgebildet  werden  konnte,  begreift  sich. 
Sein  Hauptverdienst  liegt  in  der  Sprache.  Hier  steigt  er  ganz  vom 
Kothurn  herab,  nur  die  Fürsten  und  grossen  Herren  sollen  rein  hoch- 
deutsch reden,  für  alle  Uebrigen  schreibt  er  ausdrücklich  dialektische 
Aussprache  vor,  die  seine  hochdeutsche  Niederschrift  temperieren 
müsse.  Daher  beobachtete  er  die  Rede  des  gewöhnlichen  Lebens, 
schrieb  Gespräche  und  Scheltscenen  nach,  die  er  anzuhören  Gelegen- 
heit  hatte,  und  verwandte  das  Beobachtete  in  seinen  Dramen,  zumal 
natürlich  in  den  Lustspielen  und  in  den  humoristischen  Scenen,  durch 
die  auch  seine  ernsten  Dramen  Abwechslung  zu  gewähren  suchen. 
So  ist  seine  Sprache  einfach  und  deutlich,  absolut  ohne  gemachten 
Schwulst,  und  voll  von  volksthümlichen  Wendungen,  wie  sie  dem 
Verkehr  der  unteren  Stände  abgelauscht  waren;  diese  sind  es  was 
Reuter  Proverbia  oder  Sprichwörter  nennt.  In  dieser  Beziehung  ist 
er  Weise  nachgegangen,  und  nicht  bloss  dessen  Dramen,  sondern  auch 
seinen  Prosaschriften,  hat  ihn  benutzt,  mehr  aber  noch  von  ihm  ge- 
lernt und  es  ihm  nachgemacht:  seine  Beobachtung  der  Rede  des 
täglichen  Lebens  ist  noch  frischer  als  bei  Weise,  noch  weit  charak- 
teristischer für  die  einzelnen  Personen  nach  ihrem  Stande  und  ihrer 
Stellung  und  nach  der  augenblicklichen  Stimmung.  Die  Kunst  der 
Composition  dagegen,  die  tiefere  Begründung,  die  Zusammenfassung 
eines  Dramas  unter  einem  bestimmten  ethischen  Grundgedanken, 
das  Herauswachsen  jenes  aus  diesem,  diese  letzten  Ziele  der  Kunst 
fühlte  Reuter  mit  richtigem  Tacte  aus  Meliere  heraus  und  ist  in- 
stinctiv  bemüht  gewesen,  sie  sich  von  ihm  anzueignen,  sie  ihm  nach- 
zumachen. Christian  Weise's  Dramen  bleiben,  trotz  des  Talentes  ihres 
Verfassers  und  trotz  ihrer  Veröffentlichung  durch  den  Druck,  doch 
immer,  was  sie  waren,  Schuldramen  und  gehören  zunächst  in  die 
Geschichte  dieser.  Reuter  hat  alle  schulmässige  Tradition  abgestreift, 
seine  Dramen  gehören  ganz  der  öffentlichen  Bühne  an. 

Von  Weise  lagen  ums  Jahr  1695  bereits  mehr  als  20  Dramen 
gedruckt  vor,  manche  bereits  seit  dem  Ende  der  sechziger  Jahre, 


470  Fbiedbich  Zarncke,  [^^ 

auch  Moli^re  fing  damals  an  auf  dem  Repertoire  der  deutschen  Büh- 
nen mehr  und  mehr  beachtet  zu  werden.  Im  Januar  und  Februar 
1690  wurden  von  den  Dresdner  Schauspielern  in  Torgau  nicht  we- 
niger als  neun  verschiedene  Stücke  von  ihm  aufgeführt^).  Auch  im 
Druck  ward  er  früh  verbreitet.  Schon  1 670  war  eine  Anzahl  seiner 
Comödien   in   Frankfurt  am  Main   in   Uebersetzung  herausgegeben^). 


^)  Mascarillas  (L'etourdi),  Die  Verdriesslichen  (Le  Misanthrope) ,  Die  Bläanei^ 
schule  (L'öcole  des  maris),  Der  bürgerliche  Edelmann  (Le  genlilhomme  bourgeois). 
Glückliche  Eifersucht  (Le  cocu  imaginaire) ,  Don  Juan  (Le  festin  de  Pierre] ,  Die 
gezwungene  Heirath  (Le  mariage  force),  Der  gezwungene  Arzt  (Le  m^decin  malgre 
lui),  Der  betrogene  Sicüianer  (Le  Sicilien) .  Und  unmöglich  ist  es  nicht,  dass  un- 
ter den  übrigen  Titeln  (bei  Fürstenau  S.  307  fg.)  noch  ein  oder  das  andere 
Moli^re^sche  Stück  verborgen  ist. 

2j  In  der  »  Schaubühne  Englischer  und  Französischer  Comoedianten  «,  die  4  670 
in  Frankfurt  a/M.  bei  Schiele  in  3  Bänden  erschien.  Von  diesen  beginnt  gleich 
der  erste  mit  dem  erst  4  665  aufgeführten  L'amour  medöcin  (Amor  der  Artztj ;  er 
enthält  dann  noch  Les  prccieuses  ridicules  (Die  köstliche  Lächerlichkeit]  und  Le 
cocu  imaginaire  (Der  Hanrey  in  der  Einbildung ;  in  Prosa  übertragen) ;  der  zweite 
enthält  Nichts  von  Moli^re,  dagegen  der  dritte  nach  Gottsched*s  Angabe  im  Nöth. 
Vorr.  I,  827  (ich  habe  nur  Bd.  4  und  i  in  Händen  gehabt,  in  dem  Exemplare 
der  Weimarer  Bibliothek]  den  Geitzigen  und  den  George  Dandin,  die  erst  4  668 
aufgeführt  worden  waren.  Man  sieht,  wie  bald  man  in  Deutschland  das  Genie 
Moli^re's  zu  beachten  anfing.  Die  Uebersetzung  ist  recht  frisch,  man  erkennt 
die  Bestimmung  für  die  Bühne,  während  die  spätere  Uebersetzung  von  4  691  (die 
freilich  bestimmt  war,  an  ihr  das  Französische  zu  lernen,  und  die  sich  daher 
weit  mehr  an  den  Wortlaut  des  Originals  anschliessen  musste)  viel  steifleinener 
ausgefallen  ist,  und  auch  die  Correctur  von  4  695  meines  Erachtens  die  Ueber- 
setzung von  4  670  nicht  erreicht.  Ich  will  eine  Stelle  aus  dem  ersten  Stück  als 
Probe  geben;  in  der  Uebersetzung  von  4  694  habe  ich  die  irgend  wesentlichen 
Correcturen  der  Ausgabe  von  4  695  in  Klammer  beigefügt: 

4670.  4694/95. 

Sganarelle :   Das  seynd  fürwahr  lauter  Sg. :  Das  sind  fürwar  lauter  verwunderliche 

gute  Rathschltf ge ,  aber  ich  halte  sie  vor  (sicherlich  lauter  vortreffliche)  Rathschläge,  al*- 

ein  wenig  partheyisch,  und  finde,  daß  ihr  lein  ich  halte  sie  vor  ein  wenig  eigennützig,  und 

mir  sehr  wohl  für  euch  rathet.    Ihr  seyd  finde,  daß  ihr  mir  sehr  wohl  zu  euren  Nutzen 

ein  Goldschmied ,   Herr  Josse ,  und  euer  rathet.    Ihr  seyd  ein  Goldschmid,  Herr  Joseph 

Rath  riechet  nach  einem,  der  gern  seiner  (Jost),  und  euer  Rath  riechet  nach  einem  der 

Waaren  loß  wttre.    Ihr  aber,  Herr  Guil-  gerne  seine  Waar  loß  were.     Ihr  verkauiTet 

leaume,   verkauffet  Tapetzerey»   und   es  Tapezereyen,  Herr  Willhelm,  und  es  scheint, 

scheinet,  als  habt  ihr  einige,  die  ihr  mir  als  habt  (hättet)  ihr  einige  Reyhen,   die  euch 

gern  anhencken  woltet.     Derjenige,    den  überl&stig   sind.     Derjenige,    den   ihr   liebet, 

ihr  Hebt,  Jungfer  Nachbarin,   trägt,  wie  meine  [Frau]  Nachbarin,  hat,  wie  man  sagt, 

man    sagt,    eine    Inclination    zu    meiner  [etwan]  eine  Liebes -Neigung  (Inclination)   za 

Tochter,  deßwegen  möchtet  ihr  gern  se-  meiner  Tochter,  und  ihr  möchtet  gerne  sehen, 

hen,   daß  sie  eines  andern  Frau  würde.  daß  sie   eines  andern  Frau  würde,    und  was 


47]  Christian  Reuter.  471 

im  J.  1694  erschien  in  Nürnberg  eine  neue  Uebersetzung  des  grössten 
Theiles  der  prosaischen  Stücke  von  J.  E.  P.  in  3  Bänden.  In  der 
Zueignungsschrifl  sagt  der  Verleger  (Joh.  Dan.  Tauber],  dass  diese 
Coinödien  »mit  einstimmiger  Hochachtung  durch  gantz  Teutschland 
wären  aufgenommen  worden«,  und  dass  sie  »die  meisten  Hauptstätte 
des  Rom.  Reiches  in  eine  liebliche  Verwunderung  gesetzt  hätten«. 
Aber  die,  allerdings  überaus  steife  Uebersetzung  muss  sofort  hart  ge- 
tadelt sein,  denn  es  erschien  bereits  im  folgenden  Jahre  bei  demselben 
Verleger  eine  verbesserte,  deren  Verfasser  seinen  Namen,  obwohl 
diesmal  die  Vorrede  von  ihm  selbst  geschrieben  ward,  weder  genannt 
noch  angedeutet  hat.  Seit  Löwen's  Geschichte  des  deutschen  Thea- 
ters (1766,  S.  15)  ist  eine  Vermuthung  Eckhof 's  als  Thatsache  in 
unsere  Litteraturgeschichten  aufgenommen,  Joh.  Veiten  sei  der  üeber- 
setzer  einer  dieser  beiden.  Das  ist  unmöglich,  denn  seiner  Autor- 
schaft stehen  bei  der  ersten  Ausgabe  die  Chifiern  des  Namens  ent* 
gegen  und  die  zweite  kann  nicht  von  ihm  sein,  da  er  1693  bereits 
todt  war^)  und  diese  verbesserte  Uebersetzung  doch  erst  nach  Aus- 
gabe der  ersten  entstehen  konnte.     Später  ist  dann  auch  noch  ein 


Und  was  euch  belangt,  mein  liebes  Bttß-  euch  anlangt,  meine  liebe  [Frau]  Baase,  so  bin 

gen ,   so  weiß  man  wol ,  daß   ich  nicht  ich  nicht  willens,  wie  man  weiß,  meine  Toch- 

gesinnt  bin,   meine  Tochter  zu  verheu-  ter  zu  verheyrathen,  es  sey  mit  wem  es  wolle, 

rathen ,   es  sey  mit  wem  es  wolle ,  und  und  ich  habe  deßwegen  meine  Ursachen.  Aber 

ich  habe  meine  Ursachen  deßwegen.  Aber  der  Rath,  den  ihr  mir  gebt,  daß  ich  sie  soll 

der  Rath,  den  ihr  mir  gebt,  daß  ich  sie  eine  Nonne  lassen  werden,  kommt  von  einer 

soU  ins  Closter  thun ,  kompt  von  einer  Frauen  her,  die  wohl  hertzlich  (aus  christlicher 

solchen  her,   diö  wol  wünschen  möchte,  Liebe)  wünschen  mögle,   meine  Haupt  Erbin 

meine   Universal -Erbin   zu  seyn.     Also  zu  werden.    Also,  meine  Herren  und  Frauen, 

ihr  lieben  Freunde,   ob  schon  euer  Rath  obschon  alle  eure  RKthe  die  besten  von  der 

gar  gut  ist,   werdet  ihr  mir  doch  nicht  Welt  wären,  so  werdet  ihr  gut  heissen,  wanns 

vor  übel   auffnehmen,    daß   ich   keinem  euch  gefällt,  daß  ich  keinen  folge.     Die  sind 

folge.    Das  seynd  nur  (mir?)  Alaroodische  von  meinen  Alamodischen  Ratbgebem  (so  wer- 

Rathgeber.  det  ihr  mich  nicht  verdencken,  wann  ich  mit 

eurer  Erlaubnuß  keinem  folge.   Sehet  mir  doch 
diese  meine  Alamodische  Rathgebere  an). 

Auch  geht  meines  Erachtens  aus  der  Vergleichung  schon  dieser  Stelle  hervor, 
dass  die  Uebersetzung  von  1694  die  von  1670  gekannt  hat.  Wenn  sie  dennoch 
Manches  steifer  wiedergab  als  diese,  so  ist  schon  erwähnt,  dass  jene  besonders 
in  Ab.sicht  hatte,  dass  man  an  ihr  das  Französische  verstehen  lerne.  Also  eine 
ganz  freie  Wiedergabe  war  für  ihren  Zweck  gar  nicht  gestattet. 

^]  Starb  er  1692  in  Hamburg?  Vgl.  die  Anekdote  bei  Löwen  a.  a.  0.  Der 
Name  der  Truppe  scheint  sich ,  wohl  unter  seiner  Wittwe ,  noch  länger  erhalten 
zu  haben. 

Abliandl.  d.  K.  S.  Oesellrich.  d.  WittseoBch.  XXI.  3) 


472  Friedrich  Zarncke,  [^^ 

vierter  Theil  herausgegeben;  auch  er  in  Prosa  ^).     Der  Verfasser  der 
verbesserten  Uebersetzung  weist,  wie  Gottsched  sagt,  auf  einen  guten 


^)  Da  auch  W.  Greizenach  noch  in  seiner  d  Entstehungsgeschichte  des  neueren 
deutschen  Lustspieles«  (4  879,  Leipziger  Habilitationsschrift]  über  diese  Ausgabe 
nicht  genau  orientiert  ist,  so  mögen  einige  Notizen  über  sie  am  Platze  sein.  Die 
erste  Uebersetzung  erschien  1694  unter  dem  Titel:  Derer  Gomödien  des  Herrn 
von  Moliere,  Königlichen  FrantzÖsiscben  Gomödiantens,  ohne  Hoffnung  seines  glei- 
chen, Erster  (Zweyter,  Dritter]  TheU  u.  s.  w.  Vgl.  den  ausführlichen  Titel  in 
Baudissin's  Uebersetzung  (Leipzig  4  865],  S.  VHI,  in  dem  nur  die  Zeilenabtheilung 
nicht  übereinstimmt  mit  dem  mir  bekannten  Exemplare  der  Dresdner  Bibliothek. 
Diese  Uebersetzung  war  verbunden  mit  einer  Ausgabe  des  Originals,  und  es  war 
so  eingerichtet,  dass  die  Seiten  des  französischen  Textes  und  der  Uebersetzung  sich 
genau  entsprachen,  so  dass  man,  wenn  man  wollte,  beide  durch  einander  binden 
lassen  und  so  Seite  für  Seite  das  Französische  und  Deutsche  neben  einander  haben 
konnte.  Ein  wirklich  so  combiniert  gebundenes  Exemplar  habe  ich  aber  nicht 
zu  sehen  bekommen.  Auch  ist  mir  ein  Gesammttitel,  der  doch  vorhanden  ge- 
wesen sein  muss,  nicht  vorgekommen.  Die  Uebersetzung  muss  nun  sogleich  har- 
tem Tadel  unterlegen  sein,  denn  der  Verleger  entschloss  sich  sofort  zu  einem  Neu- 
druck derselben.  Das  geschah  4  695  (die  Jahreszahl  4  694  bei  Gottsched  I,  257 
ist  ein  Flüchtigkeitsfehler]  unter  dem  Titel:  Histrio  Galliens  Gomico  Satyricus  sine 
exemplo  u.  s.  w.  auch  in  3  Theilen.  Vgl.  den  vollen  Titel  bei  Baudissin  S.  YHI^ 
doch  stimmt  auch  hier  die  Zeilenabtheilung  nicht  mit  dem  von  mir  benutzten 
Exemplar  der  Berliner  Bibliothek.  Dieser  Titel  ist  in  4®,  war  also,  was  auch 
sein  Wortlaut  wahrscheinlich  macht,  der  Gesammttitel.  Diese  neue  Ausgabe  der 
Uebersetzung  ist  nun  keineswegs  eine  ganz  neue  Arbeit,  sie  entspricht,  wozu  sie 
schon  das  Verh'ältniss  zu  den  Seiten  des  Originals  zwang,  Seite  für  Seite  der  alten 
und  hat  nur  Gorrecturen  vorgenommen.  Eine  Vergleichung  des  Anfangs  mag  das 
Verh'ältniss  deutlich  machen: 

4694.  4695. 

Es   mag   der   Aristoteles   und   alle   Welt-  Aristoteles   und    alle   Weltweise    mögen 

Weisen  sagen  was  sie  mögen,  so  ist  doch  sagen  was  sie  wollen,  so  ist  doch  nichts 
nichts  dem  Taback  gleich,  alle  ehrbare  Leute  dem  Toback  gleich,  alle  reputierliche  Leute 
sehnen  sich  darnach,  und  wer  ohne  Taback  sehnen  sich  darnach,  und  wer  ohne  To- 
lebet,  ist  nicht  werth,  daß  er  lebe:  Er  er-  back  lebt,  ist  nicht  werth,  daß  er  lebe: 
freuet  nicht  nur  und  reiniget  das  menschliche  Er  erfreuet  und  reiniget  nicht  nur  das 
Gehirne ,  sondern  er  unterweiset  auch  die  menschliche  Gehirn ,  sondern  weiset  noch 
Seelen  in  der  Tugend,  und  lernet  ihnen,  wie  darzu  die  Seelen  zur  Tugend  an,  und  leh- 
sie  mit  ihm  ehrliche  Leute  bleiben  können.  ret  sie,  mit  ihme  rechtschaffne  Leute  blei> 
Sehet  ihrs  nicht,  sobald  man  ihn  ergreiffet,  ben.  Sehet  ihr  dann  nicht,  sobald  man  da- 
mit was  verbindlicher  Weise  man  selbigen  von  nimmt,  mit  was  verbindlicher  Weise 
mit  jederman  gemein  habe,  und  wie  erfreuet  man  sich  damit  bei  Jederman  aufführe, 
man  ist,  denselben  zur  Rechten  und  Lincken,  und  wie  sehr  man  erfreuet  ist ,  denselben 
überall  wo  man  sich  beflndet,  mitzutheilen ?      zur  rechten  und  lincken,  überall,  wo  man 

sich  befindet,  mitzutheilen? 
Es  kommen  viele  Seiten  vor,  namentlich  später,  auf  denen  die  vorgenommenen  Ver- 
änderungen  noch  weit  geringfügiger  sind,  und  die  eingeschobenen  Gedichte  schei* 
neu  ganz  unverändert  geblieben  zu  sein;  so  z.  B.  das  in  Lotheisen's  Moli^re  S.  389 


^9]  Ghristun  Reuter.  473 

Freund  hin,  der  die  Dichtkunst  besser  in  seiner  Gewalt  habe,  und 
von  dem  dann  auch  die  versificierten  Stücke  übersetzt  erscheinen 
sollten.  Ich  gestehe,  dass  ich  mich  mit  dem  Gedanken  beschäftigt 
habe,  ob  nicht  etwa  diese  beiden  üebersetzer  in  unserm  Leipziger 
Freundespaar,  Grel  und  Reuter,  zu  suchen  seien;  Verbindungen  mit 
Nürnberg  lagen  nicht  so  ferne,  wanderten  doch  die  Schauspieler- 
gesellschaften besonders  gerne  zwischen  Frankfurt,  Nürnberg  und 
Leipzig;  auch  zeigen  uns  die  Acten,  dass  Reuter  und  sein  Verleger 
Bekanntschaft  mit  dem  Nürnberger  Theater  wenigstens  vorgaben. 
Aber  andererseits  bleibt  jene  Vermuthung  doch  eine  ganz  vage,  und 
ganz  besonders  spricht  gegen  sie  auch  der  Umstand,  dass  die  Nürn- 
berger Uebersetzung,  auch  die  von  1695,  zum  Französischlernen, 
und  nicht  für  die  Aufführung  bestimmt  war.  Viel  schriftstellerische 
Ehre  ist  ja  auch  durch  sie  für  unsere  Leipziger  nicht  zu  erlangen. 

Genug,   von  »Meliere   und  Christian  Weise   ward   unser  Reuter 
ganz  eingenommen,  als  er,  dem  in  Leipzig  erregten  Interesse  folgend, 


als  abschreckendes  Beispiel  aus  der  älteren  Uebersetzung  aufgeführte,  u.  a.  Den- 
noch hat  diese  Gorrectur  den  Text  oft  wesentlich  verbessert.  Baudissin  hat  dies 
Verhältniss  offenbar  übersehen,  wenn  er,  ohne  Kenntniss  der  älteren  Sprache, 
über  beide  gleichmässig  abfällig  urtheilt.  —  Die  Kupfer  sind  in  beiden  Ausgaben 
dieselben,  und  zwar  Nachstiche  der  französischen.  Von  den  prosaischen  Stücken 
fehlten  noch  »Les  amans  magnifiques«,  und  von  den  ganz  oder  theilweise  versiß- 
eierten  war  noch  kein  einziges  übersetzt.  Die  Ausgabe  sollte  also  fortgesetzt  wer- 
den. Nach  dem  Messkataloge  wäre  bereits  4  696  ein  vierter  Theil  erschienen, 
mir  ist  nur  ein  Exemplar  desselben  vom  Jahre  M\0  auf  der  Weimarer  Bibliothek 
bekannt  geworden :  » Vierdter  Theil  der  Weltberühmten  Lust-Gomödien  des  unver- 
gleichlichen Königlich-Frantzösischen  Gomödiantens,  Herrn  von  Moli^re«.  Er  ent- 
hält 3  Stücke:  »Die  durchleuchtigen  Verliebten«,  »Die  bezauberte  Insel«  und  »Der 
scheinheilige  Betrieger«,  an  die  sich  noch  ein  Bruchstück  der  von  Gherardi  heraus- 
gegebenen Harlekinade  »Der  Kayser  in  dem  Monde«  (Arlequin  empereur]  anschliesst. 
Die  Uebersetzung  dieser  Stücke,  obwohl  der  Tartuffe  ganz,  und  L'isle  enchantce 
zur  Hälfte  in  Versen  ist,  ist  doch  durchweg  prosaisch,  was  die  Vorrede  zu  mo- 
tivieren versucht.  Von  einer.  Seite  für  Seite  entsprechenden  Ausgabe  des  Originals 
ist  nicht  die  Rede,  doch  scheint  es  auch  eine  solche  gegeben  zu  haben,  wenig- 
stens enthält  die  Nürnberger  französische  Ausgabe  auch  die  hier  in  den  vierten 
TheU  aufgenommenen  Stücke. 

Damit  aber  war  des  Verlegers  Lust  und  Muth  zu  Moli^re- Ausgaben  und 
Uebersetzungen  erschöpft.  Sein  Unternehmen  hat  keinen  Fortgang  gehabt.  Nur 
das  bereits  Gedruckte  hat  er  noch  wiederholt  herausgegeben ;  ich  vermuthe ,  es 
werden  alles  nur  Titelauflagen  sein. 

32* 


474  .    Friedrich  Zarncke,  [80 

sich  der  Comödie  und  dem  Singspiel  zuwandte ,  und  in  der  An- 
schauung von  dem  Wesen  der  Comödie  war  es  in  erster  Linie,  wie 
schon  angedeutet,  Moliöre,  an  den  er  sich  anschloss.  Wie  ganz  er 
in  seine  Fussstapfen  trat,  werden  wir  sehen.  Auch  darin,  dass  er 
wirklich  beobachtete  Schaden  der  menschlichen  Gesellschaft  zum 
Gegenstande  wählte.  Damit  war  nun  freilich  auch  bei  ihm  die  Ge- 
fahr gegeben,  persönUch  zu  werden,  wenigstens  so  zu  erscheinen. 
An  dieser  bedenklichen  Klippe  ist  vielleicht  sein  reiches  Talent  ge- 
scheitert. 


n.  Christian  Benter  nnd  die  MtQlerischen  Erben. 

1.  Die  FamlUe  MflUeri). 

Der  Hallischen  Strasse  gegenüber  an  der  Ecke  des  Brühls  und 
der  Reichsstrasse  befindet  sich  ein  stattliches  Gebäude,  bereits  1542 
und  noch  heute  »zum  rothen  Löwen o  benannt.  Dies  Haus  ging 
1 572  in  den  Besitz  des  Schwarzfärbers  Eustachius,  alias  Stax,  Müller 
über  und  ist  von  da  an  140  Jahre  in  dieser  Familie  geblieben.  Es 
war  ein  erwerbstüchtiges  Geschlecht,  zwar  den  Patricierfamilien  nicht 
angehörig,  aber  doch  ofienbar  nicht  ohne  Familienstolz.  Durch  eine 
Reihe  von  Generationen  führen  alle  Besitzer  den  Namen  Eustachius. 
Gegen  die  Mitte  des  17.  Jahrh.  scheinen  militärische  Neigungen  auf- 
zutauchen, etwas  BedenkUches  in  einer  bürgerlichen  Familie:  der 
1663  gestorbene  Eustachius  war  »Defensions-Fendrich«  oder,  wie  es 
beim  Tode  seiner  Wittwe  1672  heisst,  »Churfürstl.  Sachs.  Defensions- 
Lieutenant«,  eine  damals  nicht  unbedeutende  militärische  Charge. 
Den  dann  folgenden  Eustachius  finden  wir  zwar  wieder  in  bürger- 
lichem Gewerbe,  es  mag  aber  trotzdem  in  der  Familie  etwas  von 
Hochstreberthum  zurückgeblieben  sein.  Dieser  Eustachius  wird  Bür- 
ger und  Gewürzkrämer   genannt^),    daneben    betrieb    er   auch    die 


^)  Ausser  den  officiellen  Quellen  (den  Rathsbüchern^  den  Personallisten  etc.) 
und   den  Acten  (s.  Anhang  II)    durften   hier   auch   unverdächtige  Andeutungen  in 
I  Reuter's  Comödien  und  im  zweiten  Theile  des  Schelmuffsky,  wenn  auch  mit  Vor- 

I  sieht  und  einiger  Reserve,  herangezogen  werden,  da  die  controlierbaren  sich  durch- 

weg als  wahr  bestätigten. 

*)  So  im  taufbuche  der  Nicolaikirche. 


21]  Christian  Recter.  475 

Brauerei  <),  und  zwar  besass  das  Haus  die  Braugerechligkeit  für  sechs 
verschiedene  Arten  Bier.  Auch  eine  Gastwirthschafl  wird  wohl  er 
bereits  gehalten  haben;  wenigstens  führte  seine  Wittwe  eine  solche^), 
und  1705  wird  das  Haus,  damals  noch  in  der  Familie,  geradezu 
»der  Gasthof  zum  rothen  Löwen«  genannt.  Er  verheirathete  sich 
1665  mit  der  »Erbaren  und  Tugendsamen  Jungfer  Anna  Rosine,  des 
Ehrenvesten,  Yorachtbaren  und  Wolgelarten  Herrn  Adam  Groschens, 
Hochedel  Dieskauischen  auf  Knauthayn  ....  Wolbestallten  Gerichts- 
verwalters eheleiblichen  Tochter«.  Aus  dieser  Ehe  entsprossten  sieben 
Kinder,  5  Knaben  und  2  Mädchen,  in  den  Jahren  1666  bis  1680^); 
aber  um  die  Mitte  der  neunziger  Jahre  lebten  hiervon  nur  noch  drei 
Knaben  und  die  beiden  Mädchen.  Als  der  Vater  am  6.  März  1685 
begraben  ward,  war  von  diesen  der  älteste  Knabe,  Eustachius, 
17  Jahre  alt,  Christian  Eustachius  etwas  über  10,  von  den  beiden 
Töchtern  die  eine,  Anna  Rosine,  etwas  Über  8,  die  zweite,  Johanna 
Maria,  etwas  über  6,  der  jüngste  Sohn,  Johann  Adam,  etwas  über 
4  Jahre  alt.  Diese  waren  nunmehr  allein  der  mütterlichen  Pflege 
und  Erziehung  überwiesen  und  dieser  mag  es  an  rechter  Energie, 
vielleicht  auch  an  Willen  und  Yerständniss  gefehlt  haben ;  die  Kinder 
waren  der  Mutter  offenbar  über  den  Kopf  gewachsen.  Ein  so  Allen 
geöffnetes  Haus  wie  ein  Gasthof  mit  Brauerei  und  Detail-Laden  war 
wohl  nicht  der  beste  Ort  für  sorgfältige  Erziehung;  manche  Zimmer 
waren  an  Studierende  vermiethet,  was  für  die  heranwachsenden 
jungen  Mädchen  auch  nicht  unbedenklich  sein  mochte,  um  so  mehr 
als  es  der  vom  Lande  hereingekommenen  Mutter  an  Bildung  und 
Feingefühl  offenbar  gefehlt  hat.  Am  besten  gerathen  zu  sein  scheint 
Christian  Eustachius;  er  ging  seinen  eigenen  Weg  und  es  gelang 
ihm,  sich  in  Halle  eine  Existenz  zu  gründen.  Als  »Ehrenvester  und 
Kunsterfahrener  Chirurgus«  verheirathete  er  sich  dort  1698  mit  der 


^)  »Bürger  und  Gramer,  auch  Brauer«  heisst  es  bei  seiner  Beerdigung. 

^)  Im  August  1697  wohnte  der  Zerbster  Hausierer  Joh.  Ganso  mit  seiner  Fa- 
milie »in  Eustachii  Müiler's  Erben  Hause  in  der  Reichsstrasse«,  Archiv  f.  Gesch. 
d.  D.  Buchh.  Vm,   95,  und  Acten  des  Stadt.  Archivs  XLVI,   «58.  Vol.  IL 

3)  Johannes  Adam  (get.  20.  April  1666),  Eustachius  (get.  80.  August  1667}, 
Johannes  Peter  (get.  16.  Mai  1670),  Ghristianus  Eustachius  (get.  86.  Januar  1675), 
Anna  Rosine  (get.  81.  December  1676],  Johanna  Maria  (get.  1.  Januar  1678)  und 
Johann  Adam  (get.  13.  November  1680,  -bei  dessen  Geburt  also  der  erstgeborne 
Joh.  Adam  bereits  gestorben  sein  musste). 


476  Friedrich  Zarncke,  [^2 

»Erbaren,  Viel  Ehr-  und  Tugendsamen  Jungfer  Dorothea,  Herrn 
Zachariae  Kleinhempels ,  Chirurg!  und  Amtsbarbiers  daselbst,  nach- 
gelassenen Tochter«.  Die  Barbierstube  des  seligen  Schwiegervaters 
wird  wohl  sein  Erbtheil  geworden  sein.  Für  die  Vorgänge  in  der 
Leipziger  Familie  kommt  er  nicht  weiter  in  Betracht. 

In  die  übrigen  Geschwister  scheint  der  Hochmuthsteufel  gefahren 
zu  sein,  und  hieran  trug  wohl  nicht  bloss  die  Schwäche,  sondern 
auch  die  eigene  Neigung  der  Mutter  die  Mitschuld.  Ein  später  zu 
erwähnendes  Bild,  in  dem  man  offenbar  Portraitähnlichkeit  erkannte, 
stellt  sie  in  der  Thüre  ihres  Hauses  stehend  dar,  eine  starke,  vier- 
schrötige Person,  frisiert,  decollettiert  und  mit  blossen  Unterarmen, 
eine  goldene  Kette  mit  Medaillon  oder  Kreuz  um  den  Hals,  ein 
kürassartiges  Corset  tragend  und  hinten  einen  tief  hinunterfallenden 
Schoss;  dabei  hat  das  Gesicht  einen  unfeinen,  ja  gemeinen  Aus- 
druck, und  hierzu  stimmt,  wie  aus  den  Acten  feststeht,  dass  es  eine 
gewöhnliche  Betheurung  von  ihr  war;  »So  wahr  ich  eine  ehrliche 
Frau  bina.  Auch  passt  zu  dieser  Erscheinung,  dass  man  ihr  wohl 
vorwarf,  sie  denke  daran,  noch  selber  wieder  zu  heirathen  und 
spreche  am  liebsten  von  Hochzeitmachen.  Der  älteste  Sohn,  Eusta- 
chius,  war  viel  in  der  Fremde,  auch  er  wird  hoch  hinausgewollt 
haben,  scheint,  zurückgekehrt,  »fremde  gethan«  und  wohl  gar  das 
vaterländische  Wesen  missachtet  zu  haben.  Dass  er  hierbei  in  un- 
geschickter Weise  aufgeschnitten  habe,  lässt  sich  wohl  denken:  es 
stimmt  dazu  der  ganze  Habitus  der  Familie,  wie  wir  ihn  uns  skiz- 
zieren können.  Von  den  beiden  Töchtern  wird  angedeutet,  dass  sie 
als  feine  Modedamen  in  kostbaren  Gewändern  gingen,  mit  den  Stu- 
denten auf  sehr  freiem  Fusse  verkehrten  und  gegen  die  Mutter  in 
undankbarer  Weise  ankeiften.  Die  älteste  muss  ein  Verhältniss  mit 
einem  Doctor  der  Medicin  Schönberg  aus  Schlesien  gehabt  haben, 
auf  den  sie  auch  später  noch  gehofft  zu  haben  scheint,  obwohl  die 
Eltern  den  Consens  verweigert  und  ihn  in  die  Heimath  zurückge- 
rufen hatten.  Der  jüngste  Sohn  war  offenbar  das  Nestküchlein.  Man 
darf  es  für  der  Wirklichkeit  entsprechend  halten,  wenn  als  unziem- 
lich erzähll  wird,  dass  die  Mutter  den, Vierzehnjährigen  noch  bei  sich 
im  Bette  habe  schlafen  lassen.  Schon  als  Kind  trug  er  einen  Degen, 
mit  dem  er  galant  einherstolzierte,  und  als  achtjährigen  Knaben  Hess 
die  Mutter  ihn,  im   Herbste  1688,   in  die  Matrikel   der  Universität 


23]  Christian  Reuter.  477 

eintragen,  und  hielt  ihm  dann,  wie  auch  ihren  Töchtern,  Präceptoren. 
Da  der  eine  dieser  von  Reuter  spöttisch  »Herr  Gerge«  genannt  wird, 
so  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  es  der  spätere  Juris  Practicus  Johann 
George  Leib  war,  der  wiederholt  als  Goncipient  und  Curator  in  den 
Angelegenheiten  der  Familie  auftritt,  und  der  im  Frühling  1699  die 
älteste  Tochter  heimführte^).  Er  ward  in  diesem  selben  Jahre  zu- 
erst Licentiat,  dann  Doctor  der  Rechte,  und  es  sind  den  Ehegatten 
bis  1708  fünf  Kinder  geboren  worden.  Der  jüngste  Bruder  konnte 
offenbar  die  Zeit  nicht  erwarten,  Vollstudent  zu  werden;  schon  im 
Frühling  1696,  erst  15  Jahre  alt,  wurde  er  unter  die  Jurati  aufge- 
nommen.    Stolz  zahlte  er  einen  ganzen  Thaler. 

Die  Verhältnisse  der  Familie  konnten  nicht  nur  für  wohlhabend, 
sondern  für  reich  gelten.  Wittwe  und  Kinder  mögen  darauf  hin 
übermüthig  geworden  sein,  und  dieser  Uebermuth  mag  um  so  mehr 
verletzt  haben,  als  die  Formen,  in  denen  er  sich  äusserte,  wohl  un- 
feine waren.  Man  sagte  ihnen  sogar  nach,  dass  sie  damit  umgingen, 
sich  adeln  zu  lassen.  Denkbar  ist  auch  dies  gar  wohl,  denn  die 
Sucht,  in  den  Adelsstand  erhoben  zu  werden,  hatte  sich  seit  dem 
30jährigen  Kriege  mancher  der  reicheren  Familien  in  Leipzig  be- 
mächtigt. 

Am  Donnerstag  den  3.  Juni  1697  starb  die  Mutter,  ward  am 
Sonnabend  beerdigt,  die  Begräbnissfeier  aber  fand  erst  am  Dienstag 
den  8.  »hora  tertia  cum  concionea  statt.  Es  ward  also  an  dem 
vollen  Gepränge  einer  vornehmen  Bestattung  Nichts  gespart 2),  gewiss 
kein  Zeichen  einer  bescheidenen  Auffassung  seitens  der  Familie. 

Fortan   interessiert  uns   wesentlich   nur   noch   der  Stammhalter 


^)  Die  Trauung  ist  auswärts  vollzogen,  wohl  um  den  damals  vielfach  vor- 
kommenden Zudringlichkeiten  der  Studierenden  bei  den  Hochzeiten  sich  zu  ent- 
ziehen, die  in  diesem  Falle  vielleicht  doppelt  zu  befürchten  standen. 

2)  Vgl.  in  Vogel's  Annalen  S.  933:  »Den  4  9.  August!  noo  .  .  beschloß  .  .  . 
sein  Leben  freudige  sanft  und  selig  Hr.  Adrian  Steger  .  .  .  aus  einem  in  die  200 
Jahre  zu  Leipzig  ilorirenden  und  mit  vielen  vornehmen  Familien  befreundeten  Ge- 
schlecht entsprossen,  vornehmer  ICtus,  der  Stadt  Leipzig  hochmeritirter  Bürger- 
meister,  des  ganzen  Rathstuhls  ansehnlicher  Senior,  des  Churfürstlichen  Schoppen- 
Stuhles  vornehmer  Assessor  und  der  Kirchen  zu  St.  Thomae  hochverdienter  Vor- 
steher ,  dessen  Gott  geheiligter  Leichnam  den  %  \ .  Augusti  in  sein  Erb-Begräbniß 
im  Paulino  eingesenket,  der  Leichen-Proceß  aber  den  26.  dieses  darauff  in  der 
Kirchen  zu  St.  Nicolai  bei  Volckreicher  Versammlung  gehalten  vnirde«. 


478  Friedrich  Zarnckr,  [24 

der  Familie,  Eustachius^).  Mit  ihm  nahm  es  keinen  guten  Verlauf. 
Es  scheint  ihm  an  allen  Eigenschaften  gefehlt  zu  haben,  durch  die 
eine  günstige  Vermögenslage  erhalten  und  gesichert  wird.  Im  An- 
fang des  Jahres  1699  setzte  er  sich  mit  seinen  Geschwistern  aus* 
einander  und  erkaufte  von  ihnen  das  Haus  mit  der  darauf  haftenden 
Braugerechtigkeit.  Schon  hierbei  scheint  er  kopflos  und  leichtsinnig, 
vielleicht  nicht  ohne  Grossthuerei ,  gehandelt  zu  haben.  Er  über- 
nahm das  Haus  für  10,000  Thaler,  eine  für  damals  enorme  Summe, 
die  der  Besitz  sicher  nicht  werth  war,  da  es  noch  1675  und  1681 
seinem  Vater  mit  nur  4000  Fl.  angerechnet  worden  war.  Es  zeigten 
sich  denn  auch  bald  die  Spuren  zurückgehender  Wirthschafl.    Schon 

1 700  verkaufte  er  einen  Keller  an  einen  Nachbar,  was  für  den  Be- 
trieb der  Brauerei  kein  günstiges  Symptom  war.  Im  Jahre  1703 
im  Mai  suchte  er,  um  eine  grössere  Reparatur  ausführen  zu  können, 
sich  von  einem  gewissen  Jacob  Schmidt  1500  Thaler  auf  drei  Jahre 
zu  borgen.  Um  das  Geld  zu  erhalten,  musste  seine  Frau  dem  Vor- 
gehen ihrer  Ansprüche  entsagen ,  und  in  der  Abmachung  kommen 
die  folgenden  dunklen  aber  bedeutungsvollen  Worte  vor:  er  hypo- 
theciere  sein  Haus,  »ohnerachtet  daß  solches  der  höchstnöthigen  Re- 
paratur wegen  |:  Wormit  ich  nun  bereits  im  Begriffe  bin  :|  Herrn 
Schmieden  allbereit  stillschweigend  verpfändet  ist «.  Dabei  ist  es  auf- 
fallend, dass  er  fast  nie  persönlich  zugegen  ist  und  sich  meistens 
durch  seinen  Schwager  Leib  vertreten  lässt.    So  entschuldigt  er  sich 

1701  mit  »einer  mir  vorgefallenen  unumbgänglichen  Reise<y,  1705 
einfach :  » ich  dagegen  anderer  Verhinderungen  wegen  dieser  Confir- 
mation  persönlich  nicht  beiwohnen  kann«.  Es  ging  offenbar  mit 
ihm  zurück.  Auch  sonst  glückte  es  ihm  nicht.  Er  hatte,  schon  vor 
dem  Juni  1703,  sich  mit  einem  blutjungen  Mädchen,  fast  noch  einem 
Kinde,  verheirathet.  Sie  hiess  Dorothea  Morsch 2)  und  ward  erst 
1713,  nach  seinem  Tode,  majorenn.  Sie  hat  ihm  drei  Knaben  ge- 
boren, 1706,  1707  und  1709;  alle  drei  erhielten  den  Namen  Eu- 
stachius,  es  war  also  jeder  vor  der  Geburt  des  folgenden  gestorben. 
Auch   der  letzte  starb,   10  Tage  alt.     Es   berührt  fast  wehmüthig, 


^)  Es  ist  mir   auch   nicht  gelungen,    über  die  jüngere  Schwester   und  den 
jüngsten  Sohn  Weiteres  festzustellen. 

^)  Wohl  die  Schwester  des  Gastwirthes  Christian  Morsch. 


85}  Chbistun  Reoter.  479 

wenn  man  so  den  Wunsch  und  das  Bestreben  hervortreten  sieht, 
das  Geschlecht,  wie  seine  Vorfahren,  mit  einem  Eustachius  fortzu- 
setzen. Bald  nach  dem  Tode  des  dritten  Knaben  muss  der  Vater  ge^ 
sterben  sein,  denn  als  am  7.  April  1713  der  Minorennitätsvormund  der 
Wittwe,  ihr  Oheim  Joh.  Morsch,  entlastet  wurde,  erklärt  die  Wittwe, 
ihr  Gatte  sei  bereits  seit  mehreren  Jahren  todt.  Merkwürdiger  Weise 
fehlt  jede  Notiz  über  seinen  Hingang,  lieber  seinem  Vermögen  aber 
brach  der  Concurs  herein  und  das  Haus  ward  auf  Betrieb  der  Gläu- 
biger 1713  subhastiert.  Lange  dauerte  es,  bis  einigermassen  an- 
ständige Gebote  erfolgten;  endlich  erstand  es  der  Kramer  Senkeisen 
für  «000  Thaler. 

So  war  die  Familie  der  Eustachius  Müller  in  Leipzig  unter 
Bankerutt  schmählich  zusammengebrochen  und  ihr  Besitzthum  in 
fremde  Hände  übergegangen.  Gewiss  nicht  ohne  die  Schuld  ihres 
letzten  Stammhalters.  Wir  erblicken  hier  denselben  Verlauf,  den  wir 
bei  so  manchen  reich  gewordenen  Familien  eines  städtischen  Gemein- 
wesens verfolgen  können,  wie  eine,  oder  einige  Generationen  mit 
ernstem  Fleisse  den  Reichthum  erwerben,  eine,  oder  einige,  in 
den  alten  Traditionen  fortlebend,  ihn  wenigstens  noch  zu  erhalten 
verstehen,  bis  dann  die  Jeunesse  dor6e  darüber  kommt,  die,  über- 
müthig  und  leichtsinnig,  das  Ueberkommene  verzettelt.  An  diesen 
besitzvemichtenden  Eigenschaften,  die  wir  heute  mit  jenem  modernen 
Namen  Modernes  bezeichnend  zusammenfassen,  wird  sicher  auch 
der  letzte  Eustachius  Müller  zu  Grunde  gegangen  sein.  Seit  dem 
Tode  des  Vaters  1 685  war  die  Familie  in  Wirklichkeit  auf  abschüs- 
siger Bahn  angelangt. 

Dem  Auge  der  Welt  freilich  konnte  diese  Sachlage  gar  wohl 
eine  Zeit  lang  verborgen  bleiben;  ja  die  Zeiten  des  dem  Fall  voran- 
gehenden Hochmuthes  waren  recht  eigentlich  angethan,  den  Blick 
der  Weiterstehenden  zu  täuschen.  Zu  diesen  Zeiten  müssen  wir 
nunmehr  zurückkehren. 

Wohl  im  Jahre  1694,  als  die  Familie  der  Müller  sich  noch  im 
vollen  Selbstbewusstsein  bespiegelte,  als  Eustachius  etwa  28,  die 
beiden  Töchter  resp.  1 8  und  1 6,  der  jüngste  Sohn  1  i  Jahre  alt  war, 
bezogen  Christian  Reuter  und  Joh.  Grel  zwei  Studenten wohnungen 
im  rothen  Löwen.  Ihr  Leben  mag  nicht  das  solideste  gewesen  sein, 
und  wir  dürfen  gewiss  der  Angabe  ihrer  Wirthin  Glauben  schenken, 


480  Friedrich  Zarngke,  [26 

wenn  diese  später  behauptet,  sie  habe  keinen  Pfennig  Miethzins  von 
ihnen  erlangen  können  und  habe  sie  darum  wieder  aus  ihrem  Hause 
entfernt.  Das  mag  nicht  in  den  zartesten  Formen  geschehen  sein; 
die  eingebildete  und  ungebildete  Frau,  die  ihrem  Sohn,  dem  Student- 
lein, einen  Präceptor  hielt,  wird  hochmüthig  herabgeblickt  haben  auf 
die  jungen  Leute,  die  mit  Mitteln  nicht  reich  ausgestattet  waren: 
jedesfalls  zog  sie  sich  den  bitteren  Hass  ihrer  beiden  »Hau&- 
burschea  zu. 

Es  war  damals  ein  beliebtes  Mittel,  sich  an  Gegnern  durch 
Pasquille  zu  reiben.  Die  Acten  der  Bttcher-Gommission  hören  nicht 
auf,  ttber  solche  Fälle  zu  berichten,  ebenso  handeln  davon  wieder- 
holt die  Acten  der  Universität:  man  drohte  mit  Pasquillen,  um  den 
Gegner  gefügig  zu  machen,  gedruckt  wie  handschriftlich  wurden  sie 
als  ein  mächtiges  Mittel  zum  Angriff  wie  zur  Abwehr  angesehen. 
Ja,  Chr.  Weise  betrachtet  sie  geradezu  als  eine  hergebrachte  Art 
studentischen  Treibens,  wenn  er  im  Politischen  Academicus  (1684) 
die  »Pursch-Manier«  definiert:  »Daß  man  studentic£(;  leben  und  den 
Respect  dieses  löblichen  Ordens  mit  Waffen  und  mit  Pasquillen  de- 
fendiren  soll«.  Wie  sehr  dies  Genre  auch  später  noch  beliebt  blieb, 
beweisen  die  Schriften  von  Liscow,  von  Rost  u.  A.  Auch  gegen 
Damen  wandte  man  diese  Waffe  an,  man  erinnere  sich  des  Pasquills 
auf  die  bekannte  italienische  Sängerin  Salicola  in  Dresden,  im  Winter 

1690/910- 

Gewiss   war  die  Absicht,   an  seiner  Hauswirthin  seinen  Zorn 

auszulassen,    eine    der   Triebfedern    bei   Reuter,    wenn    er    nun    zu 

einer  satirischen  Gomödie  die  Feder  in  die  Hand  nahm,  aber  sicher 

nicht   die   einzige.     Ganz   von   Moli^re   erfüllt ,    bot   sich   ihm   hier 

ein  Stoff,   der  zu  einer   Gomödie  in  dessen  Weise  wie  geschaffen 

war.     Er  hatte  eine  über  ihren  Stand  hochmüthig  hinausstrebende 

Familie,  und  alle  die  Schwächen  und  Lächerlichkeiten,  die  dabei  zu 

Tage  traten,  kennen  gelernt:  es  bedurfte  nur  einiger  greller  Lichter, 

um  die  Effecte  zu  schärfen,    es  bedurfte  nur  der  Abrundung  und 

poetischen  Ausgestaltung,   und   die  Nachbildung  einer  Moliere'schen 

Gomödie  war  geschaffen. 


^]   Fürstenau,  Zur  Gesch.  der  Musik  und  des  Theaters  zu  Dresden,  I,   296 


S7]  Christian  Reuter.  481 


2.  Die  ehrliche  Fraa  zn  Plissiiie. 

Im  Sommer  des  Jahres  1 695  schrieb  Reuter  seine  erste  Comödie 
zusammen,  in  welcher  er  die  Mitglieder  der  Müllerischen  Familie, 
die  Mutter,  die  beiden  Söhne  und  die  beiden  Töchter,  die  Köchin, 
zugleich  sich  selbst  und  seinen  Freund  Grel  als  Personal  verwendete. 
Im  Hinblick  auf  jene  unfeine  Betheurungsformel  der  Witlwe  Müller 
nannte  er  das  Stück  »Die  ehrliche  Frau«,  sonst  enthielt  er  sich  aller 
directen  Hinweise;  aus  Leipzig  ist  »Plissine«  geworden,  woraus  die 
Stadt  an  der  Pleisse  doch  erst  errathen  werden  musste,  aus  dem 
»rothen  Löwen«  ward  ein  »goldener  Maulaffe«,  die  Mutter  führt  den 
allerdings  boshaften,  aber  nicht  weiter  durchsichtigen  Namen  » Schlam- 
pampe«, die  Töchter  heissen  Charlotte  und  Glarille,  ebenso  trifft  kein 
Name  der  übrigen  Personen  mit  dem  wirklichen  der  dem  Verfasser 
vorschwebenden  überein.  Er  scheint  sich  anfangs  allerdings  diesen 
letzteren  noch  näher  gehalten  zu  haben,  denn  in  dem  auf  uns  ge- 
kommenen Manuscripte  steht  noch  ein  paar  mal  der  Name  der  altern 
Tochter  als  »Rosette«  aufgeführt,  was  gewiss  der  Rufname  der  Anna 
Rosine  war;  aber  auch  diese  letzte  Spur  ist  getilgt. 

Für  die  Herbstmesse  war  abermals  das  Eintreffen  von  Comö- 
dianten  angemeldet,  wohl  der  Möller-Richter'schen  Gesellschaft;  denn 
diese  beiden  PrincipalitSiten  scheinen  sich  mittlerweile  »conjungieret« 
zu  haben.  Reuter  trug  sich  mit  der  Hofbiung,  sein  Stück  von  ihnen 
aufgeführt  zu  sehen. 

Zunächst  doch  galt  es  einen  Verleger  zu  finden.  Er  wandte  sich 
an  einen  jungen  Anfänger,  Martin  Theodor  Heybey,  den  er  viel- 
leicht schon  kannte  und  der  ihm  in  mehr  als  einer  Beziehung  als 
der  geeignete  Mann  erscheinen  konnte.  Heybey  war  in  der  Oster- 
messe zuerst  als  Verleger  aufgetreten,  war  also  für  Verlagsanträge 
noch  zugänglicher,  hatte  auch  wohl  von  Anfang  an  zu  den  Studie- 
renden genauere  Beziehungen.  Denn  er  verlegte  eine  Anzahl  von 
Schriften  %  die  direct  für  den  Nutzen  und  Gebrauch  der  Studenten 
berechnet   waren ^),    darunter    solche    von   Joh.    Christoph    Wentzel, 


^]  Diese  und   die  folgenden  Angaben  sind  den  Leipziger  Messkatalogen  jener 
Jahre  entnommen. 

^)  Z.  B.  WentzeTs  (er  war  Schuldirector  in  Altenburg)  Concordantiae  poe- 


482  Friedrich  Zarncke,  [28 

Welsch  und  Mencken.  Es  ist  wohl  nicht  zufällig,  dass  diese  sämmt^ 
lieh  dem  Theater,  und  auch  besonders  dem  Leipziger  Theater,  ge* 
neigt  waren;  ja  Wentzel  führte  bekanntlich,  wie  der  bereits  oben 
genannte  Joh.  Bahr,  1696  einen  ernsten  Kampf  gegen  Yockerodt  in 
Gotha  zu  Gunsten  des  Theaters  und  der  Oper;  er  verfasste  auch 
selber  Theaterstücke  und  Opern,  und  ward  später  bekanntlich  Chri- 
stian Weise's  Nachfolger  in  Zittau.  Dann  verlegte  Heybey  Schriften 
der  beliebtesten  Universitätslehrer  und  anderer  angesehener  Männer 
der  Stadt  ^).  Daneben  aber  suchte  er  auch  belletristischen  Verlag 
zu  gewinnen.  Gleich  zu  Anfange  debütierte  er  mit  einer  Schrift  des 
bekannten  und  damals  vielgelesenen  Vielschreibers  Talander  (Aug. 
Bohse)^),   dann  gab   er  Ueberselzungen  aus  dem  Französischen  und 


ticae,  und  desselben  Gebetbuch  für  die  studierende  Jugend;  Knauth*s  Ghresto- 
mathia  Terentiana;  Welsch*ens  Tabulae  anatomicae  in  gratiam medicinae  tyronum 
conscriptae;  desselben  Basis  botanica;  Henning  Witten's  Repertorium  homileti- 
cum  und  dessen  Memoriae  theologorum  clarissimorum ;  Frisii  Anweisung  zur 
Physica;  des  Dr.  Menckens  Synopsis  theoretico  -  practica  pandectarum;  des 
Titius  Specialen  juris  publici  Romano-germanici ;  Puffend orff^s  Jus  feciale  di- 
vinum; Hieron.  DiceTs  Paedia  geographiae  generalis  in  usum  studiosae  juveotulis 
u.  s.  w. 

^)  Ausser  den  schon  vorhergenannten  Werken ,  die  zu  einem  grossen  Theile 
von  Universitätslehrern  verfasst  waren,  gehört  hieher  des  berühmten  Stadtschreibers 
Lünig  Neueröffnete  teutsche  Reichskanzlei,  Hieron.  DiceTs  Geographisches  Dic- 
tionarium;  besonders  aber  die  Schriften  des  Dr.  Chr.  Weidling,  der  der  stu- 
dierenden Jugend  besonders  nahe  gestanden  haben  muss,  und  ^er  offenbar  auch 
dem  Zeitgeschmacke  zu  huldigen  verstand.  So  verlegte  Heybey  von  ihm  ausser 
der  Philosophia  juridica  ac  disputandi  artificium  zwei  für  jene  Zeit  charakteri- 
stische Werke:  <)  Oratorischer  Hoffmeister,  wie  ein  Gouverneur  seinen  Unter- 
gebenen die  neue  Hof-Oratoria  practice  wohl  beibringen  und  ein  Gavalier  von 
allen  Stücken  geschickt  raisoniren,  auch  glücklich  sich  perfectioniren  soll  (das 
Werk  scheint  früher  im  Verlag  der  Wittwe  Heinichen  gewesen  zu  sein,  zu  der 
H.  also  in  Verkehr  gestanden  haben  wird;  mit  dem  Factor  der  Wittwe  sehen  wir 
den  Reuter'schen  Kreis  ebenfalls  in  Verbindung) ;  und  %)  Schatz-Kammer  aller 
politischen  Discurse  und  heller  Leitstern  kluger  Reisender  .  .  .  umb  ohne  alle 
Mühe  aus  der  neuen  Historie,  Zeitungen,  Moralität  einen  gelehrten  Discurs  wohl 
auszuwerfen  und  glücklich  zu  continuiren. 

In  diesen  Kreis  fallen  auch:  Curieuser  Geschichts - Calender  aller  römischen 
Päpste;  Curieuser  Geschichts-Calender  des  gewesenen  Königs  in  Engelland,  Jacobi  H; 
Geographischer  Schauplatz  curieuser  und  politischer  Wissenschaft  oder  geographisch- 
politisch-historische Erörterung  der  ganzen  Welt. 

2)  D Allezeit  fertiger  Briefsteller«. 


29]  Christian  Reuter.  483 

pikaote  Romane  heraus:  Die  durchlauchtige  Zulima  oder  die  reine 
Liebe;  Der  tapfere  Zingis  aus  Tartarien,  eine  curiöse  Liebesgeschichte; 
Die  rasende  Liebe  oder  die  aus  den  Schranken  schreitende  Eifersucht 
der  Italiener ;  Die  Liebe  wechselnde  Türkin  oder  die  unkeusche  Hat- 
tiga ;  Der  Galanterie  Artzt ;  Der  Gräfin  d'Aunoy  geheime  Memoiren ; 
Die  unglückselige  Moskowitin  Abra  Mule  oder  wahrhafte  Liebes- 
geschichte, welche  noch  viele  merckwürdige  Intriguen  des  türkischen 
Serail  vorstellet  u.  s.  w.  Mit  der  ausländischen  Litteratur  war  er 
offenbar  vertraut.  Selbst  gelehrte  französische  Werke  verbreitete  er 
wenigstens  unter  seinem  Namen,  so  mit  Roger  in  Berlin,  dem  spä- 
teren Herausgeber  der  Werke  Moliäre's,  zusammen  das  Nouveau 
Journal  des  Savans ;  ja  ein  italienisches  Buch  Hess  er  auf  eigene 
Hand  drucken:  La  Beatrice  Prencipessa  di  Siria.  Auch  Werke  von 
Christian  Weise  hat  er  verlegt  *) .  Waren  auch  noch  nicht  alle  diese 
Werke  im  Sommer  1695  erschienen,  so  kennzeichnen  sie  doch  die 
Persönlichkeit  des  Verlegers,  und  zeigen  uns,  dass  ein  junger,  den 
studentischen  Kreisen  angehörender  Schriftsteller,  der  an  einen  fran- 
zösischen Autor  sich  anlehnte  und  der  selber  Pikantes  zu  bieten  ver- 
mochte, sich  leicht  veranlasst  sehen  konnte,  bei  Heybey  anzuklopfen. 
Dies  that  Reuter  im  August  oder  September.  Heybey  ging,  wenn 
auch  zögernd,  auf  den  Verlag  ein  und  zahlte  an  Reuter  10  Thaler. 
Anfangs  scheint  ihm  dieser  vorgespiegelt  zu  haben,  er  habe  die 
Comödie  von  Comödianten  erhalten.  Schliesslich  aber  muss  auch 
Heybey  orientiert  worden  sein.  Der  Verfasser  hatte  sich  hinter  den 
Namen  »Hilarius«  versteckt. 

So  ganz  geheuer  war  doch  beiden  nicht  bei  dieser  Mischung 
von  Comödie  und  Pasquill.  Reuter  wünschte  ernsthaft,  ungenannt 
und  unerkannt  zu  bleiben.  Ueberhaupt  sollten  die  Blicke  von  der 
Entstehung  des  Stückes  in  Leipzig  möglichst  abgelenkt  werden.  Als 
daher  der  Censor,  der  Professor  der  Poesie,  M.  Ernesti,  zu  dessen 


1)  Z.  B.  Augustini  et  Lutheranonim  consensus.  —  Heybey  ist  früh  gestorben. 
Wie  rüstig  er  vorwärts  arbeitete,  zeigen  die  Ziffern  der  von  ihm  verlegten  Werke, 
wie  der  Codex  nundinarius  sie  aufweist,  \  695  :  H ;  \  696  :  t\ ;  \  697  :  20  ;  \  698  : 
27.  Fing  er  dann  an  zu  kränkeln?  Das  Jahr  4  699  bietet  nur  noch  8  Yerlags- 
werke,  und  Sonnabend  den  4  0.  Februar  4  700  starb  er.  Unter  der  Wittwe 
Namen  brachte  der  Ostermesskatalog  noch  5  Werke,  dann  erlischt  jede  Erwähnung 
seines  Geschäftes. 


484  Friedrich  Zarnckb,  [30 

Ressort  die  belletristische  Litteratur  gehörte,  Verdacht  fasste  und 
Schwierigkeiten  machte,  suchten  die  beiden  den  jungen  Sam.  Rud. 
Bahr  zu  bestimmen,  mit  Heybey  zu  Ernesti  zu  gehen  und  diesem 
zu  erklären,  er,  Bahr,  habe  die  Comödie  von  fremden  Gomödianten 
erhalten.  Aber  Bahr  lehnte  dies  ab.  Ernesti  liess  sich  beruhigen, 
bemerkte  zwar,  dass  ihm  die  Geschichte  auf  bestimmte  Personen  ge- 
münzt zu  sein  schiene,  er  wolle  nur  hoffen,  dass  sich  Niemand 
dessen  annehmen  werde;  und  so  ertheilte  er  schliesslich  das  Impri- 
matur. Das  geschah  bald  nach  der  Mitte  des  September.  Mit  ausser- 
ordentlicher Schnelligkeit  ward  dann  die  Drucklegung  betrieben.  Um 
den  Ursprung  noch  mehr  zu  verhüllen,  ward  die  Miene  angenommen, 
als  sei  das  Drama  aus  dem  Französischen  übersetzt,  ja  es  ward  ein 
französischer  Titel,  als  sei  dies  der  originale,  voraufgesetzt,  den  das 
von  Ernesti  censierte  Manuscript  noch  nicht  trug. 

Es  wird  Anfang  October  gewesen  sein,  als  die  Comödie  bei 
dem  Buchdrucker  Brandenburger  fertig  gestellt  war  und  nun  dem 
Leipziger  Publicum,  besonders  der  Studentenwelt ,  in  die  Hände  ge- 
geben ward. 

Orientieren  wir  uns  zunächst  über  den  Inhalt  des  Stückes,  von 
dessen  beiden  ersten  Acten  uns  das  Originalmanuscript  in  den  Acten 
der  Bücher-Gommission  erhalten  ist,  ganz  oder  doch  fast  ganz  von 
Reuter  selbst  geschrieben. 

Hinter  dem  Titelblatte,  das  auch  die  »Personen«  enthält,  folgt 
eine  Dedication  an  die  Leipziger  Studenten:  »Denen  Sämmtlichen 
Herren  Studiosis  Auff  der  Weitberühmten  Universitaet  Leipzig,  Meinen 
insonders  Hochgeneigten  Gönnern  und  Patronen«.  Darauf  ein  Gedicht 
in  Alexandrinern,  das  besonders  auch  darum  wichtig  ist,  weil  es  — 
in  Form  einer  Entschuldigung  des  Autors,  dass  er  keine  Original- 
arbeit geliefert  habe  —  die  Uebersetzung  aus  dem  Französischen 
abermals  betont.  In  dem  Quartmanuscript  findet  sich  diese  Dedica- 
tion auf  2  Octavblättem  geschrieben,  sie  ist  also  wohl  erst  später 
nachgetragen. 

S.  T. 
Allerseits  Hochgeneigte  Herren, 
Werthgeschätzte  Gönner  etc.  etc. 

Was  sonst  Terentius  und  Plautus  hat  geschrieben, 

Wird  der  gelehrten  Welt  wohl  nicht  seyn  unbekand, 


34]  Christian  Reuter.  485 

Was  vor  Comödien  in  Franckreich  übrig  blieben, 

Als  Holliere  starb,  weiß  fast  das  gantze  Land; 
Ja  was  noch  andre  mehr,  die  ich  hier  nicht  wil  nennen, 

Von  solchen  Sachen  aach  der  Presse  anvertraut: 
So  wird  doch  Jedermann  mit  gutem  Recht  bekennen, 

DaB  er  noch  niemahls  hat  die  Ehrlche^)  Frau  geschaut. 
Ist  die  Historie  gleich  kundbar  den  und  jenen. 

Weil  aus  FranzOscher  Sprach  dieselbe  ttbersetzt, 
MuB  doch  der  Klügste  selbst  zum  Offtern  etwas  lehnen 

Aus  unbekanter  Schrifft,  woran  er  sich  ergötzt. 
Ich  hoffe,  man  wird  mir  auch  diB  nicht  übel  deuten, 

Daß  ich  biß  weilen  wo  ein  Sprichwort^)  angeführt. 
Indessen  sey  das  Spiel  hier  denen  braven  Leuten, 

Die  man  Studenten  heißt,  gehorsamst  dedicirt. 
Sie  nehmens  gütig  auff,  und  bleiben  doch  geneiget 

Mir,  und  der  Ehrlchen  Frau,  das  bittet  zum  Beschluß 
In  Unterthänigkeit,  der  sich  stets  dienstbar  zeiget. 

Und  allezeit  verbleibt 

Ihr  Knecht  Hilarius. 

Der  Inhalt  des  Stückes  ist  nun  der  folgende. 

In  Plissine  lebt  die  Frau  Schlampampe,  die  Gastwirthin  im  gol- 
denen Maulaffen,  deren  Gatte,  der  ein  Handelsmann  war,  seit  Jahren 
todt  ist;  sie  bat  vier  Kinder,  einen  Sohn,  mit  Namen  Schelmuffsky^), 


^)  Solche  Gontractionen  sind  damals  nicht  anstössig.  Vgl.  in  Chr.  Weise's 
Verfolgtem  Lateiner  (4  695):  Und  wie  viel  Thaler  wird  das  Hochtzt-Geschenke 
machen. 

2)  Vgl.  die  Anmerkung  zu  dem  Verhör  Heybey^s  am  5.  October  4  695. 

3]  Bei  dieser  hybriden  Bildung  mit  polnischer  Endung  erinnere  man  sich 
daran,  dass  im  Jahre  4  695  bereits  die  Beziehungen  zu  Polen  begannen,  und  dass 
man  in  Leipzig  noch  heute  ähnliche  Ableitungen  mit  slavischer  Endung  kennt,  wie 
0  Liederinsky  a  für  einen  Bruder  Liederlich,  »Poverinsky«  für  einen  armen  Schlucker, 
»Buckelinsky«  für  einen  Buckligen,  »Schnüffelinsky«  für  einen  Schnüflfler ;  bekannt  ist 
Heine's  »Eselinsky«.  Besonders  beachte  man  die  beiden  erlogenen  Grafennamen  in 
Weise's  Verfolgtem  Lateiner  (4  695),  der  Reuter  schon  bekannt  gewesen  sein  kann: 
»  Hahnefusicolpilaminosicofsky  « , und  »  Ziegenbeinicoelkoribicirkilausimufsky « .  Später 
in  der  »  Alchimistengesellschaft  o  heisst  der  Handlanger  i»Katzimurtzky«.  —  Ein  arges 
Versehen  ist  es,  das  Lappenberg  in  seiner  Ausgabe  des  Ulenspiegel  (Leipzig  4  854) 
S.  327  begeht,  wenn  er  sagt,  die  i^ handschriftliche  Chronik  des  Dethlev  Dreyer, 
Prediger  zu  Seedorf  im  Jahre  4  634a  erwähne  bereits  den  SchelmuflGsky.  Jener 
Dethlev  Dreyer  war  nicht  Prediger  zu  Seedorf,  wo  4  64  0 — 4  635  vielmehr  Georg 
Schalk  die  Pfarre  verwaltete,  sondern  Lübischer  Lieutenant,  und  er  verfasste  seine 
Chronik  in  den  Jahren  4  697 — 474  8,  also  nach  Erscheinen  des  Schelmuffsky.  Die 
Stelle,    wo  er  dieses  gedenkt,    ist  noch  nicht  wieder  aufgedeckt  (bei  Erwähnung 


486  Friedrich  Zarncke,  [38 

der  auf  Reisen  ist,  zwei  Töchter,  Charlotte  und  Glarille,  und  einen 
jüngsten  Sohn,  Däfftle.  Sie  ist  eine  ungebildete  Person,  die  gerne 
der  Flasche  zuspricht  und  ihren  eigenen  Kindern  gegenüber  mit 
Schimpfworten,  wie  Du  Rabenaas,  Ihr  Rabenäser,  Du  Hund,  Du  lau- 
siger Hund,  Du  Rabeth-Nickel,  Du  Schelm,  Du  nackichter  Lauserumb 
u.  ä.  sofort  bei  der  Hand  ist.  Auch  hat  sie  noch  sonst  manche 
ordinäre  Eigenschaften.  So  führt  sie  allerlei  ungebildete  und  unver- 
ständige Redensarten  im  Munde,  wie  die  Betheurung:  »So  wahr 
ich  eine  ehrliche  Frau  bin«  und  »bei  den  Göttern  im  Wolkena*)  etc. 
Auch  wird  es  als  etwas  Widerliches  und  Unanständiges  erwähnt,  dass 
sie  in  mütterlicher  Affenliebe  ihren  jüngsten,  doch  schon  heran- 
wachsenden Sohn  noch  immer  bei  sich  im  Bette  schlafen  lasse.  Auf 
ihre  Wohlhabenheit  thut  sie  sich  nicht  wenig  zu  gut;  dass  sie  aber 
selber  höher  hinauswolle,  kann  man  ihr  nicht  nachreden.  Um  so 
mehr  ist  dies  der  Fall  bei  ihren  beiden  Töchtern,  denen  gegenüber 
sie  sich  sehr  schwach  erweist,  was  diese  mit  Spott  und  schnödem 
Undank  ihr  lohnen.  Diese  Töchter  sind  ganz  in  Hochmuth  aufge- 
gangen; Putzsucht  und  Leichtsinn  ist  ihr  Wesen.  Sie  verlangen  die 
kostbarsten  Kleider,  ohne  Rücksicht,  ob  die  Mutter  sie  beschaffen 
kann,  stehen  stets  vor  dem  Spiegel  und  kleben  sich  Schönheits- 
pflästerchen auf,  neigen  sich  wohlgefällig  und  wollen  nur  einen 
Baron  oder  einen  Edelmann  mit  Federn  auf  dem  Hute  ^)  zu  Männern 
haben.     Dabei   sind   sie   aber  ebenfalls  ordinär,   werfen  der  Mutter 


des  Eulenspiegel  steht  sie  nicht] ;  es  ist  das  auch  ohne  Werth.  Schelmuflsky  zu 
erwähnen ,  konnte  der  Verfasser  mancherlei  Veranlassung  haben ,  denn  auch  er 
war  viel,  in  der  Welt  herumgewesen^  hatte  z.  B.  4  666  — 1688  in  spanischen 
Diensten  als  Oberoffizier  gestanden,  auch  in  französischen.  Vgl.  auch  Deecke, 
Beitrage  zur  Lübeckischen  Geschichtskunde,  I^  S.  39  (Lübeck  4  835).  lieber  diesen 
Thatbestand  orientiert  zu  sein,  verdanke  ich  den  Herren  Dr.  G.  Cnrtius  und 
W.  Gläser  in  Lübeck,  die  auf  meine  Anfrage  mir  die  ausgiebigste  Belehrung  zu 
Theil  werden  Hessen.  Die  erwähnte  handschriftliche  Chronik  (Chronicon  Lubecense, 
fol.,  4489  Seiten)  befindet  sich  im  Besitze  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte 
und  Alterthumskunde.  —  Nach  Obigem  ist  auch  die  Angabe  in  Goedeke^s  Grund riss 
S.  54  2  und  bei  Anderen,  die  ihm  nachgeschrieben  haben,  zu  berichtigen. 

^)  Mhd.  daz  wölken. 

^)  Diese  Auszeichnung  nahmen  zum  Verdruss  der  Studierenden  die  Edelleute 
für  sich  in  Anspruch.  Bald  nachher  rief  dies  ärgerliche  Scenen  hervor.  Vogel 
in  den  Annalen  S.  94  3  erzählt:  Zu  Ausgang  des  Monats  Junii  4  698  entstund  unter 
der  Noblesse   und  bürgerlichen  Standes  allhier  Studierenden  eine  Uneinigkeit;    es 


33]  Christun  Reutbr.  487 

gegenüber  mit  den  rohesten  Fluchen  um  sich,  zanken  unter  einander 
auf  das  widerlichste,  sind  auf  den  Wein  so  versessen,  dass  sie  ihn 
aus  der  Flasche  hinunter  zechen,  und  fuhren  mit  den  Studenten  ein 
freies  und  frohes  Leben:  sie  besuchen  sie  auf  ihren  Stuben,  lassen 
sich  dort  betrunken  machen,  und  die  eine  hat  einmal  in  trunkenem 
Zustande  einen  Tag  Über  mit  einem  Studenten  auf  dessen  Bette  ge- 
legen, und  so  haben  sie  gemeinsam  ihren  Rausch  ausgeschlafen.  Auch 
sonst  stehen  sie  in  dem  Rufe,  dass  man  für  eine  Flasche  Wein  Zutritt  zu 
ihnen  habe.  Sie  gelten  dabei  für  »schmucke  Dinger«,  für  ein  »artiges 
und  galantes  Frauenzimmer«,  mit  dem  man  schon  sein  Vergnügen 
haben  könne.  Doch  sind  sie  dumm,  und  man  kann  nichts  Rechtes 
mit  ihnen  sprechen.  Von  dem  Widerspruche  zwischen  ihrem  ordi- 
nären Wesen  und  ihren  Prätensionen  haben  sie  keine  Ahnung.  Die 
älteste  hat  vor  längerer  Zeit  ein  Verhältniss  zu  einem  Dr.  Feinland 
aus  der  Stadt  Schlesine  gehabt,  auf  den  sie  noch  hofft,  obwohl  seine 
Eitern  ihn  zurückberufen  haben.  —  In  diesem  Hause  nun  wohnen  die 
beiden  Studenten  Edward  und  Fidele,  mit  denen  die  Töchter,  wie 
schon  erwähnt,  allerlei  Unziemlichkeiten  treiben,  denen  sie  auch 
Geschenke  machen,  gestickte  Bänder,  ja  ihr  Portrait  verehren,  die 
sie  aber  doch  im  Grunde  als  »geringe  Kerle«  verachten,  denn  sie 
wissen,  dass  sie  selbst  »ihr  gut  Auskommen  haben  und  ehrlicher 
(oder  vornehmer)  Leute  Kind«  sind. 

Dies  sind  die  Voraussetzungen  unseres  Dramas.  Dasselbe  be- 
ginnt den  ersten  Act  mit  einer  Scene,  die  uns  in  lebhafter  Charakter- 
schilderung mitten  in  die  Lage  hineinfuhrt.  Die  alte  Schlampampe 
ist  ausser  sich,  dass  ihre  Töchter  wieder  neue  Kleider  haben  wollen, 
sie  weiss  nicht  woher  das  Geld  nehmen,  der  Verdienst  ist  nicht  gross, 
die  Studenten  bezahlen  keine  Miethe:  »Ach,  wie  glückselig  muß  doch 
so  eine  Mutter  leben,  die  gar  keine  Kinder  hat«.  Die  Töchter  treten 
ein,  es  wird  ein  Gescheite  und  Gefluche  durch  einander,  die  Mutter 


verdroß  jene ,  daß  diese  Federn  trugen ;  beyde  Partheyen  kamen  in  ziemlicher 
Menge  unterweilen  auf  den  Marckt  und  suchten  Ungelegenheit ;  doch  als  diese,  so 
Bürger-Standes  und  jenen  an  der  Menge  weit  überlegen  waren,  nichts  nachgeben 
wolten ,  erdachten  die  von  Adel  diesen  Fund :  Sie  legten  ihre  Federn  ab  und 
ließen  dieselben  ihre  Diener,  Laqueyen  und  Jungen  tragen,  welche  in  solchem 
AufTzuge  ihren  Herren  nachtraten.  Dieser  Wechsel  machte  dem  Streit  bald  ein 
£nde. 

Abhandl.  d.  K.  S.  OeHollsch.  d.  Wissensch.  XXL  33 


488  Friedrich  Zarnckb,  [34 

klagt  endlich:  »will  ich  in  meinem  Hause  einen  Bissen  Brodt  mit 
Frieden  essen ,  so  muß  ich  sehen ,  wie  ichs  mache ,  daß  ich  ihnen 
welche  schaffe«.  Werden  wir  so  mit  Unwillen  gegen  die  Töchter 
erfüllt,  so  wird  dieser  noch  gesteigert,  indem  wir  sehen,  dass  die 
eine  von  ihnen  ein  Liebespärchen,  den  Edward  und  die  Melinde, 
unter  einander  verklatscht  hat.  Eine  Confrontation  überführt  Char- 
lotten, und  Edward  hängt  ihr  ein  derbes  Schimpfwort  an.  Dies  wird 
dann  die  Ursache,  dass  die  Mutter  die  Studenten  aus  dem  Hause  zu 
entfernen  beschliesst;  aber  vorbei'  soll  der  eine  bezahlt  haben, 
namentlich  soll  er  für  das  böse  (unterwerthige)  Geld,  das  sie  ihm 
geliehen  hat,  erst  gutes  zurückerstatten;  sie  hat  sich  also  eines 
wucherischen  Verfahrens  nicht  geschämt.  Ein  Candidatus  juris  aus 
Marburg,  Gleander,  hat  von  dem  galanten  Frauenzimmer  gehört,  er 
erföhrt,  dass  er  durch  eine  Flasche  Wein  sich  Zutritt  verschaffen 
könne,  Fidele  giebt  ihm  eine  Schilderung  des  Lebens  im  Hause ;  da- 
bei erzählt  er  die  folgende  Geschichte: 

Es  sind  ohngefähr  3  Jahre,  so  ging  sie  im  Hause  herum  und  schlug 
die  Hiinde  immer  über  dem  Kopffe  zusammen,  und  sagte:  Ja,  daß  Gott 
im  hohen  Himmel  erbarme!  Ja,  daß  es  den  Göttern  im  Wolcken  erbarme! 
Als  ich  solches  hörete,  ging  ich  eiligst  auff  sie  zu  und  vermeinte,  es 
wHre  etwan  ein  groß  Unglück  vorhanden.  Wie  ich  sie  nun  fragte,  was 
ihr  wäre,  gab  sie  zur  Antwort:  Er  dencke  doch  nur,  da  haben  sie  eine 
Ratte  gefangen  und  haben  sie  wieder  lauffen  lassen;  mein  Praeceptor 
schmeist  mit  dem  Besen  nach  ihr,  und  schlägt  fehl:  so  Uiufft  sie  meiner 
Charlotte  zwischen  die  Beine  durch,  und  kömmt  wieder  davon.  Ich  ant- 
wortete mit  rechter  Verwunderung:  Ey,  das  ist  erschrecklich!  worauff 
sie  wieder  antwortete :  So  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau  bin,  es  ist  wahr, 
sie  hat  mir  ein  gantz  neu  Seiden  Kleid  zerfressen. 

Dann  klagt  Fidele  über  den  Hochmuth  der  Töchter:  »Vormahls 
waren  sie  noch  gut  genug,  aber  nun  sie  ein  bißgen  steiff  geworden 
seyn,  wollen  sie  schrecklich  hoch  hinaus  .  .  .  Künftlige  Fastnacht 
wollen  sie  500  Thaler  nehmen  und  sich  dafür  Adeln  lassen«.  Ver- 
wundert ruft  Gleander  aus:  »So  werden  sie  zweiffelsfrey  RitterSitze 
haben«,  und  nun  folgt  mit  schneidendem  Spotte  die  Antwort:  »Auff 
dem  Lande  ist  mir  von  keinem  bewust;  allein  sie  haben  sich  einen 
im  Hoff  hinter  dem  Röhrkasten  bauen  lassen«.  Gleander:  »Ist  das 
möglich?«  Fidele:  »Mons.  darff  nur  einen  von  den  Zimmerleuten 
dieser  Stadt  fragen,  so  wird  derselbe  ihn  nicht  anders  berichten«^). 


^j   In  der  Opera   (s.   u.j   heisst  es  von  dem  Rittersitz  etwas  ausführlicher: 


•^^1  CuRiSTiAN  Reuter.  489 

Die  Mutter  rückt  nun  mit  dem  rothen  Damastzeuge  zu  den 
Kleidern  an,  das  ihr  volle  1 1 0  Thaler  gekostet  hat  (» hätte  ichs  den 
Rabenassem  nicht  gekaufift,  So  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau  bin,  sie 
hätten  mich  aus  dem  Hause  gejagt«);  aber  schwer  gelingt  es  ihr, 
die  Ael teste  zu  trösten;  sie  selbst  ist  ausser  sich,  »Man  denke  doch 
(und  so  spricht  sie  zu  Jedermann,  wie  uns  später  Fidele  erzählt) 
ein  Mädgen,  das  ihr  gut  Außkommen  hat  und  vornehmer  Leute  Kind 
ist,  von  so  einem  gemeinen  Kerl  eine  Hure  geheissen  zu  werden!« 
ja  »wanns  doch  noch  was  rechts  gethan  hätte!«  Schliesslich  erntet 
sie  keinen  Dank,  sie  wird  nur  schnippisch  von  den  Töchtern  be- 
handelt. Da  kommt  ein  Bote  aus  Hamburg,  Laux,  und  bringt  die 
schlimme  Nachricht,  dass  ihr  Sohii  von  Seeräubern  gefangen  sei,  und 
wenn  sie  ihn  retten  will,  so  muss  die  fast  in  Verzweiflung  gerathende 
Mutter  abermals  100  Thaler  herausrücken.  Dieser  Bote  hat  die  Rolle 
des  Pickelhärings.     Er  rühmt  auch  besonders  das  Bier  im  Hause: 

Ich  muß  gestehn,  das  Biergen  schinackte  wie  lauter  Zucker,  und 
klebete  einem  recht  an  den  Fingern,  so  gut  war  es;  ja  es  war  auch  so 
ein  kräflliger  Trunck,  daß  mans  mit  Fingern  hätte  mögen  austitzschen. 
Das  Qvartier  gefiel  mir  auch  wohl,  und  hielten  sich  auch  so  ein  paar 
schmucke  Dinger  bey  der  Fr.  Wirthin  auf.  Obs  nun  ihre  Töchter  waren, 
das  kunte  ich  nicht  erfahren  ^)  u.  s.  w.  Wenn  ich  ein  junger  Studente 
wäre  gewesen,  ich  hätte  doch  einer  ein  Schmätzgen  gegeben;  so  dachte 
ich:  zurücke,  Laux,  es  thut  Dirs  wohl  ein  geringer  Höltzgen. 

Im   zweiten  Acte  wird   der  Bote  abgefertigt,    Oleander  schickt 

seine  Flasche  Wein,    Mutter  und  Töchter  fahren  sich  nahezu  in  die 

Haare  beim  Vertilgen  derselben,  Cleander  wird  ins  Haus  eingelassen. 

Als  die  Köchin  ihn  hinein  compUmentiert,  sagt  sie:  »Nun  so  beliebe 

er  mir   zu   folgen.«     »Ich   folge   euch«,    erwiedert   Cleander,    »und 

sollet   ihr   mich   auch   gleich   in   des   Frauenzimmers   Bette   führen.« 

Und    als    er    später    zurückkehrt ,    erzählt    er    mit    Erstaunen ,    wie 

ordinär  und  feiner  Sitte   widersprechend  ihr  Betragen  gewesen  sei. 


Cleand. :  Wo  kann  man  ihn  denn  schauen? 
Fidele :     Dort,  wo  man  sonst  die  Nüsse  runterschlagt, 
Und  wo  die  Pferde  rasten, 
Es  ist  im  Hofe  hinter  dem  Röhrkasten. 
Sicher  geht  auch  hieraus  nicht  hervor,   was  man  sich  darunter  denken  soll.     Dass 
ein  solcher  Bau  inoi  rothen  Löwen  angelegt  war,  beweisen  die  Worte  der  Wittwe 
Müller  in  ihrer  Vernehmung  am  5.  October  4  695. 

^)   Er  meint,  es  hätten  auch  wohl  verdächtige  Mädchen  sein  können:  so  un- 
fein also  hatten  sie  sich  betragen. 

33* 


490  Fkiedbich  Zarncke,  [36 

Die  eine  der  Töchter  hat  ihn,  da  sie  ihn  Tür  einen  Herrn  vom  Hofe 
gehalten,  um  ein  Schönheitsrecepi  gebeten,  für  den  Rigorismus  stu- 
dentischer Auffassung  ein  höchst  strafbares  Verlangen. 

Den  beiden  Studenten  hat  Frau  Schlampampe  mittlerweile  die 
Wohnung  aufgekündigt,  von  gemeinen  Kerlen  gesprochen,  und  so  ist 
für  diese  aller  Grund  zur  Schonung  fortgefallen').  Die  Strafe,  die 
Rache  naht.  Schon  Cleander  deutet  uns  an,  dass  er  den  Schwestern 
statt  des  gewünschten  Schönheitsreceptes  etwas  sehr  Garstiges  auf- 
geschrieben habe.  Fidele  und  Edward  bereden  sich  nun,  wie  sie 
einen  artigen  Possen  erdenken  wollen,  »damit  die  eingebildeten  Töchter 
wichtig  prostituiret  würden «.  Ehe  aber  dieser  Scherz  uns  vorgeführt 
wird,  completiert  sich  die  Familie,  der  älteste  Sohn  Schelmuffsky 
kommt  in  zerrissenem  Reiserocke  aus  der  Fremde  zurück.  Er  affec- 
tiert,  als  habe  er  die  Muttersprache  verlernt.  Statt  »Der  Teufel  hole 
mich«  sagt  er  mit  englischem  Accent  »Der  Tebel  hol  mertc,  statt 
»Baumöl«  mit  französischem  »Bomolle,  Bomolie«  (d.  i.  Bomolje).  Der 
erste   Keim   der   späteren  »Reisebeschreibung«   liegt  bereits   in   den 

Worten,  mit  denen  er  auftritt: 

Der  Tebel  bohlmer,  wie  froh  bin  ich,  daß  ich  Plißine  wieder  zu  sehen 
bekomme;  ich  hätte  mirs  nicht  eingebildet,  daß  ich  sobald  aus  der  Fremde 
wieder  kommen  solte.  Es  ist  mir  auf  meiner  Reise,  der  Tebel  hohlmer, 
sehr  unglücklich  gegangen,  in  Schweden  brach  ich  ein  Bein,  in  Holland 
lag  ich  4.  gantzer  Jahr  kranck,  in  .Engelland  hatte  ich  kein  Geld,  und  als 
ich  wolle  nach  Spanien  segeln,  gerieth  ich  den  Frantzöischen  Gaper-Schiffen 
in  die  Hände,  alwo  ich  ein  gantz  halb  Jahr  habe  müssen  gefangen  sitzen, 
und  auf  der  harten  Erden  geschlaffen.    Der  Tebel  holmer,  wenn  mir  meine 

^j   Hier  kommt  noch  eine  Anspielung,  die  im  Manuscript  (wahrscheinlich  von 
anderer  Hand)   nachgetragen  ist,   und  die  durch  das  Stück  selber  nicht  erklärt  wird : 

Fidele  (lies  Edward) :  Aber  gedachte  sie  nichts  weiter? 

Fidele :  Ich  gab  aufT  alles  so  eigentlich  nicht  achtung.  Doch  wo  mir  recht  ist, 
so  erwehnete  sie  auch  etwas  von  Tauben. 

Edw. :  Was  denn  von  Tauben? 

Fidele:  Wie  gesagt,  ich  observirte  die  Albertäten  nicht  einmal  alle. 

Edw.:  Ach,  itzt  besinne  ich  mich,  der  Handel  fällt  mir  bey;  warte  nur,  ich 
will  Dich  Tauben,  Du  alte  Schachtel  Du. 

Die  Schilderung  der  Müllerischen  Familie  im  zweiten  Theil  des  Schelmuffsky  (s.  u.) 
zeigt,  dass  wir  es  hier  offenbar  mit  einer  Anspielung  auf  wirklich  Vorgekommenes 
zu  thun  haben ;  aber  ausreichend  klar  wird  sie  doch  nicht.  Im  Stück  wird  durch 
ihre  Erwähnung  seitens  der  Schlampampe  dem  Fass  der  Boden  ausgeschlagen. 
Vielleicht  war  die  Leipziger  Sludentenwelt  damals  ausreichend  unterrichtet;  viel- 
leicht wären  auch  wir  es,   wenn  sich  die  Universitätsacten  erhalten  hätten. 


37]  Christian  Reuter.  491 

Frau  Mutter  kein  Geld  geschickt,  ich  wäre  noch  nicht  wieder  loß.  Nun 
will  ich  auch,  der  Tebel  hohlmer,  nicht  mehr  reisen,  sondern  bey  meiner 
Frau  Mutter  bleiben  und  die  Zeit  weil  ich  lebe  mit  faulen  Tagen  zu- 
bringen. 

Er  klopft  an,  die  Köchin  erscheint,  hält  ihn  für  einen  Bettler: 
»Helf  euch  Gott,  ich  kan  euch  nichts  geben,  ihr  seyd  ein  junger 
starcker  Flegel,  ihr  könnet  wohl  arbeiten«,  und  sie  geht  wieder 
hinein.    Nicht  anders  geht  es  der  Mutter,  als  diese  auf  wiederholtes  ^^^ 

Anpochen  erscheint:  »Ihr  Leute,  wenü  man  allen  wolle  geben;  es 
sind  ihrer  heute  wohl  hundert  schon  da  gewesen.  Ihr  müsset  zum 
Allmosen  Herrn  gehn«.  Dann  aber  erfolgt  die  Erkennungsscene,  die 
Mutter  fällt  ihm  gutmüthig  um  den  Hals,  Schelmuffsky  aber  hat  gleich 
materielle  Begehren :  »Frau  Mutter,  was  hat  sie  denn  guts  zum  Besten?« 
Es  soll  ihm  gewährt  werden,  ein  schöner  Karpfen  soll  gesotten  wer- 
den.    Dazu  begiebt  man  sich  ins  Haus. 

Die  beiden  Handlungen  unseres  Stückes,  die  eine,  welche  es 
mit  den  Töchtern,  und  die  andere,  welche  es  mit  Schelmuffsky  zu 
thun  hat,  bieten  sehr  verschiedene  Chronologie.  Für  diese  werden 
eigentlich  so  viel  Tage  wie  für  jene  Stunden  beansprucht.  Dennoch 
ist  es  offenbar  noch  nicht  die  Absicht  des  Dichters,  wie  sie  dann 
im  zweiten  Theil  der  Reisebeschreibung  hervortritt,  die  ganze  Reise 
für  eine  Aufschneiderei  zu  erklären:  die  Monologe  des  Boten  wie 
Schelmuffsky's  legen  dafür  Zeugniss  ab,  denen  gegenüber  auch  die 
Worte  des  kleinen  Däfftle  nicht  ins  Gewicht  fallen  dürfen,  wenn  er 
später  den  Renommagen  des  Bruders  gegenüber  die  Bemerkung  wagt, 
er  glaube,  er  habe  nie  ein  Schiff  gesehen. 

Nun  tritt  der  Rückschlag  ein,  die  Kehrseite  des  Stückes;  der 
Racheplan  der  Studenten  wird  ins  Werk  gesetzt.  Er  besteht  darin, 
dass  sie  zwei  Hüpeljungen  (Brezelverkäufer),  also  Gassenläufer  der 
untersten  Sorte,  als  Edelleute  verkleiden,  mit  Degen  und  Federbarett 
versehen,  ein  wenig  auf  die  adlichen  Manieren  einüben,  und  so  die 
hoch  hinaus  wollenden  Töchter  aufs  Glatteis  führen,  richtiger,  auf 
die  Probe  stellen,  denn  wir  dürfen,  um  diesen  Scherz  richtig  zu 
beurtheilen  und  nicht  einfach  für  eine  Rüpelei  zu  erklären,  nicht  un- 
beachtet lassen,  dass  er  ja  nur  geUngen  konnte,  wenn  wirklich  die 
Prätensionen  der  Töchter  völlig  unberechtigte  waren,  wenn  sie  näm- 
lich nicht  im  Stande  waren,   die  eingelernten  Manieren  der  Gassen- 


f 


492  Friedrich  Zarncke,  [^^ 

jungen  von  wirklich  adlichem  Benehmen  zu  unterscheiden.  Der  eine 
der  Jungen,  Lepsch,  stellt  den  Baron  von  Hupelshausen,  der  andere, 
Fleck,  den  Herrn  auf  Schreiban  und  Leschaus  (termini  der  Wirlhs- 
stube)  vor^).  Die  Verkleideten  sprechen  in  dem  Gasthause  der 
Schlampampe  um  Quartier  vor,  ihre  Kutschen  und  Pferde  würden 
gleich  nachkommen.  Die  Familie  ist  gerade  bei  Tische,  um  den 
Karpfen  zu  verzehren.  Hier  wird  uns  zunächst  noch  Gelegenheit 
gegeben,  durch  den  unfeinen  Ton,  der  hier  herrscht,  abermals  an- 
gewidert zu  werden.  Die  Töchter,  die  in  den  neuen  rolhen  Damast- 
gewändern  prangen,  versichern,  nur  Herren  von  Adel  heirathen  zu 
wollen,  und  verlangen  nun  auch  Kutsche  und  Pferde.  Schelmuffsky 
unterstutzt  das:  »Der  Tebelhohlmer,  Frau  Mutter,  hat  sie  nun  so  viel 
auff  die  Mädgen  gcwand,  so  kan  sie  ihnen  ja  wohl  eine  elende 
Kutsche  und  Pferde  halten.«  Als  die  Mutter  Schwierigkeiten  macht, 
platzt  wieder  Alles  aufeinander,  und  die  Mutter  schimpft  auf  den 
eben  angekommenen  Sohn:  »0  Du  lausigter  Hund,  ich  wolte,  daß 
ich  Dich  nur  unter  den  Frantzosen  hätte  verzappeln  lassen.«  Der 
Aerger  steigert  sich  noch,  als  der  naseweise  junge  Däflftle,  das 
»Hätschelchen«  der  Mutter,  sich  dieser  annimmt  und  dem  Bruder 
respectswidrig  und  an  der  Wahrheit  seiner  Aufschneidereien  zwei- 
felnd begegnet.  Als  SchelmuflFsky  ihm  schliesslich  eine  »Presche« 
giebt,  flucht  sie  über  ihn:  möchten  ihn  doch  die  Läuse  aufgefressen 
haben,  möchten  doch  die  Götter  sie  von  dem  bösen  Menschen  be- 
freien. Aber  Pack  schlägt  sich.  Pack  verträgt  sich,  und  als  der 
Karpfen  aufgetragen  wird,  ist  Alles  wieder  vergessen.  Man  lauscht 
den  Lügen  des  Schelmuffsky,  gegen  die  nur  der  kleine  Däfftle  sich 
wieder  spöttisch  kritisierend  verhält.  Eben  ist  er  in  Gefahr,  eine 
zweite  Presche  zu  bekommen,  da  klopft  es,  die  beiden  Edelleute 
werden  von  der  athemlos  herbeistürzenden  Magd  angemeldet. 


^)  Merkwürdig,  dass  eine  ganz  ähaiiche  Verkleidungsgescbichle  in  Chr.  Weise's 
Verfolgtem  Lateiner  vorkommt.  Hier  verkleiden  die  beiden  Studenten  Balduin  und 
Donat  zwei  Feuermauerkehrer,  Hasenfuss  und  Ziegenbein,  als  Grafen,  mit  denen 
dann  die  beiden  Bauerntöchter,  die  den  Studenten  einen  Korb  gegeben  hatten, 
sich  verloben.  Die  Studenten  zwingen  sie  dann,  das  Grafenhabit  abzulegen.  Da 
die  Vorrede  zu  der  Ausgabe  vom  28.  December  1695  datiert  ist,  so  kann  man 
schwerlich  umhin,  hierin  eine  Einwirkung  der  Reuter' sehen  Gomödie  zu  erblicken. 
Bei  Weise  ist  der  komische  EtTect  gesteigert,  indem  der  eine  der  Essenkehrer  alle 
Augenblicke  in  Gefahr  geräth  aus  der  Rolle  zu  fallen. 


39]  Christian  Reuter.  493 

Nun  entwickelt  sich  eine  ergötzliche  Scene,  die  beiden  Hüpel- 
burschen,  die  die  Edelleute  spielen  sollen,  auf  der  einen  Seite,  die 
beiden  Mädchen,  die  die  Galanten  zu  spielen  sich  bemühen,  auf  der 
anderen,  natürlich  unfeinste  Verstösse  hüben  und  drüben.  Daneben 
die  grob  ordinäre  Mutter  und  der  dummaufschneidende  Schelinuffsky. 
Als  abgeräumt  ist,  werden  Musikanten  geholt,  ein  Tanz  aufgespielt, 
selbst  die  alte  Schlampampe  nimmt  an  ihm  Theil.  Es  ist  nur  ein 
deutscher,  da  die  Hüpeljungen  sich  natürlich  französische  und  andere 
ausländische  verbitten  müssen.  Auch  wird  der  Tanz  gewiss  absicht- 
lich recht  hüpelmässig  ausgeführt  worden  sein;  wenigstens  in  der 
später  zu  erwähnenden  Opera  figuriert  er  unter  den  komischen 
Ballets  als  » Plißinischer  Hüpel- Jungen- Tantz«.  Da  plötzlich  treten 
Edward  und  Fidele  herein  und  brechen  in  lautes  Gelächter  aus.  Die 
beiden  Mädchen,  ganz  berauscht  von  der  gemeinten  Erfüllung  ihrer 
höchsten  Wünsche,  zeigen  mehr  als  je  ihre  Verachtung  gegen  ihre 
Hauseinwohner.  Charlotte  sagt  zu  ihrem  Herrn  Baron:  »Herr  Baron, 
er  weise  doch  solchen  geringen  Kerlen  nur  die  Wege!«  Und  als 
Edward  und  Fidele  sich  erbieten  mitzutanzen,  antwortet  sie  höhnisch : 
» Man  nähme  sich  die  Mühe,  und  machte  sich  mit  solchen  Kerlen  so 
gemeine!«  Da  ist  ihr  Mass  voll,  die  Studenten  lassen  die  Maske 
fallen  und  präsentieren  sich  als  die  Herren  der  Herren  Barone:  »Fort, 
ausgezogen!  damit  sie  sehen,  daß  ihr  Hüpel-Jungen  seyd.«  Nun  na- 
türlich Verwirrung,  Zorn,  bittere  Vorwürfe.  Da  treten  Fidele  und 
Edward  mit  der  moralischen  Nutzanwendung  heraus: 

Fidele:  Hört,  Frauenzimmer^),  hieltet  ihr  euch  euren  Stande  gemäß, 
wäret  von  keiner  Einbildung  und  ließet  ehrliche  Bursche  ungetadelt,  ieder- 
man  würde  euch  auffs  höfflichste  begegnen. 

Edward:  Der  verfluchte  Hochmuth  wird  euch  noch  in  das  euserste 
Verderben  stUrtzen. 

Humor  und  Satire  werden  noch  einmal  aufgenommen,   als  nun 
die  Musikanten  bezahlt  sein  wollen,  und  der  Herr  Baron,  auf  dessen 


^)  Das  war  damals  eine  sehr  höfliche  Anredeform.  So  begrüsst  Charlotte  die 
Melinde  mit  den  Worten:  nihre  Dienerin,  Frauenzimmer«,  und  in  der  Oper  (s.  u.) 
erzählt  der  Bote  Laux  von  den  Töchtern  u.  A. :  )>So  neigten  sie  sich  immer,  und 
hiessen  nur  einander  Frauenzimmer«.  So  viel  zur  Ergänzung  des  Deutschen 
Wörterb.   4,    1,    86. 


494  Friedrich  Zarncke,  [^0 

Wunsch  sie  geholt  worden  sind,  mittlerweile  zu  einem  Hupel-Jungeo 
geworden  ist:  natürlich  zahlen  schliesslich  die  Studenten.  Alexan- 
driner machen  den  Schluss:  die  Töchter  bleiben  bei  ihrem  Zorn,  bei 
Drohungen   und   Verwünschungen.     Die    Studenten    wiederholen    die 

Moral  : 

Fidele:      Lebt  ihr  fein  ehrbar  nur,  und  bleibt  in  euren  Stande, 
Legt  allen  Hochmuth  ab  und  nehmt  die  Demuth  an, 

Edward:   So  lobt  euch  iederman  hier  an  Plissinens  Strande 

Und  bleibt  euch  alle  Welt  mit  Freundschafll  zugethan. 

Däfftle  und  die  Mutter  sprechen  den  beruhigenden  Schlussaccord : 

DüfFtle:        Frau  Mutter,  lasse  sie  uns  nur  zu  Bette  gehen,. 
Und  nehmet  diesen  Spaß  nur  nicht  so  gar  genau. 

Schlamp.:  So  kommt,  ihr  Kinder,  fori.    Was  wollen  wir  hier  stehen*? 
Ihr  bleibt  doch,  wer  ihr  seyd,  und  ich  die  ehrlche  Frau>). 

Man  sieht,  das  ist  eine  Comödie  ganz  in  Molierischer  Manier, 
ganz  nach  Molierischem  Zuschnitt.  Hier  hat  offenbar  noch  speciell 
eingewirkt  diejenige  Comödie  Moliere's,  die  eine  ganz  gleiche  Ten- 
denz verfolgt,  Le  bourgeois  gentilhomme ;  wie  bei  dieser  macht  auch 
in  unserer  eine  Maskerade  den  Schlusseffect  aus,  man  muss  sagen 
bei  Reuter  den  Anforderungen  der  Wahrscheinlichkeit  entsprechender 
als  bei  Moliere. 

Uebrigens  verräth  sich  Reuter's  Werk  als  die  Arbeit  eines  An- 
föngers.  Die  einfache  Düpierung  zweier  jungen  Mädchen,  wenn  sie 
eine  solche  auch  reichlich  verdient  haben  und  man  hoffen  darf,  sie 
werde  ihnen  nützlich  sein,  ist  doch  nicht  bedeutend  genug,  um  die 
eigentliche  Handlung,  das  eigentliche  Hauptinteresse  eines  Dramas 
ausmachen  zu  können.  Es  hätte,  wie  das  bei  Moliere  stets  der  Fall 
ist,  noch  eine  andere  Handlung  als  die  eigentlich  positive  hinzutreten 
müssen.  Anfangs  glaubt  man  auch,  dass  es  des  Dichters  Absicht 
sei,  indem  er  das  Liebesverhältniss  des  Edward  mit  Melinden  ein- 
führt. Wäre  dies  etwa  gestört  worden  durch  den  Hochmuth  der 
beiden  Mädchen  und  mit  der  Demüthigung  dieser  zum  Ziele  gelangt, 
so  würde  das  Stück  befriedigender  ausgefallen  sein.    Die  Scene,  die 


^)  Die  äussere  Einrichtung  der  Bühue  ist  dieselbe,  wie  sie  auch  in  den  Chr. 
Weise'schen  Stücke  vorausgesetzt  wird.  Die  Hauptdecoration  stellt  den  eigentlichen 
»Schauplatz«  dar.  In  der  Mitte  der  Hinterwand  ist  die  Möglichkeit  angebracht, 
einen  »Prospect«  zu  entrollen,  der  Zimmer  im  Innern  des  Hauses,  eine  Grabcapelle 
u.  ä.   vorzuführen  gestattet. 


41]  Christian  Reuter.  495 

jetzt  zwischen  den  beiden  Liebenden  spielt,  erscheint  überflüssig,  sie 
hatte  auch  durch  eine  Erzählung  ihres  Inhaltes  ersetzt  werden  können. 
Und  dann,  wie  eng  und  beschränkt  ist  der  Umkreis  und  die 
Lebensanschauung  des  Verfassers.  Wie  ganz  anders  bei  Moliere,  der 
in  der  Hauptstadt  Frankreichs  alle  Stände  überblickte  und  ihre  Eigen- 
heiten beobachtete,  der  dem  Hofe  und  den  vornehmsten  Kreisen  der 
hauptstädtischen  Intelligenz  die  ersten  Inscenierungen  seiner  Dramen 
vorzuführen  hatte.  Die  Lebensanschauung  und  der  Horizont  Reuter's 
ist  doch  nur  der  des  Studenten,  und  so  auch  das  Interesse,  für  wel- 
ches er  geschrieben  hat,  wie  er  denn  ja  auch  mit  richtigem  Gefühle 
sein  Opus  den  Studenten  widmete.  Es  ist  jene  Auffassung  des  sou- 
veränen Studententhums,  das  erst  in  den  letzten  Decennien  zu  schwin- 
den begonnen  hat,  das  in  früheren  Zeiten  so  sehr  geneigt  war,  allen 
Vorkommnissen  der  menschlichen  Gesellschaft  gegenüber  die  Rolle 
des  Sittencensors ,  gleichsam  des  Chors  in  der  Tragödie  zu  spielen, 
eine  Anmassung,  die,  oft  in  ganz  ungebührlichen  Formen  hervor- 
tretend, nur  dadurch  erträglich  blieb,  dass  es  in  der  That  kaum 
einen  anderen  Kreis  giebt,  in  welchem  die  allgemeinen  Gedanken 
der  Moral  so  ungehemmt  durch  Schranken  der  äusserlichen  Verhält- 
nisse zum  Ausdruck  gelangen  können,  wie  in  der  Studentenwelt. 
Und  im  vorliegenden  Falle  durfte  die  Studentenschaft  allerdings  das 
moralische  Urtheil  um  so  eher  darzustellen  berufen  erscheinen,  als 
dieselbe  ja  von  je  her  den  Unterschied  der  Standes-  und  Vermögens- 
verhältnisse für  nichtssagend  erklärt  und  selbst  zu  solchen  Zeiten, 
wo  jene  allgewaltig  herrschten,  verachtet  hat.  »Es  läßt  sich  doch«, 
sagt  Reuter  in  einem  späteren  Stücke,  »kein  Studente  verachten. 
Und  wenn  er  gleich  kein  Hembde  auf  dem  Leibe  hätte,  so  will  er 
doch  so  wohl  respectiret  seyn  als  der  vornehmste  Stutzer.«  Aber 
der  Ausdruck  dieses  Selbstgefühls  bleibt  doch  immer  ein  einseitiger 
und  beschränkter*). 


'j  Chr.  Weise  schildert  uns  dies  studentisclie  Wesen  seiner  Zeit  im  Politischen 
Academicus  (4  684)  S.  16:  »Und  man  bedencke  doch  nur,  wie  irresonabel  die 
Studenten  ihre  Sachen  anfangen.  Ihnen  soll  alles  frey  stehen,  sie  wollen  des  Nachts 
durch  die  Gassen  schwermen ;  wer  ihnen  mißfallet,  der  soll  sich  auf  hunderterley 
Art  schimpffen  lassen.  Hingegen  aber,  wenn  jemand  anders  wider  die  Studenten 
ein  zweifTelhaftig  Wort  entfahren  last;  da  wacht  die  Pursch-Manier  auf,  da  will 
man  Häußer  und  UäschcrlÖchcr  stürmen,   und  wenn  man  den  gantzen  Plunder  beyni 


f 


496  Friedrich  Zarncke,  [42 

Haben  wir  aber  diese  beiden  Beschränkungen  zugegeben,  so 
können  wir  dem  Werke  volles  Lob  ertheilen.  Eine  so  flotte  Dar- 
stellung, eine  so  frische,  nur  dem  Gesammtinteresse  dienende  Folge 
der  Scenen,  eine  so  treffende  Charakteristik  hatte  bis  dahin  ein  deut- 
sches Originallustspiel  noch  nicht  aufgewiesen.  Reuter  übertrifft  darin 
den  Schuldramatiker  Christian  Weise  weitaus.  Nichts  ist  bei  ihm 
zusammengerechnet;  seine  Personen  sind,  wie  sie  es  denn  ja  auch 
wirklich  waren,  wie  aus  dem  Leben  gegriffen:  eine  jede  spricht  ihre 
eigene  charakteristische  Sprache,  man  wird  an  Goethe's  Gestallen 
im  Götz,  im  Egmont  erinnert.  Der  Dichter  bekundet  ein  unleug- 
bares Talent  für  die  Comödie. 


3.  Harlekins  Uochzeits-  und  Kindbetterin-Schmaus,  zwei  Singe-Spiele. 

Gleich  bei  der  ersten  Erwähnung,  die  Reuter  von  der  Comödie 
gegen  Bahr  that,  schon  Ende  Juli  1695,  gedachte  er  auch  eines  dazu 
gehörigen  Nachspiels.  Possenhafte  Naclispiele  galten  damals,  nicht 
bloss  hinter  Tragödien,  sondern  gerade  auch  hinter  Comödien  für 
nothwendig.  Statt  des  einen  finden  wir  nun  zwei,  die  freilich  eng 
zusammen  gehören.  In  Betreff  der  Verfasserschaft  könnten  sich  Zwei- 
fel regen,  Reuter  sagt  ja  nicht  ausdrücklich,  dass  er  auch  der  Verfasser 
sei.  Aber  bei  dem  zweiten  nennt  sich  der  Verfasser  wie  bei  der 
Comödie  »Hilarius«,  und  in  einer  Strophe  wird  auf  die  »ehrliche  Frau« 
Bezug  genommen.  Das  uns  erhaltene  Originalmanuscript  zeigt  freilich 
in  der  Hauptsache  einen  anderen  Ductus  als  das  Manuscript  der 
Comödie,  aber  hie  und  da  tritt  auch  in  ihm  Reuter's  Hand  ganz 
deutlich  hervor,  und  unmöglich  ist  es  keineswegs,  dass  Alles  von 
seiner  Hand  herrührt.  Jedesfalls  ist  es  nicht  die  Hand  seines  Freundes 
Grel.  Es  ist  daher  an  Reuter's  Autorschaft  gewiss  nicht  zu  zweifeln. 
Anders  könnte  es  mit  dem  ersten  Nachspiel  zu  stehen  scheinen.  Von 
ihm  haben  wir  das  Manuscript  nicht,  und  der  Titel  nennt  nicht  den 
Namen  Hilarius;  auch  ist  es  in  Entr6es  getheilt,  während  das  zweite  in 
Acte  und  Scenen  zerfäillt.  Aber  dass  das  Manuscript  vorhanden  war 
(nicht  etwa  ein  schon  gedrucktes  Werk  nur  mit  aufgenommen  ward) 


lichteQ  besiehet,  so  hat  man  selbst  die  meiste  Ursach  dazu  gegeben,   und  der  ganlze 
Handel  ist  nicht  werth,  daß  man  deswegen  zum  Fenster  hinaus  sieht,  a 


\ 


43]  Christian  Reuter.  497 

und  dass  es  nur  zusammen  mit  dem  des  dritten  Actes  der  Comödie  ab- 
handen gekommen  ist,  geht  wohl  sicher  aus  den  beim  zweiten  Nach- 
spiele vorhandenen  Satzzeichen  (s.  u.  die  Bibliographie)  hervor;  der 
Name  Uilarius  konnte  leicht  aus  dem  Grunde  fortgelassen  werden, 
weil  die  Personenzahl  eine  so  grosse  war,  dass  für  ihn  auf  dem 
Titel  kein  Platz  blieb;  es  ist  endlich  wohl  denkbar,  dass  Reuter  auch 
im  Nachspiel  von  der  Eintheilung  in  Entr^es  zu  der  in  Acte  und 
Scenen  überging,  zumal,  wenn  er  etwa  das  erste  Nachspiel  schon 
vor  der  Comödie  gedichtet  hat.  Auch  eine  kleine  sachliche  Differenz 
möchte  ich  nicht  hoch  anschlagen:  im  ersten  Nachspiel  äussert  Har- 
lekin vor  der  Hochzeit  den  grössten  Abscheu  vor  der  ihm  gegen 
seine  Neigung  angetrauten  Ursel,  im  zweiten  kommt  diese  zu  früh 
in  die  Wochen  und  Harlekin  muss  Strafe  zahlen,  weil  er  sich  vor 
der  Trauung  mit  ihr  eingelassen  habe  ^) .  Beide  Male  aber  steht  der 
Dichter  unter  den  Bedingungen  des  Effectes  und  kann  sich  so  füg- 
lich über  diese  kleine  Differenz  hinweggesetzt  haben.  So  lange  also 
nicht  bedeutendere  Gründe  *  zum  Zweifel  geltend  gemacht  werden, 
dürfen  wir  Reuter  als  den  Verfasser  beider  Nachspiele  annehmen, 
die  auch  in  der  Form  wie  im  ganzen  Tone  denselben  Ursprung  ver- 
rat hen. 

a.   Harlekins  Hochzeitschmaus. 

Das  Stück  besteht  seiner  Bezifferung  nach  aus  1 7  Entröes,  wirk- 
lich aber  nur  aus  16,  weil  bei  der  Zählung  IV  übersprungen  ist. 
Es  kennt  nur  Sl  Strophenarten,  die  folgendes  Schema  haben: 


I)  ^6a 
^6a 

Alexandriner 

II)  ->4a 
^3b^ 

für  ^  4  a  auch 

> 

trochäisch  4  a 

4  b 

ausnahmsweise  auch 

^4  a 

4  b 

iambisch 

^3b-^ 

^c^ 

4c 

^c^ 

4c 

^3a 

^d^, 

dreimal  wiederholt. 

^)  Auch  sonst  kommt  es  uoserm  Dichter  auf  so  kleine  Differenzen  nicht  an. 
So  wird  in  »der  ehrlichen  Frau  Krankheit  und  Tod«  von  Schelmuffsky  gesagt,  der 
Hausknecht  habe  ihn  bei  seiner  ersten  Heimkehr  für  einen  Bettler  gehalten,  wäh- 
rend es  die  Köchin  war,  da  ja  in  der  »ehrlichen  Frau«  ein  Hausknecht  gar  nicht 
vorkommt.  Auch  erzählt  im  Anfange  der  zweiten  Comödie  die  Schlampampe  die 
Geschichte    von  den  Hüpeljungen  und  dabei,    was  Alles  Schelmuffsky  zum  Besten 


f 


498  Friedrich  Zarngke,  \S^ 

Der  letzte  Vers  von  I  hört  mit  Entr.  VIII  Str.  3  auf  zu  reimen, 
so  dass  die  dann  hie  und  da  noch  vorkommenden  Reime  wohl  nur 
zufällige  sind.  Der  fünfte  und  sechste  Vers  erscheinen  gleich  zu  An- 
fang zweimal  in  abweichender  Gestalt;  die  letzte  Silbe  ist  hier  das 
eine  Mal  oder  beide  Male  ein  selbstständiges  Wort  und  da  reimt  die 
Hebung  nicht  mit:  »Als  hoff  ich,  Du  wirst  mich«,  und  »Er  liebt  Dich 
recht  herzlich«.  —  Der  'erste  Vers  in  II  hat  in  den  ersten  beiden 
Strophen  seines  Vorkommens  nur  3  Hebungen,  später  stets  4;  der 
letzte  Vers  besteht  nur  einmal,  Entr.  XII  Str.  3,  aus  drei  verschie- 
denen Worten  (Ihr  Häscher,  ihr  Schelme,  ihr  Diebe),  sonst  wird  stets 
dasselbe  Wort  wiederholt.  —  Ausser  diesen  beiden  Strophen  kommt 
noch  in  Entr.  X  eine  Ständchen-Aria,  und  in  Entr.  XVII  ein  Hoch- 
zeitsgesang vor. 

Von  den  beiden  Strophenarten,  von  denen  stets  mehrere  Stro- 
phen derselben  Art  auf  einander  folgen,  ist  die  erste  überwiegend 
in  Gebrauch,  die  zweite  nur  dreimal,  in  Entr.  III — V  (bekanntlich 
fehlt  IV)  7  Strophen,  in  Entr.  IX  4  Str.  und  in  Entr.  XH  4  Str. 
Es  kommen  also  nur  15  Strophen  in  diesem  Tone  vor,  während  der 
erste  durch  64  Strophen  vertreten  ist.  Dieselbe  Strophe  wird  häufig 
unter  verschiedene  Personen  vertheilt,  sogar  dieselbe  Zeile  unter  zwei, 
ja  drei.     Von  beiden  Tönen  möge  ein  Beispiel  hier  Platz  finden: 

I.  Du  liebes  werthes  Kind,  vernimm  itzt,  was  ich  Dir 
Aus  wahrer  Vater  Treu  und  Liebe  bringe  für. 
Meine  Kräfte  nehmen  ab, 
Auf  mich  wartet  schon  das  Grab. 
Die  Augen 
Nichts  taugen, 
Noch  Alles  was  an  mir. 

II.  Du  Flegel,  darffstu  Dich  mein  Kind 
zu  schmähen  unterstehen? 
Erzbengel,  lauffe  nur  geschwind, 
sonst  solstu  blutig  gehen. 

Sie  ist  vor  Dich  viel  zu  gut, 
Du  verlauflFner  FünfTzehn-Hut, 
Haluncke  etc.   :/:   :/: 


gegeben  habe.  Darunter  ist  aber  Mehreres,  das  zwar  in  der  Reisebeschreibufig 
stellt^  nicht  aber  in  der  ersten  Gomödie,  geschweige  in  der  Scene  mit  den  ver- 
kleideten Hüpeljungen.     Zur  Oper  stimmt  es  besser,  aber  auch  nicht  ganz. 


*ö]  Christian  Rbuter.  499 

Der  Inhalt  dieses  Stückes,  das  dem  damaligen  Geschmack  ge- 
mäss mit  manchen  Unfläthereien  gespickt  ist,  ist  der  folgende: 

»Harlequin«  liebt  die  hübsche  Lisette,  die  aber  von  ihrem  Vater 
Teneso  dem  reichen  Monsieur  Lavantin  versprochen  ist.  Lisette  ist 
zwar  dem  Harlequin  gut ,  aber  vor  Allem  will  sie  doch  nur  einen 
Mann,  denn  »es  juckt  ihr  die  Haut«,  und  da  Lavantin  sie  ernähren 
kann,  während  dies  von  Harlequin.  mehr  als  zweifelhaft  ist,  so  willigt 
sie  in  des  Vaters  Wünsche  ein.  Harlequin  weiss  es  noch  nicht,  der 
kleine  »Bettschelm«  liegt  ihm  gar  in  seinem  Sinn;  freilich  zu  einer 
tragischen  Stimmung  lässt  er  den  Zuhörer  nicht  kommen,  wenn  er 
droht,  er  wolle  sich,  im  Falle  sie  ihm  nicht  werde,  mit  dem  Beile 
erstechen  u.  ä.  Um  sie  von  seinem  Reichthum  zu  überzeugen,  singt 
er  ihr  das  ganze  Inventarium  seines  Besitzthums  vor:  »ein  blaues 
Hochzeitkleid  mit  rothem  Fleck  geflickt«;  »ein  zinnern  Bruntzgeschirr, 
so  gar  noch  nicht  gebraucht,  das  dienet  mir  und  dir«;  »zwei  Wiegen, 
sechs  Ziegen,  ein  schönes  blindes  Pferd«  und  andere  derartige  schöne 
Dinge.  Man  wird  nicht  recht  klar,  aber  es  ist  doch  wahrscheinlich, 
dass  Lisette  ihn  nur  zum  Besten  hat:  sie  will  mit  ihrem  Vater  spre- 
chen, obwohl  sie  noch  kurz  vorher  die  Stunde  nicht  erwarten  konnte, 
wo  sie  mit  Lavantin  getraut  werden  soll.  Harlequin,  obwohl  auch  er 
schon  vorher  einmal  singt:  »Ich  wette,  Lisette  kriegt  Lavantin  zum 
Mann«,  hofft  doch  noch  das  Beste;  jedesfalls  beschliesst  er,  ihr,  die 
er  zierlich  schmeichelnd  sein  »Raben-Aas«  nennt,  ein  Ständchen  zu 
bringen. 

Aber  in  den  Sternen  steht  es  anders  geschrieben.    Während  er 

selber  der   niedlichen  Lisette  nachläuft,   hat  auf  ihn  die  Ursel,    des 

Besenbinders  Claus  Klumpe  Tochter,  ein  Auge  geworfen,  ein  Abschaum 

aller  Hässlichkeit.     Sie  sucht  ihn  auf,  um  sich  ihm  an  den  Hals  zu 

werfen,   und  da  entspinnt  sich   denn  ein  Liebesduett,   welches  das 

folgende  Thema  variiert: 

Ursel:  Nimm  diesen  Kuß,  mein  Schatz,  von  meinen  Lippen  an. 
Harlequin:  Ich  wolte,  daß  Dir  war  ein  Dreck  ins  Maul  gethan. 

Nachdem  Ursel  vergeblich  geschmeichelt  hat  und  mehr  als  ein  »Pfuy 
Teufel«  über  sich  hat  ergehen  lassen  müssen,  bricht  auch  sie  in 
Schimpfen  aus.  Dazu  kommt  der  Vater,  um  den  wüsten  Spectakcl 
noch  zu  vermehren,  der  dann  in  eine  Prügelei  ausläuft:  »Ursel  schlage 
wacker  drein.  Brich  dem  Schelme  Hals  und  Bein!  Courage  etc.   (Sie 


r 


500  Friedrich  Zarncke,  [46 

fallen  über  einander  und  machen  ein  Gepolter.)«  Der  Richter  mit 
den  Hüschem  bringt  sie  endlich  aus  einander.  Aber  Ursel  ist  ein- 
mal »vom  Kützel  angefochten«;  »der  Dreck  liegt  ihr  doch  so  nahe 
bei  dem  Herzen«,  klagt  ihr  Vater;  »Kriegt  sie  nicht  bald  einen  Mann, 
Thut  sie  selbst  ein  Leid  ihr  an«.  Und  das  Schicksal  ist  ihr  günstig, 
wie  der  Verlauf  zeigt. 

Harlequin  erscheint  mit  Leiter  und  Laterne  vor  Lisettens  Fenster, 
steigt  zu  diesem  empor  und  singt  eine  rechte  Harlekins-Aria  (»Lisette, 
liebster  Rosenstock,  Meins  Herzens  Zucker-Stengel,  Du  meines  Leibes 
Unterrock,  Mein  Schatz  und  Tausendengel«  .  .  .  »Das  Hertz  in  Hosen 
zittert  mir  Aus  lauter  Liebes-Triebe«).  Durch  den  Gesang  aufgeweckt, 
erscheint  Teneso  mit  einem  Jungen.  Sie  ziehen  die  Leiter  weg,  so 
dass  Harlequin  in  der  Luft  an  Lisettens  Fenster  hängt.  Die  Häscher 
werden  gerufen.  Nach  einem  humoristischen  Terzett  wird  Harlequin 
trotz  seiner  Proteste  ins  Loch,  ins  Hunde-Nest,  abgeführt. 

Hier  suchen  ihn  Claus  und  Ursel  auf.  Claus  hat  vom  Richter 
die  Vollmacht  bekommen,  den  Harlequin  aus  dem  Hundeloch  zu  li- 
berieren,  wenn  er  sich  entschliesse,  die  Ursel  zur  Frau  zu  nehmen*). 
Harlequin  seufzt:  »Noth  macht  aus  Kuhdreck  Milch,  mir  geht  es  ebenso. 
Vor  war  sie  mir  ein  Gifft,  itzt  muß  ich  werden  froh.  Daß  mich  dieses 
Murmelthier  Bringet  an  das  Licht  herfür.«  Er  wird  nun  befreit,  Ursel 
möchte  sofort  ins  Ehebett;  man  geht  zum  Richter,  Harlequin  klagt: 
»0  Jammer!  0  Jammer!  Nun  geht  die  Hochzeit  an. «  Die  Scene  beim 
Richter  ist  natürlich  wieder  mit  allerlei  Scherzen  angefüllt,  zu  denen 
die  wirkliche  Tölpelhaftigkeit  des  Claus  und  die  beabsichtigte  des 
Harlequin,  zugleich  auch  der  Gegensatz  zwischen  Ursel's  Begehrlich- 
keit und  Harlequin's  Verzweiflung  den  StoflF  giebt.  Dann  geht  die 
Hochzeit  wirklich  an. 

Der  Hochzeitbitter  ladet  den  Richter  ein,  rühmt  das  Mahl: 

Bey  dem  Wirth  zur  güldnen  LauB, 
Da  wird  seyn  der  Hochzeit-SchmauB. 

Die  Wirthin  steckt  ihr  Schild  heraus,  die  Gäste  stellen  sich  ein,  auch 
Lisette  und  Lavantin,  es  wird  ein  derbes  Hochzeitslied  gesungen, 
man  setzt  sich,  wobei  es  wieder  an  Tölpeleien  der  Bauern  nicht  fehlt. 


*)  Dies  Motiv  konnte  Reuter  Weise's  Triumphierender  Keuschheit  (4  668)   ent- 
nehmen, wo  Pickelh'äring  in  ähnlicher  Weise  mit  der  Melane  verheirathet  wird. 


^7]  Christian  Redter.  501 

Dann  werden  die  Geschenke  gebracht,  ein  neues  Bruntz-Geschirr, 
eine  Wiege,  ein  Reibeisen,  ein  Kamm  etc.  Harlequin  hat  jetzt  seinen 
Kummer  vergessen.  Sie  »sfngen  und  sauffen  ein  Rundacc.  Darauf 
geht  das  Tanzen  an,  zu  welchem  Zwecke  Tische  und  Bänke  Über 
den  Haufen  geworfen  und  weggeschafft  werden.  Der  Hochzeitbitter 
dankt  schhesslich  den  Gästen  im  Namen  des  Bräutigams  und  seiner 
Braut,  sich  zugleich  an  die  Zuschauer  wendend: 

Geht  nun  heim  zu  guter  Nacht, 
Denn  die  Braut  wird  schon  gebracht 

zu  Bette. 

Valete, 
Und  nehmet  so  verlieb. 

Wer  sich  mit  modemer  Prüderie  an  den  zahlreichen  Derbheiten, 
ja  Unsauberkeiten  stösst,  die  uns  hier  geboten  werden,  dem  fehlt 
es  an  geschichtlichem  Verständniss.  Was  uns  in  dieser  Beziehung 
heute  verletzt,  was  heute  kaum  noch  Männer  einander  bieten,  wurde 
damals  ohne  Anstoss  in  den  feinsten  Gesellschaften  von  Damen  und 
Herren,  von  Frauen  und  jungen  Mädchen  belacht.  Dass  aber,  von 
der  Form,  in  die  sich  der  Witz  kleidet,  abgesehen,  die  Charaktere, 
die  Verhältnisse  der  Personen  zu  einander  und  die  Situationen  ko- 
misch wirksame  sind,  wird  man  nicht  leugnen  können,  und  ein  frisches 
packendes  Interesse  wird  gewiss  der  Aufführung  nicht  gefehlt  haben. 

So  ist  denn  dieses  erste  Nachspiel  öfter  gegeben  und  öfter  für 
sich  gedruckt  worden.  In  Augsburg  ward  am  Montag  den  13.  Sept. 
1723  aufgeführt:  Das  lustige  Nachspiel  von  dem  singenden  Arlequin 
und  dessen  lustigen  Hochzeitschmaus  nebst  einem  lustigen  Bauern- 
tanz von  6  Personen^).  In  Hamburg  ward  es  noch  1742 — 44  von 
der  Madame  Schröder,  und  1748 — 50  von  Kuniger  gegeben  (»Harle- 
kins singender  Hochzeitschmaus,  die  alte  Singposse«;  »Arlequins 
lächerlich  singender  Hochzeitsschmaus,  wo  freilich  nicht  der  Schmaus, 
sondern  die  Hochzeitgäste  sangen«)^).  Das  Publicum  verlangte  das 
Stück  zu  sehen.  Auch  mit  Marionetten  ward  es  gegeben.  Gottsched 
sagt  in  der  4.  Auflage  des  Versuches  einer  kritischen  Dichtkunst 
(vom   Jahre    1751),    S.  756:    So   ist  z.  E.  des   Harlekins   singender 


^j   Opel,   der  Kampf  der  Universität  Halle  gegen  das  Theater,   in  den  Blättern 
für  Handel,  Gewerbe  etc.    (Beiblatt  zur  Magdeburger  Zeitung)    4  884   Nr.  24. 
2)   J.   F.   Schütze,   Hamburgische  Theatergeschichte  S.  266  und  86. 


f 


502  Friedrich  Zarngke,  [48 

Hochzeitschmaus,  den  wir  einzeln  vielmal  gedruckt  haben,  und  den 
ich  noch  selbst  habe  singend  auffuhren  sehen  .  .  .a 

Gottsched's  Worte  sind  auch  dadurch  für  unser  Stück  von 
Wichtigkeit,  weil  sie  demselben  eine  historische  Bedeutung  zuweisen. 
Die  Stelle  lautet  im  Zusammenhange :  »Deutschland  hat  also  die  Ehre, 
dass  in  Nürnberg  zuerst  die  Kunst  erfunden  und  ausgebeutet  worden, 
ganze  musicalische  Vorstellungen  auf  der  Bühne  zu  sehen.  Und  ob 
sie  gleich  durchgehends  nach  6iner  Melodie  gesungen  worden,  wie 
andere  Lieder:  so  thut  dies  Nichts  zur  Sache.  Denn  wer  weiss,  wie 
die  erste  wälsche  Oper  ausgesehen  hat?  Alle  Dinge  sind  im  Anfange 
schlecht  und  einfach:  allmählich  geht  man  weiter.  So  ist  z.  E.  des 
Harlekins  singender  Hochzeitschmaus  ....  schon  etwas  künstlicher, 
weil  er  aus  zweyerley  Strophen  besteht  und  nach  zweyerley  Melo- 
dien gesungen  wird.«  Gottsched  stellt  hier  die  Einrichtung  unseres 
Nachspiels  den  Singespielen  des  Jacob  Ayrer  gegenüber,  nicht  den 
grossen  durchcomponierten  Opern,  wie  solche  bereits  seit  Opitzens 
Daphne  1 627  auch  in  Deutschland  gang  und  gäbe  waren.  Ich  muss 
es  hier  unentschieden  lassen,  wie  lange  noch  jene  eintönigen  Sing- 
spiele sich  erhalten  haben,  in  deren  Kreis  der  Gattung  nach  unser 
Nachspiel  gehört,  und  ob  dieses  wirklich  zuerst  eine  Vermannig- 
faltigung  der  Form  eingeführt  hat. 

Nicht  zum  wenigsten  Bedeutung  kommt  unserem  Nachspiele  zu, 
weil  durch  dasselbe  Goethe  veranlasst  wurde  zum  Entwurf  seines 
mikrokosmischen  Dramas:  »Hanswurst  Hochzeit  oder  der  Lauf  der 
Welt«.  Goethe  nennt  sein  Vorbild,  also  unser  Drama,  »ein  älteres 
deutsches  Puppen-  und  Budenspiel«.  Hierüber  hat  eingehend  und 
überzeugend  gehandelt  Reinh.  Köhler  in  der  Zeitschr.  f.  D.  A.  XX, 
S.  1 1 9  fg.  Er  hat  auch  schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  der 
Name  der  Braut  »Ursel«  und  zwei  vollständige  Verse,  die  oben  an- 
geführten: »Bey  dem  Wirth  zur  güldnen  Lauß,  Da  wird  seyn  der 
Hochzeit-Schmauß«^)  aus  unserem  Gedichte  in  Goethe's  Entwurf  über- 
gegangen sind. 

^)  Eine  spätere  Verwendung  dieser  Firma  (bei  Kiirz-Bernardon,  also  um  die 
Mitte  des  <8.  Jahrh.)  bat  E.  Scbmidt  nacbgcwiesen  in  der  Zeitscbr.  f.  D.  A.  XXV, 
S.  %K\.  Reuter  entnahm  sie  von  Chr.  Weise,  der  schon  in  den  3  Erznarren  (bei 
Braune,  Neudrucke  KtJKh,  S.  4  87)  schreibt:  »Im  Gasthoffe  zur  güldenen  Lauß  ist 
ein  Fuhrmann  Karsten  Frantze,   der  kan«  etc. 


^^]  Christian  Reuter.  503 


b.   Harlekins  Kindbetterinschmaus. 

Hier  ist  schon  durch  den  Namen  Hilarius  die  Autorschaft  Reuter's 
gesichert,  und  die  Bedenken,  die  beim  Anblick  der  Züge  des  Original- 
manuscripts auftauchen  möchten  (s.  o.),  können  daneben  nicht  be- 
stehen. Auch  findet  sich  hier  eine  Anspielung  auf  die  Comödie; 
Ursel  singt  (Act  UI,  Sc.  1): 

Wer  noch  kein  Wochen-Bett  hat  auf  der  Welt  gesehn, 
Der  stehet  allhier  eins  auff  dieser  Stelle  stehn. 
B^trachtt  es  nur  fein  genau, 
Es  war  sonst  der  Ehrlchen  Frau. 
Das  hab  ich 
Nur  neulich 
Derselben  abgekaufft. 

Der  ursprüngliche  Titel  war  »Kindtauffen-Schmauß«,  aber  bereits  im 
Manuscript  ist  dies  geändert  in  » Kindbetterin-Schmauß «,  wie  es  der 
Druck  bietet,  wohl,  weil  ja  eine  Taufe  nicht  stattfindet. 

Die  Eintheilung  ist,  wie  schon  angegeben,  nicht  nach  Entr^es, 
sondern  nach  Acten  (deren  drei  sind)  und  Scenen.  Die  Einrichtung 
in  Betreff  der  Strophenformen  ist  dieselbe  wie  bei  dem  ersten  Nach- 
spiel. Von  Ton  I  kommen  39  Strophen  vor;  in  ihrem  fünften  und 
sechsten  Verse  findet  sich  die  oben  erwähnte  Freiheit  hier  viel  öfter 
als  im  ersten  Spiel:  »Das  schön  ist,  Und  Quarck  frißt«,  »"^Da  ich  sie 
An  ihr  Knie«,  »Er  schmeißt  Dich  Sonst  vor  sich«,  »Wie  stehst  Du, 
Hasts  Maul  zu«,  »^Damit  wir  Bald  von  hier«,  »Und  helft  ihr.  Damit 
wir«,  »Je  freilich.  Er  hat  mich«,  »So  solt  ich  Doch  eilig«,  »"^Daß  ich 
kann.  Als  ein  Mann«,  »^Wenn  man  gleich,  Flugs  zu  euch«,  »So  muß 
ich.  Wie  billig«,  »*Wenn  ihr  sollt.  Und  nur  wolt«,  »Das  hab'  ich 
Nur  neulich«,  »"^Der  nicht  kan  Als  ein  Mann«,  »Drum  thu  ich  Gantz 
hoff  lieh«.  Die  mit  Stern  versehenen  6  Beispiele  gehen  geradezu  iLber 
in  die  Betonung  -^-.  Von  Ton  U  erscheint  in  Act  I,  1 ,  in  I,  2 
und  in  I,  4  je  eine  Strophe.  In  Act  H  besteht  Sc.  1  aus  6  derselben, 
in  n,  4  stehen  zwei  hinter  einander,  in  H,  5  eine;  in  Act  III,  Sc.  1 
(der  einzigen,  die  der  Act  hat)  finden  sich  6  hinter  einander  und 
dann  noch  an  zwei  Stellen  je  2.  Also  im  Ganzen  St2 ;  der  Ton 
kommt  also  häufiger  vor  als  im  ersten  Spiele,  aber  viel  sporadischer 
vertheilt  als  dort.  Im  letzten  Verse  findet  sich  hier  eine  ähnliche 
Freiheit  wie   bei  Ton  I  im  fünften  und  sechsten,  der  Uebergang  in 

Abliandl.  d.  K.  S.  Oesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  34 


504  Friedrich  Zarncke,  [50 

die  Betonung  -^-,  vgl.  »Was  du  sprichst  :/:  :/:«,  »So  steht  auf  :/:  :/:«, 
»Was  ich  wil  :/:  :/:«,  »Wenn  ihr  wollt  :/:  :/:«;  auch  »Ein  Runda  :/:  :/:« 
gehört  wohl  hieher,  wenigstens  hat  die  Versbetonung  dieses  Wortes 
sonst  den  Accent  auf  der  zweiten  Silbe.  —  Daneben  giebt  es  dann 
noch  Rundas  und  allerlei  andere  Gesänge  bei  dem  Schmause. 

Es  war  gewiss  nicht  beabsichtigt,  dass  beide  Nachspiele  je  neben 
einander  sollten  gegeben  werden;  schon  das  Abschiedcompliment  am 
Ende  des  ersten  widerspricht  einer  solchen  Annahme.  So  entschul- 
digt sich  denn  auch  der  Widerspruch,  in  welchem  die  Sachlage  des 
zweiten  Spieles  zu  der  des  ersten  steht. 

Ursel  ist  nämlich,  wie  schon  erwähnt,  etwas  zu  früh,  bereits 
4  Wochen  nach  der  Hochzeit,  in  die  Wochen  gekommen,  und  Har- 
lekin hat  keinen  Grund  zu  einem  Verdachte,  auch  schimmert  Nichts 
mehr  herein,  als  ob  er  die  Ursel  nur  ungern  genommen  habe.  Wir 
finden  ihn  in  der  Nacht  auf  der  Strasse,  wo  eben  der  Nachtwächter 
gerufen  hat,  mit  seinem  Diener  nach  der  Kind- Mutter,  Frau  Ilse, 
suchend.  Derbe  Scherze  werden  gemacht,  kleine  Possen  kommen 
nebenbei  vor,  natürlich  auch  Schläge;  der  Nachtwächter  moralisiert: 
»Im  Lande,  0  Schande,  wiö  wirds  noch  endlich  gehn!«,  was  eben- 
falls fast  zu  einer  Prügelei  führt.  Endlich  lässt  sich  Mutter  Ilse  am 
Fenster  sehen,  und  bald  darauf  erscheint  sie,  gewiss  in  wunderlichem 
Aufzuge,  mit  einem  »finstern  Laternichen  in  der  Hand«. 

Nun  werden  —  denn  das  Kindchen  ist  glücklich  geboren  — 
die  Pathen  eingeladen,  der  Vater  Claus,  der  Schulmeister  Klanghosius, 
auch  der  Richter.  Bei  diesem  erscheint  Harlequin,  oder,  wie  er  ge- 
meldet wird,  Herr  von  Harlequin,  in  eigner  Person  und  ein  wenig 
verlegen,  denn  er  hat  ob  der  frühen  Geburt  kein  gutes  Gewissen. 
Der  Richter  ist  denn  auch  nicht  wenig  ergrimmt: 

Reitet  euch  der  Henckers-Enecht, 

Ihr  bösen  Ehe-Leute? 
Ey,  das  Ding  das  ist  nicht  recht. 

Drum  leget  nur  bey  Zelte 
Zwey  neu  Schöckgen  Straffe  her, 
Das  ist  von  euch  mein  Begehr, 

Vors  naschen  :/:   :/: 

Harlequin  möchte  anfangs  die  Hälfte  abhandeln;  als  aber  der 
Richter  sich  auf  Nichts  einlassen  will,  zahlt  er  geduldig  die  Strafe, 
worauf  denn  auch  der  Richter  milder  gestimmt  wird  und  mit  vielem 


^^]  Christian  Reuter.  505 

Vergnügen  die  Einladung,  Pathe  zu  sein,  annimmt.    Er  schliesst  das 
Gericht,  weil  er  sich  noch  fein  ehrbarlich  ankleiden  muss. 

Der  dritte  Act  führt  uns  in  die  Wochenstube,  in  der  die  Wöch- 
nerin im  Bette  liegt,  aber  nur  zu  Anfange  zu  Worte  kommt.  Von 
Taufe  ist  nicht  die  Rede,  von  dem  kleinen  Weltbürger  erfahrt  man 
Nichts.  Dagegen  ist  das  Mahl  zubereitet  und  die  Gäste  setzen  sich 
um  den  Tisch,  auch  I^vantin  und  Lisette.  Heiterste  Laune  herrscht, 
es  wird  viel  getrunken  und  gesungen.  Die  von  Einzelnen  und  vom 
Chor  gesungenen  Rundas  und  sonstigen  Scherzlieder  sind  gewiss  aus 
den  Kneipgewohnheiten  der  damaligen  Zeit  entlehnt,  und  werden  für 
eine  Geschichte  dieser  von  Werth  sein.  Auch  für  Improvisationen 
ist  Andeutung  geboten:  »Hier  können  sie  nun  allerhand  lustige  Runda 
singen«.  Dann  möchte  man  tanzen,  oder,  wie  es  heisst,  ein  »Ehren- 
Täntzgen  gebn«.  Aber  der  ehrensteife  Klanghosius,  weil  er  »Halb- 
Geistlicher  auch  mit  verpflichtet  steht«,  ist  dawider:  »Tantzen  stehet 
mir  nicht  an.  Denn  ich  bin  ein  Ehren-Mann«.  Also  fangen  sie  ein 
»Spielgen«  an  und  schliessen  zu  diesem  Zwecke  einen  Kreis.  »Sie 
spielen  unterschiedliche  Spiele,  letzlich  fängt  Harlequin  folgendes  an : 
(Harleqvin  singet  vor) 

Nun  faBet  alle  an, 

Ich  will  euch  lustig  machen, 

So  viel  ich  immer  kan. 

Nun  sehet  all  auff  mich : 

All  die  auff  diesen  Reihen  sind, 

Die  thun  also  wie  ich. 

(Hier  macht  nun  ein  ieweder  was  lächerliches.  Klanghosius  bleibt 
der  Letzte,  und  will  sich  im  tierumdrehen  sehen  lassen,  verschüttet 
aber  unversehens  die  Hosen*),  worüber  sie  anfangen  zu  lachen,  und 
daß  Kreyß-Spiel  sich  endiget.)« 

Hierauf  folgt  die  Beschlussstrophe,  die  hier  Harlequin  selber  ad 
Spectatores  richtet: 

Weil  nun  das  Spiel  ist  aus  und  Harleqvinens  Schmauß, 
So  gehet  insgesammt  nur  wiederum  zu  Hauß, 


*)  Man  muss,  um  diesen  Possen  zu  verstehn,  sich  erinnern,  dass  er  gerade 
dem  ehrenfesten  Klanghosius  passiert,  dem  selbst  ein  gegangenes  Ehren-Tanzchen 
schon  gegen  seine  Würde  verstiess. 

84* 


506  Friedrich  Zarncke,  [52 

Slellt  euch  morgen  wieder  ein, 
Es  soll  die  Lust  verbessert  seyn. 

Valete, 

Favete, 
Und  nehmt  mit  uns  verlieb. 

Ohne  Zvsreifel   ist  dies  Spiel  schwächer  als  das  erste.     In  den 

Situationen  und  Charakteren  liegt  nichts  Komisches,  der  Humor  wird 

f  durch  Possenreisserei  erzeugt.    Es  ist  denn  auch  dies  Stück  offenbar 

auf  dem  Theater  lange  nicht  so  beliebt  gewesen  wie  das  erste. 


4.  Beater's  erste  Relegation. 

Rabener  hat,  in  dem  Bestreben,  die  Grenze  zwischen  Satire  und 
Pasquill  zu  ziehen,  sich  wiederholt  über  seine  eigene  satirische  Schrift- 
stellerei   ausgesprochen,   wie  er  dieselbe  stets  angeknüpft  habe   an 
bestimmte  Urbilder,  wie  es  dann  aber  seine  Hauptbemühung  gewesen 
sei,  alle  erkennbaren  Spuren  dieser  persönlichen  Beziehungen  zu  ver- 
wischen.   Er  sagt:  »Die  Satire  soll  die  Laster  tadeln,  nicht  aber  die 
Personen  .  .  . ;  dennoch  halte  ich  auch  diejenigen  nicht  für  strafbar, 
welche  ihre  Gedanken   bei  der  Verfertigung  der  Satire  auf  eine  ge- 
wisse Person  richten.     Meine  Begriffe,  meine  Ausdrückungen,  meine 
ganze  Arbeit  wird  viel  lebhafter  seyn,  wenn  ich  ein  Urbild  vor  mir 
sehe.     Ich  tadle   alsdann   nicht   die   Person,   ich    tadle   das   Laster, 
welches  diese  an  sich  hat«*).     Und  an  anderer  Stelle:    »Sobald  ich 
mit  einer  Abschilderung  fertig  war,   war  dieses  meine  erste  Sorge, 
daß  ich  sie  gegen  diejenigen  Gesichter  hielt,  die  ich  kannte,  um  zu 
versuchen,   ob   vielleicht  zu  viel  Aehnlichkeit  von  ihnen  in  meinem 
Gemälde  wäre.    Das  Gemälde  selbst  zu  entwerfen,  kostete  mich  immer 
weniger  Mühe,  als  mich  es  kostete,  solches  durch  neue  Züge,  durch 
mehr  Licht    oder    mehr  Schatten    unkenntlich   zu   machen« 2).     Wir 
müssen  es  Chr.  Reuter  nachsagen,   dass   er  durchaus  nach   diesem 
selben  Grundsatze  verfahren  war.     Er  hatte  an  bestimmte  Personen 
angeknüpft,   darauf  hin   lebensvolle  Bilder  zu  entwerfen  verstanden, 
dann  aber  hatte  er  sich  redlich  bemüht,  jede  bestimmte  Hindeutung 
zu  entfernen.     Sein  Werk  war  eine  Comödie,  eine  Satire,  nicht  ein 


1]   Satiren  (4.  Aufl.    1759)   I,   S.  U4. 
2J   Satiren  IV,  S.  4. 


Ö3]  Christian  Reuter.  507 

Pasquill.  Aber  die  Entfernung  der  persönlichen  Hindeutungen  war 
ihm  doch  nicht  völlig  gelungen.  Seine  Vorbilder  müssen  wegen  ihrer 
Übeln  Eigenschaften  bereits  stadtbekannt  gewesen  sein,  ebenso  die 
einzelnen  charakteristischen  Redewendungen,  die  Reuter  beibehalten 
hatte ;  sein  Verleger  vollends  denuncierte  die  persönlichen  Beziehungen 
direct,  indem  er  ein  Bild  der  Ehrlichen  Frau  als  Titelkupfer  bei- 
fügte, in  welchem  der  Leipziger  sofort  die  Wittwe  Anna  Rosine  Maller 
in  ihrer  ganzen  Pracht  und  Herrlichkeit  erkannte.  Nun  ging  man 
im  Ausspüren  noch  weiter.  Mit  dem  Dr.  Feinland  aus  Schlesine 
sollte  ein  Dr.  Schönfelder  aus  Schlesien  gemeint  sein;  gewiss  hat 
man  auch  für  den  Cand.  juris  Gleander  aus  Marburg  ein  Vorbild 
genannt:  aber  in  den  Acten  wird  dies  nicht  erwähnt. 

Genug,  kaum  war  die  Comödie  ausgegeben  und  in  den  Händen 
der  Studierenden  —  die  beiden  Nachspiele  kommen  nicht  weiter  in 
Betracht  —  so  wies  Alles  mit  Fingern  auf  den  rothen  Löwen  und 
seine  Bewohner.  Man  übertrug  auf  ihn  den  Namen  des  güldenen 
Maulaffen  —  und  so  hiess  er  fortan  in  der  Studentenwelt  — ,  nannte 
die  Wittwe  Müller:  die  ehrliche  Frau,  ihren  ältesten  Sohn:  Schel- 
muffsky.  Abends  sammelte  es  sich  um  ihr  Haus,  man  rief  diese 
Namen  zu  den  Fenstern  hinein.  Jungen  stellten  sich  davor  und  sangen 
Spottlieder.  Noch  Schlimmeres  war  zu  befürchten,  wenn  in  nächster 
Zeit  der  älteste  Sohn,  der  zur  Zeit  noch  in  der  Fremde  weilte, 
zurückkehrte. 

So  wandte  sich  denn,  von  ihrem  Präceptor,  dem  Hrn.  George  Leib, 
gedrängt,  am  4.  October  1 695  Frau  Anna  Rosine  an  das  Universitäts- 
gericht und  klagte  gegen  ihre  früheren  »Hausburschen«,  die  sie  in  Ver- 
dacht hatte,  gegen  Reuter  und  Grel.  Am  5.  October  ward  sie  vor 
den  Rath  citiert,  weil  in  diesem  Falle,  wo  es  sich  um  ein  Pasquill 
handele,  der  Rath,  d.  h.  die  Bücher-Gommission,  das  richtige  Forum 
sei,  und  am  7.  October  wandte  sie  sich  schriftlich  an  den  Rath, 
unter  Denuncierung  des  Verlegers  und  Druckers.  Bei  ihrer  Ver- 
nehmung am  5.  October  hatte  sie  als  ganz  besonders  auf  sie  ge- 
münzt hervorgehoben,  dass  »in  solcher  (Gomödie)  das  in  ihrem  Hause 
befindliche  neue  Gebäude  überm  Wassertrog  ganz  deutlich  enthalten 
wäre«.     Also  der  »Rittersitz«  der  Comödie. 

An  beiden  Stellen  ward  die  Untersuchung  eröffnet.  Heybey 
suchte   anfangs   um   das   volle  Bekenntniss   der    Wahrheit   herumzu- 


508  Friedrich  Zarngke,  [54 

kommen,  er  bemühte  sich,  Bahr  zu  ablenkenden  Aussagen  zu  bestim- 
men. Als  ihm  aber  das  nicht  gelang,  bekannte  er  Alles  der  Wahrheit 
gemäss  und  lieferte  das  Originalmanuscript  zu  den  Acten,  erklärte  aber, 
dass  ihm  die  persönlichen  Beziehungen  unbekannt  geblieben  seien 
und  dass  er  sich  als  Verleger  durch  die  Druckeria ubniss  des  Censors 
für  gedeckt  gehalten  habe.  Diese  Ausrede  nützte  ihm  aber  Nichts, 
der  Verkauf  der  Schrift  ward  inhibiert,  und  Heybey  von  dem  Leip- 
ziger Schöppenstuhle  wegen  »Begünstigung«  zu  1 0  Thaler  Strafe  uod 
in  die  Kosten  verurtheilt.  Nach  mancherlei  Ausreden  und  Versuchen, 
sich  der  Strafe  zu  entziehen,  die  man  im  zweiten  Anhange  nach- 
lesen möge,  zahlte  er  endlich  am  Sl.  Januar  1696,  bekam  dann 
i  Thaler  im  Gnadenwege  zurück,  und  verschwindet  damit  aus  dieser 
Angelegenheit.  Gegen  den  Drucker  Brandenburger  ward  keine  Strafe 
erkannt:  er  war  durch  den  Verleger  gedeckt.  —  Man  sieht,  auch 
das  Gericht  sah  die  Comödie  unter  dem  Gesichtspuncte  des  Pasquills 
an,  erkannte  in  ihr  nur  eine  Schmähschrift  gegen  die  Familie  Müller; 
Alles,  was  der  Dichter  zur  Completierung  und  Abrundung  der  Cha- 
raktere und  der  poetischen  Fabel  hinzugethan  hatte,  ward  für  lügen- 
hafte, aus  boshafter  Absicht  hervorgegangene  Verläumdung  erklärt. 

lieber  die  Untersuchung  gegen  Reuter  sind  wir  nur  andeutungs- 
weise unterrichtet,  da,  wie  schon  erwähnt,  die  betr.  Universitäts- 
acten,  die  an  150  Folioblätter  enthalten  haben,  verloren  gegangen 
sind.     Was  wir  wissen,  ist  das  Folgende. 

Am  12.  October  1695  ward  er  verhört.  Er  bekannte  sich  als 
Verfasser,  und  zwar  als  alleiniger,  der  Comödie,  gestand  zu,  jene 
Betheurung:  »so  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau  bin«  öfter  von  der 
Müllerin  gehört  zu  haben,  nicht  aber  von  ihrem  Sohne  die  dem 
Schelmuffsky  in  den  Mund  gelegten,  die  derselbe  denn  doch  wohl 
auch  gebraucht  haben  muss,  und  leugnete,  dass  seine  Comödie  gegen 
die  Müllerin  und  ihre  Familie  gemacht  sei;  er  habe  sie  meistens 
aus  dem  Meliere  genommen,  er  könne  beschwören,  dass  es  eine 
fingierte  Handlung  sei.  Heybey  hatte  ausgesagt,  dass  Reuter  gegen 
ihn  geäussert,  er  habe  einige  Proverbia  (d.  h.  Redensarten,  s.  u.) 
aus  Chr.  Weise  entnommen. 

Weiteres  erfahren  wir  aus  der  Supplik  der  Müllerin  an  den 
Churfürsten  vom  20.  Aug.  1696,  in  welcher  sie  mittheilt,  dass  der 
Pasquillant  Reuter,  nachdem  vorhero  viele  Indicia  wider  ihn  sich  ge- 


5Ö]  Christun  Reuter.  509 

äussert,  bei  der  Universität  in  gefängliche  Haft  genommen  worden 
und  wider  ihn  mit  der  Inquisition  verfahren  worden  sei.  Darauf 
folgt  die  wichtige  Nachricht,  dass  er  sich  nicht  nur  zu  berührter 
Schmähschrift  als  Autor  bekannt,  sondern  auch  eingeräumt  habe, 
dass  darin  auf  ihre  und  der  Ihrigen  Beschimpfung  sein  Absehen  ge- 
richtet gewesen  sei.  Darauf  sei  ihm  die  Relegation  auf  einige  Jahre 
zuerkannt  worden,  allein  die  Execution  dieses  Urtheils  sei  von  ihm 
bis  dato  verhindert  worden  durch  das  Vorgeben,  eine  schriftliche 
Defension  wider  dasselbe  fuhren  zu  wollen. 

Bei  keinem  Puncte  ist  der  Verlust  der  üniversitätsacten  mehr 
zu  beklagen  als  hier.  Unglaublich  erscheint  es,  dass  Reuter  je  direct 
sollte  zugegeben  haben,  dass  seine  Schrift  wirklich  eine  Schmäh- 
schrift auf  die  Familie  Mttller  sei.  Man  wird  ihn  durch  allerlei  ver- 
fängliche Hinweisungen  in  die  Enge  gebracht  haben,  aber  dass  er 
selber  durch  ein  solches  Zugeständniss  direct  auf  den  Boden  seiner 
Ankläger  sollte  hinübergetreten  sein,  erscheint  mir  undenkbar.  Wenn 
wir  ihn  im  Jahre  1700  um  Revision  seines  Processes  und  Versen- 
dung der  Acten  nach  Wittenberg  bitten  sehen,  so  hatte  er  gewiss 
damit  eben  die  Absicht,  seine  Rechte  als  Dichter  dem  Stadtklatsche 
gegenüber  geltend  zu  machen. 

Wann  der  Process  verlaufen  ist,  wann  Reuter  incarceriert,  wann 
verurtheilt  ward,  wissen  wir  nicht.  Doch  geschah  es  wohl  erst  im 
Jahre  1696,  denn  am  2.  October  d.  J.  sagt  Wermann  »als  Hr.  Reuter 
unlängst  in  carcere  gewesen«  u.  s.  w.  Hier  sass  er  volle  15  Wochen 
in  Untersuchungshaft,  wie  wir  aus  der  Bittschrift  an  den  König  vom 
5.  März  1 700  ersehen.  Dass  er  auf  Ansuchen  der  Müllerischen  Erben 
incarceriert  ward,  bezeugt  das  Klagschreiben  derselben  vom  27.  Januar 
1700.  Reuter's  Relegation  lautete  auf  zwei  Jahre,  wie  das  spätere 
Relegationspatent  angiebt.  Zur  Execution  derselben  aber  kam  es 
nicht,  indem  Reuter  um  Gestattung  einer  schriftlichen  Defension  bat. 
Dabei  scheint  ihm  der  Advocat  Mor.  Volkm.  Götze,  bei  dem,  wie 
angegeben,  der  junge  Bahr  seine  Wohnung  hatte,  mit  rechtlichem 
Beistande  zur  Hand  gegangen  zu  sein.  Dass  er  diese  Defension  ver- 
schleppt habe,  wird  ihm  auch  im  erwähnten  späteren  Relegations- 
patent vorgeworfen.  Er  verliess  Leipzig  und  begab  sich  nach  Kitzscher  ^), 


1]   Vgl.  das  Schreiben  der  Müllerischen  Erben  vom  27.  Januar  1700. 


r 


510  Friedrich  Zarncke,  [^^ 

nahe  bei  Borna.  Vermuthlich  besorgte  ihm  dort  Aufnahme  der  spä- 
tere Schwiegersohn  des  Dr.  jur.  WeidUng,  der  J.  U.  Doctor  und 
Practicus  J.  Fr.  Krüner,  der  dort  »hochadlicher  Gerich tsdirector« 
war.  Ob  auf  dem  Rittergute  selbst,  müssen  wir  dahingestellt  sein 
lassen.  Kitzscher  war  damals  (1694 — 1701)  im  Besitze  des  her- 
zoglich Sachsen  -  gothaischen  Hauptmanns  Anton  Wilhelm  Treusch 
von  Buttlar,  und  in  Pacht  hatte  die  Güter  wie  die  Gerichtsbarkeit 
Herr  Hieronymus  von  Dießkau^),  Erb-  und  Lehnherr  auf  Audigast, 
der  am  4.  Januar  1699  in  Kitzscher  starb,  obwohl  auch  Treusch- 
Buttlar  auf  dem  Gute  residierte,  wo  ihm  am  S1.  Nov.  1696  ein 
Knabe  geboren  ward,  der  am  6.  April  des  folgenden  Jahres  wieder 
starb  und  in  der  »hochadlichen  Leichengruft «  beigesetzt  ward.  Der 
Pfarrer  hiess  seit  September  1695  Joh.  Cotta,  dessen  Schwieger- 
mutter eine  Schwägerin  des  Universitätsactuars  Scheffler  war.  Mit 
ihm  stand  also  Reuter  wohl  schwerlich  in  Verkehr. 

Durch  diese  Entfernung  verstiess  Reuter  offenbar  gegen  die 
Universitätsgesetze,  da  ihm,  wie  immer  in  solchen  Fällen,  zweifels- 
ohne der  sogen,  weitere  Arrest  auferlegt  worden  war,  d.  h.  die  An- 
weisung, den  Bezirk  der  Stadt  nicht  zu  verlassen.  Zugleich  wird  er 
haben  versprechen  müssen,  seine  pasquillarische  Schriftstellerei  nicht 
weiter  fortzusetzen. 

Es  drohten  also  noch  manche  Gewitterwolken  über  seinem 
Haupte,  die  sich  aber  der  leichtsinnige  junge  Mann  —  freilich  da- 
mals bereits  30  Jahre  alt  —  nicht  anfechten  Hess,  ja  die  er  noch 
zu  vermehren  beflissen  war,  wie  die  nun  folgenden  Vorkommnisse 
uns  lehren  werden. 


5.  Schelmuffsky's  Cariose  Beisebeschreibnng^). 

Am  15.  August  1696  wandte  sich  Frau  Anna  Rosine  Müllerin 
mit  einer  de-  und  wehmüthigen  Klage  an  den  Churfürsten,  indem 
nun  zu  der  Comödie  von  der  ehrlichen  Frau  auch  noch  ein  Pamphlet 

^)  Zu  beachten  dürfte  sein,  dass  die  Dieskau's  auch  Rnauthain  in  Besitz  hatten 
und  auch  in  Merseburg  eine  hervorragende  Stellung  einnahmen.  Hatte  Reuter 
etwa  zu  ihnen  und  schon  früher  Beziehungen? 

^)  »Curios«  oder  noch  häufiger  Dcurieus«  war  damals  ein  beliebtes  Schlag- 
wort  auf  den  Titeln  von  Werken.     Schon  Chr.  Weise  hatte  1691   )>Curieuse  Ge- 


^7]  Christian  Reuter.  51 1 

auf  ihren  Sohn  unter  dem  Titel:  » Schelmuffsky's  Reisebeschreibung« 
erschienen  sei.  Hier  und  in  den  folgenden  Auslassungen  wird  als 
selbstverständlich  vorausgesetzt,  dass  der  Verfasser  auch  dieses  Bu- 
ches Christian  Reuter  sei.  Da  ein  Widerspruch  nirgends  erhoben 
worden  ist  (die  directen  Angaben  Reuter's  fehlen  bekanntlich,  da  die 
üniversitätsacten  uns  im  Stiche  lassen),  so  haben  auch  wir  keinen 
Grnnd,  demjenigen,  der  die  Figur  des  Schelmuffsky  zuerst  eingeführt 
hatte,  diese  weitere  Ausführung  derselben  abzusprechen. 

Der  Schelmuffsky  ist  in  der  Gestalt,  in  der  wir  ihn  zu  lesen 
pflegen,  eine  der  classischen  Schöpfungen  der  humoristischen  Poesie, 
eine  jener  Typen,  die,  wenn  auch  einer  bestimmten  Zeit  entstammend, 
doch  durch  die  geniale  Abrundung,  die  bei  ihnen  dem  Dichter  gelungen, 
ein  unvergängliches  Eigenthum  der  Phantasie  aller  Zeiten  geworden 
sind.  Er  stellt  sich  ebenbürtig  neben  den  Don  Quixote  und  neben 
Falstaff.  Man  umzeichnet  die  Persönlichkeit  des  Schelmuffsky  nicht  rich- 
tig, wenn  man  ihn  hinabdrängt  in  den  Kreis  der  Handwerksburschen ; 
schon  die  Erzählung  von  seiner  Geburt  rückt  ihn  durch  die  Erwäh- 
nung eines  gelehrten  Präceptors  im  Hause  der  Mutter  und  ebenso 
die  Erzählung  von  seiner  Jugend  in  die  Sphäre  des  wohlhabenden 
Bürgerstandes.  Diesen  haben  wir  als  den  Ausgangspunct  für  ihn 
anzusehen.     Auch  trifft  man  die  Tendenz  des  Romans  nicht  richtig. 


danken  von  deutschen  Versen v,  und  »Gurieuse  Gedanken  von  deutschen  Briefen« 
herausgegeben,  desgleichen  »Guriöse  Fragen«.  Talander  (A.  Bohse]  schrieb  )>Cu- 
riöse  und  historische  Reisen  durch  Europa«,  ferner  erschien  um  jene  Zeit  »Gurieuses 
Reise-Journal  eines,  welcher  ohnlängst  die  Welt  zu  sehen  angefangen«.  Besonders 
ist  hier  zu  beachten  im  Anfange  1696:  »Des  Herrn  von  Montconnis  (auch  Mon- 
Connys}  sehr  curieuse  Reis-Beschreibung  in  Europa,  Asia,  Africa,  aus  dem  Fran- 
zösischen übersetzt«.  Ferner  »Des  curieusen  Hoffmeisters  geographisch-historisch- 
politische Wissenschaft «,  » Neue  historische  curiöse  Gesprächslust  von  alierneuesten 
denkwürdigen  Geschichten«,  »Der  curiÖse  und  vollkommene  polnische  Staatsmann«, 
1695:  »Der  curiose  und  kluge  Gärtner«,  »Der  curiose  Pfropf- und  Oculirmeister«, 
»Guriose  Kunst-  und  Werkschule^  lehrend  allerhand  bewährte  Feuerkünste«,  »Gu- 
riöse  Staatsfragen,  wer  in  Spanien  der  rechtmässige  Successor  sein  solle«.  Un- 
zählig oft'  erscheint  das  Wort  in  den  Messkatalogen  jener  Jahre.  Besonders  be- 
liebt waren  die  »Gurieusen  Geschichtskalender«;  für  jedes  Land  gab  es  einen 
eigenen.  So  gab  allein  Gledisch  in  Leipzig  in  der  Ostermesse  4  697  nicht  weniger 
als  16  solcher  curieuser  Geschichtskalender  heraus.  Daran  schloss  sich  »Gurieuse 
Vorstellung  des  heutigen  Papstthums,  anstatt  eines  päpstischen  Geschichts-Galenders  « 
u.  s.  w. 


512  Friedrich  Zarngkb,  [^^ 

wenn  man  ihn  in  erster  Linie  gegen  die  Aufschneidereien  der  damals 
im  Schwange  befindlichen  Reisebeschreibungen  gerichtet  annimmt. 
Allerdings  werden  diese  mitgetroffen,  wie  denn  ja  gleich  die  Vor- 
rede sich  gegen  sie  wendet^),  aber  der  eigentliche  Reiz  der  (xostalt 
liegt  doch  anderswo.  Sie  geisselt  jenes  Bestreben  des  über  seine 
Grenze  hinausstrebenden  Bürgerstandes,  die  Manieren  der  vornehmen 
Welt  anzunehmen,  die  »artigen«  und  gezierten  Sitten  des  Adels, 
r  seine  galanten  Liebesabenteuer   und   sonstigen  Aventuren,    wie  die 

französischen  Muster  sie  eingeführt  hatten,  nachzuahmen,  ein  Be- 
streben, das  gegen  Ende  des  17.  Jahrh.  fast  epidemisch  zu  werden 
begann^).  Es  konnte  hiebei  natürlich  nicht  ausbleiben,  dass  oftmals 
der  Zwiespalt  in  der  Erscheinung  krass  hervortrat.  Ein  Pracht- 
exemplar so  hybrider  Bildung  führt  unser  Schelmuffsky  uns  vor.  Ein 
bürgerlicher  Thunichtgut,  von  Natur  dumm  und  rüpelhaft,  spielt  den 
.  galanten  Aventurier,  behauptet,  wie  auch  er  der  Sitte  des  damaligen 
Adels  gemäss  seine  Bildungsreise,  die  sogen,  grosse  Cavaliertour,  ge- 
macht habe,  nennt  sich  Signor  Schelmuffsky,  legt  sich  das  adlige 
»von«  bei  und  schildert  uns  nun  mit  kecker  Miene  seine  Erlebnisse. 
Ueberall  hat  er  durch  sein  galantes  Wesen  die  Augen  der  Noblesse 
auf  sich  gelenkt  und  Alles  bezaubert,  Fürsten  und  Potentaten  hat  er 
imponiert,  man  hat  ihn  nicht  genug  zu  ehren  gewusst;  alle  Frauen- 
zimmer der  höchsten  Stände  haben  sich  augenblicklich  sterblich  in 
ihn  verliebt.  Und  wenn  er  uns  nun  erzählt,  was  und  wie  es  vor 
sich  gegangen,  so  tritt  der  Widerspruch  zwischen  seiner  prätendierten 
Galanterie,  Anmuth  und  Klugheit  und  seinem  tölpelhaft  horndummen 


^)  S.  7  :  Es  hat  der  Tebel  hohlmer  mancher  Kerl  kaum  eine  Stadt  oder  Land 
nennen  hören,  so  setzt  er  sich  stracks  hin,  mid  macht  eine  Reisebeschreibung 
Zeilen  Eilen  lang  davon  her ;  wenn  man  denn  nun  solch  Zeug  lieset,  (zumahl  wer 
nun  brav  gereiset  ist,  als  wie  ich)  so  kan  einer  denn  gleich  sehen,  daß  er  nie- 
mahls  vor  die  Stuben-Thüre  gekommen  ist,  geschweige  u.  s.  w. 

2)  Man  erinnere  sich  der  damals  erschienenen  zahllosen  Werke,  die  diese 
Kunst  lehren  wollten.  Ich  führe  aus  der  Mitte  der  neunziger  Jahre  einige  Titel  an: 
»Die  recht  veritable  Kunst,  galant,  artig  und  wohl  zu  leben«,  »Galant  homme, 
wie  man  sich  in  Worten,  Werken,  Geberden  wohl  aufführen  und  beliebt  machen 
soll«,  »Der  galante  und  in  dieses  Welt-Leben  recht  sich  schickende  Mensch«, 
)>Der  Arzt  der  Galanterie  oder  die  Kunst,  schön  zu  werden«  u.  s.  w.  Letzlere 
Schrift  erschien  in  Heybey's  Verlage,  der  auch  sonst  ähnliche  Bücher  noch  ver- 
legte, wie  z.  B.  Weidling's  Anweisung  für  Hoffmeisler  und  Gouverneure.    Vgl.  oben. 


59]  Chbistian  Redteb.  513 

und  unglaublich  rUpelhafteu,  ja  säuischen  Wesen,  das  er  ahnungslos 
verrälh,  so  drastisch  hervor,  dass  ein  komischerer  Gegensatz  nicht  ge- 
dacht werden  kann ;  die  geographischen  Aufschneidereien  treten  dem 
gegenüber  sehr  in  zweite  Linie,  so  drollige  Wunderlichkeiten  freilich 
auch  sie  zu  Tage  bringen.  Dabei  wird  aber  die  Person  des  Helden 
trotz  aller  Selbstgefälligkeit  und  Selbstbespiegelung  doch  nie  wider- 
wärtig; er  erzählt  so  frisch  und  flott,  so  naiv  und  so  ergötzlich,  so 
aus  einem  Gusse,  so  selbstzufrieden,  und  dabei  im  Ganzen  doch  auch 
harmlos,  dass  man  ihn,  wenn  er  einem  nur  drei  Schritte  vom  Leibe 
bleibt,  getrost  gewähren  lassen  mag.  Wer  nicht,  wie  Gervinus,  durch 
vornehme  Steifheit  für  den  Humor  und  seine  Mittel  unzugänglich 
geworden  ist,  der  wird  zu  allen  Zeiten  die  Gestalt  des  Schelmuffsky 
als  eine  der  genialsten  Schöpfungen  der  komischen  Muse  zu  schätzen 
wissen.  Mit  besonderem  Behagen  aber  und  wahrer  Schadenfreude 
wird  zu  jener  Zeit  der  Adel  in  ihm  ein  Abbild  jener  ihm  wider- 
wärtigen Richtung  mancher  Glieder  des  Bürgerstandes  erblickt  haben, 
die  sich  zu  seinem  Aerger  in  seine  Reviere  einzudrängen  suchten. 
Wenn  wir  daher  bald  den  Verfasser  zu  dem  hohen  Adel  des  Landes 
in  fast  intimer  Beziehung  stehen  sehen,  so  kann  uns  das  nicht  ver- 
wundern. 

Der  Schelmuffsky  ist  also  nicht  ohne  ethische  Tendenz,  wenn 
auch  ohne  Spur  von  Moralisation ,  und  diese  ethische  Tendenz  ist 
aufs  nächste  verwandt  mit  der,  die  in  der  ehrlichen  Frau  hervortrat. 

Aber  jene  uns  gegenwärtig  vertraute  Gestalt  des  Schelmuffsky 
ist  nicht  die  ursprüngliche  desselben.  Ich  vermag  eine  erste  Aus- 
gabe nachzuweisen,  der  es  noch  nicht  gelungen  ist,  das  Bild  com- 
plet  zu  zeichnen,  den  Stil  zu  voller  Abrundung  zu  bringen. 

Von  allem  Anfange  an  musste  es  bedenklich  erscheinen,  dass 
der  für  die  Editio  princeps  geltende  Druck  in  Octav  war,  denn  bei 
der  Confiscation  des  Schelmuffsky  am  27.  Aug.  1696  wurden  bei 
dem  Buchbinder  Petri  zwei  Exemplare  gefunden,  an  die  ein  Exem- 
plar des  sogen.  »Bärtigten  Frauenzimmers«  angebunden  war.  Dieses 
letztere  Lustspiel,  von  nur  einem  Acte,  ist  aber  in  Duodez  und  ver- 
schiedene Drucke  desselben  Jahres  sind  bei  dem  wenig  bedeutenden 
Inhalte  nicht  eben  glaublich.  Wie  hätte  nun  ein  Buchbinder  diese 
beiden  Formate  in  einen  und  denselben  Einband  vereinigen  können? 
Als   ich   daher   erfuhr,    dass   sich   auf  der  Bibliothek   in  Gotha   ein 


5li 


Friedkich  Zarhcks. 


6»» 


Schelmuffsky  io  Duodez  befinde,  zweifelte  ich  nicht,  dass  in  ihm 
die  Editio  princeps  erhalten  sei,  ond  ich  ein  interessantes  biblio- 
graphisches Novum  za  bieten  im  Stande  sein  werde.  Aber  meine 
Erwartungen  wurden  weit  übertroffen,  die  Ausgabe  erwies  sich  als 
ein  in  wesentlichsten  Dingen  abweichender  Text,  gewissermassen  nur 
erst  der  Embryo  der  späteren  Darstellung. 

Schon  der  äussere  Umfang  beweist  dies:  die  bisher  einzig  be- 
kannte älteste  Ausgabe  umfasst  132  Seiten  Octav,  die  Gothaer  nur 
120  Seiten  klein  Duodez.  Der  Inhalt  der  letzteren  entspricht  dem 
des  später  sogen.  Ersten  Theiles;  der  Titel  nennt  diesen  noch  nicht, 
aber  die  Schlusszeilen  bezeichnen  das  Buch  bereits  so  und  weisen 
auf  das  Erscheinen  eines  zweiten  Theils  hin.  Der  Veriauf  der  Er- 
zählung ist  im  Ganzen  derselbe.  Nach  der  Geschichte  von  der  Ratte 
und  von  der  Geburt  des  Helden  wendet  sich  die  Erzählung  nach 
Hamburg  und  Altena,  von  da  nach  Stockholm,  nach  Amsterdam,  nach 
Indien,  dann  durch  das  mittelländische  Meer  nach  Engelland,  nach 
St.  Malo  und  über  Hamburg  zunick  nach  Schelmerode.  Aber  im  Ein- 
zelnen ist  in  der  späteren  Bearbeitung  kein  Satz  ungeändert  geblieben; 
zuweilen  ist  fortgelassen,  meist  aber  ist  zugefügt.  Ueberall  sind  die 
treffendsten  humoristischen  Lichter  erst  in  der  zweiten  Bearbeitung 
aufgesetzt  worden.  Jener  formelhafte,  typische,  sich  stets  wieder- 
holende Stil  ist  erst  hier  ganz  durchgeführt  worden.  In  der  ersten 
Gestall  tritt  weit  mehr  der  aufschneidende  Reisende  hervor,  wie  denn 
auch  das  Gothaer  Exemplar  mit  mehreren  Reisebeschreibungen  nach 
Indien,  Persien  und  Nordamerika  zusammengebunden  ist,  in  der  spä- 
teren der  als  Galanthomme  sich  geberdende  Rüpel.  Erst  in  dieser 
letzteren  ist  der  Typus  fertig.  Einige  Zusammenstellungen  aus  beiden 
Ausgaben  mögen  das  Gesagte  illustrieren ;  ich  werde  die  wesentlichen 
Zusätze  und  Abweichungen  durch  Gursivdruck  hervorheben.  Zunächst 
die  Geschichte  von  der  Ratte: 


A.  Erste  Ausgabe. 

Als  die  grosso  Ratte,  welche  mei- 
ner Frau  Mutter  ein  gantz  neu  sei- 
den Kleid  zerfressen,  mit  dem  Be- 
sen nicht  hatte  können  todt  ge- 
schlagen werden,  indem  sie  mei- 
ner Schwester  zwischen  die  Beine 
durchlaulll,    und  unversehens  in 


B.  Spätere  Ausgaben. 

Als  die  grosse  Ratte,  welche  meiner 
Frau  Mutter  ein  gantz  neu  seiden  Kleid 
zerfressen,  mit  den  Besen  nicht  hatte 
können  todt  geschlagen  werden,  indem 
sie  meiner  Schwester  zwischen  die  Beine 
durchläufft  und  unversehens  in  ein  Loch 
kömmt,  fällt  die  ehrliche  Frau  deßwegen 


64] 


Christian  Rbdtkr. 


515 


ein  Loch  kommt,  fällt  die  ehrliche 
Frau  ^)  deBwegen  aus  Eyfer  in  eine 
solche  Ohnmacht,  daB  sie  gantzer 
vier  und  zwantzig  Tage  da  liegt, 
und  kan  sich  weder  regen  noch 
wenden.  Ich,  der  ich  damals  die 
Welt  noch  mit  keinem  Auge  ge- 
sehen, und  nach  Adam  Riesens 
Rechenbuch  vier  gantzer  Monat 
noch  im  verborgenen  hätte  pausi- 
ren  sollen,  war  dermassen  auch 
auff  die  sappermentsche  Ratte  so 
böse,  daB  ich  mich  aus  Ungedult 
nicht  länger  halten  kunte,  sondern 
sähe,  wo  der  Zimmermann  das  Loch 
gelassen  hatte,  und  kam  cUso  sporn- 
streichs auff  allen  vieren  in  die 
Welt  gekrochen.  Wie  ich  nun  auff 
der  Welt  war,  lag  ich  8  gantzer 
Tage  zu  meiner  Frau  Mutter  FttBen 
im  Bett-Stroh,  ehe  ich  mich  ein- 
mal recht  besinnen  konte  wo  ich 
war.  Den  neunten  Tag  erblickte 
ich  mit  grosser  Verwunderung  die 
Welt,  SappermentI  wie  deuchtete 
michs  so  alber  und  närrisch?  matt 
und  durstig  war  ich,  gehen  kunle 
ich  nicht,  meine  Frau  Mutter  lag 
da ,  als  wann  sie  vor  den  Kopff 
geschlagen  wäre,  niemand  wolte 
ich  mich  sonst  sehen  lassen,  die- 
weil  ich  noch  nichts  auff  dem 
Leibe  hatte,  und  wüste  also  keinen 
Rath,  was  ich  anfangen  solte.  End- 
lich dachte  ich,  du  must  doch  se- 
hen, wie  du  deine  Frau  Mutter  er- 
munterst. Ich  versuchte  es  auff 
allerley  Art  und  Weise,  bald  zupffle 
ich  sie  bey  der  Nase,  bald  machte 
ich  ihr  einen  Klapper-Storch,  bald 
krabbelte  ich  ihr  an  der  Fußsohle, 
bald  zerrete  ich  ihr,  wo  ich  zu 
kam,  ein  Häärgen  aus,  sie  wolle 
aber  nicht  erwachen.    Letzlich  so 


aus  Eyfer  in  eine  solche  Kranckheit  und 
Ohnmacht,  daB  sie  gantzer  S4.  Tage  da 
liegt  und  kan  sich  der  Tebel  hohlmer  we- 
der regen  noch  wenden.  Ich,  der  ich 
dazumcU  die  Welt  noch  niemals  geschauet, 
und  nach  Adam  Riesens  Rechen-Buche 
4.  gantzer  Monat  noch  im  Verborgenen 
hätte  pausiren  sollen,  war  dermassen 
auch  auf  die  sappermentsche  Ratte  so 
thüricht,  daB  ich  mich  aus  Ungedult  nicht 
länger  zu  bergen  vermochte,  sondern  sähe, 
wo  der  Zimmermann  das  Loch  gelassen 
hatte,  und  kam  auf  allen  vieren  sporen- 
streichs  in  die  Welt  gekrochen.  Wie  ich 
nun  auf  der  Welt  war,  lag  ich  8.  gantzer 
Tage  unten  zu  meiner  Frau  Mutter  Füssen 
im  Bettstroh,  ehe  ich  mich  einmal  recht 
besinnen  kunte  wo  ich  war.  Den  9ten 
Tag  so  erblickte  ich  mit  grosser  Verwun- 
derung die  Welt,  0  sappermentI  wie 
kam  mir  ailes  so  umste  da  vor;  sehr  ma- 
lade war  ich,  nichts  hatte  ich  auf  den 
Leibe,  meine  Fr.  Mutter  hatte  alle  Viere 
von  sich  gestreckt,  und  lag  da  als  wenn 
sie  vor  den  Kopff  geschlagen  wäre, 
schreyen  wolte  ich  auch  nicht,  weil  ich 
wie  ein  jung  Perckelgen  da  lag,  und  wolte 
mich  niemand  sehen  lassen,  weil  ich  na- 
ckend war,  daB  ich  also  nicht  wüste,  was 
ich  anfangen  solte.  Ich  hatte  auch  willens 
wieder  in  das  Verborgene  zu  wandern,  so 
kunte  ich  aber  der  Tebel  hohlmer  den  Weg 
nicht  wieder  finden,  wo^  ich  hergekommen 
war.  Endlich  dachte  ich,  du  must  doch 
sehen  wie  du  deine  Frau  Mutter  ermun- 
terst, und  versuchte  es  auf  allerley  Weise, 
bald  kriegte  ich  sie  bey  der  Nase,  bald 
krabbelte  ich  ihr  unten  an  den  FuBsoh- 
len,  bald  machte  ich  ihr  einen  Klapper- 
storch, bald  zupffte  ich  ihr  hier  und  da 
ein  Härgen  aus,  bald  schlug  ich  sie  aufs 
Nollepützgen ;  Sie  wolte  aber  davon  nicht 
aufwachen ;  letzlich  nahm  ich  einen  Stroh- 
halm und  ktttzelte  sie  damit  in  den  Hncken 


^j   fett  gesetzt. 


516 


Friedrich  Zarncke, 


(62 


nahm  ich  einen  Strohalm  und  kttt- 
zelte  sie  in  der  lincken  Knie-Kähle, 
wovon  sie  eyligst  aufffuhr,  und 
schrie:  eine  Ratte I  eine  Ratte! 
Wie  sie  die  Ratte  erwehnete,  war 
es  der  Tebelhohlmer  nicht  anders, 
als  wenn  einer  ein  Scheermesser 
nehme,  und  ftthre  mir  damit  unter 
der  Zunge  weg;  worauff  ich  ein 
erschröcklich  Auweh  rufile,  und 
unten  zu  meiner  Frau  Mutter  Füssen 
mich  weg  machte^  und  an  ihr  hinauff 
krabbelte.  Hatte  nun  die  ehrliche 
Frau  zuvor  nicht  die  Ratte  erweh- 
net,  so  schrie  sie  hernach  wohl 
tausendmahl  eine  Rattel  eine  Ratte! 
als  ich  an  ihr  hinauff  gekrochen 
kam.  Ich  guckte  aber  gleich  unter 
dem  Deckbette  hervor  und  sagte: 
Frau  Mutter^  sie  fürchte  sich  nur 
nicht,  ich  bin  keine  Ratte,  sondern 
ihr  lieber  Sohn.  Da  hätte  man 
Freude  gesehen,  die  meine  Frau 
Mutter  über  mir  hatte,  sie  leckte 
mich  bald  hinten  und  vorne,  so  lieb 
war  ich  ihr :  Wie  sie  sich  nun  so 
eine  Weile  mit  mir  gehätschelt, 
nahm  sie  mich  in  ihre  Arme^  stund 
mit  mir  auf,  zog  mir  ein  weiß 
Hembde  an,  und  ruffte  die  Leute 
im  Hause  alle  zusammen,  daB  sie 
mich  sehen  solten.  Da  die  Leute 
nun  kamen,  und  mich  alle  so  an- 
sahen, fieng  ich  mit  einer  lächelnden 
Mine  an,  und  sa^te :  Ihr  Leute,  seyd 
ihr  dann  gar  Narren,  daß  ihr  mich 
alle  so  ansehet,  ihr  werdet  ja  euer 


Nasen -Loche,  wovon  sie  eiligst  auffuhr 
und  schrie,  eine  Ratte!  eine  Ratte!  Da 
ich  nun  voti  ihr  das  Wort  Ratte  nennen 
hörete,  war  es  der  Tebel  hohlmer  nicht 
anders,  als  wenn  iemand  ein  Scheer- 
messer nehm  und  führe  mir  damit  unter 
meiner  Zunge  weg,  daß  ich  hierauf  also- 
bald  ein  erschreckliches  Auweh !  an  su 
reden  fing.  Hatte  meine  Frau  Mutter  nun 
zuvor  nicht  eine  Ratte!  eine  Ratte!  ge- 
schrien, so  schrie  sie  hernachmals  wohl 
über  hundert  mal  eine  Ratte !  eine  Ratte ! 
Denn  sie  meinte  nicht  anders  es  nistelte 
eine  Ratte  bey  ihr  unten  zu  ihren  Füssen. 
Ich  war  aber  her,  und  kroch  sehr  artig 
an  meine  Frau  Mutter  hinauf,  guckte  bey 
ihr  oben  zum  Deck-Rette  heraus,  und 
sagte :  Frau  Mutter,  Sie  fürchte  sich  nur 
nicht,  ich  bin  keine  Ratte,  sondern  ihr 
lieber  Sohn ;  daß  ich  aber  so  frühzeitig 
bin  auf  die  Welt  gekommen,  hat  solches 
eine  Ratte  verursachet.  Als  dieses  meine 
Frau  Mutter  hörete,  Ey  sapperment!  wie 
war  sie  froh,  daß  ich  so  unvermuthet  war 
auf  die  Welt  gekommen,  daß  sie  gantz 
nichts  davon  gewust  hatte.  Wie  sie  mich 
dasselbe  mal  zuhertzte  und  zuleckte,  das 
will  ich  der  Tebel  hohlmer  wohl  keinen 
Menschen  sagen.  Indem  sie  sich  nun  so 
mit  mir  eine  gute  Weile  in  ihren* Armen 
gehätschelt  hatte,  stund  sie  mit  mir  auf, 
zog  mir  ein  weiß  Hembde  an  und  rnSte 
die  Mieth-Leute  im  gantzen  HauBe  zusaro- 
men,  welche  mich  alle  mit  einander  höchst 
verwundernd  ansahen  und  wüsten  nicht, 
was  sie  aus  mir  machen  solten,  weil  ich 
.schon  so  artig  schwatzen  kunte. 


Ld)tage  ein  klein  Kind  gesehen  ha^ 

ben?  hatten  sie  mich  zuvor  nicht  angesehen,  so  sahen  sie  mich  allererst  hernach 
an,  wie  sie  mich  reden  höreten,  und  verwunderten  sich  grausam  wegen  meines 
klugen  Verstandes,  ja  sie  stunden  auch  alle  in  Zweiffei,  ob  ich  meiner  Frau 
Mutter  Sohn  wäre,  oder  nicht? 

Nicht  immer  ist  der  Vorzug  auf  Seiten  der  zweiten  Bearbeitung. 
So  ist  es  z.  B.  weit  passender,  dass  der  Knabe  seine  Mutter  in  die 
Kniekehle  kitzelt,  denn  erst  später  kriecht  er  empor  und  schaut  zum 


63]  Christian  Redter.  517 

Deckbette  hinaus,  was  er  doch  schon  mUsste  gethan  haben,  wenn  er 
sie  mit  dem  Strohhalm  in  die  Nase  kitzelte.  Auch  ist  die  Erzäh- 
lung, dass  er  anfangt  hinaufzukrabbeln  und  dadurch  seine  Mutter  in 
der  Annahme  bestärkt,  es  bewege  sich  eine  Ratte  zu  ihren  Füssen, 
ganz  angebracht.  Endlich,  wenn  auch  in  B  erwähnt  wird,  dass  die 
Leute  sich  darüber  wundern,  dass  der  Junge  schon  so  artig  zu 
schwatzen  verstehe,  so  ist  es  doch  nöthig,  dass  er  vorher  auch  in 
ihrer  Gegenwart  geredet  habe,  wie  in  A,  dessen  Fassung  auch  noch 
dadurch  bewährt  wird,  dass  es  auch  in  B  später  heisst:  »so  glaubten 
sie  hernach  allererst,  daß  ich  meiner  Frau  Mutter  ihr  Sohn  wäre.« 
Auch   sonst   noch   sind    in  B    Stellen   ausgefallen,   die   für   den 

Zusammenhang  nothwendig  sind.     S.  96  heisst  es  in  B: 

»Als  die  Staadens  Tochter  mir  nun  dieses  und  jenes  gozeiget,  fing 
sie  zu  mir  an  und  sagte,  ich  solle  sie  doch  immer  nehmen,  und  wenn 
ich  ja  keine  Lust  mit  ihr  in  Amsterdam  zu  bleiben  hätte,  so  wolle  sie 
ihr  Lümpgen  zusammen  packen  und  mit  mir  forlwandern  wo  ich  hin- 
wolle, wenn  gleich  ihr  Vater  nichts  davon  wüste.  Worauf  ich  ihr  zur 
Anlw^ort  gab,  wie  daß  ich  der  bravste  Kerl  von  der  Welt  wUre,  und  es 
könte  schon  angehen,  aber  es  Hesse  sichs  so  nicht  flugs  thun,  ich  wolle 
es  zwar  überlegen,  wie  es  anzufangen  wäre  und  ihr  ehister  Tage  Wind 
davon  geben.  ||  Nach  diesen  ging  ich  wieder  auf  den  Tanz-Platz  und  wolle 
sehen,  wo  meine  zukünfftige  Liebste  wäre,  welche  von  mir  auf  der  Gasse 
so  geschwinde  weglieff;  Ich  sehe'  mir  bald  die  Augen  aus  den  Kopffe  nach 
ihr  um,  ich  kunte  sie  aber  nicht  zu  sehen  bekommen.« 

Man  sieht,  vor  dem  letzten  Satze  »Nach  diesen  .  .«  fehlt  etwas 
im  Zusammenhang;  was  bedeuten  diese  Worte,  und  wo  ist  erzählt, 
dass  seine  zukünftige  Liebste  auf  der  Gasse  von  ihm'  fortgelaufen  sei? 
A  giebt  uns  die  Antwort:  es  ist  ein  Stück  der  Erzählung  ausgefallen. 
Es  heisst  in  A  S.  92  (und  man  beachte,  wie  gross  auch  in  dem 
Zusammenstimmenden  die  Aenderungen  sind ;  von  ihrem  Antrage,  sie 
zu  heirathen  und  heimlich  mit  ihr  durchzugehen,  ist  in  A  bereits 
vorher  die  Rede  gewesen): 

»Damit  ich  aber  wieder  auf  des  Staadens  Tochter  zu  redön  komme, 
so  gieng  dieselbe  nun  in  der  gantzen  Stadt  mit  mir  herum,  welches  bei 
den  Leuten  ein  solch  Aufsehen  erweckte,  daß  Ichs  nicht  sagen  kan.  |[  Es 
gieng  mir  aber  der  Tebelholmer  auch  unglücklich,  obs  nun  angestellt  war, 
kan  ich  nicht  wissen.  Wie  wir  bald  wieder  an  dem  Hochzeit-HauB  waren, 
kamen  ihrer  drey  gegangen,  die  fiengen  im  Vorbeygehen  an  zu  wetzen^), 


^j   Die  Klinge   auf  dem  Pflaster  wetzen  war  dazumal  die  studentische  Manier 
der  Herausforderung. 


518  Friedrich  Zarncke,  [64 

und  nahmen  nicht  einmal  die  Hüte  vor  mir  ab.  Sappermentl  wie  biB 
ich  die  Zahne  zusammen,  und  fieng  an :  was  wolt  ihr  Kerl  ?  Die  Kerl  auf 
mich  hinein.  Wie  das  meine  Maitresse  sähe,  lieff  sie  von  mir  weg,  und 
habe  sie  auch  die  Stunde  nicht  wieder  gesehen.  Wie  ich  aber  die  Kerl 
so  zu  schänden  hieb,  werden  mir  die  damahligen  Hochzeit^GSste  noch  die 
Stunde  müssen  ZeugniB  geben.  Die  Wache  kam  auch  darzu,  und  wolle 
mich  in  Arrest  nehmen;  der  Bürgermeister  sähe  es  aber,  schickte  flugs 
jemand  nach,  und  ließ  den  Kerlen  sagen :  sie  selten  sich  an  keiner  Standes- 
Person  vergreiffen,  und  er  wäre  schon  Mann  dafür.  Als  sie  dieses  hörteOf 
giengen  sie  wieder  fort,  und  nahmen  die,  so  ich  gehauen  hatte,  noch  darzu 
mit.  ]|  Ich  gieng  hierauf  wieder  in  das  Hochzeit-HauB,  und  erzehlete  die 
ganze  Sache  kürtzlich,  daB  auch  der  Bürgermeister  sagte:  wenn  ich  sie 
gleich  alle  drey  todt  gestochen,  es  hätte  kein  Hahn  darnach  krehen  sollen^ 
warum  hätten  sie  gewetzt?  Es  hatten  mir  etliche  von  den  Hochzeitr-Leuten 
zugesehen,  die  kunten  nicht  Wunder  genug  sagen,  wie  ich  die  Kerl  exer- 
ciret  hätte.  Als  der  Zorn  sich  nun  so  ein  wenig  bey  mir  geleget,  fragte 
ich  nach  des  Staadens  Tochter,  mit  welcher  ich  spatziren  gegangen,  die 
weite  nun  niemand  wissen.« 

Vielleicht  ging  in  B  ein  Blatt  des  neuen  Manuscripts  verloren. 

An  anderen  Stellen  ist  der  Grund  der  Weglassung  in  B  erklär- 
lich. So  wenn  in  A  S.  104  die  Arie  mitgetheilt  wird,  die  Scbel- 
muffsky  bei  dem  Grossmogol  singt,  die  ihm  aus  einer  Hamburgischen 
Opera  bekannt  gewesen  sei;  das  erschien  wohl  später  nicht  mehr 
wirksam  genug.  Auch  wenn  in  A  S.  07  fg.  bei  dem  gelabberten 
Meere  nach  dem  Herzog  Ernst  erzählt  ward,  wie  sich  Einer  in  eine 
Pferdehaut  hätte  nähen  lassen  und  so  vom  Vogel  Greiff  ans  Land 
getragen  wäre.  »Wo  derselbe  Kerl  hernach  wäre  zukommen,  hätte 
kein  Mensch  erfahren  können.  Als  er  nun  seine  Historie  von  dem 
labberten  Meer  auserzehlet  hatte,  kamen  wir  unter  die  Linie. «  Neben- 
bei, die  Anknüpfung  in  A  ist  wieder  einmal  origineller  als  die  in  B, 
wo  es  nun  S.  101  heisst:  »Wie  wir  nun  vor  dem  gelabberten  Meere 
vorbey  waren,  kamen  wir  unter  die  Linie.« 

Noch  einige  Stellen  zur  Vergleichung.  Die  nächste  Scene  spielt 
in  Stockholm;  ich  habe  bei  dem  Umfange  der  Abweichungen  davon 
absehen  müssen,  einzelne  Verschiedenheiten  hervorzuheben. 

A  S.  60.  B  S.  64. 

Wie  ich  das  verstor-  Nach  diesen  LieBgen  verliebte  sich  hernach  eines 

bene  LieBgen  nun  so  ein  vornehmen  Nobels  Tochter  in  mich,  dieselbe  hieB 

biBgen  vergessen  hatte,  Damigen ,   und  gab  nun  ebenfalls  wieder  Freyens 

kam   eines  andern  vor-  bey  mir  vor.    Es  war  der  Tebelhohlmer  ein  unver- 

nebmen   Nobels  Tochter  gleicblich  Mensche  auch !    Mit  derselben  muste  ich 


65] 


Christian  Reuteii. 


519 


immer  zu  mir,  mit  der 
muste  ich  alle  Tage  spa- 
tzieren fahren,  die  hatte 
nun  eigene  Kutsche  und 
Pferde,  und  fragte  mich 
auch,  ob  ich  sie  neh- 
men wolte?  Das  Mensch 
gefiel  mir  auch  sehr  wohl, 
ich  lieB  mich  da  halb  und 
halb  von  ihr  bereden,  daB 
ichs  ihr  zusagte,  sie  zu 
heyrathen.  Wie  solches 
geschehen ,  wurde  ein 
groB  Spiel  davon  gemacht, 
alle  Leute  redeten  davon, 
daB  das  Mensch  so  wohl 
ankäme,  und  es  wäre  so 
ein  braver^)  Kerl,  den 
sie  kriegte.  Solche  und 
dergleichen  Reden  er- 
zehleten  die  kleinen  Jun- 
gen einander  nun  auf  der 
Gassen.  Ich  lieB  aber  al- 
les gut  seyn,  und  mochte 
davon  reden  wer  reden 
wolte.  Nun  wüste  ich 
aber  nicht,  daß  ein  an- 
derer Nobel  auch  bey 
ihr  in  der  Liebe  lag  und 
wolte  sie  haben.  Was 
trug  sich  zu?  Ich  ftlhrete 
mich  einsmahls  mit  ihr 
auf  der  Gassen,  daB  mich 
die  Leute  doch  auch  se- 
hen selten,  wer  ich  wäre. 
Wie  ich  sie  nun  so  iin 
Arme  hatte  und  gieng 
mit  ihr,  Sapperment! 
wie  sähe  das  YoldL  zun 
Fenstern  heraus ,  und 
verwunderten  sich  alle 
über  mich.  daB  ich  so 
ein  braver  Kerl  war. 
Der  Nobel  mag  nun  auch 


alle  Tage  spatziren  fahren  und  mich  stets  mit  ihr 
schleppen.  Ob  ich  nun  wohl  der  Nobels  Tochter 
sehr  wohl  gewogen  war,  und  auch  Vertröstung  ge- 
than  sie  zu  nehmen,  so  hatte  ich  aber  den  Hand- 
schlag dennoch  nicht  von  mir  gegeben ,  allein  es 
trugen  sich  alle  kleine  Jungen  auf  der  Gasse  mit 
herum,  das  Jungfer  Damigen  eine  Braut  wäre,  wie 
das  Mensche  so  wohl  ankäme,  und  was  sie  vor  so 
einen  vornehmen  braven  Kerl  zum  Manne  kriegte, 
an  welchen  auch  flugs  alles  lachte,  wenn  man  ihn 
nur  ansähe.  Von  solchen  Spargement  war  nun  die 
gantze  Stadt  voll.  Ich  hatte  mich  auch  gäntzlichen 
resolviret  sie  zu  heyrathen  und  hätte  sie  auch  ge- 
nommen, wenn  sie  nicht  ihr  Herr  Vater  ohne  mein 
und  ihrer  Wissen  und  Willen  einen  andern  Nobel 
versprochen  gehabt.  Was  geschähe  ?  Damigen  bath 
mich  einsmahls,  daB  ich  mit  ihr  muste  an  einen 
Sonntage  durch  die  Stadt  spazieren  gehen,  damit 
mich  doch  die  Leute  nur  sähen,  denn  sie  hätten  von 
den  Lust-Gärtner  gehöret,  daB  ich  so  ein  braver 
vortrefflicher  Kerl  wäre,  den  nichts  ungemeines  aus 
den  Augen  funckelte,  und  also  trögen  ihrer  viel 
groB  Verlangen  mich  doch  nur  zu  sehen.  Nun 
kunte  ich  ihr  leicht  den  Gefallen  erweisen;  und  sie 
in  der  Stadt  ein  wenig  herum  ftlhren.  Es  war 
gleich  am  Baltens-Tage ,  weicher  dazumahl  den 
Sonntag  einfiel,  als  ich.  mit  Damigen  in  der  Stadt 
Stockholm  herumspatzieren  gieng,  und  Sie  bey  der 
Hand  ftlhrete.  Wie  nun  die  Leute  sahen,  daB  ich 
mit  meinen  Damigen  da  angestochen  käme,  0  Sap- 
perment !  wie  legten  sie  sich  zu  den  Fenstern  her- 
aus I  Sie  redeten  immer  heimlich  gegen  einander, 
und  so  viel  ich  vernehmen  kunte,  sagte  bald  hier 
einer :  das  ist  doch  ein  wunderschöner  Kerl  I  bald 
fing  ein  anderer  in  einen  andern  Hause  an :  Des 
gleichen  hab  ich  mein  Lebetage  nicht  gesehen  !  Bald 
stunden  dort  ein  paar  kleine  Jungen,  die  sagten  zu 
einander:  Du,  sieh  doch,  da  kömmt  das  Mensche 
gegangen ,  die  den  vornehmen  reichen  Juncker 
kriegt,  der  draussen  bey  den  Lust-Gärtner  in  Quar- 
tiere liegt.  Bald  stunden  an  einer  Ecke  ein  paar 
Mägde,  die  sagten:  Ach  Ihr  Leute!  denckt  doch 
wie  Jungfer  Damigen  so  wohl  ankömmt,  sie  kriegt 
den  Kerl  da,   der  sie   bey   der  Hand   ftlhrt,    das 


1)   Erst  gegen  Ende  pflegt  es  auch  in  A  zu  heissen  »brav  Kerl«. 

Abhandl.  d.  K.  S.  öeBellHch.  d.  WissenBcb.  XXI.  35 


520 


Friedrich  Zarnckr, 


[66 


etwan  iin  so  einem  Orthc 
seyn ,  und  sehen ,  daß 
ich  seine  Maitresse  im 
Arme  habe,  und  mich 
auf  der  öffentlichen  Gasse 
mit  ihr  führe.  Was  hat 
er  zu  thun?  Er  schleicht 
sich  heimlich  hinter  uns 
her,  und  gibt  mir  der 
Tebelhohlmer  hinter- 
rücks so  eine  Ohrfeige, 
daß  mir  der  Huth  weit 
vom  Kopffe  flog,  und 
lieff  geschwinde  in  ein 
HauB  hinein.  0  mor- 
pleul  wie  knirschte  ich 
mit  den  Zähnen.  Sein 
groß  Glücke  wars,  daß 
er  lieff,  ich  hatte  ihn 
sonst  der  Tebelholmer 
auf  der  Stelle  erstochen. 
Ich  war  ihm  auch  wil- 
lens nachzulauffen,  weil 
mich  aber  meine  Liebste 
bath  und  davon  abhielt, 
ich  solte  es  nur  gut  seyn 
lassen ,  es  möchte  sonst 
ein  groß  Auffsehens  von 
den  Leuten  erwecken, 
so  gieng  ich  mit  ihr  fort, 
und  that,  als  wenn  mir 
nichts  drum  wUre.  Auf 
den  Morgen  früh  schickte 
ich  gleich  des  Lustgärt- 
ners Jungen  zu  ihm,  und 
ließ  ihm  sagen  etc. 


Mensche  ist  ihn  nicht  einmahl  werth.  Solche  und 
dergleichen  Reden  murmelten  die  Leute  nun  so 
heimlich  zu  einander.  £s  war  auch  ein  Nachgesehe, 
daß  ichs  der  Tebel  hohlmer  nicht  sagen  kan.  Als 
wir  nun  auf  den  Marckt  kamen  und  allda  uns  ein 
wenig  aufhielten,  daß  ich  (1.  mich)  das  Volck  recht 
•sehen  solte,  mag  derselbe  Nobel  dieses  gewahr  wer- 
den, daß  ich  Damigen  (welche  er  zur  Liebsten  ha- 
ben solte)  nach  aller  Lust  da  herum  führe ;  ich  ver- 
sähe mich  aber  dieses  nicht,  daß  der  Kerl  solch 
närsch  Ding  vornehmen  wird ;  Indem  mich  nun  die 
Leute  und  mein  Damigen  mit  grosser  Verwunderung 
ansahen,  kam  er  von  hinterrücks  und  gab  mir  der 
Tebel  hohlmer  eine  solche  Presche,  daß  mir  der  Hut 
weit  von  Kopffe  flog,  und  lieff  hernach  geschwinde 
in  ein  Hauß  hinein.  0  Sapperment!  wie  knirschte 
ich  mit  den  Zähnen,  daß  sich  ein  Kerl  solch  Ding 
unterstund,  und  wenn  er  nicht  gelauffen  wäre,  ich 
hätte  ihn  der  Tebel  hohl  mer  die  falsche  Quinte 
gleich  durchs  Hertze  gestossen,  daß  er  das  aufstehen 
wohl  vergessen  sollen.  Ich  hatte  auch  willens  ihn 
zu  verfolgen,  wenn  mich  Damigen  nicht  davon  noch 
abgehalten  hätte,  die  sagte :  Es  möchte  so  ein  groß 
Aufsehens  bey  denen  Leuten  erwecken,  und  ich 
könte  ihn  schon  zu  anderer  Zeit  finden.  Als  Damigen 
diesen  Vorschlag  that,  setzte  ich  meinen  Hut  mit  so 
ßiner  artigen  Manier  wieder  auf,  daß  auch  alle  die 
Leute,  welche  mir  hatten  hinterrücks  sehen  die 
Presche  geben ,  heimlich  zu  einander  sagten  :  Es 
müßte  was  rechts  hinter  mir  stecken.  Ob  ich  nun 
wohl  gegen  mein  Damigen  mich  erzeugte  als  wenn 
mir  nichts  drum  wäre,  dennoch  aber  kunte  ich  das 
Knirschen  mit  den  Zähnen  nicht  lassen,  so  tolle  war 
ich,  daß  ich  auch  endlich  Damigen  bath,  wenn  sie 
beliebete,  so  weiten  wir  wieder  zum  Lust-Gärtner 
hinaus  wandern,  und  uns  da  im  Garten  ein  wenig 


noch  divertiren.  Damigen  gehorchte  mir  in  allen, 
wir  giengen  beyde  mit  so  einer  artigen  Manier  wieder  zurück  und  immer 
nach  des  Lust-Gärtners  Hause  zu,  allwo  ich  mich  in  Garten  mit  meinen  Da- 
migen ins  Graß  setzte,  und  mit  ihr  berathschlagete,  wie  ichs  anfangen  wolte 
mich  an  den  Nobel  zu  rächen.  Hierauf  satzte  sich  Damigen  in  ihre  Kutsche 
und  fuhr  wieder  in  die  Stadt  nach  ihrer  Behausung  zu.  Den  andern  Tag 
drauf,  als  ich  mich  nun  erkundiget,  wo  der  Kerl  wohnete,  welcher  mir  die 
Ohr-Feige  gegeben ,  schickte  ich  des  Gärtners  Jungen  an  ihn ,  und  ließ  ihn 
sagen  etc. 

Der  Schiffbruch,    nachdem  sie  von  Stockholm  abgefahren  sind, 


67] 


Christian  Revtea. 


521 


wird  in  A  und  B  ziemlich  gleich  geschildert,  um  so  charakteristischer 
sind  aber  die  kleinen  Zuthaten  in  B^  So  heisst  es  hier,  sie  seien 
etliche  Wochen  geschifft  bis  sie  nach  Bornholm  gekommen  seien, 
während  sie  dann  später  in  3  Tagen  auf  dem  Brette  nach  Amster- 
dam schwimmen;  der  Tod  der  Charmante  wird  höchst  stilvoll  ge- 
schildert und  der  ganze  Erzählungston  ist  in  der  angedeuteten  Rich- 
tung gesteigert. 


A,  S.  74. 

Es  fuhr  sich  den  einen  Tag  gut  : 
den  andern  Tag  aber,  wie  es  so 
begunte  finster  zu  werden ,  Sap- 
permenti  was  erhub  sich  da  vor 
ein  Ungestüm  auf  der  See,  daB  der 
SchifTmann  der  Tebelholmer  kein 
Stich  sehen  kuote,  ob  er  gleich 
zwey  grosse  brennende  Lampen  bei 
sich  hängen  hatte.  Wenn  ich  da- 
ran gedencke,  wie  dasselbemahl 
der  Wind  brausete,  er  schmieß  die 
Wellen  der  Tebelholmer  die  höch- 
ste Thttrme  hoch  über  das  Schiff 
weg,  und  wolte  gar  kein  auff hören 
seyn.  Zu  dem  allergrösten  Un- 
glücke hatte  der  Schiffman  den 
Coinpas  zu  Stockholm  im  Wirths- 
hause  auf  dem  Tische  liegen  las- 
sen, der  kunte  nun  auch  nicht 
wissen,  wo  wir  waren,  ankern 
wolte  sichs  auch  nicht  lassen,  da- 
rum muste  er  dem  Schiffe  seinen 
Willen  lassen,  wo  es  Wind  und 
Wellen  hintrieben.  Wie  wir  nun 
nicht  weit  von  der  Insel  Bornholm 
waren,  so  schmeist  der  Wind,  ehe 
wir  uns  solches  versehen,  das  Schiff 
an  eine  Klippe,  daß  es  der  Tebel- 
holmer im  Augenblick  auff  tausend 
Stücken  Sprung.  SappermentI  was 
war  das  vor  ein  Zustand,  da  gieng 
Schiff  und  Menschen  alles  caduc, 
und  wenn  ich  und  mein  Herr  Bru- 
der Graff  nicht  unversehens  ein 
Breit  hätten  zu  fassen  gekriegt,  wir 
wären   der  Tebelholmer  auch  rail 


B,  S.  84. 

Wir  schifften  etliche  Wochen  sehr  glück- 
lich fort,  und  waren  alle  brav  lustig  auf 
den  Schiffe;    als   wir   aber  an  die  Insel 
Bornholm  kommen,  wo  es  so  viel  Klippen 
giebt,  und  wenn  ein  Schiffmann  die  Wege 
da  nicht  weiß,   gar  leichtlich  umwerffen 
kan,  £y  Sapperment !  was  erhub  sich  im 
Augenblicke  vor  ein  grosser  Sturm  und 
Ungestüm  auf  der  See,  der  Wind  schmiß 
der  Tebel  hohlmer  die  Wellen  die  höch- 
sten Thürme   hoch  über  das  Schiff  weg 
und  fing  an  kohl-bech-raben-stockfinster 
zu  werden.  Zu  dem  allergrösten  Unglücke 
noch  hatte  er  zu  Stockholm  in  Wirthshause 
den  Compaß  auf  den  Tische  stehen  lassen 
und  vergessen,    daß  er  also  gantz  nicht 
wusle  wo  er  war,    und  wo  er  zufahren 
solle.     Das  Wüten   und  Toben   von  den 
grausamen  Ungestümm  wärete  44.  gan- 
zer Tage   und  Nacht,   den  funffzehenden 
Tag,    als   wir  vermeinten  es  würde  ein 
wenig  stille  werden,  so  erhub  sich  wie- 
der ein  Wetter  und  schmiß  der  Wind  un- 
ser Schiff  an   eine  Klippe,    daß   es  der 
Tebel  hohlmer  flugs  in  Hundert  tausend 
Stücke   sprang.     Sapperment!    was   war 
da  vor  ein  Zustand  auf  der  See !    Es  ging 
Schiff,  Schiffmann  und  alles  was  nur  zu- 
vor auf  den  Schiffe  war,  in  einen  Augen- 
blick zu  Grunde,  und  wenn  ich  und  mein 
Herr  Bruder  Graf  nicht  so  geschwinde  ein 
Bret  ergriffen  hätten,  worauf  wir  uns  flugs 
legten,    daß  wir  zu  schwimmen  kamen, 
so  wäre  kein  ander  Mittel  gewesen,  wir 
hätten    gleichfalls  mit  den  6000.  Seelen 
müssen  vor  die  Hunde  gehen ;  0  Sapper- 

35* 


^ 


522 


Friedrich  Zarncke, 


68 


vor  die  Hunde  gegangen ;  nicht  eine 
eintzige  Person  wusle  sich  von  den 
6000.  Seelen  da  zu  retten,  und  war 
also  ein  groß  Glück,  daß  ich  und 
der  Graff  noch  das  Brett  ergriefiFen. 
Da  musten  wir  nun  aufi*  solchen 
ungestUmmen  Wellen  wohl  über 
iOO.  Meilen  schwimmen,  ehe  wir 
an  Land  kamen.  Nichts  betaure 
ich  noch  bey  damahligem  Schiff- 
bruche, als  daß  meine  Charmante 
muste  so  unschuldiger  Weise  mit 
drauff  gehen ;  denn  es  war  immer 
und  ewig  schade  vor  das  Mensche, 
sie  hatte  ein  überaus  gut  Gemüthe, 
und  war  auch  von  vortrefflichen 
Verstände,  allein  was  kunte  ich 
thun,  ich  muste  sie  doch  vergessen. 


ment!  was  war  da  von  den  Leuten  ein 
Gelamentire  in  den  Wasser,  nichts  mehr 
dauret  mich  nodh  die  Stunde,  als  nur 
meine  allerliebste  Charmant«,  wenn  ich 
an  dasselbe  Mensche  gedencke  gehen  mir 
der  Tebel  holmer  die  itzige  Stunde  die 
Augen  noch  über.  Denn  ich  hörte  sie 
wohl  lOmahl  noch  im  Wasser  »Anmuthi- 
ger  Jüngling«  ruffen,  allein  was  kunte  ich 
ihr  helffen,  ich  hatte  der  Tebel  hohlmer 
Selbsten  zu  thun  daß  ich  nicht  von  dem 
Brete  herunter  kipte,  geschweige  daß  ich 
ihr  hätte  helffen  sollen.  £s  war  immer 
und  ewig  Schade  um  dasselbe  Mensche, 
daß  es  da  so  unverhofft  ihr  Leben  mit  in 
die  Schantze  schlagen  muste;  Es  kunte 
sich  auch  der  Tebel  hohlmer  nicht  eine 
eintzige  Seele  retten  als  ich  und  der  Herr 
Graf  auf  dem  Brete.  Als  ich  und  mein 
Herr  Bruder  Graf  diesen  Trauer-Spiele  auf  unsern  Brete  in  der  Ferne  nun  so  eine 
Weile  zugeschauet,  plätscherten  wir  mit  unsern  Händen  auf  denselben  fort,  und 
musten  wohl  über  hundert  Meilen  schwimmen,  ehe  wir  wieder  an  Land  kamen. 

Schliesslich   noch    der  Anfang   der  Erzählung   von  der  Verferti- 
gung des  Hochzeitcarmens  in  Amsterdam.     Man  wird  beachten,  wie 

viel  zweckmässiger  die  Vertheilung  und  Darstellung  in  B  ist  als  in  A : 
A,  S.  80.  B,  S.  87. 

In  etlichen  Tagen  hernach,  war         Es   wurde   zu   derselben  Zeit  bald  eine 

vornehme  Hochzeit,  worzu  man  mich  und 
meinen  Herr  Bruder  Grafen  auch  invitirete. 
Denn  es  heyrathete  ein  Lord  aus  London 
in  Engelland  eines  vornehmen  Staadens 
Tochter  zu  Amsterdam,  und  wie  es  nun 
da  gebräuchlich  ist,  daß  die  vornehmen 
Standes-Personen,  welche  zur  Hochzeit  ge- 
bethen  werden,  allemahl  zu  Ehren  Braut 
und  Bräutgam  ein  Hochzeit-Carmen  dru- 
cken lassen ,  und  sie  damit  beehren ,  als 
wolte  ich  hierinnen  mich  auch  sehen  las- 
sen, dz  ich  ein  brav  Kerl  wäre.  Es  war 
gleich  um  selbe  Zeit  bald  Gertraute,  daß  der 
Klapperstorch  bald  wiederkommen  solte, 
und  weil  die  Braut  Traute  hieß,  so  wolle 
ich  meine  invention  von  den  Klapperstorche 
nehmen,  und  der  Titul  sollte  heissen: 


eine  vornehme  Hochzeit,  darzu 
wurde  ich  und  der  Herr  Bruder 
Graff  auch  eingeladen.  Ein  Lord 
aus  Engel land  kriegte  eines  vor- 
nehmen Staadens  Tochter,  wel- 
che Traute  hieß.  Nun  ist  es  da 
gebräuchlich,  daß  die  Standes- 
personen allemal  Braut  und  Bräu- 
tigam zu  Ehren  ein  Hochzeit- 
Carmen  drucken  lassen,  und  sie 
damit  beschencken.  Ich  wolte 
mich  hierbey  nun  auch  sehen 
lassen,  daß  ich  ein  braver  Kerl 
wäre,  und  beehrete  sie  auch  da- 
mit; weil  die  Braut  aber  Traute 
hieß,  und  etwan  noch  acht  Tage 
im  Calender  auf  Gertrude  ^)  war, 


^)    n.   März. 


69] 


Christian  Reuter. 


523 


daß  der  Storch  kommen  solle, 
so  nahm  ich  die  Invention  von 
dem  Klapper-Storche,  salzte  mich 
dahin ,  nahm  Feder  und  Dinte, 
und  fieng  an  zu  schreiben,  es 
wolle  mir  aber  selben  Tag  gar 
nichts  bey fallen.  Ich  fragte  den 
Herrn  Grafen,  ob  er  dergleichen 
sonst  gemacht  hätte,  er  solle  mir 
was  aufsetzen,  ich  wolle  sehen, 
wie  mirs  gefiele;  auf  dem  Abend 
salzte  sich  der  Hr.  Graff  hin, 
und  wolle  mir  da  ein  Hochzeit- 
Carmen  dichten ;  wie  er  etliche 
Zeilen  gemacht  hatte,  wollen  sie 
mir  nicht  gefallen;  denn  an  statt 
dessen,  da  er  den  Klapperstorch 
setzen  solle,  hatte  er  die  Lerche 
genommen,  und  wo  Gertrude  ste- 
hen solle,  da  stund  Flora  oder 
sonst  ein  närrischer  Nähme,  wel- 
chen ich  mein  Lebelage  in  kei- 
nem Caiender  gesehen  hatte,  hö- 
ret nur,  wie  er  anfieng: 

Die  Lerche  hat  sich  schon  in 
Lüfflen  praesentirt, 

Und  Mutter  Flora  steigt  all- 
mählich aus  dem  Neste, 

Schläffl  gleich  die  Maja  noch 
in  ihrem  Zimmer  feste; 

Daß   also  jetziger   Zeil   viel 
Lust  nicht  wird  gespürt. 

Als  ich  die  Verse  nun  gelesen 
hatte,  reimte  sichs  vors  erste  der 
Tebelholmer  nicht.  Denn  prae- 
senlirt  und  Neste,  wie  schickt 
sich  denn  das  zusammen?  Vor 
das  andere  wusle  ich  auch  der 
Tebelholmer  nicht,  was  Maja  und 
Flora  heissen  solle.  Ich  sagte 
zum  Grafen;  Herr  Bruder,  zer- 
brich dir  nur  den  Kopff  nicht 
weiter,  komm  und  laß  uns  zu 
Bette  gehn.  Welches  er  auch 
Ihal. 


Der  fröliche  Klapper-Storch,  etc. 
Ich  war  her  und  salzte  mich  drüber,  und 
saß  wohl  über  vier  Stunden,  daß  mir  doch 
wäre  eine  Zeile  beygefallen?  Der  Tebel 
hohlmer  nicht  ein  Wort  kunte  ich  zu  Wege 
bringen,  das  sich  zu  den  frölichen  Klapper 
Storche  geschickt  hätte,  ich  bath  meinen 
Hn.  Br.  Grafen,  er  solle  es  versuchen  ob 
er  was  könle  zur  Nolh  herbringen,  weil 
mir  nichts  beyfallen  wolle.  Der  Hr.  Graf 
sagte  nun,  wie  er  vor  diesen  wäre  in  die 
Schule  gegangen,  so  hätte  er  ein  Bißgen 
reimen  lernen,  ob  ers  aber  würde  noch 
können ,  wüste  er  nicht ,  doch  müsle  ers 
versuchen  obs  angehen  wolle.  Hierauf 
salzte  sich  der  Graf  nun  hin,  nahm  Feder 
und  Dinte  und  fing  da  an  zu  dichten ;  was 
er  damahls  nun  aufschmierete  waren  fol- 
gende Zeilen: 

Die  Lerche   hat  sich  schon  in  Ltifflen 
praesentiret. 

Und  Mutter  Flora  steigt  allmehlig  aus 
den  Neste; 

Schläfll  gleich  die  Maja  noch  in  ihren 
Zimmer  feste. 

Daß   also   ietzger  Zeit  viel  Lust  nicht 
wird  gespürt. 

Dennoch  so  will  — 

Als  er  über  diesen  Zeilen  nun  so  wohl  eine 
halbe  Stunde  gesessen,  so  guckte  ich  von 
hinten  auf  seinen  Zeddel  und  sähe  was  er 
gemacht  halte;  wie  ich  nun  das  Zeug  laß, 
musle  ich  der  Tebel  hohlmer  recht  über 
den  Herrn  Bruder  Grafen  lachen  daß  es 
solch  albern  Gemachte  war.  Denn  an  statt, 
da  er  den  Klapperslorch  hätte  setzen  sol- 
len, halle  er  die  Lerche  hingeschmiret,  und 
wo  Traute  stehen  solle,  halle  er  gar  einen 
Flor  genommen ;  denn  der  Flor  schickt  sich 
auch  auf  die  Hochzeit  I  und  darzu  hätte 
sichs  auch  hinten  aus  reimen  müssen  1  denn 
praesentiret  und  Neste,  das  reimt  sich  auch 
der  Tebel  hohlmer  wie  eine  Faust  aufs 
Auge.  Er  wolle  sich  zwar  den  Kopff  weiter 
darüber  zubrechen,  allein  so  hieß  ichs  ihn 
nur  seyn  lassen  und  dafür  schlaffen. 


524  Friedrich  Zarncke,  [70 

Man  sieht,  dass  wir  dringend  einer  Doppelausgabe  des  Schel- 
muffsky  bedürfen,  die  entweder  so  eingerichtet  ist,  dass  beide  Texte 
in  2  Columnen  neben  einander  (oder  über  einander)  gedruckt  wer- 
den, oder  die  doch  mit  reichlichen  Verweisungen  von  einem  Texte 
zum  andern  versehen  ist. 

Die  Annahme,  dass  die  zweite  Bearbeitung  gar  nicht  von  Chr. 
Reuter  selber  herrühre,  und  mit  dem  E.  S.  des  Titels  ein  Anderer 
gemeint  sei,  erscheint  mir  zu  abenteuerlich,  um  ernsthaft  in  Erwä- 
gung gezogen  werden  zu  können.  In  den  Buchstaben  E.  S.  ver- 
muthe  ich  die  Worte:  Eustachius  Schelmuffsky.  Es  zeigen  sich  auch 
im  Druck  einzelne  Eigenheiten,  die  direct  auf  Reuter's  Handschrift 
hinweisen.  Von  der  Verdrängung  des  adj.  mask.  Dativs  durch  den 
Accusativ  will  ich  nicht  sprechen,  diese  war  damals  in  Leipzig  herr- 
schend, aber  Reuter  hat  z.  B.  die  Eigenheit,  die  ich  sonst  nicht 
wieder  beobachtet  habe,  das  Fragezeichen  oft  auch  statt  eines  Aus- 
ruf ungszeichens  zu  verwenden,  und  ebendiese  Eigenheit  hat  auch 
noch  der  älteste  uns  erhaltene  Druck  der  erweiterten  Bearbeitung. 

Ob  der  zweite  Theil  früher  erschienen  ist  als  diese  Umarbeitung 
des  ersten  Theiles,  ist  nicht  mit  voller  Bestimmtheit  zu  entscheiden. 
Könnten  wir  sicher  sein,  dass  die  Jahreszahl  1697  auf  dem  uns  erhal- 
tenen ältesten  Drucke  jenes  das  Jahr  des  ersten  Erscheinens  bezeichne, 
so  wäre  die  Bearbeitung  des  ersten  Theils  vorangegangen,  denn  wir 
haben  von  dieser  einen  Druck  aus  dem  Jahre  1696.  Aber  in  dem 
Berichte- der  Bücher-Commission  an  den  Churfürsten  vom  21.  Nov. 
1696  wird  bereits  der  »andere  Theil«  als  confisciert  genannt.  Aller- 
dings ist  die  ganze  Stelle  wieder  ausgestrichen,  aber  wie  sollte  man 
auf  jene  Bezeichnung  überhaupt  haben  kommen  können,  wenn  für  sie 
noch  gar  keine  Veranlassung  vorlag?  Auch  ist  es  doch  wahrschein- 
lich, dass  die  älteste  Ausgabe  des  zweiten  Theils  in  demselben  Format 
erschien  wie  die  des  ersten,  dass  also  der  uns  erhaltenen  bereit« 
eine  andere  vorausgegangen  ist.  Dazu  kommt,  dass  der  zweite  Theil 
sich  gegenüber  der  Umarbeitung  des  ersten  Theiles  etwas  winzig 
ausnimmt  (78  :  1 30  Seiten) ,  während  er  zu  der  ersten  Bearbeitung 
desselben  ein  ganz  angemessenes  Verhältniss  haben  würde  (78  S.  8^  : 
120  S.  12^).  Ich  vermuthe  also,  dass  die  erste  Ausgabe  des  zweiten 
Theiles,  und  zwar  in  Duodez,  bereits  im  November  1696  vorhanden 
gewesen  ist;  der  erste  ist  ja  schon  im  August  nachgewiesen. 


74]  Christian  Reutbb.  525 

m 

Dieser  zweite  Theil  enthält  eine  Steigerung  über  die  anfängliche 
Tendenz  hinaus,  nach  der  an  der  Reise  des  Schelmulfsky  weder  in 
der  Comödie  noch  in  der  Reisebeschreibung  gezweifelt  wird.  Nach 
der  Darstellung  des  zweiten  Theiles  aber  ist  Schelmuffsky  gar  nicht 
in  der  Fremde  gewesen,  sondern  hat  in  der  Nähe  auf  einem  Bier- 
dorfe  herumgesofl^n. 

Ob  bei  Reuter's  späterer  definitiven  Verurtheilung  der  Schel- 
muffsky eine  wesentliche  Rolle  gespielt  hat,  vermögen  wir,  weil  uns 
die  Universitätsacten  fehlen,  nicht  zu  sagen.  Für  den  ersten  Theil  ist 
es  kaum  glaublich,  da  sich  in  ihm,  der  ganz  in  der  Fremde  spielt, 
offenbare  Beziehungen  auf  die  Familie  Müller  nicht  finden :  nur  der 
Name  und  einige  Fata  des  Schelmuffsky,  die  Erwähnung  der  »ehr- 
lichen Frau«  zu  Anfang  und  zu  Ende,  und  die  Geschichte  von  der 
Ratte  bieten  einen  Zusammenhang  mit  der  Comödie.  Anders  steht 
es  mit  dem  zweiten  Theile.  Hier  kehrt  Schelmuffsky  heim  ins  Haus 
der  Mutter  und  Gelegenheit  mindestens  zu  Argwohn  liegt  nahe.  Man 
erkennt  auch  gar  leicht  in  den  beiden  liederlichen  Muhmen  die  leicht- 
sinnigen Schwestern  wieder  und  in  dem  verzogenen  Vetter  den  jün- 
geren naseweisen  Bruder.  Nun  möchte  man  vermuthen,  es  seien 
ihnen  hier  die  entfernteren  Verwandtschaftsgrade  nur  um  deswillen 
beigelegt,  weil  der  Verfasser  sich  gescheut  habe,  weiteren  Anstoss 
zu  erregen.  Aber  ein  solches  Motiv  war  offenbar  nicht  vorhanden, 
vielmehr  hatte  der  Verfasser  nur  in  Absicht  mit  doppelten  Keulen 
zu  schlagen.  Indem  er  sicher  sein  konnte,  dass  schon  die  Muhmen 
und  der  Vetter  erkannt  werden  würden,  tritt  er  plötzlich  gegen  Ende 
des  Buches  mit  einer  ganz  directen  Schilderung  der  Mülleriscben 
Familie  hervor.  In  der  Universitätsstadt  Padua  kehrt  er  im  Gasthaus 
zum  rothen  Stier  ein,  und  was  er  uns  von  den  Bewohnern  dieses 
erzählt,  ist  ganz  ein  Abbild  der  Familie  im  rothen  Löwen.  Blosses 
Rachegelüste  ist  freilich  auch  hier  das  Motiv  nicht,  es  ist  vielmehr 
in  der  Disposition  des  Romans  ein  hoch  genialer,  dem  Gesetze  der 
Steigerung  entsprechender  Zug,  der  Superlativ  des  Humors,  schliess- 
lich den  Schelmuffsky  sich  selber  gegenüberzustellen  und  die  beiden, 
aus  demselben  Urbilde  herausgewachsenen  Aufschneider,  diese  beiden 
Doppelgänger,  sich  an  einander  reiben  zu  lassen.  Die  Stelle  ist  für 
die  bisher  von  uns  gepflogenen  Erörterungen  zu  wichtig,  um  nicht 
ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  hier  Aufnahme  zu  verdienen. 


526  Friedrich  Zarncke,  [72 

II.  Theil,  S.  46  fg.     . 

In  derselben  Stadt  (Padua)  kehrete  ich  mit  meinem  Pferde  und  gros- 
sen Kober  in  einem  Gast-Hofe,  zum  rothen  Stier  genannt,  ein,  allwo  eine 
wackere  ansehnliche  Wirthin  war*) 

Es  hatte  dieselbe  Wirthin  auch  ein  paar  Töchter,  die  fUhreten  sich 
der  Tebel  hohlmer  galant  und  propre  in  Kleidung  auff,  nur  Schade  war 
es  um  dieselben  Menscher,  daß  sie  so  hochmüthig  waren,  und  allen  Leuten 
ein  Klebe  Fleckchen  wüsten  anzuhängen ,  da  sie  doch  der  Tebel  hohlmer 
von  oben  biß  unten  selbst  zu  tadeln  waren.  Denn  es  kunte  kein  Mensch 
mit  Frieden  vor  ihren  Hause  vorbey  gehen ,  dem  sie  nicht  allemahl  was 
auff  den  Ermel  heffteten,  und  kißen  sich  einen  Tag  und  alle  Tage  mit 
ihrer  Mutter,  ja  sie  machten  auch  bißweilen  ihre  Mutter  so  herunter,  daß 
es  Sünde  und  Schande  war,  und  hatten  sich  an  das  heßliche  Fluchen  und 
Schweren  gewöhnet,  daß  ich  der  Tebel  hohl  mer  viel  mahl  gedachte :  Was 
gilts?  Die  Menscher  werden  noch  auff  den  Miste  sterben  müssen,  weil 
sie  ihre  eigene  Mutter  so  verwünschen.  Allein  es  geschähe  der  Mutter 
gar  recht,  warum  hatte  sie  dieselben  in  der  Jugend  nicht  besser  gezogen. 
Einen  kleinen  Sohn  hatte  sie  auch  noch  zu  Hause,  daß  war  noch  der  beste, 
sie  hielt  ihm  unterschiedene  Präceptores,  aber  derselbe  Junge  hatte  zu  dem 
Studiren  keine  Lust.  Seine  eintzige  Freude  hatte  er  an  den  Tauben,  und 
auch  (wie  ich  in  meiner  Jugend]  an  dem  Blase-Rohre,  mit  demselben 
schoß  er  im  Vorbey  gehen,  wenn  es  Marckt^Tages  war,  die  Bauren  immer 
auf  die  Köpffe,  und  verstackte  sich  hernach  hinter  die  Hauß-Thüre,  daß 
ihn  niemand  gewahr  wurde.  Ich  war  denselben  Jungen  recht  gut,  nur 
des  Blase- Rohrs  halber,  weil  ich  in  meiner  Jugend  auch  so  einen  grossen 
Narren  daran  gefressen  hatte. 

Nun  waren  auch  viel  Studenten  da  im  Hause,  mit  denenselben  stun- 
den der  Fr.  Wirthin  ihre  Töchter  vortrefflich  wohl.  Sie  lieffen  des  Mor- 
gens immer  zu  den  Studenten  auff  die  Stuben,  und  quälten  sie  so  lange, 
biß  sie  musten  ein  gut  Frühstück  hohlen  lassen.  Wenn  das  Ding  nun 
gleich  ihre  Mutter  sähe  oder  wüste,  daß  ihre  Töchter  die  Studenten- 
Stuben  besuchten,  so  sagte  sie  ihnen  der  Tebel  hohl  mer  nicht  das  ge- 
ringste, sondern  wenn  sie  gewahr  wurde,  daß  die  Studenten  ein  gut  GlaB 
Wein  hatten  hohlen  lassen,  so  machte  sie  sich  auch  ein  Gewerb  zu  sie, 
und  schnabelirte  da  so  lange  mit,   biß  es  alle  war.     Hernach  so  ging  sie 


^)  Der  Verf.  kann  es  nicht  unterlassen,  zugleich  auch  der  Universität  eioeo 
Hieb  zu  versetzen.  Er  spottet  über  die  Leichtigkeit  der  Promotion  an  derselben: 
»Es  sind  bißweilen  über  dreißig  tausend  Studenten  in  Padua,  welche  in  einem 
Jahre  alle  mit  einander  zu  Doctors  gemacht  werden.  Denn  da  kan  der  Tebei- 
hohlmer  einer  leicht  Doctor  werden,  wenn  er  nur  Speck  in  der  Tasche  hat,  und 
scheuet  darbey  seinen  Mann  nicht,  a  Sollten  hiemit  die  Magisterpromotionen  der 
philosophischen  Facultät  gemeint  sein,  so  dürfte  dies  durch  das  Jahr  1694  veran- 
lasst sein,  wo  die  Zahl  derselben  plötzlich  von  4  9  und  25  der  beiden  vorauf- 
gehenden Jahre  auf  46  stieg,   worüber  vielleicht  böswillig  geredet  sein  mag. 


73]  Christian  Reuter.  527 

wiederum  ihrer  Wege  und  sagte  zu  den  Töchtern :  •  Wenn  sie  genung  hät- 
ten, selten  sie  bald  nachkommen,  welches  sie  auch  bißweilen  thalen.  Ich 
kunte  die  Menscher  aber  niemahls  um  mich  leiden,  denn  vors  erste  re- 
deten sie  kein  klug  Wort  mit  einem,  und  wer  mit  mir  dazumahi  reden 
wolte,  der  muste  der  Tebel  hohl  mer  Haare  auff  den  Zähnen  haben.  Vor 
das  andere,  so  hatte  ich  vor  denselben  Menschern  flugs  einen  Abscheu^ 
wenn  sie  mir  nur  etwas  zu  nahe  traten,  denn  sie  hatten  einen  erbärm- 
lichen ttbelrUchenden  Athem. 

Nun  kunten  die  guten  Mädgens  wohl  nichts  dafür,  denn  so  viel  ich 
aus  dem  Gerüche  abnehmen  kunte,  hatten  sie  wohl  das  Vitium  von  ihrer 
Mutter  gelemet,  denn  die  Mutter  kunte  man  der  Tebel  hohl  mer  flugs 
rüchen,  wenn  man  sie  gleich  nicht  einmahl  sähe.  Es  hätte  auch  diese 
Wirthin  so  gerne  wieder  einen  Mann  gehabt,  wenn  sie  nur  einer  hätte 
haben  wollen,  denn  der  sappermentsche  Huren-Sohn,  der  Cupido,  mußte 
ihr  eine  abscheuliche  grosse  Wunde  mit  seinen  Pfeile  gemacht  haben, 
daß  sie  in  ihrem  60.  Jährigen  Alter  noch  so  verliebt  umb  den  Schnabel 
herum  aussähe.  Sie  hätte  halt  ich  dafür  wohl  noch  einen  Leg  dich  her 
bekommen,  weil  sie  ihr  gutes  Auskommen  hatte,  so  aber  stunck  ihrs  so 
lästerlich  aus  dem  Halse ,  daß  einen ,  wer  sie  nur  von  ferne  sähe ,  flugs 
aller  Appetit  vergehen  muste.  Den  gantzen  Tag  redete  sie  von  nichts 
anders  als  von  Hochzeitmachen,  und  von  ihrem  Sohne,  welcher  in  der 
Frembde  wäre,  und  sagte :  was  derselbe  vor  ein  stattlicher  Kerl  wäre. 

Ich  hatte  halt  ich  davor  noch  nicht  drey  Wochen  bey  derselben  Wir- 
thin logiret,  so  stellte  sich  ihr  frembder  Sohn  zu  Hause  wieder  ein.  Er 
kam  der  Tebel  hohl  mer  nicht  anders  als  ein  Kessel-Flicker  aufigezogen, 
und  stunck  nach  Toback  und  Brantewein,  wie  der  ärgste  Marode-Bruder. 
Ey  sapperment,  was  schnitte  der  Kerl  Dinges  auff,  wo  er  überall  gewesen 
wärcj  und  waren  der  Tebel  hohl  mer  lauter  Ltfgen. 

Wie  ihn  nun  seine  Mutter  und  Schwestern ,  wie  auch  sein  kleiner 
Bruder  bewilikommet  hatten,  so  wolte  er  mit  seinen  Schwestern  Frantzöisch 
an  zu  reden  fangen,  allein  er  kunte  der  Tebel  hohl  mer  nicht  mehr  vor- 
bringen als  ouy.  Dann  wenn  sie  ihn  aufl"  teutsch  fragten :  Ob  er  auch 
da  und  da  gewesen  wäre?  so  sagte  er  allemahl  ouy.  Der  kleine  Bruder 
fieng  zu  ihn  auch  an,  und  sagte:  Mir  ist  erzehlet  worden,  du  seist  nicht 
weiter  als  biß  Halle  in  Sachsen  gewesen  seyn,  ists  denn  wahr?  So  gab 
er  ihn  gleichfalls  zur  Antwort :  Ouy.  Als  er  nun  hierzu  auch  ouy  sprach, 
muste  ich  mich  der  Tebel  hohl  mer  vor  Lachen  in  die  Zunge  beissen, 
daß  ers  nicht  merckte,  daß  ich  solche  Sachen  besser  verstünde  als  er. 
Denn  ich  kunte  es  ihn  gleich  an  Augen  absehen,  daß  er  über  eine  Meile 
Weges  von  Padua  nicht  muste  gewesen  seyn. 

Wie  ihm  das  Frantzöisch-Reden  nicht  wohl  fliessen  wolte,  so  fieng  er 
teutsch  an  zu  reden,  und  wolte  gerne  frembde  schwatzen,  allein  die  liebe' 
Fr.  Mutter-Sprache  verrieth  ihn  immer  daß  auch  das  kleinste  Kind  es 
hätte  mercken  können,  daß  es  lauter  gezwungen  Werck  mit  seinen  Frembde 
reden  war.     Ich  stellte  mich  nun  dabey  gantz  einfältig 

Die  Studenten  so  im  Hause  waren,    die   hiessen  ihn  nicht  anders  als 


528  Fmemuch  Zabücke,  7^ 

den  FreroMeo,  and.  zwar  ans  deo  ürsaebeo.  weil  er  wolle  fiberall  ge- 
wesen seyn.    Man  dencke  nur  was  der  sappennenlfiefae  Keri^  der  Freiubde, 

vor  zltscheullcbe  grosse  Lügeo  vorbrachte O  sappermeni!   was 

waren  das  wieder  vor  Lü|zeD  von  dem  Frembden.   und  seine  Schwestern 

die  glaubten  ihn  nun  der  Tebel  hohl  mer  alles  mit  einander 

über  nichts  kunte  ich  mich  innerlich  so  hertzlich  zulacfaen,  als  dafi  des 
Frembden  sein  kleiner  Bruder  sich  immer  so  mit  drein  mengte,  wann  der 
Fremfode  Lflgen  erzehlete,  denn  derselbe  wolte  ihn  gar  kein  Wort  nicht 
glauben ,  sondern  sagte  allemahl :  Wie  er  sich  doch  die  Mfihe  nehmen 
kdnte,  von  diesen  und  jenen  Ländern  zu  schwatzen,  da  er  doch  fiber  eine 
Meile  Weges  von  Padua  nicht  gekommen  wäre.  Den  Frembden  verscfanupSte 
das  Ding,  er  woite  aber  nicht  viel  sagen,  weils  der  Bruder  war,  doch 
gab  er  ihn  dieses  zur  Antwort:  Du  Junge  verstehst  viel  von  den  Tauben- 
Handel.  Den  kleinen  Bruder  verdroß  das  Ding  auch,  daß  der  Frembde 
ihn  einen  Jungen  hiesse,  und  von  den  Tauben-Handel  schwatzte,  denn 
die  Wetter-Krdte  bildete  sich  auch  ein,  er  wäre  schon  ein  grosser  Kerl, 
weil  er  von  dem  6ten  Jahre  an  biß  in  das  ffinffzehnte ')  schon  den  Degen 
getragen  hatte.  Er  lieff  geschwind -zur  Mutter  und  klagte  ihrs,  daB  ihn 
sein  fremlxler  Bruder  einen  Jungen  geheissen  hätte.  Die  Mutter  verdroB 
solches  auch,  und  war  hier  auff  her  und  gab  ihn  Geld,  schickte  ihn  hin 
auff  die  Universität  in  Padua,  daß  er  sich  da  muste  inscribiren  lassen 
und  ein  Studente  werden^). 

Wie  er  nun  wieder  kam,  so  Bog  er  zu  seinen  frembden  Bruder  an 
und  sagte:  Nun  bin  ich  doch  auch  ein  rechtschaffener  Kerl  geworden, 
und  trotz  sey  dem  geboten,  der  mich  nicht  dafür  ansieht.  Der  Frembde 
sähe  den  kleinen  Bruder  von  unten  biß  oben,  von  hinten  und  von  forne 
mit  einer  hönischen  Mine  an,  und  nachdem  er  ihn  überall  betrachtet  hatte, 
sagte  er:  Du  siebest  noch  Jungenhafftig  genug  aus.  Dem  kleinen  Bruder 
verdroß  das  Ding  erschröcklicb ,  daß  ihn  der  Frembde  vor  allen  Leuten 
so  beschimpffte.  Er  war  her,  und  zog  sein  Fuchtelgen  da  heraus,  und 
sagte  zu  dem  Frembden:  Hast  Du  was  an  mir  zu  tadeln,  oder  meynesl, 
daß  ich  noch  kein  rechtschaffener  Kerl  bin ,  so  schier  Dich  her  vor  die 
Klinge,  ich  wil  Dir  weisen,  was  Bursch-Manier  ist.  Der  Frembde  hatte 
nun  blut  wonig  llertze  in  seinem  Leibe,  als  er  des  kleinen  Bruders  blos- 
sen Degen  sähe ,  er  fing  an  zu  zittern  und  zu  beben ,  und  kunte  vor  . 
grosser  Angst  nicht  ein  Wort  sagen,  daß  auch  endlich  der  kleine  Bruder 
den  Degen  wieder  einstackte,  und  sich  mit  den  Frembden  in  Güte  ver- 
trug. Wie  sehr  aber  der  neue  Academicus  von  den  Hauß-Burschen  und 
andern  Studenden  gevexiret  wurde,  daß  kan  ich  der  Tebel  hohl  mer  nicht 
sagen.     Sic   hiessen   ihn  nur   den   unreiffen  Studenten,    ich   fragte  auch, 


^)   ergiebt  das  Jahr  1695. 

3)  Die  VoUimmatriculatioD  erfolgte  im  Sommer  4  696,  und  die  muss  gemeint 
Kein,  da  ja  die  Doposition,  die  vorläufige,  schon  1688,  als  Joh.  Adam  erst  im 
Achten  Jahre  stand,  geschehen  war. 


75]  Christian  Rectbr.  529 

warum  sie  solches  thäten,  so  wurde  mir  zur  Antwort  gegeben:  DeBwegen 
würde  er  nur  der  unreiflTe  Siudenle  geheißen,  weil  er  noch  nicht  tüchtig 
auf  die  Universität  wäre,  und  darzu  so  hielte  ihn  seine  Mutter  noch  täg- 
lich einen  Moderator,  welcher  ihn  den  Donat  und  Grammatica  lernen 
müste.  Damit  aber  der  unreiffe  Studente  die  Schande  nicht  haben  wolte, 
als  wenn  er  noch  unter  der  Schuhl-Rute  erzogen  würde,  so  machte  er 
den  andern  Studenten  weiß,  der  Moderator  wäre  sein  Stuben-Geselle. 

Indem  mir  nun  einer  von  den  HauB-Burschen  solches  erzehlet  hatte, 
und  noch  mehr  Dinge  von  den  unreiiTen  Studenten  erzehlen  wolte,  so 
wurde  ich  gleich  zur  Mahlzeit  geruffen. 

Über  Tische  fieng  der  Frembde  nun  wieder  an  von  seinen  Reisen 
auffzuschneiden,  und  erzohlote,  wie  daß  er  wäre  in  Franckreich  gewesen, 
und  bey  einer  Haare  die  Ehre  gehabt  den  König  zu  sehen.  Wie  ihn  nun 
seine  Schwestern  fragten:  Was  vor  neue  Moden  ietzo  in  Franckreich  wä- 
ren? So  gab  er  ihnen  zur  Antwort:  Wer  die  neuesten  Trachten  und  Mo- 
den  zu  sehen   verlangete,    der  solte   nur  ihn  fragen,    denn  er  hielte  biß 

dato  noch  einen  eigenen  Schneider  in  Franckreich Ich  kans 

der  Tebel  hohl  mer  nicht  sagen,  wie  der  Frembde  seinen  Leib-Schneider 
heraus  strich,  und  verachtete  darbey  alle  Schneider  in  der  gantzen  Welt, 
absonderlich  von  den  Schneidern  in  Teutschland  wolte  er  gar  nichts  hal- 
ten, denn  dieselben  (meynte  der  Frembde)  wären  nicht  ein  Schoß  Pulver 
werth,  aus  Ursachen,  weil  sie  so  viel  in  die  Hölle  schmissen.  Nachdem 
er  solches  erzehlet,  und  seine  Jungfer  Schwestern  hierzu  nicht  viel  sagen 
weiten,  so  rufile  er  den  Haus-Knecht,  derselbe  muste  geschwinde  in  die 
Apotheken  lauffen,  und  ihn  vor  4.  gr.  Mastix- Wasser  hohlen 

Nachdem  der  Frembde  nun  vor  4  Groschen  Mastix-Wasser  auff  sein 
Hertze  genommen  hatte,  so  ßeng  er  ferner  an  zu  erzehlen  von  denen 
Handelschaßlen  und  Commercien  in  Teutschland,  und  sagte :  Wie  daß  sich 
die  meisten  Kauffieute  nicht  recht  in  die  Handlungen  zu  finden  wüsten, 
und  der  hunderte  Kauffmann  in  Teutschland  nicht  einmal  verstünde  was 
Commercien  wären.  Hin  gegen  in  Franckreich,  da  wären  brave  Kaufl- 
leute,  die  könnten  sich  weit  besser  in  den  Handel  schicken,  als  wie  die 
dummen  Teutschen.  0  sapperment!  wie  horchte  ich,  als  der  Frembde 
von  den  dummen  Teutschen  schwatzte.  Weil  ich  nun  von  Geburt  ein 
Teutscher  war,  so  hätte  ich  ja  der  Tebel  hohl  mer  wie  der  ärgste  Bären- 
häuter gehandelt,  daß  ich  darzu  stille  schweigen  sollen,  sondern  ich  Geng 
hierauff  gleich  zu  ihn  an,  und  sagte:  Höre  doch  Du  Kerl!  Was  hast  Du 
autr  die  Teutschen  zu  schmählen ,  ich  bin  auch  ein  Teutscher ,  und  ein 
Hundsfott  der  sie  nicht  alle  vor  die  bravsten  Leute  ästimiret. 

Daraus  erfolgt  eine  grosse  Schlägerei,  endlich  eine  Herausforderung  und 
ein  Duell.     Ehe  es  zu  letzterem  kommtj  heisst  es  noch: 

Des  unreifien  Studenten  Stuben-Gesellen  aber  koberte  ich  Gottsjämmer- 
lich ab,  und  ich  sage,  daß  ich  ihn  endlich  gar  hätte  zu  Tode  gekobert, 
wenn  nicht  des  Frembden  Mutter  und  Schwestern  so  erschröcklich  vor 
ihn  -gebeten  hätten ,  denn  er  stund  überaus  wohl  bey  den  Töchtern  und 
der  Mutter.     Daß  auch  die  Mutter,  als  nehmlich  die  Wirthin,  offtermahls 


530  Friedrich  Zarncke,  [76 

zu  den  andern  Hauß-Burschen  sagte,  Sie  hätte  noch  niemals  so  einen 
feinen  Menschen  zum  Moderator  vor  ihren  Sohn  gehabt ,  als  wie  sie  ietzo 
hätte,  und  wenn  er  so  bliebe,  wäre  er  werth,  daß  man  ihn  in  Golde 
einfassete.  Die  andern  aber,  welche  sie  sonst  gehabt,  hätten  sie  allemahl 
meistens  betrogen,  absonderlich  erzehlete  sie  immer  von  einem  im  weissen 
Kopffe,  der  hätte  ihr  so  viel  Geld  abgeborget  und  keinmahl  nichts  wieder 
gegeben,  und  von  einem  welcher  alle  Schlösser  aufmachen  können,  und 
ihr  viel  Sachen  heimlicher  Weise  entwendet  hätte,  allein  ich  habe  ihre 
Nahmen  wieder  vergessen^). 

Bei  dem  Duelle  muss  schliesslich  dei^  Fremde  versprechen :  Daß  er  Zeil- 
lebens keinen  Deutschen  wieder  verachten  wolle,  sondern  allezeit  sagen: 
Die  Teutschen  wären  die  bravsten  Leute  unter  der  Sonnen. 


6.  Der  ehrllcheii  Fran  Krankheit  und  Tod. 

Als  sich  Frau  Anna  Rosine  am  15.  August  1696  über  das  Er- 
scheinen des  Schelmuifsky  beim  Churfürsten  beklagte,  erwähnte  sie 
zugleich,  dass  nach  gemeiner  Sage  noch  zwei  üppige  und  schänd- 
liche Schmähschriften  auf  ihre  beiden  Töchter  bereits  unter  der 
Druckerpresse  wären  und  nächstens  herauskommen  würden,  wegen 
deren  Verfertigung  wider  den  vorigen  Pasquillanten  Reuter  auch 
einige  Indicia  sich  hervorthun  wollten.  Als  darauf  auf  Befehl  des 
Churfürsten  am  27.  August  Nachsuchung  bei  den  Buchhändlern  ge- 
halten ward,  wurden  zwar  nur  Exemplare  der  Ehrlichen  Frau  und 
von  Schelmuffsky's  Reisebeschreibung  gefunden,  aber  am  21.  November 
konnte  die  Bücher-Commission  an  den  Churfürsten  berichten,  dass 
sich  bei  dem  Kupferdrucker  Jac.  Phil.  Schneider  Exemplare  einer 
neuen  Scartecke  unter  dem  Titel  »Der  Ehrlichen  Frau  Schlampampe 
Krankheit  und  Tod«  gefunden  hätten,  derentwegen  dann  weitere 
Inquisition  in  Aussicht  gestellt  ward^).  Dass  der  Verfasser  auch 
dieser  Comödie  unser  Reuter  war,  bedarf  keines  besonderen  Beweises. 
Verlegt  war  sie,    wie  auch  die  damals  confiscierten  Exemplare  der 


']  Die  damals  lebenden  Leipziger  werden  die  hier  Gekennzeichneten  wohl 
erkannt  haben. 

^]  Dass  Schelmutrsky's  Reisebeschreibung  früher  geschrieben  ist  als  diese  zweite 
Comödie  geht  auch  daraus  hervor,  dass  jene  in  dieser  erwähnt  wird.  Act  III, 
Sc.  5;  Lorentz :  »schade  ists,  daß  wir  die  Tour  a  la  mode  nicht  längstens  ange- 
stellt haben,  so  hätte  sie  Schelmuffsky  können  mit  zu  seiner  gefährlichen  Reise- 
Beschreibung  «.     Auch  die  Worte  auf  dem  Titel  »von  Schelmuffsky  Reisse- 

Gefährten«  beweisen,  dass  die  Reisebeschreibung  schon  vorlag. 


"77]  Christian  Reuter.  531 

Ueisebeschreibung  des  SchelmulTsky  bei  Röder  in  Frankfurt  a/M., 
der  in  der  Herbstmesse  1695  aufgetaucht  war,  gleich  mehr  als  12 
Schriften  herausgab  und  im  Jahre  1696  wieder  verschwindet.  In 
seinem  Verlage  nehmen  sich  diese  Schriften  allerdings  recht  ver- 
wunderlich aus,  denn  er  verlegte,  von  zwei  populären  historischen 
Schriften  abgesehen,  sonst  nur  noch  Fromm-Theologisches^). 

Durch  die  Familie  Müller  war  Reutern  schwer  zugesetzt  worden. 
Er  hatte  eine  Behandlung  erfahren,  die  seinem  Gefühle  nach  un- 
gerechtfertigt erschien,  denn  eine  Comödie  hatte  er  schreiben  wol- 
len, nicht  eine  Schmähschrift  auf  seine  frühere  Wirthin,  die  sich 
eines  solchen  Apparates  doch  auch  wohl  kaum  verlohnt  hätte.  Gewiss 
hat  nunmehr  Zorn  und  Hass  seine  Feder  gespitzt,  und  wenn  er  jetzt 
abermals  auf  den  früheren  Gegenstand  zurückgrifT,  so  möchte  man 
meinen,  er  sei  nunmehr,  nachdem  Jedermann  in  der  Schlampampe 
und  den  Ihrigen  die  Müllerischen  Erben  erkannte,  wirklich  zu  einem 
Pasquillanten  geworden.  Ich  will  diesen  Vorwurf  auch  nicht  ganz 
zurückweisen :  gerathener  w^äre  es  wohl  gewesen,  er  hatte  geschwie- 
gen. Aber  man  übersehe  doch  auch  einen  anderen  Gesichtspunct 
nicht.  Reuter  hatte  in  seiner  Comödie  eine  Anzahl  komischer  Typen 
geschaffen,  die  aus  deiQ  Leben  und  den  Lebensinteressen  seiner  Zeit 
herausgegriffen  waren  und  die  daher  allgemeinsten  Beifall  bei  den 
Unbetheiligten  gefunden  hatten.  Es  Hess  sich  über  die  durch  sie 
dargestellten  Richtungen  noch  Vieles  sagen,  das  er  zu  sagen  ver- 
stand: warum  sollte  er  sich  des  Vortheils  begeben,  die  dem  Publi- 
cum bereits  vertraut  gewordenen  Typen  weiter  zu  verwenden  und 
sich  so  von  vorn  herein  ein  gesteigertes  Interesse  für  sein  schrift- 
stellerisches Opus  zu  sichern?  Ein  Pasquill  war  dies  Werk  in  so 
fern  noch  weniger  als  das  erste,  als  die  erzählten  Thatsachen  nun 
gar  Nichts  mehr  mit  der  Wirklichkeit  zu  thun  hatten.    In  der  That, 


1)  Z.  B.  Schmidts  geistliche  Predigten ,  Büttner's  Christliches  Gebet- ,  Büß-, 
Beicht-  und  Communionbüchlein ,  Spener's  Geistliches  Lehr-,  Büß-,  Beicht-  und 
Communionbüchlein,  Strobers  geistliche  Sonnenuhr,  Alardin's  geistliche  Sonnenuhr, 
Anmerkungen  über  das  Hohe-Lied ,  Außlegung  der  Offenbarung  Johannis,  Zions 
Klage  und  Rath,  Vernünftiger  zu  Gott  und  der  Seligkeit  anführender  Moralist,  An- 
leitung zum  bessern  Verstand  des  Heidelbergischen  Catechismi  u.  ä.  Die  histo- 
rischen Werke  (»Neu  eröffneter  historischer  Bilder-Saal«,  und  » Historischer  Schau- 
platz«}  waren  eigentlich  Verlag  von  Buggcl  in  Nürnberg. 


532  Friedrich  Zarncke,  ü^ 

diese  zweite  Comödie  war  eine  Fortsetzung  seiner  Comödie,  nichi 
des  darin  gefundenen  Pasquills  auf  die  Müilerischen  Erben.  Freilich, 
wer  einmal  den  Standpunct  eingenommen  hatte,  dass  die  erste  Co- 
mödie nichts  weiter  sei  als  eine  verläumderische  Schmähschrift,  der 
musste  in  der  zweiten  um  so  mehr  eine  Steigerung  der  Lügen  und 
YerlUumdungen  erblicken,  je  weniger  in  ihr  directe  Beziehungen 
vorhanden  waren'). 

Orientieren  wir  uns  nun  über  den  Inhalt. 

Das  Personal  ist  dasselbe  wie  in  der  ersten  Comödie:  Frau 
Schlampampe,  Schelmuffsky ,  Charlotte,  Clarille,  Däfftle,  Fidele  und 
Edward,  Cleander;  nur  tritt  statt  der  Köchin  Ursilie  nunmehr  eine 
Jungemagd  Schnürtzgen  auf,  ausserdem  noch  ein  lustiger  Hausknecht 
(ohne  eine  Pickelhüringsfigur  ging  es  einmal  nicht  ab)  Lorentz;  auch 
der  Informator  Dafiflle's,  der  früher  nur  erwähnt  war,  erscheint  hier 
auf  der  Bühne  —  er  wird  Lysander  genannt  —  und  eine  redselige 
Gevatterin  der  Schlampampe,  Camille,  die  im  Stück  die  Verpflichtung 
hat.  Alles  gehörig  unter  die  Leute  zu  bringen.  Ein  Medicus  Cra- 
tippo  und  ein  Notarius  Lerius  assistieren  am  Krankenbette,  der 
Leichenbitter  Holla  und  des  Todtengräbers  Söhnchen  Purpe  nach 
dem  Tode  auf  dem  Gottesacker. 

Die  Handlung  spielt  einige  Zeit  nach  der  der  ersten  Comödie. 
Die  Geschichte  von  den  Hüpeljungen  hat  lange  Zeit  das  Gerede  der 
Leute  gebildet,  ist  aber  nun  vergessen.  Die  geschwätzige  Frau 
Schlampampe  nur  erzählt  sie  in'  der  ersten  Scene  noch  einmal  ihrer 
nicht  minder  redseligen  Gevatterin  Camille,  die  freilich  den  Nagel 
auf  den  Kopf  trifft,  wenn  sie  der  über  ihre  Kinder  klagenden  Mutter 
erklärt:  »Die  rechte  Wahrheit  zu  sagen,  Frau  Gevatterin,  es  gehet 
mich  zwar  nichts  an,  ich  sage  es  aber,   wie  ichs  meine,   sie  hat 


^)  Als  eine  solche,  früher  noch  nicht  erwähnte  Beziehung  kann  wohl  die 
nachstehende,  völlig  unverfängliche  Angabe  angesehen  werden«  Nach  der  verun- 
glückten Adelsreise  wünscht  Charlotte,  sich  eine  Zeitlang  nicht  vor  den  Menschen 
sehen  zu  lassen;  sie  sagt  zur  Schwester:  »Weist  Du  was!  Die  Erau  Mutter  soll 
uns  eine  weile  auf  das  Dorff  thun,  zu  unserer  Muhme,  bis  es  erstlich  ein  bißgen 
vergessen  ist.  a  Damit  ist  wohl  Knauthain  gemeint ,  wo  die  Mutter  herstammle 
und  noch  Verwandte  hatte.  —  Auch  die  Drohung  der  Schlampampe,  sie  wolle 
den  beiden  Studenten  einen  Injurienprocess  an  den  Hals  werfen,  und  wenn  es 
auch  erst  in  30  Jahren  geschehen  sollte,   mag  auf  Wahrheit  beruhen. 


7^]  Christian  Reuteb.  533 

ihren  Töchtern  in  der  Jugend  so  sehre  den  Willen  gelassen,  nun 
sie  bey  Jahren  seyn,  wollen  sie  sich  nicht  mehr  ziehen  lassen«. 
Auch  das  Recept  zur  Schminke,  das  Cleander  den  gefallsüchtigen 
Töchtern  verschrieben,  hat  seine  bösen  Früchte  getragen,  wie  wir 
in  einem  Gespräche  der  Studenten  erfahren.  Es  hat,  statt  sie  schöner 
zu  machen,  ihnen  Blasen  und  Grind  eingetragen,  und  wochenlang 
haben  sie  die  Fenster  verhängen  müssen,  und  haben  sich  zur 
Verwunderung  der  Leute  nicht  zeigen  und  nicht  angaffen  lassen 
können. 

Man  sieht,  es  ist  wiederum  einseitig  der  Standpunct  des  Stu- 
denten, der  hier  hervortritt;  denn  der  Witz  mit  dem  Schminkerecepte, 
der  hier  belacht  wird,  ist  eine  rohe  Unart.  Die  erste  Scene  ver- 
räth  jenen  Standpunct  noch  mehr.  Frau  Schlampampe  meint,  »man 
müste  doch  ein  Unterscheid  machen  unter  vornehmer  Leute  Kinder, 
die  ihr  gut  auskommen  haben,  und  unter  gemeinen  Kerlen  (wie  die 
Mehrzahl  der  Studenten),  die  flugs  manchmal  nicht  ein  Dreyer  in  ihrem 
Leben  haben«,  aber  Frau  Camille  berichtigt  sie:  »Wenn  gleich,  Frau 
Gevatterin;  es  gehet,  so  wahr  ich  ehrlich  bin,  nicht  an;  und  wenn 
ihre  Töchter  auch  noch  so  vornehm  und  reich  wären,  und  wollen 
ihre  eigene  Hauß-Bursche  verachten,  und  noch  darzu  übel  von  sie 
reden,  als  wie  sie  es  Herrn  Edwardten  und  Herrn  Fidelen  gethan 
haben:  so  stehe  ich  nicht  hier,  wenn  sie  nicht  die  Studenten-Jungen 
(die  Stiefelputzer)  anhetzen,  daß  sie  letzlich  auf  öffentlicher  Gasse 
mit  Drecke  geworffen  würden«. 

Die  beiden  Töchter  haben  sich  durch  die  üblen  Erfahrungen, 
welche  sie  gemacht,  in  ihrem  Hochmuth  durchaus  nicht  stören  lassen. 
Sie  wollen  sich  adeln  lassen,  und  zu  dem  Ende  sind  sie  im  Begriffe 
eine  Reise  dorthin  zu  machen,  wo  der  Adel  zu  kaufen  sei.  Die 
Mutter  ist  wenig  damit  einverstanden,  hat  aber  keine  Gewalt  über 
ihre  Raben-Ässer.  Die  Jungemagd  ist  ein,  wenn  auch  ganz  unge- 
bildetes doch  verständiges  Mädchen,  oft  von  richtigem  Instinct;  um 
so  dümmer  ist  der  Hausknecht  Lorentz.  Er  ist  mit  vom  Hochmuths- 
teufel  angesteckt,  auch  er  will  sich  zum  Cammerdiener  adeln  lassen, 
und  stolziert  im  Vorgefühle  gravitätisch  einher:  »Und  ich  werde  mich 
auch  keine  Saue  düncken,  wenn  ich  geadelter  Cammerdiener  heisse«. 

Auch  Schelmuffsky  will  wieder  auf  die  Wanderung,  auf  ganze 
10  Jahre;    denn   er   will    noch   Frankreich    genauer   kennen   lernen. 


534  Friedrich  Zarngkk,  [^0 

Die  xMutter  suchts  ihm  auszureden,  er  spottet  ihrer,  und  selbst  ihre 
guten  Wünsche  zum  Abschiede  lehnt  er  roh  ab:  »Ey  sapperment! 
ist  das  nun  nicht  ein  Gewünsche  und  Wohlgegehen  da!  geht  mirs 
nicht  wol,  so  geht  mirs  nicht  wol,  ich  frage  ja  der  Tebelholmer 
nichts  darnach«,  so  dass  nun  die  Mutter  selber  ihn  mit  einer  Ver- 
wünschung entlässt:  »Je,  so  gehe,  und  komme  mir  nimmer  mehr  vor 
meine  Augen  wieder,  Du  gottloses  Kind«,  und  ad  spectat.:  »Dächte 
es  nun  wol  ein  Christen  Mensche,  daß  eine  Mutter  von  ihren  Kindern 
so  könte  gequälet  und  gemartert  werden!«  Ihre  äffische  Schwäche 
gegen  die  Töchter,  von  denen  sie  doch  auch  hier  übel  behandelt 
wird,  tritt  wieder  gutmüthig  hervor;  denn  kaum  sind  sie  aus  dem 
Thore  hinaus,  so  beauftragt  sie  schon  den  Präceptor,  einen  Brief  an 
sie  zu  schreiben,  dass  sie  sich  fein  in  Acht  nehmen  sollten. 

Aber  beide  Expeditionen  der  Kinder  finden  ein  schnelles  Ende. 
Die  Kutsche  der  adelslustigen  Töchter  wirft  in  einiger  Entfernung 
von  der  Stadt  in  einer  Kothlache  um  und  ein  Rad  am  Wagen  bricht. 
Der  Kutscher,  als  er  sieht,  dass  er  dem  Wagen  nicht  wieder  auf- 
helfen kann,  reitet,  ohne  sich  um  die  Frauenzimmer  zu  kümmern, 
davon.  Auch  Lorentz,  der  noch  am  besten  davon  gekommen  ist, 
macht  es  nicht  anders.  Die  Töchter  kommen,  in  Kappen  einge- 
mummelt, zu  Fuss  zurück  und  haben  sich  fast  wund  gelaufen.  Der 
Mutter  ists  schon  recht,  dass  es  ihnen  so  gegangen  ist.  An  das 
Adlich werden  denken  sie  nun  auch  nicht  mehr,  aber  von  dem  ge- 
schwätzigen Lorentz  und  der  redseligen  Camille  wird  die  Geschichte 
durch  die  ganze  Stadt  getragen,  und  sie  sind  nun  von  Neuem  pro- 
stituiert. Dätftle  ist  ganz  damit  zufrieden:  »Ich  gönne  euchs  gar  gerne, 
ich  wolte,  daß  ihr  von  den  Leuten  nur  wacker  vexiret  würdet,  da- 
mit doch  euer  verfluchter  Hochmuth   ein  Bißgen  gedämpfet  würde«. 

Auch  Schelmuffsky  ist  bald  wieder  da.  Schon  nach  2  Stunden 
erscheint  er,  ausgeplündert  bis  aufs  Hemde.  Er  ist  Soldaten  in  die 
Hände  gefallen  und  von  ihnen  so  zugerichtet  worden.  Schwer  fin- 
det er  Einlass  ins  Haus,  denn  sowohl  der  Hausknecht  wie  die  Junge- 
magd halten  ihn  für  ein  Gespenst  und  laufen  mit  einem  »Alle  guten 
Geister  loben«  davon. 

Aber  der  Hohn  des  Schicksals  ist  noch  nicht  zu  Ende,  er  soll 
der  armen  Schlampampe  noch  über  den  Tod  hinaus  folgen,  und 
wieder  ist  es  hochmüthige  Aufgeblasenheit  und  Eingebildetheit,   die 


^^]  (Christian  Rruter.  H^Si 

ihn  hervoniift,  diesmal  freilich  nur  indirect  durch  sie  und  die  Ihrigen 
veranlasst. 

Frau  Schlampampe  wird  krank;  zumal  die  Aufregung  über  das 
Betragen  ihrer  Kinder  ist  es,  was  sie  niederwirft.  Dieser  Ausgang 
ist  genugsam  vorbereitet.  Gleich  in  der  ersten  Scene  sagt  sie:  »ich 
grämte  mich  bald  ein  gantz  halb  Jahr  drüber,  daß  ich  auch  biß  Dato 
keiner  ehrlichen  Frauen  mehr  ähnlich  sehe.«  Und  weiter  Sc.  7: 
»Je,  habe  ich  meine  Plage  nicht  auf  der  Welt?  Je,  wenn  ich  so 
manchmal  dran  gedencke,  so  härme  ich  mich  auch  so  drüber,  daß 
ich  flugs  gantz  kranck  werde.«  Als  dann  die  Töchter  sie  wieder 
ankeifen,  wird  sie  wirklich  krank:  »So  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau 
bin,  ihr  habt  mich  mit  eurem  schreyen  gantz  sterbenskranck  gemacht. « 
Auf  dem  Krankenbette  sagt  sie:  »Ich  gebe  es  nichts  anders  als  der 
Boßheit  und  dem  Eyfer  Schuld,  denn  wie  vielmahl  ich  mich  über 
meine  Rabenäßer  Lebenslang  erzürnet  habe,  das  ist  auf  keine  Kuh- 
haut zu  schreiben. «  Auch  jetzt  noch  sind  die  Töchter  roh,  in  Gegen- 
wart der  Mutter  wie  nachdem  sie  sich  hat  ins  Bette  bringen  lassen. 
Charlotte:  »Obs  denn  ihr  rechter  Ernst  ist,  daß  ihr  nicht  wohl  ist, 
oder  ob  sie  sich  nur  so  stellet.«  Ciarille:  »Wer  weiß  was  ihr  ist, 
sie  hat  etwan,  weil  wir  sind  aussen  gewesen,  mit  dem  Jungen  ein 
Bißgen  zu  viel  getruncken,  denn  das  Aß  (DäfTtle?)  war  ja  blind  voll.« 

Es  folgen  die  Scenen  vor  ihrem  Tode,  das  Herbeirufen  des 
Arztes,  des  Notarius.  Dabei  eine  rechte  Pickelhärings -Posse:  der 
Hausknecht  wird  mit  dem  Harnglase  der  Kranken  zum  Arzt  gesandt, 
und  hat  das  Unglück,  das  Gefäss  zu  zerbrechen.  Da  hilft  er  sich 
schnell,  beschafft  ein  neues  Glas,  und  »zapfft  seine  Jungferliche  Tinctur 
an  statt  der  krancken  Schlampampe  ihrer  hinein«.  Er  thut  dann 
dummerstaunt,  als  ihm  der  Arzt  erklärt,  dem  Kranken  fehle  nichts, 
er  habe  nur  zu  viel  gesoffen.  Schlampampe  stirbt.  Schelmuffsky, 
der  sein  Erbe  vorweg  hat,  heult:  wenn  sie  nur  noch  so  lange  ge- 
lebt hätte,  bis  sie  ihm  ein  neu  Kleid  hätte  machen  lassen.  Nun 
muss  er  sich  zum  Begräbniss  eins  leihen. 

Schon  am  Abende  Qndet  das  Begräbniss  in  der  »Sepultur«  der 
Schlampampe,  die  im  Prospect  dargestellt  wird,  statt;  die  feierliche 
Gedächtnissrede  soll  später  gehalten  werden,  nur  eine  sogen.  Ab- 
dankung an  die  Leichenbegleitung  wird  hier  erwartet.  Sie  zu  halten 
hat  der  Präceptor  übernommen.     Cleander  aber,  »der  lose  Vogel«, 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oesellsch.  d.  Wissenscb.  XXI.  36 


536  Fbdsdbich  Zabncke,  [^2 

der  wieder  von  Marburg  eingetroffen  ist,  erlaubt  sich  einen  etwas 
unfeinen  Studentenspass.  Er  macht  sich  an  den  aufgeblasenen,  gleich 
der  ganzen  Familie  vom  Hochmuthsteufel  besessenen  Hausknecht,  und 
dieser  hat  kaum  von  einer  Abdankungsrede  ein  Wort  gehört,  so 
meint  er,  die  müsse  er  halten;  er  entwendet  dem  Präceptor  einen 
Theil  seines  Manuscriptes  und  als  nun  die  feierliche  Bestattung  vor 
sich  geht,  tritt  er  hervor,  macht  »närrische  Reverentzen«  und  fängt 
seinen  Sermon  an.  Kaum  kommt  er,  unter  zahllosen  Wiederholungen 
und  radebrechenden  Verdrehungen,  über  die  Titulaturen,  die  damals 
freilich  ellenlang  waren,  hinaus;  bei  dem  Eingang  der  Rede  aber 
»Daß  der  Tod,  daß  der  grimmige  Tod«  bleibt  er  stecken  und  der 
Leichenbitter  weist  ihn  von  seinem  Platze  weg,  den  nun  Lysander, 
der  Präceptor ,  einnimmt.  Der  hält  nun  eine  Rede ,  die  sowohl  ein 
Pasquill  auf  die  Trivialität  und  die  lobrednerische  Unwahrheit  der 
gewöhnlichen  Leichenreden  ist,  wie  auf  die  gelehrte,  citatenliebende 
Rhetorik  jener  Zeit.  Der  Grundton  ist  übrigens  ganz  im  Geiste  der 
Abgeschiedenen,  die  äich  auf  ihre  auskömmliche  und  vornehme  Stel- 
lung so  viel  einbildete,  was  also  hier  nochmals  verspottet  wird.  Der 
Eingang  lautet: 

Daß  der  grimmige  Todt  sowohl  an  vornehmer  und  reicher  Leute  Häuser 
klopffe  als  an  des  geringsten  und  armseligsten  Bettelmanns  Thttre,  bat 
der  vor  viel  hundert  Jahren  sehr  wohlbekante  Heyde  Horatius  folgendes 
nicht  unrecht  gesprochen :  Pallida  mors  aequo  pulsat  pede  pauperum  ta- 
bernas  Regumque  turres.  Und  solte  ja  jemand,  wie  ich  nicht  hoffen  will, 
bey  gegenwärtiger  hochschätzbaaren  Trauer-Versammlung,  dieses  Gedichtes 
einen  Beweißthum  oder  Exempel  verlangen,  so  kan  derselbe  nur  gegen- 
wärtige verdeckte  Todten-Baare  sich  zu  einem  genügsamen  Exempel  oder 
Beweißthum  dienen  lassen,  ich  meine  auf  derselben  die  Weyland  Wohl- 
Edele,  Hoch-  Ehr  und  Tugend  begabte  Frau  Schlampampe,  gewesene  Gast- 
wirthin im  Güldenen  Maulaffen.  War  dieselbe  nicht  vornehmer  und  ehr- 
licher Leute  Kind?  Hatte  sie  nicht  ein  stattliches  und  gutes  Auskommen ? 
Führte  sie  nicht  allzeit  den  Titul  einer  Christlichen  und  aller  Welt  be- 
kannten ehrlichen  Frauen?  Lebte  sie  nicht  mit  jederman  in  höchster 
Vertraulichkeit  und  Freundschafft.  War  sie  nicht  eine  vortreffliche  Zuchl- 
meisterin  ihrer  sehr  wolgezogenen  Kinder?  Wurde  dieselbe  nicht  wegen 
ihrer  allzugrossen  Verschwiegenheit  von  jederman  gerühmet  und  gelobet? 
daß  auch  ein  jedweder  höchst  Verlangen  trug,  in  dero  Bekantschaft  zu 
seyn,  und  musle  gleich wol,  leider,  in  der  schönsten  BlUthe  ihrer  Jahren, 
als  wie  die  elendeste  und  nothleidenste  Bettel-Frau,  dem  grimmigen  Tode 
so  unverhofft  und  plötzlich  zu  theile  werden.  Als  dorten  .  .  als  dorten 
jener  Spanier  (hustet),  als  dorten  jener  Spanier  (hält  etwas  inne] 


83]  Christian  Rbuter.  537 

Damit  geräth  er  ins  Stottern,  sucht  vergebens  im  Concept,  offenbar, 
weil  ihm  der  Hausknecht  einen  Theil  desselben  entwendet  hat,  und 
springt  auf  Rath  des  Leichenbitters  schnell  zum  Schlüsse  über:  »Als 
dorten  jener  Spanier,  als,  sage  ich,  ist  mir  im  Nahmen  der  höchst 
Leidtragenden  .  .  .  dienstlich  gehorsamsten  Dank  abzustatten  befohlen 
worden  .  .  .«  Unter  den  Leidtragenden  befindet  sich  auch  Schel- 
muffsky:  »Sieht  er  doch  bald  aus,  wie  der  Kerl,  der  Eißleben  sol 
angesteckt  haben«,  sagt  Cleander^).  Mit  4  Alexandrinern  schliesst 
das  Stück: 

Weil  demnach  sanffte  ruht  die  ehrliche  Schlampampe, 
So  geht  ihr  Leute  nur  fein  wiederum  zu  Hauß, 
Und  wenn  der  Tod  auslöscht  uns  unsre  Lebenslampe, 
Hernach  ists  mit  uns  auch,  wie  dieses  Schauspiel,  aus. 

Diese  zweite  Comödie  verhält  sich  zu  der  ersten  wie  das  zweite 
Nachspiel  zu  seinem  Vorgänger,  sie  ist,  was  Plan  und  Handlung  be- 
trifft, schwächer  als  jene.  Von  einer  dramatischen  Einheit  kann  nicht 
die  Rede  sein,  ebensowenig  von  einem  in  zusammenhängender  Dar- 
stellung zum  Ausdruck  gelangten  ethischen  Gedanken,  wie  das  doch 
im  ersten  Stücke  der  Fall  war.  Was  das  Stück  an  Werthschätzung 
beanspruchen  kann,  liegt  in  der  frischen  und  flotten  Sprache  des 
Dialogs,  in  der  charakteristischen  Darstellung  der  Personen.  Diese 
Eigenschaften  sind  auch  hier  wieder  vortrefflich.  Jede  Person  spricht 
ihre  eigene  Sprache;  wir  sehen  sie  lebendig  vor  uns,  so  individuell 
ist  ihre  Redeweise.  Ja  die  Scenen  sind  hier  lebendiger  und  mannig- 
faltiger als  in  der  ersten  Comödie;  die  Vermehrung  der  Personen 
um  die  geschwätzige  Camille  und  den  aufgeblasenen  Hausknecht  in 
seiner  PickelhäringsroUe  erweist  sich  sehr  fruchtbar.  Das  Arrange- 
ment fürs  Theater  ist  entwickelter,  und  die  letzte  Sccne  nächtlicher 
Weile  auf  dem  Kirchhofe  ist,  in  ihrer  Mischung  von  Ernst  und  Hohn 
und  bei  der  Menge  der  in  ihr  auftretenden  Gruppen  —  es  sind 
sämmtliche  Personen  des  Stückes  zugegen  — ,  falls  sie  zur  Aufführung 
gelangte,  gewiss  sehr  wirksam  gewesen. 


^)  ^689  d.  4  9.  Juli  war  grosses  Feuer  in  Eisleben.  Es  brannten,  abgesehen 
von  den  Scheunen  und  Slällcn,  127  Wohnhäuser  nieder,  darunter  auch  das  Geburts- 
haus M.  Luthers.  —  Die  Feinde  Reuter's  werden  gewiss  auch  diese  Schilderung 
eines  desperaten  Aussehens  als  eine  persönliche  Beleidigung  der  Familie  Müller 
aufgefasst  haben. 

36* 


538  Friedrich  Zarncke,  [^^ 


7.  Letztes  Denk-  und  Ehren-Mahl  der  ehrlichen  Frau. 

Ich  füge  dieses  Opus  hier  ein,  weil  es  die  weitere  Ausführung 
eines  bereits  im  voraufgehenden  Stücke  behandelten  Motives  ist,  ob- 
wohl es  nicht  nur  später  geschrieben  sondern  aller  Wahrscheinlichkeil 
nach  auch  spUter  herausgekommen  ist  als  die  im  nächsten  Abschnill 
zu  besprechende  Oper.  Der  Titel  des  Denk-  und  Ehrenmahles  giebl 
das  Jahr  1697  an;  am  30.  April  1697  aber,  als  die  Müller  sich  klagend 
an  die  Bücher-Commission  wandle,  lag  es  wohl  noch  nicht  gedruckl 
vor,  da  der  Bücherfiscal  auf  jene  Klage  hin  nur  den  Auftrag  bekam, 
nach  der  »Opera«  zu  suchen;  auch  würde,  wäre  der  Frau  Müller 
das  Ehrendenkmal  bereits  bekannt  gewesen,  dies  wohl  besonders 
hervorgehoben  worden  sein.  Ob  es  überhaupt  noch  zu  ihren  Leb- 
zeiten (sie  starb,  wie  erwähnt,  am  3.  Juni  1 697)  erschienen  ist,  lüssl 
sich  nicht  sicher  sagen.  Dagegen  wissen  wir  aus  Reuter's  Relcgalions- 
patent,  dass  es  noch  bei  ihrem  Leben  vorgetragen  worden  ist.  Wir 
werden  auf  diese  Andeutung  hin  versuchen  dürfen,  einen  näheren 
Termin  zu  bestimmen. 

Das  Ehrendenkmal  ist  eine  humoristische  Leichenrede  auf  die 
Frau  Schlampampe,  also  gewissermassen  jene  Gedächtnissredc ,  die 
in  der  zw^eiten  Comödie  noch  in  Aussicht  gestellt  wird*).  Aus  dem 
Relegationspatent  ersehen  wir,  dass  es  ein  Hochzeilsscherz  w^ar  (ad 
oblectamentum  nuptialium  epularum) ,  und  aus  dem  Schreiben  der 
Universität  an  den  König-Churfürsten  vom  23.  Dec.  1699,  dass  der 
Sermon  auf  einer  »adlichen  Hochzeit  auf  dem  Lande«  vorgetragen 
ward.  Man  denkt  hiebei  zunächst  an  Kitzscher,  wohin  sich  Reuter, 
wie  wir  ja  wissen,  nach  seiner  ersten  Relegation  begeben  halte.  In 
der  Familie  des  Besitzers  des  Rittergutes  hat  nun  freilich  in  der  hier 
in  Betracht  kommenden  Zeit  eine  Hochzeit  nicht  stattgefunden,  aber 
im  November  1696  ward  dort  die  Tochter  des  Dr.  Weidling,  in 
welchen^  wir  sicher  einen  warmen  Protector  Reuler's  erblicken  dür- 
fen, mit  ihrem  Verlobten,  dem  Dr.  jur.  Krüner  in  Leipzig,  der  in 
Kitzscher  »hochadlicher  Gerich ts-Director«  war,  getraut^).     Vielleicht 


^)  Nicht  etwa   an   der  Bahre   gehalten.     Die  Aria    vor   der  Predigt  sagt  aus- 
drückhch:  »Die  Ehrlche  Frau  ist  todl,   Man  hat  sie  längst  begraben«. 

^]   »Herr  Jo.   Friedrich  Krüner,  J.  U.  Doctor  und  Practicus  in  Leipzig,  auch 


85]  Christian  Reuter.  539 

rüstete  die  Gutsherrschaft  oder  der  adliche  Pächter,  Herr  von  Dieskau 
(s.  S.  510),  die  Hochzeit  ihres  Gerichtsdirectors  aus,  vielleicht  waren 
Besitzer  und  Pächter  nicht  zugegen  und  gestatteten  ihm  die  Benutzung 
des  Schlosses  zu  seinem  Feste.  Diese  Umstände  sind  ausreichend, 
um  die  Bezeichnung  »adliche  Hochzeit«  zu  rechtfertigen;  auch  sonst 
schon  konnte  »adlich«  für  » vornehm  a  gebraucht  und  gar  füglich  für 
eine  Hochzeit  in  einer  so  angesehenen  Familie  vei^wandt  werden. 
Jedesfalls  befinden  wir  uns  hier  in  der  für  den  Vortrag  des  Sermons 
angemessensten  Gesellschaft.  Ganz  Sicheres  würden  wir  natürlich 
wissen,  wenn  die  Universitütsacten  erhalten  wären. 

Dieser  Leichensermon  ist  zunächst  dadurch  von  grossem  Interesse 
und   sehr   lehrreich,   weil  er   uns  zeigt,   was  an  Unfläthereien   eine 

« 

vornehme  Gesellschaft,  an  der  auch  Frauen  und  Jungfrauen  Theil 
hatten,  damals  hinzunehmen  und  zu  belachen  im  Stande  war.  Wir 
müssen  uns  dessen  bewusst  bleiben,  wenn  wir  die  Mittel,  deren  sich 
die  Humoristen  damals  zu  ihren  Witzen  bedienten,  richtig  bemessen 
wollen.  Nach  unserem  heutigen  Geschmack  darüber  urtheilen,  hiesse 
ein  litterarhistorisches  Falsum  begehen. 

Die  Rede  wird  dem  Präceptor,  Herrn  Gerge,  wie  ihn  schon  Schel- 
muiTsky's  Reisebeschreibung  nennt,  in  den  Mund  gelegt.  Angehängt 
ist  eine  »Aria  vor  der  Predigt«,  aus  5  sechszeiligen  Strophen,  und 
eine  »Aria  nach  der  Predigt«,  aus  4  fünfzeiligen  Strophen  bestehend. 
Natürlich  ist  der  Inhalt  sarkastisch,  voll  bitteren  Spottes.  Den  Red- 
ner haben  wir  uns  zu  denken  umgeben  von  der  »Schule«,  die  den 
Gesang  auszuführen  hatte.  Wie  es  vom  Text  zur  Traclatio  über- 
geht, heisst  es: 

liier  Irinckt  Herr  Gerge  einmal ,  und  singen  die  Schüler 

Rundä,  seht  doch  Herr  Gergen  an^ 

Rundädinellulii, 
Wie  er  so  wacker  sauffen  kan, 

Rundädtnellulü. 


hochadcl.  Gerichts- Director  allhier  wurde  im  November  mit  der  Hoch-Edlea  und 
Tugendreichen  Jgfr.  Maria  Ghristina,  Herrn  D.  Weidlichs ,  ICli  in  Leipzig  ältester 
Tochter,  in  hiesiger  Kirche  auf  schriftliche  Concession  des  Leipziger  Ministerii, 
besonders  Herrn  Dr.  Lehmanns,  Superint.  (er  war  dies  seit  4  670),  öffentlich  ein- 
gesegnet a.  Kirchenbuch  der  Pfarre  zu  Kitzscher,  dessen  Einsicht  ich  der  Gefällig- 
keit des  Herrn  Pastor  Teichgräber  verdanlce. 


540  Friedrich  Zarncke,  [^6 

Die  Rede  beginnt,  fast  gotteslästerlich,  mit  den  Worten:  »In 
aller  alter  Weiber  Nahmen«.  Dann  die  Anrede  an  die  Zuhörer,  und 
nun  die  Einleitung:  »Wenn  alte  Weiber  tanzen,  so  machen  sie  einen 
großen  Staub.  So  lautet  das  schöne  und  nachdrückliche  Sprichwort 
unserer  lieben  alten  Teutschen,  womit  sie  uns  dreyerley  zu  verstehen 
geben,  1.  Den  Tantz  alter  Weiber.  2.  Die  Unlust,  welche  hiervon 
entstehet,  und  3.  was  die  Ursach  der  Unlust  sey«.  Nun  geht  es 
gleich  zu  Unfläthereien  über,  nach  dem  lateinischen  Verse :  Dum  cur- 
vatur  anus,  retro  sibi  sibilat  anus;  es  wird  von  dem  übel  riechenden 
»Hinter  Capell«  gehandelt,  »das  sich  mit  einem  gefährUchen  Canon- 
Schusse  hören  last  und  so  wohl  mit  dem  entsetzlichen  Knall  als 
Gestanck  des  alten  Pulvers  denen  Umbstehenden  Angst  machet«. 
Dann  gehts  so  weiter:  »von  den  Regimentern  Flöhen  und  Pharaons 
Läusen«  etc.  Die  Scene  ist  nicht  mehr  in  Plissine,  sondern  ist  nach 
Schelmerode  verlegt;  der  verstorbene  Gatte,  Veit  Schlampampius,  war 
»wohlbestallter  Bruch-  Holtz-  und  Schweinschneider«.  Die  »schönen 
Worte,  welche  sich  die  liebe  Ehrliche  vor  ihrem  Hintritt  zu  einem 
Texte  des  Leichen-Sermones  selbst  erwehlet«,  sind  »von  dem  Meister 
des  Reinckens-Fuchsens  in  seinem  andern  Buche  im  7.  Haubt-Theil 
und  lautet  in  unser  teutschen  Frau  Mutter  Sprache,  wie  folgt: 

TEXTUS. 

Alte  Weiber  und  Enten, 

Die  schwimmen  aufl*  der  See, 

Und  wenn  sie  nicht  mehr  schwimmen  können, 

So  kehren  sie  den  Steiß  in  die  Uöh.«^) 

Nach  allerlei  Vergleichen  auf  die  »Natur  und  Beschaffenheit  ver- 
lebter Weiber«  wird  aus  jenem  Text  das  Thema  genommen:  »die 
Beschaffenheit  einer  Ehrlichen  Frau  unter  dem  Bilde  einer  Ente«. 
Nachdem  Herr  Gerge  dann  getrunken,  beginnt  die  TRACTATIO.  So 
geht  es  darauf  nach  dem  Schema  einer  Predigt  fort.  Anas  wird  mit 
anus  und  dem  griechischen  avu>  zusammengebracht,  dann  auch  mit 
änus,  dem  »RückPositiv  des  menschlichen  Leibes«,  »doch  ist  es 
nicht  nöthig,  daß  wir   unsere  Nasen  in  dieses  Geheimnus  stecken«. 


1)  Auch  dies  Citat  ist  nur  ein  Scherz.  Im  Reineke,  auch  in  der,  in  so  mannig- 
faltigen Versmaassen  gearbeiteten  Ausgabe  von  4  650,  findet  sich  die  angeführte 
Stelle  nicht. 


87]  Cbristian  Reuter.  541 

Dann  wird  der  Vergleich  der  Ente  mit  der  Frau  Schlampampe  weiter 
gefuhrt,  grösstentheils  überaus  unsauber;  auch  arger  Kuppeleien, 
selbst  der  »frantzösischen  Krätze«  wird  gedacht;  die  Schilderung  der 
ünsauberkeit  der  Ehrlichen  Frau  ist  so  haarsträubend,  dass  man 
wieder  nicht  begreift,  wie  so  etwas  einer  anständigen  Hochzeits- 
gesellschaft hat  geboten  werden  können.  Gegen  Schluss:  »Hier  ha- 
ben wir  ja  ein  klares,  obwohl  betrübtes  Exempel  an  unserer  lieben 
Ehrlichen  Frau  Schlampampe,  welche,  nachdem  sie  viel  Jahr  auf  der 
See  dieser  Welt  herumgesegelt  und  geschwommen  (vorher  war  diese 
See  genannt:  die  nasse  Brande- Wein,  Bier-  und  Wein-See  dieser  Welt), 
da  sie  manche  Welle  von  guten  Klebe-Bier  und  Weine  über  sich 
gehen  lassen,  nunmehro  des  Schwimmens  vergessen,  und  den  alten 
Steiß  in  die  Höhe  gekehret«.  Dann  wird  envähnt,  wodurch  sich 
die  Situation  abermals  ganz  von  der  Wirklichkeit  entfernt,  dass  aus 
Kummer  über  der  Mutter  Verlust  nun  auch  Däfftle  gestorben  sei, 
bei  dessen  Gedächlnissrede  man  »ein  und  andere  nützliche  Lebens- 
Regeln  zu  behalten«  bessere  Gelegenheit  haben  werde.  Jetzt  »wol- 
len wir  allein  den  auffgereckten  Steiß  der  Frau  Schlampampe  be- 
trachten als  eine  Ehren-Pforten,  welche  Ihr  der  Tod  zu  stetem  An- 
dencken  Ihrer  Tugend  und  Verdienste  zu  guter  Letzte  auffgerichtet. 
Und  wie  wir  der  lieben  Mit-Schwester  ihren  Sieg  gerne  gönnen,  so 
wollen  wir  ihre  Ehren-Pforte  mit  einer  Fahnen  bestekken,  an  welcher 
dieser  Denck-Reime  mit  goldenen  Buchstaben  geschrieben: 

Die  in  dem  Leben  selbst  ein  Bild  der  Ente  war, 

Ist  auch  in  ihrem  Tod  der  Ente  gleich  geblieben : 

Der  abgezehrte  Balg  liegt  auf  der  Todten-Bahr, 

Doch  hat  Sie  uns  den  Steiß  zum  Ehren-Mahl  verschrieben.« 

Setzen  wir  uns  über  das  Widerstreben  hinweg,  mit  dem  wir 
diese  Mittel  des  Humors  gelten  lassen,  so  darf  man  nicht  verkennen, 
dass  eine  reich  fliessende  Ader  schneidenden  Witzes  und  drastisch 
wirkender  Komik  dem  Dichter  zu  Gebote  stand,  die  in  dieser  paro- 
dierten Predigt  vielleicht  schlagender  noch  sich  offenbart  als  in  den 
Dramen. 

Auf  die  Predigt  und  die  Gesangs-Arien  folgen  mit  besonderem 
Titel  die  Begräbniss-Carmina.  Alles  schliesst  sich  auch  hier  wieder 
den  ernsten  Sitten  und  Formen  der  Zeit  an  und  wirkt  durch  diesen 
scheinbaren  Ernst    um    so   mehr.     Schon  der  Titel:    »Wohlgemeinte 


542  Friedrich  Zarngke,  ß^ 

Geüancken  bey  dem  Grabe  Der  Weyland  Hoch-  Ehr-  und  Tugend- 
begabteo  Frau  Schlampampe,  Sonst  Die  Ehrliche  Frau  genannt:  Wor- 
mit  Ihre  Letzte  Schuldigkeit  Und  Traurigs  Beyleyd  entdecken  wollea 
Dero  Respective  betrübte  Kinder  Und  Hausgenossen. «  Besonders 
wirksam  sind  auch  die  Unterschriften,  ganz  im  gewöhnlichen  tri- 
vialen Stil  jener  eiligen  Machwerke  gehalten  und  hier  zu  dem  In- 
halte möglichst  wenig  passend.  Voran  steht  als  der  Aelteste-  Signor 
Schelmufl'sky: 

0  Sapperment,  6  Todt!  Du  dürres  Rabcn-Aaß, 

Du  hast  ja  wie  ein  Dieb  an  unserin  liauß  gehandelt. 

•  •      •      • 

Nun  ist  es  auch  mit  mir  der  Tebel  hohl  mer  aus. 

•  •      •      • 

Däfftle  hat  3  Strophen  von  6  Zeilen  beigesteuert: 

Ach  helffl  mir  alle  greinen, 
Ja  Rotz  und  Wasser  weinen, 
Mein  Schlaff-Gesell  ist  tod. 

.   •   .   . 

Die  beiden  Mädchen  höchst  frivol,  zuerst  die  äUeste: 

Nun  thät  ich  was  auff  mich  und  unser  Schclmerode, 

Weil  die  Frau  Mutter  stirbt  und  alle  Viere  streckt. 
Hier  ist  kein  Heller  mehr  zu  einer  neuen  Mode, 

Ach  daß  doch  unser  Zanck  solch  Unheil  ausgeheckt! 
Zwar  dort  erschrack  ich  sehr,  da  zwischen  meinen  Beinen 

Die  große  Ratte  sprang,  und  in  ein  Loch  entlieff: 
Doch  muß  ich  armes  Thier  jetzt  noch  viel  ärger  weinen. 

Die  weil  das  Todes-Loch  der  Mutter  gar  zu  tieff. 
Ey  nun  der  Erste  Kerl,  der  sich  was  mercken  lasset, 

Und  wür  er  gleich  von  Stroh,  der  soll  mein  Liebster  seyn. 
Ihr  Sorgen,  schert  euch  hin,  die  ihr  mein  Hertze  fresset. 

Das  Braut-Bett  hilfft  mich  mehr,  als  kalter  Leichen-Stein. 

Durch  diese  Zeilen  weite  ihr  schmertzliches 

Mitleiden  entworfen 

Charlotte. 
Nicht  besser  die  jüngere: 

Ich  hütte  nicht  vermeint,  daß  sie  so  bald  verreckte, 
Da  ihr  das  Klebe-Bier  noch  in  der  Gurgel  steckte. 

Was  hilfils?  Das  Leben  ist  wie  meine  JungferschafFt, 
Durch  einen  kleinen  Stoß  ist  Beides  hingerafll. 


J 


891  Christian  Reuter.  543 

Wer  gibt  mir  künfTtig  Geldt,  die  Röcke  zu  verbrehiDen, 

Wo  soll  ich  Slruinpff  und  Hemd,  wo  die  FontaDge  nehmen? 

Ach  Andres,  lieber  Herr,  weil  die  Frau  Mutter  todt, 

So  gieb  mir  einen  Mann  und  hilf!  mir  aus  der  Noth. 

Aus  obliegender  Schuldigkeit  schrieb  solches  mit 

betrübter  Feder 

Clarille. 

Dann  folgen  die  Studenten  Edward  und  Fidele,  darauf  Herr 
Gerge,  der  Präceplor.  Hier  wird  auf  das»  angespielt,  was  im  zweiten 
Theil  des  SchelmufTsky  erzahlt  wird,  dass  unter  den  Präceptoren  der 
Wirthin  zum  rothen  Stier  sich  auch  einer  befunden  habe,  der  ihr 
die  Schlösser  zu  öffnen  verstanden  hUtte.  Das  nimmt  hier  Hr.  Gerge 
auf  sich: 

Man  gab  mir  immer  Schuld,  ich  machte  Schlösser  offen, 
Und  lese  mir  nach  Lust  die  nassen  Wahren  aus 

•      •      •      • 

Jetzt  war'  es  gut  vor  sie,   wann  ich  die  ehrrche  Frau 
Mit  einem  Dieterich  aus  ihrem  Loch  befreyte; 

Doch  weil  sie  mir  sonst  stets  des  Schlüssels  wegen  dräutC; 
So  denck  ich,  liege  nur,  du  alte  Gerber-Sau^). 

Zum  Schiuss  die  berühmte  Ratte: 

Die  Katze  war  mir  feind,   noch  feinder  die  Schlampampe, 

Denn  da  ich  ohngefähr  ihr  seydenes  Kleid  zubiß, 
Da  suchte  mich  ihr  Zorn  mit  Besen  und  der  Lampe, 

Biß  mir  Gharlottgens  Bein  die  sichVe  Höhle  wieß. 
Nun,  da  sie  selbst  dem  Tod  zur  Ratte  werden  müssen, 

Kriech'  ich  aus  meinem  Loch  zu  meiner  Sicherheit; 
Die  Falle  schnappt  nach  ihr,   ich  bin  dem  Strick  entrissen : 

So  zahlt  das  Unglück  stets,  was  man  dem  andern  dräut. 

So  weite  ihre  letzte  Schuldigkeit  erweisen  diejenige 
Ratte,  welche  die  Ehre  gehabt,  der  Frau  Schlam- 
pampen ihr  Seiden  Kleid  zu  zerbeissen. 

In  den  Augen  der  Gegner  Reuter's  war  mit  diesem  Opus  dem 
Fass  der  Boden  ausgeschlagen,  das  Mass  der  Schändlichkeit  erfüllt. 
Und  gewiss,  ohne  boshafte  Schadenfreude  wird  der  Verfasser  diesen 
neuen  Liebesdienst  fiir  die  Familie  Müller  nicht  in  die  Welt  geschickt 


^)   In   dem   zweiten  Nachspiel   wird   die  Ursel    bald  mit  einer  »Gerber-Sau«, 
bald  mit  einer  »Bäcker-Sau«  verglichen. 


544  Friedrich  Zarngke,  [90 

haben :  denn  darüber  konnte  er  nicht  in  Zweifel  sein,  dass  alle  Well 
auf  die  Bewohner  des  rothen  Löwen  weisen  würde.  Aber  doch  ist 
diese  Satire  wohl  dazu  angethan,  zu  zeigen,  dass  es  dem  Verfasser 
in  erster  Linie  auf  die  von  ihm  geschaffenen  typischen  Charaktere 
ankam.  Schlampampe  war  das  Urbild  eines  ungebildeten,  riipelhafleD 
und  unsauberen  Frauenzimmers  geworden,  der  Dichter  knüpfte  an 
bereits  bekannte  Züge  an,  wenn  er  nunmehr  aus  ihr  das  Bild  eines 
unsäglich  unfläthigen  alten  Weibes  machte,  an  dem  nun  einmal 
jene  Zeit  Gefallen  zu  haben  verstand.  Was  ging  die  vornehme 
Hochzeitsgesellschaft,  zu  deren  Erheiterung  er  die  Parodie  schrieb, 
wenn  es  auch  Leipziger  waren,  die  Wirthin  zum  rothen  Löwen  so 
gewaltig  an,  dass  sie  in  der  Empßndung  des  Hasses  gegen  sie 
eine  besondere  Befriedigung  sollte  gefunden  haben?  Es  war  offen 
bar  in  erster  Linie  nicht  Hass  und  Verläumdung,  was  dem  Dichter 
die  Feder  führte,  sondern  das  witzige  Bestreben,  ein  ergötzlich  ab- 
gerundetes parodistisches  Charakterbild  zu  schaffen. 


8.  Die  Oper. 

Von  der  Oper  ist  wiederholt  in  den  Acten  die  Rede.  Am 
15.  August  1696  klagt  die  Wittwe  Müller  dem  Churfürsten,  nach 
der  gemeinen  Sage  sollten  ausser  dem  Schelmuffsky  noch  2  üppige 
und  schändliche  Schmähschriften  auf  ihre  Töchter  bereits  unter  der 
Presse  sein.  Bei  der  Confiscation  am  27.  August  wird  keine  der- 
selben aufgefunden.  Am  9.  September  denunciert  die  Müller,  der 
Student  der  Theologie  Benjamin  Schmoicke,  der  seit  Herbst  1694 
in  Leipzig  studierte,  habe  ausgesagt,  er  wisse  von  dem  Handelsfacior 
Wermann  im  Geschäft  der  Wittwe  Heinichen,  zu  der  Heybey  in 
Beziehung  gestanden  zu  haben  scheint  %  dass  Reuter  im  Carcer  noch 
eine  Opera  auf  die  Mtillerische  Familie  gemacht  habe,  die  »sehr  art- 
lich solte  gesetzt  sein«,  und  von  dem  Studenten  Ph.  Dan.  Hugwart, 
es  seien  von  dieser  Opera  bereits  eine  Anzahl  Exemplare  an  einen 
hiesigen  Burschen  zum  Verkauf  geschickt:  mit  schneidendem  Hohne 
hatte  man  hinzugesetzt,  davon  werde  dieser  so  viel  Geld  für  Reuter 
einnehmen,   dass   was  Reuter   der  Müller   noch   schuldig   sei,   voll- 


^)  Heybey  übernahm  von  ihr  den  Verlag  eines  Werkes  des  Dr.  Weidling. 


94]  Christian  Reuter.  545 

ständig  davon  gedeckt  werden  könne.  Wermann  berief  sich  am 
2.  October  auf  Wilcke,  der  am  1.  December  geschickt  ausweichend 
antwortete.  Mittlerweile  ward  den  21.  November  von  der  Bücher- 
Commission  an  den  Churfürsten  berichtet,  dass  von  der  »Ehrlichen 
Frau  Krankheit  und  Tod«  Exemplare  confisciert  seien;  da  von  eben 
dieser  auch  an  einen  Studiosus  400  Exemplare  abgeliefert  waren, 
so  ist  wohl  zu  glauben,  dass  die  obige  Angabe  Hugwart's  fälsch- 
lich von  dem  Drucke  der  Oper  ausgesagt  war,  sie  in  Wirklichkeit 
die  Comödie  »Krankheit  und  Tod«  meinte.  Ob  am  30.  April  1697, 
als  die  Müller  sich  abermals  klagend  an  die  Bücher- Commission 
wandte,  die  Oper  bereits  gedruckt  vorlag,  ist  zwar  nicht  sicher,  da 
die  in  der  Supplik  erwähnte  »Beifuge«  sich  nicht  bei  den  Acten  er- 
halten hat,  aber  nach  dem  Auftrage,  den  der  BUcher-Fiscal  in  Folge 
jener  Klage  am  1.  Mai  erhielt,  »nach  der  Opera  zu  fragen,  und  wo 
es  anzutreffen,  zu  conQsciren«  sehr  wahrscheinlich.  Geschrieben  war 
die  Oper  schon  viel  früher,  denn  Reuter  dichtete  sie  auf  dem  Carcer, 
von  dem  er  im  August  1696,  nach  15 wöchentlicher  Haft,  bereit-s 
seit  längerer  Zeit  wieder  entlassen  war. 

Mit  dieser  Oper,  die  später  in  den  Acten  nicht  weiter  erwähnt 
wird,  ist  zweifelsohne  gemeint: 

Le  Jouvanceau  Charmant  Seigneur  Schelmuffsky 

et  rhonn^te  Femme  Schlampampe 
representce  par  une  Opera  sur  le  Theatre  ä  Hambourg 

Oder 

Der  anmuthige  Jüngling  Schelmuffsky 

und  die  ehrliche  Frau  Schlampampe, 

in  einer  Opera  auf  den  Hamburgischen  Theatro  vorgestellet. 

Hamburg,  Gedruckt  im  gUldnen  ABC. 

Eine  Jahreszahl  ist  nicht  angegeben.  Aus  den  oben  angeführten 
Angaben  Sclimolcke's  und  W^mann's  dürfen  wir  entnehmen,  dass 
Reuter  die  Oper  nicht  bloss  gedichtet,  sondern  auch  componiert  hat. 

In   der  Hauptsache   ist  die   Oper,   wie   schon  Reinhold   Köhler  ^ 
bemerkt  hat^),  eine  Wiederholung  der  Ehrlichen  Frau,  in  Verse  ge- 
bracht,  wie  es  die  Oper  verlangte,  und  mit  Gesangsstücken  (Arien) 
versehen.    Als  Beispiel  möge  die  erste  Scene  der  Comödie  hergesetzt 
werden,  der  Monolog  der  Schlampampe: 


1)  Zeitschr.  f.  D.  A.  XX,  S.   \t\. 


546 


Friedrich  Zarncke, 


92 


(Comödie) 

Nun,  es  glUubet  mirs 
auch  kein  Mensche,  wie 
ich  von  meinen  Raben- 
Äessern,  meinen  Mäd- 
gon  gequälet  werde ;  da 
wollen  sie  bald  dieses 
und  jenes  von  mir  ha- 
ben. So  wahr  ich  eine 
ehrliche  Frau  bin,  wenn 
ich  dran  gedencke,  ich 
möchte  flugs  Hörner 
kriegen !  Ja,  sie  tribu- 
liren  mich  auch,  daß  es 
den  Göttern  im  Wolcken 
erbarmen  möchte.  Man 
dencke  doch  nur,  da 
wollen  sie  ietzund  wie- 
der neue  Kleider  von 
mir  haben,  wo  soll  ichs 
arme  Frau  denn  endlich 
noch  hernehmen?  kein 
Verdienst  ist  groß,  und 
von  meinen  Studenten 
im  Hause  kan  ich  kei- 
nen Heller  Stuben-Zins 
bekommen.  So  wahr  ich 
eine  ehrliche  Frau  bin^ 
ich  kans  unmöglich  län- 
ger ausstehn.  Ach,  wie 
glückseelig  muß  doch  so 
eine  Mutter  (!)  leben, 
die  gar  keine  Kinder 
hat;  ich  dächte,  wenn 
ich  keine  Kinder  hätte, 
ich  weite  die  geruhig- 
sten Tage  aufT  der  Welt 
haben,   allein  was  kan 


(Oper) 

Nun,  es  gläubts  kein  Mensche  nicht, 
Wie  mich  meine  Mädgen  quälen! 
Der  Verdruß  ist  nicht  zu  zählen. 

Welcher  täglich  mir  geschieht. 

Nun,  es  gläubts  kein  Mensche  nicht, 
Wie  mich  meine  Mädgen  quälen! 

Man  dencke  nur! 

Da  soll  ich  nun  den  stoltzen  Affen 

Schon  wieder  neue  Kleider  schaffen, 

Der  Hencker  fuhrt  Sie  doch  auf  solche  Spur! 

Nichts  kan  man  groß  erwerben, 

Die  Zeiten  die  sind  schwer. 

Die  Gaben  machen  auch  den  Beutel  ziemlich  leer, 

Und  die  Studenten,  so  bey  mir  zur  Miethe, 

Bezahlen  mich  auch  niemals  nicht  mit  Güte; 

Das  kräncket  meinen  Sinn! 

So  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau  bin. 

Ich  möchte  flugs  für  Noth  und  Elend  sterben. 

Nun,  es  gläubts  kein  Mensche  nicht, 
Wie  ich  arme  Frau  geplaget! 
Euch,  ihr  Wolcken,  seys  geklaget! 

Rettet  mich  von  solcher  Gicht. 

Nun,  es  gläubts  kein  Mensche  nicht. 
Wie  ich  arme  Frau  geplaget! 

Wie  glücklich  muß  doch  eine  Mutter  leben, 

Die  stets  von  Kindern  ist  befreyt! 

Ja,  lebt  ich  noch  in  solcher  Zeit, 

Ich  weite  gleich  was  ehrliches  drum  geben. 

So  aber  hat  des  Himmels  Schluß 

Die  Rabenässer  mir  bescheret. 

Und  das  Hauß  ziemlich  stark  vermehret. 

Die  machen  mir  den  Taglang  viel  Verdruß. 

Nun,  es  gläubts  kein  Mensche  nicht, 
Wie  mich  meine  Mädgen  quälen! 


ich  thun  ?   der  Himmel 

hat  mir  sie  einmahl  bescheeret,    ich  muß  doch  sehen,    auf  was  Art  ich  sie 

als  ehrliche  Frau  versorge. 


Aber  die  Mannigfaltigkeit  der  Scenen  ist  vermehrt,  indeni  aus 
der  zweiten  Comödie  der  lustige  Hausknecht  eingeführt  ist,  hier 
Lerian   genannt,    der  ein  Liebesverhältniss  mit  der  Jungenmagd  hat, 


93]  Christian  Reuter.  547 

die,  wie  in  der  zweiten  Gomödie,  statt  der  Köchin  Ursille  auftritt, 
hier  aber  den  etwas  obscön  lustspielhaften  Namen  Schnilrtzgen  mit 
dem  mehr  für  die  Oper  passenden  Blandine*)  vertauscht  hat.  Nicht 
nur  haben  die  Pickelhärings-  und  Liebes-Scenen  der  beiden  Dienst- 
boten an  sich  dramatisches  Interesse  (man  vergleiche  z.  B.  die  Scene, 
in  der  Lerian  davon  wandern  will,  und  Blandine  ihn  warnt,  nicht 
unter  die  Soldaten  zu  gerathen;  das  tapfere  Mädchen  singt  ihm  da 
die  folgende  Aria,  die  an  eine  Scene  in  Figaro's  Hochzeit  anklingt: 

Ein  Soldate  muß  sich  wagen, 
Und  mit  hunderten  mm  schlagen, 
Weder  Pulver,  weder  Bley 
Muß  denselben  machen  scheu. 
Kriegt  er  auch  gleich  so  viel  Hiebe, 
Daß  er  auf  dem  Platze  bliebe, 
Darff  er  darnach  doch  nichts  fragen ! 
Ein  Soldate  muß  sich  wagen, 
Und  mit  hunderten  rumschlagen !  )^ 

sondern  auch  die  übrigen  Scenen  werden  durch  die  Mitwirkung  der 
Beiden  reicher  ausgestattet;  so,  als  Schelmuflsky  kommt,  wird  er 
jetzt  dreimal  abgewiesen,  indem  zwischen  die  Scenen  mit  der  Magd 
und  der  Mutter  sich  nun  noch  eine  mit  dem  Hausknecht  einschiebt; 
das  Austrinken  der  Weinflasche  wird  durch  die  versteckte  und  offene 
Beihülfe  des  lustigen  Dieners  und  auch  der  Jungenmagd,  indem  beide 
durch  ein  paar  Bundas  die  Lust  erhöhen  müssen,  mannigfaltiger  u.  s.  w. 
Ferner  giebt  das  Vorhandensein  des  Hausknechts  bei  der  Ankunft  des 
Boten  Veranlassung  zu  einer  lustigen,  zum  Theil  an  das  erste  der 
beiden  Nachspiele  sich  anlehnenden  Scene.  Die  Aufschneidereien 
Schelmuffsky's  sind  aus  der  Beisebeschreibung  vermehrt,  deren  Her- 
ausgabe ausdrücklich  erwähnt  wird^). 

Auch  das  Verhältniss  zwischen  Edward  und  Melinde  tritt  hier 
mehr  hervor.  Es  giebt  Veranlassung  zu  einem  hübschen  Auftritt, 
zu  einem  Ständchen,  das  Edward  mit  etlichen  Musikanten  seiner 
Geliebten  bringt,  wobei  er  eine  recht  ansprechende  Arie  singt: 


^)   Hat  Goethe  hierher  dea  Beinamea  der  Braut  in  Hanswursts  Hochzeit? 

2)   Act  V,  Sc.  42:   »Und  daß  ich  bin  in  Schweden  auch  gewesen,   Wird  ieder- 
man  in  der  Beschreibung  lesen^  Die  ich  gegeben  an  das  Tageslicht«. 


548  Friedrich  Zarncke,  [^4 

Schlaff,  Du  Schönste  von  der  Welt, 
Laß  Dich  nicht  die  Saiten  stöhren, 
Welche  heunte  Dir  zu  Ehren 

Ein  getreuer  Knecht  bestellt. 

Schlaff,  Du  Schönste  von  der  Weltl 

Schlaff,  mein  Trost,  mein  Augenliecht, 
Mein  Vergnügen,  meine  Wonne, 
Schlaffe  biß  die  göldne  Sonne 

Dich  mit  Freuden  wieder  sieht. 

Schlaff,  mein  Trost,  mein  Augenliecht. 

Auf  des  losen  Fideles  Anstiften  schliesst  sich  dann  daran  eine  Ratzen- 
musik (»Katz-  und  Hunde-Messe«)  für  die  Bewohnerinnen  des  gol- 
denen Maulaffen.  »Die  Musicanten  fangen  iedweder  eine  närrische 
Melodey  an  zu  spielen.    Fidele  und  Edward  singen  folgendes  drein: 

Lirum  lärum  Hafer-Stroh, 
Ey  wie  sind  die  Katzen  froh! 
Miaul  Miau!  Miaul 
Hört  doch  an  die  Gassen-Hunde, 
Wie  sie  schreyen  diese  Stunde: 
Haul  Hau!  Hau! 

Die  Musicanten  niarchiren  mit  einem  lustigen  Gassenhauer  nebst 
Edwarden  und  Fidelen  wieder  davon.« 

Aber  mehr  noch  wird  die  Mannigfaltigkeit  erhöht,  indem  Er- 
eignisse aus  der  Reisebeschreibung  des  Schelmuffsky  in  die  Oper 
hineingearbeitet  sind.  Diese  eröffnet  sofort  mit  einer  Seene,  die  an 
Operneffecte  unserer  Tage  erinnert  und  den  Theatermaschinislen 
jener  Zeit  alle  Ehre  macht.  »Der  Schauplatz  zeiget  die  Spanische 
See,  allwo  sich  ein  Last-Schiff  präsentieret,  welches  mit  geräucherten 
Hechtzungen  und  Bomolie  beladen  ist;  Schelmuffsky  erzeiget  sich  auf 
denselben  mit  seinen  Reisegefehrten  sehr  lustig«.  Nun  folgen  Chor- 
und  Einzelgesänge.  Dann  erblickt  man  ein  Caperschiff  herankommen; 
Schelmuffsky  fordert  zu  eiligster  Flucht  auf.  »Unter  währenden 
Ritornello  lässt  sich  ein  Caper-Schiff  sehen,  welches  auf  das  Last- 
Schiff  Feuer  giebt,  Schelmuffsky  aber  erschrickt  vor  den  Schusse, 
und  versteckt  sich  in  ein  leer  Bomolien-Faß ,  aus  welchem  er  biß- 
weilen mit  dem  Kopffe  zum  Spundlochc  herausgucket. «  Darauf  entert 
Jean  Barth;  ein  gewaltiger  Kampf  beginnt,  aber  das  Caper-Schiff  be- 
hält   die    Oberhand.     Alles    wird    gefangen    genommen,    schliesslich 


^^]  Christian  Rbuter.  549 

SchelmufTsky  aus  dem  Bomolien-Fasse  bei  den  Haaren  zum  Spund- 
loche herausgeschleppt;  flehentlich  bittet  er  um  Pardon.  Der  zweite 
Act  fahrt  uns  in  »das  Gitadell  zu  Sanct  Malo  mit  einem  haßlichen 
Gefängnusse,  worinnen  Schelmuffsky  in  blossen  Hembde  gefangen 
liegt«.  Clauditte,  die  Tochter  des  Kerkermeisters,  kommt,  speist  und 
tröstet  den  vom  Ungeziefer  Geplagten  und  Verzweifelnden.  Alsdann 
erscheint  der  Geist  der  Charmante  und  verspricht  ihm,  er  solle  bald 
wieder  zu  seiner  Freiheit  gelangen. 

Schelm.:  Wer  bist  Du  den?    Geist:  Ich  bin  Charmantens  Geist, 
Wenn  Du  Dich  der  Person  noch  zu  entsinnen  weist, 
Die  dorten  bey  Bornholm  das  Ungelttck  betroffen, 
Als  mit  Sechstausenden  zu  Schiffe  sie  ersoffen. 

Dann  kommt  der  Kerkenneister  selber,  der,  wie  bei  Ayrer,  Haltefeste 
heisst.  Es  wird  verabredet,  dass  ein  Bote  an  die  Mutter  geschickt 
werden  solle,  um  Lösegeld  zu  holen.  Dann  wird  dem  Schelmuffsky 
seine  Befreiung  angekündigt.  Der  Kerkermeister  führt  ihn  aber  nicht 
etwa  hinaus,  sondern  der  Maschinist  muss  mit  einem  Operneffect  nach- 
helfen. Der  Kerkermeister  singt :» Springt ,  ihr  Bande,  springt  ent- 
zwey«,  u.  s.  w.  Dazu  lautet  die  Bühnenanweisung  »Es  springet  das 
GefängnUß  von  sich  selbst  entzwey,  daß  Schelmuffsky  gantz  frey 
da  liegt.« 

Um  die  Operneffecte  noch  zu  vermehren,  ist  auch  von  dem 
Ballet  viel  Gebrauch  gemacht  worden,  wie  das  damals  bei  der  Oper 
überall,  besonders  auch  in  Hamburg,  Sitte  war^).  Nachdem  das  Last- 
schiff von  den  Capern  besiegt  ist,  bestellt  Jean  Barth  seinen  Leuten 
einen  Tanz,  und  es  folgt  ein  »Caper-Ballet«.  Am  Ende  des  ersten 
Actes  wird  ein  »Ballet  von  ehrlichen  Weibern«  angefügt;  an  Schel- 
muffsky's  Befreiung  schliesst  sich  ein  »Sclaven-Ballet«  (Sclave  =  Ge- 
fangener) ;  beim  Abgehen  des  Hamburger  Boten  ein  » Hamburger 
Bothen-Tantz«,  später  ein  »Ballet  von  lustigen  Haußknechten«  und 
endlich  »Plißinischer  Hüpel-Jungen-Tantz«,  womit  der  Tanz  der  Herren 
Barone  mit  den  Töchtern  der  Schlampampe  gemeint  ist. 

Wenn  so  die  Veränderungen  meist  in  humoristischen,  ja  scurrilen 


*)  Besonders  auf  Tanz  war  es  neben  dem  Gesang  und  der  Musik  abgesehen. 
Tanzen  müssen  die  Winde,  die  Furien,  die  Cameellreiber ,  die  Bauern,  die  in 
Bethlehem  die  Schätzung  bezahlen  u.  s.  w.  GefTken,  die  ältesten  Hamb.  Opern, 
in  der  Zeitschr.   d.   Vereins  f.  Hamb.  Geschichte  III  (4  851),   S.  35  fg. 


550  Friedrich  Zarncke,  ^^' 

Zuslitzen  zu  bestehen  scheinen,  so  ist  dagegen  der  Schluss  auf  höhern 
Kothurn  gestellt.  Während  in  der  Comödie  es  die  Studenten  waren, 
die  die  moralische  Nutzanwendung  etwas  ubermUthig  weise  procla- 
mierlen,  erscheint  hier  die  Humilitas,  die  Demuth,  und  spricht : 

Befremdet  euchs,  ihr  stoltzen  Erden-Nymphen, 

Daß  euch  der  Himmel  so  laßt  schimpffen? 

Es  ist  verdienter  Lohn, 

Den  ihr  durch  Spott  und  Hohn 

Vor  dieses  mahl  empfangen. 

Und  wo  ihr  werdet  künfftig  mehr  so  prangen, 

Wie  ihr  bißher  gethan, 

So  dencket  nur  daran, 

Daß  ihr  mit  SchimpfT  zu  Boden  müsset  liegen, 

Wo  Ihr  Euch  nicht  zur  Demuth  wollet  schmiegen. 

Legt  doch  allen  Hochmulh  nieder. 

Nehmt  die  edle  Demulh  an, 
Jederman  wird  hin  und  wieder 

Euch  hinfort  seyn  zugethan. 
Legt  doch  allen  Hochmuth  nieder, 

Nehmt  die  edle  Demuth  an. 

Der  Stimme  der  Göttlichen  kann  sich  Niemand  entziehen.  Schlam- 
pampe wie  ihre  Töchter  sind  gerührt  und  geloben  Besserung.  Mit 
voller  Versöhnung  schliesst  das  Stück: 

Schlamp.  Weil  es  der  Himmel  selber  spricht: 
Er  hat  es  haben  wollen, 
Daß  man  euch  so  beschimpffen  sollen, 
So  grämt  euch  nur  deswegen  nicht. 
Und  thut  was  Euch  die  Demuth  hat  geheißen. 

Gharlott.  f  Wir  wollen  uns  inskünflige  befleißen 


{ 


Clarill.    I  Zu  thun,  was  sie  uns  angesagt. 

Alle. 

Was  der  hohe  Himmel  spricht: 
Das  geschieht  und  muß  geschehen; 
Weil  er  nun  kan  alles  sehen, 

Ey  so  trügt  ja  solches  nicht: 

Was  der  hohe  Himmel  spricht. 
Das  geschieht  und  muß  geschehen. 

Man  wird  aus  dieser  Fassung  von  Neuem  sehen,  wie  nicht  der 
Hass  und  eine  verleumderische  Absicht  gegen  die  Familie  Müller  der 
Ausgangspunct  und  das  Ziel  der  Dichtungen  Reuter's  war,   sondern 


97]  Christian  Rbuter.  551 

das  Bestreben,  eine  den  Gesetzen  der  Kunst,  soweit  sie  von  ihm 
erkannt  waren,  entsprechende  Dichtung  zu  liefern. 

Der  freie  Versbau,  wie  er  damals  für  die  Opern  in  Gebrauch 
war,  mit  bunt  verschränkten  Reimen  wird  von  Reuter  mit  Gewandtr- 
heit  gehandhabt;  klar  und  glatt  fliesst  die  Sprache  in  den  Reimen 
dahin,  wenn  auch  nicht  immer  frei  von  Flickworten  und  einigen  Noth- 
reimen.  Aber  freilich,  das  packend  Charakteristische,  das  seine  Prosa 
hatte,  ist  bei  dieser  Umreimung  zu  einem  grossen  Theil  verloren  ge- 
gangen. Das  konnte  nicht  anders  sein,  und  brauchte  nicht  anders 
zu  sein  bei  einer  Dichtung,  die  nur  die  Unterlage  fUr  die  musika- 
lische Composition  sein  sollte,  welche,  wie  wir  sahen,  ebenfalls  von 
Reuter  selber  gesetzt  war.  Die  recitativischen  Stellen,  die  freilich, 
namentlich  gegen  Ende,  sehr  überwiegen,  sind  im  Stil  kurz  und  frisch 
gehalten,  ein  Componist  hätte  nicht  Grund  gehabt,  sich  über  ihre 
Endlosigkeit,  wie  Cousser  über  den  Text  des  Bressand  zur  Ariadne, 
zu  beklagen.  Von  eigen tUchen  Gesängen  oder  Arien  kommen  im 
Ganzen  nur  55  Strophen  vor,  und  die  weitaus  meisten  sind  ein- 
strophig.  Es  überwiegt  der  trochäische  Silbenfali  (trochäische  und 
iambische  Verse  sind  strenge  geschieden)  und  die  Verse  von  vier 
Hebungen;  längere  Verse  finden  sich  gar  nicht,  wohl  aber  einige 
Strophen  mit  bloss  dreihebigen  Versen,  und  eingeschoben  sind  zu- 
weilen Verse  von  zwei  und  drei  Hebungen.  Stets  kommen  stumpfe 
und  klingende  Reime  zusammen  vor  (mit  Ausnahme  6iner  Strophe, 
die  nur  klingende  Reime  hat),  doch  mannigfach  gebunden,  bald  sich 
kreuzend,  bald  sich  umschlingend,  bald  neben  einander.  Auch  Stro- 
phen, die  aus  Daktylen  bestehen,  finden  sich.  Gemeiniglich  wird  der 
Text  des  ersten,  oder  auch  der  beiden  ersten  Verse  der  Strophe  am 
Ende  wiederholt,  einmal  sogar  die  ersten  drei  Verse.  Die  meisten 
Strophen  haben  nur  zwei  Reime  und  nur  vier  Zeilen  (von  der  Wieder- 
holung abgesehen),  doch  giebt  es  auch  eine  Anzahl  Strophen  mit 
drei  Reimen  und  von  fünf  bis  zu  sieben  Zeilen,  in  welchem  letzteren 
Falle  einige  Reime  wohl  Binnenreime  sind  (also  Verse  von  der  Form 
2  b^  -f-  2  bv^,  u.  ä.).  Es  finden  sich  ausser  der  Kalzen-Hunde-Messe 
und  den  Rundas  26  verschiedene  Strophenbildungen,  alle  offenbar 
sehr  sangbar.  Es  scheint  also  auch  das  musikalische  Talent  Reuter's 
und  seine  musikalische  Ausbildung  nicht  gering  gewesen  zu  sein. 

Ob  die  Oper  wirklich  in  Hamburg  aufgeführt  worden  ist,  wissen 

Abhandl.  d.  E.  9.  Oesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  37 


1 


552  Friedrich  Zarnckb,  [98 

wir  nicht.  Aber  es  ist  nicht  wahrscheinlich;  genannt  wird  ihr  Titel 
unter  den  in  Hamburg  aufgeführten  nicht  und  ein  Hamburger  Text- 
buch derselben  giebt  es  nicht  ^).  Jedesfalls  hat  sie  eine  erkennbare 
Bedeutung  in  der  Entwicklung  der  Oper  nicht  erlangt.  Ihr  Inhalt 
war  dem  Zeitgeschmacke  wohl  noch  zu  fremd.  Allerdings  hatte  man 
in  Hamburg,  wo  man  unabhängig  war  von  fürstlichem  Einfluss,  wo 
also  der  Volksgeschmack  sich  freier  entwickeln  konnte,  bereits  i  689 
einen  Don  Quixote,  also  doch  gewiss  eine  komische  Oper^),  gegeben, 
man  hatte  auch  1 692  in  Bressand's  Jason  eine  lustige  Person  hinein- 
interpoliert  (was  wohl  1693  Bressand  selbst  bewog,  in  seinen  Nar- 
cissus  den  Rullo,  einen  lustigen  Schuferknecht,  aufzunehmen),  schon 
seit  1686  hatte  man  niederdeutschen  Arien  Zulass  gewährt,  aber 
eine  den  ganzen  Abend  füllende  komische  Oper,  die,  wie  die  Co- 
mödie,  dem  Leben  und  Treiben  der  Gegenwart  entnommen  war, 
das  war  doch  ein  zu  grosser  Sprung  von  jenen  auf  hohem  Kothurn 
einherstelzenden  Stoffen  des  Alterthums,  wie  Orpheus,  Proserpina, 
Semele,  Semiramis,  Achilles,  Hermione,  Theseus,  Medea,  Cecrops, 
Hercules,  Orontes,  Cleopatra,  Ariadne,  Alceste,  Jason,  Narcissus, 
Aeneas,  Alexander,  Perus,  Andromeda,  Circe,  Scipio  Africanus, 
Xerxes,  Crösus,  Penelope  u.  s.  w.  u.  s.  w.,  die  bis  dahin  das  Haupt- 
repertoire der  Oper  abgegeben  hatten.  An  den  Höfen  war  für  Reuter's 
Werk  natürlich  keine  Aufnahme  zu  hoffen,  und  in  Leipzig  stand  ihm 
wohl  schon  der  Klatsch  entgegen,  der  sich  an  dasselbe  heftete.  Aber 
auch  in  Nürnberg  und  Frankfurt  a/M.  scheint  es  nicht  zur  Aufführung 
gelangt  zu  sein. 

Dessenungeachtet  können  wir  sagen,  dass  Reutern  das  Verdienst 
zuzuweisen  ist,  zuerst  den  Versuch  gemacht  zu  haben,  eine  dem 
wirklichen  Leben  entnommene  komische  Oper  zu  schaffen. 


1)  Vgl.  die  Titel  der  Opern  von  4  678  bis  1696  bei  Geffken,  in  der  Zeilschr. 
d.  Yer.  f.  Hamb.  Gesch.  IIT  (4  854),  S.  37  fg.  und  Mattheson*s  Yerzeichniss  von 
4  678  bis  4  728|   neu  abgedruckt  in  der  Allgem.   Musik-Zeitung  4  877  Nr.  4  3  fg. 

2)  Auch  die  4  679  in  Hamburg  aufgeführte  Oper  »Don  Pedro  oder  die  ab- 
gcslrafle  Eifersucht«  hat  doch  wohl  schon  einen  mehr  modernen  Charakter  ge- 
tragen. Aus  dem  Jahre  4  680  erwähne  ich  »Jodelet«,  aus  4  684  »Das  unmögliche 
Dinger,  aus  4  704  »Störtebeker  und  Jödge  Michaela,  aus  4  74  0  »Le  bon  Vivant  oder 
die  Leipziger  Messe«,  aus  4  74  4  »Der  angenehme  Betrug  oder  der  Garne val  von  Vene- 
dig« u.  s.  w.  Die  beiden  Theile  des  »Gara  Mustapha«  [4  686]  gehören  allerdings  der 
Gegenwart  an;  vergleichen  sich  aber  sonst  ganz  jenen  grossen  pomphaften  Opern. 


99]  Christian  Reuter.  553 


9.  Beuter's  zweite  Relegation  und  Excluslon.    Tersaehe  der 

Rehabilitation. 

Alle  diese  Schriften  lagen  gedruckt  vor,  ehe  Reutern  die  ihm 
von  seinen  Feinden  so  sehnlich  gewünschte  Strafe  ereilte,  denn  die 
gegen  ihn  ausgesprochene  zweijährige  Relegation  war  ja  nicht  zur 
Ausfuhrung  gekommen,  weil  er  sich  eine  schriftliche  Defension  er- 
beten hatte.  Bei  Gewährung  dieser  ist  ihm  —  so  brachten  es  die 
Bestimmungen  der  Statuten  mit  sich  —  aufgegeben  worden,  sich 
weiterer  Pasquille  zu  enthalten  und  das  Gebiet  der  Stadt  nicht  zu 
verlassen,  um  sich  im  Fall  einer  Citation  sofort  stellen  zu  können. 
Beides  hatte  er  nicht  beachtet:  er  hatte  frischweg  weiter  geschrieben, 
hatte  Leipzig  verlassen,  um  sich  nach  Kitzscher  bei  Borna  zu  be- 
geben. Als  er  daher  im  November  auf  Antrag  der  Bucher-Commission 
vernommen  werden  sollte  und  nun  natürlich  am  schwarzen  Brett 
citiert  ward,  war  diese  Citation  erfolglos,  und  sein  Bekannter  Wilcke 
erklärte  am  1 .  December,  vielleicht  gegen  besseres  Wissen,  er  kenne 
den  Aufenthaltsort  Reuter's  nicht.  Dieser  war  also  zweifelsohne  den 
Universitätsgesetzen  nach  schwer  straffällig. 

Dennoch  scheint  man  nicht  gleich  gegen  ihn  vorgegangen  zu 
sein.  Weshalb  nicht,  entzieht  sich  wieder  unserer  Kenntniss,  da 
die  Universitätsacten  fehlen:  möglicherweise  suchte  man  ihn  ver- 
gebens. 

In  der  Studentenschaft  Leipzigs  erhielt  sich  noch  immer  einige 
Erregung  und  offenbar  zu  Gunsten  Reuter's,  auch  da  noch,  als  am 
3.  Juni  1697  Frau  Anna  Rosine  Müller  gestorben  war.  Die  Er- 
regung spielte  hinaus  nach  Knauthain,  woher  ja  die  Verstorbene 
stammte  und  wo  wohl  noch  Verwandte  von  ihr  lebten.  Die  Affaire 
Wettberg-Bleymilller ,  die  sich  dort  am  3.  Juli  abspielte  (vgl.  den 
zweiten  Anhang)  hängt  offenbar  mit  Reuter  und  den  Müllerischen  Erben 
zusammen.  Auch  der  Dr.  Weidling  weist  auf  den  Reuter-Heybey- 
schen  Kreis  hin  und  die  60  Studenten-Jungen,  mit  deren  Erscheinen 
gedroht  wird,  zeigen,  in  wie  weiten  Kreisen  man  an  der  Sache  An- 
theil  nahm. 

Am  31.  Juli  finden  wir  dann  die  trockene  Notiz  in  einem  Me- 
morial des  Rectors:  »Reuter  incarceratus «.    Jetzt  war  man  also  seiner 

87* 


554  FuKDucH  Zabrcu,  [^00 

habhaft  geworden.  Aus  seinem  späteren  Klageschreiben  an  den  König- 
Churfürslen  vom  15.  März  1700  ersehen  wir,  dass  man  roh  mit 
ihm  umging.  Er  ward  nicht  auf  das  Studentencarcer,  sondern  in 
das  sogen.  Banemcarcer  gebracht.  Dies  war  das  Geföngniss  fiir  die 
Inhaftierten  aus  den  der  Universitätsgerichtsbarkeit  onterworfenen 
Dörfern,  also  für  gemeine  Verbrecher  der  untersten  Stände  bestimmt, 
allerdings  ein  Hundeloch,  von  dem  dem  Schreiber  dieses  von  alten 
Universitätsangehörigen  noch  allerlei  Haarsträubendes  berichtet  wor- 
den ist.  Es  ward  beim  Aufbau  des  Augusteums  abgebrochen.  Aach 
an  der  Kost  Hess  man  es  fehlen:  Reuter  klagt  in  jenem  Schreiben, 
dass  er  damals  so  weit  herabgekommen  gewesen  sei,  dass  er  schon 
um  deswillen  seine  Defension  nicht  genügend  habe  führen  können. 

Hier  sass  er  über  acht  Wochen.  Am  4.  September  heisst  es 
»Reuter  suchet  Defension;  commissa  d.  Rysselio«.  Das  war  sein  Freund 
die  Möglichkeit  war  ihm  also  gegeben.  Weiteres  erfahren  wir  nicht 
es  fehlen  ja  die  Acten.  Die  Studentenschaft  blieb  ihm  treu.  Am 
10.  September  fanden  wieder  ärgerliche  Scenen  statt,  indem  die 
Müllerischen  Töchter  vexiert  wurden  (s.  Anhang).  Es  scheint  dabei 
Reuter's  parodistische  Leichenrede  Nachahmung  gefunden  zu  haben 
(vgl.  die  Worte  »Geistliche  Lieder  in  sensum  obscoenum  detorquere«), 
vielleicht  sang  man  die  dem  Denk-  und  Ehrenmahl  beigeg^)enen  Lieder. 

Am  15.  und  17.  September  waren  dann,  die  grossen  Studenten- 
Tumulte,  die  mit  dem  Uebertritte  des  Churfbrsten  zum  Katholicismus 
zusammenhingen,  und  bei  denen  selbst  Menschenleben  zu  beklagen 
waren.  Nunmehr  scheint  man  kurzen  Process  gemacht  zu  haben. 
Am  27.  September  heisst  es  im  Memorial  des  Rectors  »Hr.  Reuter 
bittet  gehört  zu  werden«.  In  seinem  späteren  Klagschreiben  an  den 
König-ChurfUrstcn  scheint  er  anzudeuten,  dass  ihm  diese  Bitte  nicht 
gewährt  worden  sei.  Mit  aller  Hast  ward  er  noch  am  27.  September 
im  Concilium  professorum,  auf  Vorschlag  des  Concilium  judiciale,  auf 
sechs  Jahre  relegiert.  Nicht  uninteressant  sind  die  abgegebenen  Vota, 
die  uns  zufällig  erhalten  sind.  Die  verschiedenen  Formen  der  Zu- 
stimmung, auf  die  grosses  Gewicht  gelegt  ward,  zeigen,  wie  die 
Einzelnen  zur  Sache  sich  verhielten.  Besonders  interessant  ist,  dass 
Otto  Mencke,  der  der  Jugend  und  ihren  Anschauungen  näher  stand  — 
wie  denn  auch  sein  Famulus  später  zu  dem  Bcuter'schen  Kreise 
gehörte  — ,  sich  der  Abstimmung  entzog,  oder  enthielt.    Auch  Ernesti 


^01]  Christun  Reutbr.  555 

und  der  junge  Friderici  stimmten  in  der  milden  Form:  Fiat  justitia, 
während  die  Aelteren  ihren  Verdruss  deutlich  zu  erkennen  geben, 
und  der  Dr.  Petermann  zu  Protokoll  giebt:  »Exequantur  sententiae, 
und  ie  ehe  ie  beßer«.  Der  mit  Reuter  zugleich  abgeurtheilte  Gerber 
war  des  Diebstahls  angeklagt,  seine  Relegation  ward  aber  noch  auf- 
gehalten, indem  er  um  Gewährung  schriftlicher  Defension  bat. 

Reuter  fand  sich  in  sein  Schicksal,  er  war  wohl  froh,  dem 
Bauerncarcer  und  der  schmalen  Kost  zu  entkommen  und  sich  wieder 
frischer  Luft  erfreuen  zu  können.  Am  28.  September  ward  er  ent- 
lassen und  musste  dem  Gebrauche  gemäss  Urfehde  schwören  und 
versprechen,  innerhalb  der  sechs  Jahre  nicht  nach  Leipzig  zurück- 
zukehren. Bereits  Sonntag  den  3.  October  ward  das  feierliche 
Relegationspatent  angeschlagen,  aus  dem  man  ersieht,  dass  ganz  be- 
sonders die  parodistische  Leichenrede  es  war,  die  man  ihm  nicht 
verzieh,  zugleich  aber  auch,  dass  man  alle  seine  Schriften  einzig 
und  allein  als  Pasquille  behandelte^). 

In  der  Studentenschaft  aber  machte  sich  die  für  Reuter  günstige 
Stimmung  noch  weiter  Luft.  Am  17.  October  1697  spielte  sich  am 
Ende  der  Reichsstrasse  vor  dem  rolhen  Löwen  wieder  eine  Scene 
ab  (vgl.  den  Anhang),  die  beweist,  wie  dieser  nunmehr  von  der 
Studentenwelt  der  Maulaffe  genannt  ward,  und  wie  wenig  günstig 
man  den  Bewohnern  desselben  gesinnt  war,  trotzdem  dass  nunmehr 
der  jüngste  Sohn  als  juratus  inscribiert  war,  also  selber  dem' Kreise 
der  Studierenden  voll  angehörte. 

Andererseits  werden  wir  auch  eine  ablehnende  Haltung  gegen- 
über Reuter  und  Genossen  nicht  verkennen  können  in  den  Mitgliedern 
der  frommen  »Görlitzischen  poetischen  Gesellschaft«,  die,  ihren  Ur- 
sprung auf  den  3.  Januar  1 697  zurückführend,  wohl  noch  im  Laufe 
dieses  Jahres  ihre  Statuten  entwarf.  In  diesen  lautet  §  5:  »Den 
Stoff  zu  den  Versen  kann  sich  Jeder  nach  Belieben  wählen,  doch 
dürfen  biblische  Sprüche  und  Phrasen  nicht  mißbraucht,  und  un- 
fläthige  Sachen  wie  Buhllieder,  femer  Pasquille  gar  nicht  verfertigt 
werden.     Wer    dawider    handelt,    zahlt    4   Groschen    Strafe.«     Joh. 


^)  Das  Patent  enthält  wohl  einea  Druckfehler,  den  die  Hast  der  Herstellung 
erklärt  und  entschuldigt.  Statt  » scripsit  aut  disseminavit «  wird  es  heissen  müssen 
»scr.  et  dissem. «,  denn  an  der  Verfasserschaft  sämmtlicher  Schriften  durch  Reuter 
selbst  ist  nicht  zu  zweifeln. 


556  Fribdrigu  Zarncke,  [^^^ 

Burchard  Mencke,  der  Sohn  Otto's,  stand  zu  ihnen  in  Beziehung; 
dass  er  nicht  ganz  in  ihrer  Tendenz  aufging,  lässt  sich  doch  nach- 
weisen. 

Wohin  sich  Reuter   begeben  hat,   ist  nicht  sicher  bekannt.     In 
der  Umgegend  Leipzigs  ist  er  wohl  geblieben,  denn  es  wird  später 
behauptet,   dass  er  mehrmals  in  Leipzig  gewesen  sei.     Wahrschein- 
lich  ging   er  gleich   nach  Merseburg,    wo  er,   mochte  er  nun  dort 
schon   früher   gewesen   sein   oder  nicht,    immerhin  einige   Aussicht 
hatte,   sich  Unterhalt   zu   verdienen;    denn  dort   war  ein  Hof,    der 
witzige  Köpfe  zu  verwenden  wusste,  dort  waren  auch  viele  Winkel- 
schulen, die  ihm  Gelderwerb  bieten  konnten.     Auch  konnte  er  dort, 
in  der  Residenz  seines  Heimathlandes,  am  sichersten  beurtheilen,  wie 
die  Aussichten  für  seine  Zukunft  gestaltet   wären.     Diese  scheinen 
nicht  die  besten  gewesen  zu  sein,  denn  er  begann  —  und  da  finden 
wir  ihn  sicher  in  Merseburg  —  Schritte  zu  thun,  um  seine  Relega- 
tion   rückgängig   zu  machen.     Hier   scheinen   ihm  bereits  vornehme 
Gonnexionen  zur  Seite  gestanden  zu  haben.    Es  glückte  ihm,  an  den 
Herzog  Christian  August   von  Sachsen-Zeitz   zu  gelangen,    der  1695 
zum  Katholicismus  übergetreten  und  im  Jahre  1696  zum  Bischof  von 
Raab  ernannt  worden  war,  und  der  zugleich  Grosskanzler  Friedrich 
Augusts  war.     Dieser  nahm  sich  seiner  an  und  verwies  ihn  an  den 
Fürsten   Anton   Egon    von   Fürstenberg-Heiligenberg,   der   seit  1697 
von   dem  nach  Polen   abgehenden  König-Churfürsten   als  Statthalter 
eingesetzt  worden   war.     Nur  dies  eine  Mal,  behauptet  Reuter,   sei 
er  unerlaubt  in  Leipzig  gewesen,    um  den  Fürsten-Statthalter  aufzu- 
suchen,   und   da  habe  ihn  der  Advocat  Mor.   Volkm.  Götze  ausspio- 
niert  und   der  Universität  denunciert.     Denn   mit   diesem,   der   ihm 
früher  beiständig  gewesen  war  und  der  auch  zu  dem  Freundeskreise 
Reuter's  in  gutem  Verhältniss  gestanden  hatte,   waren   er  und  seine 
Freunde  etwa  seit  1697  ganz  zerfallen,  und  der  Juris  Practicus  Götze 
suchte   nun   auf  alle  Weise  seinen  Groll  an  ihnen  allen  auszulassen. 
Genützt  hat  jener  Besuch  Reutern  freilich  Nichts. 

Anfangs  ist  auf  jene  Wiederkehr  Reuter's  nicht  weiter  Gewicht 
gelegt  worden,  das  ganze  Jahr  1698  hindurch  finde  ich  keine  Notiz, 
dass  das  Universitätsgericht  Veranlassung  gehabt  hätte,  sich  mit  ihm 
zu  beschäftigen.  Mit  dem  Jahre  1699  wird  dies  anders.  Am 
11.  März  heisst  es:   »in  causa  Reuthers  Sollen  die  Zeugen  abgehört 


^03]  Christian  Rboter.  557 

werden,  v.  Acta.«  Oflfenbar  reagierte  jetzt  das  Universilätsgericht 
auf  eine  Denunciation ,  dass  er  wieder  in  Leipzig  gesehen  worden 
sei;  war  es  noch  die  erste  Götze'sche  oder  eine  neue?  Als  sicher 
behauptet  Reuter,  dass  dieser  ihn  in  der  Marterwoche,  also  in  der 
Woche  vor  Ostern,  welches  Fest  im  Jahre  1699  auf  den  9/19.  April 
fiel,  fälschlich  angezeigt,  ja  es  dahin  gebracht  habe,  dass  die  Stadt- 
knechte ihn  in  Fleischmann's  Wohnung,  doch  vergebens,  gesucht 
hätten^).  Dennoch  glaubte  die  Universität  der  Denunciation,  und 
jetzt  entschloss  man  sich  zu  einer  schnellen  Aburtheilung.  Auf  die 
Aussage  der  Zeugen  (also  wohl  der  älteren)  hin  ward  Reuter  Tür 
eidbrüchig  und  meineidig  erklärt  und  das  Urtheil  lautete  nun :  prorsus 
exclusus.  Bereits  am  Sonntag  nach  Ostern,  den  16/26.  April,  erschien 
das  betreffende  Patent  am  schwarzen  Brette. 

Damit  war  denn  freilich  die  Zukunft  Reuter's  eine  sehr  bedenk- 
liche geworden.  Als  perjurus  und  exclusus  hatte  er  keine  Aus- 
sicht, irgendwo  im  Staatsdienste  eine  Anstellung  zu  finden.  Er 
musste  also  bemüht  sein,  das  Urtheil  der  Universität  wieder  aufge- 
hoben zu  sehen.  Er  hoffte  um  so  eher  darauf,  als  ja  das  letzte 
Urtheil  ergangen  war,  ohne  dass  er  überhaupt  gehört  worden  war. 
Mit  der  Theologie  freilich,  falls  er  dieselbe  bis  dahin  noch  sollte 
festgehalten  haben,  war  es  nun  definitiv  zu  Ende,  er  schrieb  sich 
daher  fortan  Juris  Studiosus. 

Nur  durch   hohe  Verwendung  konnte  er  sich  Hoffnung  machen 


^]  Dass  diese  Beschuldigung  des  Meineides  schon  damals  als  eine  Härte  an- 
gesehen ward,  die  mit  der  Auffassung  der  Verhältnisse^  wie  das  Leben  sie  ge- 
bildet hatte,  nicht  in  Uebereinstimmung  stehe,  ergiebt  sich  daraus,  dass  noch  in 
demselben  Jahre  der  Eid  bei  der  Immatriculation  abgeschaflt  ward.  Noch  im 
Sommersemester  1699  heisst  es  Jurati, .  bereits  im  Wintersemester  Promittentes. 
Vogel  in  seinen  Annalen  S.  9S9  sagt:  »Unterm  dato  d.  3i.  Nov.  ward  durch  ein 
Königl.  Rescript  ....  das  solenne  Jurament,  welches  hiebevor  diejenigen,  so  sich 
hier  auflbalten  weiten,  bey  der  Inscription  ablegen  musten ,  allergnädigst  remit- 
tiret,  und  kam  an  dessen  statt  auf,  daß  einer  nur  durch  den  Handschlag  promit- 
tiren  und  angeloben  muste,  denen  vorgeschriebenen  Legibus  Academicis  nach  aller 
Möglichkeit  nachzuleben.  Zu  solcher  Veränderung  haben  vornehmlich  die  vielfältig 
geschehenen  perjuria  oder  Meineyde  .  .  .  Anlaß  gegeben.«  ]£s  ist  nicht  unmög- 
lich^ dass  geradezu  der  Reuter' sehe  Fall  und  seine  Eingabe  vom  10.  October  1699 
hiezu  die  Veranlassung  gegeben  hat.  Jedesfalls  sieht  man  deutlich,  welch  alberner 
Uebertreibung  sich  seine  Gegner  schuldig  machten,  wenn  sie  ihn  fortwährend  als 
einen  meineidigen  Schelm  und  Schurken  behandelten. 


\ 


558  Friedrich  Zarncke,  [^ö* 

etwas  zu  erreichen,  und  er  wählte  den  Zeitpunct,  diese  zu  gewinnen, 
sehr  klug.  Im  October  1 699  während  der  Michaelismesse,  die  schon 
so  alljähriich  die  vornehme  Welt  in  Leipzig  zu  versammeln  pflegte,  ward 
in  Leipzig,  wie  schon  oben  erwähnt,  das  Beilager  des  Erbprinzen 
von  Bayreuth  mit  der  Prinzessin  Sophie  von  Sachsen  -  Weissenfeis 
gefeiert.  Dazu  kam  bereits  am  30.  September  der  König  aus  Polen, 
und  es  sammelte  sich  eine  fast  zahllose  Schaar  von  polnischen, 
sächsischen  und  thüringischen  Magnaten,  Grafen,  höchsten  Hof- 
beamten und  Edelleuten.  Hier  waren  es  Theater,  Oper,  Rcdoute, 
die  das  ganze  Interesse  in  Anspruch  nahmen,  hier  war  der  Kreis 
tonangebend,  der  auf  Witz  und  Genie  mehr  Werth  legte  als  auf 
zahme  Biederkeit  der  Gesinnung,  hier  sah  man  tief  hinab  auf  die 
Universität,  ja  man  war  wenig  günstig  für  sie  gestimmt;  denn  sie 
galt  als  ein  hauptsächlicher  Schürer  der  Verstimmung  wegen  des 
Confessionswechsels  des  Landesherrn.  Man  hatte  ihr  wohl  die  Un- 
ruhen vom  15.  und  17.  September  1697  noch  nicht  vergessen^);  ja 
selbst  Ritterschaft  und  StUdte  suchten  damals  der  Universität  etwas 
am  Zeuge  zu  flicken^).  Dass  es  Reuter  gelang,  in  diesem  Kreise 
Gönner  zu  finden,  können  wir  leicht  begreifen,  um  so  mehr  als  ja 
die  Tendenz  seiner  Schriften  die  volle  Zustimmung  gerade  der  ad- 
lichen  Kreise  haben  musste. 

So   richtete  denn   am  10.  October  1699  Christian  Reuter,   Jur. 


^)  Die  Veranlassung  zu  ihnen  war  bekanntlich  die  folgende  gewesen.  Der  da- 
mals weitberühmte  Theologe  Dr.  Joh.  Friedr.  Mayer,  ein  geborner  Leipziger,  als 
Pastor  nach  Hamburg  berufen,  hatte  bei  Gelegenheit  eines  wirklich  vorgekommenen 
Falles  einen  kleinen  Tractat  geschrieben:  »Gesamiete  Thränen  einer  herzlich  be- 
trübten Mutter  wegen  des  erbärmlichen  Abfalls  ihres  Evangelischen  Sohnes  zum 
Papstthum«.  Als  nun  der  Churfürst  Friedr.  August  im  Juni  4  697  zur  katholischen 
Confession  übertrat,  ward  jene  Schrift,  mit  einer  neuen  Vorrede  versehen,  wieder 
aufgelegt  (wohl  in  Halle)  und  in  tausenden  von  Exemplaren,  zur  höchsten  und 
peinlichsten  Angst  der  Bücher-Commission ,  colportiert.  Mayer  war  der  Held  des 
Tages.  Es  war  wohl  nicht  ohne  Absicht,  dass  er  gerade  am  15.  September,  wo 
in  Krakau  die  Krönung  des  Ghurfürsten  zum  Könige  stattfand,  in  Leipzig  weilte. 
Seine  Anhanger,  besonders  die  Studentenschaft,  brachten  ihm  an  diesem  Tage  eine 
demonstrative  Abendmusik ,  bei  der  bereits  tumultuarische  Störungen  vorkamen. 
Diese  wiederholten  sich  am  4  7.,  »darüber  es  zu  einem  scharffen  Scharmützel  kam«r, 
in  welchem  ein  Stadtknecht  erschossen,  drei  verwundet,  von  den  Studenten  meh- 
rere übel  zugerichtet  wurden. 

^)  Am  94.  Januar  1700  wird  in  den  Verhandlungen  des  Concilium  profes- 
sorum  erwähnt  und  berathen :  Der  Edelleute  und  Städte  Schrifft  wider  die  Academie. 


105]  Christian  Reuter.  559 

Stud.,  eine  Supplik  an  den  König,  in  der  er  bat,  die  geschehene 
Relegation  allergnädigst  aufzuheben  und  diesfalls  an  die  löbliche 
Universität  zu  rescribieren.  Am  23.  December  berichtete  die  Uni- 
versität auf  ergangene  Anfrage  hierüber  an  den  König  und  bat,  es 
bei  dem  ergangenen  Urtheil  bewenden  zu  lassen.  Der  betreffende 
Rath  im  Ober-Consistorium,  der  hierüber  zu  referieren  hatte,  hat 
auch  mit  Bleistift  unter  den  Bericht  der  Universität  notiert:  »Sollici- 
tant,  wenn  er  sich  anmeldet,  abzuweisen. «  Aber  die  Stimmen  inner- 
halb  des  regelmässigen  Instanzenzugs  sollten  in  dieser  Sache  nicht 
mehr  die  massgebenden  sein.  Am  4.  Januar  1700  zur  Neujahrs- 
messe kam  der  König  wiederum  nach  Leipzig  und  verweilte  hier 
mit  kurzen  Unterbrechungen  bis  zum  20.  Januar.  In  dieser  Zeit  ist 
es  den  Freunden  und  Gönnern  Reuter's  gelungen,  in  seiner  An- 
gelegenheit ein  günstiges  Resultat  zu  erzielen. 

Es  ruht  ein  Dunkel  darüber,  aber  als  sicher  darf  angenommen 
werden,  dass  während  jener  Zeit  der  damals  allmächtige  Minister 
Friedrich  Augusts,  der  Graf  Wolfgang  Dietrich  von  Beuchlingen,  sei- 
nen Secrelär  zum  Universitätsactuar  gesandt  hat  und  diesem  hat 
mittheilen  lassen,  der  König  könne  sich  wegen  Kleinigkeiten  der 
akademischen  Disciplin  nicht  auf  Rescripte  einlassen,  es  müsse  also 
genügen,  wenn  er  auf  diese  Weise  der  Universität  kund  thun  lasse, 
dass  er  die  Relegation  und  Exclusion  Reuter's  zurückgenommen 
wünsche.  Das  war  freilich  ein  unerhörtes  Verfahren,  eine  Rück- 
sichtslosigkeit, die  kaum  glaublich  erscheint,  und  man  kann  es  wohl 
begreifen,  dass  der  Universitätsactuar  Scheffler,  wie  behauptet  ward, 
es  nicht  für  geboten  erachtete,  hierüber  ein  Protokoll  aufzunehmen 
und  den  Acten  einzufügen.  Andererseits  war  die  Universität  aber 
auch  wieder  nicht  mächtig  genug,  um  so  einflussreichen  Leuten,  wie 
die  gegenwärtigen  Gönner  Reuter's  waren,  thatsächlich  entgegentreten 
zu  können.  Man  nahm  also  zwar  die  Relegation  nicht  zurück,  aber 
man  Hess  es  auch  ruhig  geschehen,  wenn  nun  Reuter  sich  wieder 
ganz  ungescheut  in  Leipzig  blicken  Hess.  Dieser  betrachtete  seine 
Exclusion  als  cassiert  und  erwähnte  dies  offen  dankend  in  seinem 
Schreiben  an  den  König  vom  15.  März  1700. 

m 

Bei  seinen  Feinden  in  Leipzig,  bei  den  Müllers  und  bei  Götze, 
erregte  dies  Ingrimm  und  Wuth.  Die  ersteren  erliessen  am  27.  Januar 
ein    von   albernen  Uebertreibungen    und  directen  Lügen  strotzendes 


/ 


»560  FuEDMicH  Zabxces,  -^06 

Schreiben  an  den  König,  in  welchem  sie  verlangten,  Reuter  solle 
nochmals  in  Untersuchung  gezogen  und,  wer  weiss,  wo  möglich  zu 
Rad  und  Galgen  verurtheilt  werden.  Der  Concipient  war  der  Prä- 
ceptor  George  Leib,  der  allerdings  von  Reuter  weidlich  durch- 
gehechelte Herr  Gerge,  der  mittlerweile  der  Eh^atte  der  älteren 
Tochter  geworden  war.  Wir  würden  aller  richterlichen  Unparteilich- 
keit entgegen  handeln,  wollten  wir  auf  diese  Supplik  irgend  etwas 
zur  Beurtheilung  Reuter's  geben.  Auch  der  Advocat  Mor.  Yolkm. 
Gülze  rührte  sich  sofort.  Am  19.  Januar  schon  denuncierte  er  den 
Reuter  bei  der  Universität  wegen  eines  Rencontres  mit  diesem  io 
Auerbachs  Keller,  aus  dem  selbst  nach  seiner  parteiisch  geförblen 
Darstellung  kaum  ein  Grund  zu  einer  Anklage  zu  entnehmen  ist. 
Hier  war  jedesfalls  die  verächtliche  Gesinnung  nicht  auf  Seiten  Reuter's. 

Dieser  muss  nun  den  Gönnern,   die  er  gefunden  hatte,   gefolgt 
sein.    Denn  schon  im  März  finden  wir  ihn  in  Dresden,  wo  er  früher 
offenbar  noch  keine  Verbindungen  gehabt  hatte.    Eine  sichere  Lebens- 
stellung  bot    ihm   dieser  Aufenthalt   anfangs   doch   noch  nicht.     Er 
musste  also  immer  noch  den  Makel  seiner  Relegation  zu  tilgen  be- 
müht sein.     Er  bat  also  am  5.  März  1700  den  König  um  Revision 
seines  Processes,    und  da  er  in  Leipzig  auf  ein   unparteiisches  Ur- 
theil    nicht  rechnen  dürfe,    so   wolle  er  in   Wittenberg  weiter  stu- 
dieren und  bitte  daher,  die  Acten  von  der  Universität  Leipzig  ein- 
zufordern und  nach   Wittenberg  zu  senden.     Den  Bericht  der  Uni- 
versität kennen  wir  nicht,  aber  die  Acten  wenigstens  hatte  sie  noch 
am  21.  April  1700  nicht  eingesandt.    Darum  wiederholte  Reuter  an 
diesem  Tage   seine   Bitte.     Der  Referent   im  Ober-Consistorium   hat 
mit  Bleistift  unter   diese  Supplik   notiert:   »Nach  Leipzig  an  Hr.  Dr. 
Mylius  zu  schreiben«.    Was  aber  weiter  daraus  geworden  ist,  wissen 
wir  nicht.     Nach  Wittenberg  ist  Reuter  nicht  gegangen,   dort  nicht 
immatriculiert  worden*). 

In  diesen  selben  Tagen  trat  vielmehr  in  der  Lebenslage  Reuter's 
eine  wesentliche  Aenderung  ein.  Am  23.  April  erscheint  er  als 
SecretUr  Sr.  Excellenz  des  einflussreichen  altadlichen  Cammerherren 
Rudolf  Gottlob  von  Seyffcrditz,   der   bald  nachher  in  den  Freiherrn- 


')   Freundliche  Mittheilung  des  Herrn  Prof.  Opel  in  Halle  nach  Durchsicht  der 
Wittenborger  Matrikel. 


^07]  Ghristun  Reuter.  561 

stand  erhoben  wurde.  Spöttisch  schreibt  er  an  diesem  Tage  an 
Götze  und  bietet  diesem  höhnend  seine  Protection  an,  wenn  er  der- 
selben einmal  benöthigt  sein  sollte,  und  an  demselben  Tage  richtet 
der  Gammerherr  selber  ein  hochmUthiges  Schreiben  an  die  Uni- 
versität, in  welchem  er,  hoch  von  oben  herab,  dieselbe  warnt, 
irgend  etwas  gegen  seinen  Secretär  vorzunehmen,  dem  er,  in  Ueber- 
einstimmung  mit  der  hohen  Intention  Sr.  Königl.  Majestät,  zur  Er- 
örterung der  Wahrheit  und  Ausführung  seiner  Unschuld  verhelfen 
werde. 

So  hatte  Reuter  eine  Stellung  gefunden,  wie  sie  damals  witzigen 
und  talentvollen  Köpfen,  vor  ihm  und  nach  ihm,  in  Sachsen  öfter 
geworden  ist,  ganz  entsprechend  der  Richtung,  die  damals  am  Hofe 
und  in  der  sächsischen  Aristokratie  herrschend  war.  Es  war  ja  auch 
sein  Vorbild,  Christian  Weise,  längere  Zeit  Secretär  des  Grafen  von 
Leiningen  gewesen,  es  waren  später  Liscow  und  Rost  nach  einander 
die  Secretäre  des  Grafen  von  Brühl.  Wir  dürfen  auch  daraus  wohl 
entnehmen,  dass  wir  uns  in  Reuter  nicht  einen  bäuerischen  Rüpel, 
sondern  einen  feinen  Kopf  zu  denken  haben,  der  auch  zu  den  For- 
men des  vornehmen  Lebens  sich  wohl  zu  stellen  wusste. 

Wie  aber  hatten  sich  die  Verhältnisse  geändert!  Jetzt  sass  Reuler 
in  der  Residenz  hoch  zu  Rosse,  wie  es  schien  völlig  triumphierend 
über  seine  Gegner,  über  die  Müller,  über  den  Präceptor  Gerge, 
über  Götze,  über  die  Universität. 


III.  Christian  Reuter  und  der  Advocat  Moriz  Volkmar  Götze. 

1.  Persönliches. 

Vom  Sommer  1695  bis  zum  Frühling  1697  sehen  wir  Reuter, 
selbst  während  seiner  ersten  dreimonatlichen  Incarcerierung,  eine 
ganz  ungemeine  Productivität  entfalten.  Dann  folgt  seine  2 monat- 
liche Gefangensetzung  ins  Bauerncarcer,  seine  definitive  Relegation, 
anderthalb  Jahre  darauf,  im  April  1 699,  seine  Exclusion.  Waren  die 
Zeiten,  die  damit  für  ihn  anbrachen,  so  traurige,  dass  sie  ihm  jede 
Möglichkeit  poetischer  Thätigkeit  raubten,  oder  haben  wir  nur  noch 
nicht  wieder  aufgefunden,  was  er  damals  geschrieben  hat?  Fast 
scheint  das  Erstere  der  Fall  gewesen  zu  sein,   denn  als  Reuter  im 


562  Fribdrigh  Zarncke,  [^08 

Januar  1700  sich  als  rehabilitiert  betrachten  durfte,  begann  auch 
seine  dichterische  Ader  wieder  zu  fliessen,  und  schon  im  Anfang  Mai 
trat  eine  neue  satirische  Gomödie  von  ihm  ans  Tageslicht.  Aber  so- 
fort begannen  auch  die  Anklagen  und  Behelligungen  wieder,  auch 
dies  neue  Werk  sollte  nur  ein  Pasquill  sein. 

Diesmal  war  es  sein  früherer  Beistand,  der  Advocat  Mor.  Volkm. 
Götze,  den  er  dem  Gelächter  und  der  Verachtung  Preis  gegeben 
haben  sollte.  Dieser  hatte  früher  zu  seinem  Kreise  gehört,  der  junge 
Bahr  wohnte  bei  ihm,  mit  David  Fleischmann,  der  am  Markte  (im 
jetzigen  Aeckerleins  Keller)  einen  Laden  hielt,  war  er  befreundet 
gewesen,  Reutern  hatte  er  in  seinen  Processen  bei  der  Universität 
zur  Seite  gestanden.  Freilich  klagt  er,  er  habe  niemals  einen  Gro- 
schen von  ihm  pro  labore  erhalten.  Ob  dies  oder  was  sonst  die 
Freundschaft  in  bittere  Feindschaft  verwandelt  hatte,  wissen  wir 
nicht,  es  ist  auch  wohl  nicht  der  Mühe  werth^  dies  sicher  feststellen 
zu  wollen.  Aber  Götze  verfolgte  nun  seine  früheren  Bekannten  mit 
raffinierter  Bosheit.  Dass  er  Reuter  denuncierte,  wissen  wir  bereits, 
aber  auch  Fleischmann  und  seine  Frau  wusste  er  in  allerlei  Processe 
und  Untersuchungen  zu  verwickeln.  Wir  dürfen  glauben,  dass  eine 
Untersuchung  gegen  Fleischmann  wegen  gefälschter  und  gepaschter 
Waaren  auf  Götze's  Denunciation  hin  eröffnet  ward,  ja  er  mischte 
sich  boshaft  in  dessen  intimste  Beziehungen  und  verhetzte  sogar  die 
nächsten  Verwandten  zu  Processen  gegen  einander.  So  finden  wir 
Fleischmann  in  einem  Processe  mit  seinem  Schwager  David  Ziegler, 
und  Fleischmann's  Frau  sogar  gegen  ihre  Mutter  vor  Gericht  er- 
scheinend. Götze's  grosses  advocatorisches  Geschick,  seine  gewandte 
Beherrschung  des  processualischen  Formalismus  machten  ihn  zu  einem 
gefürchteten  Gegner.  Sein  Ruf  aber  ist  offenbar  nicht  der  beste 
gewesen,  er  war  gewiss  ein  gemeiner  Patron.  Schon  im  Jahre  1694 
war  er,  wie  die  Repertorien  ausweisen,  bei  der  Universität,  zu  deren 
Verwandten  er  gehörte,  in  Untersuchung  gewesen  wegen  »Anzüglich- 
keiten gegen  die  Posemschen  Gerichte«.  Leider  fehlen  auch  diese 
Acten. 

Andererseits  war  auch  bei  seinen  nunmehrigen  Gegnern  wohl 
nicht  Alles  ganz  so,  wie  es  sein  sollte;  gereichte  ihnen  doch  schon 
die  frühere  Genossenschaft  des  jetzt  Gehassten  nicht  eben  zur  Ehre. 
Auch   mag  ja  die  Anklage  auf  Wahrheit  beruhen,   dass  Fleischmann 


^ö^]  Ghristun  Rbctbr.  563 

sich  Zolldefrauden  u.  A.  habe  zu  Schulden  kommen  lassen,  wenn 
auch  die  Menge  und  Gehässigkeit  der  Anklagen  mindestens  ebenso- 
sehr dem  Denuncianten  zur  Unehre  gereicht  wie  dem  Angeklagten. 
Aber  von  besonderem  Interesse  wird  für  uns  Fleischmann's  Ver- 
hältniss  zu  seiner  in  den  Acten  so  oft,  und  von  Götze  stets  mit 
besonderer  Malice  genannten  Ehefrau.  Da  es  uns  einen  Einblick  in 
den  Kreis  der  Freunde  gewährt,  so  müssen  wir  ihm  einen  kurzen 
Excurs  widmen.  Es  ist  wie  ein  kleiner  Roman,  der  sich  vor  un- 
seren Augen  entrollt.  Die  Aufzeichnungen  der  Spergauer  Kirchen- 
bücher sind  die  Quellen,  aus  denen  wir  das  Nachstehende  zusammen- 
stellen können^). 

In  Spergau,  einem  Dorfe  bei  Dürrenberg,  eine  Meile  südlich  von 
Merseburg,  besass  Fleischmann  ein  Gut;  es  muss  eine  ansehnliche 
Besitzung  gewesen  sein^).  Hier  wird  er  sich  öfter. aufgehalten  haben 
und  so  kam  er  mit  den  Bewohnern  des  Dorfes  in  Verkehr.  Der  Orts- 
geistliche war  von  1678  bis  Ende  1694,  wo  er  starb,  der  Magister 
Frohberger,  aus  Merseburg  gebürtig,  der  bald  nachdem  er  die  Pfarre 
erlangt,  am  21.  November  1678,  sich  mit  Marie  Christine,  der  Tochter 
des  Predigers  Ziegler  in  dem  nicht  weit  entfernten  Poserna,  vermählt 
hatte.  Von  ihr  wurden  ihm  in  den  Jahren  1680 — 1693  sechs  Kinder 
geboren,  fünf  Mädchen  und  ein  Knabe,  von  denen  nur  das  älteste 
Mädchen  jung  gestorben  zu  sein  scheint,  so  dass,  als  der  Vater  am 
Weihnachtsabende  1694  verschied,  die  Mutter  mit  fünf  Kindern, 
deren  ältestes,  der  Knabe  Christian. Friedrich,  erst  ISViJahr  alt  war, 
zurückblieb.  Man  könnte  den  Verdacht  schöpfen  wollen,  dass  das 
Leben  auf  der  Pfarre  etwas  verweltlicht  gewesen  sei;  es  fällt  auf, 
dass  bei  den  vielen  Kindern,  ausser  dem  Grossvater  bei  dem  älte- 
sten,  gar  keine  Geistlichen   als  Taufzeugen   erscheinen,   auch   steht 


^)  Dem  Herrn  Pastor  Brunner  in  Spergau  bin  ich  zum  innigsten  Danke  ver- 
pflichtet für  die  unermüdliche  Liebenswürdigkeit,  mit  der  er  alle  meine  Fragen 
beantwortete,  mir  schliessUch  auch  noch  zusammenhängende  Einsicht  in  die  Kirchen- 
bücher gewahrte. 

''']  Anfangs  hielt  er  auf  demselben  einen  Hofmeister,  Martin  HofTmann^  später 
verpachtete  er  es  an  einen  Heinr.  Andres  Velthem,  der  in  dieser  Eigenschaft 
um  1700  im  Kirchenbuche  von  Spergau  mehrfach  vorkommt.  Eine  Familie  dieses 
Namens  war  dem  Orte  fremd.-  Sollte  es  ein  Verwandter  des  Schauspieldirectors 
Yeltheim  (Veiten)  gewesen  sein,  dessen  sich  Fleischmann  aus  persönlichem  Inter- 
esse für  diesen  angenommen  hatte? 


564  Friedbich  Zarncke,  [1^0 

die  junge  Frau  Pfarrerin  mehrfach  bei  Militärtaufen  und    zusammen 
mit  Militärs  Gevatter,  so  dass  wir  sie  uns  umworben  denken  könnten 
von  Jüngern  des  Mars,    aber  man   muss  doch  vorsichtig  sein,  der- 
artige Beobachtungen,  die  ganz  unverfänglich  sein  können,  zu  einer 
noch  so  geringfügigen  Verdächtigung  zu  verwenden.    Nach  dem  Tode 
des  Mag.  Frohberger  folgte  auf  der  Pfarre  für  kurze  Zeit  ein  Mag. 
Polycarp  Leyser,  dann  für  lange  Jahre  der  Pastor  Metzcher.     Neben 
dem  Prediger  spielt^  offenbar  der  »Ludimoderator«  Christian  Pauli  (seit 
1683,  vor  ihm  ein  Hiller)  eine  grosse  Rolle.    Als  er  im  Jahre  1698 
seine  Tochter  verheirathete ,    rüstete  er  eine  Hochzeit  aus,    von  der 
der  Prediger  im  Kirchenbuche  bemerkt,  »dergleichen  hier  in  22  Jahren 
nicht    geschehen«.     Nicht    mit    einem    Sermon,    sondern    mit    einer 
Hochzeit-Predigt  ward  seine  Tochter  copuliert.    Er  war  wohl  musik- 
verständig, vielleicht  Organist,    denn  von   den  zahlreichen   Rindern, 
mit  denen  er,  fast  regelmässig  jedes  Jahr,  die  Welt  beglückte,  ward 
ihm  1692    eine  Tochter  durch  den  bekannten  Merseburgischen  Hof- 
und  Stadt-Musicus  August  Quant  aus  der  Taufe  gehoben.     So  fanden 
sich  bei  ihm  wohl  manche  Berührungspuncte  mit  unserem  Leipziger 
Kreise.     Am  7.  Juli  1696  sehen  wir  denn  auch  Fleischmann  (»Herr 
David  Flcischmann,  ein  Kaufmann   aus  Leipzig«)    bei   einer   Tochter 
Pauli's  Gevatter  stehen,  und  am  28.  August  1701   den  Jur.  Utr.  Can- 
didatus  Georg  Welsch :  zweifelsohne  der  uns  aus  den  Leipziger  Aden 
von    1700    wohlbekannte   theaterliebende   Studiosus   Welsch.     Auch 
Militär  lag  im  Dorfe,  ein  Capitain  des  armes  wird  erwähnt,  wieder- 
holt Reiter,  1693  auch  ein  Zigeuner-Corporal.     Also  mochte  der  Ort 
grosse  Mannigfaltigkeit  des  Verkehrs  bieten,  der  auch  die  munteren 
Gesellen  aus  Leipzig   anzog.     Hier   muss  sich   nun   zwischen  David 
Fleischmann  und  der,  trotz  ihrer  Kinderschaar  vielleicht  immer  noch 
jugendlichen  und  interessanten  Wittwe  des  Magister  Frohberger  ein 
Verhältniss  entsponnen  haben,  das  nicht  platonisch  gewesen  ist  und 
das  nicht  ohne  Folgen   blieb.     Götze   spricht   in   seinem    Schreiben 
vom  19.  Juni  1700  von  der  Zeit,  als  Fleischmann  »mit  seinem  itzigen 
Eheweibe   verdächtig  con versierte « ,    er   erwähnt  Acten,    die  gegen 
beide  aufgelaufen  seien  wegen  »Vertuschung  des  Kindes«.    Und  wenn 
wir  auch    annehmen   dürfen,   dass  auch   diese   Untersuchungen  wie 
die  oben   erwähnten  wegen  Zolldefrauden  etc.  durch  den  boshaften 
Menschen  selber  angezettelt  wurden,  so  verlieren  doch  diese  Anden- 


^^^]  Christian  Reuter.  565 

tungen  damit  nicht  alles  Gewicht.  Vollends  belastend  aber  tritt  hinzu 
die  nachstehende  Einzeichnung  des  Pastor  Metzcher  im  Spergauer 
Kirchenbuche:  »Den  8.  Novembris  1697  ist  Herr  David  Fleischmann, 
ein  Handelsmann  aus  Leipzig,  mit  Frau  Marien  Christinen,  Herrn 
M.  Froberger's,  weyland  Pastoris  allhier,  nachgelassenen  Wittwe  ohne 
Sermon  copulieret  worden.«  Die  Wittwe  seines  Amtsvorgüngers 
copuliert  ohne  Sermon!  Da  kann  das  Verhältniss  der  Verlobten  vor 
der  Hochzeit  kein  reines  gewesen  sein.  Auch  ihr  Process  mit  der 
eigenen  Mutter,  dessen  die  Acten  erwähnen*),  mag  auch  hier  bos- 
hafte Zwischen trügerei,  wie  angedeutet  wird,  geschürt  haben,  ferner 
die  beleidigenden  und  obscönen  Worte,  die  sie  sich  in  offener 
Gerichtssitzung  gegen  Götze  erlaubte,  indem  sie  ihn  »einen  alten 
Rockseicher«  titulierte,  zeugen  doch  von  einem  Benehmen,  das  wohl 
selbst  dem  damaligen  Zartgefühl  für  eine  frühere  Frau  Pastorin  un- 
fein erscheinen  musste.  Götze  geht  in  seinen  Anklagen  und  Ver- 
dächtigungen noch  weiter,  er  erzählt  in  dem  gedachten  Schreiben, 
wie  1700  während  der  Pfingsttage  Fleischmann,  sein  Eheweib,  der 
Kaffeeschenke  Schmidt,  Reuter,  Dr.  Ryssel  und  einige  Leipziger  Stu- 
denten sich  in  Spergau  »eingefunden  und  zu  iedermanns  ärgemuß 
geschwelget  und  geludert«   hätten,    »wovon  das  ganze  Dorff  Sperga 


^)  Dass  es  ihre  leibliche  Mutter  war^  geht  aus  dem  Leichenstein  des  Vaters 
[geb.  4  620,  gest.  4  689)  hervor,  auf  welchem  es  heisst:  cum  habuisset  eum  ec- 
clesia  dimicatorem  per  annos  37,  matrimonium  fldum  maritum  per  annos  33.  Er 
war  also  bei  seinem  Tode  33  Jahre  verheirathet,  was  doch  gewiss  nur  von  ^iner 
Ehe  verstanden  werden  kann.  Nach  einer  Andeutung  in  Reuter's  Graf  Ehrenfried 
hatte  Götze  Mutter  und  Tochter,  auch  wohl  die  Geschwister  an  einander  gehetzt. 
Dass  Götze  auch  in  Poserna  Beziehungen  hatte,  sehen  wir  aus  der  Untersuchung  gegen 
ilm  wegen  der  Beleidigung  der  Posemischen  Gerichte  4  694,  ja  er  mag  selbst  von 
da  her  gewesen  sein,  wenigstens  war  Ziegler* s  Praeantecessor  ein  Mag.  Götze.  — 
Uebrigens  mochte  auch  in  der  Ziegler'schen  Familie  viel  streitbarer  und  kampf- 
muthiger  Sinn  herrschen.  Eine  Darlegung  der  Pfarrverhältnisse  seitens  des  Bartholoro. 
Zieglcr  vom  28.  März  4  664,  deren  Mittheilung  wie  die  der  Grabschrift  ich  Herrn 
Pastor  Kieseriing  in  Poserna  verdanke,  zeigt  ihn  in  wenig  gutem  Verhältnisse  zu 
seinen  Beichtkindern,  die  an  seinen  Leiden  keinen  Antheil  nehmen,  ihm  vielmehr 
allerlei  Aerger  bereiten,  selbst  seiner  Frau  kleine  Gefälligkeiten  verweigern,  kurz, 
wie  der  Pfarrer  sich  ausdrückt,  »bey  ihren  Posernischen  eigensinnigen  und  hart- 
nUckigten  Köpfen «  bleiben.  Der  Grabstein  nennt  ihn  ausdrücklich :  'vere  Bartho- 
lomaeus,  h.  e.  ßlius  belli,  bellator  spiritualis  strenuus;  debellavit  dum  bellavit, 
vicit  dum  vixit. 


566  Friedrich  Zarnckb,  M^2 

und  die  Benachbarten  genug  zu  singen  und  zu  sagen  wissen.«  Aber 
wir  dürfen  uns  durch  solche  Anschuldigungen  von  so  verdächtiger 
Seite  her  nicht  zu  schnell  in  unserem  Urtheil  über  die  Frau  und 
den  sie  umgebenden  Kreis  beeinflussen  lassen.  Ich  bin  im  Stande, 
ein  sehr  gewichtiges  Entlastungsmoment  geltend  zu  machen.  Am 
27.  September  1701,  also  wenig  über  ein  Jahr  nach  jenem  Pfingst- 
feste,  an  welchem  die  gewesene  Frau  Pastorin  sich  in  ihrem  früheren 
langjährigen  Wohnorte  so  sollte  benommen  haben,  dass  sie  der  ganzen 
Gemeinde  ein  Aergerniss  geboten  hätte,  lässt  der  Pastor  Metzcher, 
derselbe,  der  1697  die  Trauung  ohne  Sermon  vollzogen  hatte,  sie 
bei  seinem  Kinde  Gevatter  stehen,  und  das  Kind  bekommt  den  vollen 
Namen  seiner  Pathin:  Marie  Christine^).  Sollte  der  Pfarrer  das  ge- 
than,  sollte  er  das  gewagt  haben,  wenn  das  Betragen  der  Frau 
wirklich  so  übel  gewesen  wäre,  wie  man  es  nach  Götzens  Worten 
annehmen  müsste?  Es  mag  ein  Fehltritt  ihr  Leben  verunziert  haben, 
und  keck,  resolut,  zu  leichtem  Sinn  geneigt  mag  sie  gewesen  sein, 
aber  eine  ordinäre  Person  war  sie  gewiss  nicht.  Und  indem  wir 
so  sie  gegen  Götze's  Anschuldigungen  rehabilitieren  können,  rehabi- 
litieren wir  mit  ihr  den  ganzen  Kreis,  der  sich  um  sie  bewegte. 

Man  begreift,  wie  gross  der  Hass  gegen  Götze  auf  Seiten  der 
Leipziger  Freunde  sein  musste.  Reuter's  Ingrimm  war  um  so  be- 
rechtigter als  Götze  durch  seine  boshaften  Denunciationen  gegen  ihn 
in  der  That  die  Hoffnungen  auf  Rehabilitierung  zu  durchkreuzen  und 
zu  vereiteln  drohte.  So  wie  sich  das  Gerücht  verbreitet  hatte,  dass 
Reuter  beim  Könige  um  Wiederaufhebung  der  Relegation  eingekommen 
sei,  wandte  sich  Götze  am  19.  Januar  mit  einer  Klagschrifl  gegen 
Reuter,  die  doch  etwas  direct  Gravierendes  für  diesen  gar  nicht  ent- 
hielt, an  den  Rector.  Auch  wird  er  es  wohl  gewesen  sein,  der  die 
Müllerischen  anhetzte,  zu  diesem  Zeitpuncte  sich  mit  einer  erneuten 
Klage  gegen  Reuter  an  den  Ghurfürsten  zu  wenden,  die  ebenfalls 
nichts  für  Reuter  direct  Belastendes  vorzubringen  im  Stande  war. 
Reuter's  Freunde  antworteten  am  17.  Februar  in  Auerbachs  Keller 
mit  einer  Realinjurie  (nach  einer  späteren  Angabe  Götzens  war  Fleisch- 


*)  Die  Eintragung  lautet:  »Die  Edle  Frau  Maria  Ghristina,  Tit.  Herrn  David 
Fleischmanns  vornehmen  Handelsmannes  in  Leipzig  Eheliebsie.«  Man  bemerke, 
wie  viel  zarter  sich  der  Herr  Pastor  hier  ausdrückt  als  im  Jahre  1696  und  4  697, 
wo  er  erst  eben  die  Pfarre  angetreten  hatte. 


^ 


1^3]  CuaisTiAN  Reuter.  567 

mann  der  Thäter),  und  Reuter  selbst  mit  einem  schadenfroh  höhni- 
schen Briefe  an  Götze,  der,  wie  dieser  meint  und  wie  wohl  wahr- 
scheinlich ist,  in  Leipzig  selbst  geschrieben^)  und  nur  geschickt  in 
die  Dresdner  Post  eingeschmuggelt  worden  war.  Doch  ist  auch  aus 
diesem  Briefe  heraus  zu  fühlen,  wie  ernst  Reuter  damals  seine  Lage 
noch  auffasste.  Götze  bestürmte  die  Universität  mit  neuer  Klage, 
die  ihm  ja  nach  der  Sachlage  Nichts  nützen  konnte.  Sein  Schreiben 
musste  ad  Acta  gelegt  werden. 

Mittlerweile  hatte  Reuter  sich  auf  andere,  auf  seine  Weise,  zu 
rächen  beschlossen,  er  entwarf  ein  neues  Drama,  und  in  diesem 
sollte  dem  boshaften  Feinde  ein  Ehrendenkmal  gesetzt  werden.  Dies 
Drama  führte  den  Namen  Graf  Ehrenfried,  und  in  ihm  war  in  der 
Rolle  des  Juris  Practicus  Injurius  der  Advocat  Götze,  wie  er  seinen 
Gegnern  erschien,  abconterfeyt.    Im  Anfang  Mai  ward  es  ausgegeben. 

Reuter  war  jetzt  offenbar  in  Leipzig  wieder  voll  angesehen. 
Die  Professoren  waren  ihm  gegenüber  machtlos,  die  Studenten 
standen  ganz  und  gar  auf  seiner  Seite.  Im  grossen  Fürs tencol leg, 
dem  Hauptsammeiplatze  der  Studierenden,  wurde  das  Stück  ausge- 
boten. Der  Pedell  selbst  mit  Frau  und  Tochter  unterzog  sich  dem 
Verkaufe  desselben,  und  als  es  am  13.  Mai  in  dem  Fleischhause  und 
bald  darauf  sogar  im  Opernhause  zur  Aufführung  kam,  da  stand  der 
Pedell  Werther  an  der  Eingangsthüre  und  rief  die  Studierenden  her- 
bei, sie  auf  das  Stück  und  seine  Aufführung  aufmerksam  zu  machen. 

Der  Inhalt  dieses  neuen  Stückes  hat  uns  nun  zunächst  zu  be- 
schäftigen. 


2.  Graf  Ehrenfried. 

Der  »Graf  Ehrenfried«  ist  in  gewisser  Beziehung  der  directe 
Gegensatz  zum  Schelmuffsky.  Stellt  dieser  einen  Rüpel  vor,  der  den 
Vornehmen  von  Adel  spielen  will  und  nun  in  seinen  Aufschneidereien 
Zug  um  Zug  die  Gemeinheit  seiner  Natur  und  Bildung  verräth,  so 
zeigt  jener  dagegen  die  Hohlheit,  ja  die  Betlelwirthschafl  einer  unbe- 
mittelten hochadlichon  Existenz.    Auch  zu  seinen  früheren  Comödien, 


^)   Der  Brief  ist  datiert  vom  18.  Februar,  während  das  Factum  am  4  7.  Februar 
statt  fand.     Unmöglich  konnte  die  Nachricht  so  schnell  nach  Dresden  gelangen. 

Abhandl.  d.  K.  9.  Qesellscli.  d.  Wissensch.  XIX.  88 


568  Friedrich  Zarncke,  [H4 

die   das   eilele  Aufstreben   des   bemittelten  BUrgerstandes   geisselteo, 
bietet    das    neue    Drama    die    Kehrseite.     Se.  Excellenz    und  Hoch- 
gräfliche  Gnaden,   Graf  Ehrenfried,    waltet  in  den  Erblanden  seiner 
Familie.    Er  hat  einen  von  Bediensteten  wimmelnden  Hofstaat,  einen 
Capitain-Lieutenant,  der  sein  Geheimbder  Rath  ist,  einen  Hauptmann 
und  einen  Fendrich    (Lieutenant),    einen   Secretär   und    Stallmeister, 
2  Cammerdiener,  2  Jäger,   2  Läuffer,   2  Heyducken  und  dazu  noch 
Mummelmürten ,    seinen   Cammer- Jungen.     Er    ist    voll    Bewusstseio 
seiner  Hoheit,   thut  als   erinnere   er  sich  selber  an  Nichts,    sondern 
richtet   immer   erst  die  Frage   an  seinen  Gapitain-Lieutenant.     Seine 
Gläubiger  behandelt  er  mit  indifferentester  Nonchalance :  »Sie  müssen 
doch  warten  bis  ich  Geld  bekomme«;  wenn  sie  meinen,  das  gegebene 
Wort  müsse   doch   gehalten  werden,    sagt   er  zu   seinem    Gapitain- 
Lieutenant:    »Die  Leute  seyn  doch  gar  Narren;    ich  thue  ihnen  was 
anders   auf  ihr  Wort.«     Er   regiert   als  Gerichtsherr  in  voller  Herr- 
lichkeit,  lässt   seine  Leute  nach  seiner  Laune  in  den  Bock  spannen 
und  karbatscht  sie  dann  selber  ab  u.  s.  w.     Aber  es  fehlt  eben  am 
Besten,   am  baaren  Gelde.     Um   dies  zu  beschaffen,   ist    nach  und 
nach  Alles  versetzt  worden,  —  durch  Vermittelung  einer  alten  Trödel- 
frau, Klunte  mit  Namen  — ,  die  Möbeln,  Karossen,  die  Betteu,  die 
Wäsche,   Alles   was    nicht  niet-   und  nagelfest  war.     Der  Herr  Graf 
schläft  mit  seinem  ganzen  Hofstaate  auf  einer  Streu,  und  man  deckt 
sich  mit  den  Röcken  zu ;  ein  hölzerner  Lehnstuhl  ist  noch  vorhanden, 
der  dem  angewiesen  wird,  der  Nachts  die  Wache  hat;  freilich  pflegt 
dieser  am  sanftesten   zu  schlafen.     Aber  der  Graf  ist  ein  wunder- 
licher Herr,   der  seine   gute  Laune   darob   nicht  verloren  hat.    Ihn 
amüsiert  seine  Lage  selber,   die   er  mit  halb  heiterer  halb  barocker 
Selbstironie  behandelt.     Obwohl  er,  als  er  zwei  neue  Jäger  anstellt, 
nicht   weiss,   woher  er  einen  Pfennig  Besoldung  für  sie  hernehmen 
soll,  müssen  doch  beide  ihre  Hof-Prädicate  bekommen ;  der  eine  wird 
als   Cammer- Jäger,   der  andere  als  Hof-   und   Feld- Jäger  angestellt. 
Auch  heisst  es  stets  »bei  Hofe«,  »zu  Hofe«,  »in  meinem  Staate«.    Da 
zu  Pulver,   um    die  Geschütze  zu  laden,   kein  Geld  vorhanden  ist, 
und    doch   das  Auftreten  eines  so  hohen  Herrn   mit  Böllerschüssen 
geehrt    zu    werden    verdient,    so    hat    er    es    eingeführt,    dass  bei 
passender  Gelegenheit  er   selber  »Puff«  schreit,   worauf  sich  dieser 
Ruf  wie  ein  Pelotonfeuer   im   Kreise   seiner  Untergebenen  fortsetzt. 


\x 


^^^]  Christian  Reuter.  569 

Für  solche  Lage  hat  er  sich  noch  im  Range  erhöht,  indem  er  sich 
spasshaft  als  »Herzog  von  Tolle (f  einführt.  Ein  Witz  ist  ihm  Alles 
werth,  auch  wenn  er  gegen  sein  Interesse  gerichtet  ist.  »Ei,  das 
ist  eine  erschreckliche  Schraube!«  »Ei,  das  war  eine  Schraube!«,  so 
ruft  er  dann  seelenvergnügt  aus.  An  volksmässigen  Curiositäten  hat 
er  seine  Lust,  besonders  ergötzt  ihn  der  Finkenritter.  Seinen  Gläu- 
bigern räth  er  mit  Gleichmuth  und  Laune,  sie  möchten  die  ver- 
pfändeten Sachen  nur  verkaufen  und  ihm  »das  Uebrige  rausgeben«. 
Er  selbst  ist  ,oft  des  Morgens  vor  Thau  und  Tage  auf,  aus  reiner 
Laune,  und  wehe  dem  seiner  Diener,  der  sich  nicht  auch  sofort  er- 
hebt: ohne  Gnade  wird  er  von  den  höchsteigenen  Händen  des  Herrn 
Grafen  mit  kaltem  Wasser  übergössen.  Abends  aber  lässt  er  sich 
von  seinem  Gammer -Jungen  die  Fusssohlen  krauen,  um  sanflest 
einzuschlummern.  Auch  tolle  Streiche  liebt  er.  Einmal  hat  er  dem 
Nachtwächter,  wie  dieser  erzählt,  sein  Hörn  genommen  und  durch 
alle  Gassen  geblasen;  »wie  er  aber  an  das  Schloß  kam  und  da  so 
ein  abscheulich  Geblase  anfieng,  so  kam  einer  mit  einer  Karbatzsche 
zum  Schlosse  heraus,  und  zukarbatzschte  da  meinen  Herrn  Grafen 
braun  und  blau.  Ey,  wie  kam  er  hernach  so  still  schweigend  wie- 
der zu  mir  und  gab  mir  mein  Hörngen  wieder.«  Auch  bei  Hofe 
ist  er  als  Kauz  bekannt.  Als  er  keine  Karosse  und  keine  Sänfte 
mehr  zur  Verfügung  hat,  lässt  er  sich  auf  einer  »Zoberstange«  nach 
Hofe  tragen.  Erzählt  wird,  dass  er  einmal  mit  dem  Könige  im 
Schlafpelze  und  mit  einer  Federmütze  auf  dem  Kopfe,  und  ohne  Schuh 
und  Strümpfe  auf  die  Jagd  geritten  sei ,  und  allerlei  anderes  närri- 
sches Zeug  soll  er  vorgenommen  haben.  Man  dient  ihm  dafür  auch 
vom  Hofe  aus  gelegentlich,  und  er  findet  sich  mit  gutem  Humor 
darein.  Seine  Leute,  die  natürlich,  namentlich  der  Mummelmärten, 
sich  indirect  schadlos  zu  halten  suchen,  durchschaut  er  gar  wohl; 
jenem  hat  er  selbst  den  Namen  »Hausdieb«  gegeben,  den  er  spass- 
haft verwendet. 

In  das  Schloss  dieses  humoristischen  Lord  Lump  in  der  Resi- 
denzstadt führt  uns  gleich  die  erste  Scene.  Zwei  neue  Jäger  sollen 
angenommen  werden,  denn  der  bisherige  konnte  kein  Wild  mehr 
schiessen,  vielleicht,  meint  der  Graf,  kam  es  daher,  weil  er  nicht 
mehr  sehen  konnte;  wenigstens  hatte  er  wenige  Tage  vorher  einen 
Esel  statt  eines  Rehes  an  den  Flof  geschleppt.    Die  neuen  Candidaten 

3*8* 


570  Friedrich  Zarncke,  i4<6 

empfehlen  sich  durch  echte  JägerlUgen.  Der  eine  hat  einmal  auf 
einen  Schuss  1 7  Rebhühner  geschossen,  leider  nicht  mehr,  denn  der 
Schuss  versagte  das  erste  Mal  und  in  Folge  des  Abschnappens  flogen 
die  meisten  davon.  Der  andere  traf  auf  6inen  Schuss  drei  Hasen: 
»und  wenn  ich  dazumahl  nur  gut  Zündkraut  hätte  auf  der  Pfanne 
gehabt,  daß  es  geschv^inde  wäre  loß  gegangen,  so  hätte  ich  auch 
wohl  noch  ein  paar  Füchse  mit  ergattern  wollen;  so  aber  brannte 
es  langsam  ab,  und  als  die  schlauen  Füchse  das  Feuer  rochen, 
marchirten  sie  fort,  die  3  Häßgen  aber  musten  Haare^  lassen.«  Das 
klingt  wie  SchelmufTsky ,  aber  der  eigentliche  SchelmufiTsky  ist  hier 
in  den  Fendrich  Friedenschild  gefahren.  Dieser  wirft  mit  »der  Tebel 
hol  mer«  und  gewaltigen  Aufschneidereien  um  sich,  obwohl  er  den 
langen  Stoss-Degen  nur  auf  3  mal  herausbekommen  kann.  Bei  der 
Eroberung  von  Namur  z.  B.  ist  er  »mit  einer  Falckenel-Kugel  auf 
die  Hertz-Cammer  geschossen  worden,  daß  es  der  Tebel  hol  mer 
gepufft  hat.«  Und  wäre  nicht  durchgegangen?  »Nein,  Monsieur. € 
Auch  kein  blauer  Fleck?  »Nicht  das  geringste  war  zu  sehen;  son- 
dern ich  langte  die  Kugel  ohne  eintziges  Verletzen  aus  dem  Busen 
heraus,  daß  sidh  auch  alle  meine  Cammeraden  darüber  verwunderten.« 
Im  Weinkeller  prahlt  er,  im  nächsten  Frühlinge  wolle  sein  Graf 
einige  Begimenter  anwerben,  um  seine  Veslungen  gehörig  defendieren 
zu  können  u.  s.  w. 

In  einem  der  folgenden  Auftritte  erlässt  der  Graf  eine  Ordon- 
nanz an  seine  Unterthanen.     Schon  der  Eingang  ist  drollig  genug: 
»Ehrenveste,  liebe  Getreue.     Wenn  Ihr  alle  noch  frisch  und  gesund 
seyd,  höre  ichs  theils  gerne,   und  auch   theils  nicht  gerne.     Gerne 
höre  ichs,   daß  Ihr  Eure  Frondienste  noch  alle  thun  und  verrichten 
könnet;    denn    wenn  Ihr  kranck   wäret,    so  müßte   es   wohl  unler- 
wegens  bleiben.     Theils   höre  ichs  auch  nicht  gerne,  daß  Ihr  alle 
noch  wohl   auf  seyd   und  mir  aus  meinem  Gehege  so  viel  Haasen 
wegschiesset;    denn   wenn    Ihr   an   einem   hitzigen  Fieber  läget,  so 
liesset  Ihr  solches  wohl  bleiben,  u     Noch  drolliger  ist  die  Scene,  die 
sich  dann  abspielt.    Der  Secretär  bringt  den  Befehl,  sauber  mundierl; 
er  wird  unterschrieben,  nun  soll  er  auch  untersiegelt  werden.    Der 
Secretär  bittet  den   Grafen  um  das   Petschaft.     Der  Graf  fragt  den 
Capitain-Lieutenant.     Die  Antwort  lautet:  »(heimlich)  Ihr.  Excellenz, 
es  stehet  mit  versetzt.«    Nun  wird  Umfrage  gehalten.  Niemand  aber 


^^7]  Christian  Reutbr.  571 

hat  ein  Petschaft;  entweder  führen  sie  überhaupt  keins  oder  sie 
haben  es  nicht  bei  sich.  Der  Graf  indess  ist  unverlegen:  »Hört, 
Secretair,  weil  ich  mein  Cantzeley-Siegel  oder  Hochgräfl.  PetschaflPt 
nicht  bey  mir  habe,  so  nehmt  nur  einen  gantzen  Groschen  und 
siegelt  damit,  es  ist  vor  meine  Unterthanen  gut  genug.«  Aber  nun 
kommt  es  darauf  an,  den  Groschen  zur  Stelle  zu  bringen: 

Hasenius  (Secretär)  :  Wollen  Ihr.  Excellenz  mir  einen  Groschen  geben 
lassen  ? 

Ehren fried :  Habt  Ihr  denn  kein  Geld  nicht? 

Hasenius :  Ihr.  Excellenz,   ich  führe  selten  Geld  bey  mir. 

Ehrenfried:  Herr  Gapilain-Lieutenant,  gebt  doch  dem  Secretair  einen 
gantzen  Groschen. 

Fortunatus  (der  Cap.-Lieut.) :  Ihr.  Excellenz,  ich  werde  wohl  von 
Gelde  gar  nichts  bey  mir  haben. 

Ehrenfried:  Und  ich  habe  auch  nichts  eintzeln  bey  mir;  Herr  Haupt- 
mann, habt  ihr  kein  eintzeln  Geld? 

Feuerfax  (der  Hauptmann] :  Ihr.  Excelienz,  ich  werde  wohl  gar  nichts 
haben. 

Ehrenfried:   Hat  denn  keiner  kein  Gold  bey  sich? 

(Suchen  alle  in  den  Schübesäcken.) 

Mummel  Märten  (der  s.  g.  Hausdieb]  :  Da  hab  ich  noch  einen  Groschen, 
Ihr.  Excellenz.      (Giebt  dem  Grafen  einen  Groschen.) 

Ehrenfried:  Du  bist  doch  noch  ein  braver  Kerl;  wenn  keiner  kein 
Geld  hat,  so  hast  du  welches. 

Mummel  Märten :  Ja ,  was  hülffe  mich  denn  mein  stehlen ,  wenn  ich 
keinen  Groschen  Geld  haben  wolte. 

Ehrenfried :  Ey,  das  ist  eine  erschreckliche  Schraube  1 

Nun  wird  der  Graf  zum  Königlichen  Hofe  befohlen.  Da  aber  kann 
er  ohne  Geld  Nichts  anfangen.  Also  wird  die  alte  Klunte  wieder 
citiert.  Sie  verspricht  gegen  Pfand  in  einer  Stunde  reichlich  Geld 
zu  schaffen.  Aber  woher  noch  ein  Pfand  nehmen?  Das  Einzige  von 
Werth  ist  noch  des  Grafen  verschammerierter  Rock.  Also  fort  mit 
ihm.  Aber  ohne  Rock  bei  Hofe?  Der  Capitain-Lieutenant  muss  den 
seinigen  hergeben.  Und  dieser?  der  mag  ihn  sich  einstweilen  vom 
Cammerdiener  geben  lassen,  und  dieser  »kann  ja  leichtlich  einen  Tag 
oder  was  hinterm  Ofen  sitzen,  biß  ich  ein  wenig  zu  Gelde  komme. « 
Nun  gehts  zu  Hofe,  dort  wird  mit  gezecht  und  gespielt,  hier  nun 
aber  auch  dem  Grafen  ein  derber  Possen  gespielt.  Vier  maskierte 
Personen  bemächtigen  sich  plötzlich  seiner  und  schleppen  ihn  fort. 
All.  sein  Rufen,  Donnern  und  Fluchen  nützt  ihm  Nichts,  so  zahlreich 


572  Friedrich  Zarncke,  [H8 

sein  Hofstaat  ist,  keiner  der  Helden  ist  zur  Stelle.  Man  schleppt 
ihn  in  ein  Schwitzbad,  und  dort  wird  er  entkleidet,  begossen,  ge- 
schröpft und  gemartert,  »gleich  als  ob  er  in  den  Bock  gespannt  wäre«. 
Dann  stürzen  seine  Diener  herbei,  halten  nun  bald  diensteifrigst  deo 
eigenen  Herrn  statt  der  Feinde  getödtet,  und  übertreffen  einander 
in  albernen  Entschuldigungen  wegen  ihrer  Abwesenheit;  in  Wirklich- 
keit haben  wir  sie  selbst  in  den  voraufgehenden  Scenen  im  Wein- 
keller beobachtet. 

Bei  Hofe  war  ein  sogen.  GlUckstopf,  d.  h.  eine  Lotterie,  gehalteo 
worden.  Das  hat  dem  Grafen  gefallen.  Er  ahmt  es  nach,  und  m'ii 
feierlichem  Pomp,  mit  Trommeln  und  Trompeten,  sehen  wir  ihn  dud 
auch  einen  solchen  Glückstopf  veranstalten.  Allerlei  Lappereien  kom- 
men als  Gewinnste  zur  Yertheilung.  Aber  seine  Vermögenslage  iiit 
dadurch  nicht  gebessert  worden,  denn  er  hat  fast  gar  keine  Nieten 
in  den  Glückstopf  geworfen,  und  steht  nun  erst  recht  mit  leeren 
Händen  da.  Und  nun  beginnt  die  Ausreisserei  unter  seinen  Leuten; 
dabei  wird  der  Mummelmärten  mit  all  den  gestohlenen  Sachen 
von  seinen  Mitdienern  ertappt,  und  muss  schliesslich  armselig  davon 
gehen. 

Der  Graf  hat  unterdessen  durch  einen  Salto  Mortale  für  sein 
.Bestes  gesorgt.  Hier  muss  man  sich  der  damaligen  Verhältnisse  in 
Sachsen  erinnern,  um  den  Eindruck  zu  begreifen,  den  dieser  Zug  auf 
die  Zuschauer  machen  musste,  die  ähnliche  Vorkommnisse,  selbst 
in  der  Königlichen  Familie,  kannten,  z.  B.  bei  dem  Vetter  des  Königs, 
Christian  August  (s.  S.  556).  Er  ist  katholisch  geworden  und  sofort 
zum  Abt  avanciert.  Wir  sehen  ihn  im  schwarzen  Habit,  umgeben 
von  dem  Reste  der  Sein^en,  auch  alle  in  langen  schwarzen  Mänteln, 
und  er  declamiert: 

Ade,  Du  Wollust-Welt,  mit  allen  Deinen  Schätzen, 

Mein  Wandel  soll  hinfort  ein  frommes  Leben  soyn. 
Ade,  Du  Königs-Hoff,  Du  vormahls  mein  Ergötzen, 

Ich  werde  hinfort  nicht  mehr  bey  Dir  sprechen  ein. 
Das  Schicksal  hat  mich  nun  geführt  in  einen  Orden, 

Wo  Nichts  als  Frömmigkeit  und  Heiiges  Wesen  ist, 
Dem  Himmel  sey  gedanckt,  daß  ich  bin  Apt  geworden, 

Dieweil  mein  Hertze  nun  das  Zeitliche  vergißt. 

Den  Seinigen,  die  ihre  Verwunderung  aussprechen  über  die  »plötzliche 
Veränderung«,   antwortet   er,    wohl   nicht   ohne  Ironie:    »Saget  mir 


119]  Christun  Rbuter.  573 

doch,  wie  ichs  auflF  der  Welt  besser  haben  könte,  als  so?  Ich  habe 
ja  mein  schönes  Auskommen  von  so  vielen  Klösler-Intraden  u ,  und 
er  verspricht  ihnen:  »es  soll  kein  halbes  Jahr  ins  Land  gehen,  so 
solt  ihr  alle  mit  einander  Patres  seyn.«  Aber  hinter  dem  Allen 
lauert  der  Schalk  und  der  drollige  Kauz.  Schon  Courage,  der  lustige 
Diener,  tröstet:  wenn  der  Graf  nun  auch  ein  Pietiste  geworden  sei, 
so  solle  man  es  sich  nur  nicht  leid  sein  lassen,  denn  er  werde  das 
Ding  schon  nicht  lange  treiben.  Plötzlich  wirft  er  denn  auch  die 
Grille  wieder  hin:  »Nein,  der  König  möchte  auch  dencken,  ich  wäre 
gar  ein  Bärenhäuter  und  hätte  kein  Hertz  im  Leibe.  Fort,  laßt  uns 
den  Habit  wieder  ablegen !  (schreyet)  puff!  Alle:  Puff!  puff!  (gehen 
ab.)«  Gewiss  bedurfte  das  protestantische  Publicum  Sachsens  damals 
keiner  tieferen  Motivierung  dieses  Schrittes,  um  sich  durch  ihn  völlig 
befriedigt  zu  fühlen. 

Aber  dies  ist  noch  nicht  der  Schluss  in  der  Rolle  des  Grafen, 
vielmehr  zieht  sich  noch  eine  andere  Nebenhandlung,  die  ihn  betrifft, 
durch  das  Stück.  Der  Graf  hat  nämlich  einer  gewissen  Leonore, 
die  das  Personenverzeichniss  »eine  Närrin,  in  Graf  Ehrenfrieden  ver- 
liebt« nennt,  ihre  jungfräuliche  Ehre  »recht  abgestohlen«;  sie  will 
dafür  entschädigt  werden,  und  wenn  er  ihr  üicht  geben  will,  was 
sie  verlangt,  so  will  sie's  an  den  König  gelangen  lassen  und  will 
ihn  »knall  und  fall  auf  die  Ehe  anklagen«,  denn  er  hat  ihr  so  ge- 
schworen, dass  ihm  die  Schienbeine  knackten.  Zu  dem  Zwecke  hat 
ihr  ein  Advocat  eine  Supplik  gemacht,  und,  wir  wollen  kurz  vorweg 
nehmen,  obwohl  viel  Anzügliches  darin  gestanden  hat^),  so  hat  der 
König  doch  das  Gesuch  genehmigt  und  den  Grafen  bei  seiner  höch- 
sten Ungnade  und  Verbietung  des  Hofes  verurtheilt,  die  Leonore 
zu  ehelichen,  wohl  denkend,  dass  der  Narr  und  die  Närrin  zusammen 
gehören.  Ihr  Hochzeitszug  macht  das  Ende  des  Stückes  aus.  Bei 
demselben  sollten  eigentlich  die  Stücke  losgebrannt  werden,  aber  da  es 
auch  jetzt  an  Pulver  fehlt,  so  muss  der  Herzog  von  Tolle  sich  wiederum 
mit  seinem  und  seiner  Leute  Puff,  Puff  begnügen.  Ein  junges  Pär- 
chen schlüpft  bei  dieser  Hochzeit  zugleich  mit  unter,    Courage,   der 


^j  Er  hat^  doch  gegen  den  Willen  der  die  Ehe  begehrenden  Braut ,  »Zeug 
hinein  gesetzt ,  und  den  Grafen  so  herunter  gemacht ,  daß  es  die  Schweine  nicht 
einmal  gefressen  hatten.  « 


574  Fbiedrich  Zarnckb,  J^O 

lustige  Diener,    und  des  Grafen  Köchin  Grethe,  die  beide    in  einer 
Reihe  verliebter  und  zum  Theil  recht  drolliger  Scenen   während  des 
ganzen  Stückes  zur  Abwechslung  und  Erheiterung  beigetragen  haben. 
Doch  jene  Supplik  der  Leonore  giebt  dem  Dichter  nun  Veran- 
lassung,   eine  Charakterrolle  in  sein  Lustspiel  einzuführen,  die  Figur 
eines  Winkel-Advocaten  und  Rabulisten,  des  Fleckschreibers  Injurius. 
Das  ist  ein  »rechter  Ungerechtsmacher«,  ein  Mann,  der  allen  Leuten 
dient,  sie  mögen  nun  Recht  oder  Unrecht  haben,  wenn  es  ihm  nur 
Geld  einbringt;   besonders  ist  er  auch  Frauenzimmern  bedient,  die 
ihre  Ehren-Kränze    verloren   haben,    somit  für   Leonore   gerade  der 
richtige  Mann.     Er   ist   ein  Meister  der  »Intrüschen«,    d.   i.  »solcher 
subtiler  Cäußgen,    womit  man  die  Leute  prav  schieret«,    und  er  ist 
»auf  lauter  GUußgen  und  Practiqven«  abgerichtet.    Obwohl  ein  stein- 
alter Mann,    der  schon  auf  der  Grube  gehet,    ist  er  noch  immer  in 
artige  Mädchen  »verschammeriret«,  eine  hat  er  einmal  in  gelben  Damast 
gekleidet,  die  hat  ihm  dafür  aber  auch  nicht  einmal  eine  »charmante 
Mine «  gemacht.    Einmal  soll  der  alte  Sünder  nach  einer  Bären-Musik 
nackend   um  einen    »Dannen-Baum«   herumgetanzt  haben,    »welches 
ihm  diese  Stunde  noch  übel  ausgeleget  würde«.    Von  einem  Frauen- 
zimmer  ist   er   daher   einmal  in  öffentlicher  Gerichtsstube   »ein  alter 
Rockseicher«   geheissen  worden,   und  die  ganze  Stadt  ist  ihm  »fast 
zuwider«.     Freilich  hindert  das  nicht,  dass  er  als  Advocat  sehr  viel 
zu  thun  hat.    »Könte  man  doch«,  meint  Courage,  »von  diesem  Fleck- 
Schreiber   eine   perfecte   Comoedie   machen.«     Er   ist  Stammgast  in 
dem   Weinkeller  des   lustigen   Weinschenken,    Herrn   Johannes;  dort 
treffen   wir   ihn.     Er   »singet  sein   Leib-Stückgen  und   klimpert  mit 
den  Händen  dazu: 

Ach  Dannen-Baum,  ach  Danncn-Haum, 
Du  bist  ein  edler  Zweig  etc.« 

Völlig  trunken  taumelt  er  dann  aus  der  Weinstube  hinaus,  und  noch 
auf  der  Gasse  singt  er  forttaumelnd  und  »bestialisch  vollgesoiTen« 
sein :  Ach  Dannenbaum  etc.  Bei  der  Gelegenheit  ist  er  aber,  freilich 
durch  seine  Schuld,  weidlich  abgedroschen  worden,  zur  Freude  der 
Stadt,  und  wir  werden  nun  eingeweiht,  auf  welche  Weise  er  durch 
Verführung  zu  falschen  Eiden  und  durch  andere  Künste  den  Thäter 
ins  Unglück  zu  bringen  versuchen  will,  während  in  einer  folgendefl 
Scene  Courage   und  Grethe,   die   guten   Leutchen,   ihrer   Entrüstung 


^24]  Christian  Reuter.  575 

über  einen  solchen  Schelm  Luft  machen  und  noch  manche  schlimmen 
Züge  zu  seiner  Charakteristik  beibringen.  Auch  Leonorens  Dank  hat 
er  sich  nicht  verdient,  weil  seine  Supplik  voll  Beleidigungen  für  ihren 
lieben  Grafen  gewesen  ist,  und  sie  meint,  »daß  doch  solchen  Practiqven- 
machern  flugs  die  Hälse  gebrochen  wären  mit  ihren  vermaledeyten 
Intrüschen«.  Nur  die  persönliche  Gnade  des  Königs  hat  über  den 
Übeln  Eindruck  der  Supplik  hinweggesehen.  So  ist  also  der  Fleck- 
schreiber, Herr  Injurius,  von  aller  Welt  gehasst  und  verachtet. 

Mit  diesem  Injurius  kommen  wir  in  die  Weinstube  des  »lu- 
stigen Johannes «  mit  seinem  dicken  Eheweib  Walpe  ^) .  Eine  Ge- 
stalt, sicher  ganz  aus  dem  Leben  gegriffen.  Er  steht  mit  seinen 
Gästen  auf  Du  und  Du,  ist  grob  gegen  die,  welche  Bier  trinken  statt 
Wein,  führt  eine  Anzahl  stehender  Redewendungen  im  Munde,  nennt 
seine  Gäste  »Monflere«,  und  dichtet  und  singt,  was  freilich  meist 
weder  gehauen  noch  gestochen  herauskommt.  Er  wird  von  seinen 
Gästen  denn  auch  wacker  aufgezogen,  ist  aber  auch  seinerseits  nicht 
blöde.  In  die  Geheimnisse  seines  Wein-  und  Bierkellers  werden  wir 
eingeweiht,  und  zum  Schlüsse  fehlt  auch  er  als  lustige  Person  nicht 
beim  Beylager  des  Grafen,  indem  er  diesem  noch  die  Rechnung  über 
ein  »Restgen  von  16  Kannen  Weins«  zu  präsentieren  hat.  Diese  Sce- 
nen  im  Weinkeller  sind  munter  und  frisch  geschrieben  und  wohl  ein 
nicht  unwichtiger  Beitrag  zur  Culturgeschichte  des  Kneipens:  das  Vor- 
und  Nachkommen,  das  Improvisieren,  das  Rundasingen  wird  uns  hier 
lebendig  vorgeführt.  Zwei  Studenten ,  Jucundus  und  Leander,  sind 
hier  ausser  dem  Injurius,  mit  dem  sie  jedoch  Nichts  zu  thun  haben, 
Stammgäste,  aber  auch  die  Diener  des  Grafen  kehren  hier  ein,  und 
haben  Gelegenheit,  uns  in  der  Weinlaune  einen  Einblick  in  ihr  Leben 
und  Treiben  zu  gewähren. 

Man  sieht,  es  handelt  sich  in  dieser  Comödie  nicht  um  eine 
durchgeführte  Handlung,  es  sind  eine  Anzahl  aneinander  gereihter 
parodistrscher  Scenen,  die  gewiss  damals  den  Zuschauern  in  ihren 
witzigen  Beziehungen  noch  verständlicher,  also  auch  amüsanter  er- 
schienen als  uns  heute.  Dass  mit  dem  Injurius  eine  bestimmte  Person 
angedeutet  wird,    errathen  wir  bald;    ganz   gewiss   ist   ebenso    der 


*)   Der  Name  ist  von  Chr.  Weise  entlehnt. 


576  Friedrich  Zarncrb,  [^22 

lustige  WeiDScheDke  eine  in  Leipzig  stadtbekannte  Persönlichkeit  ge- 
wesen, und  auch  in  Betreff  des  Grafen  bezweifle  ich  nicht,  dass  man 
dazumal  sein  Vorbild  hat  errathcn  können.  Hierin  bestärkt  mich 
eine  Anspielung,  die  sonst  innerhalb  des  Stuckes  ganz  unmotiviert 
bleibt.  Der  Capitain-Lieutenant  sagt:  »Ich  will  mich  meiner  Quali- 
täten  halber  zwar  nicht  rühmen,  und  es  meinem  Herrn  Grafen  auch 
nicht  vorgeworffen  haben,  dennoch  aber  muß  Er  selbst  gestehen, 
daß  ich  Ihn  vor  etlichen  Jahren  unter  den  Luneburgischen  comman- 
diret  habe.  Er  war  anfänglich  mein  Musqvetirer,  hernach  meyn  ge- 
freyter  Corporal,  und  ich  war  sein  Fendrich.  Itzund  aber  ist  Er 
mein  gnädiger  Herr,  und  ich  bin  sein  getreuer  Capitain-Lieutenant. 
Was  er  itzund  mir  befiehlt,  das  muß  ich  thun. «  Vielleicht  durfte 
es  einem  mit  der  sächsischen  Adelsgeschichte  jener  Zeit  genau  Ver- 
trauten auch  heute  noch  gelingen,  jenes  Vorbild  nachzuweisen. 

Ist  meine  Vermuthung  richtig,  so  ist  jedesfalls  der  Betroffene  so 
klug  gewesen,  sich  nicht  zu  melden.  Auch  Herr  Diez,  denn  so  dürfte 
der  lustige  Weinschenke  geheissen  haben  ^),  ist  fein  still  geblieben. 
Anders  Herr  »Mauritius  Volcmarus  Götze«,  der  sich  in  dem  Fleck- 
schreiber Herrn  Injurius  getroffen  fühlte.  Verblendet  durch  Hass  und 
Zorn  auf  seine  Feinde,  war  er  so  unverständig,  sich  selber  als  Vor- 
bild zu  der  Rolle  des  Injurius  zu  verkünden,  und  so  sich  selber  an 
den  Pranger  zu  stellen,  während  doch  die  in  dem  Drama  verwendeten 
Züge  noch  nicht  stadtkundig  waren,  sondern  in  den  Process-  und 
Untersuchungsacten,  die  Götze  veranlasst  hatte,  verborgen  lagen. 


3.  Anklagen  and  Gegenanklagen. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  hier  in  die  Einzelheiten  der  sich 
nun  entspinnenden  gegenseitigen  Chicanen  Götze's  und  Reuter's  ein- 
zutreten. Der  zweite  Anhang  bringt  eine  vollständige  Mittheilung  des 
Actenmateriales:  schon  dies  wird  Manchem  des  Guten  zu  viel  schei- 
nen. So  ganz  erquicklich  ist's  weder  hüben  noch  drüben.  Aber 
jedesfalls  war  hier  Reuter  der  Angegriffene,  der  Verfolgte,  von  allem 
Anfang  an.  Seine  Rache,  da  es  sich  nicht  um  stadtkundige  Dinge 
handelte,  sondern  um  Actengeheimnisse,  war  eine  sehr  massige,  und 


!  «)   Vgl.   Götzens  Brief  vom   «6.  Juni  HOO,  §  8. 


423]  Christian  Reuter.  577 

die  Thorheit  Götze's,  der,  statt  still  zu  schweigen,  sich  erst  recht  in 
der  Leute  Mund  brachte,  geradezu  unverständlich. 

In  der  zweiten  Woche  des  Mai  ward  der  Graf  Ehrenfried  in 
Leipzig  ausgegeben.  Der  Titel  gab  an  —  so  weit  war  es  gekommen  — , 
dass  der  Druck  erfolgt  sei  »mit  allergnädigster  Special-Bewilligung 
Ihrer  Königl.  Majestät  in  Polen  und  ChurfUrstl.  Durchlaucht  zu  Sachsen,  u 
Dadurch  war  das  Buch  dem  Forum  der  BUcher-Commission  entzogen. 
An  diese  konnte  sich  daher  Götze  nicht  wenden,  dagegen  richtete 
er  schon  am  H.  Mai  ein  Schreiben  an  den  Rector,  voll  wilder  An- 
klagen und  mit  der  Drohung,  sich  alle  seine  Rechte  vorzubehalten 
gegen  diejenigen,  die  ihm  richterliche  Hülfe  zu  leisten  unterlassen 
sollten.  Freilich  hatte  den  klugen  Mann  diesmal  sein  blinder  Eifer 
doch  zu  Kopflosigkeiten  hingerissen,  er  fing  an,  sich  in  seinen  ei- 
genen Stricken  zu  fangen.  Das  Forum,  bei  dem  er  klagte,  war  nicht 
mehr  die  zutreffende  Instanz:  auf  seinen  Betrieb  war  ja  Reuter  in 
perpetuum  excludiert,  er  gehörte  also  unter  die  Stadtgerichte,  nicht 
mehr  unter  das  Universitätsgericht;  und  dann,  um  als  Kläger  zu  er- 
scheinen, musste  er  doch  zunächst  nachweisen,  dass  er  verletzt  sei, 
d.  h.  er  musste  den  Beweis  liefern,  dass  und  welche  Stellen  in  dem 
Lustspiele  auf  ihn  zu  beziehen  seien,  eine  allerdings  höchst  empfind- 
liche Aufgabe. 

Beides  hielt  ihm  die  Universität  mit  aller  Ruhe  entgegen.  Dem 
Pedell  (vgl.  S.  567)  verbot  sie  den  Verkauf  des  Stückes,  ohne  den- 
selben doch,  auch  nur  im  eigenen  Hause,  hindern  zu  können. 

Da  erschienen  Donnerstag  den  13.  Mai  am  schwarzen  Brette 
und  in  den  Strassen  Leipzigs  gedruckte  Theaterzettel  angeschlagen, 
in  denen  angekündigt  ward,  dass  an  diesem  Tage  Nachmittags  punct 
3  Uhr  »Graf  Ehrenfried«  präsentieret  werden  würde.  Studenten  wa- 
ren es,  ihrer  dreissig,  wie  wir  erfahren,  die  die  Aufführung  betrieben 
und  selber  die  Darsteller  abgaben.  Nun  schäumte  Götze  wie  ein 
angeschossener  Eber.  Alles  Nachdenken  schien  ihn  verlassen  zu 
haben.  Er  wandte  sich  wieder  an  die  Universität,  als  ob  ihm  diese 
Hülfe  zu  bringen  im  Stande  gewesen  wäre :  diese  sollte  auf  dem  der 
Stadt  gehörenden  Fleischhause  die  Aufführung  eines  öffentlichen  Schau- 
spieles untersagen! 

Am  1 4.  Mai  folgten  noch  zwei  Klagschreiben,  Fast  möchte  der 
aufs  Aeusserste  erregte  Mann  uns  dauern.    Hastig,  kaum  nothdürftig 


578  Friedrich  Zarngke,  [<24 

stilisiert,  sind  die  Schreiben  hingeworfen,  zumal  das  zweite.  »So 
muß  der  Belrängte  zu  Gott  schreien«,  ruft  er,  und  wieder  droht  er 
zum  Schlüsse:  »Ich  reservire  mir  aber  ob  denegatam  justitiam  mich 
an  höheren  örtern  zu  beschweren.«  Eine  Anzahl  Articuli  hatte  er 
sofort  formuliert  beigelegt,  über  die  ein  Stud.  Köhler  vernommen 
werden  sollte.  Das  Gonclusum  des  Senats  lautete  wieder:  »Soll 
vor  allen  Dingen  darthun,  daß  das  Scriptum  ein  Pasquill  und  auf 
ihn  gemacht  sei. «  Götze  wand  und  krümmte  sich  wie  ein  getretener 
Wurm.  In  zwei  neuen  Klagschriften  (vom  29.  Mai  und  2.  Juni), 
es  waren  die  siebente  und  achte,  suchte  er  nochmals  auszuweichen. 
Die  letzte  Schrift  schlügt  wieder  einen  tragischen  Ton  an:  »So  muß 
ichs  Gott  und  dem  Richter  anheimstellen,  welches  er  in  seiner  letz- 
ten Todesstunde  und  am  jüngsten  Gerichte  bei  dem  höchsten  Richter 

* 

aller  Welt  zu  verantworten  wissen  muß.«  Wiederum  war  die  Dro- 
hung beigefügt,  ob  denegatam  justiciam  sich  höhern  Orts  beschweren 
zu  wollen,  und  beiden  Schreiben  lagen  wieder  formulierte  Articuli 
bei,  über  die  bestimmte  Personen  verhört  werden  sollten  und  durch 
die  er  der  eigenen  Aufzählung  seiner  schimpflichen  Thaten  überhoben 
zu  sein  wünschte. 

Es  nützte  ihm  Alles  nichts,  die  Universität  verlangte  vor  Allem 
Beantwortung  der  Vorfrage,  wenn  sie  auch  nur  gegen  die  Studie- 
renden, die  die  Comödie  gespielt  hatten,  vorgehen  sollte.  Reuter 
blieb  nach  wie  vor  ausserhalb  ihrer  Competeuz,  denn  sie  hatte  ihn 
nicht  rehabilitiert. 

Jetzt  hielt  es  dieser,  der  über  den  Gang  der  Acten  durchweg 
gut  und  schnell  auf  dem  Laufenden  erhalten  sein  muss,  für  gerathen, 
auch  seinerseits  nicht  länger  zu  ruhen,  nicht  länger  dem  Gegner  allein 
das  Feld  zu  lassen ;  er  erinnerte  sich  wohl  des  alten  Spruches,  dass  die 
beste  Deckung  der  Hieb  sei,  und  ging  nunmehr  auch  seinerseits  zur 
Anklage  über.  Bei  Gelegenheit  des  schon  erwähnten  ausgelassenen 
heiteren  Pfingstaufenthaltes  der  munteren  Gesellschaft  in  Spergau  am 
30.  und  31.  Mai  scheint  der  Plan  ausgeheckt  zu  sein  zugleich  mit 
noch  manchen  anderen  Verhöhnungen  gegen  Götze.  Reuter  richtete 
nun  zwei  Denunciationsschreiben  an  das  Akademische  Concil,  und 
das  eine  versah  er,  in  offenbarem  Hohne  gegen  seinen  Feind,  nun 
ebenfalls  mit  Articuli,  über  die  bestimmte  Personen  abgehört  werden 
sollten;   es  waren  genau  ebenso  viele,   wie  Götze  formuliert  hatte, 


^25]  Christun  Reuter.  579 

nämlich  16.  Er  wollte  ihm  Nichts  schuldig  bleiben.  Die  eine  De- 
nunciation  lautete  auf  Blasphemie,  die  andere  auf  Injurie. 

Als  Götze  noch  mit  Fleischmann  auf  gutem  Fusse  stand,  hatte 
er  einmal  in  dessen  Gewölbe,  während  er  bei  ihm  d einige  Gläslein 
Brantewein  verschlucket«,  ganz  gotteslästerlicher  Weise  geflucht; 
ein  frommer  Student  der  Theologie,  der  auch  gerade  in  dem  Keller 
gewesen  war  und  der  auch  eine  Bibel  bei  sich  geführt  hatte,  hatte 
ihn  zur  Rede  gestellt,  ihn  auf  die  Verbote  der  heiligen  Schrift  ver- 
wiesen, ihm  die  Stellen  aufgeschlagen.  Da  war  Götze  herausgefahren 
mit  den  Worten:  »Gehet  weg  mit  diesem  Teufelsbuche,  ich  scheuße 
Euch  was  auf  Euer  Buch.«  Das  war  schon  lange  her,  jetzt  aber 
ward  es  hervorgesucht,  um  einen  vernichtenden  Trumpf  gegen  den 
rabulistischen  Advocaten  auszuspielen. 

Die  Injurienklage  bezog  sich  auf  die  massenhaft  von  Götze  gegen 
Reuter  in  seinen  Eingaben  an  die  Universität  gebrauchten  Beschul- 
digungen, indem  er  ihn  einen  Meineidigen,  einen s Schelm  u.  s.  w. 
genannt  hatte,  sodann  —  und  dies  ist  von  drastischer  Komik  -r- 
darauf,  dass  er  Reuter's  Drama  für  ein  Pasquill  erklärt  habe.  Er 
verlangt,  dass  Beklagter  in  die  Processkosten  zu  verurtheilen  sei, 
und  vor  Gericht  eine  christliche  Abbitte  und  Ehrenerklärung  zu  thun 
habe,  »die  Bestrafung  an  Staubbesen,  zeitlicher  und  ewiger  Landes- 
verweisung oder  Gefängniß«  aber  wolle  Kläger  »dem  richterlichen 
Ermessen  anheimstellen«.  Das  Alles  war  in  strammem  juristischem 
Stil  abgefasst,  unterzeichnet:  »Christian  Reuter  mpr.  Secretarius  bei 
Ihr.  Excellenz,  dem  Cammerherrn  von  Seyfierdiz.« 

Zugleich  hetzte  man  dem  Feinde  noch  andere  Gegner  auf  den 
Leib.  Aus  dem  Schreiben  der  Marg.  Elis.  Frobergerin  vom  19.  Juli 
ersehen  wir,  dass  auch  diese  mit  Anklagen  gegen  Götze  hervorgetreten 
und  dass  hierauf  hin  wirklich  die  Inquisition  gegen  denselben  be- 
schlossen worden  war.  Dass  es  eine  Verwandte  des  verstorbenen 
Gatten  der  Frau  Fleischmann  war,  die  so  der  Sache  Reuter's  und 
seiner  Freunde  sich  annahm,  zeigt,  dass  die  Verwandten  Froberger's 
der  Wittwe  desselben  nicht  zürnten  und  zu  ihr  in  einem  freund- 
lichen Verhältniss  standen.    Auch  dies  spricht  zu  Gunsten  derselben. 

Am  1 1 .  Juni  reichte  auch  Grell  (Krell)  eine  Injurienklage  gegen 
Götze  ein.  Die  Lage  dieses  nahm  nunmehr  einen  recht  ernsten 
Charakter  an. 


580  Fribdrigh  Zarngkb,  [^^^ 

In  wunderlichster  Lage  aber  befand  sich  die  Universität.  Da 
wurde  sie  angegangen  von  beiden  Gegnern,  von  beiden  unter  An- 
rufungen und  Bedrohungen  aufgefordert,  ihnen  zu  ihrem  Rechte  zu 
verhelfen,  darunter  von  dem  Manne,  den  sie  vor  Kurzem  in  perpe- 
tuum  cum  infamia  excludiert  hatte. 

Wie  sollte  sie  in  dieser  Lage  sich  helfen?  Es  blieb  ihr  nur 
das  Mittel,  sich  an  den  Landesvater  zu  wenden.  Und  das  that  sie 
in  einem  demüthigen  Schreiben  vom  14.  Juni.  Sie  bat,  Reutern  des 
aligemeinen  Aergemisses  wegen  zur  Ehre  der  Universität  den  Auf- 
enthalt in  der  Stadt  zu  verbieten,  Götzen  aber  wegen  der  in  dem 
Schreiben  an  die  Universität  gebrauchten  Anzüglichkeiten  und  wegen 
der  Gotteslästerungen  in  Untersuchung  zu  ziehen.  Die  Injurienklage 
Reuter's  ward  nicht  weiter  beachtet. 

Das  Schreiben  der  Universität  war  noch  nicht  abgegangen,  als 
am  16.  Juni  Götze  mit  einer  neuen  Elagschrift  —  es  war  nunmehr 
die  neunte  —  bei  der  Universität  einkam.  Er  hatte  sich  jetzt  wirk- 
lich dazu  entschlossen,  den  ihm  auferlegten  Beweis,  dass  er  gemeint 
sei,  zu  erbringen.  Das  Schreiben  ist  im  Anhange  in  extenso  abge- 
druckt, sammt  seinen  Beilagen,  es  sind  dort  auch  aus  dem  Lust- 
spiele alle  die  Stellen  ausgezogen,  auf  die  sich  Götzens  Anführungen 
beziehen.  Daher  begnüge  ich  mich,  auf  jenes  Schreiben  zu  ver- 
weisen. In  diesem  hatte  der  importune  und  aufdringliche  Mann  von 
Neuem  pathetische  Drohungen  gegen  die  Universität  erhoben,  so  dass 
diese  am  19.  Juni  ihrer  Eingabe  an  den  König  noch  ein  Inserat  hin- 
zufügte, in  welchem  sie  abermals  um  Schutz  gegen  denselben  bat. 

Aber  schon  am  26.  Juni  lief  ein  neues  Klagschreiben  Götzens 
(es  war  das  zehnte)  bei  der  Universität  ein,  abermals  voll  aufdring- 
licher Anklagen,  über  welches  sofort  der  Rector  wieder  an  den 
König  berichtete,  nunmehr  auf  schleunigste  Resolution  dringend. 

Damit  hören  die  Acten  auf,  wir  wissen  nicht,  wie  die  An- 
gelegenheit weiter  verlaufen  ist  und  welches  Ende  sie  genommen  hat. 

Zwei  Stücke  aus  ihnen  sind  aber  noch  der  Beachtung  werth. 

Einmal  das  schon  erwähnte  Schreiben  des  Joh.  Grell  (Krell)  an 
das  Akademische  Concil  vom  11.  Juni.  Schon  die  Wittwe  Müller 
hatte  ihn  als  Mitarbeiter  Reuter's  behandelt  und  ebenso  jetzt  Götze. 
Jenes  Schreiben  weist  diese  Yermuthung  auf  das  Bestimmteste  zurück 


^27]  Christian  Reuter.  581 

und  beweist  so  von  Neuem,  dass  wir  alle  besprochenen  Schriften  als 
Reuter's  alleiniges  Eigenthum  zu  betrachten  haben. 

Sodann  der  Anhang  zu  Götzens  Schreiben  vom  16.  Juni,  in 
welchem  er  den  Kreis  der  Freunde  und  Bekannten  Reuter's  vorführt. 
Wir  erblicken  Reuter  in  sehr  guter  Gesellschaft.  Da  steht  voran  der 
Dr.  Glaser,  dem  gewiss  in  erster  Linie  die  Erbauung  des  Opernhauses 
in  Leipzig  verdankt  wird,  sodann  der  Dr.  Welsch,  einer  der  vor- 
nehmsten Patricier  Leipzigs,  der  Besitzer  des  grossen  Hauses  am 
Markte,  des  sogen.  Königshauses  (jetzt  Nr.  17),  in  welchem  bereits 
damals  der  König  abzusteigen  pflegte  und  in  welchem  noch  1813 
Napoleon  sich  nach  der  Leipziger  Schlacht  von  dem  Könige  von 
Sachsen  verabschiedete;  auch  Welsch  finden  wir  unter  den  Protectoren 
des  Theaters.  Die  Doctoren  Friese,  Schwendendörfer  und  Hölzel  ge- 
hörten ebenfalls  zu  den  Vornehmen  der  Stadt,  der  Dr.  jur.  Ryssel  zu 
einer  Familie,  die  nicht  bloss  hochangesehen  war  (sie  war  in  den  Adel- 
stand erhoben  worden),  sondern  die  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst 
der  Stadt  tüchtige  Vertreter  geschenkt  hat:  so  waren  damals  zwei 
Glieder  dieser  Familie,  Wilhelm  von  Ryssel  und  Jacob  von  Ryssel,  als 
Baumeister  berühmt.  Ueber  den  Advocaten  Seiflfert  und  M.  Germer 
bin  ich  nicht  weiter  unterrichtet.  Dass  zu  dem  Kreise  auch  der  In- 
haber von  Aeckerleins  Keller,  ferner  der  Kaflfeeschenke  Schmidt,  der 
Fechtmeister  Eichel  und  der  Ballmeister  Schrecker  nebst  einer  An- 
zahl Studierender  gehörten,  charakterisiert  ihn  und  vervollständigt 
unsere  Anschauung  von  ihm,  gewiss  ohne  sie  herabzusetzen. 


IV.  Schlnss. 

Ich  stehe  am  Schlüsse,  nicht  meines  Gegenstandes,  aber  meines 
Wissens.  Was  ist  fernerhin  aus  Reuter  geworden?  Ich  vermag  keine 
Auskunft  darüber  zu  ertheilen.  Wir  verlieren  ihn  aus  den  Augen  in 
einer  angesehenen  Stellung  und  im  Begriffe,  eine  Revision  seines 
Processes  zu  erlangen,  bei  welchem  Bemühen  ihn  sein  Chef  zu  unter- 
stützen verspricht.  Hat  er  sie  erlangt?  Sind  noch  irgendwo  Acten 
vorhanden,  die  darüber  Auskunft  ertheilen?  Nach  Wittenberg  freilich 
ist  er  nicht  gegangen,  diese  Absicht  ward  wohl  durch  seine  An- 
stellung bei  dem  Hr.  v.  Seyferditz  hinfällig:  im  Wittenberg-Haller 
Universitütsarchive  würde  man  also  vergebens  nach  ihm  suchen. 


582  Friedrich  Zarnckb,  I'^^ 

Und  was  ist  sonst  aus  ihm  geworden?  Ist  er  plötzlich  ver- 
stummt? ist  der  witzige,  boshaft  launige  Mensch  ins  bürgerliche 
Philisterium  gerathen?  hat  er  die  Aufwallungen  seiner  Jugend  bereut 
und  ist  sein  ferneres  Leben  fein  sittsam  verlaufen  und  lautlos  ver- 
klungen? Oder  hat  er  anonym  weiter  gedichtet?  Aber  was  von  der 
Litteratur  der  folgenden  Jahre  auf  ihn  hin  angesehen  werden  durfle, 
lehnt  seine  Verfasserschaft  ab*). 

Oder  ist  er  bald  darauf  gestorben?  UnmögUch  ist  dies  nicht. 
Warum  sind  die  sauber  gehefteten  Acten  des  Hauptstaatsarchivs  ohne 
Schluss?  Es  würde  sich  erklären,  wenn  sie  gegenstandslos  geworden 
wären  durch  den  Tod  einer  der  beiden  Widersacher.  Der  »alte  ab- 
gelebte« Advocat  Götze  aber  hat  das  Feld  noch  nicht  geräumt.    Er 


*j  Ich  habe  mein  Augeamerk  besonders  auf  drei  Dramen  gerichtet  gehabt: 
4)  »Das  bärtigte  Frauenzimmer«,  von  dem  einige  Exemplare  4  696  zu- 
sammen mit  dem  SchelmuOsky  confisciert  wurden.  Es  hat  zum  Gegenstande  eiae 
Neckerei,  die  sich  der  Hof  des  Herzogs  von  Nunquam  Novi  mit  Don  Quixote  und 
seinem  a Schildknaben  Sanche  Panchec  erlaubt,  indem  man  ihnen  einbildet,  dass 
sie ,  mit  verbundenen  Augen ,  auf  einem  hölzernen  Pferde  durch  die  Luft  auf- 
fahren, um  einen  Riesen  zu  bekämpfen,  und  herabstürzen^  ohne  Sehaden  zu  neh- 
men. Also  ein  NovellenstofT.  Angehängt  ist  ein  gewöhnliches  Possenspiel  »Der 
alte  verliebte  und  verachte  Freyer  Jean  Henn. «  Diese  beiden  Stücke,  zumal  das 
letzlere,  könnten  immerhin  von  Reuter  sein^  sie  verrathen  deutlich  den  Eioflass 
Christian  Weise's,  aber  eine  besondere  Wahrscheinlichkeit  ist  keineswegs  vor- 
handen. 

Sj  »Die  durch  seltsame  Einbildung  und  Betriegerei  Schaden  brin- 
gende Alchymisten-Gesellschaft«.  Ich  fasste  sie  besonders  ins  Auge  wegen 
des  Kupferstiches,  der  der  Ausgabe  der  beiden  Harlekinaden  von  4  730  (s.  unlen) 
vorgesetzt  ist.  Aber  schon  die  Unterschrift  der  Vorrede  »Nordhausen,  17.  Dec 
1699«  und  die  Buchstaben  J.  D.  K. ,  hinter  denen  der  Verfasser  sich  verbirgt, 
machen  Reuters  Autorschaft  unmöglich.  Ein  Blick  in  den  breiten,  individualiliils- 
losen  Dialog  bestätigt  dies  einfach. 

3j  »Der  schlimme  Gausenmacher,  Leipzig  1701«.  Hier  möchte  ich 
einen  Zusammenhang  mit  Reuter*s  Abschilderung  des  Advocaten  Götze  nicht  in  Ab- 
rede stellen.  Das  Stück  ist  wohl  angeregt  durch  das  Reuter's.  Aber  von  Reuter  selbst 
ist  es  nicht.  Ja,  wenn  man  den  frischen,  flotten  Lustspielton  dieses  Schriflslellers 
sich  recht  klar  machen  will,  so  vergleiche  man  ihn  mit  den  lendenlahmen  Sce- 
nen  des  Causenmachers ,  der  sich  übrigens  einiger  Berühmtheit  erfreute.  Noch 
1726  wird  er  bei  einer  neuen  Auflage  von  Chr.  Weise's  Bäurischem  Machiavell  in 
der  Vorrede  als  eine  »artige  ComÖdie«  besonders  gerühmt.  In  Betreff  des  Stoffe 
vgl.  Goedeke's  Grundriss  S.  523  Nr.  3B2. 

Beide  letztere  Stücke  haben  mehr  von  Christian  Weise  als  von  Heuler,  «'^ 
schon  die  Personen  Verzeichnisse  und  die  didaktische  Vorrede  darlhun. 


^29]  Christian  R£€ter.  583 

starb  1706  am  Donnerstag  den  21.  October,  erst  58  Jahre  alt,  in 
seiner  Wohnung  auf  dem  Neuen  Kirchhofe  und  ward  am  Sonntage 
darauf  beerdigt  und  von  der  »ganzen  Schule«  zu  Grabe  geleitet, 
also  als  angesehener  Mann  bestattet;  folglich  war  er  auch  wegen 
Blasphemie  und  Injurien  weder  zu  Staupbesen  noch  zu  Landesver- 
weisung verurtheilt  worden.  Sollte  also  Reuter  ausgeschieden  sein? 
Sein  spöttischer  Brief  an  Götze  vom  21.  April  1700  erwähnt  eines 
in  Leipzig  verbreiteten  Gerüchtes,  dass  er  gestorben  sei.  War  wirk- 
h'ch  zu  einem  solchen  Gerüchte  eine  Veranlassung  durch  sein  Be- 
finden gegeben?    Kränkelte  er?    Ist  er  dann  gestorben? 

Vergebens  habe  ich  mich  nach  einer  Antwort  auf  diese  Fragen 
umgesehen.  Die  Familie  der  von  Seyferditz  in  Sachsen  und  auch 
der  von  ihr  abgeleitete  Zweig  in  Bayern  ist  ausgestorben.  Schon 
Reuter's  Chef  Rudolf  Gottlob  starb,  ohne  Kinder  zu  hinterlassen. 
Schon  damals  wird  mit  seinen  Briefschaften  und  Acten  wohl  nicht 
sehr  sorgsam  verfahren  sein.  Auf  den  Gütern,  die  ihm  gehörten, 
Nachfrage  zu  halten,  bot  keine  Aussicht,  da  Reuter  sein  Privatsecretär 
in  Leipzig  und  Dresden  war,  vielleicht  in  den  Acten  der  Güter  gar 
nicht  hervortrat.  Die  wenigen  Glieder  der  preussischen  und  öster- 
reichischen Linie  mit  Anfragen  zu  behelligen,  erschien  mir  unhöflich, 
weil  absolut  aussichtslos. 

Es  ist  also  ein  grosses  Fragezeichen,  auf  das  meine  Arbeit  hin- 
ausläuft. Möge  es  der  Forschung  Anderer  oder  einem  glücklichen 
Zufall  gelingen,  es  zu  erledigen. 


Ziehen  wir  nun  aber  aus  dem,  was  uns  vorliegt,  die  Summe, 
so  dürfen  wir,  von  Reuter's  gewiss  etwas  dissolütem  Lebenswandel 
füglich  absehend,  wohl  sagen,  dass  wir  in  ihm  einen  witzigen 
Kopf  von  hervorragender  Bedeutung  und  von  ganz  ungewöhnlicher 
Gabe  der  Charakteristik  kennen  gelernt  haben,  der  zuerst  in  Moliere's 
Weise  eine  in  das  Leben  der  Gegenwart  hineingreifende  Comödie 
mit  moralischem  Grundgedanken,  aber  ohne  schulmeisterliche  Ten- 
denz, zu  schaffen  versucht  hat.  Wären  die  Verhältnisse,  in  denen 
er  lebte,  grössere  und  mit  ihnen  sein  eigener  Standpunct  ein  höherer 
und  freierer  gewesen,  so  hätte  er  vielleicht  das  Talent  besessen, 
uns  eine  wirklich  bedeutende  Comödie  zu  schenken.    So  aber  beweist 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oesellsch.  d.  Wissenscli.  XXI.  39 


584  Fr.  Zarncke,   Christian  Reuter.  [^30 

auch  seia  Schicksal  von  Neuem,  dass  nicht  das  Talent  allein  es  ist, 
was  in  der  Geschichte  der  Litteratur  Hervorragendes  und  Muster- 
gültiges schafft,  sondern  dass  noch  eine  Reihe  anderer  Factoren  in 
günstiger  Verbindung  hinzutreten  müssen,  um  Epochemachendes,  zu 
Stande  zu  bringen. 

Unvergi&nglich  aber  wird  sein  Name  fortleben  als  der  eines  der 
genialsten  humoristischen  Erzähler,  die  unsere  Nation  aufzuweisen  hat. 


Nachträgliches* 

Im  Begriffe,  diesen  Bogen  in  die  Presse  gehen  zu  lassen,  finde  ich  noch 
zwei  verworfene  Actenfascikel,  die  zu  den  durch  Gotze  veraqlassten  Processen 
gegen  die  Fleischmannsehen  Eheleute  gehören,  und  die,  wenn  sie  auch 
wesentlich  Neues  nicht  gewähren,  doch  hier  noch  einen  Platz  finden  mögen. 
Beide  gehören  dem  Universitätsarchiv  an  und  liegen  in  dem  Gonvolut  ein- 
zelner Actenstüeke,  das  mit  G.  A.  IX,  i\9  bezeichnet  ist. 

Am  \.  September  4698  Abends  war  unserm  Götze  »aus  einer  Wind- 
Büchse  oder  Gerüste«  Schrot  in  eines  seiner  Fenster  geschossen  und 
dieses  dadurch  zerschmettert  worden.  Er  hatte  die  Fleiscbmanns  mit  An- 
hang und  den  Dr.  Ryssel  in  Verdacht  und  verlangte  die  Vernehmung  des 
Letzteren  und  einer  Hermannin,  der  Putzmacherin  der  Frau  Fleischmann. 
Das  Stadtgericht  ging  darauf  ein,  obwohl  es  sich  nicht  eben  beeilte,  und 
sandte  am  24.  Nov.  die  »Articul«,  in  denen  wir  sofort  Götzens  Stil  wieder- 
erkennen, an  die  Universität.  Beider  Zeugen  Aussagen  lauteten  durchaus 
ablehnend,  Dr.  Ryssel  erwähnt  noch  ausdrücklich,  er  habe  vielmehr  Fleisch- 
manns, bei  denen  er  eine  Zeitlang  zu  Mittage  gespeist,  öfter  klagen  gehört, 
»daß  Götze  sie  so  verfolge«. 

Am  43.  October  1699  wendet  sich  das  Stadtgericht  wieder  an  die  Uni- 
versität und  bittet,  einen  Stud.  Küttner  zu  vernehmen.  Wiederum  ist  Götze 
der  Verfasser  der  »Articula,  diesmal  zweier  verschiedener  Reihen.  Wir  be- 
kommen hier  einen  Einblick  in  den  Process  der  Mutter  gegen  die  Tochter, 
welcher  letzterer  auch  der  Bruder  David  feindlich  gegenüber  steht.  Der 
Zeuge  soll  aussagen,  dass  er  gehört,  wie  die  Fleischmann  sich  am  29.  Juli  zu 
einer  Trödelfrau  beleidigende  und  rohe  Reden  über  ihre  Mutter  erlaubt  habe. 
Sie  habe  diese  eine  alte  Diebin  gescholten,  die  bereits  bei  ihren  Eltern  ge- 
stohlen ;  sie  habe  geäussert,  ihre  Mutter  und  ihr  Bruder  wären  werth,  dass 
sie  den  Staupbesen  bekämen,  der  Donner  und  Hagel  solle  ihre  Mutter  und 
ihren  Bruder  in  die  Erde  schlagen,  auch  eine  alte  Hure  habe  sie  die  Mutter 
genannt,  was  freilich  damals  ein  recht  oft  gebrauchtes  Schimpfwort  war,  bei 
dem  an  den  wirklichen  Sinn  des  Wortes  nicht  mehr  gedacht  ward.  Der 
Zeuge  behauptet,  Nichts  davon  zu  wissen,  aber  er  giebt  doch  zu,  dass  jene 
Trödelfrau  geäussert  habe,  »es  wäre  doch  nicht  recht,  daß  die  Fleischmann 
mit  ihrer  Mutter  so  verführe«.  Also,  wohl  nicht  bloss  die  Posern ischen  Bauern 
hatten  »eigensinnige  und  hartnäckige«  Köpfe  (vgl.  oben  S.  565  Anm.),  sondern 
auch  die  Zieglerischen  Familienglieder  auf  der  dortigen  Pfarre. 


JV 


ERSTER  ANHANG. 

Bibliographie. 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  sich  die  den  Acten  beigeschlossen  gewesenen 
Originalausgaben  mit  Ausnahme  des  j^Graf  Ehrenfried  fk  nicht  erhalten  haben. 
Es  würde  dadurch  jeder  Zweifel  in  Betreff  der  jedesmaligen  Editio  princeps 
ausgeschlossen  worden  sein,  die  nun  bei  der  i> Ehrlichen  Frauoi  nicht  einmal 
erhalten,  wenigstens  bisher  nicht  bekannt  geworden  ist. 

Bemerkt  zu  werden  verdient,  dass  von  den  sämmtlichen  nachstehend  auf- 
geführten Werken  in  die  Messkataloge  kein  einziges  Aufnahme  gefunden  hat. 
Es  verdient  dies  um  so  mehr  beachtet  zu  werden,  als  dieselben  sonst  die  belle- 
tristische Litteratur  keineswegs  ausschlössen^). 

I.  Die  Ehrliche  Frau 

« 

und 

Harlelüns  beide  Schmause. 

Von  Anfang  an  gehörten  beide  Partien ,  als  Hauptstück  und  als  Nachspiele y 
zusammen.  So  bietet  sie  denn  auch  das  Originalmanuscript  und  von  den  Drucken 
wenigstens  noch  einer. 

1.  Das  Originalmannscript. 

Dasselbe  befand  sich  in  den  Acten  des  Leipziger  Stadtarchivs ,  Repert.  XLYI, 
Nr.  452  Vol.  II  (Büchercensur  4694—4705),  und  ist  gegenwärtig  der  Stadtbibliothek 
einverleibt  unter  der  Rubrik  '  Libri  prohibiti'. 


^j  Allerdings  sind  nur  die  Leipziger  Messkataloge  benutzt,  die  absichtlich  von 
Aufnahme  dieser  Schriften  mögen  abgesehen  haben,  weil  sie  als  Pasquille  verboten 
waren,  während  die  Frankfurtischen  solche  Rücksichten  nicht  zu  nehmen  hatten.  Aber 
mit  unsrer  Keimtniss  dieser  steht  es  bekanntlich  für  jene  Zeit  übel.  Die  Bibliothek 
des  Waisenhauses  in  Halle  besitzt  noch  ein  Exemplar  des  Herbstmesskataloges  von 
4695,  worin  etwa  die  yy Ehrliche  Fraua  aufgenommen  sein  könnte;  doch  ist  dies 
nicht  wahrscheinlich,  da  das  Stück  für  den  Frankfurter  Katalog  zu  spät  erschien, 
überdies  speciell  für  die  Leipziger  Studierenden  berechnet  war.  Dann  sind  erst  wie- 
der Exemplare  aus  den  Jahren  4746,  4720  und  4723  bekannt,  die  hier  nicht  mehr 
in  Betracht  kommen. 

39* 


586  Friedhich  Zarnckb,  [<32 

!Dic  I  ^xlxäft  grau  ju  PUrTme  |  in  |  einem  |  8uft  ®p\tie  \  loorgefteHet,  , 
unb  I  au«  bem  gtanjöift^en  (sie,  wie  auch  noch  öfter)  überfe^t  |  Don  |  Hila- 
rio.  I  Darunter  die  eigenhändige  Censumotiz:  Legit  M.  Ernesti  PP*);  dam, 
vielleicht  erst  später  hinzugefügt:  \  5Rebenft  annod^  beigefügten  |  HarieqviDs 
^oöfi^iU  unb  ^inb  ^  2!auffen  |  ©d^mauffe.  |  Dann  folgte  anfangs :  ©ebrudft  in 
ber  XxndtXttf,  dies  aber  ward  durchstrichen  und  darunter  gesetzt:  ©ebtttdt 
JU  PlilTine  im  95ften  Saläre. 

44  Bll.  Papier  4^  [nur  BL  58  und  59  in  8^]. 

a.  Die  Ehrliche  Frau. 

Bl.  4 — 25 ;  die  Blätter  sind  aber  verbunden,  indem  BL  45 — 48  sich  an  BL  i3 
anschliessen  sollten;    ausserdem  gehören  noch  die  Octflvblätter  58  und  39  [doch  in 
umgekehrter  Ordnung)  hieher,    die  die  Widmung  und  das  Dedicationsgedicht  an  die 
Studiosen  enthalten.     Das  Manuscript  umfasst  nur  noch  die  beiden  ersten  ActCy  der 
dritte  fehlt.     Es  ist  in  der  Hauptsache  von  derselben  Hand  mit  vergilbter  Tinte  ge- 
schrieben, doch  auf  BL  45 — 48  und  hie  und  da  auch  sonst  möchte  man  eine  andere 
Hand  vermuthen,  die  sich  aber  derselben  Tinte  bedient.     Die  Haupthand  ist  zweifels- 
ohne, wie  sich  aus  der  Vergleichung  mit  unterschriebenen  Briefen  ergiebt,  die  Christian 
Reuter" s  selber,  eine  schräg  fallende,  in  den  Zeilen  aufwärts  strebende  Schrift.    Aber 
offenbar  kannte  und  übte  Reuter  daneben  auch  eine  steilstehende  Handschrift,  tind  es 
ist  daher,    zumal   bei   der  Hast,    mit  der  die  Züge  grossentheils  hingeworfen  sind, 
schwer  zu  sagen,    ob  wirklich  verschiedene  Hände  vorliegen.     Unmöglich  wenigstens 
erscheint  es  nicht,  dass  Alles  von  Reuter  selbst  herrühre.     Dann  sind  von  verschie- 
denen   Händen    Correcturen    eingetragen.     Zunächst    von    der   Hand    des    Verfassers 
selbst,    schon  während  der  Anfertigung  [so  wenn  z,  B.  mehrmals  statt  ursprünglich 
geschriebenen  oder  nur  begonnenen  Rosetten  geändert  wird  Gharlottgen),   doch  hie  und 
da  scheint  auch  die  etwaige  zweite  Hand  innerhalb  des  von  der  ersten  Geschriebenen 
zu  ändern.     Eingreifender   sind   die  Aenderungen   und  Zusätze  einer  zweiten,   resp. 
dritten  Hand,  die  sich  schwärzerer,   aber  blasser,   Tinte  bedient,  derselben,  mit  der 
die  zweite  Harlekinade  schliesslich  geschrieben  ist.     Schon  auf  dem  Titel  rühren  in 
der  letzten  Zeile  die  Worte  ju  Plissine  von  ihr  her,    dann  hat  sie  im  Personenver- 
zeichniss  BL   4^  zu:   Fr.   Schlampampe   hinzugefügt:    Die  ehrliche  Frau  und  Gast- 
wirthin im  goldenen  Maulaffen,  hat  BL  6^  aus  Serbelse  zweimal  gemacht  Scblesine 
(ebenso  BL  22^,  nicht  Schlesien)^  Ursel  verändert  in  Ursille  [wohl  um  sie  von  der 
Ursel  in  dem  Nachspiele  zu  unterscheiden) ,    Bl.  48^  auf  leer  geliehener  Seite  ein 
längeres  Stück  zu  Bl.  47^  eingeschoben,  desgleichen  auf  BL  2Cf*  am  Rande  u.  s.  tv. 
Ob  auch  dies  die  Hand  des  Verfassers  selbst  ist?     Bei  der  grossen  Mannigfaltigkeit 
der  Züge,  die  damals  dieselbe  Hand  anzunehmen  vermochte^  ist  die  Unmöglichkeit  nicht 
zu  behaupten;  der  Augenschein  freilich  spricht  dagegen.    Dann  rührten  diese  Stellen 
nicht  direct  von  Beider  her.    Einige  Correcturen  gehören,  nach  dem  ersten  Eindrucke^ 
noch  einer  anderen  Hand,  die  sich  einer  besonders  schwarzen  Tinte  bediente;  sie  hat 
BL  6^  aus  Gutland  gemacht  Feinland,  Bl.  4^  geändert,   aber  das  Geänderte  toieder 
ausgestrichen. 


*)   d,  i,  Professor  Poeseos;    als   solchem  stand   ihm  die  Censur  der  poetischen 
Schriften  zu. 


^^^<3 


433]  Christun  Rbuter.  587 

Alle  Correcturen  sind  im  Druck  berOcksichiigt,  lagen  also  während  desselben 
bereits  fertig  vor.  Wo  einmal  eine  unberiicksichtigt  geblieben  isty  wie  BL  43^  unten, 
ist  sie  nur  übersehen,  wie  denn  bei  dem  im  Ganzen  sorgfältigen  Satze  doch  auch 
sonst  Kleinigkeiten  der  ursprünglichen  Niederschrift  übersehen  sind,  z,  B.  BL  7^ 
med,  u.  ö. 

b.  Harlekins  Hochzeit-  nnd  Kindbetterin-Schmaiiss. 

BL  24 — 44,  mit  Ausnahme  der  Octavblätter  38  und  39  [s.  o.].  Auch  hier 
sind  einzelne  Blätter  verbunden :  BL  24  und  25  gehören  hinter  BL  27.  Die  Blätter 
sind  von  alter  Hemd  [s.  ti.j  richtig  (mit  Auslassung  der  Ziffer  4  =  BL  26]  mit 
Rothstift  2 — 46  beziffert.  Die  Handschrift  enthält  nur  das  zweite  der  Nachspiele, 
mit  besonderem  Titel,  BL  26^: 

Harleqvins  |  Äinbbcttcrin  [corrigiert  aus  ftinMauffenl-Sd^maufe  |  in  einem  ] 
©inge  ®J>ieIe  toorgeftcüet  |  J)on  |  Hilario.  Darunter  die  eigenhändige  Censur- 
note:  Vidit  M.  Ernesti  PP.,  die  sich  auch  am  Schlüsse,  BL  44^  wiederholt. 

Scheint  von  der  Hand  geschrieben ,  die  in  der  Ehrlichen  Frau  als  zweite  be- 
zeichnet ward.  Doch  auch  hier  treten  daneben  andere  Hände  auf,  BL  25^  möchte 
ich  die  erste,  also-  Reuter^ s  eigene,  erkennen,  und  eine  ganz  neue  setzt  auf  BL  35^ 
ein.  Auch  dieses  Stück  scheint  unter  den  Augen  des  Verfassers,  ja  tvährend  der  Ab- 
fassung  geschrieben  zu  sein.  Die  letzten  Blätter  hat,  der  Tinte  nach  zu  urtheilen, 
vielleicht  wieder  Reuter  selbst  geschrieben.  Hier  zeigen  auch  die  Correcturen  am 
deutlichsten  die  Entstehung  während  der  Abfassung.  Die  letzte  Partie  ist  überaus 
hastig  hingeworfen. 

2.  Die  Drucke, 
a.    ohne  Ort  nnd  Jahr. 

Der  einzige  mir  bekannt  gewordene  Druck,  in  welchem  die  Ehrliche  Frau  und 
die  beiden  Nachspiele  noch  als  zusammengehörig  beieinanderstehen,  ist  der  folgende  : 

V  Honn^te  Femme  |  Dber  bie  |  (S^rUd^e  ^avi  \  gu  $(igine,  |  in  |  Sinem  | 

Suft*®)>ie(e,   |  r>t>Xit\UM,  |  unb  j  aud  bem  grang&ifd^en  |  äberfe^et  j  t)on  | 

HILARIO,   I  yitizn\t  Harleqvins  ^od^jeit«  |  unb  Sinb^Settettn«  |  Sd^maufe  ! 
[schwarzer  Strich)  \  ^liginc,  |  ©ebrucft  in  biefcm  Oal^re.     [8^). 

Auf  der  Rückseite  des  Titels  steht  das  Verzeichniss  der  Personen ;  mit  dem  Titel- 
blatte  hängt  zusammen  das  Blatt ,  auf  dem  das  nicht  eben  fein  ausgeführte  Titel- 
kupfer  sich  befindet:  eine  starke,  corpulente  Frau  steht  in  einem,  aus  einen  Steinbogen 
gebildeten  Portale,  an  dem  zu  beiden  Seiten  Steinsitze  angebracht  sind,  une  man  sie 
bei  den  älteren  Häusern  in  Leipzig  so  oft  findet ;  die  Frau  geht  aiisgeschnitten  und  trägt 
um  den  Hals  ein  Halsband  mit  Medaillon;  sie  stemmt,  selbstbewusst ,  fast  heraus- 
fordernd, die  Arme  in  die  Seite.  Die  Haare  sind  frisiert.  Das  Gesicht  zeigt  ge- 
meine Züge.  Darunter  sind  die  Worte  gestochen:  @o  Xodf)X  ii)  eine  C^tl^C  ^rau 
bin.  —  Hinter  dem  Titelblatte  folgt  auf  2  unbezifferten  Blättern  die  Dedication  und 
das  Widmungsgedicht  an  die  Studenten.  Diese  4  Blätter  sollen  den  ersten  Bogen  (S) 
repräsentieren.  Damach  beginnt  mit  S3  die  Bezifferung  und  das  erste  Stück  selbst, 
S.  4—64,  33—6. 


1 


588  Friedbich  Zarnckb,  [434 

Hieran  schliessen  sich  die  beiden  Nachepiele,  jedes  für  sieh  paginiert  md  mü 
einem  besonderen  Titel  versehen ,  der  aber  nicht  die  ganze  Seite,  sondern  nur  den 
oberen  Theil  derselben  einnimmt,  während  der  übrige  Theil  durch  das  PersoMtk- 
verzeichniss.  ausgefüllt  wird.     Voran: 

S)ed  I  HARLEQVINS  |  ^o6)izxt^®äfmavi%,   \  3n  einem  |   ®inge«®)>te(e  | 
))orgefteUet. 

30  bezifferte  Seiten,  eigentlich  nur  28,  denn  es  beginnt  die  Bezifferung  gleich  auf 
der  Rückseite  des  Titels  bereits  mit  4,  und  die  Signatur  auf  der  Vorderseite  mit.a  (a)  2. 
Ueberdies  enthält  dieser  Bogen  nur  6  Blätter  (zählt  also  bis  S.  44) ,  er  hätte  <Uso  statt 
mit  S.  4  mit  S.  6  und  mit  der  SigncUur  a  3  beginnen  sollen.  Wie  es  mit  den  feMenden 
beiden  Blättern  steht,  wird  sich  unten  ergeben.  Der  zweite  Bogen  ist  h  signiert.  Damach: 

S)e«  I  HARLEQVINS  |  ftinbbetterin«®c^mau6  |  3n  einem  |  ©inge^Spiele  1 
bcrgerteffet  |  SSon  |  HILARIO 

25  bezifferte  Seiten  [auf  der  Rückseite  des  Titels  mit  2  beginnend).  Auf  der 
Rückseite  von  25  steht  ein  Lied  in  vierzeiligen  Strophen:  SRetn  etnjiger  @(^a( 
auff  (Erben,  Str,  / — 5,  und  dann  folgt  noch  ein  Blatt,  welches  die  Fortsetzung  die- 
ses Liedes,  mit  neuer  Sirophenbezifferung  4 — 5  giebt.  Signatur  aa  und  66,  letzterer 
Bogen  aber  hat  nur  6  Blätter. 

Auf  der  Rückseite  des  letzten  Blattes  steht:  99ert(!^t  9n  93tt^btnber«  3)erX(tu( 
jnr  (S^rlt(^en  f^au  fammt  bem  ftu))fer'93[at  an  $arleqt)tn9  $o^)ett«@(^mau6  inu§ 
aBgefc^nittcn,  unb  »orl^ero  anö  crftc  ?Hpl^a6ct  gebrati^t  »erben.  Beide  Blätter  comple- 
tierten  also  den  nur  aus  6  Blättern  bestehenden  Bogen  a  (a) .  Man  darf  wohl  vermuthen, 
dass  die  beiden  Blätter  mit  der  Widmung  an  die  Studierenden  (s.  o.)  die  fehlenden 
Blätter  des  Bogens  66  abgegeben  haben  und  so  der  Bogen  [%)  zu  Stande  gekommen  ist. 

Wenn  auf  dem  Titel  zu  dem  ersten  Nachspiel  der  Name  '  Hilarius*  fehlt  j  $o 
darf  das  nicht  grosse  Bedenken  in  Betreff  des  Verfassers  erregen;  die  Personensahl 
zu.  diesem  Stücke  war  eine  sehr  umfängliche  und  so  fehlte  es  an  Platz  für  den 
Verfassemamen.  Etwas  bedenklicher  könnte  der  Umstand  erscheinen,  dciss  der  Hochseit- 
schmauss  in  Entrees,  der  Kindbetterinschmauss  in  Acte  und  Scenen  getheilt  ist.  Aber 
schwerwiegend  ist  aiich  dies  Bedenken  nicht.  Der  Verfasser  konnte  im  Verlauf  seiner 
Arbeit  aus  der  älteren  Weise  zu  einer  ihm  angemessener  erscheinenden  übergehen. 

Ein  Exemplar  der  drei  Stücke  in  Berlin  und  ein  zweites  im  Besitze  des  Herrn 
Heinrich  Hirzel  in  Leipzig,  dem  nur  Titel  und  Kupfer  zur  Ehrlichen  Frau  fehlen;  bei 
dem  Berliner  hat  der  Buchbinder,  verleitet  durch  die  zwiefache  Bezifferung  des  Liedes, 
die  zweite  Hälfte  desselben  (also  auch  die  Notiz  für  den  Buchbinder)  abgeschnitten  und 
hinter  das  erste  Stück  (die  Ehrliche  Frau)  geklebt,  —  Ein  Exemplar  der  beiden 
Nachspiele  findet  sich  auch  in  Dresden,  richtig  gebunden,  aber  nicht  an  die  Ehrliche 
Frau,  sondern  an  die  aus  diesem  Stücke  gemachte  Opera  Le  jouvanceau  charmant 
(s.  u.  V)  angehängt.  Der  'Bericht'  für  den  Buchbinder  ist  daher  mit  Bleistift  durch- 
strichen worden;  Titel  und  Titelkupfer  zur  Ehrlichen  Frau  sind  natürlich  unbenutzt 
geblieben. 

Es  ist  dies,  wie  gesagt,  der  einzige  mir  bekannt  gewordene  Druck,  in  welchem 
die  drei  Stücke  so,  wie  es  schon  der  Titel  des  Manuscriptes  angiebt,  neben  einander 
stehen,  und  ich  habe  ihn  darum  hier  voranstellen  müssen.    Aber  jener  älteste  Druck, 


^35]  Christun  Rbcter.  589 

der  bei  Brandenburger  ausgeführt  und  von  Heybey  verlegt  ward,  ist  es  nicht.  Das 
ergiebt  sich  *auf  folgende  Weise.  In  dem  Manuscripte  des  zweiten  Nachspiels  sind 
mit  demselben  Rothstift,  der  diese  Partie  paginierte,  die  Anfänge  der  einzelnen 
Seiten  des,  natürlich  doch  ersten  Druckes  angegeben.  Da  heisst  es  bei  Scene  2, 
mit  der  also  das  zweite  Blatt  begann  {und  auch  im  eben  besprochenen  Drucke  beginnt) 
$  3/445,  d.  h.  Seite  5  des  Bogens  $,  und  Seite  445  des  Ganzen,  und  so  geht  es 
fort  bis  3  42/440.  Die  erste  Ausgabe  zählte  also  das  Alphabet  durch  und  war 
weitläufiger  gesetzt  als  die  uns  vorliegende ;  in  dieser  enthält  das  Stück  nur  25  Seiten, 
in  jenem  Drucke  enthielt  es  28  (^  4  =  445  bis  3  /2  =  440),  also  5  Seiten  mehr. 
Wir  dürfen  schon  hieraus  vermuthen,  dass  es  mit  dem  ersten  Nachspiel  ebenso  ge-^ 
standen  hat  und  dass  dieses  in  dem  ersten  Drucke  statt  28  Seiten  deren  32  enthielt, 
also  die  Bogen  ^  und  @  füllte.  Ebenso  legt  sich  die  Vermuthung  nahe,  dass  das 
erste  Stück ,  das  Lustspiel ,  die  Bogen  X — @  =:  80  Seiten  statt  der  jetzt  von  ihm 
eingenommenen  64  füllte.  Und  dass  ein,  so  von  uns  erschlossener  Druck  wirklich 
existiert  hat,  beweist  das  von  Rh.  Köhler  in  der  Zeitschr.  f,  D.  A.  XX,  S.  424  f. 
beschriebene  Exemplar  der  Berliner  Bibliothek,  das  freilich  nur  die  beiden  Nachspiele 
enthält.  Das  erste  Nachspiel  beginnt,  auch  hier  ohne  besonderes  Titelblatt,  mit  der 
Ueberschrift  : 

De«  I  HARLEQVINS  |  5)o^gcit-®d^mau6,   |  3n  einem  |  ©inge  •  ®t>iele  | 
t^orgeftedet. 

Es  hebt  an  mit  S.  (84)  und  endigt  S.  442,  die  Signaturen  sind  ^  und  ®.     Dann  folgt: 

!Ded  I  HARLEQVINS  |  ^nbbetterm*®(^mau6  |  3n  einem  |  ®tnse«®)>ie(e  | 
t)orgefteaet  |  i^cn  |  HILARIO. 

Bl,  443 — 440  mit  der  Signatur  $)  und  3.  Auch  stimmen  viele  ,  Einzelheiten 
genauer  zum  Manuscript  als  der  oben  beschriebene  Druck.  Nur  ein  geringfügiger 
Umstand  erweckt  mir  noch  einiges  Bedenken.  Im  Manuscript  steht  qv,  und  ebenso 
in  der  obigen  Ausgabe,  in  der  vorliegenden  aber  meistens  qu.  Sollte  also  auch 
sie  ein  späterer  Druck  sein,  so  würde  derselbe  doch  sich  genauer  und  Seite  für 
Seite  an  dcis  Original  angeschlossen  haben;  denn  Alles  stimmt  zu  obiger  Rothstift" 
bezifferung. 

Natürlich  wurden  die  ersten  80  Seiten  von  dem  Originaldrucke  der  Ehrlichen 
Frau,  oder  doch  einem  ganz  ähnlichen,  eingenommen.  Da  nun  Weller  in  seinen  Annalen 
II,  277  eine  Ausgabe  mit  der  Jahreszahl  4695  anführt,  die  sich,  wie  angegeben,  auf 
dem  Titel  des  Manuscripts  findet,  auch  sonst  in  seinen  Angaben  Eigenes  hat,  was  darauf 
schliesse.n  lassen  darf,  dass  er  wirklich  eine  Ausgabe  benutzte,  so  dürfen  wir  vielleicht 
annehmen,  dass  er  die  Originalausgabe  kannte  und  dass  diese  sich  im  Titel  noch  ge- 
nauer an  das  Manuscript  angeschlossen  hat,  als  die  uns  jetzt  vorliegehde,  die  also  nur 
ein  Nachdruck  ist.  Diese  Originalausgabe  wird  auch  ein  besseres  Titelbild  gehabt 
haben,  als  die  uns  vorliegende,  und  wir  werden  annehmen  dürfen,  dass  der  Kupfer- 
stich der  gleich  zu  verzeichnenden  Ausgabe  von  4750  dem  Original  näher  steht  als 
der  uns  jetzt  erhaltene.  —  Das  Lied  3Retn  einziger  @(l^a(  steht  hier  nicht,  wie  es 
denn  ja  auch  im  Manuscript  sich  nicht  findet. 

Die  Doppelbezifferung  in  den  Rothstiftnotizen  des  Manuscripts  lässt  übrigens  ver- 
muthen, dass  man  gleich  anfangs  diese  Nachspiele  atich  einzeln,  mit  selbstständiger 
Paginierung,  herausgab. 


690  FmiBDBica  Zaehckb,  [136 

b.  Dnck  ieg  LwUpielt,  Fraikfut  oi  Leipug  1750. 

Zusammen  mit  11/,  2  nDer  Ehrlichen  Frau  Krankheit  und  Tod*  etc.,    s.  unten  IV,  i. 

c.  Dnek  iei  enten  lachsf  ieb,  Haiifeirg  o.  J. 

MONSIEVR  :  le  |  HARLEQVIN  \  Dfccr     ©€«  HARLEQVIXS  (  ^ot^jcit, 
3ii  einem  ;  Singe « ©piele  |  Dcrgeftettet.  ;  [Zierleiste]  j  (SebrucCt  |  }U  ^tbnrg 
im  $)od^}eit<$aufe  |  in  fciefem  3a^r.  . 

54  Seitm  (letzte  Seite  leer)   89,  d.  t.  2  Bogen,  signiert  %  und  9.     Der  Druck 
also   in   der   splendideren   Weise  des  Originaldruckes,    aber  bereits  im  Alphabet  tind 
in  der  Bezifferung  selbstständig,  auch  keineswegs  Seite  für  Seite  stimmend,     Exem- 
plar in  Berlin,     Vgl,  Rh.  Köhler  in  der  Zeitschr,  f.  D.  Ä,  XX,  S.  420,     Wem  hxt 
die  Entrees  richtig  angegeben  sind  {XVt;,  während  in  den  übrigen  Ausgaben  die  IV 
iibersprungen  ist,   also  XVII  gezählt  werden,  so  wird  das  wohl  eine  Correctur  sein. 
Der  Originaldruck  kann  es  jedesfalls  nicht  sein,  da  gleich  auf  der  ersten  Seite  ein  Yen 
ausgelassen  ist,  der  sich  in  allen  anderen  Drucken  findet.  —  Gottsched  erwähnt  oui- 
drücklich,  dass  diese  erste  Harlekinade  vielmal  gedruckt  sei.     Vgl,  Zeitschr,  f.  D,  A. 
XX,  S,  449  Anm,     Für   die  Aufführungen   scheint  sie  den  Namen    ii  Harlekins  sin- 
gender Hochzeitschmauss  (i  geführt  zu  haben.      Vgl.  oben  S.  504,     Einen  Druck  mit 
diesem  Titel  kenne  ich  freilich  nicht,  wohl  aber  eine  Abschrift  in  dem  Wiener  Miscellan- 
codex  Nr,  45287,  von  dem  schon  oben  S.  467  Anm.  2  die  Rede  war,   Bl,  5ö*— ^5*. 
Drama  musicum  inscriptum  '  Der  singende  Harlequin  in  septendecim  sccenis  [also  der 
Fehler  der  Zählung  nicht  verbessert] ,     Ob  auch  die  von  Goedeke  S,  S53  unter  Nr,  55i 
angeführte  Oper  »Der  lustig  singende  Harlequin  oder  die  Pickelhärings-Hochzeita  o.  0. 
und  J.   8^  hieher  gehört,    vermag  ich  nicht  zu  entscheiden ^    doch  erscheint  es  recht 
wahrscheinlich.      Vgl.  auch  Rh,  Köhler  a.  a,  0,  S,  422, 

d.  Druck  beider  Nacbspiele,  Durlach  1716. 

Zu  diesem  Jahre  führt  Gottsched  im  Nöth.  Vorrath  S,  290  unter  den  Opern  an: 

^orlequin«  ftint)bettcrin«©d^niou§.  ©urfad^. 

Vgl.  auch  Rh,  Köhler  a.  a.   0.  S.    422.     Exemplare   sind   mir   nicht  bekamt 
geworden. 

e.  Druck  derselben,  Freywald  1730. 

De«  I  HARLEQYINS  |  $od^jelt*  I  unb  |  ßinbtauffen^©c^mau6  |  3n  einem  | 
©in8e-®<>iete  |  öotflefteCet.  |  (Vignette ^  einen  Paukenschläger  mit  2  Pauken 
vorstellend,  dann  ein  langer  schwarzer  Strich)  \  gre^lpatb,  j  1730. 

,52  Seiten  und  2  unbezi/ferte  Blätter,  grösseres  8^y  Signatur  ä — ^D  [von  letzr 
terem  nur  ein  halber  Bogen).  Das  erstere  Stück  hat  keinen  besonderen  Titeln  « 
geht  bis  Seite  28;  auf  Seite  29  beginnt  das  zweite  Nachspiel  mit  eigenem  Titel, 
mit  dem  des  obigen  Drucks  {also  hier  wieder  Ätnb6cttertn*©(J^maug)  übereinstimmend. 
Man  beachte,  dass  der  Haupttitel  zurückgekehrt  ist  zu  dem  zuerst  beabsichtigten  vnd 
einfacheren  r^Kindtauffen-Schmaufin,    der   wohl  nur  deshalb  in  den  schwerfälligeren 


437]  Christian  Rbuter.  591 

» Kindbetterin^Schmauß  (i  geändert  ward,  weil  ja  in  Wirklichkeit  in  dem  Stücke  von 
der  Taufe  gar  nicht  die  Rede  war^).  Auf  dem  letzten  unbezi/ferten  Blatte  steht  das 
Lied  »SRetn  ein^'ger  @d^a|j  auf  Srben«. 

Das  erste  unhezifferte  Blatt  enthält  ein  Titelkupfer,  das  aber  zu  keinem  der 
beiden  Nachspiele  gehört.  Es  stellt  das  Zimmer  eines  Apothekers,  wie  es  scheint, 
vor.  Auf  einem  grossen,  mit  einer  Decke  bis  unten  auf  den  Fussboden  verhängten 
Tische  stehen  und  liegen  allerlei  Geräthschaften ,  Flaschen,  Retorten,  Mörser,  eine 
Wage,  Scheere,  Messer  {zum  Pflaster  schmieren,  wie  es  scheint).  Durch  das  Zimmer 
schwebt  ein  Mercur  mit  dem  Stabe  in  der  Rechten  und  einer  langen  Papierrolle  in 
der  Linken.  Hinten  in  den  Ecken  sitzen  auf  Consolen  in  mittlerer  Mannshöhe  zwei 
Menschen,  von  denen  der  eine  mit  dem  andern  zu  disputieren  scheint.  An  den  Wänden 
zur  Seite  hängen  Spiegel.  Vorne  wird  die  Tischdecke  von  einem  darunter  versteckten 
Manne  mit  einer  Brille  auf  der  Nase  in  dii  Höhe  gehoben  und  er  dadurch  sichtbar ; 
von  seinem  Munde  gehen  die  Worte  aus:  Mundus  decipitur  opinionibus.  Wofür  war 
dieser  Stich  ursprünglich  bestimmt? 

Exemplar  in  Berlin, 

f.  Drack  derselben,  Freywald  1735. 

De«  I  HARLEQVINS  |  $)od^jeU*  [  unb  |  ftinbtauffcn*®d^mau6  |  3n  einem 
@inge»©piele  |  »orgepeüet.  |  gte^molb,  |  4735. 

Neue  Auflage  der  Ausgabe  von  4730  und  genau  mit  ihr  übereinstimmend.  Exem- 
plar in  Weimar.     Vgl.  Rh.  Köhler  in  der  Zeitschr.  f.  D.   A.  XX,  S.  424. 

Wahrscheinlich  werden  noch  mehr  Drucke  existiert  haben. 

II.  Schelmuffsky's  Reisebeschreibung. 

1.  Die  Editlo  princeps  (?),  St.  Malo  1696. 

©d^ebnuff^h;  j   (Suriofe  |  unb  |  ®e^r  geföl^rlid^e  |  Steige*  |  (efd^reibung  | 
ju  I  ffiaffer  unb  8anb.  |  {langer  Strich)  \  ©ebrudt  ju  St.  Malo.  |  «nno  4696. 

420  [mit  Ausnahme  des  Titelblattes,  also  von  3  an)  bezifferte  Seiten  42P,  sig- 
niert Sl — 6.  Mit  Seite  445  oben  beginnt  kleinerer  Satz,  um  mit  dem  Bogen  aus- 
zureichen. Auf  der  Rückseite  des  Titels  die  Dcdication  an  den  ®roffcn  MOGOL, 
S.  3 — 5  [die  letzten  6  Zeilen  mit  kleineren  Typen)  der  Brief  an  denselben;  S.  6 — 9 
die  Vorrede:  Un  bcn  cutiofen  Scfcr.  Mit  S.  40  beginnt  !Da8  I.  Saj)itc(.  Das  For- 
mat ist  dem  Papiere  nach  dasselbe  mit  dem  des  Sättigten  fjrauen  äi'WnicrS  [Vif,  4), 
nicht  aber  dem  Satze  nach:  der  des  Schelmuffsky  ist  schmaler  {um  4  Millim.),  aber 
höher  {um  5  Millim.).  Es  fragt  sich,  ob  dies  die  Ausgabe  gewesen  ist,  an  die  bei 
der   Conßscation   am  27.  August  4696    Exemplare  jenes   Druckes   sich   angebunden 


^j  Den  ursprünglichen  Titel  führt  das  Stück  auch  in  dem  erwähnten  Miscellanband 
der  Wiener  Bibliothek  Nr.  43287,  Bl.  79^ — 92^ :  Drama  musicum  inscriptum  » Har- 
lequins  frühzeitiger  und  unverhoffter  Kind-Tauffen-Schmaus  in  einem  Singespiele  vor- 
gestellet  und  gegeben  zur  Frauenburg  in  der  Wochenstube  a,  in  septendecim  sccsnis. 
Letztere  Angabe  wird  eine  Verwechselung  sein  mit  dem  i>  Hochzeitschmauß  a,  denn  mehr 
als  40  Scenen  giebt  das  Stück  in  seiner  gedruckt  vorliegenden  Gestalt  nicht  her. 


592  Friedrich  Zarncke,  [^38 

fanden.  Ganz  sicher  ist  es  natürlich  nicht,  und  ich  habe  daher  oben  die  Angabe^  es  sei 
die  Editio  princeps,  mit  einem  Fragezeichen  versehen.  Die  etwas  ordinäre  Her- 
stellungsweise  könnte  auch  an  Nachdruck  denken  lassen. 

Ob  der  Originaldruck  des  ersten  Theiles  von  Räder  in  Frankfurt  a/M.  her^ 
gestellt  ward,  wird  dadurch  zweifelhaft,  dass  bei  Erwähnung  des  Namens  desselben 
im  Concept  anfangs  der  zweite  Theil  genannt  war. 

Am  Schlüsse  wird  auch  in  dieser  Ausgabe  auf  das  Erscheinen  eines  ti^  andern 
Theils<i  hingewiesen  und  der  vorliegende  Druck  als  querster  TheiU  gekennzeichnet. 
Man  darf  daher  wohl  annehmen,  dass  es  auch  einen  ersten  Druck  des  zweiten  TheUs 
in  diesem  Format  gegeben  hat,  von  dem  aber  bisher  noch  kein  Exemplar  wieder 
aufgefunden  worden  ist. 

Exemplar  in  Gotha. 

In  dem  Auctionskataloge  der  Gottsched' sehen  Bibliothek  (Leipzig,  4767)  ,  wird 
S.  449  Nr.  3289  eine  Ausgabe  »2  Theile.  695.  8«  angeführt;  aber  diese  Angabe 
wird  tüohl  nur  flüchtig  von  der  vom  angebundenen  n  ehrlichen  Fraufi  hergenommen 
sein,  von  der  Gottsched  [wie  der  Nöth.  Vorr.  I,  259  beweist)  umsste,  dass  sie  4695 
gedruckt  sei.     Für  den  zweiten  Theil  würde  4695  absolut  nicht  passen. 

2.  Schelmerode,  Padua  1696/97. 

a.  Erster  Theil. 

Sd^e(muffdl);^  |  SBal^r^affttge  |  Sutiöfe  unb  fe^r  gefä^rlid^e  |  9{eifebefc!^ret' 
i^H  I  B^  I  Gaffer  unb  Sante  |  I.  Xf^nl,  \  Unb  smat  |  S)te  .at(er))o(tIontenfte 
unb  accutatcftc  |  EDITION,  |  in  5)o(]f^tcutfd^cr  grau  SKuttcr  ©prac^c^)  |  eigen* 
^änbig  unb  fc^r  ottig  an  ben  i  3:ag  gegeben  |  Don  |  £.  S.  |  {9  Sterne  in  Form 
eines  auf  die  Spitze  gestellten  Vierecks)  \  ©ebrudt  ju  ©d^efmetobe,  |  3m  ^afjx 
1696. 

432  Seiten  kl.  8^,  das  Titelblatt  mitgezählt,  aber  unbeziffert.  Alphabet  ?[ — 3 ; 
%  zu  6  Blättern,  ^  zu  4  Blättern.  Um  mit  dem  Raum  auszukommen  ward  etwa 
von  der  Mitte  der  vorletzten  Seite  eine  beträchtlich  kleinere  Schrift  geu)ählt.  Auf 
der  Rückseite  des  Titels  die  Anrede  an  den  Grossmogul,  dann  2  Blätter  mit  dem 
Brief  an  ihn,  darauf  2  Blätter:  An  ben  Suriöfcn  Scfct.  Dann  (S.  44)  beginnt  der 
Roman.  Dem  Titel  voran  steht  ein  Doppelkupfer:  Links  Schelmuffsky ,  abgerissen, 
die  Schuhe  über  dem  Arm,  mit  Pelzmütze,  im  Hintergrunde  die  See  mit  einem  grossen 
und  kleinen  Schiffe;  über  ihm  auf  einem  Bande:  Der  Xtbtl  l^olc  mcr.  Rechts  in 
einer  Hausthüre  ein  feister  Weinschenke  mit  einem  Käppcheh  auf  dem  Kopfe  und 
einem  grossen  pokalartigen  Trinkgefässe  in  der  Linken,  während  er  dem  Heran- 
kommenden die  Rechte  reicht;    darüber  auf  dem  Thürbogen:    Mon  Frere  Du  Icbcji* 


^j  Es  ist  dies  ein  Lieblingsausdruck  von  Joh.  Gottfried  Zeidler,  der  ihn  fast 
auf  allen  Titeln  verwandte,  vgl.  Flügel,  Gesch.  d.  kom.  Litt.  3,  450  fg.  Aber 
gewiss  entlehnte  dieser  den  Ausdruck  erst  vom  Schelmuffsky,  denn  die  älteste  Schrift, 
in  der  er  sich  desselben  bedient,  die  auf  die  Metaphysica,  nennt  als  Druckjahr: 
»drei  viertel  Jahr  vor  dem  neuen  Seculoa,  d.  i.  also  entweder  4699  oder  4700^ 
jedes  falls  später  als  die  Umarbeitung  des  Schelmuffsky.  Dagegen  darf  Chr.  Weise 
darauf  Anspruch  erheben,  den  Ausdruck  schon  früher  verwandt  zu  haben,  in  der 
Verkehrten  Welt  schon  4683  (S.  43)  und  in  der  Comödienprobe  4695  (S.  250). 
Vgl.   auch  D.    Wörterbuch  s.  v.  IV,   4  S.  90. 


439]  Christun  Reuter.  593 

Es  machte  dies  Doppelbildy  so  scheint  es,  die  beiden  an  dem  Bogen  3(  fehlenden 
Blätter  atis,  wie  auch  der  Vergleich  mit  dem  zweiten  Theile  zu  beweisen  scheint, 
obwohl  es  allerdings  recht  auffallend  ist,  dass  die  Erzählung  von  Schelmuffsky  keine 
Anknüpfung  gewährt,  vielmehr  der  Weinschenke  erst  im  Grafen  Ehrenfried  4700 
seine  Erklärung  findet.  Das  E.  S.  auf  dem  Titel  möchte  ich,  wie  oben  gesagt,  als 
Eustachius  Schelmuffsky  deuten. 

Exemplare  in  Dresden,  Berlin  und  Göttingen. 

b.  Zweiter  Theil. 

®<^e(muffdl^^  I  euriöfer  |  unb  |  fel^r  gefährlicher  |  iReife^Sefd^reibung  | 
3u  ?Baffcr  unb  Sanbe  |  änbcrer  SE^eil.  |  {langer  schwarzer  Strich)  \  ©ebrucft 
)U  $abua  eine  l^aKe  ©tunbe  |  )>on  Stern,  j  9e^  $eter  SD^artau,  |  4697. 

78  Seiten  kl.  8^,  die  ersten  beiden  Blätter  mitgezählt  aber  nicht  beziffert.  Al- 
phabet ä — S ;  U  zu  7  Blättern,  indem  das  Titelkupfer  (s.  u.)  das  erste  Blatt  aus- 
macht (aber  es  wird  nicht  als  3(  \  gerechnet) .  Die  Rückseite  des  Titels  enthält  die 
4  Alexandriner  auf  den  Räuber  Barth  mit  der  Unterschrift  3E.  ^»  3-  ^^^^^  '^  * 
enthält  die  Anrede  »Sin  ben  aUejett  curtöfen  Sefer*«  Mit  31  3  beginnt  die  Reisebe- 
Schreibung.  Das  Titelkupfer  stellt  Schelmuffsky  dar,  wie  er,  von  drei  Räubern  bis 
aufs  Hemd  ausgezogen,  davon  flieht,  lieber  Schelmuffsky  stehen  senkrecht  die  Worte  : 
Der  £e6cl  l^olmcr  Äinb  tft  ba»  Sollte  es  statt  Äinb  nicht  gcinb  heissen?  Im  Hinter- 
grunde mitten  im  Meere,  von  Schilf  umgeben,  eine  Stadt,  darüber  Roma^  je  ein  Schiff 
vor  und  hinter  derselben.  Links  herings-fang.  Daneben  duellieren  sich  zwei.  Rechts 
auf  einem  hohen  steilen  Felsen  eine  Stadt,  darüber  Yenetig.  ^  Ich  weiss  nicht,  wo- 
her E.  Weller  die  Kenntniss  entnimmt,  Peter  Martau  bedeute  an  dieser  Stelle  i^Bielcke 
in  Jenav,  Annalen  II,  396  Nr.  322^).  Noch  weniger  wahrscheinlich  ist  Goedeke's 
Angabe  im  Grundriss  S.  512,  P.  Martau  sei  eine  fingierte  Hamburger  Firma. 

Exemplare,  dem  ersten  Theile  angebunden ,  in  Dresden ,  Berlin  und  Göttingen, 
doch  fehlt  dem  Berliner  das  Titelkupfer. 

Ob  es  der  erste  Druck  ist,  wird  um  so  zweifelhafter,  als  in  einer,  freilich 
wieder  ausgestrichenen,  Stelle  eines  Berichts  der  Bücher-Commission  an  den  Chur- 
fürsten  bereits  am  24.  Nov.  4696  von  ti> Schelmuffsky  Reisebeschreibung  anderer  Theil  (n 
als  confisciert  die  Rede  ist^).     Vgl.  S.  524. 


^)  Sollte  Weller  auf  seine  Angabe  durch  eine  Combination  gekommen  sein?  In 
der  Vorrede  zum  2.  Theil  des  Schelmuffsky  versichert  der  Verfasser :  » daß  ich  künf- 
tiges Jahr,  wenn  ich  nicht  sterbe,  von  meiner  hier  und  dort  vergessenen  Reise,  wie 
auch  von  anderen  denkwürdigen  Sachen  was  rechts  schreiben  loill  und  solches  unter 
dem  Titel  iDcuriöser  Monaten  herausgeben.  «  Nun  erschienen  bei  Bielcke  in  Jena  4692 
in  8^:  y>  Monatliche  nutzspielende  Lust-Fragen,  (n  Das  können  aber,  wie  die  Jahres- 
zahl beweist,  nicht  die  gemeinten  sein,  höchstens  mag  der  Verfasser  durch  sie  zu 
jenem  Titel  veranlasst  worden  sein;  aber  auch  Thomasius  gab  schon  4688  in  Halle 
r>  Lustige  und  ernsthafte  Monats-Gespräche  a  heraus.  Dass  von  den  im  Schelmuffsky 
in  Aussicht  gestellten  curiösen  Monaten  je  etwas  erschienen  sei,  lässt  sich  nicht  nach- 
weisen. 

2)  Kein  Werth  zu  legen  ist  auf  die  folgende  ungenaue  und  fehlerhafte  Angabe 
in  dem  »  Verzeichniss  der  Klaeden* sehen  Bibliothek.  Zu  verkaufen  durch  J.  A.  Star- 
gardt.(L    Berlin  4868,  S.  68  Nr.  4653: 

Schelmuffsky^s  Reisebeschreibung  zu  Wasser  und  Lande  I.    Pet.  Martea  in 


594  Fribdrich  Zarncus,  [^40 

3.  Frankflirt  und  Leipzig  1750. 

©^etouffdtt)^  I  »a^rl^af tige ,  curiSfe  unb  fe^r  |  gefä^rüd^e  |  SRetfe«  |  SÖt^ 
fii^reibung  |  ju  SBaffer  un\)  Sanbe  |  in  ^xoctftn  ^txUn  j  curtöfen  Sieb^bem 
tiox  älugen  I  geleget,  |  unb  mit  S^t^^n  \  Suft«  unb  2;rauet'@)>ie(en  |  Derfe^en.'  | 
{Doppelstrich)  \  grondfutt)^  unb  Seipjig,  1750. 

6  unbezifferte  Blätter  8^  {signiert  >C),  die  vielleicht  durch  den  voranstehenden 
Doppelkupferstich,  einer  Copie  des  oben  {FI,  2,  a)  beschriebenen,  zu  8  completiert  umr- 
den;  Rückseite  des  Titels  leer,  dann  Dedicationsblatt,  dessen  Rückseite  abermals  leer 
ist,  dann  2  Blätter  mit  dem  Brief  an  den  Grossmogul  und  darauf  2  %n  Den  SuTtofen 
Sefet»  Dann  folgt  die  Reisebeschreibung,  460  Seiten  89,  signiert  Ä — ft,  die  letzten 
Zeilen  mit  kleinerer  Schrift,  um  mit  dem  Bogen  auszukommen.  Die  auf  dem  Titel 
angeführten  zwei  Lust-  und  Trauerspiele  {offenbar  ist  gemeint  die  Ehrliche  Frau  und 
der  Ehrlichen  Frau  Krankheit,  Tod  und  Begräbniss)  fehlen  in  den  mir  bekannten 
Exemplaren,  Es  ist  aber  nach  Typen,,  Format  und  Ausstattung  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  die  unter  I,  2,  b ;  IJI,  2  und  IV,  2  aufgeführte  Ausgabe  gemeint  ist.  Ob  es  etwa 
von  dieser  Drucke  gab,  die  die  Bezifferung  des  Schelmuffsky  fortsetzten,  wage  ich 
nicht  zu  entscheiden,  glaube  es  aber  kaum;  sie  konnten  einfach  angeheftet  sein. 

Exemplare  in  Dresden,  München  und  im  Besitze  des  Herrn  Heinrich  Hirzel  in 
Leipzig, 

4.  0.  0.  (Düsseldorf  ?)  1818. 

@(!^eünuffdl^d  mol^r^aftige  cutteufe  unb  fe^r  gefä^rUci^e  9{etfe«SBef(i^reibung 
)U  SBa^er  unb  p  Sanbe ;  auf  bad  9leue  an  bad  Sid^t  gefteUt,  uxmt^fd  unb  ux* 
be^ert  but^  Jucundum  Hilarium.  4848.  {nach  Kayser:  in  Düsseldorf  bei  Dänzer), 

Titelblatt  und  89  Seiten  8^  {fälschlich  steht  als  letzte  Ziffer  57  gedruckt) .  Auch 
nach  Goedeke  GR.  S.  542  ist  diese  Ausgabe  in  Düsseldorf  erschienen.  Sie  bietet  eine 
durchaus  freie  Bearbeitung ;  so  ist  z.  B.  gleich  die  Geschichte  von  der  Ratte  fort- 
gelassen, trotzdem  sie  sich  im  Original  wie  der  rothe  Faden  durch  die  ganze  Er- 
zählung hindurchzieht. 

Ein  wunderlicher  Zufall  ist  es,  dass  der  Herausgeber  sich  hier  denselben  Falsch- 
namen beilegt,  hinter  dem  sich  Christian  Reuter  in  seinen  ersten  dramatischen  Wer- 
ken versteckte,  —  In  einigen  Exemplaren  dieser  Ausgabe  findet  sich  ein  Titelkupfer, 
das  eine  Gruppe  von  4  Köpfen  darstellt,  die  unten  bezeichnet  werden  als:  4)  der 
Papa  der  Charmante,  2)  die  Charmante,  5)  Schelmuffsky,  4)  der  Herr  Bruder  Graf. 
Sie  sind  aus   W.  HogartKs  Kupferstich  Noon  {25.  März  4758)  entnommen  {doch  um- 


d,  Jahre.   dar[aQ:].    Anderer  Theil,   gedr.  z.   Padua.  Prachtexemplar  der  ersten 
Ausg.  Prgmtbd.    (Heyse  8  Ih)    6  th. 

Die  Ausgabe  in  Heyse's  Bücherschatz,  auf  die  hingewiesen  wird,  ist  zweifelsohne  die 
Hassenpflug'sche,  und  auch  Klaeden's  Exemplar  wird  es  gewesen  sein;  man  übertrug  den 
Namen  des  Druckers  vom  2,  Theil  auf  den  Titel  des  ersten.  Auf  eine  Ausgabe  auch 
des  ersten  Theiles  vom  Jahre  4697  möchte  man  schliessen  aus  der  Angabe  in  "ttFr.  A, 
Helms  Preiskatalog,  Halberstadt  Jan.   4850q.  S,  425  Nr.  4044 : 

Schelmuflsky's  cur.  u.  gef.  Reisebeschreibuog,   %  Theile   4  697. 

Aber  man  darf  auf  die  flüchtigen  und  oft  ungenauen  Angaben  der  Antiquariats-  und 
Auctionskataloge  nicht  zu  viel  geben. 


U1]  CeRisTUN  Reuter.  595 

gedreht) ,  auf  dem  sie  die  Gruppe  rechts  ausmachen ;  nur  sind  die  Köpfe  auf  unserer 
Copie  etwas  näher  aneinander  gerückt,  namentlich  ist  der  des  Kleinen  ganz  in  die 
Nähe  der  drei  andern  gebracht.  Oben  darüber  steht:  zu  Schelmuffsky's  Reise- 
Abentheuem.  Da  diese  Bezeichnung  nicht  genau  zu  dem  Titel  des  Buches  stimmt 
und  da  auf  diesem  sich  keine  Hinweisung  auf  das  Kupfer  findet,  auch  viele  Exem- 
plare dasselbe  nicht  enthalten ,  so  kann  man  zweifeln,  ob  es  von  vornherein  mit 
dieser  Ausgabe  verbunden  gewesen  ist.  Auch  kommt  ja  ein  Vater  der  Charmante 
gar  nicht  vor;  dies  wird  eine  Verwechslung  mit  dem  Vater  der  Geliebten  in  Stock- 
holm oder  Amsterdam  sein. 

5.  Berlin  1821. 

©d^cfmuffdft^'d  feftfame  äbcntcuer  itnb  {Reifen  ju  SBaffer  unb  ju  Sanbe,  nebft 
ber  ©egebenl^eit  t)on  ber  {Ratte  unb  feiner  »unbetbaten  (Seburt.  herausgegeben 
bon  SWelfter  Äonrab  ®»>ät,  genannt  grül^auf.  ©erlin,  bei  (g.  $.  ®.  ß^riftiant 
1821.  —  Am  Ende:  SBerlin,  gebrucft  betj  ®.  ^a^n. 

XXIV,  246  Seiten  kl.  8^.  Enthält  nur  den  ersten  Theil  und  ist  ebenfalls  eine 
modernisierte  aber  viel  weniger  cästrierte  Bearbeitung,  als  die  Ausgabe  von  4848, 
zu  der  sie  sich  gleich  auf  dem  Titel  in  Gegensatz  stellt,  indem  sie  das  Vorhanden- 
sein der  Geschichte  von  der  Ratte  ausdrücklich  erwähnt,  die  ja,  tvie  angegeben,  4848 
fortgelassen  war.     Nach  Goedeke  hiess  der  Herausgeber  E.  Gerle. 

6.  0.  0.  n.  J.  (Kassel  um  1823). 

Sd^etmuffdli)«  |  SBal^r^afftige  |  (SuriSfe  unb  fel^r  gefa^rltd^e  i  {Reife* 
befd^reibung  |  gu  |  SBaffer  unb  Sanbe  |  ßrfter  SE^ei(,  |  unb  gtt)ar  |  bie- 
aüerboü!ommenfte  unb  accuratefte  |  Edition  |  in  |  l^od^teutfdjfer  grau  SKutter 
®))ra(!^e  |  eigenl^änbtg  unb  fe^r  artig  an  ben  {  2:ag  gegeben  |  Don  |  £.  S.  (beide 
roth)  I  [langer  schwarzer  Strich)  \  ©ebrucft  JU  ©d^elmerobe  in  biefem  Sal^r. 
[Das  Gesperrte  ist  roth  gedruckt). 

6  unbezifferte  Blätter  ohne  Signatur,  460  Seiten  8^,  ä— Ä.  Rückseite  des  Titels 
leer ;  das  zweite  Blatt  enthält  die  Ueberschrift  an  den  Grossmogul,  die  dann  folgenden 
2  Blätter  den  Brief  selbst,  die  letzten  2  Blätter  des  Vorbogens  den  Brief  an  den 
curiösen  Leser.     Hierzu  gehört  gleich  der  zweite  Theil: 

©d^elmuffSl^S  I  curiöser  |  unb  |  Jel^r  gefäl^rlid^er  |  {Reife^öefd^rei* 
b  u  n  g  I  gu  ffiaffer  unb  Sanbe  |  anbcrcr  i^eit  |  (schwarzer  Strich)  |  ®  e  b  r  u  d  t 
gu  $abua  eine  l^albe  ©tunbe  {  ))on  {Rom  |  be^  $eter  SDtartau  |  in 
biefem  Sal^r. 

2  unbezifferte  Blätter,  den  Titel,  die  Alexandriner  und  den  Brief  an  den  alle- 
zeit curiösen  Leser  enthaltend,  dann  84  Seiten  8^,  81 — S  und  2  Blätter  5>  ««/ 
denen  der  Druck  etwas  compresser  gehalten  ist.  Hieran  schliessen  sich  48  unbezifferte 
Blätter  (®,  ^,  2  Blätter  Q),  eine  alphabetische  Sammlung  von  Redensarten  ent- 
haltend, mit  dem  Titel :  SBaS  üor  galande  {RebenSartcn  in  bicfcr  meiner  fc^r  gcfal^r* 
ticken  9?eifebef(^reibung  gu  finben  fmb,  loirb  l^ter  {Regiflertoeife  fe^r  artig  aud^  gu  (efen 

fe^n»     Die   letzte  Seite  giebt   die    Titulaturen  Schelmuffsky's:   3Bie   id^    bin  tituliret 

Sorben  ^ait  id^  bem  gfinfligen  Sefer  fel^r  artig  auc^  l^erfe^en  kooUen. 

Diese  Ausgabe  ward  4825   [ungenau  Jac.  Grimm  in  der  Einleitung  zum  Deutsch. 


596  Friedrich  Zarncke,  [442 

Wörterb.:  um  4825)  angeregt  durch  den  Kreis,  welcher  sich  um  den  Preikerm 
A,  von  Haxthausen  in  Westfalen  zu  sammeln  pflegte,  und  ausgeführt  durch  Hassen- 
pflüg  (Schwager  der  Brüder  Grimm  und  später  kurfürstlich  hessischer  Minister]. 
Sie  ward  in  Kassel  in  der  Druckerei  des  reformierten  Waisenhauses  gedruckt  und, 
wie  es  scheint,  gar  nicht  durch  den  Buchhandel,  sondern  nur  als  Geschenk  verbreitet ; 
wenigstens  erwähnt  keins  der  bibliographischen  Hülfsmittel,  nicht  der  Messkatalog, 
nicht  Heinsius,  nicht  Kayser  das  Buch.  Der  Anhang,  die  galanten  Redensarten  und 
die  Titulaturen  enthaltend,  gehört  nicht  der  alten  Ausgabe  an,  sondern  ist  von 
Hassenpflug ,  Hr.  von  Haxthausen,  auch  den  Gebrüdern  Grimm  zusammengestellt. 
Uebrigens  ist  der  Abdruck  ein  ziemlich  genauer,  nur  ist  sowohl  das  Arrangement 
des  Titels  wie  die  Vertheilung  des  Textes  auf  die  Seiten  völlig  unabhängig  von  einer 
alten  Vorlage.  Die  Typen  sind  alterthümlich  gewählt  und  geben  dem  Drucke  das 
Ansehn,  als  stamme  er  noch  aus  dem  48.  Jahrh.  ^).  Er  hat  denn  auch  Manche  ge- 
täuscht; auch  bei  Goedeke  im  Grundriss  S»  S42  ist  die  unter  a  vorangestellte  Aus- 
gäbe  der  Hassenpflugsche  Wiederabdruck. 

7.    0.  0.  n.  J.  (Leipzig  1848). 

Im  Jahre  4848  veranstaltete  der  Buchhändler  Georg  Wigand  in  Leipzig  durch 
den  Dr,  Klee,  der  bald  darauf  Director  der  Kreuzschule  in  Dresden  ward,  einen 
neuen  Abdruck  der  von  Hassenpflug  besorgten  Ausgabe.  Der  Titel 
stimmt,  auch  in  den  Farben  des  Druckes,  genau  überein,  nur  sind  die  Typen  auf 
ihm  wie  auch  später  im  Texte  nicht  so  alterthümlich  wie  bei  der  Vorlage.  Uebri- 
gens enthielt  auch  der  neue  Abdruck  im  ersten  Theile  6  unbezifferte  Blätter  und  dann 
460  Seiten,  die,  abgesehen  von  den  5  ersten,  genau  zur  Vorlage  zu  stimmen  pflegen. 
Ebenso  enthält  der  zweite  Theil,  bei  ganz  gleichem  Titelarrangement,  2  unbezifferte 
Blätter  und  dann  84  Seiten  Reisebeschreibung;  auch  hier  pflegen  die  Seiten  genau 
mit  der  Vorlage  zu  gehen.  Mit  den  galanten  Redensarten  hört  die  genaue  Ueber- 
einstimmung  auf,  indem  man  beabsichtigte,  den  Inhalt  auf  2  Bogen  (®  und  $)  zu 
bringen,  und  noch  überdies  für  die  Druckernote  ein  eigenes  Blatt  zu  gewinnen  suchte 
(3!)ru(!  t>on  S3rcitIopf  unb  $ärtel  in  i^cipjtg).  So  beginnt  hier  die  letzte  Seite  mit: 
3crjaufcn,  einen  wichtig,  II.  63.  —  Nach  den  Geschäftsbüchern  der  Druckerei 
ward  der  Druck  am  46.  November  4848  geschlossen. 


^)   Diese  von  Hassenpflug  besorgte  Ausgabe   ist  in  demselben  geistreichen  Kreise 
[vgl.  [v,   d.   Osten]  Franz  Ludw.  Aug.  Maria  Freiherr  von  Haxthausen.    Ein  photo- 
graphischer  Versuch  von  Freundeshand.     Als  Manuscript  gedruckt.    Hannover  4868 
auch  noch  die  Veranlassung  zur  Abfassung  eines  dritten  Theiles  von  Schelmu/fsky's 
Reisebeschreibung  geworden.     Derselbe  führt  den  Titel: 

S^clmuff«!i?e  I  SBa^tHttfler  |  6uriöfer  unb  fc^r  flefa^rli^ct  |  «eifcie' 
fcj^retbunß  j  ju  |  SBaffer  unb  8anbc  |  S)ntter  I^eil,  |  glci^  |  bcm  (Srpcn  unb 
Anbeten  Steile  |  in  |  l^oc^tcutfci^cr  grau  3»utter  ®pra(!^c  |  fcl^r  luftig  ju  lefcn.  i 
[Strich]  I  ©ebtudt  im  SBcflp^älinger  Ü?anbe  |  in  bicfem  3a^r,  (59  S.  Ä^j. 

Verfasser  ist  Herr  V.  von  Str.  und  T — y.  Das  muntere  und  geistvolle  Büchlein  ent- 
stand im  Anfang  der  sechziger  Jahre  d.  Jahrh.,  ist  aber  nur  in  sehr  wenigen  Exem- 
plaren unter  den  eingeweihten  Freunden  verbreitet  worden.  Die  feine  und  wohl- 
gelungene Nachahmung  würde  indess  auch  weitere  Kreise  zu  interessieren  wohl  im 
Stande  sein. 


^*3]  Cbeistun  Reutbk.  597 

8.  Mflnchen  o.  J.  (1883), 

®(i^elmuff«iv«  I  ©a^rl^aff tigc ,  curiöfc  unb  fc^r  flcfä^xlid^c  |  {Reife- 

frcfc^reibung  |  gu- 1  ©äffet  unfc  8anbe,   |  unb  jtDar  |  bte  aHcrbottlommenftc 

unb  accuratefte  |  Edition  [  in  |  l^oc^beutfd^et  grau  aRuttet  ©prad^e  |  eigetil^änbig 

unb  fel^r  artig  an  ben  SEag  gegeben  j  bon  |  E.  S.  {beide  roth)   \  {Zierstrich)  \ 

•    SRfind^en,  |  ®ibaogra^)^ifd(f^artiftifd^e«  3nftitut. 

Darnach  sind  die  beiden  Theile  mit  besonderem  Titel  versehen: 

©dj^etntuff«!^^  |  curiöser  |  unb  |  fe^r  gefal^rlid^er  |  {Reife«5Befd^reibung  |  ju 
©affer  unb  Sanbe  |  (Srfter  Z^zH.  \  {Zierstrich)  |  ©ebrudt  gu  ©d^etnterobe  |  in 
biefem  3a^r. 

Titel  des  Grossen  Mogul  {doch  ohne  den  Brief)  und  die  Vorrede  an  den  cu- 
riösen  Leser  machen  mit  jenen  beiden  Titelblättern  einen  unsignierten  und  unbeziffer- 
ten  halben  Bogen  aus.     Darauf  die  Erzählung  404  Seiten  8^,     Dann: 

©(i^elmuff^I^^  I  curiöser  |  unb  je^r  gefäl^rliti^er  |  Steife  *  SBefd^reibung  |  ju 
SBaffer  unb  Sanbe  i  änberer  Ziftii.  \  {Zierstrich)  \  ©ebrudt  ju  ?abua  eine  l^albe 
©tunbe  bon  Stent  |  be^'^eter  SRartau  |  in  biefem  3a^r. 

Auf  der  Rückseite  des  Titels  die  Verse  auf  den  Räuber  Barth,  dann  der  vor 
dem  ersten  Theile  fortgelassene  Brief  an  den  Grossen  Mogul;  darauf  die  Vorrede 
an  den  allezeit  curiösen  Leser,  Diese  Stücke  machen  einen  unsignierten  und  unbe- 
zifferten  Halbbogen  aus.     Damach   die  Erzählung  5S  Seiten  8^.     Letzte  Seite  leer. 

Die  wunderliche  Verschiebung  des  Briefes  an  den  Grossen  Mogul  ist  wohl  vor- 
genommen, weil  die  beiden  unbezifferten  Halbbogen  als  Bogen  zusammen  gedruckt 
wurden*  und   der  Bequemlichkeit  wegen  jedem  der  beiden  Theile  ein  Halbbogen  vor- 

m 

gesetzt  weYden  sollte.  In  Schwabacher  Schrift.  —  Der  Abdruck  scheint  wörtlich 
und  genau  zu  sein,  wie  ich  glaube  nach  der  Hassenpflugschen  Ausgabe;  nur  ist  das 
m  der  Dative  durchgeführt.     Die  Versendung  des  Buches  erfolgte  4883. 

lil.  Der  Ehrlichen  Frau  Krankheit  und  Tod. 

1.  0.  0.  1696. 

La  Maladie  ^^  la  mort  \  de  Fhonnete  Femme.  |  ba^  ift:  |  >Der  el^rtid^en 
grau  I  ©d^(ann?ani^)e  |  Stanf^eit  unb  Siob.  |  3n  einem  |  8uft*  unb  Iraner* 
®pxtk  ))orgefteQet,  |  unb  |  3(ud  bem  gran^öfifc^en  in  bad  2:eutfd^e  {  äbergefetjt, 
ton  I  ©d^elmuff^ft^  Steiffe*  |  ®ef  Sorten.  |  {kleiner  Zier  stock)  |  ®ebrudt  in  biefem 
4696  3a^r.^ 

78  Seiten  89,  letztes  Blatt  leer,  also  5  Bogen,  signiert  8 — S.  Auf  der  Rück- 
seite des  Titelblattes  stehen  die  Personen,  dann,  mit  %  2,  beginnt  die  Bezifferung 
mit  4,  springt  aber  von  2  auf  5  über;  und  ebenso  später  von  44  auf  47,  wo- 
mit S3  beginnt.  Mit  dem  ersten  Sprung  wird  die  Nichtbezifferung  des  Titelblattes, 
mit  dem  zweiten  die  Nichtbezifferung  des  Titelbildes  wieder  eingebracht.  Dieses,  ein 
Kupferstich,  stellt  das  Krankenzimmer  der  ehrlichen  Frau  vor.  Sie  liegt  in  ihrem 
Himmelbette,  neben  ihr  ihr  jüngster  Sohn;  an  einem  Tische  schreibt  ein  Notar  das 
Testament,  ein  Arzt  in  Allongeperrüke  beschaut  das  Hamglas,  die  beiden  Töchter  stehen 


598  Fbiedrich  Zarncke,  [Ui 

hinter  dem  Notar;  die  eine  weint.  Schelmuffsky  liegt  im  Hemde  auf  dem  Ftu^>odm 
und  heult,  neben  ihm  das  Hündchen  der  Mutter.  Im  Hintergrunde  in  der  geöffneten 
Thüre  der  Hausknecht  und  die  Jungemagd.  Auf  einem  herabhängenden  Blatte  oben 
steht  der  Titel  wiederholt:  La  Maladie  et  la  morl  de  Tbonnete  Femme.   4696. 

Exemplare  in  Dresden  und  Göttingen,  und  im  Besitze  des  Herrn  Buchhändkn 
Heinrich  Hirzel  in  Leipzig. 

Ich  möchte  nicht  bezweifeln,  dass  dies  der  von  Wolfg.  RÖder  in  Frankfurt  alM, 
nach  Leipzig  geschickte  und  hier  von  Joe.  Phil.  Schneider  {s.  Anhang  II)  mit  dm 
Titelkupfer  versehene  Originaldruck  ist.  Von  dem  oben  beschriebenen  Drucke  da 
Schelmuffsky  weicht  er  in  vortheilhafter  Weise  ab  ^  was  denn  auch  dafür  sprechen 
dürfte^  dass  der,  ja  ebenfalls  von  Röder  eingesandte  Originaldrück  des  Schelmuffski 
noch  nicht  wieder  aufgefunden  ist. 

2.  Frankfurt  nnd  Leipzig  1750. 

Zusammen  mit  der  ersten  Comödie  (/,  2,  b)   etc.,  s,  unten  IV,  2. 

IV.  Das  Denk-  und  Ehrenmahl. 

1.    0.  0.  1697. 

Se^ted  I  !Z)en(!«  |  unb  |  (£^ren«9Ra]^(,  |  !Z)er  |  tt>e)^(anb  gemefenen  |  &ßiß 
^avi  I  @d^(am^Qm)>e,  !  dn  |  (Stner  |  ®eb5d^tnüg«®ermone,  |  aufgertc^tet  |  Don 
$)enn  ®ctflcn,  |  {Strich)  \  Uf  Special-Scfcl^t  ber  @ecKg'85crftorbcncn  |  gebru* 
im  3a^r  4697. 

42  bezifferte  Seiten  8^  incl.  Titelblatt,  dessen  Rückseite  leer,  dessen  bei'de  Seiten 
aber  mitgezählt,  nur  nicht  beziffert  sind.,  Signatur  % — S,  doch  enthält  ä  nur  S, 
ß  7  Blätter.  Hinter  (5  t  folgt  ein  neues  Titelblatt,  dessen  Rückseite  leer  istj  und 
für  das  die  Ziffern  33  und  34  ausgespart  sind.  Es  hängt  durch  den  Custoden  SJc^l« 
mit  den  voraufgehenden  Blättern  zusammen. 

SBol^tgemetnte  ®etanden,  |  (e^  bem  @xaht  \  S)er  |  SBe^Ianb  ^od^^  6^' 
unb  Xugcnb'  |  begabten  |  gJRaU  |  ®d)lam}fampt,  \  ©onft  |  Die  e^rßc^e  grau ' 
genannt :  |  SBormit  |  S^re  Sefete  ©d^utbtglett  |  Unb  |  Jraurige«  SBe^Iel^b  |  ent* 
beden  »oKen  |  35ero  |  Refpectiv^  betrübte  Sinber  |  Unb  |  ^au^genoffen.  |  («»# 
kleine  Verzierungen  in  horizontaler  Linie)  \  ©ebrudt  im  ^ofyc,  ba  bie  ©d^bw* 
|>am]pe  |  t>erfd^ieben  ^)  mar. 

Der  erste  Theil  enthält  eine  prosaische  boshafte  Leichenrede,  danach  eine  Am 
üor  ber  $rcbtgt,  und  Aria  na(^  bcr  $rebtgt.  Der  zweite  Theil  bringt  8  Leichen- 
carmina,  meistens  in  Alexandrinern,  unterzeichnet  Signor  Schelmuffsky^  Daefllle,  Char- 
lotte ,  Clarille ,  Edward ,  Fidele ,  $en  ®erge,  bicicnige  SRattc,  toctd^c  bie  C^ie  i^ 
\)Qit,  ber  Srau  ®(!^(am)}am))en  il^r  ®eiben  ^leib  }u  jerbeiffen. 

Exemplar  im  Besitze  des  Herrn  Heinrich  Hirzel  in  Leipzig, 


^)   d.  h.  gestorben. 


^^^]  CHRigTUN  Beuter.  599 

2.  Frankfurt  and  Leipzig  1750. 

Zusammen  mit  den  beiden  Comödien,  doch  nur  die  SBol^Ijcmemteil  ©ebaitdetl. 

VIE  I  LA  MALADIE  ET  LA  MORT  |  DE  L'HONNETE  FEMME  |  {Strich)  \ 
®a«  ift :  I  ®er  d^rltd^en  grau  |  ®äfiampampe  \  SeBcn,  ftrand^eit  |  uub  Zoi,  \ 
in  S^tt)tn  \  Suft«  unb  2;rauer « ®))te(en  |  DotsefteQt,  |  unb  [  flM  bem  f$ran^5« 
[x\6ftn  In  bad  Scutfd^c  |  fiberfcfet  |  öon  |  ®6ftlm\i^bf  Keifcflcfa^rtcn.  |  [Strich)  \ 
gtandfurt^  unb  Sciwtg.  1750i). 

458  Seiten  grösseres  8^,  signiert  a — f,  also  40  Bogen.  Die  Bezifferung  stimmt, 
da  das  Titelbild  zu  dem  ersten  Stücke  auf  das  erste  Blatt  des  Bogens  a  gedruckt  ist. 
Das  Bild  entspricht  dem  oben  besprochenen  Drucke  (I,  2,  a),  ist  aber  charakteristischer 
und  besser  ausgeführt,  so  dass  man  ein  besseres  Original,  als  es  jenes  sein  unirde, 
als  Vorlage  voraussetzen  möchte.  Auf  S.  70  schliesst  das  erste  Stück,  das  keinen 
besonderen  Titel  hat.  Mit  der  unbeziffert  gebliebenen  Seite  74  beginnt  das  zweite 
Stück,  das  seinen  eigenen  Titel  hat:  2)er  |  &)xliiitn  grau  |  Qö^lamlfavxpt  \  ^and* 
^ett  unb  ÜTob  |  3^^^^^  Slfc^anblung,  |  Xud  bem  Stan^öflfti^en  tn9  2:eutf^e  |  fiberfe^t. 

Zu  ihm  ist  ein  Titelkupfer  eingeklebt,  eine  ziemlich  gute  Copie  des  Titelbildes  des 
oben  angezeigten  Druckes  (III,  4) ,  —  Auf  Seite  455  folgt :  Anfang  |  tool^lmcJjncnbet 

©ebanden  |  betet  l^intetBUebenen  |  ^nbet  unb  $auggenof[en  |  be^  bem  @ta6e  |  bet  | 
t^au  <Zö}lampampe,  \  fonjl  |  S)te  el^rlt^e  ^au  |  genannt*  Dieser  Anhang  besteht  aus 
den  oben  schon  erwähnten  boshaft  humoristischen  8  Trauergedichten. 

Exemplare  in  Berlin  und  im  Besitze  des  Herrn  Heinrich  Hirzel  in  Leipzig,  dem 
nur  das  eingeklebte  zweite  Titelkupfer  fehlt. 

V.  Die  Opera,  Hamburg  o.  J. 

Le  Jouvanceau  Charmant  |  Seigneur  Schelmuffsky ,  |  Et  |  L'Honn6te 
Femme  |   Schlampampe,    |  represent^e  \  par  une  |  OPERA  |  sur  le  Theatre 

ä  Hambourg.  \  Ober  |  Der  anmutl^tge  SüngKng  |  ©d^etmuff«!^,  |  unb  |  Die 
e^rlt(!^c  grau  |  @ci^(amj)am<)c,  |  3n  einer  |  OPERA  |  auf  ben  ^amburgifd^en 
Theatro  |  öorgefteHet.  |  (Strich)  \  Hamburg,  |  Oebrudt  im  gütbnen  8UBS. 

80  Seiten  8^,  schon  die  Rückseite  des  Titels  mit  2  beziffert,  signiert  ä — (S. 
Es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  dass  dieser  Druck  die  Editio  princeps  ist,  die  gar 
nicht  wieder  aufgelegt  worden  zu  sein  scheint. 

Exemplare  in  Dresden  und  in  Berlin,  und  im  Besitze  des  Herrn  Buchhändlers 
Heinrich  Hirzel  in  Leipzig. 


^)  Wäre  Gottsched  ganz  zu  vertrauen,  so  müsste  bereits  im  Jahre  4699  eine 
solche  Sammelausgabe  erschienen  sein.  Im  Nöthigen  Vorrath  II,  S.  265  führt  er 
unter  dem  Jahre  4699  als  Zusatz  zu  I,  S.  267  an: 

Der  el^tßc^en  grau  ©ci^Iampampe  Seben,  Ätanfl^eit  unb  lob,  in  jtoe^  8ujl* 
unb  Stauctfpielen ,  iebe«  öon  3  $anblungen,  in  ^xo\a,  emjctn*  gtanifutt  unb 
Selpätg. 

Aber  Jedes  falls  hat  der  Titel  die  Jahreszahl  4699  nicht  enthalten,  denn  das  giebt 
Gottsched  sonst  stets  ausdrücklich  an.  Immerhin  darf  man  annehmen,  dass  es  schon 
vor  dem  Jahre  4750  eine  solche  zusammengedruckte  Ausgabe  gegeben  hat. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  40 


600  Friedrich  Zarngke,  [^6 


VI.  Graf  Ehrenfried. 

®raf  I  e^tenfrteb,  |  in  einem  |  Suft«®pte(e  |  DorgefteUet,  |  unb  |  aRit  3^i: 
ft5nig(.  SRaieftät  |  in  ^o^ten  :c.  k.  nnb  S^urffitftt.  |  S)nrd^t.  }u  ©ad^fen  k.  tc. 
oQergnäbigften  |  S/^eciaZ -JBemidigung  |  unb  ^ttfytii  \  gum  üDrud  befitbert. ; 
(em  Blumenkorb,  darunter  ein  langer  Strich)  \  Anno  M.DGG. 

428  bezifferte  Seiten  8^,  signiert  % — ^,  die  letzten  Seiten  enger  und  kleiner 
gesetzt,  die  Rückseite  des  Titels  leer.  Voran  ein  Kupferstich  in  Quer  4^,  links  m 
Rechtsgelehrter  mit  Allongeperrüke  und  breitem  Hut  auf  dem  Kopfe,    mit  sehr  coit- 

0 

fiscierter  Physiognomie,    einen  Degen    an  der  Seite,    in  der  Rechten  einen  Stab,  in 
der  Linken  ein   beschriebenes  Blatt  haltend  mit  der  Ueberschrift  Intröschen.     Unter 
ihm  steht  Injurius  bet  ^Ud*(S6^xAbet»    Hinter  ihm  zu  seiner  Rechten  [also  links  vom 
Beschauer)  ein  Schreibsecretär,  auf  dem  viele  beschriebene  Blätter  über  einander  lie- 
gen; darüber:  Falsche  DeDunciations- Sachen,  item  Injurien  und    Huren  Processe. 
Die  Hälfte  zur  Rechten  des  Beschauers  stellt  einen  Mann  mit  einem  grossen  Kelch- 
glase  in  der  Hand  dar ,    offenbar  denselben,  den  bereits  das  Bild  zum  Schelmuffskii 
bietet.    Darunter:  $err  Johannes  ÜDer  (ufltge  3Betn«®^en((e.    lieber  ihm:  j£op!  3)n 
(e6eß!  in  SDetnen  SJal^me.     Zwischen  beiden  Personen  steht  ein  Säulentischehen,  auf 
welchem  wieder  viele  beschriebene  Blätter  liegen,  darüber :  (anter  Intrüschen.  —  Zu 
Bogen  %  gehört   ein  Quartblatt  mit  2  Kupferstichen  in  8^.     Der   eine,    wie  drüber 
steht,  zu  Pag.  8S,  stellt  ©raf  (Sl^renfriebd  9ab«(StuBe  dar:  in  einem  geuxilbten,  in 
der  Mitte  durch  eine  Säule  gestützten  Gemache  mit  getäfeltem  Fussboden  wird  der 
Graf  von  5  Personen  geschröpft   und   mit   Wasser  begossen,    während  4  Männer  in 
Allongeperrüke  und  breitkrämpigem  Hut  daneben  stehen.     Das  andere  Bild,  zu  Pag.  91 
stellt  dar  ®raf  Sl^rcnftieb«  Stac^tlaacr:  in  einem  gewölbten  Räume  schläft  der  Capitain- 
Lieutenant,  der  die  Wache  hat,  sitzend  in  einem  Lehnstuhle,  während  der  Graf  tmd 
6  Diener  auf  einer  Streu  liegen.     Ein  Kind  (wohl  Mummelmärten)   im  Hetnde  kriecht 
auf  dem  getäfelten  Fussboden,    und   kraut   dem  Grafen   die  Fusssohlen  [nach  dem 
Stücke  freilich  soll  auch  er  schlafen), 

Fkcemplar  bei  den  Acten,    Königl.  Sachs.  Hauptstaatsarchiv,  Loc.  9708,  Acta 
das  von  Christian  Reutern  verfertigte  Lustspiel  pp.   1700,  Fascikel  A,  Bl.  4  fg. 


4^7]  Christun  Reuter.  601 


VII.  Dramen,  die  möglicherweise  noch  fOr  Christian  Reuter  oder 
seinen  Kreis  in  Anspruch  genommen  werden  l(Onnten. 

1.  Das  bäiügte  Franenzimmer. 

X)ad  I  SSrtigte  |  Stauen«  |  ^m^x,  |  äJotgefteUet  in  einer  |  luftigen  |  So 
ntöbie  I  (Zierleiste j  dann  Strich)  \  ©ebrucft  im  3a^r  4696. 

Nach  Seite  76  beginnt  ein  neues  Stiick: 

$offenf)>ieI,  |  !Z)er  |  Sitte  tyttliAit  unb  |  beraci^te  |  ^e^er,  |  3ean  ^nn. 

(Strich)  I  Anno  4696. 

448  Seiten  42^,  5  Bogen,  signiert  % — S.  Riickseite  des  ersten  Titels  leer. 
Zum  Bogen  9  gehört  auch  das  der  Bezifferung  sich  entziehende  Titelkupfer,  eine 
schlanke,  stattlich  geputzte  und  frisierte  Dame  mit  lang  herabwallendem  Kinnbart 
und  kräftigem  Schnurrbart.  Die  beiden  letzten  Seiten  sind,  um  mit  dem  Räume 
auszureichen,  mit  kleineren  Typen  gesetzt. 

In  den  Acten  heisst  dies  Drama  »die  s.  g.  großbärtigte  Jungfrau«.  Das  war 
also  die  Benennung,  mit  der  das  Buch  im  Volksmunde  bezeichnet  zu  werden  pflegte, 

Exemplare  in  Berlin  und  in  Weimar  [aus  Gottsched' s  Bibliothek), 


2.  Die  Alchymistengesellschaft. 

S)ie  I  iCurd^  fett  jame  (Sinbilbung  |  unb  SSetriegere^  |  ©c^aben  Brin* 
genbe  l  Alchymiften«  |  ©efeüfd^afft,  |  9iad^  |  i^ren  gemö^nlid^en 
9R  er  dm  al^'  |  len  unb  (Sigenfij^afften,  XDtiöft  fle  bon  ftd^  |  f^ül^ren  (äffen,  nebft 
9(nfä^rung  einiger  Difcurfe,  toad  |  bon  ber  Alchymie  }u  l^alten,  xok  aixäf  (Sx* 
}e^iung  et«  |  (id^er  untüd^tigen  ProcefTe:  SBorbe^  andf  bie(e  in  |  Converfation 
gebräud^Iid^e  ^dffßd^e  Sieben,  unb  |  unterfd^iebßd^e  @rg9^(igleiten  }ubefinben,  |  in 
einen  |  nfiftlid^en  .  8uft*®lpiele  |  borgefteCet  bon  |  J.  D.  K.  \  (Darunter  ein 
Druckerstock,  ein  anderer  am  Schlüsse  des  Buches). 

22!7  bezifferte,  aber  falsch  bezifferte  Seiten  42^.  Rückseite  des  Titels  und  letzte 
Seite  leer.  Der  erste  Bogen  (44  Bll.)  trägt  die  Signatur  dC,  der  zweite  beginnt  mit  ^, 
und  so  geht  es  fort  bis  S,  Jener  erste  Bogen,  zu  dem  auch  das  Titelkupfer  gehört,  hat 
(ausser  diesem  und  dem  Titel)  8  unbezifferte  Blätter  mit  der  Vorrede  und  dem  Personen- 
verzeichniss.  Auf  dem  achten  Blatte  rückwärts  beginnt  die  Bezifferung  mit  4  und 
setzt  sich  auf  dem  ersten  Bogen  bis  9  fort,  so  dass  immer  die  geraden  Zahlen  auf 
der  Stirnseite  stehen.  Mit  S  springt  die  Bezifferung  auf  43  über  und  geht  von  da 
regelmässig  weiter.  Die  Vorrede  ist  unterzeichnet :  »dienen  ÜDieuen  ßan«  und  »9torb« 
l^aufcn  bcn  n.  Dec.  |  4  699.« 

Das  Titelkupfer  stellt  eine  sich  weit  hin  erstreckende  Bühne  [also  den  sogen. 
Prospect)  dar,  vor  der  eine  Menge  vornehmer  Zuschauer  stehen,  meistens  dem  Beschauer 
den  Rücken  zuwendend.     Die  Bühne  präsentiert  vorne  den  Harlekin  und  einen  Mann 

40* 


602  Fr.  Zarncke,  Christun  Reuter.  [U8 

in  vornehmer  Kleidung ,  der  einen  Geldbeutel  in  der  Hand  hält  und  sich  im  Kopfe 
krauet.  Im  Prospect  vorne  ein  Arzt  mit  dem  Hamglase,  ganz  hinten  ein  Aldtymist 
im  Ofen  ein  Decoct  umrührend, 

Exemplar  in  Berlin. 

Nach  Gottsched^s  Angaben  im  NÖth.  Vorrath  /,  269  ist  im  Jahre  4700  in  Leipzig 
eine  neue  Ausgabe  erschienen,  die  mir  nicht  bekannt  geworden  ist. 

3.  Der  schlimme  Cansenmacher. 

!Cer  fd^ßtnme  |  Saufentnad^er,  |  33enen  red^tfd^affenen  |  SlbDocaten,  j 
Unb  fonftcn  |  einem  teben  curiofen  Sieb^aber  |  jur  ©elufttgung,  |  Denen  ©ofen 
aber  |  gurSSSamuns,  |  3n einem  |@(]^au«®))ie(e|  artig botgeftellet.  |  (Drucker- 
stock)  I  Sei^jig,  brudtd  3mmanue(  Xie^e,  |  Anno  1704. 

460  richtig  bezifferte  Seiten  8^,  Signatur  ä — S.  Rückseite  des  Titels  leer.  Die 
5  Blatt  einnehmende  Vorrede  ist  noch  unbeziffert;  dann  beginnen  die  Zahlen  sogleich 
mit  45. 

Exemplar  in  Berlin. 


ZWEITER  MHMG. 

Auszüge  aus  den  Acten. 

Lange  habe  ich  geschwankt,  bis  zu  welchem  Umfange  ich  die  Auszüge  aus 
den  Acten  zum  Abdrucke  bringen  solle,  bin  aber  schliesslich  zu  der  Ueberzeugung 
gelangt,  dass  es  sich  empfehle,  lieber  etwas  zu  viel  als  zu  wenig  mitzutheilen, 
um  so  mehr  als  uns  ja  die  Hauptacten,  die  bei  der  Universität  ergangenen, 
welche  die  Denunciationen,  Verhöre,  Verurtheilungen  Christian  Reuter's  enthielten, 
gänzlich  fehlen.  Was  ich  im  Folgenden  mitgetheilt  habe,  ist  vollständig  gegeben, 
einschliesslich  selbst  der  Adressen,  der  Anreden  und  Subscriptionen.  Auch  diese 
gehören  zur  Veranschaulichung  der  Verhältnisse,  oft  {für  den,  der  sie  zu  lesen 
versteht)  auch  der  augenblicklichen  Situation,  und  so  konnte  ihnen  der  wenige 
Raum,  den  sie  einnehmen,  wohl  gegönnt  werden. 

I.  Christian  Reuter  und  die  INüllerischen  Erben. 

1695/96. 

A.  Leipziger  StadtarchlT  XLYI.  152.    (Bficfaercensnr- Acten, 

Yol.  n.  1691—1705). 

(Nr.  4—6.) 

1 .    October  S — 7 :  Vernehmung  der  Wittwe  Müller,  Heybeifs  und  Brandenburger* s. 

Den  5.  Octobr,  4695. 

Fr.  Anna  Rosina,  Eustachij  Müllers  nachgelaßene  Witwe, 

Erschien  auf  erfordern  und  ward  ihr  vorgehalten,  wasmaßen  E.  lobl.  Uni- 
versität E.  E.  Hochedl.  Rathe  hinterbringen  laßen,  daß  sie  sich  alda  wegen 
einer  in  Druck  herausgekommenen  Gomoedie  beschweret,  Dahero  Wolgedachter 
Rath  vor  nöthig  erachtet  hätte,  weil  diesfalls  bey  Ihm  nichts  gesuchet  wor- 
den, sie,  was  es  damit  vor  Bewandnis  habe,  und  warum  sie  es  nicht  aufn 
Rathhause  gesuchet,  zu  vernehmen. 

Worauf  dieselbe  Zur  Antwort  gab,  daß  sie  sich  zwar  obbemelter  Go- 
moedie nicht  angenommen,  noch  dieserwegen  einigen  Verdacht  auf  iemand 
gehabt,  nachdem  aber  bishero  des  Nachts  nicht  allein  etliche  Personen  vor 
ihr  Haus  gekommen  und  sowol  vor  als  auch  gar  zum  Fenster  hinein  geruffen 


'^ 


604  Friedrich  Zarncke,  [150 

hätten  »ach  die  ehrliche  Frau«,  und  diese  Worte  »Schelmufskyd)  darbey 
gebrauchet,  überdies  des  Abends  Jungen  vors  Haus  getreten  und  darvon 
gesungen,  sondern  auch  Griebner,  Herrn  L.  Griebners  Sohn,  gestern 
mit  ihrer  Kinder  Informatorn  davon  geredet,  und  daß  solche  gedruckte  Go- 
moedie  auf  sie  'gemachet  sey  vermeldet,  mit  weiterer  Anführung,  als  ob  in 
solclier  das  in  ihrem  Hause  befindliche  neue  Gebäude  übern  WaBertrog  ganz 
deutlich  enthalten  wäre,  hiemechst  auch  an  dem  sey,  daß  zweene  Studenten, 
nahmendlich  Kr  eil  und  Reuter,  bey  ihr  gewohnet,  welche  sie  aber,  weil 
dieselben  keinen  Pfennig  Miethzins  entrichtet,  nicht  länger  bey  sich  leiden 
wollen,  und  sie  dahero  dieser  Gomoedie  halber  einigen  Verdacht  auf  dieselben 
gehabt,  so  hätte  sie  dieses  bey  E.  löbl.  Universität  denunciret,  es  würde 
auch  noch  iezo  daselbst  gedachter  Praeceptor  deswegen  vernommen.  Bran- 
denburger habe  imterschiedliche  Exemplaria  von  solcher  Gomoedie  ver- 
kaufil,  bitte  daß  ihm  dergleichen  untersaget  werden  möchte,  indem  sie 
gar  sehr  besorge,  wofeme  diesem  Geschrey  an  ihrem  Hause  nicht  gesteuert 
würde,  daß  dadurch  leichtlich  gros  Unglück  entstehen  möchte,  indem  ihr 
ältester  Sohn  heute  oder  morgen  heimkommen  und  es  nicht  leiden  würde. 

Martin  Theodor  Heybey,  Buchhändler  alhier. 

Erschien  auf  gleichmäßiges  erfordern  und  meldete  auf  befragen,  dafi  er 
vorherbeniemte  Gomoedie,  nachdem  selbige  von  Herrn  M.  Em  est  i  vor  U. 
Tagen  censiret  worden  sey,  bei  Brandenburgern  habe  drucken  lafien, 
wie  denn  auch  das  geschriebene  Exemplar  mit  der  Censur  bey  selbigen 
annoch  befindlich  wäre.  Solches  hätte  er  anfUnglich  von  einem  Purschen 
in  blauer  Kleidung,  der  bey  dem  Advocaten  Hm.  Gözen  sich  aufhalte,  deBen 
Namen  er  nicht  wiße,  bekommen,  und  habe  derselbe  darbey  gesagt,  daS 
sie  es  von  einem  Comoedianten  empfangen ,  und  daß  solche  Gomoedie  be- 
reits zu  Nürnberg  gespielet  worden  sey;  es  wäre  auch  ein  ander  Student, 
namens  Reuter,  bey  obgedachten  Purschen  gewesen,  als  ihm  diese  Go- 
moedie zu  drucken  gebracht  worden,  der  jenen  wol  würde  zu  nennen  wiBen. 
Wie  er,  Heybey,  diese  Gomoedie  censiren  laßen,  hette  Herr  M.  Ernesti 
gesagt,  es  schiene,  als  ob  solche  iemand  beträffe,  doch  hoffe  Er,  daß  sich 
niemand  deßen  annehmen  würde.  Er  habe  deren  bereits  400.  Exemplaria 
verkaufft,  und  düncke  ihm  nichts  anzügliches  darinne  zu  seyn  als  etliche 
Proverbia^),  dergleichen  Hr.  Weiße  in  seinen  Schrifften  öffters  gebrauche. 


^)  Nur  dies  eine  Wort  ist  zu  Protokoll  genommen;  vielleicht  ward  auch  noch 
»Der  Tebel  hohl  mera,  )>£i  sapperment«  u.  A,  gerufen, 

2)  Dafür  heisst  es  in  Heyhey' s  Aussage  vom  22.  October  » Sprichwörter«,  d.  h. 
Redensarten,  hier  volksthümliche  Wendungen,  nicht  Sprichwörter  in  unserem  Sinne. 
Vgl.  in  Weise's  Markgraf  von  Ancre :  »Carl,  Wo  ist  endlich  der  Görper  blieben? 
Leo,  Nirgends  und  allenthalben.  Carl,  Der  Herr  Bruder  versucht  mich  heute 
mit  dunkeln  Sprichwörtern«.  —  So  ist  z.  B.  von  Weise  das  »Wirthshaus  zur  gül- 
denen Laus«,  die  »Frau  Mutter  Sprache«,  vielleicht  auch  die  beliebten  Scheltworte 
Rabenaas,  Bärenhäuter  u.  ä.,  die  Eselswiese,  Redewendungen  wie  »Zeit  hat  Bhre«, 
»Wer  läßt  fragen?«  »Was  giebts  Junges?«  u,  s.  w. ,  manche  Namen  wie  Ursel, 
Blandine,  Courage ;  ja  selbst  in  Betreff  der  für  Reuter  besonders  bedenklich  gewor- 
denen Redewendung  »So  wahr  ich  eine  ehrliche  Frau  bin«  hätte  er  sich  auf^^" 


^^^]  Chhi8tian  Recter.  605 

Hierauf  ward  ihm  angedeutet,    daß   er  ein  Exemplar  mit  dem  darauf 
befindlichen  Holzschnitte^)  herauf  geben  solle. 

Johann  Christoph  Bandenburger 
Gestehet  auf  befragen,  daß  er  mehrbemelte  Gomoedie  von  Heybey  em- 
pfangen und  gedrucket,  produciret  zugleich  das  geschriebene  Concept  hier- 
von, samt  Herrn  M.  Ernesti  darauf  befindlicher  Censur,  saget  darbey  fer- 
ner, daß  der  Autor  ein  Student  sey,  und  Heybey  solchen  wol  kennen 
würde.  Es  wären  600  Exemplaria  von  ihm,  iedoch  die  wenigsten  mit  dein 
vorne  anstehenden  Holzschnitte,  gedruckt  worden. 

Den  6.  Octobr.  4695. 
Ist  in  Namen  derer  Herren  Bttcher-Commissarien  dem  Buchhändler  Martin 
Theodor  Heybey  durch  mich  endesbenanten  angedeutet  worden,  daß  er 
bis  auf  weitere  Verordnung  von  obbeniemter  Gomoedie  femer  kein  Exemplar 
verkauffen  solle.  Welches  demselben  in  seinem  Buchladen  selbst  vermel- 
det habe. 

Joh.  Andr.  Ruh  tisch  NPG  &  jur.  Begistrator  mpr. 

Den  7.  Octobr.  4695. 
Wurde  Martin  Theodor  Heybey  anderweit  aufs  Rathhaus  erfordert,  und 
nochmals  befraget,  ob  er  nicht  wüste,  wie  diejenige  Person  in  blauer  Klei- 
dung, welche  diese  Gomoedie  ihm  zum  Druck  ofiferiret,  mit  Namen  heiße? 
Worauf  er  zwar  solches  anfänglich  mit  nein  beantwortet,  endlich  aber,  nach- 
dem  er  sich  eine  Weile  besonnen ,  vermeldet ,  wie  ihm  iezo  beyfalle ,  daß 
derselbe  Bär  heiße,  und  ist  sodann  das  ihm  gestriges  Tages  beschehene  Ver- 
bot, solche  Gomoedie  weiter  niemand  zu  verkauffen,  de  novo  wiederholet 
und  er  also  dimittiret  worden. 

Joh.  Andr.  Ruh  tisch  NPG  d:  jur.  Begistrator  mpr. 

2.     October  7 :    Klagschrift  der  Witiwe  Müller  an  den  Stadtrath. 

Denen  Magnificis,  Hochedlen,  Vesten,  Großachtbahren,  Hochgelahrten, 
Hochweisen,  deß  Hochlöbl.  Stadt  Regiements  zu  Leiptzigk  Hooh- 
verordneten  Herren  Bürger  Meistern  und  Rathsmännem,  Ihren 
Hochgeehrten  gebietenden  Herren. 

Praes.  d.  7.  Octobr.  4695. 

Magnifici,  Hochedle,  Veste,  Großachtbare,  Hochgelahrte, 
Hochweise,  Hochgeehrte  gebietende  Herren. 

Bey  E.  Hochedl.  und  Hochwdl.  Rath  kan  ich  ungerüget  nicht  laßen,  wie 
von  einigen  meinen  wiederwärtigen  auf  mich  und  meine  Kindere  alhier  ein 


düngen  bei  Weise ^  berufen  können.  So  z,  B.  im  Bäurischen  Machiavell:  »So  will 
ich  keine  ehrliche  Gerichts-Scholtzia  sein,  wo  Euch  nicht«  u.  s.  w, ,  und  in  der 
Verkehrten  Welt:  »Ists  nicht  wahr,  ich  bin  die  ehrlichste  Handels-Frau  in  der 
Stadt?« 

^)  Das  ist  hier  wie  in  Brandenburger' s  Aussage  ein  Versehen  für  Kupferstich; 
in  dem  Klagebriefe  der  Wittwe  Müller  und  in  Reuiefs  wie  Heybey's  Aussagen  findet 
sich  die  richtige  Angabe, 


I 


606  Friediich  Zarnckb,  [452 

schimpffliches  Pasqvill,  so  in  unterschiedlichen  Bogen  Pappiere  bestehen  soll, 
mit  einem  Kupfferstttck,  darauf  mich  alB  eine  weibes  Persobn  abbilden  und 
darunder  diese  werte  sagen  laßen  ^@o  xsi^x  a(g  vSs^  eine  e^rüd^e  ^m  Bin^ 
welches,  wie  verlauten  will,  Johann  Christoph  Brandenburger  alhier 
Buchdrucker  gedrucket,  und  Martin  Theodorus  Heubein  Buchftthrer  albier 
in  groBer  menge  albereit,  mir  und  denen  Meinigen  zum  höchsten  Schimpff 
öffentlich  und  ohne  scheu  verkauffet  haben  soll,  und  aber  ich  so  schlechter 
Dinge  hinter  solche  Pasqvillanten  zu  kommen  nicht  vermag,  ehe  und  bevor 
so  wohl  der  Buchdrucker  Brandenburger,  wer  ihm  solches  zu  drucken 
bracht,  alß  auch  der  Buchführer  Ueubein,  wer  solchen  Schimpffiichen 
Pasqvills  Verleger,  und  zwar  ieder  mit  seinem  £yde  anzeigen  mufi,  flber- 
diß  mir  zu  Ohren  kommen,  wie  nicht  nur  solches  Pasqvill  noch  häuffiger 
gedrucket  und  divulgiret ,  sondern  auch  diso  Michaelis  MeBe  gar  durch  die 
angelangende  Comoedianten  gespiehlet  werden  solte; 

Wann  aber.  Hochgeehrte  Herren,  ich  solchen  großen  Schimpff,  so  mir 
durch  solches  Pasqvill  angethan  wird,  zuverschmertzen  nicht  vermag,  hin- 
gegen die  Pasqvillanten  nicht  nur,  sondern  auch  die  Pictores,  Sculptores  et 
Typograpbi  librorum  famosorum ,  so  solche  drucken  und  zum  verkauff  be- 
fördern, gleichfalls  secundum  constit.  Crim.  Carol.  V  und  GhurfÜrstl.  Sachs. 
Constit.  exemplarisch  zu  bestraffen; 

Alß  wil  Ew.  Magnific.  Hochedl.  Großachtb.  und  Hochwdl.  ich  demüthigst 
angesuchet  haben,  Sie  geruhen  großgünstig,  solchen  Buchdruckern  Branden- 
burgern nicht  nur,  daß  Er  also  bald  den  Autorem,  wer  ihm  solches  zu 
drucken  bracht,  mit  seinem  cörperlichen  Eyde,  auch  alle  und  iede  Eiem- 
plaria,  so  er  noch  etwann  unter  der  Preße  oder  sonst  noch  liegen  haben 
möchte,  alsofort  ohn  allen  Verzug  anzeigen  und  herausgeben,  alß  auch  den 
Buchführer  Heübein,  daß  er  gleichfalls,  den  Verleger,  und  was  Er  noch 
an  Exemplaren  von  solchem  Pasqvill  in  seinem  Buchladen  in  Druck  liegen 
habe,  jurato  darstellen,  auch  so  fort  beyderseits  in  Persohn  sich  sistirea, 
über  solche  unternommene  höchst  straffbare  Begünstigungen  rede  und  ant- 
wort  geben  sollen ,  citiren ,  sodann  solche  confisciren ,  auch  an  die  auf  die 
ietzige  Michaelis [meße]  angelangende  Comoedianten,  daß  sie  dergleichen  Pas- 
qvill in  ihrer  Comoedia  nicht  exerciren,  noch  ferner  durch  den  Kauff  divul- 
giret werden  solle,  bey  hoher  Straffe  an  allerseits  inhibiren  zulaßen,  wie  ich 
dann  dise  höchststraffbare  Pasqvill  Sache  E.  HochEdl.  Hochwdl.  zur  Inqui- 
sition und  Bestraffung  hiermit  anheim  stellen  und  übergeben  thue.  Geben, 
Leiptzigk  am  7  Octobr.  4  695. 

E.  HochEdl.  Hochwdl.  Baths 

Demüthigste 
Anna  Bosina  Moll  er  in  W. 

Hierauf  hat  E.  E.  Hochw.  Bath  dieser  Stat  über  das  an  Martin  Theodor 
Heybeyen  schon  gelhane  Verbot  auch  unterm  Bathhause,  das  geklagte  Werck 
nicht  zu  verkauffen,  Verbot  thun  laßen,  am  8  Octobr.  4695. 


^53]  Christian  Redtbr.  607 

3.     October  IG — 22:    Vernehmung  Bähr's,  Reuter* s  und  Heybey^s. 

Den  10.  Octobr:  4695. 

Samuel  Rudolph  Bahr, 

Erscheinet  und  saget  auflf  Befragen,  vor  8.  oder  9.  Wochen  were  Reuther 
zu  ihm  kommen  und  gesaget,  er  hette  eine  Comoedie  und  Nachspiehl, 
ob  die  Comoedianten  herkähmen,  die  könten  es  agiren,  es  were  ein  artlich 
Ding.  Hernach  were  er  mit  Heubeinen  zu  ihn  in  blauen  Engel  kommen 
und  gesaget,  er  hette  die  Comoedia  Hr.  M.  Ernesti  zur  Censur  gebracht, 
er  wolte  es  aber  nicht  censiren,  er,  Bahr,  solte  mit  hingehen  und  spre- 
chen, er  hette  Sie  von  Comoedianten  bekommen,  er,  Reuther,  wolte  es 
nicht  gerne  wißen  laßen,  daß  er  Sie  gemachet.  Er  were  aber  nicht  mit^ 
gangen,  sondern  Reuther  und  Heubein.  Dieser,  als  er  vom  Rathhause 
kommen^],  hette  gesaget,  daß  er  ausgesaget,  daß  er,  Bahr,  die  Comoedie 
von  Comoedianten  bekommen ;  er  hette  diesen  wiedersprochen  und  zu  H  e  u  - 
b einen  gesaget,  daß  er  solches  nicht  als  ein  ehrlicher  Mann  geredet.  An- 
iezo  were  Reuther  hier  in  Collegio  gewesen  und  zu  ihn  gesaget,  er  solte 
nicht  sagen,  daß  die  Comoedie  von  ihm  herkähme,  sondern  als  wenn  er  sie 
von  Comoedianten  bekommen.  Heubein  hette  gestern  zu  ihn  gesaget, 
Reuther  hette  gedacht,  daß  er  diese  Comoedie  vermehren  wolte. 

Actum  ut  supra. 
Christophorus  Scheffler  mpr.  Acad:  Actuarius. 

Den  12.  Octob:  1695. 

Christian  Reuther, 

Erscheinet  auff  Erfordern  und  saget,  es  were  ihm  die  Comoedie  Don 
ber  e^rßd^en  ^^Vi  bekant,  gestehet,  daß  er  selbige  gemacht,  hette  Sie  fin- 
giret  und  auf  niemand  gemacht.  Gestehet,  daß  er  bey  der  Müllerin  im 
Hause  gewohnet,  und  daß  er  ie  zuweilen  von  ihr  gehöret,  daß  Sie  gesaget 
»fo  XooifC  td^  eine  d^rltd^e  grau  6in*,  es  weren  lauter  nomina  ficta  und  eine 
Begebenheit,  so  nicht  vergangen,  sondern  von  ihm  fingiret;  von  dem  ältesten 
Müllerischen  Sohne  hette  er  den  Schwur  nicht  gehöret,  sondern  von  einen 
zu  Merseburgk,  welcher  4.  Wochen  weggewesen,  und  als  er  wiederkommen 
frembde  reden  wollen.  Von  dem  Kupffer  wüste  er  nichts  und  mttste  davor 
der  Buchführer  Red  und  Antwortt  geben;  die  Comoedie  hette  er  allein  ge* 
macht  und  ihm  Niemand  geholffen,  hette  Sie  aus  den  MoUiere  meistens  ge* 
nommen.  Negiret,  daß  nach  der  Censur  er  ein  und  anders  darzugebracht. 
Negiret,  daß  er  solche  Comoedie  auff  die  Müllerin  und  ihre  Töchter  ge- 
machet, sondern  könte  mit  guten  Gewißen  seh  wehren,  daß  alles  fingiret; 
negiret,  daß  er  durch  den  Doctorem  Medicinae  Feinlanden  Dr.  Schönfelder 
aus  Schlesien  gemeint. 

Actum  ut  supra. 
Christophorus  Scheffler  mpr.  Acad:  Actuarius. 


1)  Doch  wohl  am  7.  October,  vielleicht  schon  am  5,  October,  wo  freilich  Heybey 
Bähr's  Namen  noch  nicht  genannt  hatte. 


608  FitiEDRiCH  Zarngkb,  [154 

Den  28.  Octobr.  4695. 

Martin  Theodor  Heybey 

Erschien  auf  erfordern,  und  ward  nochroahis  wegen  der  Comoedie,  bie 
el^rltd^e  f$rau  tituliret,  vernommen.  Sagte  darauf  aus:  Es  wäre  an  dem,  daB 
er  die  Comoedie  von  Reutern  bekommen,  habe  sie  zwar  erstlich  nicht  an- 
nehmen wollen,  nachdem  ihm  aber  Reuter  versichert,  daß  niemand  darinne 
benennet,  auch  niemand  sichs  annehmen  würde,  so  hette  er  es  zu  Hr.  M. 
Ernesti  zur  Censur  geschickt,  der  ihn  aber  selbst  zu  sich  begehret  und 
nur  wegen  des  angehenglen  Ätnbtauffcn'Sd&mauffc^  etwas  erinnert  *) ,  Im  tlbri- 
gen  aber  das  Werk  censiret,  und  er  darauf  Reutern  10  Thlr.  davor  be- 
zahlet, und  es  zu  drucken  gegeben,  weil  ein  Verleger  die  Sachen  nicht  ver- 
stünde, und  wenn  etwas  censiret,  es  daran  genug  zu  seyn  vermeinte. 
Reuter  habe  erstlich  vorgegeben,  er  habe  die  Comoedie  von  Gomoedianten 
bekommen;  Gestehet  nicht,  daß  er  vorgegeben.  Rar  habe  die  Comoedie 
gemacht,  noch  auch  daß  Reuter  dieselbe  vermehren  wollen ;  Gestehet,  daß 
er  das  Rild  vor  sich  darauf  machen  laßen,  damit  es  desto  beßer  abgehen 
möchte,  wie  insgemein  vor  Romanen  allerhand  inventiones  pflegten  gemacht 
zu  werden.  Gestehet,  daß  er  nach  dem  Verbot  Exemplarien  an  Buchftthrer 
gegeben;  was  wären  ihm  selbige  sonst  nüze  gewesen,  weil  er  doch  ein- 
mahl  die  Kosten  drauf  gewendet  gehabt,  Wil  nicht  wißen,  daß  Reuter 
gesagt,  er  weite  nicht  gerne  wißen  laßen,  daß  er  die  Comoedie  gemacht; 
Reuter  habe  gesagt,  er  wolle  ihm  davor  stehen.  Er 2}  habe  etliche  Sprich- 
wörter hineingsezet,  die  er  sonst  gehöret. 

Joh.  Andr.  Ruh  tisch  NPC  &  jur.  Registrator  mpr. 

4.     Nov./ß.  December:    Urtheü  der  Leipziger  Schoppen,  Heybey  betr. 

Denen  Ehrenvesten  Großachtbahren  Hoch-  und  Wohlgelahrten,  Hoch 
und  Wohlweisen  Herren  ßürgemeister  und  Rathe  zu  Leipzigk 
Unseren  günstigen  Herren  und  guten  Freunden. 

Unser  freundlich  Dienst  zuvom,  Ehrenveste  Großachtbahre, 
Hoch   und   Wohlgelahrte,    Hoch    und   wohlweise,    günstige 

Herren  und  gute  Freunde, 

Als  Dieselben  Uns  gehaltene  gerichtliche  registraturen  Martin  Theodor 
Heybeyen  betreffendt  benebenst  einer  Frage  übergeben,  und  sich  des 
rechten  darüber  zu  belemen  gebethen  haben. 

Demnach   sprechen   wir  Churfürstliche  Sächsische  Schoppen 
zu  Leipzigk  darauf  vor  recht, 
Daraus  so  viel  zu  befinden,   daß  Martin  Theodor  Heybey  seiner  Be- 


^)  Vielleicht  ward  auf  sein  Verlangen  der  Zusatz  im  Personenverzeichniss  zu 
Harleqvin  »FreyHerr  zu  Narrenshaußen «  als  für  den  Adel  anstössig  getilgt.  Sonst 
finde  ich  im  Manuscript  keine  Correctur,  die  auf  den  Censor  zurückgeführt  werden 
könnte. 

2)  Doch  wohl  Reuter ;  denn  unmöglich  kann  sich  Heyhey  hier  ganz  unnötkig  als 
Mitarbeiter  hinstellen,  während  er  oben  ausdrücklich  erklärt  hat,  dass  ein  Verleger 
von  diesen  Sachen  Nichts  verstehe. 


455]  Ghkistian  Reuter.  609 

gttnstiguDg  halber  umb  Zehen  Thaler  zu  bestraffen,  sowohl  zu  Erstattung 
derer  verursachten  Unkosten,  nach  vorgehender  Liqvidation  und  richterlicher 
ErmdBigung,  anzuhalten.  Von  rechts  wegen.  Zu  Uhrkundt  mit  unsem  In- 
siegel  versiegelt. 

M.  Novembr.  4695. 

Churfttrstliche  Sächsische  Schoppen  zu  Leipzigk. 

Den  6.  Decembris  4695.  h.  X.  audita  ist  dieses  Urthel  Martin  Theodor 
Heybeyen  publiciret,  vorgelesen  und  demselben  nachzukommen  andeutung 
gethan  wx)rden. 

Gotfried  Gräve,  Oberstatschr.  mpr. 

5.     December  9:    Reclamation  Heybey^$. 

Denen  HocbEhrwürdigen,  Magnificis,  HochEdlen,  Vesten,  Hoch-  und 
Wohlgelahrten  auch  Hochweisen  Herrn  Valentine  Alberti,  der 
H.  Schriffl  Hochberühmten  Doctori,  des  Chur-  und  Fttrstl.  S.  Con- 
sistorii  alhiero  hochverdienten  Assessor!,  wie  auch  P.  P.  des  Großen 
FttrstenCoUegii  Collegiato,  Decemviro  und  derer  Stipendiaten 
Ephoro  daselbsten, 

so  wohl 

Des  Hochlöblichen  Stadt  Regiments  Hoehansehnlichen  Herren  Bürger 
Meistern  undRath,  Churfürstl.  Sachs,  gnädigst  verordneten  Bücher- 
Commissarien  p.  p.  Meinen  HochgeEhrtesten  Herren  und  Großen 
Patronen  p. 

Praes.  d.  9.  Decembr.  4695. 

HochEhrwürdiger ,  Magnißci,    HochEdle,  Yeste,  Hoch- 
und  Wohlgelahrte,    auch    Hochweise,    HochgeEhrteste 

Herren  und  große  Patroni. 

Ew.  HochEhrwürden,  Magnificenz-HochEdi.  Herrl.  und  Hochweißhl.  haben 
auff  eingehohltes  rechtl.  Erkänntnus  am  6.  dieses,  dieweil  ich  wieder  verboth 
das  Buchl.,  bte  (Sl^xßd^e  SratD  3^  $(egtne  benahmt,  verkaufft  haben  solte,  mir 
40  Thl.  Straffe,  nebenst  allen  veruhrsacheten  Unkosten  zu  erlegen  angedeutet. 

Wann  aber  4.)  das  Buchl.,  wie  albereit  dargethan,  censiret  worden,  und 
dahero  2.]  in  solchen  Fall  es  das  Ansehen  hat,  als  ob  ein  schlecht  verboth 
so  harte  nicht  binden  kOnte,  sondern  3.),  ehe  mit  der  Schärffe  zu  ver- 
fahren sey,  eine  poenal  prohibition  vorhergehen  müße,  so  aber  in  dieser 
Sache  niemals  geschehen;  sonsten  auch  4.)  nach  dem  verboth  ich  mich  aller- 
dings und  zwar  dergestalt  vorgesehen,  daß  ich  an  Niemand  Hiesigen  und 
dem  die  darinne  mir  anfangs  ganz  unbekannte,  nachgehends  aber  durch  ge- 
wisser Persohnen  auff  sich  selbst  gerichtete  application  erst  public  gemachte 
historie  wissend,  etwas  weiter  verlassen,  hingegen  5.)  nichts  straff bahres 
begangen  haben  werde,  wann  nach  albereit  beschehenen  Geständnüs  ich 
etwas  weniges  an  einen  auswärtigen  Buchführer,  der  keine  Wissenschafil 
von  gedachter  historie  gehabt  und  hier  nichts  wieder  verkaufft,  verthan, 
sintemahl  diese  distrahirung  zu  Niemands  Beschimpfung  angesehn  gewesen, 


610  Fbiedrich  Zajuicke,  [136 

bey  welcher  Bewandnüs  6.)  animo  et  occasione  iojuriandi  cessante  auch  ver- 
both  und  Straffe  cessiren  wird,  zu  dem  ich  doch  7.),  obwohl  mit  Fremden, 
dem  iezigen  Anführen  genias,  ohne  negligirung  des  schlechten  Verboths, 
wegen  der  Yerlagskosten ,  zu  handeln  ich  vermeinet^  weiter  nichts  vor- 
genommen und  von  allem  ferneren  Handel  aus  respect  gegen  die  gnädigst 
verordnete  BttcherCommission  abgestanden,  und  also  8.)  lieber  Schaden  leyden 
als  ungehorsahm  seyn  wollen,  welches  dann  9.)  mich  sehr  unvermögend  ge- 
machet, die  angesonnene  Straffe  und  Unkosten  zu  erlegen,  dabey  aber 
40.)^)  hoffen  lasset,  es  werde  mein  Zustand,  der  bey  mir  als  einen  jungen 
Anfänger,  dem  eher  Mittel,  sich  recht  zu  Stabiliren,  vorzuschießen  als  zum 
baldigen  min  durch  Straffen  zu  entziehen  seyn  wollen,  so  schlecht  ist,  daB 
ich  manche  Woche  kaum  mit  meiner  Einnahme  an  das  qvantum  der  dictirteo 
Straffe  gelangen  kann,  in  hohe  Consideration  genommen  und  die  Schärffe 
des  strengen  Rechtens  durch  sorgfältige  Lindigkeit  überwogen  werden,  Ge- 
stalt denn  dieses  Alles  und  noch  viel  anderer  wicht{ig]er  motiven  Hochgeneigt 
zu  überlegen,  hingegen  dieses  mein  vielleicht  einzig  und  allein  aus  allzu- 
weniger  Erwegung  herrührendes  und  erstes  wenige  Versehen  nicht  so  hoch 
zu  exaggeriren,  und  mich  mit  Abforderung  einiger  Straffe  und  Unkosten  vor 
diesesmahl  mild  richterlich  zu  verschonen  ich  gehorsabm  bitte ,  darneben  zu 
allen  respect  und  genauer  Observanz  derer  mir  künfitig  zukommenden  Befehle 
und  Verordnungen  mich  verpflichte  und  in  Versicherung  erfreulieber  re- 
solution  iederzeit  verharre 

Ew.  HochEhrwürdl:  Magniflcenz-  HochEdl.-  Herrl.-  und 

Hochweißl. 

Datum  Leipzigk  Martin  Theodor  Hey  bey  mpr. 

Den  9.  Decemb:   4695.  Buchhändler 

Rl.  sol  die  Straffe  erlegen,  hernach  bitten.  Dieses  ist  Martin  Theodor 
Heybeyen  auf  dem  Rathhause  mündlich  angedeutet,  am  46.  Decembr.  4695. 
welcher  bis  auf  die  Meße  um  frist  gebeten,  und  so  dann  die  Straffe  za  er- 
legen versprochen. 

6.     Januar  20:    Abermalige  Reclamation  und  Bitte  Heybey's. 

Denen  Magnificis,  Hoch  und  WohlEdlen,  Vesten,  Hoch-  und  Wohi- 
gelahrten.  Hoch  und  Wohlweißen  Herren  Bürgermeister  und  Rath 
der  Stadt  Leipzig  p.  Meinen  Hochgeehrtesten  Herren  und  großen 
Patronen  Leipzig. 

Praes.  d.  20  Januarij  4696. 

Magnifici,  Hoch  und  WohlEdle,  Veste,  Hoch  und 
Wohlgelahrte,   Hoch  und  Wohlweiße 

Hochgeehrteste  Herren,  Große  Patroni. 
Ob  ich  wohl  in  der  gänzl.  Meynung  gewesen  ^   Ewr.  Magnif.  und  Hoch- 
Adel.  Herrl.  würden  meiner  neulichsten  Supplic  hochgeneigt  deferiret  haben, 


^)  geschrieben  steht  nochmals  9, 


4^7]  Ghristun  Reuter.  611 

und  die  mir  zuerkante  vermeinte  Straffe,  in  Ansehung  ich  ein  junger  An- 
fänger, das  wenige  so  ich  in  Vermögen  habe,  von  ehrlichen  Leuten  erborget, 
erlaBen  haben,  So  muB  ich  vor  iezo  dennoch  nicht  ohne  sonderbahre  6e- 
mttths-Kränkung  vernehmen,  wie  daß  ich  nicht  nur  wegen  Erlegung  ob- 
benandter  Straffe  citiret,  sondern  auch  überdies  ein  Expens  Zettel  von 
4  Thlr.  40  gr.  zugeschicket  worden.  Nun  ich  zwar  vermeinet,  meine  an* 
geführten  Ursachen  würden  relevant  genug  seyn  zu  tilgung  dieser  zuerkandten 
Straffe,  sintemahl  das  Tractl.  von  Tit.  Herr  M.  Ernesti  censiret,  und  also 
nicht  mir  zu  imputiren,  sondern  derjenige  solte  es  verantwortten ,  durch 
deBen  ZulaBung  und  permission  es  ist  gedruckt  worden;  damit  ich  aber 
dennoch  meinen  schuldigen  gehorsam  beweise,  so  erbiethe  mich  zu  erlegung 
der  Uncosten ,  die  zuerkandte  Straffe  aber  werden  Ewr.  Magnif.  und  Hoch- 
Edl.  Herrl.  mir  in  ansehung  obangeführten  Ursachen  hochgeneigt  erlaBen. 
Welche  hohe  Gnade  ich  zeit  Lebens  werde  rühmen  und  dafür  verharren 

Ewr.  Magnif:  und  Hochadel.  Herrl. 

gehorsamster 
Leipzig  d.  20  Januarij  Martin  Theodor  Heybey  mpr. 

1696.  Buchhändler. 

Den  Sl.  Januarij  1696  hat  Martin  Theodor  Heybey  die  zuerkanten 
1 0  Thlr.  straffe  nebst  denen  GerichtsgebUren  erlegt,  und  sind  ihm  auf  sein 
Bitten  von  der  Straffe  vier  Thaler  zurück  gegeben  und  erlaBen  worden. 


1696/97. 

B.  Leipziger  Stadt-Archiv  XLTL  157.  (Commission  Acta  Annen  Bosineii 
Möllerin  wegen  einiger  schimpfliehen  Schrllfteii  auf  ihren  Sohn  und 

Tochter  betr.    Anno  1696.) 

(Nr.  7—17.) 

7.     August  15:    Klagsdirift  der  Wittwe  Müller  an  den  Churfürsten. 

Dem  Durchlauchtigsten  Fürsten  und  Herrn,  Herrn  Friderico 
Augusto,  Herzogen  zu  Sachßen  (folgt  der  ganze  Titel)  Meinem 
Gnädigsten  Herrn 

Praes.  d.  20.  Aug.  4696. 

Durchlauchtigster  Churfürst , 
Gnädigster  Herr, 

Eure  Churfürstl.  Durchl.  geruhen  gnädigst  Ihr  von  mir  mit  betrübnis- 
vollen gemüthe  in  aller  Demuth  unterthänigst  hiermit  vortragen  zu  laBen, 
wie  daB  ohnlängst  ein  so  genanter  Studiosus,  nahmens  Christian  Reuther, 
nach  Art  einer  Comoedie  und  unter  dem  Titul  bte  (Sl^rßd^e  i^au  eine  üppige 
und  höchst  schimpfifliche  Schmähschrifft  und  Pasqvill  auf  mich  und  meine 
Rinder,  nebst  andichtung  schändlicher  Zunahmen,  zu  unserer  grösten  Be- 
schimpfung nicht  nur  in  Schrifften  verfertiget,  sondern  auch  selbiges  ver- 
mittelst eines  heimlichen  Verlegers,  iedoch  |:  wie  alle  PaBqvillanten  Pflegen  : 


612  Friedbigh  Zarngkb,  [<58 

ohne  BeyfttguDg  seines^  ingleichen  des  Truckers  und  des  Verlegers  Nahmeos. 
auch  auBenlaBung  des  Orihes,  gar  zum  öffentlichen  Truck  befördert  und 
verkauffen  laßen;  Nun  ist  zwar  obgenanter  Pasqvillante ,  nachdem  Yorhero 
viele  indicia  wieder  ihn  sich  geäußert,  bey  hießiger  Löbl.  Universität  in 
gefängliche  Hafft  genommen  und  wieder  ihn  mit  der  inqvisition  verfahren, 
auch  nach  dem  Er  zu  oben  berührter  SchmähSchriffl  sich  als  autor  bekennet, 
und  daß  darinne  auf  meine  und  derer  meinigen  Beschttmpffung  Er  sein  ab- 
sehen gerichtet,  eingeräumet,  Ihm  die  relegation  auf  einige  Jahre  zuerkant 
worden,  alleine  es  hat  die  execution  solches  Urthels  der  Pasqvillante  unter 
den  praetext,  eine  defension  wieder  selbiges  zu  fuhren,  biß  dato  gehindert, 
da  dann  inzwischen  eine  auf  meinen  in  vorigem  Pasqvill  unter  den  schimpff- 
lich  angedichteten  Nahmen  Schellmuffsky  eingeführten  Sohn  gerichtete  ander- 
weitige Schmähschrifft  unter  dem  Titul  ©ci^eQmuffdlV  Steifebefd^reibttiig  mit 
gleichmäßiger  Verschweigung  des  autoris ,  Truckers  u.  Verlegers  nicht  nur 
bereits  in  öffentlichen  Truck  gekommen  und  hin  und  wieder  vertrötelt  wor- 
den ,  sondern  auch  gewiße  Nachricht  eingelauffen ,  und  biemächst  die  ge- 
meine sage  ist,  daß  noch  zwey  üppige  und  schändliche  schaiähschrifften  auf 
meine  beiden  Töchter  bereits  unter  der  Trucker  Preße  wären  und  ehestens 
herauskommen  würden,  über  welcher  Verfertigung  wieder  den  vorigen  Pas- 
qvillanten  Reuthern   auch  einige  indicia  sich  hervorthun  wollen; 

Wann  dann  so  wohl  das  Verfertigen  und  Dichten,  alß  auch  das  Truckeo 
und  Verkauffen  derer  Schmäh-Schrifften  in  denen  Rechten 

L.  un.  Cod.  de  famos,  libell. 

Ordin.  Crim.  Carol.  V.  Art.  4  40. 

Recess.  Imper.  Zu  Speyer  de  anno  4529. 

dito  zu  Augspurg  de  anno  4530 

dito  zu  Regenspurg  de  anno  4544 

dito  zu  Erffurth  de  anno  4567 
und  andere  mehr  bey  leibes  und  anderer  hohen  straffe  verbothen ,   auch  so 
dießen    pasqvillanten   ohn    gebührliche    ernstliche    Straffe    länger  zugesehen 
werden  solle,  viel  unheyl  mit  boßer  Nachfolge  von  anderen  und  sonst  daraus 
entstehen  würde; 

Alß  gelanget  an  Eure  Churfürstl.  Durchl.  mein  demüthigstes  bitten,  Sie 
wollen ,    und  zwar,   weilen   derer  beeden  annoch  unter  der  Preße  sich  be- 
findenden schmähschrifften  [halber]  periculum  in  mora ,    derer   bereits  ver- 
fertigten und  verkaufften   halber  aber,    bey  der  von  Trucker,   Verleger  und 
Verkauffer  verwürckten  Straffe  Eur  Churfürstl.  Durchl.  hohes  Cammerinleresse 
versiret,    förderlichst  an   hießige   Herren  Bücher-Commissarien,    daß  solche 
nicht  nur  unverzüglich  in  allen  Truckereyen  allhier  visitiren,  was  von  oben 
erwähnten    Pasqvillen    sich    befindet,    hinwegnehmen,     sondern    auch  die 
hießigen  Buchhändler,  die  von  denen  verfertigten  in  ihren  Verkauff  habenden 
exemplaria  eydtlich  anzeigen  und  ausantworten  laßen,   wieder  die  darunter 
befindlichen  Verbrecher  mit  verdienter  Bestraffung  und,  wo  vorhero  nötbig, 
mit  der  Inquisition  verfahren,  zu  dem  Ende  die  von  mir  angebende  indiciB 
und  zeugen  untersuchen  und  abhören,  auch  zu  beobachtung  Eur.  Gburfürstl< 
Durchl.  hierbey  versirenden  Cammer  Interesse ,    von  allen  ausführlichen  Be- 


4  59]  Christian  Rbutbr.  613 

rieht  erstatten  sollen,  gnädigst  zu  rescribiren  geruhen.  Hierdurch  vollbringen 
Eur.  ChurfUrstl.  Durchl.  ein  Werk  heylsamer  Justiz,  ich  aber  verbleibe  dafür 
lebenslang 

Eur.  Cburfürstl.  Durchl. 
Datum  Leipzig,  In  aller  Demuth  Unterthänigste, 

den  45.  Augl.  anno  4696.  Anna  Rosina  Möllerin,  Wittib. 

Conc.  Dr.  Pfaffe. 

8.  August  21 :    Befehl  des  Churfürsten  an  die  Bücher-Comtnission. 

Dem  Würdigen  und  Hochgelahrten,  Unsem  lieben  Andächtigen  und 
getreuen,  Herrn  Yalentino  Alberti,  der  heiligen  Schrifift 
Doctorn ,  Professorn ,  des  Consistorij  Assessom ,  auch  dem  Rath 
zu  Leipzig. 

Praes.  27.  Aug.  A.  96. 

Von  Gottes  gnaden  Friedrich  Augustus,  Herzog  zu 
Sachßen,  Jülich,  Cleve  und  Berg,  auch  Engern  und 

Westpfalen  p.     Churfürst  p. 

Würdiger,  Hochgelahrter,  lieben  Andächtiger  und  getreue^).  Welcher- 
gestalt  sich  Anna  Rosina  Möller  in,  Witbe,  zu  Leipzig,  daB  eine  schimpff- 
liche  Schrifil  aufif  sie  und  ihren  Sohn,  unter  dem  Titul :  üDte  &fxliäft  Stau  p. 
und  ®äftümvi^ihf  dteigebefc^retbung  p,  in  Druck  gegeben  und  zum  öffentlichen 
Verkauff  gebracht  worden,  auch  noch  zwey  andere  der  gleichen  Schmäh- 
schrifiPten  auff  ihre  Töchter  unter  der  Preße  sein  selten,  beschweret,  und 
was  sie  dahero  demüthigst  gebethen,  das  ist  aus  dem  Inschluß  zu  ersehen. 
Darauff  ist  hiermit  Unser  Begehren,  Ihr  wollet  die  bereits  vorhandene 
Schritten  in  den  Buchläden  weg-  und  in  Verwahrung  nehmen,  auch  ob  und 
was  annoch  von  den  andern  Zwey  SchriSten  unter  -der  Preße  seyn  soll,  Er- 
kundigung einziehen ,  nach  befinden  den  Druck  inhibiren ,  und  Uns  der 
Sachen  beschaffenheit,  mit  wiedersendung  des  Inschlußes^)  unterthänigst  be- 
richten.    Daran   geschieht  Unsere  meinung.     Datum  Dreßden  d.  21.  Augusti 

4  696. 

Andreas  Beyer  mpr. 

9.  August  37 :    Confiscationen. 

Nachdem  auff  ergangenen  gnädigsten  Befehl  von  denen  Herren  Bücher 
Commissariis  verordnet  worden,  die  so  genannte  (Sffxliäfe  f^rau  p.  und  @6ftU 
mn^ih)  dleigeSefd^teiiung  zu  confisciren,  So  habe  in  die  allhiesigen  Buch- 
läden, wie  auch  zu  einigen  derer  Buchbinder  mich  begeben.  Und  als  bey 
denen  Wohlfarthen^j  in  Pauliner  Collegio  von  bemelter  &)xixd)tn  Stauen 
2.  Exemplaria,  von  ©d^clmuff^l^  SRcißc  ©efd^retbung  3  Stück,  hiernechst  bey 


*)   Die  Singulare  in  der  Anrede  kommen  nur  dem  Dr.  Alberti  zu,    die  Plurale 
zugleich  den  Mitgliedern  des  Stadtrathes. 

^)   Ist  also,   da  er  noch  jetzt  bei  den  Acten  sich  befindet,  nicht  geschehen. 
^)   Es  gab  in  Leipzig  zwei  Buchhändler  dieses  Namens. 


614  Frisduch  Zaknckb,  j60 

Arnold  Petri,  einem  Buchbinder,  welcher  seine  Bute  an  Auerbadis  Hoff 
hat,  von  dem  letztern  4  Exemplaria,  an  deren  zweyen  die  so  genaimte 
®rog(arttgte  3ungfer^),  sonsten  aber  nirgends  etwas  angetroffen,  So  habe 
bemelte  Exemplaria  zu  mir  genommen  und  selbige  wohlgedachter  Commission 
einzuliefern   nicht  ermangeln  sollen.     Leipzisk  am  27.  Augusti  Anno  4696. 

David  Bittorff  Bttcher  Fiscal. 

40.     September  9:    Klagschrift  der  Wittwe  Müller  an  die  Bücher-Commissm. 

An  Sr.  ChurfUrstl.  Durchl.  Zu  SachBen  Wohl  verordnete  Herren  Bücher 
Gommissarios  zu  Leipzig  Ehrenscbuldiges  Memorial. 

Praes.  40.  Sept.  A.  96. 

Magnifice,  HochEhrwUrdiger  und  Hochgelahrter 

auch 
Magnifici,  Hoch-  und  WohlEdle,  Veste,  Hoch-  und  Woblgelahrte, 

auch  Hochweise  HochgeEhrte  Herren. 

Selbigen  ist  unentfallen,  wie  Se.  Churftlrstl.  Durchl.  zu  SachBen  auf  mein 
demUthigstes  suppliciren  nicht  nur  die  unter  den  Titul  ^ie  (S^rßc^  S^oo 
und  ©(i^eUmuffdt^  Steige  JBefd^teiBung  von  einem  BoBhaftigen  PasqviUant«a 
bereits  in  Druck  und  zum  öffentlichen  Verkauff  gebrachten  Zwey  schmäfa- 
schrififlen  in  denen  Buchl&den  weg  und  in  Verwahrung  zu  nehmen,  sondern 
auch  von  denen  andern  Zwey  schmähschriflften ,  so  unter  der  Prefie  seyn 
sollen^  den  Druck  zu  inhibiren  gnädigst  anbefohlen.  Wann  dann  nadi 
ferner  von  der  Sache  eingezogener  erkundigung  ich  so  viel  in  erfahrung 
bracht,  daB  derer  auf  die  meinigen  femer  zusammengeschmierten  und  an- 
noch  unter  der  PreBe  liegenden  Pasqville  halber,  auch  von  derer  Autoren 
und  Orte,  wo  solche  gedruckt  werden  sollen,  der  Frau  Heinichen  Diener 
und  Herr  Philipp  Daniel  Hugwart  gute  wiBenschaft  haben  sollen,  maßen 
jener  jüngsthin, 

daß  noch  eine  Opera  auf  die  Mttllerische  Familie  herauskommen 
solte,  und  hätte  Beut  er  selbige  in  Garcer  gemacht,  solte  aucii 
sehr  artig  gesetzt  seyn, 

gegen  Hrn.  Benjamin   Schmolcken   Theol.  Stud.  gedacht,    ingleichen  hat 
dießer  Hr.  Philipp  Daniel   Hugwart 

daß  von   der  erwehnten  Opera  eine  anzahl   exemplaria  an  einen 
gewißen  Purschen   anhero   zum  Verkauff  würden   geschickt  wer- 
den, wovon  er  so  viel  geld,  alß  Beuter  mir  schuldig  wäre,  zu 
nehmen  und  mir  also  zu  meiner  bey  Beutern  habenden  Sciiuid 
zu  verhelffen, 
gleichfalls  gegen  gemelten  Hm.  Schmolcky  gedacht  und  versprochen,  wo- 
durch sie  beederseits  von  denen  noch   künffligen  Pasqvillen  und  von  deren 
Verfertigung  gute  Wißenschafft   zu  haben  zur  genüge  angezeuget,  Alß  habe 
solches   meinen   in   gebühr  hochzuebrenden  Herren   zu   beßerer  beförderung 


*)  So  also  pflegte  man  das  Lustspiel   VII,    4   [s,  o.)   zu  nennen. 


164]  Christian  Reuter.  615 

gnädigst  anbefohlener  Erkundigungseinziehung  ich  berichten  sollen,  mit  an- 
gefügter demUthiger  Bitte,  so  wohl  Hm.  Schmolcky  alB  auch  Hrn.  Hug- 
warten,  beederseits  Stud.,  und  der  Fr.  Heinichin  BuchftthrsDiener  über 
obige  vorhin  von  ieden  gegen  Hrn.  Schmolcken  ausgestoßene  reden  vor 
iedes  Obrigkeit  vermittelst  Eydtes  umbstandiglich  articuls  weiße  vernehmen, 
und  sie  zu  entdeckung  ihrer  hiervon  allenthalben  habenden  Wißenschafft 
ernstlich  anhalten  zu  laßen,  auch  hierauff  der  wegen  des  Druckes  genädigst 
anbefohlenen  Inhibition  halber,  allenfalls  per  subsidium,  gehörige  Verfügung 
zu  treffen.  Solches  gereichet  zu  handhabung  heylsamer  Justiz,  ich  aber 
bleibe  dafür 

Meiner  in  gebühr  Hochzuehrenden  Herren 
Datum  Leipzig,  Ehrenschuldigsle 

den  9.  September  Anna  Rosina  Möllerin,  Wittib, 

anno  4696. 

41.     September  19:    Zweite  Klag-  und  Bittschrift  der  Wittwe  Müller  an  den 
Churfürsten, 

Dem  Durchlauchtigsten  Fürsten  und  .Herrn,  Herrn  Frid^rico 
Augusto,  Herzogen  zu  Sachßen,  Jülich,  Cleve  u.  Berg  (folgt 
der  ganze  Titel)  p. 

Meinem  gnädigsten  Herrn. 
Praes.  d.  22.  7br.  4696. 

Durchlauchtigster  Churfürst, 
Gnadigster  Herr. 

Eur.  Ghurfürstl.  Durchl.  ruhet  annoch  in  gnädigsten  Andencken,  was  Sie 
auf  meine  wegen  auf  mich  und  die  meinigen,  so  wohl  bereits  in  Druck  ge- 
gebene alß  auch  noch  unter  der  Preße  vorhandenen  Schmühschrifften  be- 
schehenes  demüthigste  Suppliciren  an  hiesige  Herren  Bücher  Commissarien 
untern  24 .  Aug.  jüngsthin  gnädigst  anbefohlen. 

Wann  aber  bey  einziehung  gnädigst  anbefohlner  erkundigung  derer 
annoch  unter  der  Preße  vorhandenen  zwey  schmähschrifRen  halber  die  Ab- 
hörung einiger  unter  hießiger  Löbl.  Universität  und  anderer  Obrigkeiten 
Jurisdiction  unterworffenen  Zeugen  nöthig  seyn  will,  gemelte  Hrrn.  Bücher 
Commissarien  hingegen  an  solcher  Zeugen  ordentliche  Obrigkeit  gehörige 
Reqvisitoriales  jener  abhörung  halber  auszufertigen  dahero,  weilen  der  tenor 
Ihrer  obhabenden  gnädigsten  Gommission  auf  dergleichen  actus  sich  nicht 
erstrecke,  bedencken  tragen ; 

Alß  gelanget  bh  Eur.  Ghurfürstl.  Durchl.  mein  in  aller  unterthänigkeit 
demüthigstes  Bitten,  Sie  wollen  mehrbesagten  hießigen  Herren  Bücher  Gom- 
missarien,  daß  zu  bewerkstelligung  in  obberührter  Schmähschrifft  Sache 
gnädigst  anbefohlner  Erkundigung  und  solcher  Einziehung  Sie  förderlichst 
von  denen  bereits  angegebenen  Zeugen  und  auch  so  ich  noch  angeben 
möchte,  die  so  ihrer  Jurisdiction  unterworffen,  über  von  mir  angerügte  umb- 
stände  selbst  vernehmen.  Dem  andern  und  auswärtigen  halber  aber  ihre 
ordentliche  Obrigkeit  umb  gehörige  abhörung   reqviriren ,    die   aussagen  ad 

Abfaandl.  d.  K.  S.  Oesellscli.  d.  Wlasenscli.  XXI.  44 


616  Friedrich  Zarnckb,  [462 

acta  bringen  und  solches  alles  zu  beobacbtung  meiner  ferneren  Nothdurfil 
darbey  mir  communiciren,  auch  endlich  Eur.  Churfttrstl.  Durchl.  zu  fernerer 
gnädigsten  Verordtnung  ausführlichen  Bericht  erstatten,  und  weiln  bei  jüngst 
geschehener  confiscation  derer  bereits  von  mir  und  denen  meinigen  in  Druck 
vorhanden  gewesenen  Schmahscbrifften  bey  denen  Buchhändlern  sehr  wenig 
exemplaria  gefunden  worden,  mir  gleichwohl,  dafi  einer  und  der  andere 
deroselben  einen  ziemlichen  Yorrath  davon  gehabt,  und  bey  der  Visitation 
verhöhlet,  diejenigen,  so  ich  dieBerhalben  angeben  werde,  die  exemplaria 
erwehnter  schmShschrifften  vermittelst  eydlicher  Specification  zu  ^iren  an- 
halten sollen,  gnädigst  zu  befehlen  geruhen.  An  solchen  allen  vollbringen 
Eur.  ChurfUrstl.  Durchl.  ein  Werck  heylsamer  justitz,    ich  aber  verbleibe 

dafür  lebenslang 

Eur.  Churfürstl.  Durchl. 
Datum  Leipzig, 

den  49.  7ber.  anno  4696.  In  aller  unterthänigkeit 

demüthigste 

Conc.  D.  Pfaffe.  Anna  Rosina  Möller  in  wittb. 

42.  ßeptember  33 :  Zweiter  Befehl  des  Churfürsten  an  die  Bikher-^Commümn, 

Dem  Würdigen  und  Hochgelahrten,  Unsern  lieben  Andächtigen  und 
getreuen,  Herrn  Valentine  Alberti,  der  heil.  Schrifft  Doctorn, 
Professom,  des  Consistorij  Assessom,  und  dem  Rathe  zu  Leipzigk. 

Praes.  30.  Sept.  An.  96. 

Von  Gottes  gnaden   Friedrich  Augustus,   Hectzog 
zu  Sachßen,  Jülich,  Cleve  undt  Berg, 
.  auch  Engem  und  Westpfalen  p.  Churfürst  p. 

Würdiger,  Hochgelahrter,  lieben  Andächtiger  und  getreue,  Euch  ist 
erinnerlich,  was  wir  euch  auf  Annen  Rosinen  Möller  in,  Wittiben  in 
Leipzigk,  demüthigstes  ansuchen  wegen  der  wieder  sie  und*  die  ihrigen 
herausgegebeneu  schimpff  liehen  Schrifften  unterm  84 .  Augusti  jttngsthin  an- 
befohlen haben.  Wann  sie  dann  mit  dem  InschluB  anderweit  einkommen 
und  nochmahls  demüthigst  gebeten,  wie  daraus  zu  ersehen,  Alfi  ist  hiermit 
Unser  begehren,  ihr  wollet  Unß,  wie  obgedachter  Unser  befehl  expediret 
worden,  mit  beyfügung  der  weggenommenen  Exemplarien  förderlichst  be- 
richten, auch  im  übrigen  gebührende  Verfügung  thun.  Daran  geschieht 
Unsere  meinung.     Datum  DreBden  am  23.  Septembris  4696. 

H.  C.  Rnoch  mpr. 

43.  October  2:    Vernehmung  Wermann^s. 

Den  2.  Octobr.  4696. 

Christoph  Wermann,  Handelsfactor  bey  dem  Heynichischen 

Buchhandel 

Erschien  auf  erfordern  und  sagte  auf  befragen  aus,  als  Hr.  Reuter 
unlängst  wegen  der  sogenanten  &fxlväfm  Stau  im  carcere  gewesen,  hätten 
unterschiedliche  Studiosi   in   dem  Heinichischen   Buchladen  von    demselben 


463]  Christun  Rbctbr.  617 

scripto  geredet,  und  unter  anderen  einer  Namens  Wilcke,  der  bey 
Leischnern  in  der  Niclasstraße  die  Stube  habe,  zu  Zeugen  gesagt,  daB 
bemelter  Reuter  im  carcere  noch  eine  andere  Opera^)  gemacht,  welches 
er,  Wilcke,  selbst  gelesen  und  sehr  artig  befunden,  so  daß  man  sie  kaum 
vor  Hr.  Beuters  arbeit  halten  sollen.  Die  Namen  der  andern  darbey  ge- 
standenen Personen,  wie  auch  die  eigendliche  Zeit  wären  ihm  nicht  bewust. 

H.     November  6 :  Ansuchen  der  Bücher^Commission  bei  der  Universität ,  Wilcke 

und  Reuter  zu  vernehmen.     (Ckmcept.) 

An  E.  lobl.  Universität  alhier. 

Magnifice  Domine  Rector, 

HochEhrwttrdige,  WohlEdle,  Vesle,  Grosachtbare, 

Hoch  u.  Wolgelahrte,  Hochgeehrte  GrosgUnstige  Herrn 

und  Freunde. 

Als  bey  dem  Durchlauchtigsten  Churfttrsten  zu  Sachßen  und  Burggrafen 
Zu  Magdeburg  p.  p.  Unsern  Gnädigsten  Herrn  p.  sich  Anna  Rosina  Mollerin, 
witwe  alhier,  wegen  einer  schimpflichen  Schrifft  auf  Sie  und  Ihren  Sohn 
unter  dem  Titel :  !£)te  &)xtx6ft  %xa\x  p.  und  ©d^ebnufdlV  9}etfebef^retbung,  auch 
noch  zwo  anderer  dergleichen  SchmähschriflUen ,  so  auf  ihre  Tochter  unter 
der  Preße  seyn  selten,  demüthigst  beschweret,  so  haben  J.  Churfl.  Durchl. 
Gnädigst  uns  in  der  Sache  commission  aufgetragen,  wie  beygefttgte  ab- 
schrifften  sub  A.  u.  B.  mit  mehrern  besagen. 

Wann  wir  dann  bey  deßen  gehorsamsten  expedition  in  erfahrung  bracht, 
daß  ein  Studiosus,  namens  Wilcke,  der  bei  Leischnern  in  der  Niclas- 
straße die  Stube  habe,  unlängst  im  Heinichischen  Buchladen  alhier  sol  er- 
zehlet  haben,  daß  Reuter,  als  er  neulich  wegen  der  so  genanten  &fxlxäftn 
f^au  in  carcere  gesessen,  noch  eine  andere  Opera  gemacht,  die  Wilcke 
selbst  bey  ihm  gelesen  und  gar  artig  befunden  hätte. 

Als  ersuchen  vigore  commissionis  E.  Magnific.  und  die  Herren  wir  hier- 
mit, Sie  wollen  so  wol  besagten  Wilcken  als  Reutern  förderlichst  des- 
halben vernehmen,  von  wem  und  auf  weßen  Verlag,  auch  unter  was  Tituln 
die  Schrifften  gedruckt  worden,  und  was  sich  vor  umstände  mehr  an  Hand 
geben  werden,  befragen,  Ihre  außage  niederschreiben,  und  uns  darvon  be- 
glaubte abschrifft  ad  acta  zu  des  Gnädigst  Anbefohlenen  ferneren  bewerk- 
stelligung ausfertigen  laßen;  wir  verschulden  es  bey  ereignender  begebenheit 
ebenmäßig;  und  sind  E.  Magnif.  und  denen  Herren  annehmlich  zu  dienen 
willigst.     Signatum  Leipzigk  den  6.  Novembris  4696. 

Ew.  Magnific.  und  derer  Herren 

dienstgeflißene 
V.  A.  D.2) 

^j  Ursprünglich  stand:  ein  anderes  scriptum  auf  die  MÖllerischen.  Wahr- 
scheinlich  beim  Vorlesen  auf  Betrieb   Wermann*s  corrigiert. 

2)  d.  Ä.  Valentin  Alberti  Doctor,   der  Vorsitzende  der  ßücher-Commission, 

3)  d.  h.  Der  Rath  zu  Leipzig. 


618  Freedbich  Zarngke,  [^64 

45.     November  24  :    Bericht  der  Bücher-Commission  an  den  Churfiirsten, 

[Concept.) 

Durchlauchtigster  ChurfUrst,  Ew.  Churf.  Durchl.  sind  unsere  unter- 
thänigste  gehorsamste  dienste  ieder  Zeit  zuvor. 

Gnädigster  Herr, 

Welcher  gestalt  bey  £.  Churf.  Durchl.  sich  Anna  Rosina  Möllerin, 
witwe  alhier,  wegen  zwo  auf  Sie  und  ihren  Sohn,  unter  dem  Titui:  'Jk 
(S^rUd^c  grau  p.  und  ©(ä^clmuf^l^  9icifcbcfd^rcibung  p.  gedruckten  und  öffendlich 
verkaufften  auch  noch  zwey  anderer  dergleichen  auf  ihre  Töchter  gefertigter, 
unter  der  Preße  stehender  Schmähschrifilten  demüthigst  beschw^eret,  und 
wie  darauf  E.  Churf.  Durchl.  Gnädigst,  daß  wir  die  bereits  vorhandene 
Schrifften  in  den  Buchläden  weg  und  in  Verwahrung  nehmen,  auch  ob  und 
was  annoch  von  den  andern  zwo  SchrifHen  unter  der  Preße  sey  Erkundigung 
einziehen,  nach  befinden  den  Druck  inhibiren  und  der  sache  beschaffenheit 
mit  Wiedersendung  des  Inschlußes  unterthänigst  berichten  sotten,  sab  dato 
den  21.  Augusti  jüngsthin ,  dann  ferner  unterm  folgenden  23.  Septembris, 
daß  wir,  wie  obgedachter  befehl  expediret  worden,  mit  Beyfügung  der  weg- 
genommenen exemplarien  förderlichst  berichten,  auch  im  übrigen  gebtirende 
Verfügung  thun  solten,  uns  anbefohlen,  deßen  geruhen  Sich  E.  Churf.  Durchl. 
in  Gnaden  zurück  zu  erinnern. 

Diesem  zu  gehorsamster  Folge  haben  wir  alß  fort  des  tages,  als  der 
erste  gnädigste  befehl  uns  zukommen,  an  den  Bücher  Fiscal  Verordnung  ge- 
than ,  die  exemplarien  erwehnter  Schrifften  in  denen  Buchläden  ungesäumt 
aufzusuchen,  wegzunehmen  und  den  Verlauf  zu  melden.  Worauf  zwar  der- 
selbe, seiner  erstatteten  relation  nach,  die  Schrifften  gesucht,  aber  mehr 
nicht  als  von  der  sogenanten  &)xi\ä)zn  grau  2  Exemplarien,  von  ©d^efmuf^ft) 
JRcifcbcfd^reibuna  3  exemplarien  bey  denen  Wolfahrten  im  Pauliner  Gollegio, 
dann  bey  Arnold  Petri,  einem  Buchbinder,  von  dem  leztern  noch  4  Sltlck 
gebunden,  an  deren  zweyen  noch  eine  andere  Schriffl  unter  dem  Namen 
ba«  Bärtid^tc  grauen  3tntnter  angehefftet,  angetroffen,  welche  alle  zusammen  bey- 
gefügt  gehorsamst  eingeschicket  werden.  Damit  man  nun  hinter  die  andern, 
wie  auch  den  autorem  und  Drucker  kommen  möge,  haben  wir  nicht  allein 
vor  uns  leute  abgehöret,  sondern  auch  die  Universität  zu  gleichmäßiger  ab- 
hörung anderer  Ihrer  Jurisdiction  zugehöriger  gebürend  reqviriret,  und  tlber- 
dies,  weil  die  Möller  in  sich  beklaget,  daß  der  Schmähschrifften  immer 
mehr  werden  weiten,  wir,  der  Rath,  die  Sache  unseren  Statgerichten  zur 
inqvisition  untergeben,  da  sich  dann 

(alte  Fassung)  [neue  Fassung) 

bey  einem  Kupferstecher  wieder  einen  Kupferdrucker,  Namens  Jacob  Philipp 
Namens  Jacob  Philipp  Schneider  starcker  Verdacht  ereignet,  auch  end- 
Schneider  exempla-  lieh  so  viel  herausgekommen ,  und  er  selbst  gestan- 
rien  einer  Neuen  Scar-  den,  daß  ihm  von  ©d^etmuf^ft^  {Rcifcbcf^reibung  500 
tecke  mit  dem  Titul :  35er  Exemplarien  von  Wolfgang  Ködern,  Buchhändler 
(S^rtid^cn  grau  ©d^Iam*  zu  Franckfurth,  zugeschicket  worden,  die  er  auch 
pampe  Äranl^cit  unb  Job,     distrahiret,  ingleichen  daß  er  auf  i  200  von  demselben 


165]  Christian  Rbctbr.  619 

■ 

ingleichen  ®d^e(mufdß^  empfangener  exemplarien  einer  Neuen  Scartecke 
9ietfe6ef($retBuns  anbetet  mit  dem  Titul  !Det  &)xixäftn  %xaxL  ©dfiampampt 
S^^eU  gefunden,  deshal-  fttand^ett  unb-  %oh,  wovon  ein  par  Exemplarien 
ben  nunmehr  weiter  in-  hiermit  beygeleget  sind ,  das  kupferblat  gedruckt 
qviriret  wird,  und  wil  und  dieselben  gleichfals  verkaulR  bis  etwan  auf 
verlauten ,  ob  solle  ein  400,  die  er  auf  eines  Studiosi  Stube  in  ein  ander 
BuchfUhrer  zu  Franck-  Haus  geschaffet,  alwo  solche  die  Universität  auf  der 
furth  der  Verleger  seyn«     Statgerichte   reqvisition  weg  nehmen   und  in  die 

Gerichte  liefern  laßen.  Es  ist  hierauf  zu  fernerer 
inqvisition  anstalt  gemachet,  von  dem  kupferdrucker  aber  um  Verstattung 
einer  defension  pro  avertenda  gebeten  worden,  darauf  es  annoch  beruhet. 

Was  sich  nun  allendhalben  weiter  eusern  wird,  davon  soll  hiernechst 
E.  Ghurf.  Durchl.  unterthänigster  Bericht  eingesendet  werden,  und  haben  in- 
zwischen, hOchstangeftthrten  gnädigsten  Befehlen  zu  pflichtschuldigsten  ge- 
horsam dieses  in  unterthänigkeit  nicht  verhalten  sollen,  E.  Churf.  Durchl.  zu 
gehorsamsten  treuesten  diensten  iederzeit  so  bereitwilligst  als  pflichtschuldigst 
geflißen  verbleibend.     Signatum  Leipzigk,  den  21.  Novembris  A^  1696. 

E.  Churf.  Durchl.  Unterthänigste  gehorsamster  V.  A.  D.  und  !X)9}3S- 

16.  December  1 :    Abschriftliches  Protokoll  der  Vernehmung  Wilcke^s. 

Praes.  den  7.  Januarij  1697. 

Den   Ersten  Decemb:   1696. 

Christian  Sigismund  Wilcke 

Erscheinet  auf  erfordern  und  wurde  über  derer  Herren  Bücher -Commis- 
sarien  abgelaßenen  Schreiben  vernommen.  Saget:  Er  hette  zwar  bey  Reu- 
ther  in  Carcere  geseßen,  aber  keine  Opera,  so  dieser  auf  die  Müllerin 
und  ihre  Töchter  gemachet,  bey  ihn  gesehen,  hette  es  auch  in  Heinichischen 
Buchladen  nicht  geredet.  Desgleichen  hette  er  von  Reuthern  nichts  ge- 
höret, könte  bedürfl'enden  Falß  alles  eydiich  bestUrcken. 

Actum  ut  supra. 

Christophorus  Scheffler  mpr. 

Aead:  Actuarius  p. 

17,  April  30,  1697 :    Abei^nuüige  Klage  der  Wittwe  Müller  bei  der  Bikher- 
Commission, 

An  Die  Churfürstl.  Sächßl.  Herren  Bücher-Gommissarien  Zu  Leipzig 
Ehrenschuldiges  Memorial. 

Praesent.  1.  May  A.  97. 

.  Magnifice ,  HochEhrwürdiger  und  Hochgelahrter, 

auch 

Magnifici,  Hoch-  und  WohlEdle,  Veste,   Hoch-  und 

Wohlgelahrte,  auch  Hochweise,   Insonders  HochzuEhrende 

Herren  Bücher  Commissarii, 

Es  hat  die  bißhero  wieder  die  Pasqvillanten  zum  theil  bey  etlichen 
gäntzlich  unterbliebene,  zum  theil  aber  stetswehrend  verzögerte  gebührende 


620  Friedrich  Zarncke,  [^66 

bestraffung  leider  so  viel  causiret  und  veranlaßet,  daB  die  bdfieD  leute  mit 
Verfertigung  mehrerer  Schmähschrifilen,  wie  beyfuge  weiBet^),  fortgefahren 
und  hier  öffentlich  verkauffen  laßen.  Wie  nun  schieiniger  confiscation  der- 
selben, ehe  es  vollent  in  aller  Welt  sich  ausbreite,  gegen  meine  in  Gebühr 
HochgeEhrte  Herren  ich  mich  versehe,  auch  darumb  flehendlich  bitte  und 
anselbst  recht  ist,  also  verharre  ich  dafür. 

Meiner  in  Gebühr  HochgeEhrten  Herrjen 
Datum  Leipzig  Ehrenschuldigste 

den  30.  Aprilis,  anno  Anna  Rosina  MOllerin^]. 

4697. 

Hierauf  ist  dem  Hrn.  Bücher-Fiscal  am  \.  Maij  aufgetragen,   nach  der 
Opera  zu  fragen,  und  wo  es  anzutreffen,  zu  confisciren. 

[Hiermit  schliessen  die  Acten;  am  S.  Juni  starb  Antia  Rosina). 


C.  Aaszfige  ans  den  Uniyersltftts-Acten. 

(Nr.  18—22). 

48.     Notizen  und  Protokolle  aus  dem  Jahre  4697. 

4.  Juli,  5.  Sonntag  nach  Trin.  hör.  1  k  mer. 

Christian  Wettberg,  Verwalter  in  Knauthahn,  bittet,  daB  Bleymttllern 
möge  auferlegt  werden,  seines  Gutes  zu  Knauthahn,  nebenst  denen  andern, 
welche  er  mit  zu  bringen  gedrohet,  sich  enthalten  solle.  Daselbst  berichtet, 
daB  er  gestern,  alß  d.  3.  Jul.  abends  gegen  7  Uhr  nebenst  seinem  Schwager, 
dem  SchöBer  Christian  Seidler,  nach  Knauthahn  in  seine  Wohnung  kom- 
men, vnd  so  bald  er  in  die  stube  getreten,  von  der  Wand  ein  par  Pistolen 
und  Sebel  genommen  vnd  gesagt:  Du  hund  solt  kein  gewehr  in  Deinem 
Hause  haben ;  wäre  auch  an  daB  fenster  getreten  vnd  eine  daselbst  stehende 
geladene  Flinte  loB  geschoBen,  vnd  gesagt,  er  solte  kein  geladen  gewehr 
in  seinem  hause  haben.  Wie  er  nun  druff  gesagt,  es  gienge  ihm  nichts  an, 
er  müste  solches  haben  zu  defension  seines  hauses  vnd  viehes,  hette  er  mit 
einem  Span.  Rohr  ihn  2. mahl  auf  den  lincken  arm  geschlagen  vnd  gesagt, 
auf  ein  andermal  wolte  er  schon  stärker  kommen,  mit  etlich  60.  bursen, 
welche  er  bey  Hr.  D.  Weidlingen  gleich  haben  könte;  die  soUen  ihm 
schlage  vnd  maulschellen  genug  geben ,  vnd  alles  gewehr  mit  gewalt  zum 
hause  hinauBwerffen,  seinen  schwager,  den  SchöBer,  auch  in  Posseß  ein- 
setzen. Vermöge  des  kauffcontracts  hette  Hr.  Wettberg  biB  Michaeliß 
die  posses. 


^)  Leider  findet  sich  Nichts  bei  den  Acten.  Es  war  wohl  le  Jouvanceau  char- 
mant,  fvie  die  Resolution  zu  beweisen  scheint. 

^)  Die  Züge  sind  nicht  genau  so  wie  bei  den  früheren  Unterschriften.  Unter- 
zeichnete etwa  eine  der  Töchter  statt  der  damals  wohl  schon  erkrankten  Mutter?  oder 
der  jüngste  Sohn,  was  mir  den  Zügen  nach  das  Wahrscheinlichste  dünkt. 


4^7]  Christun  Reuter.  621 

Eustachius  Müller  bittet  Bleymttller  zu  inhibiren,  weil  er  sich  ver- 
lauten laßen,  [nun  stand  anfangs:  wen  er  Reuter  sie  nicht  geschimpft, 
durch  Correctur  ist  daraus  gemacht:)  wen  die  Müllerschen  nicht  geschimpft, 
weite  er  es  noch  ärger  machen,  durch  die  Studenten  Jungen  etc. 

bittet,  ihm  aufzulegen,  daß  Er  sich  an  die  Eust.  Müllerschen  erben  in 
keine  wege  vergreiffen  solle. 

Nach  der  vesper  berichtet  der  famulus  Wert  her,  daß,  alß  er  Bley- 
müller  citiren  wollen,  er  von  Hr.  D.  Weidlings  gesinde  erfahren,  daß 
Hr.  Bleymüller  mit  dem  Hr.  S.^)  weggefahren. 

Unterm  iß,  Juli  ist  notiert:  Bleymüller  Wettbergen  zu  Knauthahn 
geschlagen,  3.  Juli,  negat.     Weite^^es  über  diese  Angelegenheit  finde  ich  nicht. 

G.  A.  IX j  328.     [Protocollum  Rectoris  während  des 

Sommers  4697.) 

34.  Juli.     Reuter  ad  carc.  gebracht,  pridie  Kai.  Augusti. 

Ebenda  unter  den  Multae  am  Ende. 
Der  Name  Reuter  noch  öfter  notiert^  so  unterm  34.  Juli,  5.  August  [unter 
den  Incarcerati] ,  20.  Sept.,  24.  Sept. 

4.  Septembr.     Reuter  suchet  defension;  commissa  d.  Rysselio. 

Ebenda. 

44.  Septembr.  Hr.  Müller,  Eustachi!  Sohn,  citandus  wegen  des  vexirt 
[dann  darüber  geschrieben:  agirten]  FrZ.  [d.  i.  Frauenzimmers]  am  40.  7br. 
nach  der  damaligen  Leiche^]. 

Hr.  Schnitze  bey  Hr.  Rittern  am  30.  Augusti,  als  Münchrot  in 
arest  genommen,  an  die  fensterläden  geschlagen,  geschrien,  folgendes  tages 
gedrohet,  Steinerten  die  Fenster  einzuwerfen,  mit  pasqvillen  Hr.  Scuren 
zu  verfolgen,  einen  desperaten  Praeceptor  geheißen. 

Wo  er  in  der  Niclaßkirche  zu  stehen  pfleget? 

ob  er  nicht  daß  Fr.  Zimmer,  sonderlich  die  Müllerischen  tOchter, 
mit  minen  vnd  posituren  zu  agiren  pfleget?  (Nachträglich  dazwischen  ge- 
schrieben:  Geistl.  Lieder  in  sensum  obscoenum  detorqvere]. 

ob  er  solches  nicht  gestern  in  der  Vesper  giethan?  mit  Unterschlagung 
des  Stabes  [drunter  zugesetzt  beines]  oder  degen  ihren  gang  zu  hindern  ge- 
suchet? 

Muthwillen  in  der  Kirche  verübet? 

auf  der  Gaße  zu  abend  grttßlich  geschrien? 

Ebenda. 


*)  doch  wohl  Seidler. 

^)  Am  40.  Sept.  um  5  Uhr  ward  Joh.  Joe.  Kesens,  des  Königl.  Oberpostmeisters 
und  Vornehmen  des  Rathes,  44jährige  Tochter,  Regina,  von  der  Katharinenstrasse 
aus  beerdigt. 


;   I 


622  Feibdrich  Zarngkb,  [<68 

27.  Sept.     Hr.  Reuter  bittet  gehört  zu  werden. 

Darunter  mit  ungewöhnlich  gi^osser  Schrift:  Relegatus  Reuter  ad  sei- 
ennium,  Gerber  ad  octennium,  d.  28.  7bris,  pridie  festi  Michaelis. 

Dem  entsprechend  am  Ende  unter  den  Multae,  im  Anschluss  an  die  Ein- 
tragung, die  oben  unter  dem  31.  Juli  angeführt  ist:  6.  jabr  relegat.  Auch  in 
dem  Brouillon  der  Tagesordnung  zum  Concilium  Professorium  am  S7.  Sept. 
heisst  es :  Reuters  6  iährige  (relegation) . 

Ebenda. 

Das  Protokoll  über  die  entscheidende  Sitzung  ist  enthalten  im  ProtocoUum 
Professorium,  Repert.  -z^    Nr.  7.    Sectio  /. 

Concilium  Professorium  d.  27.  Sept.   4697*). 
Magnificus  Dn.  Rector  proponit 
I.  Ghristfried  Gerbers  und  Ciiristian  Reuthers  Urthel. 


Die  Vota  der  Abstimmenden  lauten:  Hr.  D.  Carpzovius  Theo!.:  exe- 
qvantur  Sententiae;  Hr.  Dr.  Mylius:  fiat  Executio;  Hr.  Dr.  Friese:  con- 
sentit;  Hr.  D.  Bohne:  exeqvantur  Sententiae;  Hr.  D.  Petermann:  exe- 
qvantur  Sententiae,  ie  ehe  ie  beßer;  Hr.  D.  Rivinus:  fiat  Executio;  Hr. 
D.  Ittig:  consentit;  Hr.  L.  (Otto)  Mencke:  nichts  notiert ;  war  er  noch  nicht 
zugegen,  oder  enthielt  er  sich  der  Abstimmung?  Hr.  Prof.  Pfautz:  bat  seine 
Richtigkeit;  Hr.  L.  Rechenberg:  consentit;  Hr.  L.  Cy'prianus:  con- 
sentit; Hr.  L.  Schmied:  relegentur.  Hr.  Prof.  Ernesti:  fiat  justitia;  Hr. 
Prof.  Fri derlei:   fiat  justitia. 

49.     Gedrucktei^  Anschlag  am  schwarzen  Brett,  die  Relegation  Realeres  betr., 
vom  3.  Octobei\    Doppelfolio.    In  den  Acta  Rectorum,  Rep.  G.  A.  IV,  40. 

UNIVERSITATIS  LIPSIENSIS 

RECTOR 

ET    CONCILIUM    PERPETUUM. 

Summus  Optimusque  vitae  Magister  Christus  mavult  partes  corporis  no- 
biles  maximeque  necessarias,  manum  pedemque  abscindi  &  abjici,  ocuium  erui, 

quam  ad  mala  ministeria  adhiberi,  Matth.  XIIX,  8.  9 Si  ergo  cu- 

piditas  bona  aliena  habendi  exstimulat,  Si  ira  ad  laedendum  alium  impellit; 
amputanda  manus  est.  Si  petulantia  ad  dicacitatem,  cavillationes  <&  conviiia, 
si  amarulentus  maleve  affectus  animus  ad^nocendum  aegreque  faciendum 
aliis  invitat,  lingua  est  exscindenda,  manus  praesecanda.  Si  commessatio- 
num,  ludorum  prohibitorum,  aliarumque  levitatum  suavitates  proritant  cupi- 
ditatem,  quasi  pedes  non  habeamus,  quibus  eas  consectemur,  gerere  nos 
oportet.  Si  mundi  fastus  &  luxuria  placere  incipit,  si  libido  incendit,  ocu- 
lus  erui  debet,  aut  oculi  avertendi  sunt,  ne  videant  vanitatem 


*)   Also    am  27.  ward   der  Beschluss  gefasst ,    am  28.  Reuter   aus  der  Stadt 
hinaus  gewiesen. 


169]  Chbistian  Reuter.  623 

Haec  non  solum  omnes  Cbristiani  in  Religionis  instilutione  audiunt,  verum 
etiam  Theologiae  Studiosi,  dum  ad  ministerlum  ecciesiasticum  se  praeparant, 
in  Festo  Archangeli  Michaelis,  Pericopen  Evangelii  ex  suggestu  explicantes, 
aliis  tradunt  et  inculcant.  Non  pauci  tamen  ex  bis  turpes  sunt  Doctores, 
quos  culpa  ipsos  redarguit,  Roman.  II,  21.^)  Utinam 

CHRISTIANUS  REUTER,  Guttensis^)  Misn. 

linguam  manumque  sibi  abscidisset,  cum  quacunque  de  causa  cogitatio  meu- 
tern subiret,  dicacitate  seenica  &  scurrili  familiam  hujus  Urbis,  per  ora  ho- 
minum  traducendi.  Sic  enim  labeculas,  quibus  vix  ullus  hominum  caret, 
si  quas  animadvertisset ,  ex  debito  charitatis  Ghristianae  obtexisset,  aut  de 
illis  idoneo  loco  <&  tempore  amice  monuisset,  non  circumstantiis  multis  vesti- 
visset,  non  alias  ineptias  aut  vitia  finxisset,  non  ex  illis  omnibus  fabulam 
consarcinasset,  in  qua  veluti  inepti,  fatui,  pessime  morati  prae  aliis  homini- 
bus  agnoscerentur  et  publice  irriderentur.  Utinam  idem  homo  ob  crimen 
istud  in  carcere  detentus  et  ad  relegätionem  biennem  damnatus,  cum  hls 
conditionibus  diroitteretur ,  ut  defensione,  quam  sibi  concedi  petierat,  sen- 
tentiam  in  se  latam  mitigaret,  ut  citatus  judicio  se  sisteret,  ut  ab  omnibus 
convitiis  in  familiam  dictam  abstineret,  linguam  sibi  anle  praecidisset  quam 
eas  se  servaturum  jurasset.  Nam  posthac  vagus  et  mentem  injuratam  tenens 
non  comparuit  citatus,  causam  suam  neglexit,  libellos  alios  famosos  scripsit 
aut  disseminavit,  concionem  veluti  funebrem,  in  foeminam  adhuc  vivam,  ad 
oblectamentum  nuptialium  epularum  alicubi  juxta  methodum,  qua  sacrae 
orationes  fiunt,  ceremoniiscjue  consuetis  adhibitis,  sed  ludicram,  scurrilem, 
impiam  ad  opprobrium  sacri  ministerii  habuit.  Qui  cum  istis  se  hactenus 
delectarunt,  eos  participes  convitiorum  contra  proximos  suos  temere  effuti- 
torum  Religio  Ghristiana  corripiat.  Nos  nunc  Ghirurgos  imitati,  qui  membrum 
putridum  et  corruptum  resecant,  ne  partes  sincerae  trahantur, 

GHRISTIANUM  REUTERUM,  ad  sexennium 

a  Corpore  Academico  proscribentes  separamus.  Alios  autem  Studiosos  ju- 
venes  sedulo  adhortamur,  ut  cupiditatem'pravam,  cum  actum  parit,  eniti 
prohibeant:  Sic  enim  ipsa  abortum  faciens  peribit.  P.  P.  Dominica  XVIII 
a  Festo  SS.  Trinitalis  Anno  Chrisliano  MDCXCVIP). 

Am  15,  October  ward  der  Anschlag  der  Schwester-Universität  Wittenberg 
communiciert. 


^)  Qui  ergo  alium  doces,  te  ipsum  non  doces:  qui  praedicas  noii  furandum 
furaris:  qui  dicis  non  moechaadum  moecharis  etc. 

2)  In  einer  ziemlich  mit  diesen  Ereignissen  gleichzeitigen  Hs,  Indiculus  civi- 
tatum  et  pagonim  [Univ.-Bibl.  MS.  1351^^)  findet  sich  Güten  bei  Köthen  angegeben 
womit  wahrscheinlich  auch  Kutten  gemeint  ist. 

3)  d.  i.  am  5.  October  4697. 


624  Fribdbich  Zarncke,  [HO 

20.  Auszug  aus  dem  Protocollum  JudtcicUe  4697,     Rep.  G,  A.  /X,  446. 

19.  Octobr.  Heinrich  Rademin^) :  Er  were  Sonntag  2)  abends  mit  bey 
der  Music  gewesen.  Müller:  Es  bette  Rademin  gesaget,  Sie  selten  nicht 
auff  ihre')  seite,  denn  sich  sonst  die  Maulaffen  einbilden  dürften,  es  würde 
ihnen  gemachet.  Rademin:  Es  were  beschloßen  worden,  mit  der  Music 
unten  im  Brühl  inne  zu  halten.  Wie  Sie  nun  dahin  kommen,  hette  er  Sie 
erinnert ,  daß  Sie  stille  seyn  selten ,  wüste  nicht ,  daß  er  von  Maulaffe  ge- 
redet; wüßte  nicht  anders  als  daß  Sie  das  Hauß  so  heißen;  negiret,  daß  er 
ihn  positiv^  einen  K.^)  geheißen.  Er  bette  verhindert,  daß  er  nicht  mil- 
Hon  Schläge  bekommen  und  ihnen  nicht  die  fenster  eingeworffen  worden; 
hette  gesagt ,  er  hielte  ihn  vor  einen  :c. ,  wenn  er  ihn  nicht  verklaget. 
Schertzer:  Er  hette  Müller  nicht  geschimpffet,  hette  auch  nicht  gehöret, 
daß  Rademin  dergleichen  gethan.  Müller:  Saget,  Schertzer  hette  ihn  Dicfals 
gethan,  sondern  er  hette  ihn  als  einen  Zeugen  angeruffen.  Eckarts  Söhne, 
dte  Kauffleuthe  betten  es  auch  mit  angehöret.  Rademin:  Erklähret  Mal- 
lern vor  einen  rechtschaffenen  Kerl,  desgleichen  thut  dieser  jenen  auch,  und 
geben  einander  die  Hände. 

1699. 

21.  Auszug  aus  dem  Protocollum  Judiciaie.     Rep.  G,  A,  JX,  448. 

41.  Martii.     in  causa  Reuthers 
Sollen  die  Zeugen  abgehöret  werden,  v.  acta. 

22.  Gedruckter  Anschlag,  Reuter^ s  Exclusion  betr.,  vom  46/26.  April.   Doppd- 
folio.    Acta  Rectorum,  Rep.  G.  A.  IV,  40. 

RECTOR 

ET  CONGILIUM  PERPETUUM 

ACADEMIAE  LIPSiENSlS. 

Nondum  licet  dememinisse  infaustae  pugnae,  nondum  delere  memoriam 
internecivi  tumultus,  qui  hanc  urbem  anno  MDCXCVII  proxime  ante  festum 
Michaelis  inquietabat^),  dum  supersunt  adhuc,  in  quos  ea  de  causa  animad- 
vertendum  est.  Nemo  vero  etiam  hac  vice  exspectabit,  ut  pugnam  iilam 
cum  ea,  quam  Michaeli  et  angelis  ejus  cum  Dracone  et  sociis  esse  Jobannes 
vidit  et  memoravit,  conferamus.    Neque  enim  qui  Angelos  bonos  in  conflictu 


^)  Es  ist  wohl  sehr  wahrscheinlich,  dass  dieser  Rademin  derselbe  ist,  der  nadi 
Löwen  (S.  45)  nach  Wien  ging  und  das  dortige  deutsche  Theater,  »too  nicht  grün- 
dete, doch  gewiss  in  bessere  Ordnung  brachten.  Kam  durch  ihn  das  Ms.  45287  dorthin? 

2j   ^^   /7^  October.    » Müller a  ist  natürlich  der  jüngste  Sohn  Johann  Adam. 

^)   doch  wohl  der  Müllers. 

*)  Die  Schimpfworte  schrieb  man  nicht  aus.  Es  wird  z.  B.  st€Ut  »Hmdsfottt 
in  den  Acten  geschrieben  » Hunds  IC. «  So  mag  denn  etcetera  auch  in  der  Rede  als 
Schimpfwort  gebraucht  sein.  Vgl.  bei  Chr.  Weise,  Zwey fache  Poetenzunft:  „3)ctinB| 
too^I  ein  etcaetra  fein,  S)cr  eure  ^itx  t>tta^i". 

5)    47.  Sept.   4697. 


^74]  Christun  Reuter.  625 

eo  repraeseniare  queant  invenimus [folgen  dann  RelegcUio- 

nen  zweier  bei  jenem  Tumult  Betheiligter)  ....  Quibus  jungimus  duos  alios 
Studiosos,  qui  cum  Angelos  quoque  imitari  possent  et  deberent,  maloruDi 
geniorum  modo  erga  alios  se  gerere  maluerunt.  Unus  eorum  ....  (folgt 
der  Name)  .  .  .  puerum  periculose  vulneravit.     Alter 

Christianus  Reulher,  GuUensis  Misnicus, 
quod  familiam  in  hac  urbe  fabulis  compositis  et  sarcasmis  consarcinatis  tra- 
duxisset  et  ludibrio  publice  exposuisset,  Anno  MDGXCVII.  Dominica  XVIII. 
a  Feste  SS.  Trinitatis  in  sexennium  ex  hac  Academia  relegatus  fuit.  Sed 
instar  daemonis  impuri,  qui  in  Pericope  Evangelica  adjuratus  dicitur  exivisse 
ex  homine,  et  cum  loca  arida  pervagatus  requiem  nullibi  invenisset  ad  do- 
mum  veterem  rediisse,  et  ipse  in  hanc  urbem,  ex  qua  auctoritate  Magistratus 
sui  ejectus  erat,  aliquoties  recurrit.  Hos  veluti  malos  genios,  illum  in  qua- 
tuor  annos  relegamus,  hunc  prius  relegatum,  perjurum  nunc  prorsus  exclu- 
dimus.  Discant  omnes,  quotquot  in  hac  tabula  scripli  sunt  juvenes  noscere 
Draconem,  sub  cujus  signis  militarunt  atque  moniti  ocyus  se  proripiant  d 
ad  castra  Archangeli  Michaelis,  quae  perfidi  deseruerunt,  redeant.  Stipen- 
dium militantibus  Draconi  opprobrium,  mala  conscientia,  aetema  pernicies; 
Michaelem  qui  sequuntur,  üs  merces,  honor,  tranquillitas  animi,  perpetua 
felicitas.     P.  P.  Dominica  in  Albis,  d.  26.  Aprilis^),  Anno  Christiane  MDGIG. 

Am  30.  April  ward  der  Anschlag  der  Schwester -Universität  Wittenberg 
übersandt. 


D.  Ans  dem  Kgl.  Säclis.  HauptstaatsarehiT ,  Loc.  9708  ^  Acta,  das  yon 
Christian  Kentern  y erfertigte  Lustspiel^  Graf  Ehrenfried  genannt  ^j. 

(Nr.  23—28). 

23.     Bittschreiben  Reuter' s  an  den  König-Churfürsten ,   vom  40.  October  (No- 
vember?). 

Dem  Allerdurchlauchtigsten  GroSmächtigsten  Fürsten  und  Herrn, 
Herrn  Friederich  Augusto  König  in  Pohlen  (u.  s.  w.)  .  .  . 
Meinem  allergnädtgsten  Könige,  Ghurfürsten  und  Herrn. 

19.  Nov.  1699  —  Praes.  d.  28.  Nov.  1699  3). 

AlterDurchlauchtigster  GroBmachtigster  König  u.  Ghurfürst; 

Allergnädigster  Herr, 

Ew.  Königl.  Majestät  geruhen  allergnädigst  zu  vernehmen,  wie  daß  ich 
wegen  eines  Scripti :  ©ie  cl^rüc^c  grau  genannt,  bey  der  Universität  Leiptzigk 


^)  Entweder  ein  Druckfehler  für  46.,  denn  damals  galt  noch  der  alte  Kalender, 
oder  es  ist  versehentlich  bereits  der  neue  Kalender  benutzt  worden.  Die  Anzeige 
nach  Wittenberg  rechnet  noch  nach  dem  alten  Stil. 

^)  Dieselben  bestehen  aus  4  Fascikelchen,  bezeichnet  Q,  X,  B,  C.  Im  Folgenden 
ist  nicht  auf  jedes  speciell  verwiesen;  C  aber  ist  ==  Nr.  39,  B  =  Nr.  40. 

3]   Schon  das  erste  Datum ,  welches  noch  auf  der  Adresse  steht,  bezeichnet  die 


626  Friedrich  Zarncke,  [ili 

vor  zwey  Jahren  auff  fünff^  Jahr  lang  relegiret  worden  bin.  Nachdem  aber 
diese  Straffe  mir  wegen  so  eines  geringen  Verbrechens  allzu  hart  geschienen, 
habe  ich  bey  Ihr.  hocbfdrstl.  Durchl.,  den  Herrn  Bischoff  von  Raab  vor 
andertbalben  Jahren,  als  Er  Zu  Merseburgk  gewesen,  Hülffe  gesuchet,  welche 
mich  nach  Leiptzigk  an  Ihr.  Durchl.  dem  Herrn  Statthalter  gewiesen,  reisete 
derohalben  auff  obgedachte  HocbfUrstl.  Durchl.,  des  Herrn  Bischoffs  Yoq 
Raab  hohen  heiß  nach  Leiptzigk,  Ihr.  hochfürstl.  Durchl.  dem  Herrn  Statt- 
halter umb  Cassation  der  beschehenen  relegation  deswegen  unterthänigsl  an- 
zugehen 2) ,  wurde  aber  von  einem  meiner  Feinde  Nahmens  Moritz  Yolckmar 
Götzen  ausspioniret  und  bey  der  Universität  Leiptzigk  angegeben,  welche 
mich  darauff  ungehöret  gleich  in  perpetuum  relegiret.  Weiln  aber  hierdurch 
meine  Fortun  Zeit  meines  Lebens  gehindert  würde,  und  ich  als  ein  Landes 
Kind  hier  in  Sachßen  nicht  fortkommen  kOnte,  Alß  falle  ich  Zu  Euer  Königl. 
Majestät  Fußen,  allerunterthünigsl  bittende,  diese  beschehene  relegation  aller- 
gnädigst  auff  zu  heben,  und  dißfalls  an  die  löbl.  Universität  Zu  rescribiren. 
Ich  werde  solche  hohe  Gnade  lebenslang  mit  allerunterthUnigsten  Daock  er- 
kennen, und  verharre 

Eür:  König!.  Majestät  und  Ghurfttrstl.  Durchl. 
Merseburgk  d.  10.  Octobr.^)  allerunterthänigster 

4699.  Christian  ReUter  mpr. 

Juris  Studios. 

24.     December  23:    Bericht  der  Universität  an  den  König-Churfürsten. 

Dem  Ällerdurchl.  Großmächt,  u.  s.  w.  Friedrich  Augusto^  König 
in  Pohlen  u.  s.  w.  Unseren  Aller  Gnädigsten  Herrn. 

Praes.  d.  8.  Jan.  4700. 

Ew.  Königl.  Majestät  und  ChurfUrstl.  Durchl.  sind  unser  andächtiges 
Gebeth  und  aller  unterthänigste  Dienste,  in  pflichtschuidigslen 
Gehorsamb,  treuesten  Fleißes,  eusersten  Vermögens  nach,  ieder- 
zeit  anvor, 

AUergnädigster  Herr. 
Ew.    KönigL    Majestät    und    Churf.    Durchl.   haben    Uns    auff  Christian 
Reuthers  wegen  Auff hebung  seiner  Relegation  beschehenes  hierbey  zurück- 
gehendes allerunterthänigstes  Suppliciren : 


Ankunft  des  Briefes,  das  zweite  vielleicht  die  Vorlage  des  Schreibens  im  Ober-Con- 
sistorium, 

^)    Ungenau,  es  waren  ja  6  Jahre. 

2)  Nur  im  Anfang  October  4698  waren  zu  gleicher  Zeit  der  Bischof  von  Rao^ 
in  Merseburg  und  der  Fürst  Statthalter  in  Leipzig.  Dann  wäre  freilich  die  Angak 
anderthalb  Jahre  sehr  ungenau.  Letztere  Angabe  würde  auf  den  Aufenthalt  des  Bischofs 
in  Leipzig  vom  30.  April  4698  an  passen,  von  wo  aus  er  wohl  auch  nach  Merse- 
burg hinübergekommen  sein  wird.  Damals  aber  ist  nicht  bekannt ,  dass  der  Filrsi 
Statthalter  in  Leipzig  gewesen  sei,  wo  er  vom  42.  bis  46.  Januar  verweilte, 

•*)   Sollte  dies  nicht  verschrieben  sein  für  November? 


^73]  Christun  Recter.  627 

Wir  solten,   was   es  umb   sein  Verbrechen   und   die   beschehene 

Relegation    vor  Bewandntts   habe,    förderlichst   allerunterthänigst 

berichten  p. 
in  Hohen  Gnaden  rescribiret  und  anbefohlen.  Hierauff  nun  sollen  Ew. 
König].  Majestät  und  Churf.  Durchl.  wir  allerunterthänigst  nicht  verhalten, 
welchergestalt  besagter  Reuther  beygelegtes  sehr  schimpffliche  Scriptum 
sub  Ä.ij  bie  el^rKd^e  f^rau  ju  $ߧtna  auff  Eustachü  Möllers  nachgel.  Witbe  und 
Kinder  alhier  gefertiget  und  ihnen  darinnen  nicht  allein  allerhand  Laster, 
sondern  auch  grobe  Verbrechen  beygemeßen,  weshalben  ihm  2.  Jahr  Re- 
legation und  hernach,  als  wir  ihm  sub  poen^  Exclusionis  cum  Infamie  mit 
dergleichen  Schrifften  nichts  zu  thun  zu  haben,  aufferleget,  er  aber  dennoch 
das  Lust-  und  Trauerspiehl  sub  B.^)  gefertiget  und  auff  einer  Adelichen 
Hochzeit  auffn  lande  die  Schrifft  sub  C.^)  als  eine  Leichen  Predigt  höchst 
ärgerlich  gehalten,  eine  6. jährige  Relegation  dictiret,  welche  auch  an  ihm 
exequiret  worden,  darauff  er  kurze  Zeit  hernach,  besage  der  eydlich  ab- 
gehörten Zeugen  Außage  wieder  seinen  geleisteten  Eydt  öfflers  alhier  in 
Leipzigk  sich  wieder  eingefunden,  weshalber  Wir  vermöge  unserer  Statuten 
sub  D.4)  mit  der  Exclusion  wieder  ihn  verfahren.  Gleich  wie  nun  hieraus 
allenthalben  zur  Genüge  zu  ersehen,  daß  Supplicant  die  ihm  zuerkante 
^Straffe  sehr  wohl  verdienet,  er  sonsten  auch  ein  liederlich  Leben  geführet 
und  schwerlich  eine  Beßerung  zu  hoffen ,  sondern  vielmehr  zu  befahren, 
daß,  daferne  seinen  Suchen  statt  gegeben  werden  solte,  er  dergleichen  ferner 
sich  unterstehen  und  andere  ehrliche  Leute  mit  solchen  Schand  Schrifilen 
zu  durchziehen  trachten,  insonderheit  auch  dieses  darumb,  weil  angeregtes 
Scriptum  weit  und  breit  bekant  worden,  ein  sehr  groß  Ärgernüs  nach  sich 
ziehen  und  andern  solchen  ingeniis  zu  Außübung  ebenmäßiger  Verbrechen 
Anlaß  geben  dtirffle,  Alß  zweiffein  wir  nicht,  Ew.  Königl.  Majestät  und 
Churfürstl.  Durchl.  werden  es  bey  unsern  Verfahren  allergnädigst  bewenden 
und  zu  Erhaltung  guter  Disciplin  supplicanten  mit  seinen  ungegründeten 
suchen  abweisen  laßen,  inmaßen  wir  darumb  allergehorsambst  bitten,  und 
verharren 

Ew.  Königl.  Majestät  und  Churfürstl.  Durchlaucht 
Leipzigk  allerunterthänigste,  pflichtschuldigste,  getreueste 

d.  23.  Decembr.         Rector,  Magistri  und  Doctores  der  Universität  daselbst. 
1699. 

Hierunter  mit  Bleistift:  Sollicitant  wann  er  sich  anmeldet  abzuweisen. 


^)   liegt  nicht  mehr  hei. 

2)  fehlt  desgleichen.   Gemeint  ist  natürlich:  S)er  e^tti(^en  tJrau  Ar  anfielt  unb  Job. 

3)  fehlt  auch.    Gemeint  ist  ®aö  ®en!*  unb  Sl^rcnmal^l. 

*)   befindet  sich  bei  den  Acten :  eine  Abschrift  des  betreffenden  Paragraphen  aus 
dem  Statutenbuche, 


628  FftiBBUGa  7.A»nm,  '* 

1700. 

45.     Januar  17 :    Kloijtchreihen  der  Mülierischen  Erben  an  dem  Eonig -C^   -- 
für$tm. 

Dem  AUerd.   und  GroSm.  u.  i.  ic.   Friedrich  Aogosto   .   .    - 
Unserm  aliergnadigsien  König  und  Chnrfklrsten  p. 

pr  den  45.  Martij.  1700. 

Allerdurchlaucbtigster  und  GroBmachtigsler  König  und  Charftlrst« 

Allergnädigster  Herr. 
Ew.   Königliche  Maj.   und   Churfttrstl.   Durchl.   können   wir   allcronter- 
thänigst  und  demttthigst  vorzutragen  nicht  unterlaBen,  was  maSen  vor  einigez: 
Jahren  ein  abgefäumter  Bösewicht,  Nahmens  Christian  Re fiter,  unsere  Fa- 
milie, als  des  seel.  Eustachii  Möllers,  weyl.  HandelsManns  alhier,   Wittbe 
und  hinterlaBene  Kinder,    sonder  unseres  Verschulden  und  ihme  darxa  ge- 
gebenen AnlaB   mit   den   allerärgerlichsten ,    auch  schändlichsten    Pasqvillen 
und  Schmäh'Karten  angegriffen,   solches  auch  solange  practicirel  and  damit 
angehalten ,   bis  er  endlich   von   hiesigen  Wohllöbl.  Goncilio   auf  unser  An- 
suchen zur  Inqvisition  und  endlichen  Verhafll  gebracht,   und  weil  er  sein^ 
SchmähSchrifl'ten   halber  überwiesen,    ihme,   besage  der  vor  Wohlgedacfateo 
Concilio  wieder  ihme   ergangene  Inqvisitions  Acta   fol.  62.  Zwey   Jahr  Re- 
legation zuerkandt  worden.    Es  hat  aber  hierauf  dieser  ErtzPasqvillant  den- 
noch mit  seinen  Schmähschrifillen  nicht  aufgehöret,   sondern  hat  diesen  ohn- 
erachtet  neue  SchmahKarten  ^) ,  als  eine  Opera ,  bad  S)end«  ttnb  (E^renma^I  p. 
wieder  uns  verfertiget,    darüber  ihme  auch  endlich  fol.  424  Sechs  Jahr  Re- 
legation zuerkandt   und   an  ihme   vollstrecket   worden.     Und   weil    Rettter 
dieses  auch  nicht  geachtet,  sondern  diesen  ungeachtet  in  Leipzig  sich  w^ieder 
eingefunden,    ist  er  zuletzt  von  hiesiger  Universität  vermöge  derer  Statuten 
cum    infamia    excludiret   worden.      Es    hat    aber  der   ErtzPasqvillant    diese 
Exclusion  so  wenig  geachtet  als  die  Relegationes,  sondern  hat  sich  dennoch 
diesem  allen  und   seinen   gethanen  Uhrpheden  zu  wieder  nach  Leipzig   be- 
geben,   gehet  auch  alhier  noch  bis  diese  Stunde  herumb  ohne  alle  Scheu, 
und  ziehet  seinen  liederlichen  Anhang  von  neuen  an  sich,    und  fängt  sein 
ehemahliges  Pasqvilliren  und  lästern  von  neuen  an,  inmaßen  an  verwichenen 
Sontag,  als  den  21.  Jan.  c.  a.,  solche  einer  von  uns  Schwestern,  als  solche 
des  Nachmittags  aus  der  Kirchen  nach  Hause  gehen  wollen,   von  Hm.  M. 
Carpzovs  Stube,  aus  dem  auf  der  Niclasstraßen  gelegenen  Bosse rischen 
Hause  mit  vollen  Halse  unzehlichmahl :    @^(am)>am^e  nachgeschrien.     Wenn 
also,  Allergnädigster  König  und  Churfürst,   dieses  lästern  und  Pasqvillirens 
kein  ende  bleibet,   wir  auch   solchergestalt  unseren  Gottesdienst  vor  diesen 
Meyneidigen  Schelmen  und  seinen  Anhang  nicht  mehr  sicher  und  mit  frieden 
abwarten  können,  dieser  Schelm  auch  unzehliche  Meineyde  begangen,  indem 
er  1.)  den  Studenten  Eydt,   welchen  er  nach  hiesigen  Statuten  hat  ablegen 

*)   Anfangs  war  geschrieben  Schmähschrifllten. 


^^^]  Christian  Reuter.  629 

iDttBen,  nicht  gehalten,  sondern  hat  testantibus  Actis  seinen  Arest  muth- 
wiilig  deseriret  und  seinen  reiegationen  zuwieder  sich  ohnzehlichmahl  wieder 
hier  betretten  lassen,  -  2.)  hat  er  auch  in  der  wieder  ihn  formirten  ratione 
libellorum  famosorum  Inqvisition  in  specie  geschwohren,  nicht  auszuweichen, 
sondern  sich  auf  erfordern  allezeit  zu  stellen.  Er  hat  sich  aber  diesen  un- 
geachtet laut  seines  eigenen  Geständnisses  fol.  80  auf  Kitzscher  begeben, 
und  sich  nicht  gestellet.  Ingleichen  hat  er  3.]  fol.  34  und  4.)  fol.  404  bey 
ietzgedachten  abgeschwohmen  Eyde  zu  zweyenmahlen  vor  hiesigen  wohl- 
löblichen Goncilio  angelobet  sich  iederzeit  auf  erfordern  zu  stellen,  aber 
dieses  so  wenig  gehalten,  wie  das  andere.  5.)  hat  bey  der  Relegation  dem 
Uhrpheden  abgeschworen,  aber  diesen  gleichfalls  zu  wieder  besage  der  in 
denen  Actis  befindlichen  Zeugen  Aussage  und  seinem,  in  dem  de  dato  Merse- 
burg den  40  Octobr.  4699  Ihro  Königl.  Maj.  und  Churfttrstl.  Durchl.  über- 
reichten supplicato  eigenen  GeständtnUB  nach  zum  öfiftern^)  nach  Leipzig 
gemachet  und  also  deßen  boßheit  hieraus  sattsam  abzunehmen,  Als  bitten 
wir  daher  allerunterthänigst  und  demüthigst,  Ew.  Königl.  Maj.  und  Ghur- 
fUrstl.  Durchl.  wolle  uns  als  Dero  unterthanen,  die  jährlich  ein  ansehnliches 
an  Contributionen  und  Steuer  richtig  erlegen,  vor  diesen  Meineydigen  Schelm 
allergnädigst  schützen,  und  an  hiesiges  wohllobl.  Goncilium  diese  Verfügung 
thun,  daß  dieser  Meineydige  Schelm  und  ErtzPasqvillant  wieder  zur  Yer- 
hafft  gebracht  und  nach  eingeholten  rechtlichen  wegen  seiner  unzehlichen 
Meineyde,  welche  nie  von  einen  Christen  erhöret  worden,  andern  zum  Ab- 
scheu gebührendt  bestraffet  werden  solle,  damit  wir  so  wohl  als  Dero  treue 
Unterthanen  unter  Ew.  Königl.  Maj.  und  Churfl.  Durchl.  allergnädigsten 
Schutze  sicher  leben,  als  auch  die  heilsame  Justitz,  welche  iederzeit  in  diesen 
Landen  floriret,  ferner  befördert  werden  möge.  Und  wie  dieses  billig,  also 
werden  wir  solches  auch  mit  allerunterthänigsten  und  demüthigsten  Dancke 
lebenslang  rühmen  und  erkennen,  verharrende 

Ew.  Königl.  Maj.  und  Churfürstl.  Durchl. 
Leipzig,  d.  27.  Jan:  alleruntertbanigste  und  demüthigste 

4700.  Eustachius  Möller  p. 

Concepit  D.  Joh.  George  Leib.  Johanna  Maria  Mollerln 

Johann  Adam  Möller. 

26.     Mär^i  ö :    Abermaliges  Bittschreiben  Reuter* s  an  den  König -Chur für sten. 

Dem  AUerDurchlauchtigsten  u.  s.  w.  Herrn  Friederich  Augusten 
u.  s.  w.  Meinem  allergnädigsten  Könige ,  ChurfUrsten  und  Herrn. 

pr.  den  45.  Martij  4700. 

Allerdürchlauchtigster,  Großmächtigster  König  und  Churfürst, 

Allergnädigster  Herr, 

Gleichwie  ich  Eur.  Königl.  Majestät  allerunterthänigst  dancke,  daß  Die- 
selben mich  wieder  die  bey  der  Leipziger  Universität  beschehene  unver- 
schuldete  exclusion   allergnädigst   geschützet,    und   solche    aus    landesfürstl. 


^)   Ist  doch  erlogen. 


630  Friedkich  Zarncke,  [116 

Hoheit  cassiret  haben,  Alß  kan  ich  im  gegentheil  Eur.  Königl.  Majestät  ailer- 
unterthänigst  nicht  verhalten,    daß  eben  Derjenige,   welcher  mich  in  dieses 
Unglück  gebracht,   nemlich  Moritz  Yolckmar  Götze,    ein  alter  abgelebter' 
Advocate   zu  Leiptzigk ,    mir  diese  Gnade  nicht  gegönnt ,    sondern  hat  neoe 
ungegrtindete  Dinge  bey   der  Academie   daselbst   wieder   mich   eingegeben. 
und  dadurch  Selbige  dahin  verleitet,  daß  Sie  wieder  mich  einen  Bericht  an 
Eur.  Königl.  Maj.  eingesendet^),  allermaßen  ich  mir  wohl  einbilden  kan,  daS 
derselbige  mehr  wieder  mich  als  Vor  mich  seyn  wird,    weil  ich  vermnthen 
muß,  daß  Diejenigen,  welche  ordentlich  in  den  Goncilio  sind,  und  die  Acta 
dirigiren ,    mir  zuwieder  sein,  und  zwar  daher  4)  weil  ich  ohne  genugsaiDe 
Ursache  und  bloß  wegen  privatinjurien,  welche  doch  ohne  Grund  gewesen, 
einmahl  fttnffzehn  wochen,  das  andere  mahl  neun  Wochen  incarceriret  worden, 
2)  weil  Sie   mich  das   letztere  mahl  in  Ihr  Bauer  Carcer  gesteckt,   und  da- 
rinnen fast  crepiren  laßen,   da   doch   sonsten  Vor  die  Studiosos  ein  anderer 
locus  custodiae  gewidmet  ist,  3j  Weil  Sie  mich  durch  schlechte  Alimentalios 
dahin   gebracht,    daß  ich  meiner  Defension  wieder  die  inculpirten  Injurien, 
welche   doch  sonsten  nicht  per  modum  inqvisitionis  tractiret  werden  sollen. 
renunciren    und    also   Ihrer    relegation    tanqvam   inauditus   pariren  mttBen. 
i)  Weil  Sie  mich  auff  Götzens  falsches  Angeben  exciudiret,  da  Ihnen  docli 
wohl  bewust,   daß   sonderlich  Er,    als  alle  seine  abgehörten  Zeugen  meine 
Feinde  sind ,    5)   Weil  Sie   mich   meines   öfftem  schrifftlichen  Ansucheos  od- 
erachtet,   nicht  hören  wollen,    6]  Weil  Sie  mich  mit  der  Exclusion  solcher- 
gestalt Übereilet,  daß  auch  einige  Ihrer  Assessorum  davon  nicht  ehe  etvss, 
als  nach   geschehener  Sache,   erfahren   können.     Ob   ich   nun  wohl,  Aller- 
gnädigster  König  und  Herr,  mich  mit  Eür.  Königl.  Maj.  mir  erwiesenen  Be- 
gnadigung vergnügen  kan,  so  will  doch  meine  zeitliche  Wohlfarth  erfordern, 
daß  ich   das  falsche  angeben   meines  Boßbafften  Denunciantens  zu  Rettuns 
meiner  Unschuld  an  den  Tag  bringe,  als  welcher  mich  beschuldiget,  daß  icfa 
tempore  relegationis  wieder  meinen  geleisteten  Uhrfehden  gehandelt  und  ein 
perjurium  begangen  hätte ,    da  sich  doch  eineslheils  die  Sache  gantz  anders 
verhalt,    anderntheils  aber  der  boßhaffle  Denunciant  gewisse  falsche  Zeugen 
wieder   mich   suborniret  und   auffgebracht,    welches    beydes    ich  ftlr  einen 
unpartheyischen  Richter  auszuführen  bereit  bin.     Weil  ich  aber  solches  ^or 
der  Universität  zu  Leiptzigk  wegen  oben  angeführten  Ursachen  zu  thun  roicb 
scheue,  auch  allenfalls  das  Juramentum  perhorrescentiae  zu  schweren  bereit 
bin,    und  mich  darzu  offerire,    Alß  gelanget  an  Eur.  Königl.  Majestät  mein 
allerunterthänigstes  Bitten,  Eür.  Königl.  Majestät  geruhen  zu  Beförderung  der 
Wahrheit  meiner  Unschuld  und  Zeitl.  Wohlfarth  die  in  der  Sache  ergangenen 
Acta  Von  der  Universität  Leiptzig  abzufordern ,   und  nacher  Wittenbergk  an 
die  Universität  daselbst,    welche   ich   dißfalls  zum  Judice  allerunterthänigsl 
ausbitte ,    zu   geben ,   woselbst   ich   dasjenige ,    was  ich  mir  auszuführen  be- 


1)  Er  starb  1706,   58  Jahre  alt,  zählte  also   4700  erst  52  Jahre,  mag  fr(^ 
lieh  ein  wüstes  Leben  geführt  haben. 

2,    Von  einem  solchen  Berichte  toissen  die  uns  erhaltenen  Acten  Nichts. 


^''71  Chbistian  Beuter.  631 

düngen  habe,    gebührend  an  den  Tag  legen  will,  der  ich  vor  diese  König). 
Gnade  lebenslang  verharre 

Eur.  König].  Majestät  in  Pohlen  und  Ghurfttrstl.  Durch!,  zu  Sachßen 
DreBden,  den  5.  Mai-tij  1700.  allerunterthanigster 

Christian  Reuter  mpr.  Jur.  Studiosus. 

27.  Api^il  21  :    Drittes  Bittgesuch  Reutei^'s  an  dm  Kmig-Churfürslen, 

Dem  Allerdurchl.  Gr.  u,  s.  w,  Friedrich  Augusto  u.  s,  w.  Meinem 
allergniidigsten  Könige  Churfürsten  und  Herrn. 

Praes.  d.  21  April  1700, 

Aller  Durchlauchtigster  GroBmachtigster  König  und  ChurfUrst, 

AUergnädigster  Herr, 

EUr.  König].  Maj.  erinnern  sich  allergnädigst,  welchermaBen  ich  Dieselbe 
in  aller  unterthäniglLcit  gebethen,  mir  allergnädigst  zu  verstatten,  daB  ich 
vor  der  Universität  Wittenberg,  weiche  ich  mir  zum  Richter  allerunterthUnigst 
ausgebethen,  meine  Unschuld  wieder  die  vor  und  von  der  Universität 
LeiptziglL  wieder  mich  angebrachte  Beschuldigungen  ausführen  könne.  Weil 
nun  vermöge  bereit  angezogener  Motiven  hiervon  mein  Zeitlich  Glück  de- 
pendiret,  noch  ich,  weil  ich  zu  Wittenberg  meine  Studia  proseqviren  will, 
zu  Leiptzigk  mich  femerweit  auffhalten  kan,  AlB  trage  ich  keinen  Zweiffel, 
Eür:  König].  Maj:  werden  mir  umb  so  viel  mehr  hierinne  allergnädigst  zu 
willfahren  geruhen,  und  weil  die  Universität  zu  Leiptzigk  mit  dem  aller- 
unterthänigsten  Berichte  die  wieder  mich  ergangenen  Acta  nicht  zugleich 
mit  eingesendet,  ungeachtet  an  dieselbe  aus  den  hochlöbl.  Ober  Consistorio 
deßentwegen  schon  vor  langer  Zeit  allergnädigster  Befehl  ergangen,  AlB  wird 
allerunterthänigst  gebethen,  Eür:  König].  Maj.  geruhen,  die  hohe  Verfügung 
ergehen  zu  laBen,  daB  die  Universität  angezogene  Acta  förderlichst  einsende, 
wofür  ich  Zeitlebens  verharre 

Eür.  König].  Maj.  und  GhurfUrstl.  Durchl. 

DreBden  den  21  April  allerunterthänigster 

1700.  Christian  Reuter  mpr. 

Hierunter  steht  mit  Bleistift:  Nach  Leipzig  an  Hr.  Dr.  Mylius  zu  schreiben. 

28.  April  35:    Schreiben  des   Kammerherm   Rudolph    Gottlob  von  Seyffertitz 
an  die  Universität. 

Dem  Magnifico,  Hoch  und  WohlEhrwürdigen,  WohlEdlen,  GroBacht- 
bahren,  Hoch-  und  Wohlgelahrten  Rectori,  Magistris  und  Doctoribus 
der  Universität  Leipzig,  Meinen  geehrten  Herren. 

Praes.  d.  29  April  1700. 

Magnifice  Academiae  Rector, 

Hoch-  und  WohlEhrwtirdige,  WohlEdle,  GroBachlbahre, 

Hoch-  und  Wohlgelahrte,  Geehrte  Herrn. 

Erinnern  sich  dieselben  gutermaBen ,    wie  daB  Ihre  König].  Majestät  in 
Pohlen   und   Churfürsll.   Durchl.   zu   SaehBen   p.  mein    allergnädigster  Herr, 

Abhandl.  d.  K.  S.  Oegellsch.  d.  Wisscnscb.  XXI.  4S 


632  Friedkicb  Zabxcke,  <> 

leztverwicbene  Neujahr  MeBe  l>ey  dero  hoben  Anwesenheii  zu  Leipzigi  meliru 
Secretariam ,    Herrn    Christian    Reuter,    auflf  sein    beinregliches  Vorstrin, 
solchergestalt   perdoniret,    daß  Sie  die   von  Ihnen  vormahls  wieder  ihn  dt- 
cretirte    Relegation    und    Exclusion    allergnädigsi   cassirel     und    aofigeholi^L 
wiBen   wollen,    und   dero  Gebeimbden  Rath  Excellenz  Herrn  WolflT  Dieirk l 
von  Beucblingen  anbefohlen,  daß  er  durch  seinen  Secretarium  dero alitrr- 
gnädigsten  Willen  und  Meinung  hiervon  der  Universiiäi  zu  erkennen  iielnri 
solle,    indem   Ihre  Königh  Majestät  in  dergleichen   Academischen  DiscipÜL- 
Sachen  insonderheit  ad  inferiores  Magistratus  specialiter  zu  rescribiren  Dicht 
gesonnen  sind.     Weil  aber  den  Vernehmen   nach  der  ÜDiversitäts  Aduariib 
dasjenige,    was  Ihre  Königl.  Majestät   dero  Academie   und  Rectori  mandiicb 
anbefehlen  laßen ,  nicht  ad  Acta  registriret  haben  soll ,  im  Gegentheii  aber 
wie   ich   berichtet  werde,    ein    unruhiger  und   unnlizer   Kopff  zu  Leipzigk 
wieder  angezogenen  meinen  Secretarium  Lermen  machet  und  ihm  mit  andern 
den  allergnädigsten  KOnigl.  Perdon  mißgönnet,  da  man  doch  aus  denen  Actis 
mehr  als  zu  wohl  perfundiret  ist,    daß  die  angegebene  sogenante  fiegünsli- 
gungen   theils   nicht   so  wichtig,   daß   man   einen  Academicum   und  junsifo 
Menschen  ^)  deswegen  seine  zeitliche  Wohlfarih  hemmen  solle,   theils  auch  er 
durch   den  modum  procedendi  solchergestalt  Ubereiiet  und  mit  seiner  Notb- 
durfft,  worumb  er  doch  inständigst  angesuchet,  nicht  gehöret  werden  wollen. 
daß   die    falsche   Denunciation  dadurch   bis    dato   unerörtert    geblieben  \si 
Wenn  ich  dann  [meinem]  Secretario  auff  alle  Wege  geholffen  wißen  und  Ineine^ 
Theils  schUzen  will,  solches  auch  der  hohen  Intention  Ihrer  König!.  Majestüi 
gemäß  ist,  Als  wird  man  zu  Erörterung  der  Wahrheit  und  AusftlhruDg  seinei 
Unschuld   zulängliche  Messures   faßen,   da  in  Gegentheii   ich   nicht  iwelüe. 
Dieselben    werden   ihres   Orths  demjenigen,    was  Ihre  Rönigl.   Majestät  in 
hohen  Gnaden  anbefohlen ,    in  aller  Unterthänigkeit  nachgehen  und  zugleich 
gebührender  maßen  ad  Acta  nachricbtlich  registriren  laßen,  allermaBen  sieb 
Selbige  wiedrigenfalß  großer  Verantworttung  hierunterziehen  würden,  welches 
ich  wohlmeinend  Denenselben  nicht  verhalten  kan  und  in  gegentheii  verharrr 

Dreßden  Meiner  geehrten  Herren 

den  23.  Aprilis  Dienst-  und  bereitwilliger 

1700.  Rudolph  Gottlob  von  Seyffertiti 


^)    allrrdings  bei  der  Relegation  fast  .52,   bei  der  Exclusion  53^2  Jahre 


alt. 


^79^  Christian  Reuter.  633 


II.  Christian  Reuter  und  Moritz  Voickmar  Götze*). 

1700. 

29.     Januar  19:    Klage  Götzens  über  Reuter  und  Genossen. 

An  Tit.  das  löbl.  Concilium  der  Vniversität  Leipzigk. 

praes.  d.   19.  Jan.  1700. 

Magnifice  Academiae  Rector 

HochEhrwürdige,  HochEdle,  Veste  und  Hochgelahrte 

Insonders  Hochgeehrte  Herren  p. 

Es  ist  bekanndt,  daß  Christian  Reuthcr  wegen  des  ofTenbahren  be- 
gangenen Meineydes  in  verwichenen  Jahre  von  dieser  lübi.  Universität  Leipzigk 
excludiret  und  durch  öffentlichen  Anschlag  pro  perjuro  declariret  worden. 
Nachdem  ich  nun  gestriges  Abendts  gegen  8  Uhr  von  meiner  Reise  nacher 
Hause  kommen,  und  wegen  erlittenen  Frostes  bey  dem  Auerbacher  Keller 
abgestiegen  und  unten  in  der  Stube  ein  halb  Nösel  Wein  zu  meiner  Ge- 
sundheit mir  geben  lasen,  und  mich  an  einen  Orte  alleine  gesezet,  hat  mich 
Hr.  Johann  Zehme  wegen  einer  gewisen  angelegenheit  ersuchet  und  sich 
zu  mir  gesez«t  und  seinen  Zustandt  referiret,  ist  bald  darauf  Hr.  Dr.  Glaser 
mit  Davidt  Fleischmannen  und  Christian  Reuthern  benebst  den  bekanndten 
Sinner  gleichfalß  an  diesen  Ort  kommen  und  sich  betruncken  gehabt,  sich 
gegen  mir  übergesezet,  da  denn  bald  darauf  so  wohl  Reut  her  alB 
Fleischmann  mit  Hunds  etc.:  Schelmen  und  Bährenhäutern  um  sich  ge- 
worffen  und  der  Studiosus  Welsch  sich  gleichfalß  zu  diesen  gemachet,  deren 
Injurien  approbirt  und  allerhandt  Ungelegenheit  und  Zanck  an  mir  gesuchet, 
daß  ich  die  umstehenden  Bötticher  und  Jungen  zu  Zeugen  anrufifen  müßen, 
und  zu  dem  Ende  auf  die  Wache  provociret,  daß  ich  zu  Verhütung  Unglücks 
endlichen  davon  gehen  müßen.  Wenn  denn  gleichwohl  an  dem,  daß  dieser 
excludirte  MeinEyde  Reuther  bei  Sr.  Königl.  Majestät  in  Polen  und  Chur- 
fUrstl.  Durchl.  zu  Sachsen  Allergnädigste  abolition  suchet  und  restituiret  seyn 
wil ,  und  von  der  Aufsuchung ,  so  bey  Fleischmannen  geschehen ,  gar 
schimpflich  geredet  und  auf  seine  vormahls  gebrauchte  Irrwege  lezo  wiederum 
kömet  und  ehrliche  und  unbescholtene  Leute  schimpflichen  tractiret,  die  er- 
kanndte  relegation  auch ,  worüber  er  den  Urpheden  abgeleget ,  noch  lange 
nicht  vorbey,  sondern  in  summa  contumacia  versiret,  welche  ihme  schwer- 
lich von  gewisenhaßlen  Richtern  conniviret  wird,  Alß  wil  ich  solches  hier- 
mit der  löbl.  Vniversität  hinterbracht  und  anbey  unterdienstlichen  angesuchet 
haben,  mich  wieder  diese  übel  aifectionirte  Turbatores  ambtswegen  zu 
schüzen,  zu  dem  Ende  ich  Hr.  Dr.  Glasern  und  den  Studios.  Welsch,  in 
gleichen   die  sämbtlichen  Bötticher   und  Jungen  wie  auch   Hr.  Zehmen   zu 

^)   Alle  hier  mitgetheilten  Actenstiicke  gehören  den  oben  S.   625  Anm,  2  ange^ 
führten  Fascikeln  des  Kgl,  Sachs.   Hauptstaatsarchivs  an. 

4i* 


634  Friedrich  Zarncke,  i1^<' 

Zeugen  angegeben  haben  wil,  damit  ich  nicht  an  böhern  örtern  zu  be- 
schweren Ursach  nehmen  muß,  bevorab  da  Reuther  bey  diesem  Conveotf 
gestanden,  daß  er  Zeit  wehrender  relegation  bei  Fleischmann  und  der 
Reich  in   sich  aufgehalten. 

Leipzigk  Mauritius  Volcinanis  Göz. 

den  19.  Jan.  1700. 

ponatur  ad  Acta.    Goncl.  d.  20  ej. 

30.     Februar  48 :    Spöttischer  Brief  Reuter^ s  an  Götze. 

Dem  Edlen  Großachtbarn  und  Rechtswohlgelahrten  Herrn  Mauritiu 
Voickmar  Götzen,  berühmten  Juris  Practico  zu  Leipzigk  uod 
GerichtsSchreiber  in  den  Flecken  zu  Ranstelt,  Meinem  Hochge- 
Ehrten  Herrn 

fr.  Leiptzigk 

auff  den  Barfüßer  Kirchhofe 
zu  erfragen 

Edeler,   Großachtbahrer  und  Rechtswohlgelahrten 
HochgeEhrter  Herr  Götze, 

Ich  habe  mit  nicht  geringer  Verwunderung  vernehmen  müßen,  wie  daB 
Derselbe   mich  bey   der   löbl.  Universität  Leiptzigk   abermahl    fälschlich  ao- 
gegeben,  und  in  seiner  lügenhafften  Denunciation  mir  solche  falsa  aufiTbUrden 
will,  die  gantz  wieder  alle  VernunfTl  lauffen,  und  Er  wieder  das  achte  Ge- 
both  gröblich  gesUndiget.     Liebster  Gott !   was  hat  Er  denn  davon ,   daß  Er 
seinen  neben  Christen  so  fälschlich  verfolget  und  denselben  suchet  in  Schaden 
und  Unglück  zu  bringen?    Will  Er  ein  Christ  heißen  und  den  Ruhm  haben, 
daß  Er  ein  Christliches  leben  ftlhret,  ey  so  muß  Er  sich  bey  herannahenden 
Alter  gantz  anders   auffführen,   sonst  dUrffte  wohl   dermahleins   seine  arme 
Seele  den  grösten  Schaden  dabey  leiden.     Der  Herr  examinire  nur  seinGe- 
wißen,    und  betrachte,   wie  viel  1000  Seuffzer  und  Thränen  Er  durch  sein 
unnöthiges  processiren  auff  sich  geladen.  Gewiß  (wofenie  er  anders  ein  Ge- 
wißen   hat)    so  wird   Er  befinden,    daß   Ihn   gantze  Centner   Lasten  tä'g/icji 
q Villen  und  plagen  und  weder  Tag  noch  Nacht  Ruhe  laßen.     Der  Herr  muß 
gewiß   nicht   fleißig   beten   und   seinen  Gott  für  Augen   haben;    denn  wenn 
dieses   wHre,    so   würde  Er  als  ein  Christ  sich  gegen  seinen  Nächsten  ganz 
anders  erzeigen ;  so  aber  kann  man  nicht  anders  schlüßen,  alß  daß  der  böse 
Feind  sein  Hertze  recht  regieren  muß,  welches  denn  Tag  und  Nacht  dichtet 
und  trachtet,    wie   es  Diesen  und  Jenen   schaden   und  verfolgen   möge.    Er 
hat   mir   zwar  viel  Dampff  unverschuldeter  Weise   angethan,   und  das  löbl. 
Concilium    zu  Leiptzigk   wie   auch  E.  UochEdien   Rath    daselbst   mit  solchen 
Lügen  berichtet,  welches  Er  schwerlich  bey  Gott  wird  verantwortten  könne». 
indem  Er   fälschlich    angegeben,    ich   wäre   am   verwichenen  4699.  Jahre  in 
der  Marterwoche   zu   Leiptzigk   in    Hr.   David    Fleischmanns    seiner  ß^ 
hausung   gewesen,    und   es   dahin    gebracht,    daß    auf  reqvisition  der  löbl- 
Universität    Leiptzigk    E.   IIochEdler    Rath    mich    daselbst   mit   denen  Sladl 
Knechten  suchen  laßen  ,    da  ich  doch  in  contrarium  erwiesen ,  daß  sein  an- 


f 


i-V 


*8I]  Christian  Keutbr.  635 

geben  falsch  und  Er  dadurch  mich  und  den  ehrlichen  Fleischmann  nur 
zu  beschimpffen  gesuchet.  Allein  weiß  Er  auch,  daß  Gottes  Slrafl'e  nicht 
außen  bleibet?  und  ist  auch,  wie  ich  vernommen,  nicht  außen  geblieben, 
indem  mit  gestriger  Post  alhier  fama  Kund  machte,  der  alte  Advocat  Götze 
wäre  in  den  sogenannten  Auerbachs  Keller  so  zerbläuet  worden ,  daß  Er 
mit  verwundeten  Kopffe  und  blauen  Fenstern  fein  säuberlich  wäre  nach 
Hause  gegangen,  lieist  dieses  nun  nicht  recht:  Israel,  Du  bringst  Dich 
selbst  in  Unglück?  und  nun  fragt  sichs,  wer  Mitleiden  mit  Ihn  haben  wird. 
Wohl  kein  Mensch.  Warumb?  Denn  Er  hats  darnach  gemacht.  Darumb 
gebe  ich  Ihn  diesen  Rath.  Er  kehre  umb,  beßere  sein  Leben,  verfolge 
seinen  neben  Christen  nicht  fälschlich,  bete  fleißig,  und  laße  sich  seine  be- 
gangene Sünden  leid  seyn,  so  wird  Ihn  Gott  wieder  gnädig  seyn.  Welches 
aus  Christlicher  Schuldigkeit  von  Hertzen  wündschet 

Dreßden  d.  18  Febr.  1700.  Christian  Reuter. 

31.     März  6:    Zweites  Klagschreiben  Götzens  an  die   Universität  über  Reuter 
und  Genossen, 

An  Tit:  Das  löbl.  Concilium  der  Vniversität  Leipzigk. 

praes.  d.   6.  Martij,   17001) 

Magnifice  Academiae  Rector 
IlochEhrwürdige,  UochEdle,  Yeste,  Großachtbahre  und  Hochgelahrte 

Insonders  HochgeEhrte  Herren. 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl.  geruhen  hochgeneigt,  sich  unterdienstlich 
erinnern  zu  laßen,  welcher  gestalt  ich  bereit  in  Monath  Januario  die  Unfug, 
so  der  excludirte  Christian  Reuter  wieder  mich  gesuchet,  den  löbl.  Con- 
ciiio  hinterbracht.  Ob  ich  nun  wohl  dazumahl  in  gewiße  Erfahrung  kom- 
men, daß  itztberührter  Reuther  ein  allergnädigstes  Rescriptum,  denselben 
wiederum  zu  recipiren,  übergeben  und  dißfalß  ein  allerunterthänigster  Be- 
richt ergangen  seyn  soll,  So  laß  ich  solches  alles  dahin  gestellt  und  habe 
mich  darum  gar  wenig  zu  bekümmern,  er  erlange  seine  intention  oder  nicht, 
gleichwohl  aber  kann  ich  anderweitig  eurer  Magnificenz  und  Herrl.  zu  hinter- 
bringen nicht  umhin,  wie  ich  am  17.  Febr.  jüngsthin  von  einen  bekandten 
bösen  Buben ,  so  aus  der  Reutherischen  Gesellschafil  ist ,  unvermuthet 
meuchelmörderischer  Weise  und  ohne  Wortwechslung  angefallen  und  ver- 
wundet worden  bin,  habe  ich  gestrigen  Tages  in  meiner  Unpäßlichkeit  bey- 
geschloßenen  BriefP  sub  A^)  von  der  Dreßdner  Post  erhalten,  und  alß  ich 
solchen  eröffnet,  bin  ich  gewahr  worden,  daß  solcher  von  den  Meineydigen 
Christian  Reuthern,  der  an  Gott  zum  Mamelucken  worden  und  deßhalbcn 
durch  öffentlichen  anschlag  als  ein  Meineydiger  von  dieser  Universität  ex- 
cludiret,  unterschrieben  und  dolose  mir  solchen  durch  die  Post  überbringen 
laßen,    da   er   doch  von   der  verstrichenen  Meße  an  allhier  sich  bey  Davidt 

*)   Man  vergesse  nicht,   dass  im  Jahre  4700  in  Leipzig  der  neue  KalenH 
geführt  ward  und  man  vom  18,  Febr,   auf  den  4,  März  übersprang. 
'-^j   Es  ist  das  eben  unter  .>0  abgedruckte  Schreiben. 


636  Friedrich  Zarncke,  18! 

Fleischmann   aufgehalten,    in   Trebsens   UauB   in  der   Pelerstrafie  bey 
dem  also  genannten  Knopf  Tobiasen   auf(?)  auch  öfilersten  eingefuDdeo, 
auch   in  angezogener  Missiv  nicht  alleine   auf  die   in  Monath  Januario  ein- 
gegebene denunciation   provociret  und   von  den  meuchelmörderischen  anüali 
in  allen  gute  WißenschalTt  hat,   sondern   auch   mich  darinnen  schimpflichen 
traduciret.    Wann  aber,  hochgeEhrte  Herren,  dieser  Reut  her  wegen  seiner 
SchandtThaten   halber   relegiret  und   wegen  des  begangenen  Meineydes  von 
dieser  löbl.  Vniversität  excludiret,  deßen  übriges  Leben  und  Wandel  ieder- 
raännigl.  bekandt,  wie  er  sich  iedesmahl  liederlich  aufgeftthret,  nichts  red* 
liches  alß  Schandtschrifften  auszustreuen  gelemet  und  seine  meiste  Profession 
von   Spielen   gemachet,    hin    u.  wieder  Schulden   caussiret  und  bald  diesen 
bald  jenen  aufgesezet,  seine  Bibliothek  meistentheils  in  Karthen  und  Schand- 
SchriSten   bestehet,    und   bloB  alB   ein  inutile  terrae  pondus  et  ignis  faiuus 
sein  leben  und  Wandel  gefUhret  und  vor  nichts  anders  alß  einen  undanck- 
bahren  Menschen  zu  halten,  maßen  er  denn  allen  denjenigen,  so  ihme  Wobl- 
thaten  erwiesen ,   bösen  Lohn  giebet ,  und  da  ich  diesen  undankbahrcn  Ge- 
sellen ,    da    er   wegen    seiner    SchandSchrifften    und    anderweitig   oOeobabr 
begangenen  Meineydt  allhier  captiviret,  viele  SchrifUten  verfertiget,  ich  ihm 
gedienet,    er  mir  nicht  ein  groschen  pro  labore  gereichet,    sondern  izt  sta(t 
diesen  mir  mit   seinen  sociis  den  lohn  dafür  giebet,    diese  und  dergleichen 
böse   subjecta    sind  nun  keinesweges   unter   ehrlichen  Leuthen   zu  dulten, 
sondern  ihres  steten  ärgernüßes  halber,    wohin  sie  schon   condemniret  und 
also   Meineydige   zu  considcriren ,    fortzuschaffen   seyn,    bevorab,   da  dieser 
Reuther   seine  Intention  in  keinem   stücke   noch  zur  Zeit  behauptet,  AlB 
wil   ich   dieses  alles   nochmahlen   dem   löbl.  Goncilio  deferiret  und  anbeini- 
gestellet  haben,   ob  diese  unfertige  Handel  und  committirte  falsa,  so  dieser 
excludirtc   Reuther  zeitwehrender  gesuchter  reception  iedermännigl.  zum 
öffentl.  scandalo  vorgenommen,  Ihre  Königl.  Majestät  und  Ghurfürstl.  Dcbl.  in 
aller  unterthänigkeit  nicht  zu  hinterbringen   und   mir  alß    einen   ehrlichen 
Manne  wieder  diesen  bösen  Menschen  mit  Richterl.  Hülfe   nicht  zu  Hülfe  zu 
kommen  sey,  und  ist  allen  ansehen  nach,  weil  er  von  dem  facto  allenthalben 
Wißenschaft  hat,  solches  communicato  consilio  zugleich  mit  ihm  vorgenommen. 
Ich  zweifflc  nicht,  es  werde  dieses  löbl.  Gerichte  mir  hierinnen  allenthalben 
Gerechtigkeit   mittheilcn,    und   diese   falsa   und  Betrug   solchen  Meineydigen 
Menschen  nicht  verstatten,  sondern,  was  dergleichen  Lcuthe  durch  Meineyde 
begangen ,    gebührendt  derer  zuerkandte  poen  zu  exeqviren ,   zu  dem  Ende 
ich  solches  deferiren  und  in  übrigen  verharren  wollen 

£w.  Magnificenz  und  Herrl. 
Lüipzigk  unterdienstschuldigster 

d.  6.  Martij  1700.  Mauritius  Volcmarus  Göie. 

Weil  Reuther  sich  alhier  nicht  befindet,  ponatur  ad  Acta. 


*83]  Christian  Reuter.  637 

32.  April  21  :    Zweiter  spöttischer  Brief  Reuter^s  an  Götze. 

Dem  Wohl  Edlen  Großachtbarn  und  Rechls-Wohlgelahrten  Hern  Moritz 
Volckmar  Götzen,'  berühmten  Juris  Practico  in  Leiptzigk  p. 
Meinem  HochgeEhrten  Herrn. 

francö  Leiptzigk 

auff  den  neuen  Kirchhofe 
zu  erfragen. 

WohlEdler,  groBachtbahrer  und  RechtsWohlgelahrter 
Insonders  Hochgeehrter  Herr  Götze, 

Wenn  Dieselbe  noch  wohl  auff  ist,  so  höre  ichs  gerne;  meines  orths 
betreffende,  so  bin  Gottlob  auch  noch  wohl  auff,  und  wundert  mich  sehr, 
daß  man  in  Leiptzigk  ausspargiret  hat,  ich  wäre  allhier  gestorben,  da  doch 
in  Leiptzigk  mein  vergnügtes  Auffseyn  (Gott  sey  Danck)  Vielen  bekandt  ist. 
Der  allerhöchste  erhalte  sowohl  mich  als  meinen  Hochgeehrten  Herrn  ^)  noch 
ferner.  Vor  ungefehr  44  Tagen  passirete  ich  durch  Leiptzigk  und  nach 
Weißenfelß,  alwo  ich  in  einer  gewißen  Affaire  was  zu  verrichten  hatte,  bey 
welcher  retour  ich  Denselben  auff  der  Grimmaischen  Straße  gehen  sähe,  und 
mich  von  Hertzen  recht  freute,  daß  deßen  vormahls  in  den  WeinKeller  em- 
pfangene Wunden  wieder  geheilet  waren.  Ich  wünschte  selbiges  mahl  nicht 
mehr  als  nur  mündlich  zu  seiner  reconvalescenz  meine  schuldigste  gratulation 
abzustatten.  Weil  aber  der*Postilion  sich  nicht  lange  auffzuhalten  hatte,  so 
muste  ich  wieder  meinen  willen  Deßelben  Gegenwarth  veriaßen  und  also 
nur  durch  diese  Zeilen  Denselben  schrifftlich  gratuliren.  Hat  mein  Hoch- 
geEhrter  Hr.  sonst  was  in  Dreßden  zu  expediren,  so  bitte,  solches  nur  sans 
vacon  an  mich  zu  recommandiren.  Bey  den  Cammer  Herrn  Von  Seyfferdiz 
bin  ich  engagiret,  woselbst  ich  iederzeit  anzutreffen,  und  so  ich  Denselben 
sonst  bey  Ihr:  Excellenz  Hocherwehnten  Gammer  Herren  was  dienen  kan, 
so  versichere  sich  Derselbe,  daß  Er  iederzeit  einen  treuen  Freund  an  mir 
finden  soll.  In  übrigen  recommendire  mich  zu  deßen  beharrlichen  Affection, 
und  verharre 

Dreßden,  d.  21  April  Meines  HochgeEhrten  Herrn 

1700.  allezeit  dienstl.  Christian  Reuter  mpr. 

33.  Mai.  11 :    Drittes  Klagschreiben  Götzens  an  die  Universität,  über  Reuter^ s 
Comödie,  deren  Verkauf  und  Aufführung. 

(Ohne  Adresse.) 

praes.  d.   13.  Maij  1700. 

Magnifice  Academiae  Rector 
HochEhrwürdige,  HochEdle,  Veste,  Hochachtbahre,  Hoch  und  Wohlgelahrte 

Insonders  HochgeEhrte  Herren. 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl.  ist  bekandt,  wie  ich  bereit  in  verstrichener 
Neujahr  Meße  wieder  den  meineydigen  excludirten  Christian  Reuther  und 


*)    meint  spöttisch  Götzen. 


638  Friedrich  Zarncke,  [^^^ 

seinen  sociis  Beschwerung  wegen  vorgenommener  Tbütligkeit  gefubret,  aber 
biB  dato  keine  hUlffe  erlanget,  hat  inzwischen  dieser  Reuther  communicato 
consilio  seiner  Adhaerenten  und  aliwo  er  sich. bey  Fleischmann  biß  daher 
aufgehalten,    ein  Pasqvill   unter  den   praetextu  Königl.  und  Churfürstl.  vor- 
gegebener Bewilligung  herauBzugeben   unterstanden,   solches   mit   Krelicn 
zusammen   getragen   und   durch   diesen   letzten   und    studioso    Welschens 
öffentlich  distrahiren  laßen,  absonderlich  aber  die  SchmähSchrifl^  durch  den 
geschwornen  Pedelln  Werthern  öffentlich  in  dem  großen  Fttrsten  Collegio 
verkauffen  laßen  und  darinnen  unterandern  was  Johann  Jacob    von   Rysel 
Dr.  in  Actis  Davidt  Fleischmann   ctr.  Herrn  Davidt  Zieglern    fol.  428 
dolose  zusammen  fingiret,  wieder  mich  höchst  unverantwortlicher  weise  an- 
bracht,  und.  ich   nach  erlangeten  allergnädigsten   special   Rescripto    solches 
durch  gebührende  Rechts  Mittel  wieder  ihn  ausgeführt,  Derselbige  in  dieses 
Pasqvill   gebracht,    und    selbige    entweder    heutiges  Tages   oder    kUnfnigen 
Freutag   zu  iedermänniglichen  anschauen  zu    meiner   grösten   BeschimpfuDfs 
und  Beschmuzung   meines   ehrl.  Nahmens  und  guten  Leumuthes  vorgestellcl 
werden  soll.     Ob  ich  nun  wohl  dahin   gestellet  seyn   laßen  muB,    daß  biß 
anhero    der    durch    öffentl.  Anschlag   vor    mei'neydig   declarirte    Reuther, 
welcher  nach  eingehohlten  Rechtsspruch  durch  den  begangenen  Meineydt  alß 
ein  Unmann  verworffen,  zum  öffentlichen  Scandalo  aller  Herren  Sludiosorum 
gedultet  und  gehauset  worden,    wordurch  er  Gelegenheit  genommen,   ehr- 
licher Leute  Nahmen   und  guten  Leumutb  vermittelst  famoser  Schrifllen  zu 
concutiren    und    (vermittelst)   schnöden  gewinnst  halber  ehrlicher   Personen 
Nahmen  in  der  Welt  gottloser  Weise   hin  und  wieder  spargirel,    und   hier- 
durch hoher  officianten  Nahmen  mißbrauchet,  wie  solches  seine  eigeDhändi£;e 
Missiv  sub  Q  [d.  i.  Nr.  32)  besaget.  So  überläse  ich  solches  alles  dem  Richter 
seinen  schweren  Pflichten  anheim,  ob  ein  solcher  Meineydiger  zu  dulten,  und 
ehrlicher  leuthe  Nahmen  zu  verfälschen,  zu  mißbrauchen  und  hierdurch  geld 
zu  schneiden  nachgelaßen  sey ;  So  bedinge  ich  mir  wieder  den  Distrahenlen 
Werthern,    weil  dieses  Factum  wieder  seine  Pflicht  und   sich   gleichfalB 
hierdurch   des   Mcineydes  theihafiXig  machet,    solches  auszuführen,    wil  zu 
dem  ende  solches   diesem   löbl.  Judicio,    was  angeführet,    zur  Untersuchung 
deferiret  und  um  unterthänigsten  Bericht  an  Ihre  Königl.  Majest.  und  Chur- 
fürstl. Dchl.  devotissime  angesuchet,  anbey  aber  inständigst  gebethen  haben, 
die  Exemplaria  von    Werthern   abzunehmen,  demselben  zur  eydl.  speciG- 
calion,    wie   viel   er  derer   noch   bey  sich  habe  und  wie  viel  sein  Eheweib 
verdistrahiret  anzuhalten,   und  um  Inhibition   sub  poena  nelegationis  an  die 
Interessenten  1) ,    so  dieses  Pasqvill    [zu   spielen  beabsichtigen?],    welche  in 
etliche  30.  Personen  bestehen  sollen.    Worunter   i)  Samuel  Rudolph  Bahr; 
"i)   Thomae    der  Studiosus,    welcher   sich    bey    Posch en    vormahls   auf- 
gehalten;   3)  Grabner,  Hr.  Lic.  Menckens  Famulus;    4)  Hr.  Dr.  Päkels 
Schreiber;  5)  der  Pasqvillante  Kroll,  welcher  dergleichen  Famos  Schrifllen 


^)  damals  die  Bezeichnung  für  die  Mitspielenden,  so  auch  stets  bei  Weise,  5.  B. 
»  Gestalt  meinen  Hochgeschätzten  Anwesenden  die  sämmtlichen  Interessenten  zu  be- 
harrlicher Gunst-Gewogenheil  anbefohlen  werden«  und  so  öfter. 


185]  Christian  Reuter.  639 

doD  Meineydigen  Reuthern  hilfft  zusaium  tragen,  auch  anbey  Grabnern 
in  conlinenli  eydi.  zu  befragen,  unterdienstlichen  gebethen  wird,  wer  die 
übrigen  Studiosi,  benebst  Werthern,  der  gleichfalB  hiervon  gute  Wißen- 
schafll  haben  mag,  eydl.  abzuhören,  inzwischen  aber  sich  Reut hers  Person 
zu  versichern  dienst],  angesuchet.  Gleich  wie  ich  nun  zu  hintertreibung 
solcher  bösen  Thaten  mich  rechtl.  Hülfe  versehe,  Also  wil  ich  mir  meine 
zustehende  jura  wieder  einen  ieglichen  in  Unterlaßung  richterl.  hülffc  aus- 
drücklichen vorbehalten  haben,  welche  auch  auf  diesem  Fall  einen  ieglichen 
seine  Ehre  zu  retten  nachgelaßen.     Leipzigk  den  11.  May.  1700. 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl. 

unterdienstschuldigster 

Mauritius  Volcmarus  Göze. 

Weil  Reuthcr  nicht  mehr  unter  die  Universität  gehörig,  so  muß,  was 
seine  Person  betrifll,  es  bey  denen  Stadtgerichten  gesuchet  werden;  in 
übrigen  aber  soll  Hr.  Götze  vor  allen  Dingen  bcybringcn,  daß  das  ange- 
zogene Scriptum  ein  Pasqvill  sey  und  Er  dorinne  gemeinet.  Goncl.  de  15. 
ejusd.;  inzwischen  aber  ist  am  obigen  praesentato  Werthern,  dergleichen 
nicht  zu  verkaufen,  angedeutet  worden.    Ghr.  Scheffler  mpr.  Actuarius  p. 

34.     Mai  13:     Viertes  Klagschreiben  Götzens   ah  die  Universität  j   die  Comödie 
und  deren  Aufführung  betr. 

An  Tit:  Das  löbl.  Concilium  der  Vniversität  Leipzigk. 

praes.  d.  13.  Maij  1700. 

Magnifice  Academiae  Rector 
HochEhrwürdige,  HochEdle,  Veste,  Hochachtbahre,  Hoch-  und  Wohlgelahrte 

Insonders  HochgeEhrte  Herren  p. 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl.  erinnern  sich  hochgeneigt,  wie  ich  des  Mein- 
eydigen Re uth er s  Pasqvill,  so  von  den  Pedellen  Werthern  vorkaufft  wor- 
den, und  sonsten  hin  und  wieder  spargiret,  auch  heute  nach  beykommen- 
den  Anschlag  sub  B.  öffentlich  in  loco  publice  vorstellen  wil,  der  löbl.  Vni- 
versitHt  zur  Untersuchung  deferiret  und  um  poenal  Inhibition  an  die  Inter- 
essenten angesuchet,  So  wil  ich  hoffen,  weil  ohne  dem  einen  Richter  in 
conscientia  oblieget,  solche  böse  Thaten  zu  hintertreiben,  bevorab  da  die 
Pasqvillanten  die  allergnädigste  Bewilligung  mit  keinem  Worte  dociret,  wes- 
wegen um  soviel  destomehr  dieses  Werck  wohl  untersuchet  werden  und  mir 
Richterliche  hülfe  wiederfahren  laßen.  Gleichwie  ich  nun  an  der  gesuchten 
inhibition  nicht  zweiffle,  also  verharre  ich  dafür 

Ew.  Magnißcenz  und  Herrl. 

Leipzigk  d.  13.  Maij  1700.  unterdienstschuldigster 

Mauritius  Volcmarus  Göze. 

Daneben,  bezeichnet  mit  B,  ein  Theater^-Zettel,  Doppelfolio,  gedruckt  [ist  mit 
Kleister  angeklebt  gewesen]  : 

®raf  I  e^rcnfrtcb  |  in  einem  |  «uft*®|>ietc  |  öorgeftcüet  |  unb  |  5Kit  3^v. 
Sönigf.  aWai:  in  ^ol^Ien  :c.  unb  6^ur*  |  fürftl.  'iDure^L  3u  ©ad^fcn,  k  |  aüer* 


< 


640  Friedrich  Zarngk£,  [<86 

gnäbtgften  |  SPECIAL-SBctoiaigunfl  |  unb  |  grcJ^^cit  jum  ©rud  bcfdrbcrt,  |  SBBirt 
$eute  üDonnetftag  ald  ben  13.  May  praesenriret.  (sie)  \  (Zierleiste)  \  'Der  ®c^n^ 
$(a<;  tft  anf  (sie)  bem  t$(etfd^'$aufe  unb  toirb  puncte  3.  U^r  angefangen. 

35.     Mai  14:    Fünftes  Klagschreiben  Götzens  an  die  Universität,   die  Com&die 
betr. 

An  Tit:  Das  löbl.  ConciJium  der  Vniversität  Leipzigk  p. 

praes.  d.   44.  Maij,  1700. 

Magnifice  Academiac  Rector 

UochEhrwttrdige,  HochEdlc,  Veste  und  Uochgelahrle 

Insonders  HochgeEhrte  Herren. 

Ich  habe  bereit  zu  unterschiedenen  mahlen  wieder  ihren  Faaiuluin  Aca- 
demicum  Werthern,  daß  er  des  Meineydigten  exciudirten  Rcuthers  ver- 
fertigtes Pasqvill  um  schnöden  gewinnst  willen  öffentl.  wieder  seine  Pflicht 
distrahiret  und  wegen  seines  Eydes  zum  Mamelucken  worden,  um  inhibilion 
angesuchet,  auch  wieder  die  andern  Gommoedianten ,  welche  sich  alB  Stu- 
diosi in  loco  publice  gebrauchen  laßen,  ansuchung  gethan,  absonderl.  aber 
wieder  des  Herrn  Professoris  Lic.  Menckens  Famulum  *)  Inhibition  ge- 
suchet, aber  nicht  die  geringste  hülfe  erlanget.  Nun  wird  es  der  löbl.  Yni- 
versitäl  bcy  denen  auswärtigen  ein  schlechter  Ruhm  seyn,  daß  sie  so  schlechter 
dinges  ihren  Pedell  öffentliche  Pasqville  verdistrahiren  laßen,  noch  zum  höch- 
sten ärgernUß  ihren  unterthanen  einen  meineydigen,  worvor  sie  durch  öffent- 
lichen anschlag  solchen  declariret,  anhängen  zu  laßen,  ehrliche  und  unbe- 
scholtene Leuthe  hierdurch  beschmizet  werden,  und  solchen  alle  rechtliche 
hülfe  versagen,  So  muß  der  Beträngte  zu  Gott  schreyen,  bevorab  da  die- 
jenigen, so  in  gewißen  Zeiten  obrigkeits  Stelle  vertreten,  ihre  bedienten  zu 
solchen  Ärgernüß  brauchen  laßen ,  und  weiln  der  Verdacht  auf  seilen  des 
Pedells  sich  noch  ferner  hervorthut,  daß  er  gar  dieses  Pasqvill  mit  Krelln 
und  Reuthern  öffentlich  benebst  den  Patent  drucken  laßen  und  zu  dem 
Ende  bey  dem  Buchdrucker  Gözen  sich  biß  dahero  eingefunden,  von  die- 
sem Wercke  deliberiret  und  was  sonsten  in  dem  Gerichte  verschwiegen  seyn 
sollte,  von  denen  unschuldigen  Gefangenen^]  alles  propaliret,  So  wird  hier- 
mit gebethen,  den  Buchdrucker  Gözen  allenthalben  umständlich  dorüber 
eydl.  vernehmen  zu  laßen ,  auch  dem  Pedell  schon  gebethnermaBen ,  wie 
viel  er  von  den  Exemplarien  bis  daher  verdistrahiret,  von  wem  er  und  die 
Seinigen  solche  enthalten,  auch  was  darinen  von  meiner  Person  schon  läng- 
sten aus  denen  Actis  sub  B.  fol.  128  Nachricht  gehabt,  eydl.  anzeigen  zu 
laßen,  und  mit  der  Inqvisition  wieder  ihn  zu  verfahren  und  mir  gleich  an- 
dern rechtl.  Hülfe  mitzutheilen ,  auch  hiernechst  Grabnern  zugleich  über 
das  ausgeübte  Factum   allenthalben    zu  vernehmen.     Ich  reservire  mir  aber 


*)  Nach  der  Angabe  im  Voraufgehenden  war  es  der  Stud.  Grabner,  der  d€Mn 
auch  unten  mit  Namen  genannt  wird. 

^)  W^<w  für  Gefangene  gemeint  sein  mögen  j  ist  mir  nicht  bekannt.  Studenten 
auf  dem  Carcer? 


\ 

\ 


^8*7]  Christian  Recter.  641 

ob  denegatam  juslitiam   mich  an   höhern  örtern  zu  beschweren,   und  durch 
gebührende  Rechts-Miltel  solches  auBzuführen.     Verharre  inzwischen 

£w.  Magnificenz  und  Uerrl. 
Leipzigk  unterdienstschuldigster 

den  14.  Maij  4700.  Mauritius  Volcmarus  Göze. 

36.     Mai  14:    Sechstes  Klagschreiben  Götzens  an  die  Universität,  die  Comödie 
betr. 

An  Til:   Das  löbl.  Conciiiuui   der  Universität  Leipl  .<en   hoch- 

geehrten Herrn. 

praes.  d.  ii  Maij  1700. 

Magnifice  Academiae  Rector 

HochEhrwürdige,  HochEdelc,  Veste  vnd  üochgelahrte 

Insonders  Hochgeehrte  Herrn  ^). 

Obgleich  [von]  Ew.  Magnifc,  auf  beschehene  Denunciation  deß  von  dem 
Meineydigen  exciudirten  Reut  her  verfertigten  Pasqvills  vndt  deßen  öfent- 
lichen  verdistrahiren,  dem  verpflichteten  Pedell  Inhibition  geschehen,  sich 
deßen  zu  enthalten,  So  hatt  er  sich  doch  daran  nicht  gekehret,  sondern  noch 
gestriges  tages  dasjenige  Exemplar,  so  ich  gestern  in  das  gerichte  einliefern 
laßen,  abermahl  in  dem  Großen  Fürsten  Collegio  gegen  erlegung  8.  gr.  ver- 
kaufen laßen.  Ob  ich  tiun  mir  keinesweges  einbilden  kan,  daß  so  ein  hohes 
vornehmes  Gerichte  durch  ihre  eigene  verpflichtete  Vnterthanen  sich  vexiren 
vndt  ihre  inhibitiones  so  an  den  nagel  hangen  laßen  werde,  vndt  im  vbri- 
gen  frey  laßen  wolle,  daß  propter  lucrum  gottloßer  bößer  gewißenloser  leuthe 
Ehrlicher  Persohnen  (vndt)  guter  leumuth  concutiret  vndt  verkaufet  werden 
soll,  viel  weniger  der  distrahente,  so  sich  des  criminis  falsi  et  famosi  libelli 
theiihafllig  gemacht,  vnsuspendiret  laßen  werde;  So  trage  ich  bedencken 
hinführe,  biß  er  sich  von  der  Inquisition  entbrochen  vndt  mir  allenthalben 
satisfaction  geschehen ,  nicht  das  allergeringste  ahnzunehmen  ^j ,  worwieder 
ich  einmahl  vor  allemahl  höchst  feierlichst  protesliret  haben  will;  vndt  da- 
mit er  sich  nicht  entschuldigen  könne,  so  wird  hiermit  gcbelhen,  denjenigen, 
durch  welchen  ich  das  ad  acta  insinuirte  Patent  bey  ihn  erkaufen  laßen, 
vber  nachgesezte  Articul  ohne  vcrzug  eydlichen  zu  examiniren,  vndt  alßdenn 
so  wohl  wieder  diesen  als  andere  interessenten  mit  der  Inquisition  gebtth- 
rendt  [zu]  verfahren,  damit  ich  mich  ob  denegatam  justitiam  zu  beschweren 
nicht  ursach  nehmen  muß.  Gleichwie  ich  nun  an  Recht  vndt  gerechtigkcit 
nicht  zweifele,  alß  verharre  ich  dafor 

Ew.  Magnfc.  vndt  Ilerl. 

Leiptzgk  d.  4  4.  Maij  4700.  vnterdienslschuldigster 

Mauritius  Volcmarus  Götze. 


^)  Der  Brief  ist  hastig  hingeioorfen^  sehr  undeutlich f  auch  stilistisch  nicht  correct. 
Man  beachte  übrigens j  wie  Götze j  der  hier  selber  schreibt,  noch  der  alten  Ortho- 
graphie folgt,  die  sonst  damals  bereits  abgethan  war.     Er  schreibt  noch  vndt,  vn  etc. 

2)  fehlt  etwas? 


/ 


642  Fribdrich  Zarncke,  1^ 

Soll  vor  allen  Dingen  darthun,  daß  das  Scriptum  ein  PaBqvill  und  auff 
ihn  gemachel  sey.     GoncL  den  45.  ej. 

Darnach:  Articuli ,  worüber  Herr  Köhler  Studiosus  eydiieh  zu  exami- 
niren.  Es  sind  acht,  darunter  der  letzte:  Wer  die  Persohnen  vndt  Studiosi 
gewesen,  so  gestern  die  Comoedia  mit  auf  dem  Fleischhause  gespicJet  habeo. 

37.     Mai  29 :    Siebentes  Klagschreiben  Götze' s  an  die  Universitüt,  mit  der  BiiU. 
über  bestimmte  Articuli  ein  Verhör  anzustellen. 

An  Tit.  Das  löbl.  Goncilium  der  Universität  Leipzigk,   Meinen  hoch- 
geehrten ilerrn. 

praes.  d.  29.  Maij,   1700. 

Magnifice  Academiae  Rector 
HochEhrwUrdige,  llochEdele,  Yeste,  iloch  vndt  Wohlgolahrte, 

Insonders   Hochgeehrte  Hl. 

Demnach  der  Meineydige  Christian  Reuther  so  wohl  in  seinen  vher- 
gebenen  schrifTten  als  gedruckten  Pasquill  vorgegeben ,  als  wenn  ihme  ni- 
tione  exclusionis  vngtttlich  geschehen ,  vndt  sein  Verbrechen  dadurch  coio- 
riren  vndt  sowohl  den  Magistrat  als  auch  andere  Interessenten  dießfals  bey 
hoher  Obrigkeit  denigriret,  damit  nun  dcBen  vnverschämtes  böfies  vorgeben 
wiederleget  werden  kan,  so  gelanget  an  Ew.  Magnif.  vodt  llerrl.  meio 
vnterdienstl.  suchen  vndt  bitten,  Sie  wollen  Hochgeneigt  geruhen,  über  bey- 
kommende  Articul  Herrn  Christoph  1mm igen  Not.  Publ.  Caes.  eydiich  i\i 
oxaminircn  vndt  deß  aussage  ad  acta  registriren  zu  laßen,  mir  aber  her- 
nach deßen  deposition  in  forma  probante  wiederfahren  zu  laßen;  worfür 
man  verharret 

Ew.  Magnif.  vndt  Herrl. 
Leipzig  d.  29  Maij  vnterdienstschuldigstcr 

1700.  Mauritius  Volcmarus  Götze. 

P.  S. 

ingleichen    wird   gcbethen,  Hr.  Herrmann   vermittels  der  Stadtgerichte 

alhier  eydlichen  befragen  zu  laßen,  das  sich  Reuther  zeit  wehrender 

relegation  (sich)  bey  ihm  alhier  eingefunden  vndt  wie  ofTt. 

Auf  der  Rückseite  und  weiter  folgen  16  (15)  Articuli. 

Art.  1  :  Wie  Zeuge  heiße,  wer  vndt  wie  alt  er  seye. 
Art.  2:  Ob  Zeuge  Christian  Reuthern,   geweßenen  Studiosum  kanne 
vndt  vmb  deßen  leben  vndt  wandel  gute  wißenschafll  habe. 

Art.  3:  Wahr,  daß  dieser  Reuther  vor  kurzen  Jahren  wegen  vnferliger 

Hendel   vndt  gemachter  Comoedien   wieder  die  Müllerischen  Erben  von 
der  Universität  Leipzigk  relegiret  worden. 

Art.  4  :  Wahr,  daß  solches  durch  einen  öfentlichen  getruckten  anschlag 
alhier  geschehen. 

Art.  5:  Wahr,    daß  dieser  Reuther  lange  alhier  incarceriret  ge»escD 
vndt  daß  bei  seiner  relegation  bey  der  dimission  den  Urpheden  ablegen  müBen. 
Dieser  articul  wirdt  mit  den  Art.  Inquis.  dociret  (?). 


\ 


<89]  Christian  Reuter.  643 

Art.  6:  Wahr,  daB  ermeldeter  Reuther,  da  er  bereit  relegiret  vndt 
angeschlagen  gewesen,  zum  öfftersten  sich  in  Leipzigk ,  den  abgelegten  Ur- 
pheden  zuwieder,  (sich)  aufgehalten,  vndt  bey  Hr,  Herrmannen  dem 
Seidensticker  eingekehret. 

Art.  7:  Wahr,  daß  Zeuge  den  relegirten  Reuther  bey  gedachten 
Herrmannen  selbst  gesprochen  vndt  geredet. 

Art.  9  (sie):  Wahr,  daB  Zeuge  Reuthern  gewarnet  vnd  solcher  re- 
monstriret,  wie  er  wieder  seyn  Eydt  sich  alhier  aufhielte  vndt  wenn  es 
Kundt  wehre  er  vngeiegenheit  davon  haben  könte. 

Art.  40:  Wahr,  daB  Hermann  vndt  die  seinigen  hiervon  allenthalben 
gute  wißenschafTt  haben. 

Art.  14:  Wahr,  daB  sich  offtberührter  Reuther  auch  aniezo  seinem 
Eyde  zuwieder  aufheldt,  Eeit  wehrender  relegation  eine  dergleichen  Comoe- 
dia  in  truck  gehen  vndt  solche  sowohl  auf  dem  Fleisch-  als  Operen  HauBe 
spielen  laBen. 

Art.  42:  Wahr,  daB  dieser  Meineydige  Reuther  Hr.  Moriz  Volckmar 
Götzen,  Advocaten  alhier,  darinnen  vielfaltig  aufgefUhret  vndt  zu  deB  Be- 
schimpfung solches  pasquill  so  wohl  auf  dem  lande  als  alhier  distrahiren 
laBen  vndt  sich  dadurch  viel  geld  in  den  beutel  gemacht. 

Art.  43:  Wahr,  daB  in  solcher  Comoedia  vndt  Pasquille  gedachter  Götze 
böBlich  an  seinen  ehren  vndt  guten  leumuth  gekräncket  vndt  vor  ieder- 
menniglichen  beschimpfet  worden. 

Art.  4  4 :  Wahr  vndt  muB  Zeuge  wahrhafftig  bekennen ,  daß  dieser 
Reuther  sein  eydt  gebrochen,  vndt  so  lange  Zeuge  ihn  gekandt,  sich  lieder- 
lich aufgeführet  vndt  von  Kartenspiel  vndt  Pasquillen  vndt  anderen  schimpfF- 
Hchen  schrifllen  wieder  ehrliche  leuthe  profession  gemacht. 

Art.  45:  Wahr,  daB  dergleichen  vornehmen  wieder  alles  Rechte,  vndt 
iedcrman  dadurch  geärgert  wird. 

Art.  46:  Wahr,  daB  dergleichen  Ehrliche  vndt  vnbescholtene  leuthe 
vnverschuldet  in  schimpf  vnd  spott  gesezet  werden. 

38.     Juni  2:    Achtes  Klagschreiben  Götzens  an  die  Universität,  mit  der  Bitte, 
über  bestimmte  Articuli  ein  Vei^hür  anstellen  zu  lassen. 

An  Tit:  Das  löbl.  Concilium  Der  Yniversität  Leipzigk. 

praes.  d.  Sl.  Junij  4700. 

Magnifice  Academiae  Rector 
HochEhrwUrdige,  HochEdle,  Veste,  Uochachtbahre  und  Hochgelahrte 

Insonders  HochgeEhrte  Herren  p. 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl.  ruhet  annoch  im  hochgeneigten  Andenken, 
wie  ich  dasjenige  Pasqvill,  so  der  Meineydige  Reuther  und  sein  Correus 
Kr  eil,  welches  so  wohl  diese  alB  auch  ihr  Socius  Wehrter  der  Pedell 
allhier  offentl.  distrahiret  und  auf  den  Theatro  so  wohl  auf  den  Fleisch-  alB 
opernhause  mit  ihren  MitCommoedianten  zu  meiner  grösten  beschimpffung 
zu  iedermänniglichen  anschauen  vorstellen  laBen,  zur  Untersuchung  deferiret 
und  in  der  Hoffnung  gelebet,  duB  sothanes  unzuläBliches  factum  untersuchet 


I 


/ 


644  Friedrich  Zarncke,  ^^' 

werden   solle ;    So   ist   doch   solches   biß  dato  nicht  geschehen ,    sondern  idi 
bin  mit  einer  nichtigen  Entschuldigung,  so  zu  Rechte  nicht  zulänglich,  ab- 
gewiesen worden ;  mit  den  Vorgeben,  daß  ich  vor  allen  dingen  beybriogeo 
soll ,    ob   ich   darmit   gemeinet.     Nun   habe  ich  bereit  zu  removirung  dieser 
resolution  unterschiedene  Zeugen  angegeben,  welche  aber  bißdato  nicht  al>- 
gehöret  worden.     Wenn   denn   hierdurch   die  Gerechtigkeit    supprimirt  und 
die  illicita  nicht  abgestraffet,  sondern  ehrliche  unbescholtene  Leute  an  ihreo 
guten  Leumuth   mercklichen  gekräncket   werden,    welches    v/ohl  schwerlich 
zu   verantworten  seyn  wird.   So   muß   ichs  Gott   und   dem  Richter  anheini 
stellen,  welches  Er  in  seiner  lezten  TodesStunde  und  am  jüngsten  Gerichte 
bey  dem  Höchsten  Richter  aller  Welt  zu  verantworten  wißen  muß.     Es  sind 
ja  die  Acta  uf  allen  Blättern  voll,  absonderlich  aber  diejenigen  Acta  wieder 
Dr.  Johann  Jacob   von   Ryseln,    welcher  anizo  .eben  dieser   an   mir  an- 
schuldig  ausgeübten  Leichtfertigkeit  halben  oondemnirt,  anizo  in  dieses  Pas- 
qvill  gebracht,  und  dahero,  was  notorium  und  die  Acta  fast  in  allen  Judiciis, 
so  mit  diesen  beschuldigungen  angefüllet,    publiqve   und  dahero  die  Probs- 
tion  cessiret.     Zum  Ueberfluß,    daß  ich  hierdurch  gemeinet,   undt  dasjenige 
Factum,  so  der  Socius  Fleischmann  d.  47.  Febr.  4700  an  mir  ausgeübei 
und  denen   StadtGerichten   alhier  denunciret,    sind  die  zugefügte  Wunden 
darinen   enthalten ,   so   provocire   ich  auf  diese  Acta ,   und  diBfalß  abgehörte 
Zeugen ;  nechst  diesen  werden  bey  kommende  Articul  übergeben,  die  dorinen 
benahmbte  Zeugin,  so  dero  Jurisdiction  unterworffen,  darüber  ohne  Verzug 
eydl.  zu  vernehmen,   und  mir  zu  meinen  Rechte  allenthalben  zu  verhelffeD, 
auch   den  Lauff  der  heilsamen  Justiz  mir   nicht   hemmen,    damit  ich  nicht 
wieder  meinen  Willen  genöthigt  werde,  mich  ob  denegatam  Justitiam  durch 
gebührende  RechtsMittel  an  höhere  Obrigkeit  zu  beschweren  noch  zustehende 
Action  anzustellen.     Gleichwie  ich  nun  an  Mittheilung  Recht  und  gerechtig- 
keit  nicht  zweifle.  Also  verharre  ich  dafür 

Ew.  Magnificenz  und  Herrl. 
Leipzigk  unterdienstschuldigster 

den  2.  Junij.  4700.  Mauritius  Volcmarus  Göze. 

Eingelegt  ein  Bogen  Articuli,  Worüber  Johanna  Eleonora  Fetlin  eydl. 
zu  befragen. 

art.  4  :  Wie  Zeugin  heise,  wer  und  wie  alt  sie  sey? 

art.  2:  Ob  Zeugin  Christian  Reuthern,  so  vor  kurzen  Jahren  wegen 
öffentlichen  begangenen  MeinEydes  von  der  Vniversitat  Leipzigk  ausgeschloßen 
worden,  kenne? 

art.  3:  Wahr,  daß  izt  besagter  Meineydiger  Reut  her  und  Studiosus 
Kr  eil  eine  also  genannte  Commoedie  biß  dahero  in  Druck  gehen  und  durch 
den  Studiosura  Welschen  verkauffen  laßen,  diese  Commoedie  auch  Zeugin 
bey  gedachten  Welschen  gesehen  und  ihr  würcklich  gezeiget  worden? 

art.  4  :  Wahr,  daß  in  solcher  Commoedie  unterschiedenes  enthalten,  so 
theils  der  Tänzer  Bahr  theils  auch  was  Dr.  Rysel  falschlich  wieder  Gözen, 
daß  in  seinen  Hause  vorgegangen  seyn  solle,  vorgebracht,  darinen  eni- 
halten  t 


194]  Christian  Reuter.  645 

art.  5 :  Wahr ,  daß  solche  Commoedie  in  jüngst  verwichener  Meße  all- 
hier  auf  den  Fleischhause  öffentl.  gespielel  worden,  Zeugin  auch  selhsten 
solche  mit  angehöret  und  angesehen? 

art.  6 :  Wahr,  daß  in  solcher  Commoedie  niemandt  anders  alß  bemelter 
Göze  vorgestellet? 

art.  7:  Wahr,  daß  WahrhafiUg  izt  berührter  Göze  damit  gemeinet,  und 
solches  zu  seiner  höchsten  beschimpfung  vorgenommen  worden? 

art.  8:  Wahr,  daß  Zeugin  bey  Gözen  ein  Jahr  lang  im  Hause  gewohnet? 

art.  9 :  Wahr  und  muß  Zeugin  bey  ihren  gethanen  schweren  Eyde  wahr- 
haffiig  wahr  sagen,  daß  Göze  mit  den  seinigen  in  seinen  Hause  ein  ordentl. 
ehrliches  Leben  und  Wandel  führet,  und  alles  aufrichtig  und  ehrlieh  in  sei- 
nen Hause  wiße. 

art.  10:  Wahr,  daß,  alß  Zeugin  aus  Gözens  Hause  verzogen,  Dr.  Johann 
Jacob  von  Rysel  Zeugin  wieder  Gözen  zum  falschen  Eyde  bereden  wollen? 

art.  14:  Wahr  daß  izt  bemelter  Rysel  von  Zeugin  verlanget  zu  sagen, 
was  sie  von  Gözen  wiße,  er  wollt  ihr  zu  einen  stück-geld  verhelffen? 

art.  42:  Wahr,  daß  dergleichen  Beredung  Samuel  Rudolph  Bahr  bei 
Zeugin  vorgenommen,  sie  zu  bereden,  aus  zu  sagen,  was  sie  wider  Gözen 
wiße? 

art.  43:  Wahr,  daß  dieser  Bahr  sich  gleichfalß  bey  der  articulirten 
Commoedie  auf  den  Fleisch-  und  opern  Hause  eingefunden,  und  sich  alß 
einen  Tänzer  aufgeführet? 

art.  44:  Wahr,  daß  dieser  Bahr  sich  bey  Reuthern  und  Ereilen 
eingefunden  und  solche  Commoedie  wieder  Gözen  mitspielen  helffen? 

art.  45:  Was  Zeugin  sonsten  mehr  von  dieser  Commoedie  bevvust,  so 
darinen  zu  Gözens  Beschimpfung  angeführt  worden? 

39.     Juni  2:    Denunciation  Reuter^ s  gegen  Götze  wegen  Blasphemie^). 

An  Tit^  Das  Hochlöbl.  Concilium  Der  Universität  Leiptzigk,  Meinem 
hochgeehrten  Herren. 

praes.  d.  8.  Junij  4700. 

Magnifice  Academiae  Rector 
HochEhrwürdige,  Hoch  und  WohlEdle,  Veste,  Großachtbahre,  Hoch  und 

Wohlgelahrte,   HochgeEhrte  Herren, 

Ich  kan  Denenselben  nicht  verhalten ,  weichermaßen  ich  in  Erfahrung 
gekommen,  daß  Moritz  Voickmar  Götze,  Advocatus  allhier,  kurtz  zuvor, 
ehe  er  mit  Herr  David  Fleischmann  zerfallen,  alhier  in  seinem  Gewölbe 
am  Marckte  unter  Herr  Hetzners  Hause ^),  als  er  bey  ihm  daselbst  einige 


^)  Diese  Denunciation  macht  Fascikel  C  der  oben  aufgeführten  Acten  des  Haupt- 
Staat sarchives  aus. 

'^)  Es  ist  das  Haus  Nr.  44  am  Markte ,  das  von  4674  bis  4708  in  Metzner- 
schem  Besitze  tvary  von  da  an  in  den  der  Hohmann's  überging.  Das  Gewölbe  unter 
demselben  ist  also  der  jetzt  s.  g.  Aeckerleins  Keller. 


646  Friedrich  Zarngke.  ^^^ 

Gläßiein  Brantewein  verschlucket;  gantz  Gotteslästerlicher  Weise  gefluchet, 
und  ungeachtet  ihn  ein  Studiosus  Theologiae  Nahmens  Hr.  Nicolaus  Limmer 
davon  ernstlich  abgemahnet  und  erinnert,  daß  sothanes  Gotteslästem  und 
Fluchen  der  Heil.  Schrifft  und  deme  darinnen  auffgezeichneten  Worte  Gottes 
zuwieder  wäre,  hat  er  solches  dennoch  in  Wind  geschlagen  und  negiret, 
bis  angezogener  Herr  Limmer  die  Heil.  Schrifft,  davon  er  ein  Exemplar 
zugegen  gehabt,  auCTgeschlagen ,  darinnen  Götzen  das  Göttliche  Yerboth 
und  die  angehengte  Straffe  wieder  die  Flucher  und  Gotteslästerer  zu  lesen 
vor  Augen  geleget,  woraufi^  aber  Götze  gantz  erschröcklicher  Weise  Gott  zu 
lästern  und  gegen  den  Studiosum  Theologiae  mit  diesen  Worten  herauszu- 
fahren sich  unterstanden:  »Habt  Ihr  dieses  Teuffels  Buch  auch?  gehet  weg 
mit  diesen  Teuffels  Buche,  ich  scheuBe  Euch  was  auff  Euer  Buch«,  so  gar, 
daB  sich  nicht  aliein  dieser  Studiosus  theol.  sondern  alle  Anwesende  darüber 
wie  billig  zum  höchsten  geärgert. 

Wenn  ich  denn  diese  groBe  Gotteslästerung,  sobald  ich  solche  vernom- 
men, nicht  verschweigen  kan,  alB  habe  ich  Selbige  Zu  Bestraffung  Denen- 
selben  denunciren  und  zum  Zeugen  oben  angezogenen  Herrn  Limmer  an- 
geben wollen,  welcher  auff  befragen  derer  noch  mehr,  so  dabey  gewesen, 
nahmhafftig  machen  muB,  allermaBen  ich  auch  zum  fundament  beykommende 
Articul,  worüber  der  angegebene  Zeuge  eydlichen  zu  vernehmen  übergebe 
und  nicht  zweiffeie.  Dieselben  weixlen  sich  bey  Untersuchung  dieser  Sache 
ein  rechter  Ernst  seyn  laßen,  und  diese  Denunciation-Schriffb  zu  denen  de- 
nunciationibus  bringen,  welche  wieder  diesen  Gottes  Lästerer  und  Verbrecher 
bereits  vor  Dero  Hochlöbl.  Judicio  eingegeben  worden  sind^).  Deren  Unter- 
suchung damit  die  delicta  bestraffet  werden  können,  meine  HochgeEhrten 
Herren  billig  oblieget,  ich  aber  verharre 

Meiner  HochgeEhi*ten  Herren 

dienstwilligster 

Leiptzigk  den  2  Junij  Christian  Reuter  mpr. 

1700.  Secretarius  bev  Ihr.  Exceil:  den  Camnierherrn 

von  Seyfferditz. 

Ein  Bogen  ist  eingelegt  mit  folgenden 

Articuli,  worüber  Herr  Nicolaus  Limmer  Studiosus  Theologiae  eyd- 
lich  abzuhören. 

Art.  1 :  Wie  Zeuge  heiße,  wie  alt  und  wes  Standes  er  sey? 

Art.  2:  Ob  Zeuge  Moritz  Yolckmar  Götzen,  Advocaten  in  Leiptzit^k, 
welcher  auff  den  Barfüßer,  oder  iczo  sogenannten  neuen  Kirchhofe  wohnet, 
kenne? 

Art.  3:  Ob  nicht  dieser  Götze  ehedem,  da  er  noch  mit  Herr  David 
Fleischraann,  hiesigen  Handelsmann,  in  guten  Vernehmen  gestanden, 
sein  Gewölbe,  so  am  Marckte  unter  Herr  Metzners  Hause  liegt,  fleißig 
besuchet  ? 


*)   Mir  aus  den  Acten  nicht  bekannt.     Etwa  die  Anklage  der  Frobergerin? 


193]  Christian  Rbdteii.  6i7 

■ 

An.  4:  Ob  nicht  Zeuge  einsmahls  Götzen  daselbst  einige  Gl^figen 
Brantewein  verschlucken  sehen? 

Art.  5:  Ob  nicht  Zeuge  gehöret,  daß  Götze  daselbst  beym  Brantewein- 
sauffen  Gotteslästerlich  gefluchet? 

Art.  6:  Wie  diese  Flüche,  welche  Götze  ausgestoßen,  geheißen? 

Art.  7:   Wie  lange  solches  ohngefehr  sey? 

Art.  8:  Ob  nicht  Zeuge  Götzen,  als  er  von  ihm  diese  Gotteslästerung 
gehöret,  verwiesen  und  davon  abgemahnet? 

Art.  9 :  Auch  ihn  erinnert,  daß  sothanes  Gotteslastern  und  Fluchen  der 
Heil.  Schrifft  und  den  darinne  auflgezeichneten  Wortte  Gottes  zu  wieder  wäre? 

Art.  10:  Ob  nicht  Götze  solches  alles  in  den  Wind  geschlagen  und 
gar  negiret? 

Art.  44:  Ob  nicht  Zeuge  darauff  die  heil.  Schriffl  zur  Hand  genommen, 
auflgeschlagen  und  Götzen  darinnen  das  Göttl.  Verboth  und  die  angehengte 
Straffe  wieder  die  Plucher  und  Gottslästerer  zu  lesen  vor  Augen  geleget? 

Art.  4SI:  Ob  nicht  darauff  Götze  gegen  Zeugen  mit  diesen  Gottesläster- 
lichen Reden  herausgefahren:  Habt  Ihr  denn  dieses  Teuffelsbuch  auch ?  gehet 
weg  mit  diesen  Teuffelsbuche,  ich  scheuße  euch  was  auff  euer  Buch? 

Art.   43:  Oder  wie  die  Wortt  sonsten  geheißen? 

Art.  44:  Ob  nicht  Götze  durch  diese  Wortt  die  Heilige  Schrifft  ver- 
standen? 

Art.  45:  Wen  Zeuge  angeben  könne,  der  damahls  im  Gewölbe  zugegen 
gewesen,  und  diese  Gotteslästerung  mit  angehöret? 

Art.  46:  Was  Zeugen  sonsten  wieder  Moritz  Volckmar  Götzen  straff- 
bares bewust  sey? 

40.     Juni  5 :    Anklage  Reuter^ s  gegen  Götze  wegen  Injurien  [Fase.  B  der  Acten). 

An  Tit*  Das  Hochlöbl.  Concilium  der  Universität  Leiptzigk,    Meinem 
HochgeEhrten  Herren. 

praes.  d.  8.  Junij  4700. 

Magnifice  Academiae  Rector, 

HochEhrwürdige,  Hoch  und  WohlEdle,  Veste,  Großachtbahre, 

Hoch  und  Wohlgelahrte,  HochgeEhrte  Herren, 

Es  ist  Denenselben  bestermaßen  bekandt,  welcher  gestalt  lhr:^Königl. 
Maj:  unser  allergnädigster  Herr  bey  Dero  Hohen  Anwesenheit  in  lecztver- 
wichener  NeujabrMeße  meinen  HochgeEhrten  Herren  allergnädigst  anbefehlen 
laßen ,  daß  Sie  wegen  der  wieder  mich  beschehenen  ehemaligen  exclusion 
und  relegation,  weil  mir  Ihr:  König].  Maj:  solche  allergnädigst  erlaßen,  wei- 
ter nichts  vornehmen  selten;  Weil  ich  nun  hierüber  meine  Unschuld,  und 
daß  mir  durch  Moritz  Volckmar  Götzens  falsches  Angeben  ratione  der  Ex- 
clusion zu  viel  geschehen,  gehöriges  Orths  auszuführen  in  Begriff  bin,  aller- 
maßen, wie  die  bey  Denenselben  ergangene  Acta  bezeugen,  ich  dieserwegen 
niemahls  gehöret  worden,  so  hätte  ich  nicht  gemeynet,  es  würde  Jemandt, 
insonderheit  nach  erlangter  Königl.  allergnädigsten  Begnadigung,  sich  an  mir 
zu  reiben,  und  die  erlangte  Königl.  Gnade  zu  mißgönnen  suchen,    welchen 

AbhMdl.  d.  K.  S.  GeBelUcb.  d.  WisaesBch.  XXI.  48 


6i8  Frigmrkji  Zarncke,  ^^^ 

aber  ungeaclilel  aufgezogener  Götze  wieder  mich  auffgestanden ,  und  in 
hohen  und  Niedern  Judiciis^)  mich  in  Schrifflen  grausam  aDzugreiffen  und 
zu  prostiluiren  sich  unterstehen  dUrfl'en.  Gleichwie  ich  mir  nun,  sobald  k\\ 
deren  communication  erlangen  werde,  gebührende  Vindicalion  expresse  re- 
servire,  alB  werde  ich  genöthiget  wieder  diesen  Erzc<iluninianlen  uml 
Verleumbder  meinen  Hochgeehrten  Herrn  beykommende  injurien  Klace 
schuldigstermaßen  Zu  übergeben,  mit  dienstl.  Bitte,  mir  wieder  Beckl.  Herht 
und  Gerechtigkeit  wiederfahren  zu  laßen,  solche  anzunehmen,  den  Pnx*ex^ 
zu  eröffnen,  Beckl.  die  Klage  zu  communiciren  und  benebst  mich  legaliter 
vor  sich  fordern  zu  laßen.  Gleichwie  ich  nun  den  Process  durch  einen  le- 
galen Advocaten  iederzeit  fortzusezen  bedacht  seyn  werde,  alB  erklähre  ich 
mich,  weil  ich  meiner  iezigen  Dienste  halber  nicht  allezeit  in  Leiplzig  gegen- 
wärtig seyn  kan,  daß  ich  zufrieden  seyn  will,  wenn  die  folgende  cilationes 
an  mich^j,  meinen  caventen  ad  domum  insinuiret  werden,  also  als  wenn 
sie  mir  ad  Domum  insinuiret  worden  würen,  der  ich  sonst  iederzeit  verharre 

Meiner  HochgeEhrten  Herren 

dienstwiüigster 
Leiptzigk  den  3  Junij  Christian  Reuter  mpr 

1700.  Secrelarius  bey  Ihr  Exceil:  den  Cammerherm 

von  Se  y  fferdiz. 

Angefügt  ein  Bogen: 

Höchst  abgenöthigte  Injurien  Klage  Christian  Reuters  Klügers  undln- 
juriatens  an  Einem  contra  Moritz  Voickmar  Götzen,  Advocaten  in  Leiptzigt 
Beckl.  und  boßhaften  Injuriantens  und  caiumniantens,  andern  Theil. 

Kläger  saget  Zu  Anbringung  seiner  Klage  kürzlich :  Obwohl  in  Rechten 
heilsamlich   versehen,    daß   niemand  dem  andern  an  seinen  Ehren  Leymulh 
und  Nahmen  anzugreiffen,  zu  injuriren  und  zu  beschimpffen  sich  unterstehen 
soll,    auch   disfalls   denen  Verbrechern   den   Staub-Besen,    Zeitl.  und  ewige 
Landesverweisung,  Gefiingnüß  und  andere  Willkührliche  Straffe  dicliren,  so 
hat  sich  solchen  ungeachtet  dennoch  Beckl.  Moritz  Voickmar  Götze  l>oBba£f)er 
Weise   unterstehen   dürffen ,    Klägern   in   einem   dem  Concilio  Academico  zu 
Leiptzigk  übergebenen  und  den  ^i.  May  4700  datirten  Schreiben  heutig  zu 
injuriren,    zu   diffamiren   und  zu  beschimpffen,    und  indem  er  Vorgegeben: 
Daß    sich    der   Täntzer    (Herr   Baren    meynendte)    bey    den    Meyneydigen 
Reute  rischen  distrahirten  Pasqvill  (sich)  befinde,  Klägern  nicht  allein  Vor 
einen  Meyneydigen   sondern   auch   das  gefertigte  und   gedruckte  LuslSpiel 
Graf  Ehrenfriedt  genannt,  ein  Pasqvill  zu  schelten,  da  doch  Klüger  nieniahls 
den  beschwornen  Uhrfehden  dolose  gebrochen,  sondern  vielmehr  beckl.  Gölze 
durch  falsches  Angeben  es  dahin  gebracht,   daß  Kläger  in  seiner  Ahwesen- 
heit  mit  der  Exclusion  übereilet  worden,  wie  nicht  weniger  das  angezogene 
Lust  Spiel  mit  Ihr:  Königl.  Maj:  allergnädigsten  Special  Bewilligung  und  Frej- 


*)    Mir  Nirhts  weiter  bekannt. 

*)   an  mich  gehört  zu  citationes ,   meinen  caventen  ist  der  Dativ.    Gemeint  i»        | 
woht  der  legale  Advocat. 


<9^]  Chbistian  Reuter.  649 

heit  nach  AnleiluDg  beykommenden  Exemplars  zum  Druck  befördert  worden, 
und  also  Beckl.  sich  an  Ihr.  Königl.  Maj:  dadurch  gröbl.  vergriffen.  Wann 
sich  dann  Kläger  die  große  Injurien  billig  zu  Gemüthe  gezogen,  und  noch 
ziehet,  als  ist  er  zu  Klagen  genöthiget  worden,  fordert  dannenhero  hierüber 
von  Beckl.  allenthalben  deutliche  und  richtige  Antwort,  bittet  hierauff  zu 
erkennen,  daß  Beckl.  Klägern  allenthalben  Zu  Viel  gethan,  dahero  er  ihm 
mit  Erstattung  der  Process-Unkosten  vor  Gerichte  eine  Christliche  Abbitte 
und  Ehrenerklärung  zu  thun,  Kläger  aber  überläßet  die  Bestraffung  an  Staub- 
Besen,  Zeitl.  und  ewiger  Landes  Verweisung  oder  Gefängnüß  dem  Richter- 
lichen Amte,  und  bedinget  sich  nach  beschehener  Einlaßung  den  Grund  der 
Klage  allenthalben  gebührendt  binnen  der  in  Rechten  nachgelaßenen  Frist 
zu  bescheinigen  und  bey zubringen ,  und  imploriret  pro  Administratione  Ju- 
stitiae  nobile  Judicis  officium  mit  reservation  anderer  Rechtl.  Nothdurfft. 

41.     Juni  11  :    Schreiben  GreWs  an  die  Universität,  seinen  Antheil  an  der  Co- 
mödie  spöttisch  ablehnend. 

Memorial  an  das  Hochlöbl.  Concilium. 

praes.  d.   12.  Junij  1700. 

Magnifice  Rector, 

HochEhrwUrdige,   HochEdle,  Hochachtbahre, 

Veste  und  Hochgelahrte, 

Insonders  Hochzuehrende  Herren  und  Patron  i. 

Es  ist  mir  glaubwürdig  berichtiget,  welchergestalt  der  Advocat  Göze 
in  Actis  contra  N.  Reutern  unverschemt  vorgegeben,  ich  habe  die  Comoedie, 
so  verwichene  Meße  auf  allergnädl.  Befehl  allhier  repräsentirt  worden,  ver- 
fertiget, sey  auch  der  Autor  totius  negotii.  Wenn  nun  gleich  die  Verfaßung 
des  gedachten  Spiels  nichts  Unrechts,  sondern,  weil  selbige  darzu  a  Sere- 
nissimo  concedendo  approbirt  worden,  ich  mir,  wenn  pro  autore  passiren 
solte,  Höchl.  zu  gratuliren  hette,  so  will  dennoch,  in  erwegung  Götze  mich 
nur  dadurch  zu  denigriren  suchet,  solcher  unverdienten  gloir  müßig  gehen 
und  die  dißfals  mir  zugefügten  Anzüglichkeiten  per  expressum  vindiciren. 
Gelanget  auch  dahero  an  Ew.  Magnif.  und  Hochlöbl.  Concilium  mein  unter- 
dienstliches Bitten,  Sie  geruhen  entweder  die  Reuterischen  Acta  in  loco 
judicij  propter  allegatum  interesse  und  damit  ich  sehen  möge,  qvae,  qvales, 
qvantae  injuriarum  expressiones ,  auch  ob  ihn  Injurianten  darob  Rechtl.  in 
Anspruch  nehmen  könne,  mir  vorzulegen,  oder  aber  das  injurienvolie  Schrei- 
ben in  forma  probante  zu  meiner  Nothdurfft  zu  extradiren.  Es  ist  dieses 
denen  Rechten  gemäß  und  ich  verharre  dafür 

Ew.  Magnif.  und  Hochlöbl.  Concilii 

unterdienstlicher 
Leipzig  Johann  Grell  Studiosus 

den  41.  Junij  1700.  ipse  concepit. 


43* 


/ 


650  Fbiedbich  Zam?i€ke,  P^» 

42.     Juni  14 :   Klttgich reiben  der  Universität  an  den  König-Churfürsten  soyco^ö 
über  Reuter  wie  über  Götze. 

Dem  Ailenlarchlauchtigstcn ,  GroBmächtigslen  Fürsten  und  Dern, 
Herrn  Friedrieb  Augusto,  König  in  Fohlen  u.  s.  w.  .  .  . 
ünserm  Allergnädigsten  Herrn. 

Praes.  d.  ^i  Junii  1700. 

Allerdurehlauehtigster,    Großmächt  igst  er  Kdnig  und  Cburfürst, 

Ew.  Königl.  Majestät  und  ChurfUrstl.  Durch! .  seind  onser  andächtiges 
Gebeth  und  allerunterthänigsle  Dienste  in  pflichlscbuldigsten  Ge- 
horsamb,  Treuesten  Fleißes,  eußersten  Vermögens  nach,  jeder- 
zeit anvor, 

Allergnadigster  Herr. 

A]B  der  von  Uns  einiger  Verbrechen  halber  anfangs  relegirle  und  her- 
nach excludirle  Christian  Reuter  alhier  sich  dennoch  wieder  eingefunden 
und  das  in  beykommenden  Acten  sub  A.  >)  befindliche  sogenante  Lustspiel 
Öflentlich  zu  unterschiedenen  mahlen  gespielet,  so  hat  Moriz  Voickmar  Götze 
in  dict.  Actis  sub  A.  darüber  bey  Uns  sich  beschweret  und  daß  denen  Stu- 
diosis,  die  bey  selbigen  sich  gebrauchen  ließen,  ingleichen  den  Pedell,  durch 
deßen  Eheweib  er  es  verkauffte,  nicht  allein  dieses  iuhibiret,  sondern  auch 
wieder  selbigen  und  wieder  Reutern  mit  der  Inquisition  verfahren  wer- 
den möchte,  gebethen.  Nachdem  wir  aber  besagten  Götzen,  so  viel  das 
wieder  die  Studiosos  und  den  Pedell  beschehene  Suchen  betreffe,  dafi  er 
vor  allen  Dingen,  daß  obermeltes  Scriptum  auff*  ihn  gemacbet  sey,  anzeigen 
solle,  fol.  48.,  zur  Resolution  ertheilet,  auch  darneben,  wasmaßen  Wir  Ober 
Reutern,  als  einen  exclusum,  die  Jurisdiction  nicht  zu  exerciren  hetten, 
sondern  solcher  des  Raths  Bothraäßigkeit  nunmehro  unterworffen  were,  h^ 
schieden,  hat  nicht  allein  dieser  damit  nicht  zufrieden  seyn  wollen,  indem 
er  das  fol.  22.  befindliche  Schreiben  eingegeben,   auch  darinne 

Daß  die  Gerechtigkeit  supprimiret  und  die  illicita  nicht  abge- 
straffet,  sondern  ehrliche  unbescholtene  Leute  an  ihren  guten 
Leumuth  mercklich  gekräncket  würden. 

Ingleichen : 

Er  müste  Gott  und  dem  Richter  anheim  stellen ,  welches  er  in 
seiner  lezten  TodesStunde  und  am  jüngsten  Gerichte  bey  dem 
höchsten  Richter  aller  Welt  zuverantwortten, 
angefUhret;  Sondern  es  ist  auch  darauff  gedachter  Reuter  eingekomroen 
und  hat  sowohl  wieder  ermelten  Götzen  die  fol.  1  in  Act.  sub  B  befind- 
liche Injurien-Klage  ängestellet,  als  auch  wieder  denselben,  daß  er  bedenck- 
lieber  Reden  sich  vernehmen  laßen,  sub  C.  denunciret. 

Dieweil  nun,  Allergnadigster  König  und  Churfürst,  Wir,  ehe  und  bevor 
Götze,  daß  er  in  den  sogenanten  Lustspiel  gemeinet,  wieder  die  Sludiosos 
und  Pedell  aus  Mangel  der  Indieien  etwas  anzuordnen  nicht  vermocht,  bocd 

*)   Liegt  bei. 


\ 

I 


197]  Chbistian  Rbotbr.  651 

weniger  aber  wieder  Reutern,  als  einen  exclusum,  zumahl  wegen  des  Schrei- 
bens fol.  9  (Nr.  S3)  etwas  vornehmen  können,  und  gleichwohl  zu  befahren, 
daß  von  Götzen  Wir  ferner  belästiget,  von  Reutern  aber,  wenn  er  also 
ungescheut  hier  bleiben  solle,  ein  sehr  groß  Ärgernüß  bey  dieser  Universildt 
gestifilet  werden  dürfllie,  Älß  haben  Ew.  Königl.  Majestät  und  Churfürstl. 
Durch!.  Wir  die  ergangene  Acta  in  alier  Unterthänigkeit  übersenden  und 
Deroselben  lediglich  anheim  geben  wollen,  ob  nicht  Reuter  dahin,  daß  er 
diesen  Orth  gänzlich  meiden  raüste,  anzuhalten,  wieder  Götzen  aber  wegen 
der  wieder  Uns  gebrauchten  AnzUgligkeiten  und  bedencklichen  Reden,  wenn 
dieser  letztem  halber  zuvorhero  der  angegebene  Zeuge  eydlich  abgehöret, 
mit  der  Inqvisition  zu  verfahren.  Was  nun  Ew.  Königl.  Majestät  und  Chur- 
fürstl. Durchl.  hieraufT  allergnädigst  verfügen  werden.  Demselben  werden 
wir  in  aller  Unterthänigkeit  nachkommen,  auch  stets  bleiben 
Ew.  Königl.  Majestät  und  Churfürstl.  Durchl. 
Leipzigk  Allerun terthänigste,  pflichtschuldigste  und  getreueste 

den  44  Junij  1700.  Reclor,  Magistri  und  Doctores 

der  Universität  daselbst. 

43.     Juni  16:    Neuntes  Klagschreiben  Götzens   an  die  Universität  mit  Anhang 
und  Beilagen. 

An  Tit:  Das  löbl.  Concilium  Der  Vniversität  Leipzigk  p. 

praes.  d.  19.  Junij  4700. 

Magnißce  Academiae  Rector 
Hoch  Ehrwürdige,  HochEdle,  Yeste,  Hochachtbahre  und  Hochgelahrle 

Insonders  HochgeEhrte  Herren. 

Ob  ich  gleich  das  bekandle  Pasqvill,  welches  so  wohl  allhier  auf  den 
Fleisch-  alß  Opernhause  öffentlich  agiret  worden,  dem  löbl.  Concilio  zur 
Untersuchung  deferiret,  und  darbey  vorgestellet,  wie  1.)  der  Conciptente 
solcher  famosen  Schriflft,  der  meineydige  und  excludirte  Reuther,  und  der 
bekandte  Krell,  stud. ,  mit  seinen  HelfTersHeltfern  conjunclis  viribus  et 
communicato  consilio  Dr.  Rysels,  Davidt  Fleisch manns,  deßen  Ehe- 
weibes, Dr.  Glasers,  Stud.  Welschens,  welcher  solches  distrahiret,  aus 
denen  Actis  publicis,  absonderlich  aber  aus  denen  Actis  Davidt  Fleisch- 
nianns  wieder  Hr.  Davidt  Ziegiers  sub  B.  fol.  138  seqq.,  it.  aus  denen 
Actis  wieder  die  Fleischmann  bey  den  löbl.  Stadtgerichten  nach  bey- 
kommenden  Extract  sub  0  et  J)»  i^*  ^^^  denen  Inquisition  Actis  bey  denen 
Stadtgerichten  wieder  Davidt  Fleischmann  u.  deßen  Eheweibes,  theils 
wegen  Vertuschung  des  Kindes,  theils  wegen  verfälschter  Wahren,  theils 
wegen  Unterschleiffs  des  herein  parthirten  Bieres  und  andern  Victualien, 
theils  mit  seinen  Cameraden  Dr.  Rysein  an  der  Fr.  Arnold  in  ausgeübten 
Concussion  zusammen  getragen,  und  in  dieses  Pasqvill  gebracht;  So  habe 
ich  doch  keine  andere  resolution  alß  nachfolgende,  daß  ich  vor  allen  Dingen 
heybringen  soll,  daß  ich  durch  dieses  libellum  famosum  gemeinet,  und  sol- 
ches ex  Actis  «deduciren  soll,  erhalten.  Nun  ist  ex  Jure  genugsam  bekandt, 
daß  derjenige,   welchen  der  Beweiß  auferleget,  hingegen  die  That  manifest. 


i 

\ 


652  Friedrich  Zarngkb,  [198 

daß  er  mit  den  BeweiB  zu  verschonen.  Es  ist  manifest,  daß  der  iöhl.  YdI- 
versität  eigener  Bedienter,  der  Pedell  Wert  her,  öffentlich  solches  Pasqvill 
umb  gewinnst  willen  distrahiret  und  die  studiosos  hey  den  Opernhauß  hierzu 
convociret,  wie  hiervon  Hr.  Dr.  Bdckel  Nachricht  geben  muß.  Es  ist  ferner 
bekandt,  daß  ich  zu  behauptung  der  Inqvisition  und  wie  in  dem  Pasqvill 
einzig  und  alleine  meine  Person  zur  beschimpfung  aufgefuhret,  einige  zeu- 
gen angegeben,  aber  keine  Mittheilung  der  Gerechtigkeit  darauf  erfolget, 
sondern  vielmehr  der  Lauff  der  heilsamen  Justiz  mir  verkürzet  worden;  So 
provocire  ich  \]  bey  diesem  wahren  Umstände  auf  Gott  und  deßen  heiliges 
Gerichte,  wie  solches  nicht  den  Menschen  auf  dieser  Welt,  sondern  dem 
Herrn  aller  Welt  gebalten  werde  (juxta  2.  Paralip.  39.) ,  und  daß  im  Ge- 
richte kein  ansehen  der  Person,  er  sey  auch  wer  er  wolle,  vorgenommen 
werden  soll  (Deut:  4) ,  Und  dieses  heiHge  Geseze  kan  kein  Mensch  aus- 
krazen,  viel  weniger  ohne  Verlezung  der  Pflicht  bey  seite  gesezet  werden. 
Damit  aber  nichts  desto  weniger  der  ertheilten  resolution  eine  Genüge  ge- 
schehe, So  werden  2)  sub  0  et  3  ^'^  ''^  ^^^  Pasqvillo  §.^)  56.  angefUhrleu 
Verba,  daß  ich  gemeinet,  dociret  und  behauptet,  daß  Maria  Christina  Fleisch- 
mann in  solches  vorgenommen  und  sub  ^  ^^^  Urtheil  darauf  erfolget,  her- 
nachmahls  aber  diese  Worte  den  meineydigen  Reuthern  und  Kreileo, 
mit  ihrem  Ehemanne,  in  dieses  Pasqvill  zu  bringen  verleitet,  auch  das  Wort 
Mnjurius^  in  denen  Actis,  woraus  dieser  Extract  genommen,  benebst  andern 
Umständen  enthalten,  worvon  sie  bey  der  Inqvisition  femer  Rede  und  Ant- 
wort zu  geben  schuldig,  auch  die  sämtl.  hinten  angegebene  Zeugen  jurato 
attestiren  werden,  daß  meine  Person  in  den  Pasqvill  gemeinet  und  aufge- 
führet  worden.  2)  2)  ist  fol.  27^^)  in  solchen  Pasqvill,  was  von  meiner  Person 
zu  halten,  nach  ihrem  bekändniß  iedermänniglichen  vorgeslellet^).  3)  ist 
die  subscription  des  Concipientens  dieser  Schrifft  falsch  und  fingiret,  indem 
dergleichen  Person  nicht  in  rerum  natura,  sondern  dem  Ryslischen  Sl)Io 
gemäß  concipiret  worden,  allermaßen  den  4)  nach  anleitung  des  dati  solcher 
Brieff  in  Sperga*)  verfertiget,  da  denn  dieses  ganze  Consorlium,   Dr.  Rysel, 


*)  Gemeint  sind  hier  und  im  Folgenden  die  Seiten  des  Lustspiels.  Auf  S.  56 
heisst  es:  Leon.  Die  Wirthin  sagte  mir,  wie  daß  er  einmahl  ein  paar  Partheyen 
in  einander  gehetzt,  über  welches  Unrecht  dieser  Fleck-Schreiber  von  einem  Frauen- 
zimmer in  Öffentlicher  Gerichts-Stube  wäre  ein  alter  Rock-Seicher  geheisseo  wor- 
den. Cour.  Was  hätte  er  denn  darzu  gesaget?  Leon.  Was  solte  er  gesageJ 
haben?  Er  hatte  solches  zu  registriren  gebethen,  allein  wegen  anderer  AfTain^o 
hattens  die  Gerichten  nicht  gehöret,  und  war  also  dieses  Frauenzimmer  noch  so 
mit  einem  blauen  Auge  davon  gekommen,  sonst  hätte  er  ihr  unstreitig  einen  In- 
jurien Proceß  an  den  Hals  geworffen.  —  0  und  J)  sind  die  Zeichen,  unter  denen 
die  Acten  über  diesen  Fall  in  Abschrift  angehängt  sind  [s.  u.) ,  die  denn  freilich 
die  Verurtheilung  des  » Frauenzimmers  (a  beweisen. 

2)  so  fortan  falsch  gezählt. 

^)  Geht  auf  die  Acten,  Leider  geht  utis  die  Kenntniss  derselben  ab  und  es  ist 
daher  das  Folgende  nur  halb  verständlich. 

*)  Am  Rande  von  der  Hand  des  Univ.-Actuars:  Videantur  Acta  judicialia  bey 
den  löbl.  Stadtgerichten,   da  die  Ehrenerklärung  erkandt. 

*)  d.  f.  Spergau  bei  Dürrenberg,  südlich  von  Merseburg. 


499]  Chkishan  Rbutbr.  653 

Da  vidi  Fleiscbmann,  dcßen  Eheweib,  Scbrnidt  der  Caffi^e  Schencke, 
unterschiedene  Studiosi  als  Mithelffer  des  Pasqvills,  darunter  sonderlich  der 
meineydigc  und  exeludirte  Reut  her,  diese  heil.  Pßngstfeyertage  ^)  sich 
eingefunden  und  zu  iedermanns  ärgernuB  geschwelget  und  geludert,  und 
dieses  Pasqvill  zur  HUlffe  genommen^),  worvon  das  ganze  Dorff  Sperga  und 
die  Benachbarten  genug  zu  singen  und  zusagen  wißen.  So  hat  auch  5) 
Fleischmann  und  deßen  Eheweib  ferner  §56  dasjenige  Factum,  so  sie 
an  mir  judicialiter  zu  meiner  beschimpfTung  ausgeübet,  in  solches  Pasqvill 
bringen  laßen,  und  in  der  Fol.  S7  ad  Acta  gebrachten  Schrift  solches  wieder- 
höhlet  und  zugleich  hierdurch  die  Gerichte  mit  eludiret  und  öffentlich  be- 
schimpftet 3) .  6)  Die  bey  solchen  §.  befindlichen  Worte:  *Ach!  wenn  ichs 
nur  nicht  vergeßen  hette^  It:  ^der  süßen  Nächte',  it:  Mer  Fleckschreiber'  p.^j 
zu  meiner  Beschimpfung  vorgebracht.  Was  nun  die  ^«üßen  Nächte'  betrifft, 
ist  des  Pasqvillantens  eigenhändiger  Brieff,  so  Fleischmann  dazumahl. 
als  er  mit  seinem  izigen  Eheweibe  verdächtig  conversiret,  selbst  geschrieben 
und  von  Medern  Fuchß'  und  dessen  ^ Abreitung',  wie  auch  'süßer  Nächte' 
gedacht  wird,  welche  dieser  böse  Bube  auf  mich  dolosd  appliciret,  und  fol.^) 
in  Actis  bey  diesem  Judicio  sowohl  Davidt  Ziegler  alß  deßen  Frau  Mutter 
Acta  contra  die  Fleischm annin  zu  befinden  und  ad  Acta  gebracht  werden 
soll.  So  ist  auch  7j  durch  den  Fleckschreiber  daher  vorgestellet ,  weil  ich 
zu  Marckranstädt  das  Actuariat  und  Stadischreiber  Ambt  vertrete,  und  sowohl 
durch  ^}  jener  alß  meiner  Person  höchste  Beschimpffung  in  solches  Pasqvill 
gebracht.  §  57  finden  sich  diese  Worte  'Ach!  Tannenbaum'^  welche  einsten 
von  mir  gegen  Rysel  in  loco  publice  und  in  beyseyn  Fleischmanns  jocose 
erwehnet,  hernachmahls  aber  von  diesen  in  solches  Pasqvill  gebracht.  8)  Der 
Weinkeller  ist  zu  meiner  Beschimpffung  angeführet,  da  ich  doch  zeit  meines 
Lebens  und  in  die  30  Jahr  allhier  gewesen,  hiebevor  aber  2  oder  3  mahl 
mit  frembden  Leuthen  nicht  zu  Diezen  kommen.  9)  ist  das  Wort  'Fleck- 
schreiber' §  75.  77.  78  s)  und  in  den  ganzen  Pasqvill  zu  meiner  Beschimpfung 
angeführet.  10)  it.  §75  wird  solches  wiederbohlct  und  DenuncianlenTruncken- 
heit  beigemeßen.     Dieses  hat  Fleischmann  durch   seinen  MitPasqvillanten 


*)   Pfingsten  war  4700  am  30.  Mai. 

^)   soll  wohl  heissen:  den  Erlös  aus  diesem  Pasquill. 

^)  Am  Hände  ix)n  der  Hand  des  Univ.'-Actuars :  vide  Acta  judicialia,  da  die 
Ebren-Erklährung. 

^)  S.  56 :  Ach  wenn  ichs  nur  nicht  vergessen  hätte ,  was  mir  die  Wirthin 
alles  von  den  süssen  Nächten,  und  noch  andern  Streichen,  so  dieser  Fleck-Schreiber 
soll  vorgenommen  haben,  erzehlet  hat. 

^)   unausgefüllt  gebliehen.     Leider  fehlt  uns  auch  dieser  Brief. 

^)   durch  also  hier  noch  =  wegen,  zwecks. 

')  Die  Stelle  ist  oben  S.  574  mitgetheilt.  Weil  Markranstädt  nur  ein  Flecken 
war,  so  toird  Fleckschreiber  spöttisch  =  Stadtschreiber  gebraucht.  Dass  das  Wort 
wirklich  so  verwandt  wäre,  ist  mir  nicht  bekannt :  es  umrde  dann  auch  seine  Spitüe 
gegen  Götze  verlieren. 

'  8)  S.  75  wird  vorgestellt,  wie  Injurius  trunken  aus  der  Weinstube  auf  die  Gasse 
taumelt ;  S.  77  giebt  eine  Schilderung  seines  unwürdigen  Gebahrens  mit  » Intriischen, 
Cäußgeti  a  u.  s.  w. ;  ebenso  S.  78. 


654  Fbibdrich  Zarngkb, 

und  gewiBenlosen  Mann  in  Actis  sub  ]it:  B.  fol.  438  seqq.  Fleischmann«/- 
Zieglern  bey  der  löb].  Yniversität  vorgerttcket.  it:  was  §  54  von  ^artigen 
Frauenzimmer*  und  *  Damasten  Kleide 'i)  daselbst  angefttbret,  zu  seiDeo 
höchsten  Nachtheil  benebst  andern  ßngirten  lästern  in  dici.  Actis  sub  B. 
ihm  aufgebürdet,  Worfür  aber  desen  Advocat,  nachdem  er  Sachföllig  worden, 
in  eine  ansehnliche  Straffe  condemniret,  und  weiln  diese  Feindseligen  dort 
nicht  fortkommen  können ,  solches  mit  in  dieses  Pasqvill  bringen  laBen. 
14)  §  55.  von  ^nackenden  tanzen '^j,  dieses  hat  der  allgemeine  Landt  Betrüger, 
so  gleichfalB  wie  die  Historia,  in  Pasqvill  angeführet,  aus  seines  bösen  Goo- 
ciplentens  und  Ehrenschänders  in  Fleischmannischen  Einbringen  wieder 
Zieglem  in  allegat:  Actis  sol  B.  fol.  138  seqq.  anbringen  laßen,  welches 
Geseze  binnen  wenig  Tagen  benebst  den  eingehohlten  Urthel  förderlichst 
ad  Acta  gebracht  werden  soll^j.  Was  12)  die  ^Wunden*,  so  §  103  an- 
gefUhret,  und  ^verbundenen  Kopff'  betrifft^),  dadurch  wird  augepschelDÜrh 
die  leichtfertige  That/  so  den  17.  Februarius  in  dem  Auerbacher  Keller, 
woselbst  Fleischmann  Denuncianten,  besage  derer  Inqvisition  Acta,  oacb- 
getrachtet,  ausgettbet,  vorgestellet,  und  §.  106.  die  ^  Wund  Zeddul'^),  so  von 
den  Barbier  ad  Acta  gebracht,  anhero  repetiret.  13)  Der  in  §  106  au^ 
geführte  'Bauer  mit  6fl.'^)  ist  Martin  Hoffmann,  Davidt  Fleischmanos 


^)  S.  54:  Leon.  Sie  erzehlte  mir,  wie  daß  derselbe  Mann  so  ein  vortreff- 
licher Liebhaber  von  Frauenzimmer  wäre.  Cour.  Ist  er  denn  noch  jungt  Leoo. 
Ey,  es  ist  ein  Stein-alter  Mann,  der  schon  auf  der  Grube  gehet.  Cour.  Was 
hat  er  denn  nun  mit  dem  Frauenzimmer  gemacht?  Leon.  Er  soll  sich  roög'  \sir'} 
in  ein  artiges  Mädchen  verschammeriret  gehabt  haben,  und  dasselbe  hätte  er  aach, 
weil  er  so  hefflig  in  sie  verliebt  gewesen,  in  gelben  Damast  kleiden  lassen,  uod 
hernachmahls  nur  das  Rübsen-Stücke  geheissen.  Cour.  Ey  warum  nicht  gar  das 
Schoten-Stücke  ?  Hat  aber  dasselbe  FrauenZimmer  den  alten  Gourtisan  auch  Gegen- 
Liebe  bewiesen?  Leon.  So  viel  ich  von  der  Wirthin  vernahm,  so  hätte  sie  ibm 
nicht  einmahl  eine  charmante  Mine  gemacht,  vielweniger,  daß  sie  ihm  für  das  ge- 
schenckte  Damastene  Kleid  sonsten  seinen  Willen  erfüllen  sollen.  Cour.  Ja,  es 
geht  bißweilen  so,  wenn  alte  Männer  mit  jungen  Mädgen  löffeln  wollen,  allein 
es  geschieht  ihnen  gar  recht,  wenn  sie  hernachmahls  für  ihre  Spendagen  ins  Fäust- 
gen nein  ausgelacht  werden. 

2j  S.  55:  Leon.  Ein  artiges  Histörgen  erzehlte  mir  die  Wirthin  von  diesem 
so  genandten  Fleck-Schreiber.  Er  hätte  einsmahls  auf  einer  Hochzeil  nach  einer 
Bären-Music  mit  Frauenzimmer  nackend  um  einen  Dannen-Baum  beramgetaatzel, 
weiches  ihm  diese  Stunde  noch  übel  ausgeleget  würde.  Cour.  Ey,  das  kann icb 
mir  leicht  einbilden.  Nackend  zu  tantzen !  es  kömmt  gar  zu  ärgerlich  heraus.  Wenns 
doch  noch  im  Hemde  gewesen  wäre. 

3)   Am  Rande  von  der  Hand  des  Univ .-Actucnrs :  vide  sub  J) .     VgL  S.  658. 

*)  S.  405  erscheint  Injurius  mit  verbundenem  Kopfe  und  in  den  boshaften  Plä- 
nen, die  er  gegen  seine  Gegner  entwirft,  zeigt  sich  die  ganze  Gemeinheit  seines 
Charakters. 

^)  S.  406 :  Job.  Hast  Du  denn  auch  einen  Wund-Zeddel  eingegeben?  Injur. 
Ich  habe  auff  eine  iedwede  Wunde  den  Barbier  einen  Zeddel  machen  lassen. 

•)  S.  405  fg.  Injurius  will  den  Johannes  zum  Meineide  verleiten.  Jöh.  Vichi 
tausend  Ducaten  weite  ich  nehmen,  hohl  mich  Gottl  nicht  10.  tausend.  Aber 
Momflere  weistu  was,  laß  den  Bauer  wieder  holen,  der  über  jenen  dorte,  wie 
Du  wohl  w^eist ,    vorm  Jahre  falsch  geschworen  hat ,    und  gieb  ihn  noch  eii 


201]  Ghbistian  Rbutbr.  655 

gewesener  Hoffmeister  zu  Sperga;  denn  weil  man  diesen  nicht  alleine  zur 
Bescheinigung  des  Unterschleifls  des  herein  parthirten  Bieres  und  Victualien 
sondern  auch  wegen  Reuthers  begangenen  Meineydt  zum  Zeugen  adhi- 
biret,  So  haben  die  Pasqvillanten  selbigen  unter  den  praetextu  einer  Cor- 
ruption  aufgefUhret  >) .  14)  in  §  120.^)  von  denen  Intraden  des  Glosters  allu- 
diren  die  Pasqvillanten  auf  das  fol.  438  in  Actis  sub  B.  befindliche  Fi  ei  seh - 
mann ische  Einbringen ,  wordurch  der  Verleumbter,  der  Fleischmann ische 
Advocalus,  Dr.  Rysel,  Sachfallig  worden.  45}  das  Kupfer  dieser  Pasqvilles 
concernirende ,  hette  solches  billig  ad  Acta  gebracht  werden  sollen ,  weiln 
es  aber  der  Denunciante  nicht  habhafft  werden  können ,  so  ist  solches  aus 
Davidt  Fleischmanns  und  deBen  Eheweibes  Inqvisition  Actis  allhier  ge- 
nommen; allermaBen  der  fol.  428.  (^  falsche  Brieff 3),  so  Peter  Paulj^)  MeBe 
4697  Denuncianten  im  Nahmen  Herrn  Lauren tij  Arnolden  dolose  von  Dr. 
Ryseln,  Fleischmann  und  deBen  Eheweib  concipiret  und  fol.^)  in  Actis 
in  originali  foL  428  (^f  zu  befinden,  auoh  dem  ansehen  nach  durch  Fleisch- 
m^nns  Jungen,  Peter  Volckeln,  geschrieben  und  Denuncianten  von  der  Post 
aberschicket  worden,  worinen  des  Denunciantens  Statur  von  denen  Pasqvil- 
lanten beschrieben  und  von  dort  zu  deBen  Beschimpfung  in  solches  Pasqviil 
gebracht^).  So  sind  auch  46)  die  Worte  'Intrttschen'  zu  Denunciantens 
Beschimpfung  in  die  famosd  Schrifft  gebracht ,  welche  einsraahles  nur  jocos^ 
angefUhret  worden.  Was  47)  die  Worte  in  §  424  'Practiqvenmacher'  it. 
in  §  446  'Schelmfinger  klopfen'  und  sonst  in  §  76  angeftlhret '') ,  so  in  denen 


6  fl.,  er  thuts  schon.  Injur.  Ja,  was  weiß  derselbe  Mann  von  dieser  AfTaire? 
Johao.  Wariimb  hatte  er  aber  über  jenen  geschworea,  vor  6  fl.,   und  falsch?  Nu? 

1)  Am  Rande  von  der  Hand  des  Univ.-Actuars:  vid.  Acta  Inqvisil.  fol.  132 
sub  Ht'-  Davidt  Fleischmaüns  und  deßen  Eheweib;  femer  vid.  Denunciation 
Acta  Christian  Reuthers. 

^)  Diese  Anführung  ist  auffallend,  denn  jene  Worte  spricht  im  Stücke  nicht  In- 
jurius,  sondern  Graf  Ehrenfried,  während  er  Abt  ist,  S.  420:  Ehrenfried.  Sagt 
mir  doch  nur,  mein  Herr  Gapitain-Lieutenanl,  wie  ichs  auff  der  Welt  besser  haben 
könte,  als  so?  Ich  habe  ja  mein  schönes  Auskommen  von  so  vielen  KlÖster-Intraden, 
das  ich  bey  Hofe  nicht  habe. 

^)  Auch  dieser  Brief  fehlt  uns, 

*)   Das  Fest  dieser  fällt  auf  den  29,  Juni,     Damals  war  also  bereits  Feindschaft. 

^)  Nicht  ausgefüllt. 

•)  Am  Rande  von  der  Hand  des  Univ.-Actuars :  vid.  Acta  der  Fleischmannin 
die  abbitte  betr.  fol.  492  per  verba  iiyurius. 

^)  S.  124  sieht  die  Klage  und  die  Veruninschung  der  Leonore,  daß  ihr  der 
Practiqvenmacher  solch  Zeug  in  die  Supplik  gesetzt  hibe  [s,  S.  $7$),  und  daß 
solchen  doch  allen  flugs  die  Hälse  gebrochen  werden  möchten.  S.  44S:  Cour. 
Mich  wundert,  daß  von  der  hohen  Obrigkeit  so  einem  Practiqvenmacher  seiner 
unverantwortl.  anzüglichkeiten  halber,  nicht  mit  ernstlicher  Strafl'e  auf  die  unnützen 
Schelm-Finger  geklopft  wird.  —  S.  76  Warnung  an  Injurius,  er  möge  sich  nicht 
in  der  Dunkelheit  auf  die  Strasse  wagen,  er  könne  angefallen  werden,  und  wäre  es 
auch  nur  aus  Irrthum,  Cour.  Man  kan  nicht  wissen,  trug  sichs  doch  neulich 
auch  zu,  daß  einer  den  andern  gerne  in  die  Haare  wolte,  und  in  der  grossen 
Bosheit  und  Trunckenheit  sabq  er  nicht  einmal,  mit  wem  er  zu  thun  hatte,  und 
kriegte  also  eben  auch  einen  unrechten  beym  Kopffe.  Injur.  Das  ist  viel  ein 
anders;    denn    wenn    man  truncken  ist,    so  kan  man  sich  wohl  leichte  irren;    Ist 


r 


656  Fbiediiicu  Zabncke,  'pl 

Fieischmannischen  Inqvisition  Aciis^  alB  Denunciant  •/-  Fleiscbmann 
und  deßen  Eheweibe,  haben  die  Pasqvillanten  ßngiii.  Nun  wird  nichts 
hindern,  daß  die  Pasqvillanten  sich  bey  dem  Titul  mit  einer  special  Bewilli- 
gung; behelffen  wollen  (angesehen  solche  eines  Theils  noch  nicht  beyhraebt, 
anders  Theils  wäre  solche  per  et  sub  obreptionem  erschlichen,  indem 
sie  meine  Person  unter  andern  fingirten  Nahmen  bey  solcher  Concession 
dolose  verschwiegen) ,  dass  solches  Pasqvill  einzig  und  allelne  auf  meine 
Person  abgeziehlet  gewesen,  da  dorch  Fleisch  mann,  defien  EheWeib, 
Dr.  Rysel  und  sämtl.  Adhaerenten  Theils  wegen  des  Reutherisdieo 
Meineydes  Theils  auch  wegen  der  von  ihm  und  seinen  Advocato  Dr.  Ryseln 
an  meinen  Principalen  Hr.  Laurentij  Arnoldens  Eheweibes  ausgeübten 
Coneussion  sich  revangiren  wollen^). 

Wann  aber,  HochgeEhrte  Herren,  das  Gerichte  dem  Allerhöchsten  Well- 
Richter   und   nicht  den  Menschen   gehalten  wird ,    und  (wie  schon  oben  ao- 
geführet)  solches    ex    lege   divina    genugsam    bekandt,    daß    ohne  Ansehen 
der  Person  einem  iedweden  Gerechtigkeit  mitgetheilet  werden  soll,  so  grttqde 
ich   mich  auch  auf  dem  Göttlichen   Rechtsspruch,    und  habe  das  gute  Ver- 
trauen   zu   Ew.   GroBachtbarl.    Herrl. ,    Sie   werden   nach   bekandten   Ruhm, 
in  majoribus  delictis  et  scandalosis,  worunter  auch  die  famosen  Libelle  zu 
annectiren  seyn,    mir  in  diesem  stücke,   gleich   wie  Sie   mir   iederzeit  nach 
anleitung  der  Rechte    Richter].    Htilfe    geleistet,   gleiche  Gerechtigkeit  mit- 
zutheilen    geruhen   und    an    den   Lauff   der    heilsamen   Justiz   nicht  hinter- 
lieh   seyn ,    bevorab    da   sich  diese  Pasqvillanten  ihrer  übeltbat ,    so  sie  ao 
.  mir  ausgetlbet,   noch  rühmen,    und  wie  sie  mit  mir  umgangen,    in  öffenl- 
lichen  Truk  befördert  2),    worinnen    mir  in  allen  stücken  vor  Gott  und  aller 
Welt    das    groste    Unrecht    geschiehet,    auch    weil    ich    und    die    Meinigen 
dadurch  in  unwiederbringlichen  Schaden  gesezet  worden,  wohl  zu  pondireo 
und  da  das  Interesse  Fisci  und  Richterliche  Respect  hierunter  versiret,  wohl 
zu  observiren,   in  dem  auch  an  und  vor  sich  selbsten  dasjenige,  was  durch 
Urthel  und  Recht  ein  mahl  ausgcführet,  keinesweges  in  öffentl.  Pasqvilie  za 
bringen,  noch  von  privat  Personen  zu  traduciren  nachgelaßen  ist,  und  weil 
solches  toties  qvoties   in  Schrifln^en   wiederhohlet ,   wird   solches   um  so  viel 
desto  mehr  zu  untersuchen,   auch  solches  crimen  famosi  libeHi  nach  deBen 
in  Rechten   gesezier  Poen   andern  Pasqvillanten   zum  Abscheu    zu  bestraffen 
seyn,    zu  dem   Ende   ich   solches  alles   wieder  Fleischmann   und  deBen 
Ehe  Weib  hiermit  denen  Gerichten   deferiret  haben   wil.     Mit  Ritte,   solche 
darüber  zu  vernehmen  und  denen  bereit  formirten  Inqvisition  Actis,  worauf 
man  sich  fundiret,  einzuverleiben,  und  dieses  um  so  viel  desto  mehr,  H'eil 
sowohl  Davidt  Fleisch  mann  wegen  vielen  Mißethaten  die  Inqvisition 


mirs  doch  unlängst  ebenfalls  so  gegangen,  daß  ich  einem  Unrechten  in  die  Haare 
ßel,   allein  das  geschähe  im  Wein-Keller,  und  nicht  auf  öfTentlicher  Gasse. 

^)  Am  Rande  von  der  Hand  des  Univ.-Actuars :  vid.  Denunciat:  Acta  Christno 
Reuthers.  —  vid.  Inqvisit:  Acta  Davidt  Fleischmanns  u.  deßen  Eheweibes 
da  ihnen  die  special  Inqvisition  zuerkandt. 

2)   wo,  ist  mir  nicht  bekannt  geworden,     Oder  ist  eben  das'  Drama  gefneuH* 


203] 


Christian  Reiitkb. 


657 


auch  deßen  EheWeibe  solche  glcichfalB  in  specic  wegen  Parthirerey  mit 
Herr  Homniel  und  Herbstens  Jungen  zuerkanndt  und  vou  Ihrer  Königl. 
Majestät  und  ChiirfUrstl.  Durehl.  p.  Unsern  allergnüdigsten  Herrn  p.  confir- 
fniret  worden ,  und  aUso  allhier  allenihalben  dieser  beyden  Personen  vila 
anteacta  gar  schlecht  beschaflen,  nach  Eydl.  AuBage  sub  J)j  welches  denn 
mit  nechsten  ferner  adminieuliret  werden  soll,  Voriezo  nur  ganz  unter- 
dienstlich gebethen  haben,  solches  alles  wohl  zu  untersuchen,  und  beyde 
Pasqvillanten  über  angezogene  Facta  zu  vernehmen,  und  nachbelinden  auf 
bedUrffenden  Fall  darüber  rechtl.  erkennen  zu  laßen.  Ich  reservire  mir 
wieder  die  sämtlichen  Interessenten  und  Distrahenten ,  er  sey  auch  wer 
er  wolle,  meine  zustehende  Action  ausdrücklichen  bevor.  Leipzigk  den 
16.  Junij  4700. 

Ew.  HochEhrwUrdigen  Magnificenz  und  Ilerrl. 

unterdienstschuldigster 
Mauritius  Volcroarus  Göze  mpr. 

Zur  Behauptung  dieser  Sache,  daB  Reut  her  und  Krell  dieses  Pas- 
qviil  mit  Genehmhaitung  und  Approbation  Davidt  Fleisch m an ns,  deBen 
Eheweibes  und  Dr.  Ryseln  geschehen,  welche  obigen  Beyden ,  so  stets  bey 
Fleisch  mann  aus-  und  eingangen,  die  materia  zum  Grunde  dieses  Pas- 
qvills  aus  denen  Actis  zugebracht,  auch  Rath  und  That  so  wohl  zu  agirung 
dieses  Pasqvills  alB  deBen  verdistrahirung  darzu  geben ,  werden  nachgesezte 
Zeugen  angegeben. 


Herr  Dr.  Glaser*) 

Hr.  D.  Welsch 

Hr.  D.  Friese 

Hr.  D.  Schwendendörffer 

Hr.  D.  Holze  1,  welcher  ebenfalB  da- 
von Wißenschafft  hat  und  ein  Exem- 
plar verschicket. 

Hr.  Seiffert,  der  Advocatus,  wird 
Zeugnuß  geben,  daß  ich  dadurch 
gemeinet. 

Hr.  M.  Germer. 

Hr.  Eichel  der  FechtMeister  und  deßen 
Eheweib 

Welsch 

Bellwitz,  Hr.  Dr.  Zipfels 

Schreiber 
Ho  ff  mann    aus    Merseburg 


Studiosi  < 


Studiosi 


G rabner,  Hr. Lic.Menckens 

gewesener  Famulus. 
Hoff  mann  von  Cbemniz 
Bock  aus  Merseburg 
Thomae  Capitt  (Capsit?) 
Gambe 
Schmidt  Gaffte  Schenke,  welcher  an- 

fängl.  das  Pasqvill  gehabt. 
Schrecker  der  BallMeister,  so  dieses 
Pasqvill  in   den  Wirthshäusern    mit 
sich  gefuhret  und  auf  gewiesen. 
Wohlfahrt  der  Jüngere 
Christian  Laube 
Peter      Völckel,       Fleischmanns 

Crahm-Junge. 
Christian      Froberger,      Fleisch- 
manns StififSohn. 
Fleischmanns    izige   Köchin   p.    p. 


*)  Dieser  Dr,  Glaser  ist  bekannt  durch  sein  Interesse  für  das  Leipziger  Theater. 
Er  war  es,  der  4695  gemeinsam  mit  Strungk  den  Contract  auf  die  Erbauung  des 
Opernhauses  einging.     Vgl.  Blümner,  Gesch.  d.   Theat.   in  Leipzig,  S.  55, 


658  Friedrich  Zarncke,  [204 

Q    Den  22.  Seplembr.    4  699. 

Nachdem  heutiges  Tages  Fr.  Margaretha  Zieglerin  mit  deren  Tochter, 
Frauen  Marien  Christinen  Fleisch  mannin,  vor  Gerichte  in  einen  Process, 
da  jene  wegen  einer  Schuld  Forderung  diese  belanget,  erschienen,  und  bey> 
den  Theilen,  sich  vor  der  schweren  Straffe  des  Meinfiydes  (denn  es  soll  die 
Fr.  Zieglerin  das  Juramentum  Calumniae,  die  Frau  Fleischmannin  aber 
den  Haupt  Eydt  ablegen)  in  Acht  zu  nehmen,  zugeredet  wird  ,  Worbey  den 
mehrgedachter  Fr.  Zieglerin  Gurator,  Hr.  Moriz  Voickmar  GÖze,  gleich- 
falß  einige  Erinnerung  thut  und  ihn  die  Fr.   Fleischmannin  einen 

'alten  Rockseicher' 

heißet,   So  suchet  derselbe  an^  solches  zu  registriren,   welches  auch  verordnet 
worden. 

Davidt  Bittorff  Geschbr  mpr. 

J)     Uosern  freundlichen  Dienst  zuvor.     EhrenVeste,    Hoch  und  Wohlge- 
lahrte,  Hoch  und  Wohlweise,   günstige  Herren  und  gute  Freunde. 

Alß  dieselben  Uns  die  wieder  Marien  Christinen  Fleischmannin 
ergangenen  Acten  benebst  einer  Frage  übergeben  und  sich  des  Rechten 
darüber  zu  belernen  gebethen  haben, 

Demnach  sprechen  wir  Ghurfürstl.  S:  Schoppen  zu  Leipzigk  darauf 
vor  recht, 

Darauß  so  viel  zu  betinden,  daß  ermelte  Fleischmannin  Moriz 
Voickmar  GÖzen  wegen  derer  vor  Gerichte  wieder  ihn  ausgestoßenen 
schimpflichen  Reden  eine  Ehren  Erklährung  zuthun,  sowohl  die  verur- 
sachten Unkosten,  daran  die  fol.  5^  liqvidirten  Gebühren  sub  A  auf  1.  Thir. 
zu  moderiren ,  der  baare  Verlag  sub  B.  aber  ohne  Abgang  zu  passireo, 
abzustatten  schuldig,  und  wird  hierüber  um  fünfl*  ThIr.  billig  bestraffet. 
Von  Rechtswegen,  zu  Uhrkundt  mit  unsern  Insiegel  versiegelt. 

Churfürstl.   Sächß.  Schoppen  zu  Leipzigk. 
M.   Nov.    1699.      4   ThIr.    4  4  gr. 

Daß  vorstehende  beede  Abschrißten  in  denen  Mir  vorgelegten,  contra 
Maria-Christinen  Fleischmannin  Anno  4  699  für  denen  Edl.  Stadt-Gerichten 
Zu  Leipzigk  ergangenen  Original-Actis  fol.  4  et  7  von  Wort  zu  Wort  also  zu 
befinden,   wird  hiermit  glaubwürdigst  be-attestiret. 

Christophorus  I mm m igen  mpr. 
Not.  publ.  Caes.  jur.  ad  hoc  reqvisitus. 

A4.     Juni  19:    Inserat  der  Universität   zu  dem  Klagschreiben  an  den  König- 
Churfürsten  (Nr.  42)  j  sich  über  Götze  beschwerend. 

Allerunterlhiinigstes  Inserat. 

Auch 

Allergnädigster  König  und  Churfürst, 

Geruhen  Dieselben  ferner  in  Hohen  Gnaden  zuvernehroen,  wie  daß  ob- 
gedachter  Götze,  bereits  nach  beschehener  Mundirung  dieses  allerunter- 
thänigsten  Berichts,  und  da  Wir  solchen  fort  zu  schicken  in  Begriff  gewesen, 
erst  mit  dem  Schreiben  fol.  27  seqq.  (iVr.  45)  eingekommen  und  in  selbigen 
zwar  nunmehro,  worinnen  die  durch  das  Reuterische  Pasqvill  ihm  angethane 
Beschimpffungen  bestehen  solten,  angegeben,  daneben  aber  die  vorhin  wie- 
der Uns  gebrauchten  sehr  harten  Anzttgligkeiten  auff  diese  maße: 


5105]  Christian  Reuter.  659 

Es  isi  ferner  bekant,  daB  ich  zu  Behauptung  der  Inqvisition  und 
wie  in  dem  Paßqvill  einzig  und  allein  meine  Person  zur  Be- 
schimpflung  auffgefuhret,  einige  Zeugen  angegeben,  aber  keine 
Mittheilung  der  Gerechtigkeit  daraufT  erfolget,  sondern  vielmehr 
der  Lauff  der  heilsamen  Justiz  mir  verkürzet  worden,  So  provo- 
cire  ich  4.)  bey  diesem  wahren  Umbstande  auff  Gott  und  deßen 
Heiliges  Gerichte,  wie  solches  nicht  den  Menschen  auff  dieser  Welt 
sondern  dem  Herrn  aller  Welt  gehalten  werde  (juxta  S.  Paralip. 
19.)  und  daB  im  Gerichte  kein  Ansehen  der  Person,  er  sey  auch 
wer  er  wolle,  vorgenommen  werden  soll  (Deut.  1j  ,  und  dieses 
heilige  Geseze  kan  kein  Mensch  auskratzen,  viel  weniger  ohne 
Yorlezung  der  Pflicht  bey  Seite  gesezet  werden  p. 

vviederhohlet  und  also  nichts  gewißers  denn  daß  er  mit  selbigen  femer  wie- 
der Uns  continuiren  möge,  zu  befahren,  Derowegen  Ew:  Königl.  Majestät 
und  ChurfUrstl.  Durchl.  unib  Dero  milchtigen  Schutz  wir  in  allerunterthanig- 
keit  zu  bitten  unumbgünglich  genöthigt  werden,  verharrende 

Ew.  Königl.  Majestät  und  ChurfUrstl.  Durch!. 

allerunterthänigste,  pflichtschuldigste, 
Leipzigk  getreueste, 

Den  49.  Junij,   4700.  Rector,  Magistri  und  Doctores  der 

Universität  daselbst. 

45.     Juni  26:    Erneutes  Klagschreiben  der  Universität  über  Götze, 

Dem  Allerdurchlauchtigsten ,    Großmachtigsten  u,  s.  w.  Friedrich 
Augusto  u.  s,  w.  Unserm  Allergnädigsten  Herrn. 

praes.  d.  SIS.  Junii  4700. 

Allerdurchlauchtigster,  Groß  mächtigster 
König  und  GhurfUrst, 

Ew.   Königl.   Majestät   und   Churfttrstl.   Durchl.    seind    unser' 
Andächtiges   Gebeth   und   allerunterthänigste  Dienste,    in   pflicht- 
schuldigsten Gehorsamb,  Treuesten  Fleißes,  eußersten  Vermögens 
nach,  iederzeit  anvor, 

AUergnädigster  Herr. 

Es  hat  Mauritius  Volckmar  Götze  in  einem  nur  heut  Ubergebenen  Schrei- 
hen  sich  abermahls  folgender  Wortte  wieder  Uns  zugebrauchen  unterstanden : 

p.  p.  In  Betrachtung  da  biß  anhero  majora  delicta  et  scandalosa 
theils  40. fache  falsa,  theils  zweyfache  Concussiones ,  theils  mani- 
festa  scripta  famosa  bey  diesem  Judicio  zu  bestraffen  vorhanden, 
auch  theils  solche  Personen,  welche  die  famose  Schriflten  vor- 
sezlich  wieder  Gerichtl.  Yerbothe  distrahiret,  ganz  impun^  ge- 
litten werden,  hingegen  der  beleidigte  Theil  obiger  delictonim 
halber  in  unwiederbringlichen  Schaden  seiner  Ehre  und  guten 
Leumuth  höchst  unverantworttlich  gesezet  und  welchen  es  con- 
cerniret,  defraudiret  und  betrogen  wird  pp. 


660  Fr.  Zarncke,  Christian  Reuter.  ^^06 

Dieweil  nun  die  Continuation  dieser  höchst  seh impif liehen  Injurieo,  mit 
welchen  Wir  iniuitu  officii  angegriffen  werden,  zu  besorgen,  Also  wollen 
wir  uinb  schleunige  Allergnädigste  Resolution  auff  unsere  albereit  ems^e- 
schickte  Berichte  allerunterthänigst  gebethen  haben,  verbleibende 

Ew.  Königl.  Majestät  und  Churfürstl.   Darchl. 
allerunlerthanigste ,  pflichtschuldigste, 

getreueste 
Leipzigk  Rector,  Magist ri  und  Doctores  der  Universität 

den  26.  Junij  1700.  daselbst. 

46.     Juli  19:    Anklage  der  Frau  Froberger  gegen  Götze. 

Dem  Aller  Durchlauchtigsten  Groß  Mächtigsten  u,  s.   w.   Friedrich 
Augusto  u.  5.   w.  Meinem  allergnädigsten  Herrn. 

praes.  23.  Julij  1700. 

AUerDurchlauchtigster  Groß  mächtigster 

Kdnig  undt  ChurFttrst  p. 

Allergnädigster  HerrI 

Ewl:  Königl:  Maystl:  undt  Churfürstl:  Durchl:  geruhen  Sich  allergDüdigsI 
zu  erinnern,  welcher  gestalt  ich  wider  Moriz  Yolckmar  Gozen,  AdvocateD 
in  Leipzig,  dem  Conciüo  Academico  einige  von  Ihme  begangene  Strafbahre 
Verbrechen  anzugeben  im  Begriff  bin,  allermaBen  zu  solchem  ende  Ewl. 
Königl.  Maystl:  undt  Churfl.  Durchl.  der  Universität  zu  Leipzig  allei^nädigsl 
anbefohlen ,  daB  Sie  deBwegen  wieder  Ihne  mit  der  Inqvisition  verfahreo 
solte ,  weil  mir  nun  bey  so  gestalten  Sachen  die  angegebene  Verbredien 
gebUhrendt  zubescheinigen  oblieget,  unter  denen  selbigen  unter  andern  auch 
dieses  ist,  so  Er  seine  Obrigkeit  auf  das  ärgste  durchgezogen  undt  geschmähet, 
Dergleichen  Begünstigung  aber  von  Ihm  nur  jüngsthin  in  gewissen  Memo- 
rialien,  welche  auB  den  Hochlöbl.  OberConsistorio  in  das  höchst  PrelBliche 
Geheimbde  Raths  Collegium  gegeben  worden,  begangen  worden  sein  soll; 

AlB  gelanget  an  Ewl:  Königl:  Maystl:  undt  Churfürstl:  Durchl:  mein  aller- 
unterthänigstes  Bitten,  Dieselben  geruhen  allergnädigst  zu  solchem  ende  mei- 
nem Advocato  sothane  Acta  ad  extrahendum  Vorlegen  zu  laBen.  Ich  verharre 
vor  die  allergnädigste  Verfügung 

Ewl.  König].  Maystl:  undt  Churfürstl:  Durchl: 
Leipzig  allerdemüthigste 

den  19  Julij.  1700.  p.  Margarelha  Elisabelha  Frobergerin. 

Dr.  K.  Friese  (concepit). 


InhaltsYerzeichniss. 

Seite 

I.    Christian  Reuter 457 

11.    Christian  Reuter  und  die  Müllerisc hen  Erben. 

1.  Die  Familie  Müller 474 

t.  Die  ehrliche  Frau  zu  Plissine 48  4 

3.  Harlekins  Hochzeits-  und  Kindbetterin-Schiuaus 496 

4.  Reuter*s  erste  Relegation 506 

5.  Schelmuflsky's  Curiose  Reisebeschreibung 510 

6.  Der  ehrlichen  Frau  Krankheit  und  Tod 530 

7.  Letztes  Denk-  und  Ehren-Mahl  der  ehrlichen  Frau    ....  538 

8.  Die  Oper 544 

9.  Reuter*s  zweite  Relegation  und  Exclusion.     Versuche  der  Re- 

habilitation      553 

III.  Christian  Reuter  und  der  Advocat  Moriz  Yolkmar  Götze. 

1.  Persönliches 561 

2.  Graf  Ehrenfried 567 

3.  Anklagen  und  Gegenanklagen 576 

IV.  Schluss 581 

Erster  Anhang,  Bibliographie 585 

Zweiter  Anhang,   Auszüge  aus  den  Acten 603 


DIE  GENESISBILDER 


IN  DER  KUNST  DES  FRÜHEN  MITTELALTERS 


MIT  BESONDERER  RÜCKSICHT  AUF  DEN 


ASHBURNHAM  -  PENTATEUCH 


VON 


ANTON  SPRINGER 

MITGLIED  DER  KÖNIGL.  SACHS.  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN. 


Abhandl.  d.  K,  S.  Gesellscli.  d.  Wissenscb.  XXt.  44 


In  der  Abhandlung  über  den  Utrechtpsalter  ^)  habe  ich  das 
Dasein  einer  selbständigen  Kunstrichtung  in  der  karolingischen  Periode, 
soweit  es  sich  um  die  Illustration  der  Psalmen  handelt,  bewiesen. 
Wenn  auch  die  einzelnen  Handschriften  des  Abendlandes  sich  von 
einander  in  der  Auffassung  des  Textes,  in  der  Komposition  und  der 
technischen  Durchführung  unterschöiden ,  nach  Familien  geordnet 
werden  müssen,  so  verknüpft  sie  doch  alle  der  scharf  und  deutlich 
ausgesprochene  Gegensatz  zu  den  byzantinischen  Psaltern.  In  der 
Studie  über  die  »deutsche  Kunst  im  zehnten  Jahrhundert«  habe  ich 
sodann  die  literarischen  und  künstlerischen  Zeugnisse  züsammenge- 
stellt^),  welche  den  engen  Zusammenhang  der  Kunst  der  Ottonischen 
Periode  mit  dem  karolingischen  Zeitalter  darthun.  Die  stetige  innere 
Entwickelung  der  abendländischen  Kunst  vom  neunten  bis  tief  in  das 
elfte  Jahrhundert  erscheint  auf  diese  Weise  gesichert.  Noch  bleibt 
aber  eine  andere  Aufgabe  zu  lösen.  Die  karolingische  Kunst  ist 
keineswegs  dem  Boden  entwachsen,  auf  welchem  sie  sich  ausbreitet. 
Sie  wurzelt  vielmehr  vorwiegend  in  üeberlieferungen,  welche  bis  auf 
die  altchristliche  Zeit  zurückgehen.  Dieses  gilt  selbstverständlich  von 
den  Gegenständen  der  Darstellung,  welche  den  christlichen  Gedanken- 
kreis wiedergeben.  Keineswegs  kann  es  so  unbedingt,  ohne  weitere 
Beweise,  von  der  Form  und  Gestalt  der  künstlerischen  Schilderung 
angenommen  werden.  Wird  doch  z.  B.  von  den  altirischen  Minia- 
turen vielfach  behauptet,  dass  die  Figuren  der  Evangelisten,  der 
Madonna,  die  Darstellung  der  Kreuzigung  ebenso  wie  die  Ornamente 
Werke  einer  ursprünglichen,  rein  nationalen  Kunst  sind.  Jedenfalls 
verdient  die  Frage,  ob  auch  eine  Fortpflanzung .  formaler  Traditiotien 


*)   Abb.  der  phil.-hist.  Classe  der  kgl.  Sachs.   Ges.  der  Wiss.   Bd.  VIII. 
2)  Westdeutsche  Zeilschrift  f.  Geschichte  u.  Kunst.    Trier  «884.    S.  %0\ 

44* 


666  Anton  Springer,  i 

stattgefunden  habe  und  auf  welchem  Wege  sie  sodann  bis  zu  den 
Kunstlern  der  karolingischen  Periode  vordrang,  einer  eingehenden 
Prüfung.  Erst  wenn  diese  Frage  im  bejahenden  Sinne  gelöst  ist, 
wird  man  die  Kette  der  Entwickelung  schliessen  dürfen  und  über 
den  wahren  Verlauf  der  früh-mittelalterlichen  Kunstgeschichte  volle 
Klarheit  erlangen. 

Die  Prüfung  vorzunehmen,  verhinderte  bis  jetzt  die  grosse  Sel- 
tenheit von  Denkmälern   der  abendländischen  Kunst    aus   den  Jahr- 
hunderten zwischen   der  altchristlichen   und   karolingischen   Periode, 
also    aus    dem    sechsten    und    siebenten    Jahrhundert.       Auf  solche 
müssen  wir  zunächst  das  Augenmerk  richten,   da  sie    uns   den  un- 
mittelbaren Weg  zeigen,  auf  welchem  sich  künstlerische  Traditionen 
bis   in  das  karolingische  Zeitalter  forterben   konnten.      Erst  in  den 
jüngsten  Tagen  wurde  die  Schwierigkeit  der  Untersuchung   einiger- 
massen  dadurch  erleichtert,  dass  wir  die  Hand  auf  ein  hervorragen- 
des Werk  abendländischer  Kunst  des   siebenten  Jahrhunderts  legen, 
also  wenigstens  in  einem  Falle  einem  sicheren  Wegweiser  vertrauen 
dürfen.     Herr  Dr.  0.  von  Gebhardt  hat  die  Bilder  des  längst  be- 
rühmten,  aber  bisher  niemals  genau  geprüften  Ashburnham-Pen- 
tateuch  in  musterhafter  Weise  herausgegeben^),  die  Miniaturen  sorg- 
fältig beschrieben  und  soweit  es  die  Natur  des  Codex  und  die  Mittel 
des  Lichtdruckes^)  gestatten,  dieselben  in  treuer  Nachbildung  weiteren 
Kreisen  zugänglich  gemacht.      Dem  verdienstvollen  Herausgeber  Jag 
die  kunsthistorische  Würdigung  der  Handschrift  erst  in  zweiter  Linie. 
Er  verzichtet  ausdrücklich  auf  eine  kritische  Vergleichung  der  Minia- 
turen des  Ashburnham-Codex  mit  älteren    und  jüngeren  illuslrirten 
Handschriften   der  Genesis.     Diese  Vergleichung  durchzuführen  und 
auf  diese   Weise   die   Stellung   des   Ashburnham-Pentateuch  in  der 
Kunstgeschichte  zu  bestimmen,  ist  das  Ziel  der  folgenden  Abhandlung. 


Ueber  die  Herkunft  und  die  Schicksale   des  Ashburnham-Penta- 
teuch  ist  in  den  letzten   Jahren    viel   gesprochen    und    geschrieben 


*)   The  miniatures  of  the  Ashbumham  Pentateiich  edited  by  Oscar  von  Geb- 
hardt.    London  4  883.    Asher  u.  Co.     Folio.     Mit  20  Tafeln. 

^]  Nur  ein  Blatt  ist  auch  in  wohlgelungenem  Farbendrucke  reproducirt. 


^]  Die  Gbnesisbilder.  667 

worden,  das  endgiltig  richtige  wohl  von  dem  gelehrten  Director  der 
Nationalbibliothek  in  Paris,  Leopold  Delisle.  Nach  Delisle's  wie- 
derholt abgegebenem  Gutachten^)  stammt  die  Handschrift  aus  dem 
Kloster  Saint-Gatien  in  Tours  und  kam  in  der  Revolutionszeit  in  den 
Besitz  der  Municipalbibliothek  in  Tours.  Daselbst  blieb  sie,  mehr- 
fach beschrieben,  bis  zum  Jahre  1842,  verschwand  um  diese  Zeit, 
uro  1846  in  der  Sammlung  des  berüchtigten  Bucherdiebes  Libri  auf- 
zutauchen. Libri,  welcher  die  Handschrift  öfter  gesehen  hatte  und 
ihren  Werth  genau  kannte,  benutzte  die  auf  der  Bibliothek  in  Tours 
herrschende  Unordnung,  stahl  dieselbe  oder  liess  sie  stehlen,  und 
verkaufte  sie  einige  Jahre  später  an  einen  Londoner  Buchhändler, 
Namens  Road,  von  welchem  sie  Lord  Ashburnham  für  200,000  Fr. 
erwarb.  Um  zum  Ankaufe  zu  locken,  erhöhte  Libri  willkürlich  das 
Alter  der  Handschrift  und  versetzte  sie  in  das  fünfte  Jahrhundert; 
um  die  Spuren  des  Diebstahls  zu  verwischen,  fälschte  Libri  (fol.  1 1 6^) 
eine  Inschrift  und  behauptete  die  Herkunft  des  Pentateuch  aus  dem 
Basilianerkloster  Grottaferrata  bei  Rom.  Ueber  die  Unwahrheit  der 
letzteren  Behauptung,  über  die  Identität  des  Ashburnham-Pentateuch 
mit  dem  Codex  in  Tours  kann  nach  Delisle's  und  Gebhardt's  Unter- 
suchungen kein  Zweifel  bestehen. 

Leider  ist  auch  der  Ashburnham-Pentateuch,  wie  so  viele  unserer 
ältesten  illustrirten  Handschriften  nur  als  Torso  erhalten.  Das  fünfte 
Buch  Moses  fehlt  vollständig  und  auch  die  anderen  vier  Bücher  zeigen 
mehrfache  Lücken.  Der  Codex  besteht  aus  142  Blättern  (c.-37.5 
cent.  h.  und  32  cent.  br.) ;  der  Text  ist  in  zwei  Columnen  zu  28 
Zeilen,  ohne  Wortabtheilung  in  rohen  Uncialen  auf  wenig  sorgfältig 
zubereitetem  Pergament  geschrieben.  Der  Character  der  Schrift  weist 
nach  dem  übereinstimmenden  Urtheil  der  zu  Rathe  gezogenen  Paläo- 
graphen^)  auf  das  siebente  Jahrhundert  hin.  Für  die  ersten  drei 
Linien  eines  jeden  Buches  und  fUr  die  erste  Linie  eines  jeden  Kapitels 
wurde  rothe  Farbe  benützt,  die  Initialen  erscheinen  etwas  grösser 
als  die  anderen  Buchstaben,  zeichnen  sich  aber  sonst  weder  durch 
Gestalt  noch  durch  Schmuck  aus. 


^)  Les  tr^s  anciens  manuscrits  du  fonds  Libri  dans  les  collections  d' Ashburnham 
Palace.  Gommunication  falte  ä  rAcademie  des  inscriptioDs^  le  22  fcvrier  1883 
und:   Rapport  a  Mr.  le  minisire  de  Finstruction  publique  le  tS  Juin  1883. 

2)  Vgl.  Palfflographical  Society  pl.  239. 


668  Anton  Springer,  [6 

Mit  Ausnahme  von  drei  Blältern  füllen  die  Miniaturen  (das  Titel- 
blatt eingerechnet  20  an  der  Zahl)  stets  die  ganze  Seite.  Sie  sind 
von  einer  einfachen  rothen  Linie  eingefasst,  von  welcher  an  den 
Ecken  kleine  spitze  Blätter  an  kurzem  Stiele  auslaufen.  Jedes  Minia- 
turbild umfasst  mehrere  Soenen.  Diese  sind  nicht  in  regelmässigen 
Reihen  übereinandergeordnet,  oder  durch  ornamentale  Streifen  ge- 
trennt, sondern  je  nach  dem  Räume,  welchen  sie  in  Anspruch  nehmen, 
auf  dem  Blatte  vertheilt.  Um  sie  von  einander  zu  unterscheiden, 
empfängt  gewöhnlich  der  Hintergrund  einer  jeden  Scene  eine  andere 
Farbe. 

Wie  verhalten  sich  nun  die  Miniaturen  des  Ashburnham-Penta- 
teuch  zu  den  älteren  und  jüngeren  Darstellungen  der  Genesis,  zu  den 
altchristlichen  und  altbyzantinischen  einerseits,  zu  den  karolingiscben 
und  spätbyzantinischen  andererseits.  Die  Untersuchung  stösst  inso- 
fern auf  grössere  Schwierigkeiten,  als  der  Künstler  bei  den  Genesis- 
bildern eng  an  den  Inhalt  der  Schrift  gebunden  ist,  die  letztere  ihm 
die  Komposition,  die  Scene,  die  Personenzahl  u.  s.  w.  ziemlich  genau 
vorschreibt.  Verhältnissmässig  frei  durfte  sich  der  Illustrator  des 
Psalters  bewegen.  Der  Text  gestattete  eine  mannigfaltige  Auffassung. 
Der  Maler  konnte  denselben  wörtlich  nehmen,  oder  den  tieferen 
Sinn,  welchen  die  einzelnen  Verse  bergen,  zum  Ausgangspunkte 
seiner  Schilderung  wählen.  Auf  diese  Weise  entstanden  mehrere 
scharf  von  einander  getrennte  Familien  von  Psalterillustrationen, 
welche  sich  bereits  durch  den  Inhalt  der  Darstellung  von  einander 
unterscheiden.  Die  Genesisbilder  dagegen  zeigen  eine  viel  grössere 
Verwandtschaft,  besitzen  zahlreiche  gemeinsame  Züge.  Wie  wenig 
bleibt  bei  der  Wiedergabe  des  Sündenfalles,  des  Auszuges  aus  der 
Arche  u.  s.  w.  der  Freiheit  des  Künstlers  überlassen?  In  der  Haupt- 
sache  decken  sich  alle  gleichnamigen  Bilder.  Nur  durch  sorgfältige 
Prüfung  aller  Einzelheiten,  selbst  der  unscheinbaren  Nebendinge,  ver- 
mag der  Forscher  das  Maass  der  Selbständigkeit  zu  erkennen;  ins- 
besondere wird  er  durch  den  Nachweis,  dass  in  der  Wahl  der 
Gegenstände  eine  Verschiedenheit  waltet,  in  den  Stand  gesetzt,  auf 
eine  bestimmte  Richtung  der  Phantasie  zu  schliessen.  Mag  auch 
vorläufig  keine  Sicherheit  geboten  sein,  ob  man  auf  diesem  Wege 
zum  Ziele  gelangt,  so  musste  er  doch  als  der  einzig  mögliche  ein- 
geschlagen  werden.      Die   Bedeutung  der   einschlägigen  Fragen  für 


7J  Die  Gbnesisbilder.  669 

die  Kunstgeschichte  des  Mittelalters  ist  zu  gross,  als  dass  nicht  der 
Versuch  der  Lösung  allen  Schwierigkeitön  zum  Trotze  gewagt  wer- 
den sollte. 

Zur  Vergleichung  mit  dem  Ashburnham-Pentateuch  wurden  fol- 
gende Bilderkreise  der  Genesis  herangezogen. 

1)  Die  griechische  Handschrift  der  Genesis  in  der  Wiener 
Hofbibliothek.  Auf  Purpurpergament  mit  Gold-  und  Silberbuchstaben 
geschrieben,  reiht  sich  dieses  Bibel-Fragment  —  denn  nur  24  Blätter, 
vom  3.  bis  zum  49.  Kapitel  reichend,  haben  sich  erhalten  —  den 
Prachtcodices  an,  über  deren  maasslos  prächtige  Ausstattung  der  h. 
HieronyfiQus  in  der  Vorrede  zum  Buche  Hieb  Klage  führte.  Früher 
in  das  Constanlinische  Zeitalter  versetzt,  wird  jetzt  die  Wiener  Genesis 
dem  Charakter  der  schweren  Unoialbuchstaben  entsprechend,  dem 
sechsten  Jahrhundert  zugeeignet,  lieber  den  Ursprung  des  Codex 
ist  nichts  näheres  bekannt,  nur  dass  sich  derselbe  im  vierzehnten 
Jahrhunderte  noch  in  Italien  befand,  wird  glaubwürdig  vermuthet.^) 
Der  Miniaturenschmuck  dehnt  sich  über  alle  Seiten  der  Handschrift 
aus,  steigert  demnach  die  Summe  der  Bilder  auf  achtundvierzig.  Die- 
selben füllen  stets  die  untere  Hälfte  der  Seite,  zeigen  leider  die 
Farben  vielfach  abgerieben,  gestatten  immerhin  den  Schluss  auf  eine 
kunstgeübte  Hand,  welche  auch  technisch  an  den  antiken  Traditionen 
festhält.  Gold  ist  ausgeschlossen,  die  Färbung  im  Ganzen  hell,  mit 
feinen  Uebergängen  von  Licht  zum  Schatten.  Sämmtliche  Bilder  sind 
in  dem  bekannten  Werke  von  Peter  Lambeck  über  die  Wiener  Hof- 
bibliothek ^),  wenn  auch  mit  arger  Missachtung  der  stilistischen  Eigen- 
heiten, in  Kupferstiche  reproducirt  worden. 

2)  Der  Codex  Geneseos  Cottonianus  im  Britischen  Museum. 

* 

Zwei  griechische  Bischöfe  brachten  die  Handschrift  als  Geschenk  für 
König  Heinrich  VUI.  nach  England  mit  dem  Vorgeben,  sie  sei  iden- 
tisch mit  dem  Exemplar,  welches  der  h.  Origines  besessen.  Leider 
ging  der  Codex  bei  dem  Brande  der  Cotton-Bibliothek  1731  beinahe 
vollständig  zu  Grunde,  so  dass  nur  wenige  Blattfragmente  in  halb- 
verkohltem Zustande  sich  erhalten  haben.  Einige  der  noch  kennt- 
lichen Miniaturen  wurden  in  den  Vetusta  monumenta  der  Londoner 


^)  PalaBOgr.  soc.  pl.   178. 

^)  Lambecii  Gomment.  de  G.  Bibliotheca  Yindob.  Über  tercius.     Wien  4  670. 


670  Artox  SnuüGBB^  * 

Antiquarischen  Gesellschaft  1750  reproducut,  das  Bild  Gott  Ta>5; 
mit  Adam  in  Westwood's  Palaeographia  sacra  nacbg^iildeL  b^ 
Codex  zdblte  ursprünglich  250  Miniaturen,  während  x^r  jetzt  bup: 
16  Umrisszeichnungen  zur  Yerg^eichung  heranziehen  kOnneiu 

3)  Die  karolingischen  Bilderbibeln.    Selbständige  illostrirte  Hand- 
schriften der  Genesis  aus  der  karolingischen  Periode  haben  sich  nich; 
erhalten,  wohl  aber  erfreuen  sich  in  den  grossen  Prachtschriften  der 
Vulgata  die  ersten  Abschnitte  des  alten  Testamentes  r^felmassig  eiiie$ 
reicheren  künstlerischen  Schmuckes.    Die  Anordnung  der  Bilder  hat 
in  der  Zeit  eine  durchgreifende  Aenderung  erfahren.      Wahrend  a 
den  altchristlichen  Handschriften  die  Einzelbilder  vorherrschten,  vrer- 
den  jetzt  mehrere  Scenen,  in  Reihen  übereinander  g;ezeichnet,  auf 
einem  Blatte  vereinigt,  gewöhnlich  so,  dass  am  Anfange  eines  jedeD 
Buches  des  alten  Testamentes  (wie  vor  jedem  Evangeliom)    die  da- 
selbst erzählten  Ereignisse  wie  in   einer  anschaulichen  UebersichU- 
tafel  zusammengefasst  werden.     Die  wichtigsten  Denkmäler,  welcfae 
in  Betracht  gezogen  wurden,  sind  ausser  den  AIcuinbibeln  im  bri- 
tischen  Museum  und   in   der  Bamberger  Bibliothek  (jene   aus  dem 
Schweizer  Stifte  Moutier  Grandval  stammend,  diese  seit  Jahrhunderten 
in  Bamberg  befindlich,  beide  im  S.  Martinskloster  in  Tours  im  Qteo 
Jahrhundert  geschrieben)  folgende: 

a.  die  Bibel  K.  Karl  des  Kahlen  in  Paris,  von  Vivianus  und 
seinen  Brüdern  (in  Tours)  dem  Frankenkönige  überreicht  und 

b.  die  sog.  Bibel  von  S.  Calixt,  jetzt  in  der  Bibliothek  der 
Benediktinerabtei  S.  Paul  bei  Rom  bewahrt,  deren  reichen  Bilder- 
schätz  ich  1882  eingehend  geprüft  habe.  Obschon  die  Bibel  von 
S.  Calixt  noch  den  korrupten  Text  der  Vulgata  vor  Alcuins  Ver- 
besserung enthalt,  muss  sie  dennoch  mit  Rücksicht  auf  die  Natur  der  | 
Ornamente  und  der  Bilder  dem  Schlüsse  des  neunten  Jahrhunderts 
(oder  noch  später?)  zugeschrieben  werden.  Mehrere  Anzeichen 
sprechen  dafür,  dass  die  Pariser  Bibel  Vivian's  etwas  früher  geschrieben 
und  illustrirt  wurde. 

4)  Eine  besondere  Stellung  nimmt  die  »Metrical  Paraphrase« 
Caedmon's  ein.  Der  Codex  in  der  Bodleiana,  in  seinem  kiinsü^ 
rischen  Schmucke  unvollendet,  enthält  48  Minialuren  verschiedener 
Grösse,  bald  Einzelbilder,  bald  mehrere  Scenen  auf  einem  Blatte 
übereinandergestellt  und  wurde  im  10.  Jahrhundert  geschriebeo.  W^ 


L 


9]  Die  Genbsisbildbr.  671 

Vorlage  des  Künstlers,  welcher  leider  über  eine  sehr  ungelenke  Hand 
gebot  und  der  Natur  niemals  scharf  in  das  Auge  geblickt  hatte,  war 
nicht  die  Bibel,  sondern  eine  theilweise  aus  apokryphen,  vielleicht 
rabbinischen  Quellen  schöpfende  Dichtung.  ^)  Seine  Illustrationen 
stehen  daher  nicht  auf  gleicher  Linie  mit  den  streng  biblischen  Bil- 
dern, immerhin  verdienen  sie  besonders  ßlr  die  Geschichte  Noah's 
und  Abraham's  Beachtung,  weil  sie  den  Unterschied  zwischen  ofß- 
cieller  und  privater  Auffassung  klar  legen  und  auch  zeigen,  welche 
Darstellungen  sich  einer  gewissen  Volksthümlichkeit  erfreuten. 

5)  Der  Untersuchung  würde  der  rechte  Abschluss  fehlen,  wenn 
sie  nicht  auch  auf  die  byzantinischen  Schilderungen  sich  ausdehnte. 
Findet  ja  noch  immer  der  angebliche  Einfluss  der  byzantinischen 
Kunst  auf  das  Abendland  im  frühen  Mittelalter  manche  Gläubige. 
Abgesehen  von  Einzeldarstellungen  in  Homilien  und  Psaltern  habe 
ich  keine  umfassende  Illustration  der  Genesis  zu  Gesichte  bekommen. 
Die  beiden  Handschriften  des  Octateuch  in  der  Yaticana  scheinen 
nur  ältere  Codices  kopirt  zu  haben  und  keinen  selbständigen  Werth 
zu  besitzen.  Die  Zusammenstellung  griechischer  illustrirter  Hand* 
Schriften  in  westeuropäischen  Sammlungen  —  und  nur  über  diese 
kann  man  vorläufig  gebieten  —  legt  die  Yermuthung  nahe,  dass  von 
Evangelien  und  Psaltern  abgesehen  die  spätere  byzantinische  Kunst 
sich  vorwiegend  mit  der  Ausschmückung  erbaulicher  Schriften  be- 
schäftigte. Einigen  Ersatz  bietet  das  bekannte  Malerbuch  vom  Berge 
Athos.  Mag  dasselbe  auch  nur  für  die  späteren  Jahrhunderte  (vom 
12.  herwärts)  und  selbst  für  diese  nicht  immer  kanonische  Geltung 
besitzen,  so  lehrt  es  uns  dennoch  den  durchschnittlich  herrschenden 
Bilderkreis  kennen.  Ergänzend  treten  die  Schilderungen  der  Genesis 
in  dem  ausgedehnten  Gemäldecyclus  der  Capeila  Palatina  in  Palermo 
und  in  der  Kirche  zu  Monreale  hinzu.  Schon  die  Ausführung  in 
iMosaikmalerei  deutet  das  Beharren  bei  älteren  Ueberlieferungen  an. 
Die  musivische  Technik  hängt  auf  das  engste  mit  einer  Kunstanschau- 
ung zusammen,  welche  im  zwölften  Jahrhundert  längst  ihren  Höhe- 
punkt überschritten  hatte  und  langsam   sich  bereits  auslebte.     Ihre 


^)  Thorpe,  Caedmon*s  metrical  Paraphrase,  London  1832.  Vgl.  Archaeologia, 
published  by  the  society  of  Antiquaries  of  London  Vol.  XXIV  und  Westwood, 
Palaeographia  sacra.  Vgl.  A.  Ebert:  Zur  angelsächsischen  Genesis  in  Anglia  V. 
p.  124. 


672  Anton  Spbinger,  [^0 

Anwendung  zeigt  konservative  Gesinnung,  Die  Palermitaner  Mosaik- 
bilder vertreten  nicht  allein  eine  ältere  Richtung,  sondern  sind  auch 
offenbar  unter  bvzantinischem  Einflüsse  entstanden.  Mochte  das 
arabische  Culturelement  auf  Sicilien  reiche  Blüthen  entfalten,  nament- 
lich auf  die  Bausitten  der  normanischen  Eroberer  vielfach  befruch- 
tend wirken,  im  Kreise  der  Malerei  waren  demselben  selbstverständ- 
lich enge  Grenzen  gezogen.  Hier  musste  die  byzantinische  Kunst- 
übung aushelfen.  Dadurch  erscheint  es  gerechtfertigt,  wenn  auch 
diese  Werke  trotz  ihres  späteren  Ursprunges  zur  Vergleichung  heran- 
gezogen werden.  Die  Vergleichung  soll  übrigens  nicht  auf  jedes 
einzelne  Bild  und  auf  jede  einzelne  Scene  der  zahlreichen  Bilder- 
kreise sich  erstrecken.  Aus  äussern  und  innern  Gründen  empfiehlt 
es  sich,  die  Scenen  zu  grösseren  Gruppen  zusammenzufassen  und 
einander  gegenüberzustellen.  Solche  Gruppen  sind :  die  Schöpfungs- 
geschichte, die  Geschichte  Adam  und  Eva's,  die  Sündflulh,  die  Ge- 
schichte der  Patriarchen  Abraham,  Isaak,  Jacob  und  Joseph  und  end- 
lich die  Anfänge  der  Thätigkeit  Moses.  Die  Grenzen  des  Buches 
Genesis  werden  dadurch  allerdings  nicht  strenge  innegehalten.  Die 
Rücksicht  auf  den  Ashburnham-Pentateuch  bedingte  aber  die  Ueber- 
schreitung  und  wird  den  Fehler,  dass  sich  Titel  und  Inhalt  der  Ab- 
handlung nicht  vollständig  decken,  in  Fachkreisen  entschuldigen. 


1.  Die  SchöpfongsgescMclite. 

Die  Schwierigkeilen  bei  der  bildlichen  Wiedergabe  der  Welt- 
schöpfung, welche  erst  Michelangelo  in  glorreicher  Weise  besiegt  hatte, 
mögen  wohl  die  wesentlichste  Ursache  gewesen  sein,  dass  dieser 
Vorgang  so  selten  zur  Darstellung  gelangt.  Die  altchristliche  Kunst 
kennt  ihn  nicht,  er  fehlt  in  der  Wiener  Genesis,  ebensowenig 
kommt  er  in  den  karolingischen  Bibeln  vor.  Auch  das  Malerbuch  vom 
Berge  Athos  reiht  dem  Sturze  Lucifers  unmittelbar  die  Erschaffung 
Adam's  an.  Einen  hervorragenden  Platz  nimmt  dagegen  die  Welt- 
schöpfung in  dem  Ashburnham-Pentateuch  ein.  Ihre  Darstellung  füllt 
ein  ganzes  Blatt  und  zerfällt  in  vier  Scenen.  Gott  scheidet  die  Erde, 
einen  braunen  rechteckigen  Streifen  von  dem  Himmel,  sein  Geist 
schwebt  zugleich  in   der  Form  einer  blauen  Wolke   über  dem   (als 


t 


41]  Die  GENEsiseaDER.  673 

grüne  Welle  gezeichneten)  Wasser;  er  scheidet  ferner  das  gelbe 
Licht  von  der  dunkelblauen  Finsterniss,  beide  als  unregelmässige, 
dem  Oblong  sich  nähernde  Streifen  dargestellt,  er  trennt  weiter  das 
Wasser  unter  der  Feste  (abermals  eine  grüne  aufgebauschte,  ge- 
streifte Fläche)  von  dem  Wasser  über  der  Feste  und  theilt  endlich 
das  Land,  steile  braune  Felsen  von  dem  Wasser,  grünen  Wellen. 
Wie  in  der  Darstellung  der  unbelebten  Gegenstände  nur  die  dürftigste 
Naturbeobachtung  sich  kundgibt,  ihre  Bedeutung  immer  erst  errathen 
werden  muss,  so  offenbart  die  viermal  wiederkehrende  Gestalt  Gottes 
den  Mangel  an  künstlerischer  Tradition.  Er  ist  überall  gleichmässig 
mit  langem  braunen  Haar,  in  braunem  Mantel  und  Sandalen  an  den 
Füssen  wiedergegeben.  Wichtig  ist,  dass  die  stets  ausgestreckte 
Hand  übermässig  gross  gezeichnet  ist,  hier  also  bereits  die  Sitte, 
das  bei  der  Thätigkeit  besonders  wirksame  Körperglied  durch  Grösse 
auszuzeichnen,  anklingt.  Wir  dürfen  wohl  vermuthen,  dass  für  alle 
diese  Scenen  keine  Vorbilder  vorlagen,  dieselben  vielmehr  von  dem 
Zeichner  selbständig  aber  mühselig  erfunden  wurden. 

Längere  Zeit  verstreicht,  ehe  wir  wieder  auf  eine  ausgedehnte 
Schilderung  der  Schöpfungsgeschichte  stossen.  Diese  ist  so  seltsam, 
fällt  so  vollständig  aus  dem  Rahmen  der  biblischen  Erzählung  her- 
aus, dass  sie  in  der  Reihe  der  Bibelillustrationen  kaum  mitgezählt 
werden  kann.  Die  Miniaturen  in  der  »Metrical  Paraphrase«  beginnen 
mit  der  Darstellung,  wie  Gott  (mit  dem  Kreuznimbus)  auf  dem  Throne 
sitzend  die  Huldigung  der  Cherubim  und  Seraphim  empfängt.  Das 
nächste  Blatt  beschreibt  in  vier  Abtheilungen  den  Sturz  der  rebelli- 
schen Engel.  Ihr  Anführer,  mit  Krone  und  Stab,  steht  vor  einem 
Prachtbau,  in  dessen  geöffnetem  Inneren  man  einen  Thron  erblickt 
und  ladet  seine  Anhänger  ein,  diesen  neuen  Himmel  zu  betreten. 
Vier  grössere  Engel  neigen  sich  ehrerbietig  vor  ihm,  vier  andere, 
kleinere,  immer  durch  riesige  Flügel  charakterisirt ,  bringen  ihm 
Kronen  dar.  Die  Huldigungsscene  wiederholt  sich  in  der  nächst 
unteren  Abtheilung.  In  der  Mitte  steht  ein  grösserer  Engel,  mit 
dem  Diadem  geschmückt  und  empfängt  aus  den  Händen  sechs  klei- 
nerer Engel  Pfauenfedern.  Die  beiden  noch  folgenden  Abtheilungen 
des  Blattes  gehören  zusammen.  In  der  oberen  schleudert  Gott,  von 
Engeln  umgeben,  einen  Bündel  Pfeiler  auf  die  Abtrünnigen,  welche 
kopfüber  in  die  Tiefe  stürzen;  in  der  Hölle,  einem  fischartigen  Rachen, 


II 


674  Anton  Spunger,  J: 

liegt  bereils  Lucifer  angekettet.  Erst  auf  dem  dritten  Blatte  wendt; 
sich  der  Künstler  der  eigentlichen  Schöpfungsgeschichte  zu.  NaiL 
der  Beiscbrift  scheidet  hier  Gott  das  Wasser  von  der  Erde.  UeUr 
dem  Wasser  schwebt  ein  Engel,  welcher  sich  mit  dem  Gewandt 
das  Antlitz  verhüllt.  Darüber  auf  dem  Scheitelpunkte  eines  Halb- 
kreises sitzt  Gott,  jung  und  unbärtig;  er  blickt  nach  unten  and  hält 
die  Rechte  ausgestreckt.  Ein  zweiter  Halbkreis  wölbt  sich  über 
Gott,  ein  Engel  schwebt  innerhalb  desselben  mit  einem  runden  Ge- 
fässe  in  den  Händen,  aus  welchem  ein  Strahlenstrom  aof  Gott  sicti 
ergiesst. 

Vier  Halbkreise  sind  auf  dem  vierten  Blatte  übereinander  ^ 
zeichnet,  hn  obersten  steht  Gott  in  der  Mandorla,  ein  Buch  in  der 
einen  Hand,  die  andere  zum  Segen  erhebend.  In  dem  zweiten  er- 
blicken wir  auf  dem  Boden  einen  grossen  Vogel  und  einen  Hirsch 
zwischen  Pflanzen  ruhend.  Der  dritte  Halbkreis  zeigt  ein  ähnliches 
Bild  wie  Blatt  3 :  Gott,  unbärtig  jung,  mit  dem  Buche  in  der  Eani 
über  ihm  ein  Engel,  Strahlen  ausgiessend.  In  dem  untersten  Halb- 
kreise erscheinen  oben  Sterne,  unten  auf  einer  festen  Linie  einzeloe 
dünne  Bäumchen. 

Die  Frage,  ob  d^r  angelsächsische  Maler  sich  an  eine  künst- 
lerische Ueberlieferung  hielt  oder  auf  Grund  des  vorliegenden  Textes 
selbständig  die  Scenen  ordnete  und  die  Formen  erfand,  muss  zu 
Gunsten  der  letzteren  Annahme  entschieden  werden.  Wir  haben  es 
nicht  mit  schlimmen  Nachbildungen  einer  schlecht  geschulten  Hand, 
sondern  mit  Versuchen  einer  ursprünglich  wirkenden  Phantasie  zu 
thun,  selbst  in  den  Bildern,  welche  den  biblischen  Text  wieder- 
geben und  nicht  wie  der  Engelsturz,  spätere  poetische  ErfinduogeD 

0 

illustriren.  Herrscht  eine  Verbindung  zwischen  den  Miniaturen  des 
Pseudo-Gaedmon  und  einem  weiteren  Kunstkreise,  so  kann  sich  diese 
nur  auf  die  angelsächsische  Schule  des  10.  Jahrhunderts  beziehen. 
Deutliche  Anklänge  an  diese  zeigen  ausser  der  Architektur  die  Art, 
wie  die  Ausgänge  der  Gewandfalten  gezeichnet  sind,  und  dieFon», 
welche  dem  Höllenrachen  gegeben  wurde. 

Eine  weitere  Illustration  der  Schöpfungsgeschichte  aus  der 
karolingischen  Periode  kann  nicht  nachgewiesen  werden.  Dass  sie 
aber  der  Phantasie  des  Zeitalters  nicht  ganz  fremd  war,  beweisen 
die  »Versus  ad  picturas  domus  domini  Mogontinae«,  welche 


43]  Die  Genesisbilder.  675 

Ekkehard  lY.  aus  St.  Gallen  für  den  Erzbischof  Aribo  am  Anfange 
des  XI.  Jahrhunderts  dichtete^).  Selbst  auf  den  Engelsturz  wird  in 
den  ersten  Versen  dieses  Programmes  für  Wandgemälde  im  Mainzer 
Dome  angespielt: 

Principio  rerum  lux  primo  facta  dierum^ 
Arida  cum  coelis,  magnum  genus  et  Michaelis, 
Luciferum  verbis  temerantem  sceptra  superbis 
In  primo  flore  plasmator  nudat  honore. 

Die  Darstellungen  der  Schöpfungsgeschichte  treten  im  frühen 
Mittelalter  so  sporadisch  auf,  dass  es  bisjetzt  wenigstens  unmöglich 
ist,  die  Wege  anzugeben,  auf  welchen  sich  die  Typen  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  vererbten.  Die  Schöpfungsbilder  in  der  Capeila  Pala- 
tina  und  im  Dom  zu  Monreale  treten  uns  unvermittelt  entgegen.  Wir 
sind  nicht  im  Stande,  die  überlieferten  künstlerischen  Vorbilder  nach- 
zuweisen, können  freilich  auf  der  anderen  Seite  die  Behauptung  nicht 
erharten,  dass  wir  es  mit  neuen,  selbständigen  Schöpfungen  eines 
Malers  aus  dem  12.  Jahrhunderte  zu  thun  haben.  Die  byzantinischen 
Anklänge,  in  den  Genesisbildern  übrigens  schwächer  als  in  den 
grossen  Einzelgestalten  Christi,  der  Apostel  und  Heiligen  und  selbst 
in  den  Scenen  aus  dem  neuen  Testamente,  welche  andere  Theile 
der  beiden  Kirchen  schmücken,  treffen  zunächst  nur  die  Zeichnung. 
Dass  auch  die  Wahl  der  Gegenstände,  die  Anordnung  und  Gruppirung, 
die  Komposition  unmittelbar  der  byzantinischen  Kunst  entlehnt  wor- 
den sei,  dafür  fehlen  sichere  Anhaltspunkte. 

Die  Schöpfungsbilder  in  der  Capella  Palatina  bedecken  die 
rechte  Wand  des  Mittelschiffes  über  den  Bogen.  Gott,  im  Brust- 
bilde, steht  innerhalb  eines  gezackten  Kreises,  von  welchem  Wasser 

» 

herabfällt,  das  sich  unten  in  einem  Wellenstrome  sammelt.  Gott,  wie 
hier  immer,  in  violettem  Mantel,  in  ganzer  Figur,  schafft  die  Pflanzen, 
und  im  dritten  Bilde  Fische,  Vögel  und  die  vierfüssigen  Thiere,  welche 
paarweise  ihre  Wanderung  antreten. 

In  Monreale,  gleichfalls  an  der  rechten  Wand  des  Mittelschiffes, 
so  dass  jede  Scene  von  der  anderen  durch  das  Fenster  getrennt  ist, 
nimmt  die  Schilderung  der  Schöpfung  einen  breiteren  Raum  ein. 
Von  der  Halbfigur  Gottes  geht  ein  Strahl  aus,  an  dessen  Spitze  die 
Taube   schwebt.      Unten   sind   grünlich   weisse  Wellen    gemalt,   aus 


^)   Fr.  Schneider,  der  h.  Bardo.     Mainz  4  87K 


676  Anton  Springer,  [^^ 

welchen  ein  grosser  Kopf  auftaucht.  Die  lateinische  Beischrift  lautet: 
in  principio  Dens  creavit  coelum  et  terram.  Gott,  in  ganzer  Figur, 
sitzt  auf  einer  Kugel,  welche  mehrere  Farbenschichten,  von  weiss, 
durch  grün  und  blau  bis  zu  schwarz  zeigt.  Flammenzungen  gehen 
von  ihm  aus,  Engel  stehen  mit  ausgestreckten  Armen  adorirend  vor 
ihm.  Der  Scheidung  des  Lichtes  von  der  Finsterniss  folgt  unmittel- 
bar die  Schöpfung  der  Pflanzenwelt.  Vor  dem  sitzenden  Gottvater 
erhebt  sich  ein  Hügel  mit  Blumen,  unten  ist  Wasser  angedeutet.  In 
der  nächsten  Scene  sitzt  er,  mit  einer  Rolle  in  der  Hand;  an  dem 
Firmamente,  einer  Kugel,  erscheinen  Sonne,  Mond  (in  der  Form  von 
Kreisen)  und  Sterne.  Auf  einer  Kugel,  die  im  Wasser  (?)  schwebt^ 
thronend,  stellt  ihn  das  folgende  Bild  dar;  das  sechste  und  letzte 
Mosaikgemälde,  welches  der  Schöpfung  der  Welt  gewidmet  ist,  zeigt 
in  der  Ecke  den  sitzenden  Gottvater,  in  der  Mitte  einen  grünenden 
Hügel  und  darunter  Wasser,  in  welchem  Fische  und  Vögel,  u.  a.  eine 
trefflich  gezeichnete  Ente  schwimmen. 

Die  Zahl  der  Schöpfungsbilder  in  Monreale  erscheint,  mit  jenen 
in  der  Capella  Palatina  verglichen,  verdoppelt.  Zur  grösseren  Summe 
gesellt  sich  auch  ein  grösserer  Reichthum  an  Einzelnheiten,  z.  B.  in 
der  Zeichnung  der  Hügel,  der  Pflanzen  und  Thiere.  Die  Anschau- 
lichkeit der  Schilderung  ist  gewachsen,  ohne  freilich  den  eigentlichen 
Schöpfungsakt  den  Sinnen  näher  zu  bringen. 

Noch  wäre  die  Darstellung  der  Schöpfung  in  dem  aus  Elfen- 
beintafeln zusammengesetzten  Altarvorsatze  im  Dom  von  Salerno 
aus  den  XII.  Jahrhundert  zu  erwähnen.  Je  zwei  Scenen,  durch  eine 
Säule  getrennt,  füllen  eine  Tafel.  Auf  der  einen  (oberste  Reihe 
links)  steht  Gottvater,  mit  der  Rolle  in  der  linken,  die  Rechte  zum 
Segen  über  vier  Engel,  welche  sich  tief  zur  Erde  beugen,  erhebend. 
Links  von  der  Säule  schwebt  die  Taube  über  Wellen.  Zwei  Kreise 
darüber  enthalten  die  Iiischriflen :  lux  und  nox.  Die  andere  Tafel 
zeigt  Gottvater,  von  zwei  Engeln  in  langen  Gewändern  begleitet,  wie 
er  Pflanzen  (einen  mit  Blüthen  und  Früchten  beladenen  Baum)  schaSl, 
daneben  streckt  Gott  die  Hand  gegen  das  Firmament  aus,  einen 
Kreis,  in  welchem  sich  zwei  kleinere  Kreise  mit  den  Halbfiguren  von 
Sonne  und  Mond,  und  viele  Sterne  befinden.  Der  Ursprung  dieser 
Reliefs  ist  ofienbar  nicht  weit  von  den  Palermitaner  Mosaikbildern 
zu  suchen. 


t 


1^]  Die  Genesisbilder.  677 

2.  Adam  nnd  Eva.   Süiidenfall  nnd  Brudermord. 

Während  die  Bilder  der  Weltschöpfung,  der  Werke  Gottes  in 
den  ersten  fünf  Schöpfungstagen  sich  zu  keiner  zusammenhängenden 
Reihe  verknüpfen  lassen,  von  einer  Entwickelung,  einem  allmäligen 
Wachsen  und  Sich  ausbreiten  der  Bildmotive  nicht  gesprochen  werden 
kann,  die  einzelnen  Scenen  vielmehr  von  Fall  zu  Fall  immer  neu 
erfunden  scheinen:  geht  die  Schilderung  Adam's  und  Eva's  auf  eine 
lange,  bis  in  die  altchristliche  Zeit  zurückreichende  Tradition  zurück. 
Besonders  gilt  dies  von  dem  Stindenfalle.  Bereits  unter  den  Ka- 
takombenbildern stossen  wir  wiederholt  auf  Adam  und  Eva,  unter 
einem  Baume  stehend  und  von  der  Schlange  verführt.  Die  Darstel- 
lung bietet  geringe  Abwechslung.  Ein  schematisch  gezeichneter  Baum, 
um  dessen  Stamm  sich  eine  Schlange  ringelt,  bildet  die  Mitte  der 
Scene.  Adam  und  Eva,  zu  welcher  letzteren  sich  gewöhnlich  die 
Schlange  wendet,  bedecken  entweder  mit  beiden  Händen  die  Scham 
oder  halten  auch  nur  mit  einer  Hand  das  Blatt  darüber,  während 
dann  Eva  mit  der  anderen  Hand  nach  dem  Apfel  greift  und  Adam 
den  Arm  zur  Gegenrede  gegen  Eva  erhebt.  Die  Beispiele  dafür 
finden  sich  in  dem  Cubiculum  der  h.  Cäcilia  (Garrucci  t.  34,  5),  im 
Coemit.  S.  Marcellini  et  Petri  (Garr.  t.  53,  2,  t.  55,  2),  in  der  Katak. 
der  h.  Agnes  (Garr.  t.  63,  1,  t.  64,  2).  Auch  auf  altchristlichen 
Goldgläsern,  z.  B.  in  jenem  im  Museum  Borgianum  der  Propaganda 
(Garr.  t.  172,  1)  und  in  dem  anderen,  welches  die  Vatikanische 
Bibliothek  bev^^ahrt  (Garr.  t.  172,  8),  kommt  die  gleiche  Darstellung 
vor.  Auffallend  ist  es,  dass  in  den  beiden  letzteren  Fällen  Eva  mit 
Armbändern  und  einem  Halsband  geschmückt  erscheint  und  eine  hohe 
Frisur,  wie  sie  in  den  Miniaturen  seit  dem  6.  Jahrhundert  vor- 
kömmt, trägt. 

Eine  noch  wichtigere  Rolle  spielen  Adam  und  Eva  in  der  alt- 
christlichen Sarkophagskulptur.  Ausser  dem  Sündenfalle  wird  uns 
noch  die  Menschenschöpfung  und  sodann  eine  eigenthümliche,  später 
nie  wiederkehrende  Scene,  Christus  zwischen  Adam  und  Eva,  wel- 
eher  sie  nach  dem  Sündenfalle  in  das  neue  Leben  einweist,  vorge- 
führt. Unter  den  Darstellungen  der  Menschenschöpfung  ist  jene  am 
Sarkophag  aus  S.  Paolo  fuori  le  mura,  jetzt  im  Lateranmuseum  (Garr. 
t.  365,  2),  die  berühmteste.    Die  Dreizahl  der  mit  der  Schöpfung  Eva's 


678  Anton  Springer,  [H 

beschäftigten   Personen   hat   mannigfache   Erklärungen    hervorgerafen 
und  zu  scharfen  Controversen  Anlass  gegeben.    Auf  einem  Lehnstahle 
sitzt  eine  bärtige  Gestalt  in  langem  Mantel  und  erhebt  die  Hand  zum 
Segen.    An  den  Stuhl  lehnt  sich  in  der  Ecke  ein  gleichfalls  bärtigef 
Mann  an,   während   der  dritte,   gleich  gebildete   die  Hand  auf  den 
Kopf  einer  kleinen  nackten  aufrechtstehenden  Figur  legt.     Eine  zweite 
nackte   Figur  liegt  starr  ausgestreckt  zu  den   Füssen    der  erstereo. 
Die  Schwierigkeit  der  richtigen  Deutung  liegt  zunächst  in  der  Ueinen 
liegenden  Figur,  welche  offenbar  einen  Todten  und  nicht  den  schla- 
fenden Adam  darstellt,   auffällig  an  den  Todten  in  der  Wiedei^ 
der  Vision  Ezechiels  37,  5 — 10,   welche  auch  unter  den  Sarkophag- 
reliefs (Garr.  t.  312,  1   und  t.  318,  1)  vorkommt,  erinnert.     Dann  in 
der  Dreizahl  der  schaffenden  Personen,   gewöhnlich    auf  die  Trinitöt 
bezogen.      Die  Theilnahme  Christi   an   der  Menschenschöpfnng  bätle 
nichts  auffallendes.     Der  h.  Basilius  nimmt  (Hexaemeron  IX.  6]  aus- 
drücklich für  Christus   die  Mitschöpfung  des  Menschen  in  Anspruch. 
Dadurch  wurde  aber  gerade   die  Unterscheidung  Christi   von  Gott- 
vater  durch   Gestalt,  Alter,   Bartlosigkeit  gefordert,   da   die  Gleich- 
stellung mit  Gottvater  die  Lehre  unverständlich  macht.     Dürfte  man 
die  Gestalt  hinter  dem  Stuhle  zu  den  blossen  Füllfiguren  des -Hinter- 
grundes rechnen,  wie  sie  so  oft  an  Sarkophagen,  auch  an  dem  Sar- 
kophage von  S.  Paul   vorkommen   und   die  Handlung   theilen:  Golt 
weckt  Adam  zum  Leben  und  Gott  beseelt  durch  Handauflegen  E^ 
so  böte  die  Deutung  keine  Schwierigkeiten. 

Die  Erschaffung  des  ersten  Menschen  stellt  auch  das  Reliefbild 
an   einem  südfranzösischen  Sarkophage   dar   (Garr.  t.  301,  1).    B" 
bartloser  Jüngling  in  langem  Gewände,  eine  Rolle  in  der  Linken  tritt 
aus  einem  Gebäude  (durch  eine  Säule  angedeutet)   heraus  und  legt 
einer  kleinen  nackten  Gestalt,  welche  vor  ihm  steht,  die  eine  Hand 
gegen  ihn  ausstreckt,  die  andere  dagegen  an  die  Brust  drückt,  und  über 
welcher  eine  Taube  schwebt,  die  Rechte  auf  den  Kopf.    Es  wieder- 
holt sich  hier  dieselbe  Action  wie  am  Sarkophage  von  S.  Paul.   Ite 
die  Menschenschöpfung  durch   Christus   gemeint   sei  und  die  Säule 
die  Paradiesesp forte  vorstelle,  unterliegt  keinem  Zweifel..  Eine  ver- 
wandte Schilderung  zeigt  ein  bei  Teramo  in  den  Abruzzen  gefundenem 
Sarkophagfragment  (Garr.  399,  7).    Ein  bärtiger  Mann  auf  dem  Throne 
berührt  mit  der   Hand   die  Brust   einer  vor   ihm  auf  einen  Sockel 


47]  Die  Genesisbilder.  679 

gestellten  kleinen  nackten  Figur.  Hinter  dem  Thronenden  steht  eine 
unbärtige  jugendliche  Gestalt  in  langem  Mantel,  mit  leicht  erhobener 
Rechtep. 

Die  Bilder  des  Sundenfalles  auf  den  altchrisllichen  Sarkophagen 
unterscheiden  sich  von  jenen  in  den  Katakomben  wesentlich  durch 
zwei  Dinge.  Adam  und  Eva  haben  neben  sich  eine  Aehrengarbe 
und  ein  Schaf  stehen.  Gott,  bald  als  bärtiger  Mann  bald  als  unbär- 
tiger Jüngling  aufgefasst,  spricht  warnend  das  Elternpaar  an.  Bei- 
spiele des  letzteren  Vorganges  bieten  Sarkophage  im  Lateranischen 
Museum  (Garr.  t.  318,  1  und  t.  383,  5),  femer  Sarkophage  in  Syra- 
kus  (Garr.  t.  365,  1),  Saragossa  (Garr.  t.  381,  5)  und  ein  im  Coemet. 
S.  Lucina  ausgegrabener  Sarkophag  (Garr.  t.  372,  3),  auf  welchem 
Gott  unbärtig  und  jugendlich  dargestellt  erscheint.  Noch  häufiger 
tritt  uns  auf  den  Bildern  des  Sündenfalls  die  Garbe  und  das  Schaf 
zu  Füssen  des  Baumes,  jene  stets  neben  Adam,  wie  das  Schaf  neben 
Eva,  entgegen,  so  an  zwei  Sarkophagen  im  Lateran  (Garr.  t.  314,  1 
und  t.  383,  S),  am  Sarkophage  des  Junius  Bassus  in  den  Vaticanischen 
Grotten,  einem  anderen  in  Saragossa  (Garr.  t.  381,  6)  u.  a.  Als 
Variante  mag  noch  ein  Sarkophag  in  Verona  (Garr.  t.  333,  3)  an- 
geführt werden,  wo  zu  beiden  Seiten  des  Baumes  Körbe  mit  Aepfeln 
gefüllt  aufgestellt  sind.  Fallen  schon  die  letzteren  Bilder  aus  dem 
Kreise  einfach  historischer  Schilderungen  heraus  und  streifen  sie  an 
das  Gebiet  symbolisch-lehrhafter  Darstellung,  so  gilt  das  in  noch 
höherem  Grade  von  den  Reliefs,  in  welchen  Christus  (auf  dem  Sar- 
kophage zu  Saragossa  als  solcher  ausdrücklich  durch  das  Monogramm 
bezeichnet)  zwischen  Adam  und  Eva  steht,  mit  einem  Bündel  Aehren 
in  der  einen,  Adam  zugewendeten  Hand,  während  er  mit  der  anderen 
ein  aufspringendes  Schaf  festhält.  Beispiele  dieser  Scene  finden  sich 
an  römischen  Sarkophagen  (Garr.  t.  310,  1;  t.  313,  4;  t.  367,  2;  t. 
396,  3).  Ob  sie  auch  an  südfranzösischen  und  spanischen  vorkom- 
men, bleibt  weiterer  Untersuchung  vorbehalten.  Den  letzten  Anklang 
an  diese  Scene  entdecken  wir  in  einer  Miniatur  in  den  Homilien  des 
Gregor  von  Nazianz  aus  dem  IX.  Jahrh.  (Paris),  welche  einen  Engel 
darstellt,  wie  er  eine  Hacke  Adam  überreicht.  Die  symbolische  Be- 
deutung der  Bilder  ist  offenbar  schon  in  Vergessenheit  gerathen. 

Die  älteste  Illustration  der  biblischen  Geschichte  von  Adam  und  Eva 
bietet  uns  die  Wiener  Genesis.   Zwei  Tafeln  sind  derselben  gewidmet. 

Abhandl.  d.  K.  S.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  45 


680  Ahtoh  SnmiGEi,  [l^ 

1)  Adam  und  Eva  stehen  links  zwischen  drei  Bftmnen,  in  m- 
lUrlicher  Haltung,  den  einen  Ftiss  vor  den  anderen  setzend.    Bbtter 
benachbarter  Baumzweige  decken   wie    zufällig    ihre    Scham.    Eva 
mit  längeren  Haaren  und  rundlichem  Gesichte  reicht  Adam  den  Apfel. 
In   der   Mitte   schreiten  Adam  und  Eva,   mit  grossen   abgerisseaen 
Blättern  die  Scham  bedeckend,  mit  gesenkten  Köpfen  dicht  bei  ein- 
ander einher.     Rechts  ragen  ihre  Köpfe  aus  dem  Gebüsche,  in  wei- 
chem sie   sich  verborgen   halten,   empor.     Oben   erscheint  bis  zam 
Ellenbogen  sichtbar  die  Hand  Gottes  in  einem  Halbkreise.     Die  drei 
Scenen  sind   von   dem  Künstler  offenbar   als  ein   einheitliches  BilJ 
komponirt.     Die  Gruppen  halten  gleichen  Abstand;   in  regelmdssigeo 
Zwischenräumen  werden  Bäume  über  den  ganzen  Hintergrund  Ter- 
tbeilt,  die  Hand  Gottes  in  der  Mitte  des  Blattes  angebracht,  obgleich 
sie  sich  auf  eine  Seitenscene  bezieht.    Naturwahrheit  kann  man  von 
der  Zeichnung  der  Bäume  nicht  rühmen.    Sie  haben  dünne  Stämme. 
wenige  Zweige,   endigen   in  grosse,   bald  gezackte,    bald  spitzzu- 
laufende  Blätter.      Die   letzteren    treten    zuweilen  zu  einem  Büschel 
zusammen.     Die  Früchte,  Aepfel  und  Birnen,  erscheinen  im  Verhält- 
niss  zu  den  Blättern  und  Zweigen  viel  zu  gross.    Dagegen  zeigt  sich 
in    den    nackten  Gestalten    noch    deutlich    eine    feste   künstlerische 
Ueberlieferung.     Sie  sind  wenn  auch  nicht  vollkommen   lebenswahr, 
doch  mit  grosser  Sicherheit,  in  den  Maassen  und  Bewegungen  richtig, 
im  Ausdrucke  deutlich  entworfen. 

2)  Die  zweite  Tafel  enthält  links  einen  Baum  mit  grossen  Aepfelo 
und  gezackten  Blättern,  um  dessen  Stamm  sich  eine. Schlange  ringelt. 
Nebenan  wandern  Adam  und  Eva,  in  kurze,  ärmellose  Tuniken  ge- 
kleidet, an  einer  Palme  vorbei  aus  dem  Paradiese.     Die  Grenze  des 
letzteren   bildet  eine    perspektivisch   schlecht   gezeichnete,  scbrani- 
artige  Thüre,  durch  ein  flammendes  Rad  versperrt.     Zur  Seite  des- 
selben steht  in  langem  Gewände,    mit  gesenkten  Armen  ein  Engel. 
Rechts  ziehen  Adam  und  Eva,  in  ihren  Geberden,  das  auf  die  Hand 
gestützte   Antlitz,    den    Schmerz    deutlich    ausdrückend,    von  einer 
grösseren  weiblichen  Gestalt,  der  Reue,  begleitet,  von  dannen.    ^^ 
lernen   hier  zum   ersten  Male   den   Gebrauch   allegorischer  figoren, 
um  mit  ihrer  Hilfe   eine  Seelenstimmung  zu  versinnlichen,  kenneD. 
Eine  Zusammenstellung  derselben   von  dem  Codex  Rossanensis,  »o 
aTuaYifeXia  den  h.  Marcus  inspirirt,  bis  zu  den  Bildern  in  der  flimffl^'^ 


4  9]  Die  Genbsisbilder.  681 

ieiter  des  Job.  Klimakos  aus  dem  XI.  Jahrhundert  würde  ihre  weite 
Verbreitung  und  lange  Dauer  beweisen,  ttberdiess  darthun,  dass  sich 
in  ihnen  die  antiken  Ueberlieferungen  am  reinsten  erhielten. 

In  eine  ganz  andere  Kunst  weit,  sowohl  was  die  Gegenstände 
der  Darstellung,  wie  die  Form  ihrer  Wiedergabe  betrifft,  werden  wir 
versetzt,  wenn  wir  den  Blick  von  der  Wiener  Genesis  zum  Ash- 
burnham-Pentateuch  wenden.  An  die  Stelle  wohlgeordneter  Kom- 
positionen treten  bunt  durcheinander  geworfene  Scenen,  deren  Zu- 
sammenhang und  richtige  Aufeinanderfolge  erst  mühsam  enträthselt 
wird.  Die  Erschaffung  Adam's  und  Eva's,  der  Sündenfall  fehlen; 
erst  das  Leben  nach  der  Vertreibung  aus  dem  Paradiese,  das  Schick- 
sal der  ersten  Familie  fesselt  die  Aufmerksamkeit  des  Illustrators. 
Mehr  noch  als  Adam  und  Eva  erscheinen  Kain  und  Abel  als  die 
Hauptpersonen.  Die  Erzählung  beginnt  mit  der  Darstellung  Adam's 
und  Eva's,  welche  in  kurze  Felle  gekleidet  neben  einander  unter 
einem  Laubdache  stehen.  Unter  einem  ähnlichen  von  dünnen  Stäm- 
men getragenen  Laubdache  sitzt  Eva,  welche  einmal  Abel  die  Brust 
reicht,  das  anderemal  den  erstgeborenen  Kain  auf  dem  Schosse  hält, 
während  Adam  mit  einem  Ochsengespanne  den  Acker  pflügt.  Er 
treibt  mit  einem  Stachel  die  Thiere  an.  Es  folgt  dann  die  Schilde- 
rung, wie  Abel  auf  einem  Hügel  sitzend  Schafe  weidet,  Kain  den 
Pflug  führt,  wie  die  Brüder  Gott,  dessen  Hand  in  der  Höhe  sicht- 
bar, Opfer  bringen,  Kains  Opfer  zurückgewiesen  wird  (Abel  bringt 
Gott  ein  Schaf  und  einen  Becher  Wein  dar,  Kain,  welcher  die  Hände 
sinken  lässt,  zur  Erde  blickt,  ein  Brod),  wie  Kain  den  Bruder  mit 
einer  Axt  erschlägt  und  von  Gott  angerufen  wird.  (Kain  hebt  die 
Hände  gleichsam  um  sich  zu  bergen  über  den  Kopf  empor.) 

Gegen  die  einfache  Tracht  der  Männer,  den  kurzen  hellfarbigen 
Aermelrock  und  Kniestrümpfe  sticht  das  schmuckreiche  Gewand  Eva's 
ab.  Sie  trägt  einen  violetten  Rock  mit  rothen  Unterärmeln,  das  auf- 
gebundene Haar  mit  einer  Art  von  Perlen  durchzogen.  Ausdruck 
empfangen  die  einzelnen  Gestalten  nur  soweit  derselbe  durch  be- 
stimmte Bewegungen  der  Gliedmaassen  wiedergegeben  werden  kann, 
z.  B.  durch  gehobene  oder  gesenkte  Arme,  sonst  sind  alle  Köpfe 
gleichmässig,  d.  h.  gross  und  rund  gebildet.  Die  Ochsen,  mit  wel- 
chen Adam  und  Kain  pflijgen,  erscheinen  besonders  in  den  Köpfen 
richtig  gezeichnet,  weniger  kann  man  es   von  Abels  Herde  rühmen, 

45* 


682  Artoü  Spmugbb.  > 

am  wenigsten  von  den  Bäumen.    Aus  einem  dünnen  Stamme  wachsen 
regelmassig  drei  Zweige  heraus,   welche   in  Blatlwerk    (theils  langt 
spitze,  theils  zu  runden  Büscheln  geordnete  Blätter]    aaslaafen.    Em 
Ausnahme  allein  bildet  die  Dattelpalme.    Ihr  Stamm  veijflngt  sich  \^ie 
in   der  Wirklichkeit  nach    unten,    ebenso   entsprechen    Blätter  und 
Früchte  der  letzteren.     Die  grössere  Treue  in   der  Wiedergabe  der 
Dattelpalme  wiederholt  sich  in  vielen  anderen  dem  Norden  aDgd)ü- 
rigen  Codices.    Es  gebt  daher  nicht  an,  daraus  den  Rückschluss  auf 
unmittelbare  Naturbeobachtung  und  weiter  auf  die  Heimat  des  lüo- 
strators  zu  ziehen.     Der  Zeichner  der  Londoner  Alcuinbibel  hat  ge- 
wiss nicht  Palmen  mit  eigenen  Augen  gesehen.    Es  scheint  viehnebr. 
dass  die  allerdings  auffallende  und  dem  Auge  sich  leicht  einprägende 
Gestalt  dieses  in  der  Bibel  typischen  Baumes  älteren  Mustern  nach- 
gebildet   wurde.     Zu   seiner   Naturumgebung   stand    der    Maler  des 
Ashbumham-Pentateuch  so,  dass  er  wohl  die  kleinem  Einzelheileo 
für  sich  der  Wirklichkeit  ablauschte,  aber  noch  nicht   die  Fähi^eit 
besass,  dieselben  zu  einem  wahren  Ganzen  zu  vereinigen. 

Die  beiden  Alcuinbibeln  in  London  und  Bamberg  zeigen  deut- 
liche Spuren  gemeinsamer  Abstammung,  gehören  offenbar  zu  einer  und 
derselben  Familie.     Der  Verwandtschaft  der  SchrifLzüge   steht  eine 
grosse  Uebereinstimmung  in  den  lUustralionen  zur  Seite.    Gold  spielt 
auch  bei  den  letzteren  eine  grosse  Rolle.    Nicht  bloss  empfangen  die 
Bäume,   ihre  Blätter  und   Früchte  Goldfarbe,   auch  an  den  Figuren 
finden  Goldlichter,  selbst  Goldflächen  reiche  Verwendung.    Die  Form 
der  Köpfe,  die  Maasse  der  Körper,  der  Wurf  des  Gewandes  bei  Golt 
Vater  ist  in  beiden  Codices,  obscbon  sie  nicht  von  einer  Hand  her- 
rühren, dieselbe.     In   der  Londoner  wie  in   der  Bamberger  Alcuin- 
bibel füllen  die  Darstellungen  aus  der  Genesis  ein  Blatt,  in  vierAt>- 
tbeilungen,  welche  durch  Purpurbänder  mit  Goldschrift  (rustica  capi- 
talis)  getrennt  werden. 

Die  erste  Abtheilung  in  der  Londoner  Bibel  schildert  die 
Erschaffung  Adam's  und  Eva's;  die  zweite  stellt  dar,  wie  Eva  von 
Gott  ihrem  Gatten  zugeführt  und  beiden  das  Verbot,  von  den  Früchten 
des  Baumes  zu  essen,  verkündet  wird ;  die  dritte  erzählt  die  Versuchung 
und  den  Fall  der  ersten  Eltern,  ihre  Scham  vor  Gott;  die  vierte 
endlich  beschreibt  die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese,  und  wie  Adam 
die  Erde  hackt,  Eva  ihr  Kind  säugt.     Die  einzelnen  Scenen  werdea 


21]  DiB  Gbnbsisbildbr.  683 

stets  durch  Bdume  getrennt.  Aehnlich  in  der  AIcuinbibel  in  Bam- 
berg. In  der  obersten  Abtheilung  werden  folgende  zwei  Scenen 
vorgeführt.  Gott  in  langem  Gewände,  mit  der  Rolle  in  einer  Hand 
streckt  die  andere  Adam  entgegen,  welcher  auf  der  Erde  sitzt  und 
von  Gott  Leben  empfängt.  Gott,  jung  und  unbärtig  gebildet,  sitzt 
rechts  in  der  Nähe  eines  Baumes,  ihm  gegenüber  steht  Adam,  zwi- 
schen beiden  weiden  zahlreiche  Thiere,  alle  golden,  welchen  Adam 
den  Namen  gibt.  Die  grössere  Naturwahrheit  in  der  Zeichnung  der 
Thiere,  besonders  des  Schweines,  wurde  schon  von  Jäck  in  seiner 
Beschreibung  der  Bibliothek  zu  Bamberg  rühmend  -hervorgehoben. 

Zweite  Abtheilung:  Auf  dem  Boden  liegt  Adam  (gold  mit  hell- 
rothen  Umrissen)  starr  ausgestreckt,  über  ihn  beugt  sich  Gott,  um 
Eva  aus  der  Rippe  zu  schaffen.  Gott  führt  Eva  ihrem  Gatten  zu. 
Neben  dem  goldenen  Baume,  um  dessen  Stamm  sich  eine  Schlange, 
halb  gold,  halb  schwarzgrttn,  wie  in  der  Londoner  Bibel,  windet,  steht 
Eva;  sie  hält  in  der  einen  Hand  die  Frucht  und  reicht  mit  der 
anderen  einen  zweiten  Apfel  Adam.  Adam  und  Eva  unter  einem 
dicht  belaubten  Baume  bedecken  mit  grossen  goldenen  Blättern  die 
Scham. 

Dritte  Abtheilung:  Gott  wirft  Adam  und  Eva  den  Ungehorsam 
vor.  Adam  weist  auf  Eva,  diese  auf  die  Schlange,  welche  am  Boden 
unter  einem  phantastisch  gezeichneten  Baume  kriecht.  (Der  Londoner 
Codex  enthält  mit  leichten  Aenderungen  dieselbe  Scene.)  Ein  Engel 
mit  gezücktem  Schwerte  in  der  Rechten,  berührt  mit  der  Linken 
Adam's  Schulter  und  treibt  das  erste  Menschenpaar,  welches  kurze 
graue  Röcke  und  goldverbrämte  Hosen  tragen,  aus  dem  Paradiese. 
Ihre  Schicksale  nach  der  Vertreibung  erzählt  die  letzte  Abtheilung. 
Adam  gräbt  links  in  der  Ecke  mit  einer  mächtigen  Hacke  die  Erde, 
rechts  hält  Eva,  auf  einem  Holzstuhle  sitzend,  auf  ihrem  Schoose  ein 
Kind.  Ueber  ihnen  kommt  aus  einer  grünen  Wolke  die  goldene  Hand 
Gottes  hervor.  Bäume  trennen  die  beiden  Figuren  von  der  mittleren 
Scene,  wo  Kain  den  wie  eine  Mumie  eingewickelten  Abel  mit  einer 
Hacke  erschlägt. 

Wie  die  beiden  AIcuinbibeln ,  so  müssen  auch  die  Bibel  Karl 
des  Kahlen,  die  sogen.  Vivianbibel  und  die  Bibel  von  S.  Paul  zu 
einer  Gruppe  zusammengefasst  werden.  In  beiden  Codices  ist  dem 
Buche   der  Genesis  eine  Miniatur,  das  ganze  Blatt   füllend,   voran- 


684  Anton  Springer,  [28 

gestellt,  welche  in  drei  Abtheilungen  die  Schicksale  der  ersten  Eltern 
erzahlt.  Die  Yivianbibel  beginnt  mit  der  Erschaffung  Adams.  Gott- 
vater, unbärtig,  wie  in  allen  Bildern  der  karolingischen  Periode,  in 
hellblauer  Tunika,  rothem,  mit  Goldlichtern  besetzten  Mantel,  welcher 
den  einen  Arm  frei  lässt,  hält  in  der  einen  Hand  einen  Stab,  und 
streckt  die  andere  Adam  entgegen.  Adam  mit  langen  herabwalien- 
den  Haaren  steht  vor  ihm  und  beginnt,  wie  die  eine  leicht  bewegte 
Hand  andeutet,  Leben  zu  athmen.  Ein  Engel  in  Halbfigur  breitet 
staunend  über  den  Vorgang  die  Hände  aus.  Daneben  liegt  Adam 
unbewegt,  die  Arme  fest  an  den  Leib  gepresst,  auf  dem  Boden. 
Gottvater  neigt  sich  über  ihn,  um  Eva  zu  schaffen.  Rechts  steht 
Gottvater  von  besonders  jugendlichem  Ansehen  und  führt  Eva  dem 
Gatten  zu.  Adam  ist  merkwürdiger  Weise  kleiner  als  Eva  gezeich- 
net, diese  von  dem  Manne  nur  durch  zwei  Punkte  auf  der  Brust, 
welche  den  Busen  andeuten  sollen,  unterschieden. 

In  der  mittleren  Abtheilung,  von  der  oberen  und  unteren  durch 
einen  Purpurstreifen  mit  Goldschrift  getrennt,  sehen  wir  zuerst  den 
Sündenfall.  •  Um  den  Baumstamm  windet  sich  die  Schlange,  einen 
Apfel  im  Rachen,  welchen  Eva  empfängt,  während  sie  einen  zweiten 
Adam,  der  verlegen  (eine  Hand  vor  den  Mund  haltend)  neben  ihr  steht, 
überreicht.  Ein  grosses  Goldblatt  vor  der  Scham,  treten  dann  mehr 
nach  rechts  Adam  und  Eva,  sichtlich  zagend,  gebückt,  dem  zürnen- 
den Gottvater  entgegen.  Die  unterste  Abtheilung  endlich  schildert 
die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese.  Ein  Engel  mit  kurzem  Haare, 
in  der  Gewandung  sonst  Gottvater  ähnlich,  in  der  einen  Hand  einen 
langen  Stab,  der  in  einer  Lilie  endigt,  haltend,  berührt  Adams 
Schulter  und  treibt  ihn  und  Eva  vor  sich  her.  Beide  haben  ein 
Tuch  über  die  Schulter  geworfen,  Adam  ein  kürzeres,  welches  die 
Beine  freilässt,  Eva  ein  längeres.  Sie  presst,  wie  es  seitdem  in  der 
ganzen  mittelalterlichen  Kunst  üblich  wurde,  um  den  Schmerz  aus- 
zudrücken, die  Hand  an  die  Waüge.  Rechts  sitzt  Eva  zwischen 
2  Bäumen,  auf  einem  Mooshügel  mit  dem  nackten  Kinde  auf  dem 
Schooss.  Sie  trägt  über  dem  Unterkleide  einen  Mantel,  welchen  sie 
über  den  Kopf  gezogen  hat.  Neben  ihr  hackt  Adam  in  kui*zeni 
Rocke,  sonst  nackt,  die  Erde. 

Die  Miniaturen  in  der  Bibel  von  S.  Paul  verrathen  eine  minder 
geschulte  Hand.     Dieses  zeigt  sich  besonders  deutlich  in  der  Zeich- 


23]  Die  Gbkbsisbildeb.  685 

nuDg  der  Köpfe.  Ad  die  Stelle  des  Ovals  tritt  eine  mehr  eckige 
Form,  dadurch  hervorgerufen,  dass  die  Wangenlinie  gegen  das  Kinn 
gerade  verläuft,  ohne  rundliche  Schweifung.  In  Bezug  auf  das  Co- 
lorit  bemerkt  man  folgenden  Vorgang.  Die  Umrisse  werden  in  roth- 
brauner Farbe  aufgetragen,  mit  Ziegelroth  ausgefüllt,  auf  die  Nase 
und  über  den  Augenbrauen  weisse  Lichter  aufgesetzt.  Das  Gewand 
Gottvaters  besteht  aus  einem  hellblauen  Rocke  mit  goldenen  Streifen, 
worüber  ein  dunkelrother  mit  Goldlichtern  gehöhter  Mantel  geworfen 
ist.  Die  nackten  Körper  des  Eltempaares  erscheinen  in  den  Maassen 
arg  vergriffen,  offenbaren  aber  doch  eine  kräftige  Muskulatur.  Der 
Hintergrund  wird  durch  Bäume,  Berge,  der  Vordergrund  durch  zahl- 
reiche Pflanzen  belebt.  Die  letzteren  sind  rein  dekorativ  behandelt. 
Auf  rothe  dünne  Linien  oder  weisse  Stengel  werden  goldene  Punkte 
oder  spiralförmig  gewundene  Kreise  gesetzt.  Für  die  gleiche  Schule' 
des  Zeichners  mit  dem  Miniator  der  Vivianbibel  spricht  besonders 
die  identische  Bildung  der  Zehen.  Sie  sind  in  beiden  Codices  über- 
mässig lang  und  wie  Finger  beweglich. 

Die  drei  Felder  des  Blattes  (fol.  7.  o.),  welche  die  Genesis  illu- 
striren,  werden  von  einander  durch  Purpurstreifen  mit  Goldschrift 
getrennt.  Im  obersten  Felde  links  liegt  Adam  am  Abhänge  eines  Hügels 
ausgestreckt,  Gottvater  neigt  sich  über  ihn,  um  ihn  zu  beleben.  Mehr 
in  der  Mitte  steht  Adam  bereits  aufgerichtet,  ihm  gegenüber  Gott- 
vater, mit  einem  Buche  in  der  Hand.  Links  ruht  Adam,  auf  der 
Seite  liegend,  den  Kopf  auf  die  Hand  gestützt.  Gottvater  neigt  sich 
über  ihn  und  zieht  ihm  ein  Fleischband'  aus  der  Hüfte.  Das  mitt- 
lere Feld  zeigt  Eva  schlafend,  an  einen  Hügel  angelehnt,  von  dem 
sich  vorbeugenden  Gottvater  berührt  und  zum  Leben  erweckt.  Eva 
wird  dann  weiter  von  Gott,  der  sie  an  der  Schulter  gefasst,  Adam 
zugeführt.  Rechts  stehen  Adam  und  Eva  zu  beiden  Seiten  des 
Baumes,  um  welchen  sich  eine  blauweisse  Schlange  ringelt.  Beide 
bedecken  bereits  mit  Feigenblättern  die  Scham.  Adam  hält  einen 
goldenen  Apfel  in  der  Hand,  hinter  Eva  erhebt  Gottvater  drohend 
den  Arm.  In  der  unteren  Abtheilung  vertreibt  ein  Engel  etwas  er- 
höht stehend,  in  blauem  Rocke  und  röthlichem  mit  Goldlichtern  ge- 
schmücktem Mantel,  ein  goldenes  Schwert  in  der  Hand,  das  Eltern- 
paar aus  dem  Paradiese.  Die  Bewegung  der  letzteren  ist  hastiger 
als  in  der  Vivianbibel,   die  Mimik  Eva's,  welche  die  Hand  an   das 


686  Anton  Spbinger,  [^4 

Antlitz  fuhrt,  die  gleiche.  Neu  ist,  dass  Adam  leicht  Eva's  Schulter 
berührt,  gleichsam  um  sie  zu  trösten.  Rechts  wird  durch  zwei 
Stangen,  welche  oben  durch  Blattwerk  verbunden  sind,  eine  Art 
Laube  (vgl.  Ashburnham-Pentateuch)  gebildet.  In  derselben  sitzt  Eva, 
in  einen  kurzen  Pelzrock  gehüllt,  mit  dem  Kinde  am  Busen,  währeDd 
Adam,  gleichfalls  mit  einem  Fell  bekleidet,  die  Erde  hackt. 

Die  unzulänglichen  Kunstmittel  fallen  in  dieser  Handschrift  aus 
dem  Grunde  stärker  in  die  Augen,  weil  die  Ziele  offenbar  höher 
gewachsen  waren.  Der  Zeichner  strebt  eine  grössere  Naturwahrheil 
an.  Während  in  der  Vivianbibel  z.  B.  der  Busen  Eva's  einfach  darch 
einen  Punkt  angedeutet  wurde,  wird  er  hier  der  Wirklichkeit  genaoer 
nachgebildet.  Der  Versuch  fällt  freilich  scheusslich  aus.  Die  Be- 
wegungen der  einzelnen  Personen  sind  heftiger  und  mannigfacher. 
Gemeinsam  ist  beiden  Codices  die  symmetrische  Anordnung  der 
Bäume  im  Hintergrunde. 

Die  »metrical  Paraphrase  Pseudo-Caedmon's«  lehnt  sich 
sowenig  wie  in  der  Schöpfungsgeschichte  in  der  Erzählung  von  Adam 
und  Eva  an  den  biblischen  Text.     Indem  sie  die  Schicksale  Adam 
und  Eva's   mit  Vorgängen  im  Himmel   und   in  der  Hölle   verknüpft, 
bringt  sie  ein  völlig  neues  Element  in  die  Schilderung   und  verleiht 
derselben  eine  ungewöhnliche  Ausdehnung.    Dieselbe  bis  zum  Morde 
Abels  fortgeführt  füllt  20  Blätter.     Gleich   die  erste  Scene,   welche 
Eva's  Erschaffung  darstellt  und  zwar  abweichend  von  der  gewöhn- 
lichen Sitte,  indem  zuerst  Gottvater  (bärtig)  sich  über  den  schlafeodeQ 
Adam  beugt,  um  ihm  die  Rippe  auszuziehen   und   dann   Eva  allein 
auf  einem  Hügel  sitzend   durch   die  Berührung  Gottvaters  (unbärtig) 
zum  Leben  erweckt  wird,  fügt  einen  Vorgang  im  geöffneten  Himmel 
hinzu.     In  dem  Thore  desselben  steht  Michael,  eine  Leiter  verbindet 
den  Himmel  mit  dem  Paradiese.    Die  folgenden  Blätter  schildern  die 
Glückseligkeit  der  ersten  Eltern  im  Paradiese  und  sodann  die  Qualen 
Satans,  welcher  angekettet  im  HöUenschlunde  schmachtet.     Um  sich 
zu  rächen   entsendet   er    in  Engelgestalt   einen   Höllenboten  in  das 
Paradies,    um  Adam    und  Eva   zu    verführen.     Triumphirend  kehrt 
dieser  in  die  Hölle  zurück,   während  das  Eltempaar   die  Strafe  des 
Ungehorsams  erleidet  und  von  einem  Engel,  der  mit  dem  Schwerte 
in  der  Hand  das  Thor  bewacht,  aus  dem  Paradiese  vertrieben  wird. 
Adam   trägt  eine  Schaufel  und  einen   Feuerkessel  und  wendet  den 


^^]  DiB  Genesisbilder.  687 

Blick  noch  einmal  zurück,  während  Eva,  in  einen  langen  Rock  ge- 
kleidet, ein  Schleiertuch  um  den  Kopf,  ruhig  neben  ihm  schreitet. 

Parallelen  zu  den  eigentlichen  Bibelhandschriften  zu  ziehen,  ver- 
hindert die  Verschiedenheit  des  Inhaltes.  Erst  das  Blatt,  welches 
von  Kain  und  Abel  handelt,  gestattet  eine  Yergleichung.  Die  Aus- 
wahl der  Scenen,  ihre  ungeordnete  Vertheilung  auf  der  Fläche  er- 
innert lebhaft  an  den  Ashbumham-Pentateuch.  Oben  links  hilft 
Kain  seinem  Vater  die  Erde  hacken,  rechts  bringen  Kain  und  Abel 
Gott  Opfer;  tiefer  unten  weidet  Abel  Schafe.  Mit  einem  Knüppel 
holt  Kain  zum  Schlage  aus  auf  den  vor  ihm  liegenden  Abel.  Ganz 
unten  endlich  erblicken  wir  bis  zur  Brust  in  die  Erde  eingegraben  Kain, 
welcher  von  Gottvater  angerufen  wird.  Während  in  allen  früheren  und 
auch  in  den  weiter  folgenden  Blättern  die  verschiedenen  Scenen  stets 
wohlgeordnet,  durch  Säulen,  Bogen  getrennt,  übereinander  entworfen 
werden,  verzichtet  hier  der  Zeichner  auffallender  Weise  auf  diesen 
Vortheil.  Erwägt  man,  dass  die  Komposition  gerade  dieser  Vorgänge 
reichere  Kunstmittel  verlangt,  so  ist  der  Schluss  erlaubt,  dass  der 
Zeichner  auf  eine  Vorlage  den  Blick  warf,  welche  dem  Ashburnham- 
Pentateuch  verwandt  war,^) 

Noch  bleibt  die  Prüfung  der  Darstellungen  in  der  späteren  by- 
zantinischen Kunst  übrig.  Das  Malerbuch  vom  Berge  Athos  zählt 
zahlreiche  Scenen  aus  dem  Leben  Adam's  und  Eva's  auf;  einzelne 
decken  sich  mit  den  bisher  betrachteten  Schilderungen,  andere  offen- 
baren eine  verschiedene  Auffassung.  Bei  den  ersteren  darf  man 
annehmen,  dass  sie  auf  einer  gemeinsamen,  in  die  altchristliche  Zeit 
zurückgehenden  Tradition  fussen.  Die  wesentlichsten  Unterschiede 
sind  folgende:  Im  Malerbuch  berührt  die  Schlange  mit  dem  Kopfe 
Eva's  Ohr;  bei  der  Vertreibung  hält  ein  feuriger  Engel  mit  sechs 
Flügeln  feurige  Schwerter  in  den  Händen;  die  Thüre  des  Paradieses 
wird  von  einem  feurigen  Schwert  (wohl  missverständlich  für  das 
feurige  Rad)  bewacht;  Eva  spinnt,  während  Adam  mit  der  Hacke 
die  Erde  gräbt;  bei  der  Geburt  Kains  und  Abels  ist  Adam  hilfreich 
thätig,  wiegt  Kain,  badet  Abel;  Kain  tödtet  seinen  Bruder  mit  einem 


^)  Verschieden  im  Inhalt  (Gottvater  selbst  vertreibt  das  erste  Menschenpaar 
aus  dem  Paradiese;  ein  Engel  hilft  Adam  und  Eva  die  Erde  hacken)  aber  ver- 
wandt in  der  Form  erscheinen  die  Illustrationen  in  Aelfric's  angelsächsischem 
Heptateuch  In  der  Cottoniaoa  (Claudius  B.  4)  aus  dem  XI.  Jahrh. 


688  Anton  Springek,  [^^ 

Messer.  Am  meisten  weicht  die  Darstellung  des  Opfers  von  der 
bisher  üblichen  Weise  ab.  Die  abendländischen  Codices  nähern  sich 
der  Schilderung  auf  den  altchristlichen  Sarkophagen,  lassen  Kain  und 
Abel  ihre  Gaben  in  den  Händen  tragen.  Nur  ist  an  die  Stelle  Gott- 
vaters die  Hand  Gottes  getreten.  Das  Malerbuch  schreibt  dagegen 
zwei  Altäre  vor,  auf  welchem  die  Opfergaben  brennen.  Kain  schlägt 
die  Flamme  in  Bogen  in  das  Gesicht,  Abel  hebt  die  Hände  gegen 
den  Himmel  empor. 

Die  Mosaiken   in    der   Capeila    Palatina    und    in     Monreale 
binden  sich  keineswegs  an  diesen  angeblichen  Kanon   byzantinischer 
Kunst.    Sie  weichen  in  wesentlichen  Punkten  von  ihm    ab   und  be- 
weisen, dass  der  Eiofluss  byzantinischer  Technik  nicht  noihwendig  die 
Abhängigkeit  der  Komposition  bedingte.    In  der  Capeila  Palatina  wie 
in  Monreale  wird  die  Erschaffung  Adam's  so  dargestellt,    dass  vom 
Munde   Gottvaters,   einer   stattlichen,    vollbärtigen   Figur    in    iangein 
braunrothen    (ursprunglich   wohl   purpurnem)  Mantel,   ein  Strahl  auf 
den  auf  einem  Felsblocke  (in  Monreale  auf  der  Erde)  sitzenden  Adam 
ausgeht.     Beiden  Gemälden  liegt  dasselbe  Motiv  zu  Grunde,  nur  wird 
es  in  Monreale  reicher,  um  einen  Grad  lebendiger  ausgeführt.    Adam 
stützt  sich  mit  einer  Hand  auf  den  Boden,  hält  die  andere  Gott  ent- 
gegen, während  er  in  der  Capella  Palatina  beide  Arme  gleichmässig 
ausstreckt.     Es  folgt  dann  die  Schilderung,  welche  bereits  Ekkehard 
in  seinem  Versus  ad  picturas  gegeben  hat: 

Sabbaia  stant  sancta,  requiescunt  et  sibi  cuncta 
Tanquam  lassatus  factor  sedet  ipse  quietus. 

Gottvater  sitzt   auf  einem  Thronstuhl  (in  Monreale   auf  einer  Kugel) 
zwischen  Bäumen  und  ruht  von  der  Arbeit  aus. 

Auch  in  den  nächsten  Scenen  beobachtet  man  in  der  Capella 
Palatina  ein  gedrängteres  Zusammenfassen  der  Vorgänge,  in  Mon- 
reale eine  breitere  Ausmalung  der  Scenen.  Gottvater  und  Adm 
stehen  in  der  Capella  Palatina  zu  beiden  Seiten  eines  schematisch 
gezeichneten  Baumes.  Der  erstere  spricht  Adam  an  und  führt  ihn 
in  das  Paradies  ein.  Adam's  Beine  sind  hier,  wie  auch  sonst,  eines 
dem  anderen  vorgesetzt  um  die  Schamtheile  zu  verdecken,  sie  stehen 
im  Profil,  während  der  Oberkörper  die  volle  Breite  zeigt.  Daneben 
in  der  Ecke,  wo  das  Mittelschiff  an  die  Westwand  anstösst,  li^ 
Adam  schlafend,  den  Kopf  auf  den  Arm  gestutzt  auf  der  Erde;  Eva 


27]  DoB  Gbnbsisbilder.  689 

steigt  aus  seinem  Leibe  empor;  Gottvater  steht  unbeweglich  vor 
ihnen.  Ausführlicher  ist  die  Schilderung  in  Monreale:  Gottvater  hält 
den  vollbärtigen ,  braunhaarigen  Adam  bei  der  Hand  und  leitet  ihn 
in  das  Paradies,  welches  durch  drei  Bäume  angedeutet  wird.  Adam 
steht  zwischen  zwei  Bäumen,  (die  Beine  in  Profil,  Oberkörper  en 
face)  und  blickt  empor.  Die  Beischrift  lautet:  Adam  requievit  in 
Paradiso.  Gottvater  sitzt  unter  einem  Baume  auf  einer  Kugel,  ihm 
gegenüber  schläft  Adam,  den  Kopf  auf  die  Rechte  gestützt,  die  an* 
dere  Hand  lässig  auf  den  Boden  gestellt.  Seinem  Leibe  entsteigt 
die  blondhaarige  Eva.  Gottvater  hält  Eva  an  der  Hand  und  führt 
sie  Adam  zu,  welcher  auf  einem  Felsblock  sitzt  und  mit  dem  Finger 
auf  seine  künftige  Gefährtin  weist.  Trotz  des  geringen  Naturstudiums 
macht  sich  doch  in  der  Bildung  Evas  das  Streben  nach  Wiedergabe 
gewinnender  Anmuth  bemerkbar. 

Der  Sündenfall  und  die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese  offen- 
baren in  beiden  Bilderkreisen  geringe  Unterschiede,  nur  dass  in 
Monreale  dem  Sündenfalle  noch  die  Verführung  vorangeht.  Neben 
dem  Baume,  um  dessen  Stamm  sich  die  Schlange  windet,  steht  Eva, 
den  Arm  nach  der  verbotenen  Frucht  ausstreckend,  durch  einen  Baum 
von  ihr  getrennt,  weiter  Adam  in  voller  Breitensicht.  Die  Scene, 
in  welcher  Gottvater  die  Gefallenen  anspricht,  unterscheidet  sich  da- 
durch, dass  in  der  Gapella  Palatina  vor  Gottvater,  welcher  den 
Typus  Christi  trägt,  Adam  und  Eva  stehen,  die  Scham  mit  einem 
grossen  Blatte  bedeckend,  in  Monreale  die  letzteren  bis  zur  Hüfte 
vom  Blattwerke  bedeckt  sind.  Die  Vertreibung  ist  da  und  dort,  von 
der  reicheren  Verzierung  der  Paradiesespforte  in  Monreale  abgesehen, 
identisch  dargestellt.  In  der  Pforte  steht  ein  vierflügeliger  Cherubim, 
vor  derselben  ein  Engel  in  weissem  Gewand.  Mit  der  Schilderung, 
wie  Adam  in  ein  ärmelloses  kurzes  Fell  gehüllt  die  Erde  hackt,  Eva 
in  gleicher  Kleidung  auf  einem  Felsblocke  sitzt,  schmerzerfüllt,  den 
Kopf  mit  der  Linken  stützend,  schliesst  die  Erzählung  von  Adam  und 
Eva.  Die  Bilder  des  Brudermordes  bieten  weitere  Zeugnisse  dafür, 
dass  die  Mosaicisten  in  der  Palatina  und  in  Monreale  nach  demselben 
Programme  ihre  Werke  entwarfen,  die  Grundzüge  der  Komposition 
nicht  änderten,  nur  in  Einzelheiten  von  einander  abwichen,  die  Figu- 
ren z.  B.   im  Gegensinne  zeichneten.     Die  grössere  Ausführlichkeit 


690  Anton  Spbinger,  [^ 

und  ein  regeres  Naturgefühl  bleiben  immer  auf  der  Seite   der   Ge- 
mälde in  Monreale. 

Die  Darstellung  des  Opfers  —  Abel  und  Kain,  zu  beiden  Seiten 
eines  Altars  stehend,  reichen  ihre  Gaben  (Abel  in  Monreaie  mit  Ter- 
deckten  Händen)    Gott  dar,    welcher  einen   Strahl   auf  Abels   Opfer 
fallen  lässt,  —  geht  wahrscheinlich  auf  byzantinische  Einflösse  zurück, 
auch  einzelne  Theile  der  Gewandung,  z.  B.  der  an  der  Schulter  be- 
festigte kurze  Mantel  deuten   eine  ältere  Kunsttradition  an.      In   der 
Capeila  Palatina  wird  der  Mord,   durch   ein  Beil   vollführt,    mit-  der 
Anrufung  Kains  in  einem  Bilde  vereinigt,  in  Monreale,  wo  Kain  einen 
knorrigen  Knüppel  gebraucht,  der  blutende  Abel  den  einen  Arm  noch 
zur  Abwehr  erhebt,   erscheinen  die  beiden  Scenen  getrennt.     Noch 
mit  dem  Knüppel  im  Arm   steht  Kain  vor  Gott,  dessen  Frage   nach 
dem    Bruder   mit    einer   verneinenden   Geberde  der  Rechten    beant- 
wortend.    Im  Hintergrunde   bemerkt  man  eine  kleine  nackte    Figur 
(Eva?),  welche  klagend  die  Hände  empor  hebt. 

Am  Altarvorsatze  in  Salerno  wird  die  Geschichte  Adam's  und 
Eva's  in  vier  Reliefs,  in  abgekürzter  Weise  erzählt.  Die  Erschaflfung 
Eva's  ist  den  Palermitaner  Mosaiken  nachgebildet,  bei  dem  Sünden- 
falle tritt  bereits  Gottvater  strafend  an  Adam  heran,  während  Eva 
nach  dem  Apfel  am  Baume  der  Erkenntniss  greift.  Mit  beiden 
Händen  stösst  ein  Engel  Adam  und  Eva,  welche  wieder  an  die  Dar- 
stellung in  Monreale  erinnern,  aus  dem  Paradiese.  Adam  und  Kain 
bearbeiten  gemeinsam  mit  dem  Spaten  die  Erde. 

Die  Ereignisse,  von  welchen  die  Genesis  nach  Abels  Mord  bis 
zur  Sündfluth  berichtet,  boten  nur  ausnahmsweise  dem  Illustrator 
Anlass,  seine  Kunst  zu  zeigen.  Am  ausführlichsten  erzählt  dieselbe 
der  Pseudo-Caedmon.  Er  führt  uns  die  Nachkommenschaft  Adams, 
die  Beschäftigungen  TubaFs  und  Tubalkain's,  das  Begräbniss  Macha- 
laeFs  und  Enoch's  Scheiden  von  der  Erde  vor  die  Augen.  Auch  der 
Thurmbau  von  Babel  wird  nicht  vergessen.  Werkleute  sammeln  sich 
innerhalb  einer  Ringmauer,  mit  Aexten  bewaffnet,  um  den  Bau  zu 
beginnen.  Gottvater  auf  der  Spitze  des  Thurmes  zerstreut  die 
Völker,  welche  nach  verschiedenen  Richtungen  ausziehen.  Die  letz- 
tere Scene  kommt  auch  im  Cod.  Gotton.  vor,  während  die  spätere 
mittelalterliche  Kunst  z.  B.  in  den  Mosaiken  in  Monreale,  auf  dem 
Altarvorsatze  in  Salerno  den  eigentlichen  Thurmbau  in  anschaulicher 


SO]  Die  Gbnbsisbildsr.  691 

Weise  beschreibt.  Werkleute  stehen  auf  den  Leitern  des  Bauge- 
rüstes, andere  mischen  Kalk,  behauen  Steine  u.  s.  w.  Im  Allgemeinen 
wenden  sich  die  Bilderkreise  aus  der  Genesis  gern  von  der  SUnd- 
fluth  unmittelbar  zur  Geschichte  Abrahams. 


3.  Noali. 

Nur  wenige  Bilder  aus  dem  alten  Testamente  haben  in  der  alt- 
christlichen Kunst  eine  so  weite  Verbreitung  gefunden,  wie  Noah's 
Kettung  aus  der  SUndfluth.  Höchstens  Moses,  welcher  das  Wasser 
aus  dem  Felsen  schlägt,  macht  Noah  den  Vorrang  in  der  Katakomben- 
malerei und  der  Sarkophagsculptur  streitig.  Noah  dankt  diese  Be- 
liebtheit der  Beziehung  auf  die  Auferstehung  des  Leibes,  welche  der 
gläubige  Sinn  in  seiner  Rettung  aus  der  Sundfluth  entdeckte. 
»Libera  animam  servi  tui,  sicut  liberasti  Noe  de  diluvio«  heisst  es 
in  den  uralten  Sterbegebeten  der  katholischen  Kirche.  Noah  gehörte 
zu  den  sepulcralen  Typen,  welche  in  den  Katakombenbildern  und 
Sarkophagreliefs  begreiflicher  Weise  die  reichste  Verwendung  fanden. 
Die  Darstellung  des  Vorganges  ist  ganz  einfach  und  immer  die  gleiche. 
Noah  steht  in  einem  viereckigen  Kasten  und  blickt  auf  die  Taube 
aus,  welche  den  Oelzweig  im  Schnabel  herbeifliegt.  An  dem  be- 
kannten Sarkophage  in  Trier  aus  dem  fünften  Jahrhunderte  (Garr.  t. 
308)  erblickt  man  die  Erweiterung  des  ursprünglichen  Motives.  Der 
Kasten  ist  so  gross  geworden,  dass  Noah's  ganze  Familie,  sieben 
Personen  stark,  in  ihm  Platz  findet.  Auf  dem  Rande  desselben  stehen 
viele  kleine  Thiere,  Vögel,  ein  Pferd,  ein  Schaf,  ein  Löwe;  ausser- 
halb des  Kastens  ist  noch  ausser  der  herbeifliegenden  Taube  auf 
dem  Boden  ein  Vogel  angebracht.  Ein  einziges  Mal,  in  der  Kata- 
kombe des  h.  MarceUinus  und  Petrus,  steht  der  Kasten  in  einem 
Schiffe,  dagegen  nimmt  er  in  der  Katakombe  S.  Trasone  e  Saturnino 
die  Gestalt  einer  runden,  mit  Masken  geschmückten  Brunneneinfas- 
sung an. 

Vom  sepulcralen  Bilde  wenden  wir  uns  zu  der  chronikartigen 
Schilderung.  In  der  Wiener  Genesis  wird  die  Geschichte  Noah's 
in  vier  Bildern  vorgeführt.  Das  erste  stellt  die  Sundfluth  dar.  Aus 
einer  dunklen  Wolke  strömt  Regen,  den  ganzen  Hintergrund  füllend, 
durch  dicke  graue  Striche  angedeutet,  herab.    Die  Mitte  des  Raumes 


692  Ahton  SpiiNGsm,  [^ 

nimmt  die  Arche  in  Form  einer  abgestuften  Pyramide  ein.  Sie  ist 
ringsum  von  Wasser  umgeben,  in  welchem  Menschen  und  Thiere. 
die  ersteren  stark  verkürzt,  mit  den  Wellen  kämpfen.  Die  Versinn- 
lichung  der  psychischen  Affekte  ist  dem  Künstler  besser  gelungen 
als  die  Wiedergabe  der  äusseren  physischen  Bewegungen.  Die  Fi- 
guren schwimmen  nicht,  sondern  schweben  auf  dem  Wasser,  oder 
erscheinen  theils  ganz,  theils  zur  Hälfte  aus  demselben  gehoben. 
Dagegen  ist  die  Verzweiflung,  die  Hilflosigkeit  deutlich  ausgedrückt, 
besonders  in  dem  Paare,  welches  sich  eng  umschlungen  hält  und 
in  dem  Jüngling,  welcher  die  Hände  gegen  den  Himmel  erhebt. 

Der  Auszug  aus  der  Arche  und  Noah*s  Opfer  werden  auf  ein^n 
Bilde  vereinigt,  die  Spaltung  in  zwei  Scenen  aber  dadurch  wiiicsam 
gemildert,  dass  ein  Felsen  aus  der  unteren  Abtheilung  in  die  obere 
hineinragt.  Auch  hier  zeigt  die  Arche  die  Form  der  abgestuften 
Pyramide,  nur  reicher  gegliedert  als  auf  dem  vorhergehenden  Blatte.^ 
Der  oberen  Oeffnung  der  Arche  entfliegen  Vögel,  die  weiterhin  lustig 
durch  die  Lüfte  flattern.  Aus  der  rechteckigen  Thüre  sind  die  Vier- 
füssler  und  Noah's  Familie  herausgetreten.  Obschon  jene  dem  Texte 
gemäss  paarweise  einherschreiten,  sind  sie  doch,  die  grossen  Thiere 
hinten,  die  kleinen  vom  so  geordnet,  dass  sie  eine  geschlossene 
Gruppe  bilden.  In  der  unteren  Abtheilung  steht  rechts  ein  Brand- 
altar, vom  antiken  Typus  ganz  entfernt,  der  Arche  ähnlich,  nur  mit 
vielen  Oeffnungen  versehen.  Neben  demselben  verrichtet  Noah  das 
Opfer.  Er  hat  ein  Schaf  auf  einen  Stein  gelegt,  beugt  sich  über 
dasselbe  und  stösst  ihm  ein  Messer  in  den  Nacken.  Das  Blut  wird 
in  einem  Kelche  aufgefangen.  Mehrere  Opferthiere,  ein  Rind,  ein 
Schaf,  ein  Truthahn,  Tauben  liegen  todt  auf  dem  Boden. 

Den  Bund  Gottes  mit  Noah  stellt  das  nächste  Blatt  dar.  Ein 
mächtiger  Regenbogen  spannt  sich  im  Halbkreise,  in  dessen  Mitte 
Noah  und  seine  drei  Söhne  in  langen  Mänteln  stehen,  nach  oben 
blickend,  wo  die  Hand  Gottes  aus  einer  Wolke  hervorkommt. 

Drei  Handlungen  umfasst  das  folgende  Bild.  Die  rechte  Hälfte 
desselben  nimmt  ein  durch  Wände  abgegrenzter  Raum   ein.      In  der 


^j  Eine  ähnliche  Form  zeigt  di^  Arche  in  dem  Vaticaniscben  Codex  des  Kos- 
mas Indicopleustes.  Dagegen  erscheint  sie  in  dem  Fragment  des  Cod.  CottoniaDos 
wie  Gitterwerk  behandelt. 


^-^^^^^-_ 


34]  Die  Gbnesisbildbr.  693 

offenen  Thüre  steht  Cham,  wie  seine  Brüder  nur  in  eine  kurze  ärmel* 
lose  Tunika  gekleidet  und  weist  auf  Noah  hin,  welcher  halbnackt 
auf  einer  Lagerstatte  ruht.  Sem  und  Japhet  haben  das  Gesicht  von 
ihm  abgekehrt  und  halten  hoch  Über  ihre  Schultern  ein  Tuch,  um 
den  Vater  zu  bedecken.  Links  unter  einem  Baume  sitzt  Noah  auf 
einem  Holzschemel  und  segnet  die  zwei  Söhne,  welche  mit  einer 
Frau  und  einem  Kinde  ihm  gegenüberstehen.  Der  Baum,  nach  den 
Trauben,  welche  er  trägt,  zu  schliessen,  ein  Weinstock,  neigt  die 
Zweige  so  stark  nach  rechts,  dass  ihre  Spitzen  die  Wand  des  Ge- 
maches, in  welchem  Noah  ruht,  berühren.  Offenbar  lag  es  in  der 
Absicht  des  Zeichners,  die  Komposition  dadurch  abzurunden,  dem 
Bilde  eine  geschlossene  Einheit  zu  verleihen. 

Im  Codex  Cottonianus  ist  die  Verspottung  Chams  nur  fragmen- 
tarisch erhalten.  Der  Rest  einer  Miniatur  enthalt  die  zwei  .Söhne, 
welchen  Cham  den  trunkenen  Vater  gewiesen  hat,  darunter  Japhet, 
mit  abgekehrtem  Gesichte  Noah  bedeckend.  Die  Figur  des  letzteren 
fehlt.  Aus  der  Art  und  Weise,  wie  in  dem  Codex  sonst  Schlafende 
dargestellt  werden,  in  schräger  Lage,  den  Kopf  auf  einen  Arm  ge- 
stützt, während  der  andere  Arm  lässig  den  Leib  entlang  herabfällt, 
darf  man  muthmassen,  dass  auch  Noah  ähnlich  gezeichnet  wurde. 
Dann  entspräche  seine  L^ge  vollkommen  derjenigen  in  der  Wiener 
Genesis,  wie  denn  auch  die  anderen  Figuren  verwandt  erscheinen, 
die  gleiche  Kunstrichtung  verrathen. 

Das  Bild  der  Sund fluth  im  Ashburnham-Pentateuch  zeichnet 
sich  durch  den  auffallend  grossen  Maassstab  aus.  Ausnahmsweise 
füllt  diese  Scene  das  ganze  Blatt.  Oben  hebt  sich  vom  grünen 
Hintergrunde  die  Arche  ab,  ein  mächtiger,  runder,  gestreifter  Holz- 
kasten, auf  gedrechselten  Füssen  ruhend,  mit  Nägeln  beschlagen,  in 
einen  umgebogenen  Rand  auslaufend.  Die  viereckige  Thüre  und  die 
drei  Fenster  sind  mit  Laden  geschlossen  und  diese  durch  getriebene 
Eisenbänder  geschützt.  Unter  der  Arche  schwimmen  ausser  einem 
Pferde,  einem  Esel  und  anderem  Gethier  zwei  Menschen  und  zwei 
Riesen.  Die  letzteren  liegen  mit  ausgestreckten  Armen  horizontal 
im  Wasser. 

Im  Gegensatze  zu  dem  Bilde  der  Sündfluth,  wo  eine  Scene  den 
ganzen  Raum  füllt,  vereinigt  das  folgende  Blatt  eine  ganze  Reihe  von 
Handlungen,   welche   alle   in   der  Arche   ihren  gemeinsamen  Mittel- 


694  Anton  Springer,  [32 

punkt  haben.      Der  Deckel  der  Arche   ist    ia    die    Höhe    gezogen, 
Fenster  und  ThUre  stehen  offen.     Aus  dem  einen  Fenster  lässt  Noah 
den    (naturwahr  gezeichneten)    Raben   fliegen,   welcher    nicht  mehr 
zurückkehrt,   an  dem   zweiten  Fenster  fängt  er  den  rückkehrendeD 
Raben  (in  der  Bibel  ist  es  die  Taube)  wieder  ein,  am  dritten,  dem 
mittleren  streckt  er  der  Taube,   welche   den  Oelzweig    im   Schnabel 
trägt,   die   Arme  entgegen.     Unter   dem   aufgezogenea    Deckel   der 
Arche  hat  sich   Noah's  Familie  wie   auf  einer   Galerie    versammelt. 
Rechts  empfängt  Noah   von  Gott,   durch  die  Hand   angedeutet,   den 
Befehl  zum  Verlassen  der  Arche.     Weiter  links,   sehen    wir  ihn  mit 
Weib,  Söhnen  und  Schwiegertöchtern  auf  den  Augenblick,    in   wel- 
chem der  Austritt  möglich  sein  wird,   harren.     Die  Männer  tragen 
weisse  Gewänder,  die  Frauen  sind  durch  hohen  Kopfputz  ausgezeich- 
net.    Sie  schreiten  dann  aus  der  geöffneten  Thüre  heraus,  nachdem 
schon  die  anderen  Geschöpfe  die  Arche  verlassen  haben    und  paar- 
weise (Löwen,   Schlangen,   Scorpione)   in   das  Weite  ziehen.     Links 
unten   bringt  Noah  mit  seiner  Familie   das   Dankopfer.      Auf  einem 
weissen  Stufenaltar  stehen  drei   goldene  Kelche,  über  welche  Noab 
die  Hand  hält.     Ein  Regenbogen   in   der   rechten  Ecke   oben,   grüa 
mit  rothem  Rande,  verkündet  den  Abschluss  des  Bundes. 

Gemeinsam  ist  den  bisher  betrachteten  Darstellungen  der  Sünd- 
fluth   die   Kastenform   der  Arche.      Jede   bestimmte   Andeutung  des 
Materiales  fehlt  in  den  griechischen  Handschriften,  deutlich  als  Holz- 
bau ist  die  Arche  im  Ashburnham-Pentateuch  gedacht.     Die  Schiffs- 
form  empfängt  sie  zuerst   im   Pseudo-Gaedmon,   wo   Noah's  Ge- 
schichte eine  überaus  reiche  Illustration  erfährt.     Wir  sind  zunächst 
Zeuge,  wie  Gottvater  Noah  den  Befehl  zum  Baue  der  Arche  ertheilt 
und   Noah   mit   der   Axt   ein   Schiff  mit   hohen   Schnäbeln  zimmert. 
(Noah  trägt  eine  engärmelige  kurze  Tunika  und  Strumpfhosen,  Gott- 
vater in  langem  flatterndem  Mantel  ist  mit  einer  Krone  geschmückt). 
Die   vollendete   Arche    zeigt   sich   dem   Auge   als    ein   hochbordiges 
Schiff,    dessen    Schnabel  in   einen  Drachenkopf  ausläuft.      Auf  dem 
Schiffe  erhebt  sich   ein  mächtiger   thurmartiger  Bau  mit   Seitenthür- 
men,   welche   mittelst  Ketten   mit  dem  Mittelbau  verbunden  uad  an 
der  Spitze  mit  einem  Hahn  geschmückt  sind.     Grosse  Ruderschaufeln 
setzen  die  Arche  in  Bewegung.     Der  Künstler,  über  sein  Werk  sicht- 
lich   erfreut,    zeichnet    die    schwimmende    Arche    noch    zweimal.        i 


^ 


33]  Die  Genesisbilder.  695 

So  heimisch  im  Schiffbau  er  sich  zeigt,  so  fremd  steht  er  dem  Wein- 
bau gegenüber.  Noah  pflanzt  nicht  Reben,  sondern  pflügt  mit  einem 
Ochsengespann  das  Land.  Auch  sonst  weichen  die  Schilderungen 
von  dem  biblischen  Texte  vielfach  ab.  Gottvater  schliesst  und  öffnet 
die  Arche.  In  jugendlicher  Gestalt  nimmt  er  das  Opferthier,  wel- 
ches Noah  mit  verhüllten  Händen  darbietet,  entgegen.  Der  Opfer- 
altar ist  fortgefallen.  Auch  für  die  Verhöhnung  Noah's  durch  Cham 
mangeln  ihm  die  klaren  Züge.  Er  stellt  Noah  halbnackt  auf  dem 
Bette  liegend  dar,  vor  ihm  steht  Cham  mit  ausgebreiteten  Händen. 
Unter  dem  auf  reich  ornamentirten  Pfosten  ruhenden  Bette  unter- 
reden sich  die  Brüder,  ohne  dass  der  Ausdruck  der  Köpfe  und  das 
Geberdenspiel  ihren  verschiedenen  Charakter  andeutete.  Dagegen  gibt 
er  den  Schmerz  Japhet's  und  Sem's  bei  dem  Tode  des  Vaters  gut 
wieder.  Beide  knieen  vor  dem  sterbenden  Noah,  welcher  den  Kopf 
auf  die  Hand  stutzt,  ihn  zur  Seite  neigt,  und  verhüllen  das  Antlitz 
mit  grossen  Tüchern. 

In  der  byzantinischen  Kunst  tritt  uns  die  Sündfluth  zuerst  in 
den  Homilien  des  Gregor  von  Nazianz  (Paris  N.  510)  entgegen.  Die 
dreizehnte  Rede  vom  Frieden  wird  durch  die  Arche,  aus  welcher 
Noah  die  Taube  fliegen  lässt,  versinnlicht.  Unten  schwimmen  im 
Wasser  mehrere  Leichname.  Es  erscheint  demnach  hier  die  Sünd- 
fluth und  die  Rettung  aus  derselben  vereinigt;  nur  die  Elemente  der 
Komposition  sind  der  altchristlichen  Weise  entlehnt,  ihre  Zusammen- 
setzung (auch  die  Tracht  der  Ertrunkenen)  dagegen  muss  dem  Maler 
des  neunten  Jahrhunderts  gut  geschrieben  werden. 

Erst  das  Malerbuch  vom  Borge  Athos  gibt  der  Arche  die  Form 
des  Schiffes  und  leiht  der  ganzen  Schilderung  reichere  Farben;  so 
gleich  in  der  Darstellung  des  Baues  der  Arche.  Noah's  Söhne  kal- 
fatern das  Schiff;  die  Frauen  sind  bereits  in  die  Arche  eingezogen, 
während  aussen  Leute  trinken  und  musiziren.  Der  Ausflug  der  Taube 
ist  ähnlich  wie  in  Gregor  von  Nazianz  komponirt.  Die  Scene  der 
Verspottung  durch  Charn  zeigt  nach  der  Beschreibung  grosse  Ver- 
wandtschaft mit  dem  Bilde  in  der  Wiener  Genesis,  nur  wird  sie  da- 
hin erweitert,  dass  nebenan  Noah  aus  einem  Becher  Wein  trinkt. 
Mit  den  Miniaturen  im  Ashburnham-Pentateuch  deckt  sich  das  by- 
zantinische Programm  in  keiner  Weise.     Dagegen  stehen  mit  dem  letz- 

Abhandl.  d.  K.  S.  UeHoUsch.  d.  WisHensch.  XXI.  45 


>^  J 


696  Anton  Springer,  [34 

teren    die    Mosaikgemälde    in    Monreale^)    vielfach    in    engerer   Be- 
ziehung.    Sieben  Bilder  sind  der  Geschichte  Noah's  gewidmet. 

1)  Noah,  in  langem  blauen  Uebergewande  und  ^veissgrünlicheß] 
Mantel,  streckt  die  Hände  nach  oben  empor,  wo  ihm  die  Haod 
Gottes  aus  Wolken  erscheint. 

SS)  Noah,  eine  stattliche  Figur,  an  die  antiken  Philosophen  in 
der  Haltung  erinnernd,  befiehlt  den  Bau  der  Arche.  Zwei  Männer 
(viel  kleiner  von  Gestalt)  richten  mit  Beil  und  Hamnoier  Balken  zu. 
andere  sind  mit  Sägen  beschädigt.  Auf  einem  Bocke  i*uht  die  Arche 
in  Form  eines  Schiffes  mit  krummen  Schnäbeln,  aus  welchem  sieb 
ein  zweistöckiges  dachloses  Haus  erhebt. 

3)  Die  Mitte  des  Bildes  nimmt  die  Arche  ein,  ein  Giebeliiaus 
im  Schifie,  mit  zwei  Treppen,  auf  welchen  die  Thiere  in  die  Arche 
steigen.  Aus  den  drei  Fenstern  der  letzteren  blicken  Männer 
heraus. 

4)  Noah  lässt  aus  der  Arche  die  Taube  fliegen. 

5)  Die  Arche  strandet  zwischen  zwei  Hügeln.  Die  Thiere 
ziehen  aus  derselben  heraus,  einzelne  weiden  bereits  wieder  auf  dem 
festen  Lande. 

6)  Noah  in  weissem  Gewände  an  der  Spitze  seiner  Familie 
steht  vor  dem  Altar,  einem  viereckigen  Steinblocke,  auf  welcheui 
ein  Schaf  liegt.  Die  Hand  Gottes  aus  einem  blauen,  weissgeränder- 
ten  Halbkreise  herauskommend  schwebt  über  dem  Altar,  von  wel- 
chem  sich  ein  Regenbogen  bis  zu  Noah's  Kopfe  zieht. 

7)  Noah  in  weissem  Gewände  sitzt  links  und  presst  aus  einer 
blauen  Traube  den  Saft  in  eine  goldene  Schale.  Rechts  liegt  erenl- 
blösst  im  Schlafe,  eine  Flasche  zur  Seile.  Ein  Sohn  steht  an  der 
Kopfseite,  Japhet  und  Sem  halten  einen  Mantel  empor,  um  ihn  iw 
bedecken. 

Eine  unmittelbare  Ableitung  dieser  Mosaiken  von  den  Vorschriften 
des  Malerbuches  muss  dennoch  zurückgewiesen  werden.  Keine  einzige 
Scene  wiederholt  sich  so  genau,  dass  an  ein  förmliches  Muster,  welches 
dem  Künstler  in  Monreale  vorlag,  gedacht  werden  könnte.  Dagegen 
gestattet  die  Verwandtschaft  einzelner  Bilder  (Bau  der  Arche,  Noabs 
Opfer)  die  Annahme  einer  gemeinsamen  Tradition. 

M   Die  gleichnamigen  Mosaiken  in  der  Capeila  Palatina    sind    modernisirl  udo 
können  daher  nicht  zur  Vergleichung  herangezogen  werden. 


35]  Die  Gbnesisbilder.  697 

Wie  in  früheren  Fällen,  so  bieten  auch  dieses  mal  die  Elfenbein- 
reliefs in  Salerno  eine  abgekürzte  Redaction  der  Scenen,  welche  sich 
im  wesentlichen  an  die  Mosaiken  in  Palermo  anlehnt.  Dieses  tritft 
insbesondere  bei  dem  Bau  der  Arche  zu.  Die  Darstellung  Noah's, 
welcher  die  mit  dem  Oelzweige  rückkehrende  Taube  begrüsst,  er- 
innert an  die  altchristliche  Weise. 


4.  Abraham. 

Die  Wandlung  in  den  künstlerischen  Anschauungen,  welche  im 
Laufe  des  vorigen  Jahrtausendes  allmählich  vor  sich  ging,  kann  mit 
besonderer  Deutlichkeit  an  den  Bildern  aus  dem  Leben  Abraham'» 
verfolgt  werden.  Die  altchristliche  Kunst  verwerthete  für  ihre  Zwecke 
nur  Isaak's  Opfer.  Wir  stossen  auf  dasselbe  sowohl  in  den  Kata- 
komben wie  an  den  Sarkophagen.  Die  Darstellungen  zeigen 
immerhin  so  viele  Abweichungen,  dass  man  in  den  meisten  Fällen 
auf  eine  selbständige  Komposition  auf  Grund  des  biblischen  Textos 
schliessen  darf.  Bald  steht  Isaak  mit  ausgebreiteten  Händen  neben 
Abraham  (Garr.  t.  24),  bald  kniet  er  mit  rückwärts  gebundenen 
Händen  nackt  auf  Holzscheiten  (Garr.  t.  4SI),  bald  führt  Abraham 
Isaak,  der  auf  den  Schultern  Holz  trägt,  an  der  Hand  zu  dem  Opfer- 
altare (Garr.  t.  67,  2).  Aehnlich  in  den  Sarkophagreliefs,  wo  gleich- 
falls, Isaak's  Stellung,  Abraham's  Tracht,  die  Form  des  Altars  wechseln. 
(Garr.  tav.  310,  4;  318,  1;  324,  4;  327,  4;  328,  3;  334,  3;  358,3; 
364,  2;  366,  2  und  3;  367,  2;  369,  4;  376,  8;  378,  4).  Zuweilen 
steht  neben  Abraham  noch  ein  jugendlicher  Mann  (Garr.  tav.  322,  2; 
379,  2).  Am  nächsten  läge  die  Deutung  auf  den  Knecht  Abraham's. 
Diesem  widerspricht  aber  das  lange  Gewand  und  an  dem  Sarko- 
phage in  Arles,  vielleicht  noch  aus  dem  vierten  Jahrhundert  (Garr. 
tav.  379,  2)  die  Rolle  in  seiner  Hand.  In  beiden  Reliefs  ist  übrigens 
auch  noch  die  Hand  Gottes,  welche  den  Streich  Abraham's  abwehrt, 
sichtbar.  Vollends^  schwerverständlich  erscheint  die  Darstellung  an 
einem  Sarkophage  in  Toulouse  (Garr.  tav.  312,  3).  Eine  stattliche  Frau, 
im  Begrilf,  den  Schleier  vom  Antlitz  zu  entfernen,  steht  Abraham 
zur  Seite,  welcher  sich  drei  Jünglingen  zuwendet.  Ihre  Dreizahl 
und  der  Umstand,  dass  sie  alle  Schriftrollen  in  der  Hand  tragen, 
regen  nur  allgemeine,  unsichere  Vermuthungen  an. 


698  Anton  Springer,  36 

Beschränkte  sich  die  aitch ristliche  Kunst  auf  eine  Scene  aus 
Abraham's  Leben,  so  greifen  die  biblischen  Bilderkreise  mit  Vorliebe 
auf  die  Thaten  des  Erzvaters  zurUck.  Die  Wiener  Genesis  wid- 
met ihm  eine  grössere  Reihe  von  Blattern.  Sie  beginnt  mit  der 
Schilderung  der  Zusammenkunft  Abraham's  mit  dem  Könige  von 
Sodoma.  Beide  Männer  schreiten  in  derselben  Richtung.  Abrabaiij 
folgen  seine  Familie  (die  Frauen  mit  Kopftüchern)  und  seine  Heenien. 
Ein  Theil  der  letzteren  zieht  einen  felsigen  Abhang  herab  und  ver- 
mittelt auf  diese  Weise  für  das  Auge  die  obere  Scene  mit  der 
unteren,  in  welcher  Abraham  mit  verhüllten  Händen  eine  Henkel- 
kanne von  Melchisedek  in  Empfang  nimmt.  Hinter  Melchisedek  er- 
hebt sich  ein  offener  viersäuhger  gewölbter  Bau.  Der  aufgezogenf' 
stemengeschmückte  Vorhang  gestattet  einen  Blick  auf  den  bedeckten, 
viereckigen  Altar.  Die  Säulen  ruhen  auf  quadratischen  Sockeln. 
sind  von  Spiralen  umwunden  und  tragen  korinthische  KapiUile.  M 
Gewölbe  ist  mit  Kassetten  ausgelegt. 

Schärfer  als  in  dem  eben  beschriebenen  Bilde  sondern  sich  die 
Scenen  der  folgenden  Miniatur  ab.  Oben  ruht  Abraham  auf  wei- 
chem Lager,  über  ihm  schwebt  in  einer  Wolke  die  Hand  GoUes. 
Ein  Bettschirm  stellt  die  Wand  vor  und  scheidet  das  Gemach  vom 
Felde,  auf  welchem  Abraham  mit  verhüllten  Händen  steht,  zuni 
Sternenhimmel  emporblickend  (Gen.  15,  5).  Die  Form  des  Beltes 
verdient  besondere  Beachtung.  Vier  zierlich  gedrehte  Füsse  stützen 
das  gepolsterte  Lager.  Vor  dem  Bette  steht  ein  Schemel,  hinter 
ihm  erheben  sich  zwei  SUulen,  um  deren  Knäufe  sich  der  faltig^' 
Vorhang  windet. 

Sodoma's  Untergang  erzahlt  die  neunte  Tafel.  Eine  Rundmauer, 
von  hohen  viereckigen  Thürmen  unterbrochen,  schliesst  einen  mil 
drei  kleinen  Häusern  gefüllten  Raum  ein,  in  welchem  überdiess  z>>ri 
mit  Lot  redende  Engel  sichtbar  werden.  Rechts  von  der  Stadl 
treibt  ein  Engel  die  Familie  Lofs  zur  eiligen  Flucht  an.  In  ^^^ 
unteren  Abtheilung  strömt  Feuerregen  auf  Sodoma  herab.  Noc'i 
hastiger  lenkt  Lot's  Familie  die  Schritte  von  der  Brandstätte  hinweg 
Sie  verdecken  mit  Tüchern  oder  Händen  Mund  und  Nase,  um  nicht 
den  Schwefel  athmen  zu  müssen.  Nur  Lot's  Weib  hat  sich  zurück- 
gewendet und  steht  bereits  halb  versteinert,  in  den  Zügen  unkennt- 
lich geworden  da. 


37]  Die  Genesisbildbr.  699 

Glücklich  erdacht  und  wirksam  in  den  Rahmen  eines  geschlos- 
senen Bildes  gebracht  erscheint  die  Scene  Lot's  und  seiner  Töchter. 
Terrassenförmig  steigt  ein  Fels  in  die  Höhe.  Am  Fusse  desselben 
erhebt  sich  eine  Säule,  die  Stadt  Zoar  andeutend.  Lot  ruht  auf  der 
untersten  Stufe  der  Felsenterrasse  und  hält  zwei  vor  ihm  stehenden 
Töchtern  eine  Schale  entgegen,  damit  sie  aus  der  zierlichen,  lang- 
halsigen  Flasche,  welche  die  eine  Tochter  hält,  mit  Wein  gefüllt 
werde.  Weiter  oben  lagern  Lot  und  eine  Tochter  auf  einem  Polster 
in  engster  Umarmung,  während  zwei  Töchter  vor  der  Gruppe  stehen 
und  mit  den  Fingern  auf  sie  weisen.  Neben  dem  Lager  ist  auf 
einem  Brette  der  weingefüllte  Kelch  sichtbar. 

Die  Wiener  Genesis  tibergeht  Isaak's  Opfer,  schildert  dagegen 
den  nächstfolgenden  Vorgang  (Gen.  22,  15).  Ein  Engel  in  horizon- 
taler Lage  schwebt  innerhalb  eines  Halbkreises,  wie  in  der  Regel 
die  Wolke  wiedergegeben  wird,  und  spricht  zu  Abraham,  welcher, 
ehrfurchtsvoll  sich  beugend,  mit  verhüllten  Händen  unten  steht.  Die 
weiteren  Darstellungen  auf  dem  Blatte  ülustriren  nicht  unmittelbar 
den  Bibellext,  sondern  umschreiben  die  Worte:  xal  xaxcoxYjaev 'Aßpad|x 
BTul  ih  cppsap  ToG  Spxou  in  anschaulicher  Weise.  Abraham  spricht  zu 
zwei  Knechten,  welche  auf  dem  Gipfel  eines  Felsens  sich  niederge- 
lassen haben.  Im  Gegensatz  zur  Herrentracht  Abraham's,  dem  langen 
Mantel,  tragen  sie  kurze  Röcke  und  darüber  ein  Manteltuch  lose  ge- 
worfen, ausserdem  Schnürstrümpfe.  Unten  sitzt  Abraham  vor  einem 
Zelte  am  Ziehbrunnen,  in  Unterredung  mit  zwei  Knechten  begriffen. 
Am  Fusse  des  terrassirten  Felsens  ist  ein  zweites  Zelt  aufgerichtet. 

Die  nächste  Darstellung  lehnt  sich  dagegen  unmittelbar  an  den 
Bibeltext  an.  Der  älteste  Knecht  legt  beide  Hände  unter  die  Hüften 
Abrahams  und  schwört  ihm  Gehorsam.  Links  zieht  der  Knecht  mit 
einer  bepackten  Kamelheerdo  ab,  das  vorderste  Thier  an  einer  Halfter 
führend.  Unten  lagert  er  mit  den  Kamelen  an  einem  Ziehbrunnen, 
in  der  Nähe  der  Stadt  Nahor,  welche  gerade  so  wie  Sodoma  durch 
eine  mit  Thürmen  bewehrte  Ringmauer,  im  inneren  Räume  durch 
einige  Giebelhäuser  belebt,  symbolisirt  wird.  Das  folgende  Blatt 
liefert  einen  neuen  Beweis,  wie  geschickt  der  Künstler  zwei  Scenen 
im  Räume  zu  vertheilen  versteht,  so  dass  sie  ein  einheitliches  Bild 
bieten.  Rebecca  schreitet  aus  der  Stadt  einen  mit  Grenzsteinen  ein- 
gefassten  Weg  entlang,   den  Krug  auf  der  Schulter,  an  einer  Quell- 


700  \mon  Spkihgbb,  ^^ 

ny m|ihe '  vorfiel,  welche  halbnackt  auf  der  Erde  ruhl ,  eine  Urae  zur 
Seite,  fuit  der  Rechten  den  Kopf  stützend  und  gelangt  unten  an 
einem  Wassertroge  an.  Sie  hat  aus  deniselben  geschöpft  und  reicht, 
den  einen  Fuss  auf  den  Rand  des  Brunnens  setzend,  den  Krug  deoi 
Knechte,  welcher  mit  seinen  Kamelen  nach  einem  frischen  Trünke 
lechzt. 

Auch  in  der  Scene,  in  welcher  Rel>ecca  sich  als  BethueFs  Tochter 
7M  erkennen  giebt  und  von  dem  Knecht  mit  der  goldnen  Spange 
l>eschenkt  wird,  macht  sich  das  Streben,  die  zwei  Abtheilungen  de» 
Bildes  einander  räumlich  zu  nähern,  geltend.  In  der  oberen  Ali- 
thcilung  drängt  sich  die  Handlung  in  der  Mitte  des  Blattes  zusam- 
m(;n,  wo  ausser  Rebecca  und  dem  Knechte  die  Kameelherde  lagert. 
In  den  Ecken  sind  links  die  Brunnennymphe,  rechts  ein  Baum  ge- 
zeichnet. In  der  unteren  Abtheilung  dagegen  erscheint  die  Mitte 
leer,  links  spricht  Rel>ecca  mit  dem  sitzenden  Knechte,  rechts  er- 
zählt sie  in  einer  Kammer  den  Eltern  ihr  Erlebniss.  Auch  die  Linie, 
welche  beide  Abtheilungen  trennt,  wird  wirksam  unterbrochen. 
Links  ragt  ein  Felsen,  rechts  die  Kammer  in  die  obere  Abtheilung. 

Nahezu  in  die  gleiclie  Zeit  mit  der  Wiener  Genesis  föllt  der 
(^odex  Cottonianus  und  ebenso  dürfen  als  beinahe  gleichalterig  die 
musivischen  Bilder  in  S.  Maria  Maggiore  in  Rom  zur  Vergleichung 
herangezogen  werden.  Der  Unterschied  von  wenigen  Jahi-zehnten 
hat  keine  stilistischen  Acnderungen  bewirkt,  eher  der  verschiedene 
lokale  Ursprung  solche  hervorgerufen.  Soweit  die  spärlichen  Frag- 
mente des  Codex  Cottonianus  ein  Urtheil  gestatten,  ist  hier  noch 
mehr  als  in  der  Wiener  Genesis  die  Darstellung  stets  auf  den  Kern 
der  Handlung  eingeschränkt,  alles  Nebensächliche  streng  ausge- 
schlossen. Dadurch  nähern  sich  die  Illustrationen  den  altchristlichen 
Bildern.  Auf  der  anderen  Seite  wird  ähnlich  wie  in  der  Genesis 
das  Familienleben  der  Erzväter  mit  Vorliebe  geschildert.  Die  erhal- 
tenen Fragmente  erzählen  folgende  Scenen: 

Ein  Knecht  packt  einen  Saumsattel,  um  ihn  auf  den  Esel  zu 
laden,  auf  Geheiss  Abraham's,  als  dieser  nach  Kanaan  auszieht  (Gen. 
12,  5). 

Abraham  spricht  seine  mit  Rundschildern  bewaffneten  Knechte 
an,  ehe  er  in  den  Kampf  gegen  die  vier  Könige  zieht  (Gen. 
U,  11). 


39]  Die  Genesisbilder.  701 

Nach  dem  Siege  über  den  König  von  Sodoma  zählt  ein  Knecht 
die  zu  seinen  Füssen  liegende  Beute,  ein  anderer  Knecht  führt  die 
erbeuteten  Pferde  Abraham  vor.  Von  der  letzteren  Darstellung  hat 
sich  nur  die  Gruppe  eines  Mannes,  mit  dem  Speere  in  der  Hand, 
welcher  ein  Ross  führt,  auf  zwei  andere  hinweist,  erhalten.  Die 
Deutung  ist  deshalb  unsicher  (Gen.  14, 17  und  24). 

Dem  schlafenden  Abraham  erscheint  die  Hand  Gottes.  Die  Scene 
stimmt  mit  jener  in  der  Wiener  Genesis  vollkommen  überein;  auch 
die  männliche  Gestalt  in  der  unteren  Abtheilung  kehrt  wieder  (Gen. 
15,12?). 

Abraham  führt  Hagar  an  der  Hand  in  sein  Haus,  dessen  Thüre 
offen  steht  (Gen.  1 6,  4).  (Welche  Handlung  in  dem  Bilde  geschildert 
wird,  wo  vor  einem  gesäulten  Giebelterapel  ein  älterer  Mann  die 
Uände  eines  Paares  in  einander  legt,  ist  nicht  klar.) 

Die  drei  Engel,  alle  mit  Nimben  versehen,  silzen  an  einem 
runden  Tische.  Sarah  steht  im  Hintergrunde  in  der  offenen  Thüre 
(Gen.  18,  15).  Das  letzte  Bild  illustrirt  das  19.  Kapitel  der  Genesis. 
Ein  Engel  zieht  Lot  an  der  Hand  in  das  Haus  zurück,  vor  welchem 
ein  Haufe  Sodomiter  stürmisch  die  Auslieferung  der  Gastfreunde 
fordern.     Zwei  Männer  liegen  wie  todt  auf  dem  Boden. 

Was  die  musivischen  Bilder  in  S.  Maria  maggiore  betrifft,  so 
spricht  aus  einem,  der  Huldigung  Melchisedek's,  ein  entschieden 
kräftiger  Sinn  und  gute  Bekanntschaft  mit  Reiterfiguren.  Mehr  noch 
als  Melchisedek,  welcher  mit  beiden  Händen  eine  hohe  Schale  dar- 
bietet, sind  Abraham  und  seine  Genossen  der  spätrömischen  Kunst 
verwandt.  Die  beiden  anderen  Bilder  aus  Abraham's  Leben:  Abra- 
ham scheidet  sich  von  Lot  und  die  Bewirthung  der  drei  Engel  zeigen 
den  Miniaturen  verwandtere  Züge.  Die  abgekürzte  Form  für  die 
Wiedergabe  einer  Stadt,  die  gedrängte  Gruppenbildung  in  dem  einen 
Bilde,  die  Anordnung  des  anderen  in  zwei  Abtheilungen  über  ein- 
ander stimmen  in  beiden  Fällen  überein.  Die  Bewirthung  der  Engel 
auf  den  Mosaikbildern  in  S.  Vitale  in  Ravenna  ist  der  Scene  in  S. 
Maria  maggiore  auffallend  ähnlich,  nur  wird  dort  noch  das  Opfer 
Isaak's  hinzugefügt.. 

Sowohl  in  der  Wahl  der  Scenen,  wie  in  ihrer  Wiedergabe 
unterscheidet  sich  der  Ashburnham-Pentateuch  von  den  älteren 
Codices.    Oben  links  in  der  Ecke  brennen  die  beiden  Städte  Sodoma 


r 


1 ' 


702  Anton  Si'binger,  S^ 

und  Gomorrah.  In  gelben  Streifen  regnet  Feuer  vom  Himmel  herab. 
Eine  Ziegelmauer  umringt  jede  Stadt,  welche  im  Innern  eine  grössere 
Zahl  von  Häusern  einschUesst.  Riesenköpfe  mit  geschlossenen  AugeD 
zwischen  den  Bauten  deuten  das  Verderben  an,  welches  die  Be- 
wohner ereilt  hat.  Darunter  ist  ebenfalls  eine  Stadt  (Segor)  gezeich- 
net, ein  dichtgedrängter  Haufen  von  Kuppel-  und  Giebelbauten,  dif 
letzteren  öfters  als  offene  Säulenhallen  gedacht.  Aus  dem  Thon- 
treten  Lot  mit  seinen  Töclitern  heraus,  welche  wir  oben  rechtj>  aber- 
mals in  einer  Felsenhöhle  erblicken.  Der  bartlose  Lot  sitzt  mit  ge- 
kreuzten Beinen  (eine  Stellung,  die  sich  bei  den  meisten  Sitzenden 
wiederholt)  auf  einem  Polster  und  greift  nach  dem  Becher,  welcheo 
ihm  eine  Tochter  auf  einem  Teller  reicht. 

Die  folgenden  Scenen  gehen  dann  wieder  auf  Abraham  zurück 
Inmitten  einer  reichen  Architektur,  welche  einen  Hofraum  vorstellen 
soll,  ruht  Abimelech  auf  einem  hohen  Prunkbette,  über  ihm  wird  die 
Hand  Gottes  sichtbar,  neben  dem  Lager  stehen  die  Königin  und 
Sarah  in  reicher  Tracht.  Der  Vollzug  des  göttlichen  Befehles  \Mrd 
nebenan  geschildert.  Abimelech  sitzt  auf  einem  Faltstuhle  und  über- 
giebt  Abraham  die  bisher  vorenthaltene  Gattin.  Abraham  fasst  inil 
beiden  Händen  Sarah's  Hand  und  schickt  sich  an,  mit  den  Knechten 
und  Mägden  und  seiner  Heerde  Aegypten  zu  verlassen.  In  der 
Mitte  des  Blattes  rechts  erblicken  wir  noch  einmal  Abraham  vor 
einem  Säulengange  sitzend,  vor  ihm  Sarah  und  Hagar,  die  erstere 
besonders  reich  geschmückt.  Die  beiden  zu  Sarah's  Füssen  sich 
balgenden  Knaben  geben  Auskunft  über  den  Inhalt  der  Scene. 

Die  Darstellungen  aus  Abraham's  Leben  zeigen  mit  der  Wiener 
Genesis  verglichen  eine  grosse  Selbständigkeit  der  Auffassung.  Di^* 
Wahl  hat  andere  Ereignisse  getroffen ;  bezeichnend  für  die  veränderte 
Sinnesrichtung  des  späteren  Künstlers  ist  der  Wegfall  der  Umarrauns 
Lot's  und  seiner  Tochter.  Die  Architektur  entfaltet  einen  ^'^^ 
Reich th um  von  Motiven ,  doch  fehlt  die  Uebersichtlichkeit,  von  den 
perspektivischen  Fehlern  ganz  abgesehen,  und  der  unmittelbare  Bezug 
auf  wirkliche  Bauten.  Man  darf  wohl  annehmen,  dass  diese  Archi- 
tektur einfach  durch  übertreibende  Erweiterung  älterer  gemalter 
architektonischer  Hintergründe  entstanden  sei.  Die  Behandlung  der 
Gewänder  Abraham's  und  Abimelech's  offenbart  den  gleichen  Febk/"- 
Während  die   Mäntel    in   der   Wiener   Genesis   verrathen,  dass  der 


41]  Die  Genesisbilder.  703 

Zeichner  lebendige  Trachten  vor  Augen  hatte,  hält  es  gegenüber  den 
Gewändern  im  Ashburnham-Pentateuch  schwerer,  dieselben  auf  dem 
Leibe  wirklicher  Personen  zu  denken.  Auch  hier  dürften  gemalte 
Gewänder  das  Vorbild  abgegeben  haben.  Dieses  alles  föllt  um  so 
mehr  auf,  als  ein  gewisser  naturalistischer  oft  derber  Zug  der  Dar- 
stellung nicht  abgesprochen  werden  kann.  Bemerkenswerth  sind 
endlich  der  reiche  Schmuck  der  Frauen  z.  B.  die  langen  Ohrgehänge 
Sarah's  und  die  deutliche  Kenntniss  des  Ziegelbaues  und  der  Holz- 
schnitzerei. 

Der  Pseudo-Caedmon  gewährt  für  Abraham's  Geschichte  nur 
eine  geringe  Ausbeute.  Die  Beischriften  mangeln,  aus  den  lUustra- 
tionen  selbst  lässt  sich  der  Inhalt  schwer  deuten.  Wir  errathen  in 
dem  einen  Falle,  wo  Gottvater  mit  Abraham  spricht,  in  der  offenen 
Hallenthüre  eine  Frau  steht,  dass  die  Verheissung  der  Nachkommen- 
schaft gemeint  sei.  Die  Ereignisse  aber,  welche  den  Bildern  Abra- 
ham's, der  mit  einem  Speere  bewaffnet,  an  der  Spitze  seiner  Knechte 
gegen  eine  Stadt  zieht,  oder  mit  einem  Beile  in  der  Hand  zwischen 
zwei  Häusern  steht,  zu  Grunde  liegen,  können  wir  nicht  mit  Sicher- 
heit angeben.  Mit  diesen  Bildern  schliessen  übrigens  die  Illustra- 
tionen im  Pseudo-Caedmon.  Das  Malerbuch  vom  Berge  Athos  führt 
neben  anderen  Scenen  aus  dem  Leben  Abraham's  auch  das  Opfer 
Isaak's  an,  welches  in  der  Wiener  Genesis  und  im  Ashburnham-Pen- 
tateuch fehlt.  Dasselbe  kommt  dagegen  in  älteren  byzantinischen 
Codices,  wie  (neben  der  Bewirthung  der  Engel)  im  Chludoffpsalter 
aus  dem  zehnten  Jahrhundert  und  in  den  Homilien  des  Gregor  von 
Nazianz  vor. 

Eine  ausführlich  eErzählung  der  Schicksale  Abraham's  bieten  die 
Mosaiken  in  Monreale.  Sie  beginnen  mit  der  Erscheinung  der  drei 
Engel,  vor  welchen  Abraham  in  die  Kniee  sinkt  und  schildern  weiter 
ihre  Bewirthung.  Sie  sitzen  vor  einem  halbrunden,  mit  Linnen  be- 
decktem Tische  auf  einer  Bank,  der  weisshaarige  Abraham  trägt 
Speisen  auf;  in  der  mit  einer  Kuppel  gekrönten  Thüre  steht  Sarah. 
Es  folgt  sodann  Sodoma's  Untergang.  Zwei  Engel  sitzen  in  dem 
Inneren  eines  Hauses,  in  dessen  offener  Thüre  Lot  steht,  um  die 
andringenden  Sodomiter  zurückzuweisen.  Sodoma  brennt,  Dächer 
stürzen  ein,  zwischen  den  Trümmern  sind  mehrere  Todtenköpfe  sicht- 
bar.   Lot's  Weib  mit  zurückgewandtem  Kopfe,  ganz  weiss,  ist  bereits 


r 


704  Ahton  Springe»,  if 

halb  erstarrt,  während  Lot  und  die  Töchter  eiligst  flieben.    Die  Fort- 
setzung der  Mosaiken  an  der  linken  Wand   des  Hauptschiffes  erzählt 
den  Befehl  Gottes,   Isaak   zu   opfern.     Abraham   in    langem  weisdeo 
Gewände  horcht   auf  Gott,   der  vor  ihm,   in  ganzer  Figur,  in  hell- 
blauem   Mantel    über  dem   golddurchwirkten  Purpurgewande  in  der 
Luft  schwebt.    Es  folgt  Isaak's  Opfer.     Isaak  liegt  auf  dem  Altar  mit 
gebundenen  Händen,   vor  ihm   steht  Abraham   mit    der  einen  Haod 
den  Sohn  am  Schöpfe  haltend,  in  der  anderen  das  Messer  zückeod. 
Abraham  wendet  den  Kopf  zurück  und  bückt  aufwärts,  wo  ihm  in 
einem  Halbkreise  ein  Engel  erscheint.     Im  kleinen    Maassstabe  sind 
ausserdem  zwei  Knechte  in  der  Ecke  angebracht,   im  Vordei^ruode 
weiden  ein  Esel  und  zwischen  Strauchwerk  ein  Widder.     Die  beiden 
letzten  Scenen  sind  Uebecca  gewidmet.     Drei  Knechte,  von  welchen 
einer  am  Stocke  ein  Bündel  trägt  (ähnlich  wie  Joseph  auf  der  Flucht 
nach  Aegypten),  sind  mit  ihren  Kamelen  bei  dem  Brunnen  angelangt. 
Kebecca,  den  Kopf  mit  einem  weissen  Tuche  umwunden,  giesst  aus 
(iiner  Amphora   Wasser    in   den  Trog.      Im    letzten   Bilde  sitzen  ein 
Knecht  und  Rebecca,  die  nach  Weiberart  reitet,    auf  Kamelen.    Ein 
anderer  Knecht,  mit  dem  Bündel  am  Stocke,   geht  voran  und  leitet 
die  Thiere  an  einem  Stricke,  ein  dritter  folgt. 

Dem  Betrachter  fiillt  sofort  die  strenge  Gliederung  des  Stoffes 
auf.  Je  zwei  Bilder  hilngen  inhaltlich  zusammen  und  sind  demsel- 
ben Ereignisse  gewidmet.  Die  Wahl  der  Gegenstände  folgt  keineif- 
wegs  dem  Programme  im  Malerbuche;  einzelne  Scenen  fehlen,  aodere 
neue  werden  in  den  Kreis  der  Darstellungen  aufgenommen.  Drei 
Bilder  zeigen  in  der  Komposition  deutliche  Anklänge  an  das  iMaler- 
buch:  das  Opfer  Isaak's,  die  Bewirthung  der  Engel  und  der  Brand 
Sodoma's.  Der  letztere  erinnert  Uberdiess  an  die  Miniatur  im  Ash- 
burnham-Pentateuch  und  beweist  die  zähe  Lebenskraft  einzelner 
Motive. 

Die  Mosaiken  in  der  Capeila  Palatina  (Lot's  Flucht,  Opfer  Isaak's 
und  Rebecca  am  Brunnen),  sowie  die  Reliefs  in  Salerno  (Gottcö 
Unterredung  mit  Abraham  und  Isaak's  Opfer)  hängen  enge  mit  den 
Bildern  in  Monreale  zusammen. 


^3]  Die  Genesisbilder.  705 

5.   Isaak  und  Jacob. 

Die  Wiener  Genesis  beginnt  die  stattliche  Bilderreihe  aus  dem 
Leben  Isaak's  und  Jacob's  mit  der  lllustraticmd  es  25.  Kapitels,  27 — 34. 
Der  jugendliche  Esau  kehrt  von  der  Jagd  heim.  In  kurzem  Rocke, 
in  Schnürstiefeln,  die  Beine  mit  zottigen  Fellen  umwickelt,  leitet  er 
einen  bepackten  Esel  am  Stricke;  ihm  folgt  ein  Knecht,  welcher  zwei 
Hunde  an  der  Leine  führt  und  über  der  Schulter  an  einem  Stocke 
die  Jagdbeute,  einen  gut  gezeichneten  Hasen  trägt.  Unten  links  steht 
Jacob  vor  einem  runden  Herde,  einen  Henkel  topf  und  Löflel  in  den 
Händen  und  wendet  sich  Esau  zu,  welcher  einen  Napf  hält  und  den 
Bruder  um  Speise  anspricht.  Nebenan  sitzt  Esau  an  einem  hölzer- 
nen Tische  und  greift  in  die  Schüssel,  auf  welche  Jacob  mit  beiden 
Händen  als  auf  den  Preis  der  Erstgeburt  hinweist. 

Durch  grossen  Figurenreichthum  zeichnet  sich  das  nächste  Blatt 
aus.  Rechts  erhebt  sich  ein  gewaltiger  viereckiger  Thurm,  welcher 
auf  seiner  Plattform  ein  flachgedecktes  von  einer  vorspringenden  Galerie 
umschlossenes  Häuschen  trägt.  Eine  mit  Statuen  (nackten  Männern) 
geschmückte  Mauer,  von  vier  Rundthürmen  flankirt,  umgibt  ihn.  Als 
Eingang  dient  ein  Vorbau,  dessen  Giebel  auf  zwei  Säulen  ruht.  Von 
dem  Fenster  des  einen  Rundthurmes  blickt  Abimelech  herab  auf 
Isaak,  welcher  Rebecca  umarmt.  Gegenüber  hält  Abimelech  über 
Isaak  Gericht.  Er  sitzt  auf  einem  einfachen  Stuhle,  von  zwei  Schild- 
trägern umgeben,  ihm  gegenüber  steht,  sich  demüthig  neigend,  in 
kurzer  Tunika  Isaak,  hinter  ihm  das  Gefolge  des  Königs,  alle  in 
langen  Mänteln. 

Als  Landschaftsbilder  dürfen  wir  die  folgenden  Darstellungen 
aus  dem  Leben  Jacob's  auffassen.  Jacob  dient  bei  Laban  um  Rahel. 
Hirten  mit  ihren  Heerden  füllen  regelmässig  den  Vordergrund.  Der 
Boden  steigt  gewöhnlich  auf  einer  Seite  in  die  Höhe,  läuft  in  Hügel 
aus,  auf  welchen  die  Hirten  ruhen,  dem  Spiele  der  Schafe  zusehen 
oder  von  Stäben  die  Rinde  schälen.  Die  Bäume  sind  nicht  zahl- 
reich, gewöhnlich  schematisch  gezeichnet,  sodass  dem  Stamme  drei 
Zweige  entspriessen,  welche  an  ihrem  Ende  ein  Blattbüschel  oder 
eine  schirmartige  Blüthe  tragen.  Selbst  bei  Scenen,  welche  eigent- 
lich in  menschlicher  Handlung  ihren  Schwerpunkt  haben,  überwiegt 
die  landschaftliche   StafiTage.     So  dort,   wo  Laban  den  entflohenen 


y 


706  Anton  Spbingbb,  ii 

Jacob  auf  dem  Berge  Gil('ad  ereilt  und  die  gestohleneo  Götzen  zu- 
rückverlangt. In  Zelten  sitzt  Jacob's  Familie,  das  einemal  in  deiu 
einen  Zelte  Loa  allein,  in  dem  anderen  Kabel,  das  anderemal  sind 
die  Zelte  näher  aneinander  gerückt  und  eine  grössere  Meuscheozahl 
vor  und  in  ihnen  versammelt.  (Die  Götzen  sind  offenbar  in  eineiu 
Behälter,  über  welchen  sich  Rahel  beugt,  versteckt.)  Vor  den  Zellen 
steht  Jacob  und  ihm  gegenüber  Laban  mit  zwei  Knechten,  in  Ie[h 
hafter  Unterredung  begriffen.  Der  weitaus  grösste  Raum  ist  mil 
weidenden  Schafen,  Rindern  und  Kamelen,  mit  angebundenen  Pferden 
u.  s.  w.  ausgefüllt. 

In  den  bisher  beschriebenen  Blättern   ist  Jacob  jugendlich  auf- 
gefasst,  stets  in  einen  kurzen  Rock  gekleidet;  von  der  Scene  an,  in 
welcher  er  Boten   (vom  Künstler  als  Engel    mit  Flügeln    und  Stäben 
aufgefasst)   an  Esau  absendel,  verwandelt  er  seine  Gestalt  und  wird 
alt,  bärtig,  in  einen  langen  Mantel  gehüllt  dargestellt.      Die  Mehraahl 
der  Blätter  begnügt  sich  mil   der  Wiedergabe  einer    einzigen  Hand- 
lung; aber  selbst  wenn  mehrere  Handlungen  in  einem  Rahmeo  ver- 
einigt werden  sollen,  gibt  sich  auch  hier  das  Streben  nach  geschlos- 
sener Wirkung  kund.     Das  beste  Beispiel  dafür   liefert   die  Schilde- 
rung   des   Auszugs   Jacob's.     Die    Karawane,    die  Frauen   auf  Eseln 
reitend,  Jacob  an  der  S|)ilze  schreitend,  bewegt  sich  oben  von  links 
nach  rechts  und   überschreitet  eine  Brücke,    welche    auf  Bogen  er- 
richtet sich  so  windet  und  dreht,  dass  sie  den  oberen  Plan  mit  de«) 
unteren  verbindet.     Reitesel  und  Packesel,  dann  ein  Mann,  welcher 
neugierig  über  die  Brüstung  in   das  rauschende  Wasser  blickt,  be- 
leben auf  der  Brücke  die  Scene.     Unten  aber  wird   der  Ringkampf 
Jacob's  mit  dem  Engel  und  die  Segenspende   erzählt.     Dann  bewegt 
sich  die  Karawane  wie  oben,  nur  in  umgekehrter  Richtung  vonvärts. 
Was  hier  gleichsam   nur  als  Episode  vorkommt,   die  Ertheilung  de^ 
Segens  an  Jacob,  wird  auf  dem  nächsten  Blatte  ausführlich  geschil- 
dert.    Man  sieht  rechts  noch  einen  Theil  der  Brücke.     Ein  bärtiger 
Mann  legt  die  Hand  segnend  auf  Jacob's  Haupt,  daneben  spricht  Jacob 
mit  einem   unbärtigen  Jüngling,    unten   aber  wird  der  Vers  31  des 
32.  Kapitels   illustrirt.      Eine    riesige  Strahlensonne   erscheint  in  der 
Ecke,  Jacob  mit  aufgebauschter  (hinkender)   Hüfte  steht  vor  ihr  und 
hält  die  Hand  zum  Schutze   gegen   die  Blendung  vor.     Diese  letzte 
Scene  fesselt  desshalb  unsere  Aufmerksamkeit,  weil  sie  sich  vollständig 


J 


^^]  Die  Gknesisbilder.  707 

mit  einer  Miniatur  im  Codex  Cottonianus  deckt  und  so  Zeugniss  für 
den  nahen  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  griechischen  Codices 
ablegt.     Nur  wird  sie  hier  auf  Genesis  15,  1   bezogen. 

Die  Bilderreihe  aus  Jacob's  Leben  schliessen  der  Raub  der 
Götzen,  ihre  Bergung  unter. den  Wurzeln  einer  Linde,  der  Tod  De- 
borah's,  der  Amme  Rebecca's,  die  Geburt  Benjamin's,  das  Begräbniss 
Rahel's  und  der  Tod  Isaak's.  Mannigfache  Bauten  lernen  wir  in 
diesen  Blattern  kennen.  Neben  der  fast  grotesk  gezeichneten  Gruppe, 
welche  sich  auf  Jacob's  Geheiss  reinigt  und  die  Kleider  wechselt 
(der  eine  hält  ein  Kleiderbündel  in  den  Händen,  der  andere  zieht 
das  Gewand  gewaltsam  über  den  Kopf,  der  dritte  hat  das  Gesicht 
fast  ganz  in  den  Mantel  vergraben  und  trocknet  sich  offenbar  den 
Kopf)  steht  ein  Rundtempel,  wie  im  Durchschnitt  gezeichnet.  In 
Nischen  und  auf  den  Mauerzinnen  prangen  Statuen  (nackte  Männer), 
von  welchen  eine  von  einem  Manne  heruntergerissen  wird.  Neben 
der  Eiche,  unter  welche  Jacob  die  Götzen  vergräbt,  steht  gleichfalls 
ein  offener  Rundbau,  nur  zur  Hälfte  sichtbar,  aussen  von  Säulen 
getragen,  innen  in  Stufen  aufsteigend.  Endlich  das  Grab  Rebecca's: 
ein  schmaler  Rundthurm  über  einem  quadratischen  Unterbau.  Bei 
allen  Zeichenfehlern  klingen  doch  wirkliche  Bauwerke  an  und  er- 
scheint die  phantastische  Willkür  ungleich  mehr  als  im  Ashburnham- 
Pentateuch  ausgeschlossen.  Das  Bild  einer  kleinen  Stadt  auf  hohem 
Felsen  neben  einer  Eiche  (Sichem)  wirkt  beinahe  stimmungsvoll;  das 
hohe  Giebelhaus  auf  dem  Hügel,  an  dessen  Fusse  Heerden  weiden 
und  Jacob  die  Zelte  aufgeschlagen  hat,  beruht  vollends  auf  unmittel- 
barer Naturanschauung.  Um  so  mehr  fallen  dann  die  verschiedenen 
Maassverhältnisse  der  einzelneu  Gestalten  auf  einem  und  demselben 
Bilde  auf:  Rahel,  wie  eine  Mumie  eingewickelt,  wird  auf  den  Schul- 
tern zweier  Knaben  zum  Grabe  getragen.  Das  Trauergefolge,  Jacob 
mit  seinen  Kindern,  sind  wieder  kleiner  gehalten  als  nebenan  die 
Gruppen,  wo  Rahel  auf  einem  Polster  ruht  und  eine  Wartefrau  den 
kleinen,  eingewickelten  Benjamin  auf  dem  Schosse  hält. 

Die  Illustrationen  zu  Jacob's  Leben  im  Codex  Cottonianus  haben 
sich  nicht  erhalten.  Dagegen  gestatten  die  Mosaiken  in  S.  Maria 
Maggiore  den  Schluss  auf  eine  verwandte  Richtung  mit  der  Wiener 
Genesis.  Vor  einem  von  Säulen  getragenen  Giebelbau  ruht  Isaak 
und   ertheilt  Jacob  den  Segen.     Rebecca   steht  zur  Seite,   nebenan 


V 


708  Ahton  Spuhgek,  S^ 

scheint  Esau  Yogelnelze  get>tellt   zu   haben.     Rahel  eUl  der  Heerde 
voran,   um  ihren   Eltern  Jacob's  Ankunft    zu   verkünden.      Er    wird 
von  Laban  umarmt,   von  der  Mutter,  welche  unter  der  Thttre  eine> 
Giebelhauses  steht,  begrUsst.    Ihm  werden  die  Schafheerden  auf  sieben 
Jahre  zur  Hütung  übergeben,    und  nach  abermals  sieben  Jahren  die 
Hochzeit  mit  Rahel  angerichtet.     Er  scheidet  die  gesprenkelten  Schafe 
von  den  reinen   und  kehrt  als  greiser  Patriarch  in  die  Heimat  zu- 
rück.    Der  Ton  der  Schilderung,  die  Anordnung  der  Gruppen ,   Ge- 
wänder   und   Hintergründe    zeigen    mit   den   Miniaturen   der    Wiener 
Genesis   verglichen   keine  wesentlichen  Unterschiede.      Desto   stärker 
ist  der  Gegensatz  der  letzteren  zu  den  Illustrationen  im  Ashburn- 
ham-Pentateuch.    Leider  gestattet  der  Zustand  der  Blätter  VH   und 
VIII  kein  Eingehen  in  Einzelheiten  der  Komposition.     Die  Erzählung 
beginnt  rechts  in  der  Mitte  des  Blattes.    Der  Knecht  Abraham's  sitzt, 
den  Kopf  auf  die  Hand  stützend,  neben  einem  Ziehbrunnen,  in  wel- 
chen  Rebecca  einen  rothen   Krug  an  einem  Stricke    von   der    Welle 
herabgelassen   hat.     Sie  wendet  den  Kopf  dem   zum   zweiten    Maie 
gezeichneten  Knechte  zu,    welcher   neben   ihr   zur  Linken  steht  und 
ilir  buntfarbige  Ohrgehänge  überreicht.     Eine  Magd,   die   eine  Hand 
auf  der  Hüfte,  trägt  einen  bereits  gefüllten  Krug  auf  der  Achsel  hin- 
weg.     Sie    hat    einen    hohen   Kopfputz    im    Gegensatz   zu   Rebecca, 
deren  Haar  aufgelöst  herabfällt.      Oben  links  sehen    wir  dann   den 
alten  Bethuel   und  Rebecca,  welche  auf  den  von  Laban    bereits   be- 
grüssten  Knecht  Abraham's  weist.    Zu  Füssen  des  letztern  sind   volle 
Henkelkrüge  aufgestellt,  andere  Gefässe  und  Ballen  werden  von  Die- 
nern (zwei  sind  als  Neger  charakterisirt)   herbeigeschleppt.     Es  folgt 
sodann  die  Bewirthung  des  Knechtes,  Rebeeca's   Zug  nach   Kanaan 
und  ihre  Begrüssung  durch  Abraham   und  Sarah.     Abraham  streckt 
ihr  die  Hand  entgegen,  Sarah   im  Hintergrunde  des  Hauses   umarmt 
sie.     Den  Hintergrund  für  die  meisten  Vorgänge  bilden  dicht  anein- 
ander gereihte   Bauten.      Offene   Bogen   tragen   die  Dächer,   welche 
bald  (lach,   bald  giebelförmig  gezeichnet,   bald  mit  Kuppeln  gekrönt 
sind.     In  den  Bogen  sitzen  die  handelnden  Personen,  ohne  dass  aber 
die  Bogen  zu  einem  und  demselben  Baue  gehören.     Die  Architektur 
hat  offenbar  nur  eine  ornamentale  Bedeutung;  erinnern  die  Elemente 
noch  an  antike  Werke,   so  erscheinen  sie  doch  stets  willkürlich  zu> 


\ 


^7]  Die  Gbnesisbuder.  7U9 

saramengesetzt  und  ohne  Rücksicht  auf  Standfähigkeit  und  wirkliche 
Beschaffenheit  entworfen. 

Besonders  reich  an  architektonischem  Schmucke  erscheint  das 
Blatt  (VIII),  welches  die  Schichsale  Esau's  und  Jacob's  zu  erzählen 
beginnt,  lieber  dem  Dache  einer  Bogenhalle,  gleichsam  über  einem 
Erdgeschosse,  erhebt  sich  ein  stattlicher  Bau,  in  welchem  wir  mit 
Sicherheit  eine  Basilika  erkennen.  Sie  ist  natürlich  offen  dargestellt, 
die  Seitenmauern  weggelassen.  Die  Bogen  unter  dem  Dache  (die 
hohen  Fenster  des  Mittelschiffes)  und  die  halbkreisförmige  Apsis 
schliessen  jeden  Zweifel  über  den  zu  Grunde  liegenden  Bautypus 
aus.  Eine  hohe  Freitreppe  führt  zur  Basilika  empor,  in  deren  Innerem 
eine  Lampe  hängt  und  ein  mit  weissen  Linnen  bedeckter  Tisch  steht. 
Auf  dem  Tische  liegen  fünf  runde  Brode.  Rebecca  kniet  vor  dem 
Tische,  von  einer  Dienerin  am  Rocke  festgehalten,  über  ihr  zwischen 
den  zurückgeschobenen  Vorhängen  des  Einganges  erscheint  die  Hand 
Gottes,  welche  ihr  das  Schicksal  der  Zwillinge,  die  sie  im  Leibe 
trägt,  verkündet.  Links  unten  in  einem  offenen  Bogen  sitzt  Rebecca 
mit  den  Zwillingen  auf  dem  Schoosse,  umgeben  von  Dienerinnen  und 
der  Hebamme,  welche  in  einem  grossen  braunen  Kessel  das  Bad 
zurichtet.  Esau's  Verkauf  der  Erstgeburt  für  ein  Linsengericht  spielt 
gleichfalls  in  einem  aus  zwei  quadratischen  Bogenhallen  und  einem 
Kuppelraume  zusammengesetzten  Baue.  Ein  Kellergeschoss,  in  wel- 
chem unter  einem  weitgezogenen  Bogen  ein  grosser  Kessel  am  Feuer 
steht,  trägt  die  oberen  Räume.  Eine  Freitreppe  führt  zu  denselben; 
auf  der  obersten  Stufe  handelt  Esau  mit  Jacob  um  das  Linsengericht. 
Dasselbe  wird  nebenan  in  der  Halle  von  Jacob  auf  den  Tisch  ge- 
stellt. Esau  sitzt  auf  einem  Faltstuhle  und  hält  Brod  in  beiden 
Händen. 

Die  Wiener  Genesis  hat  Jacob's  Betrug  nur  flüchtig  angedeutet, 
dagegen  sein  Hirtenleben  mit  sichtlicher  Vorliebe  ausführlich  ge- 
schildert. Der  Ashburnham-Pentateuch  erzählt  dagegen,  wie  Jacob 
seinen  Bruder  um  den  Segen  des  Vaters  betrog,  am  eingehendsten. 
Der  greise  Isaak  (Bl.  IX)  in  einem  Armstuhle  mit  hoher  Rücklehne 
sitzend,  ertheilt  dem  mit  Bogen  und  Pfeil  bewaffneten  Esau  den  Be- 
fehl, Vi^ildpret  für  ihn  zu  schiessen.  Rebecca,  in  der  üblichen  reichen 
Tracht  lauscht  hinter  Isaak  und  beredet  dann,  in  einer  Nebenhalle 
(mehr  nach  rechts)    stehend,   mit  Jacob  die  Täuschung   des  Vaters. 


7 


710  AiiToi«  Spungeb,  (' 

Das  Geberdenspiel  beschränkt  sich  hier  wie  ttberall  auf  Hebong  n^.- 
Streckung  der  Arme.     Einen   feineren  psychischen  Ausdruck  wiir«> 
man  vergeblich   suchen,   dazu  sind  die  Köpfe  viel    zu  eintönig  ^v- 
zeichnet.     Die  nächste  Scene,  in  der  Mitte  links,  bringt  uns  endl:  f 
einmal  das  Innere   eines  Hauses    vor   die    Augen..     Während  sohn 
immer  die   handelnden  Personen  zwischen  Bogen    oder  vor  Säuleo- 
hallcn  stehen  oder  sitzen,  gewinnt  man  hier  durch  den  DurcbschDiti 
dos  Hauses  den  Einblick  in  eine  Küche.     Rebecca   rührt  mit  eiDem 
Stabe  (oder  Löffel)  den  Inhalt  eines  Kessels,  dessen  Deckel  sie  ab- 
genommen hat  und   in   der  anderen   Hand   hält.      Auf  der  aDCJeren 
Seite  tritt  Jacob  in  kurzem  weissen  Rocke,  rothen  Hosen,  und  hoheo 
Stiefeln  heran,  in  jeder  Hand  ein  kleines  schwarzes  Böcklein  trageod. 
Im  Hintergrunde  befindet   sich  ein   hölzerner  gedeckter   Tisch,  von 
steht  auf  dem  Boden  eine  rotho  Schüssel  mit  gelbem  Inhalte,    loter 
der  Küche  aber  haben  innerhalb  einer  runden  steinernen  Einfriedi- 
gung mehrere  Schafe  ihren  Stall.     Die  weiteren   Bilder  des  Blatles 
erzSIhlcn,  wie  Isaak  die  Hände  des  in  Felle  gehüllten  lac^b  tastend 
greift  und  dann  am  Tische   sitzend   von  der  Speise   geniesst,  wäh- 
rend Jacob  noch  eine  andere  Schüssel  aufträgt.    Esau,  einen  Rebbock 
auf  den  Schultern,  mit  Köcher  und  Bogen,  kehrt  von  der  Jagd  zurück, 
rührt  in  der  Küche  den  Kessel  und  bringt  dem  Vater  den  verlang- 
Icn  Braten.      Tiefer  unten   ist   dargestellt,   wie  Isaak,   hinter  dessen 
Armstiihle  Rebecca  steht,  Jacob  zur  Flucht  auffordert.     Jacob  reise- 
IxM'cit,   hat  über  den  weissen  Rock  bereits  einen  hellgrünen  Manlel 
geworfen.     Die  Sccne   in   der  unteren   Ecke  rechts   ist  leider  stark 
V(Mwischt.     Wir  sehen  Jacob  auf  der  Erde  schlafend  liegen,  auf  der 
linkem   Seite   des  Körpers    ruhend,   einen   Stein   als   Kopfpolster  be- 
nülz(md.     Ucber  ihm  schwebt  in  misslungener  Verkürzung  (den  Kopf 
nach  unten)   ein  Engel,  ein  anderer  steigt  auf  der  Leiter  empor,  ganz 
oben   ist   die  Halbfigur  Gottes  sichtbar.      Der  eingefasste  Raum  des 
Blattes  reichte  nicht  hin,  um  in  demselben  den  fliehenden  Jacob  /« 
zeichnen;  er  ist  ausserhalb  der  Rahmenlinie  angebracht. 

Der  Künstler  wendet  sich  auf  dem  nächsten  Blatte  (X)  gleich 
zur  Schilderung  der  Flucht  Jacob's  von  Laban,  nachdem  er  dessen 
Götzen  gestohlen.  Drei  stattliche  buntfarbige  Zelte  in  Fächerforin 
sind  am  Fusse  einer  steilen  in  Spitzen  auslaufenden  Felswand  auf- 
geschlagen.    In  jedem  Zelt  sitzt   eine   dei*  Frauen  Jacob's  mit  ihren 


^9]  Die  Genesisbilder.  711 

Kindern,  in  jedem  beugt  sich  Laban  über  ein  Bündel,  die  versteck- 
ten Götzen  suchen'd.  In  der  unteren  Abtheilung  errichtet  Jacob  ein 
Mal,  indem  er  um  einen  grösseren  Block  kleine  Steine  im  Umkreise 
setzt  und  feiert  mit  Laban  die  Versöhnung.  Sie  sitzen  um  einen 
Steinhaufen  herum,  auf  welchem  eine  Schüssel  und  mehrere  runde 
Brode  liegen  und  werden  von  einem  Knaben  bedient,  welcher  aus 
einem  grösseren  Gefässe  Wein  in  eine  Glasflasche  (?)  schöpft.  Der 
untere  Streifen  beschreibt  den  Zug  Laban's  in  seine  Heimat  zurück 
und  Jacob's  Rückkehr  nach  Kanaan.  Die  Frauen  sitzen  theils  auf 
Eseln  theils  auf  Kamelen,  welche  letztere  sich  wieder  durch  eine 
auffallend  naturwahre  Wiedergabe  auszeichnen. 

Das  Malerbuch  vom  Berge  Athos  kennt  nur  zwei  Scenen  aus 
dem  Leben  Isaak's  und  Jacob's :  den  Segen  Isaak's  und  die  Jacobsleiter. 
In  ausführlicherer  Schilderung  ergehen  sich  die  Mosaikgemälde  in 
Monreale.  Isaak  auf  einem  weissen  Polsterlager  ruhend,  ertheilt 
Esau,  welcher  in  kurzem  goldverbrämten  Rocke,  blauen  Hosen  und 
Schnürstiefeln,  mit  Spiess  und  Bogen  bewaffnet  vor  ihm  steht,  den 
Befehl  zur  Jagd.  Rebecca  lauscht  hinter  einem  Vorhange  der  Rede. 
Nebenan  ist  Esau  im  Begriff*,  Vögel  von  einem  Baume  mit  dem  Pfeile 
abzuschiessen.  Die  letztere  Darstellung  wiederholen  getreu  die 
Mosaiken  in  der  Capella  Palatina,  nur  wird  ihr  der  Segen,  welchen 
Isaak  dem  Jacob  in  Gegenwart  Rebecca's  ertheilt,  zugesellt,  welche 
Scene  in  Monreale  erst  im  nächsten  Bilde  folgt.  Isaak  sitzt  auf  dem 
Ruhebette  und  segnet  Jacob,  hinter  welchem  Rebecca  in  einer  ver- 
deckten Schüssel  die  Speise  aufträgt.  Sie  ist  mit  einer  braunrothen, 
goldgesäumten  Tunika  über  einem  langen  weissen  Gewände  bekleidet 
und  hat  um  den  Kopf  ein  Tuch  gebunden.  Weiter  links  kommt 
Esau  mit  der  Jagdbeute  an  einem  Stocke  auf  der  Schulter  heran- 
goschritten,  Rebecca  steht  in  der  Thüre  eines  einfachen  dreitheiligen 
Hauses  und  mahnt  Jacob  zur  Flucht.  Rüstig  schreitet  derselbe,  sein 
Bündel  am  Stocke  über  der  Schulter  tragend  einen  Hügel  hinan.  Zu 
Füssen  der  Himmelsleiter  schläft  Jacob,  das  ReisebUndel  als  Polster 
benützend.  Neben  ihm  steht  eine  kleine  Flasche.  Auf  der  Leiter 
steigen  zwei  Engel  empor,  am  Firmament  erscheint  die  Halbügur 
Gottes.  Nebenan  baut  Jacob  den  Altar.  Das  letzte  Bild  endlich 
versinnHcht  den  Kampf  Jacob's  mit  dem  Engel.  Der  letztere  steht 
am  Fusse  eines  Felsens  mit  ausgebreiteten  Flügeln,  hält  in  der  einen 

Abhandl.  d.  K.  8.  üesellsch.  d.  Wissensch.  XXI.  47 


f/' 


712  Anton  Springer,  .-^^ 

Hand  einen  Stab  und  hebt  die  andere  segnend  über  das  Haupt 
Jacob's,  welcher  ihn  an  der  Brust  berührt.  Von  einem  Ringen  i>r 
keine  Rede.*)  Die  Reliefs  in  Salerno  bieten  nur  eine  einzige  Scene, 
die  Himmelsleiter,  im  Anschluss  an  die  Palermitaner  Gemälde  und 
schliessen  daran  unmittelbar  Moses  vor  dem  brennenden  Dornen- 
busche. 

6.   Der  ägyptische  Joseph. 

Die  Wiener  Genesis  knüpft  die  Geschichte  vom  ägyptischen 
Joseph  unmittelbar  an  die  Darstellung  des  Todes  Isaak's  an.  Das 
Bild,  welches  oben  das  Hinscheiden  des  Patriarchen  schildert,  fülirl 
uns  in  der  unteren  Abtheilung  Jacob,  an  dem  Thore  einer  Stadt  auf 
einem  Faltstuhle  sitzend,  vor,  wie  er  dem  kleinen  Joseph  einen  bunten 
Rock  vorhält.  Die  Brüder  weiden  auf  einem  Hügel  Schafe.  Der 
eine  bläst  Schalmei,  der  andere  ruht,  den  Kopf  auf  die  Hand  stützend, 
auf  dem  Boden,  die  anderen  unterreden  sich  in  kleinen  Grup|)en. 
Noch  ausdrucksvoller  thun  sie  es  auf  den  nächsten  Bildern,  welche 
Joseph's  Träume  und  seine  Sendung  zu  den  Brüdern  auf  das  Feld 
wiedergeben.  Auf  dem  einen  Bilde  ruht  Joseph  auf  einem  von  vier 
gedrechselten  Pfosten  getragenen  Bette,  über  ihm  schweben  in  einem 
Viertelkreise  Sonne,  Mond  und  Sterne.  Rechts  davon  erzählt  er  der 
versammelten  Familie  seinen  Traum.  Gut  ist  das  Staunen  der  Mutter 
geschildert,  sowie  die  Aufmerksamkeit  des  Vaters,  welcher  sich  vor- 
beugt und  den  Ko[)f  auf  die  Hand  stützt,  und  der  neidische  Aerger 
der  Brüder,  welche  in  der  unteren  Abtheilung  noch  einmal  wieder- 
kehren, wo  sie  auf  dem  Felde  ihre  Heerden  weiden,  und  in  kleinen 
Gruppen  zusammensitzend,  sich  lebhaft  über  den  Vorgang  unter- 
halten. 

Die  Vorliebe  für  Familienschilderungen  prägt  sich  auf  dem  näch- 
sten Blatte  aus,  in  welchem  Joseph  Abschied  von  Benjamin  nimnil. 
ehe  er  auf  das  Feld  zu  den  Brüdern  geht.  Der  Künstler  erweilerl 
den  Text  der  Bibel.     Der  alte  Jacob  sitzt  auf  einem   kunstreich  ge- 


\)  In  den  Horailien  des  Gregor  von  Nazianz  ist  dagegen  (fol.  174*)  der 
Kampf  recht  drasliscli  wiedergegeben.  Der  Engel  mit  mächtigen  Purpurflügeln. 
hebt  gewaltsam  das  Bein  des  Gegners  in  die  Hohe,  um  ihm  die  Hüfte  zu  ver- 
renken. 


^^]  Die  Genesisbilder.  7I3 

schmückten  Lehnstuhle  und  hält  den  kleinen  Benjamin  vor  sich,  zu 
welchem  sich  Joseph  liebkosend  herabbeugt.  Benjamin  begleitet  Joseph 
eine  Strecke  weit.  Unter  der  Führung  eines  Engels  an  der  Ueimats- 
grenze  (durch  eine  von  einem  Bande  umschlungene  Säule  symboli- 
sirt)  angelangt,  wendet  sich  Joseph  zu  Benjamin  zurück,  welcher 
klagend  die  Hände  emporhebt.  Auch  in  der  Potipharscene  nimmt 
die  Wiedergabe  des  Familienlebens  den  breitesten  Raum  ein.  Oben 
links  sitzt  Potiphar's  Frau  vor  einer  geschweiften  Säulenhalle  auf 
einem  Ruhebette  und  greift  nach  dem  Mantelzipfel  des  fliehenden 
Joseph.  Rechts  sitzt  ein  Kind,  mit  einer  Tiara  auf  dem  Kopfe  in 
einem  Gehstuhle  (?) ,  eine  Magd  beugt  sich  mit  einem  Fahnchen  über 
dasselbe.  Neben  derselben  steht  eine  reichgeschmückte  Frau,  welche 
über  das  lange  Gewand  noch  einen  gestickten  Mantel  geworfen,  und 
hält  eine  Spindel  hoch  in  der  Hand.  In  die  Kiuderwelt  versetzt  uns 
auch  die  untere  Abtheilung,  wo  eine  Magd  ein  nacktes  Kind  in  den 
Armen  trägt  und  herzt,  eine  andere  Frau  ein  Band  stickt,  eine  dritte 
endlich  gleichfalls  sitzend  spinnt  und  mit  einem  grösseren  Kinde  sich 
unterredet. 

In  der  Regel  legt  die  Wiener  Genesis  auf  reiche  Trachten  kein 
Gewicht,  nur  in  den  Potipharscenen  spielen  die  Prachlcostüme  eine 
grössere  Rolle.  Potiphar's  Frau  z.  B.,  welche  Joseph  bei  ihrem  Gatten 
verklagt,  trägt  auf  dem  Haupte  eine  Zackenkrone  und  darüber  einen 
lang  herabwallenden  Schleier.  Ihr  weisses  Gewand  ist  mit  Gold  ver- 
brämt, ihr  Mantel  von  seegrüner,  ihre  Schuhe  von  rother  Farbe. 
Die  Männer  haben  auf  ihren  Mänteln  in  spätrömischer  Weise  drei- 
eckige Purpurlappen  aufgenäht  oder  über  das  Gewand  ein  Tuch 
shawlartig  geworfen.  Ueberhaupt  treten  von  jetzt  an  die  Anklänge 
an  antike  Sitten  stärker  auf.  Und  das  ist  nicht  der  einzige  Unter- 
schied. Bisher  wurden  zuweilen  mehrere  Scenen  in  einem  Bilde 
vereinigt  und  nur  äusserlich  mit  einander  verbunden.  Von  jetzt  an 
kommen  nur  Einzelscenen  vor  und  damit  wächst  auch  der  Maass- 
stab der  Figuren. 

In  einem  ummauerten  oben  offenen  Räume  sitzt  Joseph  mit  dem 
Mundschenken  und  Bäcker  des  Königs.  Joseph  in  der  Mitte  zwischen 
den  beiden  Gefangenen  bemüht  sich,  sie  zu  trösten.  Der  eine  reckt 
die  Hände  klagend  zum  Himmel  empor,  der  andere  zerrauft  sich  ver- 
zweifelnd das  Haar.     Am  Eingänge   des  Kerkers  ist  eine  kannelirte 

47* 


714  Anton  Springer,  [52 

Säule  aufgerichtet  mit  eioem  Ringe  in  der  Mitte,  und  mit  eiDcm 
schildartigen  Aufsatze  gekrönt.  Zu  ihrem  Fusse  sitzt  auf  einem  Fels- 
blocke der  Gefangenwärter,  einer  Frau  sich  zuwendend,  welche,  den 
Mantel  über  dem  Kopf  gezogen,  die  Rechte  lebhaft  in  die  Höhe 
hebend,  ihn  anspricht.  Wen  sie  vorstellt  ist  unklar,  ihre  allegorische 
Deutung  nicht  unwahrscheinlich.  Am  meisten  führt  uns  in  die  antike 
Sittenwelt  die  Gastmahlscene  ein.  Auf  einer  ßrhöhlen  Buhne  lagern 
der  König  mit  drei  Genossen,  auf  einen  Polsterwulst  sich  aufstützend. 
Der  König  nimmt  von  einem  Diener,  der  in  der  Linken  eine  hohe 
cylindrische  Flasche  hält,  eine  Schale  in  Empfang.  Ein  Diener  mit 
Krug  und  Flasche  steht  dabei,  ein  dritter,  mit  auffallend  hoher  Haar- 
tracht^) verrichtet  bei  den  Genossen  das  gleiche  Amt  des  Mund- 
schenken. Gegenüber  der  Bühne  auf  erhöhtem  Gerüste  haben  zwei 
Frauen  Platz  genommen.  Die  eine  bläst  die  Doppelflöte,  die  andere 
schlägt  mit  zwei  Stäbchen  auf  Becken.  Eine  Säule  mit  einer  um- 
wundenen Flasche  als  Aufsatz  trennt  das  Gemach  vom  Felde,  wo 
im  kleinen  Maassstab  der  oberste  Bäcker,  eine  Beute  der  Raben,  zwi- 
schen einer  Gabel  hängt.  ^) 

Die  folgenden  Scenen:  Pharao's  Traum,  Joseph's  Deutung  des- 
selben und  seine  Bestallung  bieten  ein  geringeres  Interesse,  stehen 
auch  künstlerisch  den  meisten  anderen  Bildern  nach.  Sie  zeigen 
gleichfalls  den  Nachhall  antiker  Tracht  und  Sitte,  die  Kennt- 
niss  der  antiken  architektonischen  Formen.  So  schläft  Pharao  unter 
einem  von  vier  korinthischen  Säulen  getragenen,  profilirten  Dache, 
während  seine  Waffenträger  sich  auf  ihre  Rundschilder  zu  seinen 
Füssen  hingestreckt  haben.  Auch  die  Bogenpforte,  unter  welcher 
Joseph  steht,  erscheint  richtig  konstruirt.  Reicheres  Leben  entwickeln 
erst  wieder  die  Bilder,  in  welchen  ländliche  Beschäftigungen  dar- 
gestellt werden.  Auf  dem  einen  Blatte  wird  geschildert,  wie  die 
leichtgeschürzten  Brüder  das  Korn  in  Säcke  laden,  einer  von  ihnen 
von  einem  Manne  gebunden  wird,  um  als  Geissei  zurückbehalten  zu 
I  werden.      Hinter   der   Thüre   birgt  Joseph    tiefbewegt   und    weinend 

j  sein   Gesicht  in  dem   Mantel.     Auf  dem  nächsten  Bilde  lagern   die 


I 


*)  Dieselbe  Perrückeniracht  beobachten  wir  auch  bei  den  SchwerUrägern 
Pharao's  und  Joseph*s  in  den  Reliefs  an  der  Cathedra  S.   Maximian's  in  Ravenna. 

2)  Vgl.  Versus  ad  pict.  dorn.  dorn.  Mogunt.  v.  tOl :  In  cruce  pascil  aeres 
discerpta  fronte  volucres. 


^3]  Die  Genesisbuder.  715 

Bruder  auf  dem  Felde,  die  Esel  sind  abgeschirrt,  empfangen  Futter, 
walzen  sich  im  Grase.  Das  Vorzeigen  des  in  einem  Sacke  gefun- 
denen Geldes  bei  der  Heimkehr  (während  die  Packesel  rasten,  zwei 
Männer  die  Säcke  ausschütten,  stehen  drei  Brüder  vor  dem  alten 
auf  einem  niedrigen  fellbedeckten  Stuhle  sitzenden  Jacob  und 
weisen  ihm  den  Fund),  die  Weigerung  Jacob's,  Benjamin  mit  ihnen 
ziehen  zu  lassen  und  Benjamin's  Abschied  von  dem  greisen  Vater, 
der  ihn  am  Kleide  festzuhalten  sucht,  während  ein  Bruder  ihn  an 
der  Hand  wegzerrt,  bilden  den  Inhalt  der  vier  folgenden  Blätter. 
An  dem  freien  Zusammenfassen  der  verschiedenen  Gestalten  zu  einer 
einheitlichen  Gruppe  merkt  man  die  Fortdauer  guter  künstlerischer 
Traditionen. 

Die  Rückkehr  der  Brüder  nach  Aegypten  gibt  dem  Künstler 
wieder  willkommenen  Anlass  zu  einer  ländHchen  Schilderung.  Im 
Hintergründe  in  der  Nähe  eines  einfachen  Giebelhauses  hängt  ein 
Schaf  an  einem  dürren  Baume  und  wird  ausgeweidet,  um  am  Feuer 
gebraten  zu  werden.  Auf  dem  Boden  liegt  mannigfaches  Acker- 
geräth.  Der  Weg  wendet  sich  thalwärts  von  links  nach  rechts  und 
wird  durch  bepackte  Esel,  welche  von  den  Brüdern  getrieben  wer- 
den, belebt.  Im  Vordergrunde  rechts  empfängt  Joseph  auf  einem 
Polsterstuhle  sitzend  die  Brüder.  Ein  oflFener  Giebelbau,  von  vier 
Säulen  (die  vierte  ist  wegen  der  perspektivischen  Schwierigkeit  weg- 
geblieben) getragen,  nimmt  im  nächsten  Bilde  die  Aufmerksamkeit 
zunächst  gefangen.  Vor  ihm  steht  Joseph's  Haushalter  und  bezichtigt 
die  Brüder  (Gen.  4i,  6)  des  Diebstahls.  Dicht  aneinandergedrängt, 
wie  von  Furcht  ergriffen,  vertheidigen  sich  die  Brüder  gegen  die 
Anschuldigung.  Die  Kopfe  sind  ausdruckslos,  die  Arme  und  Hände 
lebhaft  und  sprechend  bewegt. 

Die  letzten  vier  Bilder  erzählen  Jacob's  Ende.  In  einer  kahlen 
felsigen  Gegend  sitzt  Jacob  und  legt  die  Hände  kreuzweis  auf  die 
Köpfe  der  Söhne  Joseph's,  welcher  mit  einer  verhüllten  in  ihrer  Be- 
deutung unverständlichen  Frau  daneben  steht  und  Jacob's  Hand  ge- 
fasst  hält.  Jacob  hält  sodann  zwei  Ansprachen  an  seine  um  ihn 
versammelten  Söhne.  Das  einemal  sitzt  er  links  und  die  Brüder 
(nur  Joseph  steht  für  sich  und  ist  auch  durch  seine  Tracht  ausge- 
zeichnet) bilden  ihm  gegenüber  einen  dichten  Haufen.  Das  andere- 
mal  silzt  er  in  der  Mitte  und  die  Brüder  haben  sich  zu  beiden  Seiten 


716  Anton  Springer,  iH 

aufgestellt.  Zuletzt  sind  wir  noch  Zeugen  von  Jacob's  Tod  und  Be- 
gräbniss.  Rechts  liegt  Jacob  auf  einem  Bette,  neben  welcbem  ein 
Kandelaber  steht.  Joseph  hat  sich  auf  ihn  geworfen  und  küsst  iho, 
während  die  anderen  Brüder  weiter  hinten  sich  vor  Schmerz  das 
Antlitz  verhüllen.  Links  wird  Jacob's  Leichnam,  wie  eine  MuDiie 
eingewickelt,  von  zwei  Knaben  in  eine  Höhle  getragen.  Die  Familie, 
Mtlnner  und  Frauen,  folgt  der  Leiche  und  gibt  der  Trauer  lebhaften 
Ausdruck.  Eine  Frau  hebt  klagend  die  Hände  in  die  Höbe,  eine 
andere  hält  sie  gekreuzt  vor  der  Brust,  einzelne  Männer  halten 
Tücher  vor  dem  Gesichte.  Damit  schliessen  die  Hlustrationen  der 
Wiener  Genesis. 

Von    den    erhaltenen  Resten    des    Cod.    Cottonianus   beziehen 
sich   drei  Darstellungen  auf  den   ägyptischen   Joseph.      Derselbe,  in 
einen    langen   Mantel   gekleidet    sagt   den   beiden    Mitgefangenen  ihr 
Schicksal  voraus.    Die  letzleren  tragen  kurze  gegürtete  Tuniken  und 
drücken   durch    die   Handbewegung   ihr   Staunen   aus.      Joseph,  mil 
einem  Scepter  in  der  Hand,  empfängt  seine  Brüder  und  Jacob  semlei 
Benjamin  mit  den  Brüdern  nach  Aegypten.     Die  Handlung  erscheint 
stets  auf  den  Kern  eingeschränkt,  von  allem  Nebensächlichen  befreit. 
Eine  Andeutung  des  belebten  Hintergrundes  wird  nirgends  gefunden, 
vielmehr  weist  die  Abkürzung  der  Scenen  auf  ein  Festhalten  an  den 
Sarkophagenstil  hin.     In   die  gleiche  Zeit   fallen   die   Reliefs  an  den 
Seitenlehnen   der   Kathedra   des   Bischofes   Maximianus  (546 — 352 
in    Ravenna.      Sie  umfassen   zehn   Scenen    aus  dem  Leben  Josepb's, 
lassen  bereits  den  antiken  Formensinn  schwer  vermissen,  ebenso  das 
richtige    Verständniss    der   Maassverhältnisse,    zeichnen   sich  dagegen 
durch  eine  grosse  Lebendigkeit  aus.      Im   Gegensatz   zu   den  Minia- 
turen im  Codex  Cottonianus,  welche  sich  dem  altchristlichen  Relief- 
stil  nähern,   entfernen   sie   sich   von   demselben   und  offenbaren  das 
allmälige   Eindringen   malerischer  Elemente   auch   in   das   Gebiet  der 
Plastik.     Wir  haben  es  mit  Werken  einer  Uebergangsperiode  zu  thun, 
in  welcher  ältere  Traditionen  sich  lockern,   neue  Typen   noch  nicm 
endgiltig  geschaffen    sind.      Je    nach    der  Oertlichkeit,    welcher  die 
Kunstwerke  entstammen,    vollzieht   sich    dieser    Uebergang  schroffer 
oder  milder. 

Spuren  einer  Uebergangsperiode  tragen  ebenfalls  die  Miniaturen  des 
Ashburnbam-Pentateuch,  welche  vom  ägyptischen  Joseph  erzählt" 


^5]  DiB  Genbsisrilder.  717 

Hier  stossen  wir  auch,  abgesehen  von  der  Architektur,  auf  einzelne 
Anklänge  an  die  antike  Sitte.  Vier  nebeneinander  gespannte  Rosse 
ziehen,  von  einem  Lenker  mit  hochgehobener  Peitsche  angetrieben, 
den  Triumphwagen,  in  welchem  Joseph,  einen  hohen  Cylinder  auf 
dem  Kopfe,  sitzt.  Nicht  antik  ist  das  Joch,  welches  quer  über  die 
Rucken  der  Pferde  gelegt  ist  und  sie  zusammenhält.  Zwei  Herolde 
laufen  vor  dem  Wagen  und  machen  die  Bewohner  der  Stadt  auf 
Joseph's  Erhöhung  aufmerksam.  Aus  den  Bogenöffnungen  des  Ge- 
büudehaufens  blicken  und  neigen  sich  Männer  und  Frauen;  Das  Thor 
der  Stadt  krönt  ein  geschweifter  Giebel,  welcher  in  Voluten  aus- 
läuft. Dasselbe  Blatt  (Xi)  zeigt  uns  unten  rechts  Joseph  in  der  Aus- 
übung seines  Amtes.  Er  steht  angelhan  mit  einem  rothen  Rocke, 
über  welchen  er  einen  braunrothen  Mantel  (schon  in  der  Weise  der 
mittelalterlichen  Kunst  geschürzt,  vorn  in  eine  Spitze  auslaufend)  ge- 
worfen hat,  in  blaugrünen  Hosen  und  schwarzen  Stiefeln  in  der  Ecke 
und  führt  Aufsicht  über  die  Schnitter.  Dieselben  stehen  über  einan- 
der und  schneiden  mit  der  Sichel  das  Korn.  Die  einzelnen  Aehren 
sind  richtig  gezeichnet,  aber  jede  in  weitem  Abstände  von  der  an- 
deren entfernt.  Den  übrigen  Raum  des  Blattes  unten  nimmt  Jacob 
ein,  welcher  im  Bogen  eines  Giebelhauses  sitzend,  von  den  Söhnen 
über  ihr  Schicksal  in  Aegypten  unterrichtet  wird.  Sie  stehen  in 
einem  dichten  Haufen  beisammen.  Aus  den  Bogenöffnungen  der 
zahlreichen  Häuser  blicken  Frauen.  Den  Vordergrund  füllen  Säcke 
und  Saumthiere. 

Das  folgende  Blatt  (Xil)  schildert  die  zweite  Reise  der  Söhne 
Jacob's  nach  Aegypten.  Der  kleine  barfüssige  Benjamin  steht  auf- 
recht vor  dem  thronenden  Joseph,  während  die  Brüder  mit  Gefässen 
in  den  Händen  die  Kniee  beugen.  Einzelne  scheinen  in  der  Luft 
zu  schweben,  so  elementar  ist  noch  die  Kunst  der  Perspektive.  Die 
Scene  hat  eine  reiche  Architektur  zum  Hintergrunde,  welche  sich 
wieder  aus  einem  ungeordneten  Haufen  mannigfacher  Bauten  zusam- 
mensetzt. Zu  derselben  führt  eine  Freitreppe,  auf  deren  oberster 
Stufe  sich  eine  abermals  mit  Voluten  geschmückte  Giebelpforte  er- 
hebt. Abseits  von  dieser  Scene,  obschon  inhaltlich  zu  ihr  gehörig, 
entdecken  wir  auf  dem  mittleren  Bildstreifen  Joseph,  welcher  in  einem 
offenen  Kuppelbau  steht  und  mit  dem  Mantel  das  Gesicht  ver- 
hüllt. 


718  Anton  Spiingei,  ^^ 

Die  zweite  Haupthandlung  auf  dem  Blatte  bescbreibi  das  Gast- 
mahl Joseph's.  Seine  Brüder  und  die  Aegypter  speisen  an  verschity 
denen  Tischen,  wie  es  der  Bibeltext  erzählt.  Die  Brüder  lagern  nacli 
antiker  Sitte  im  Halbkreise  bei  dem  Mahle,  während  die  Aegypter 
auf  Stuhlen  um  den  Tisch  herumsitzen.  Die  erste  Weise  scheinL 
da  Joseph  seinen  Brüdern  Ehre  erweisen  wollte,  als  die  vornehmere, 
nicht  mehr  gewöhnliche  zu  gelten.  Auffallend  ist  weiter  die  grössere 
Zahl  von  Negern,  sowohl  unter  den  bei  Tische  sitzenden  Aegs'plem 
wie  unter  den  Dienern,  welche  im  Vordergrunde  mit  der  Wein- 
mischung,  der  Füllung  des  Weines  in  Gläser  und  mit  der  Zurichtuos 
der  Speisen  beschäftigt  sind.  Wir  möchten  daraus  keineswegs  auf 
eine  nähere  Bekanntschaft  des  Künstlers  mit  dem  Oriente,  also  aut 
den  Ursprung  des  Codex  in  einer  Landschaft,  welche  mit  dem  OricDt 
in  näherer  Verbindung  stand,  schliessen,  vielmehr  die  Sache  so  er- 
klären, dass  zur  Zeit,  als  der  Pentateuch  geschrieben  wurde,  das 
Morgenland  bereits  in  einem  phantastischen  Lichte  betrachtet,  mit 
dem  Mohreniande  verwechselt  wurde. 

Die  Darstellung,  wie  der  Becher  in  Benjamin's  Sack  entdeckt 
wird  und  Benjamin,  als  Joseph  den  Brüdern  den  Diebstahl  vorhält, 
entsetzt  zurückfährt,  schliesst  die  Bilderreihe  des  XII.  Blattes. 

Unter  den  Schilderungen  des  nächsten  (Xlll.)  Blattes  fesselt  Jacobs 
Begräbniss   besonders  unsere  Aufmerksamkeit.     Die  anderen  Scenen 
enthalten  Jacob's  Segen,  in  typischer  Weise  kreuzweise  den  Söhnen 
Josephs  ertheilt,  sodann  Pharao's  Erlaubniss,  dass  Joseph,  welcher  mit 
dem  Schwerte  gegürtet  sich  vor  dem   thronenden  Pharao  beugt,  in 
die  Heimat  zum  Begräbnisse  des  Vaters  reise  und   endlich   die  Hul- 
digung der  Brüder,    welche   vor    dem    im   Eingange   einer   Basilika 
sitzenden  Joseph  knieen.     Den   weitesten  Raum   nimmt  das  Begrub- 
niss  Jacob's  ein.     Unten  im  Vordergrunde  sehen  wir  mehrere  zwei- 
rädrige  Karren,    jeden   mit   zwei   Pferden  bespannt    und  dann  von 
Negern  gehaltene  Reitpferde,  welche  letztere  besonders  in  der  Zeich- 
nung der  Köpfe  im  Vergleiche  mit  den  sonst  vorkommenden  Kame/en, 
ein  geringes  Maass  von   Naturbeobachtung  verrathen.      Weiter  oben 
steht  die  leere,  aus  Gitterwerk  gebildete  Bettstelle,  in  welcher  Jacob 
gestorben   war.     Zwei   Männer   tragen   die    wie    eine   Mumie  einge- 
wickelte Leiche  zur  Grabstätte,  vor  deren  Eingang  ein  Denkmal  siebt. 
Es   ist  (las  einzige  isolirte   Bauwerk   im   ganzen  Codex.     Wenn  ein 


^7]  Die  Genbsisbildbr.  719 

trivialer  Vergleich  gestattet  ist,  erinnert  dasselbe  an  ein  rundes 
Schilderhaus.  Auf  drei  Stufen  erhebt  sich  ein  schmaler  cylindrischer 
Bau,  vorn  im  Bogen  geöfiiiet  und  mit  einem  geschweiften  Dache  ge- 
schlossen, welches  zwei  Kugeln,  eine  grössere  und  kleinere  über- 
einander, krönen.  Nicht  ganz  verständlich  erscheint  an  der  Fels- 
wand, über  den  Trauernden,  welche  merkwürdig  individuelle  aber  aus- 
druckslose Köpfe  zeigen,  von  Linien  eingerahmt  eine  Landschaft,  drei 
Bäume.  Zwei  derselben  tragen  an  der  Spitze  der  Aeste  schirm- 
förmige Blattbüschel,  ähnlich  wie  die  Bäume  in  der  Genesis,  der 
mittlere  dürfte  eine  Palme  vorstellen.  Es  sind  dieselben  drei  Bäume, 
auf  welche  wir  in  der  Darstellung  Kain's  und  Abel's  stiessen.  Zwei- 
mal nur  entdecken  wir  im  ganzen  Codex  eine  landschaftliche  Schil- 
derung, welche  mehr  bietet  als  blosse  Felsenzacken. 

In  der  byzantinischen  Kunst  des  vorigen  Jahrtausends  hat  das 
Leben  Joseph's  die  beste  Verkörperung  in  den  Homilien  des 
Gregor  von  Nazianz  (fol.  69.'')  empfangen.  Die  Schilderung  füllt 
ein  ganzes  Blatt.  Fünf  Abtheilungen  über  einander,  in  jeder  wieder 
mehrere  Scenen  neben  einander,  bieten  Raum  zu  eingehender  Dar- 
stellung, zwingen  freilich  auch  zur  Verringerung  des  Maassstabes  der 
einzelnen  Figuren.  Joseph's  Sendung  zu  den  Brüdern,  wie  er  mit 
einem  bepackten  Esel  zu  ihnen  eilt  und  wie  sie  ihn  bei  Tische 
sitzend  erwarten,  bildet  den  Inhalt  der  obersten  Abtheilung.  Sie 
werfen  ihn  sodann  in  die  Cisterne,  tödten  einen  Bock  und  zeigen 
dem  schmerzerfüllten  Vater  den  blutgetränkten  Rock  Joseph's.  Diese 
Bilderreihe  stimmt  mit  den  Reliefs  an  der  Kathedra  des  Maximian 
Ubercin.  Der  dritte  Streifen  erzählt  den  Verkauf  Joseph's  an  die 
Ismaeliter  und  die  Wanderung  nach  Aegypten,  der  letzte  endlich  die 
Traumdeutung  und  Erhöhung  Joseph's.  Als  Imperator  mit  dem  Kron- 
reifen geschmückt,  den  globus  und  das  vexillum  haltend  fährt  Joseph 
auf  dem  von  einem  Viergespann  gezogenen  Wagen.  Zwei  Männer 
haben  sich  zu  seinen  Füssen  hingeworfen.  Die  Scene  ist  nach  einem 
spätrömischen  Vorbilde  kopiit  und  zeigt  die  unmittelbare  Anlehnung 
an  die  Antike  in  der  Form,  während  der  Ashburnham-Pentateuch  nur 
noch  die  Erinnerung  an  die  antike  Sitte  bewahrt  hat,  in  der  formalen 
Wiedergabe  aber  selbständig  verfährt.  Mit  den  Josephsbildern  in  der 
Wiener  Genesis  besitzen  diese  Scenen  nicht  die  geringste  Aehnlichkeil, 


/ 


720  Anton  Spkingbb,  '^ 

7.  Moses. 

iMit  Moses  kehren  wir  wieder  zu   dem   Gestaltenkreise   zurück. 
welcher  bereits  in  der  altchristlichen  Kunst  volles  Leben  empfangen 
hat.    Moses,  welcher  das  Wasser  aus  dem  Felsen  mit  seinem  Stabe 
schlagt,  gehört  zu  den  häufigsten  Darstellungen  in  den  Katakombeo. 
Die  Sarkophagsculptur  vermehrt  die  Summe  der  Mosesbilder,  fügt 
noch  den  Untergang  Pharao's  hinzu.     Die  reichste  Schilderung  biet^l 
ein  aus  Arles  stammender  Sarkophag  im  Museum  zu  Aix  (Garr.  Uv. 
308).    Auf  der  Schmalseite  thront  Pharao  unter  einem  Bogen,  von  zwei 
Lanzen  trägem   begleitet   und   befiehlt  Moses  das  Land  zu  verlassen. 
Moses,  unbürtig,  im  Begriffe  abzuziehen,  blickt  auf  Pharao  zurück  und 
greift  mit  der  Hand  nach  oben ,    um    ein   von  Gottes  Hand  ihm  ge^ 
reichtes  Buch  zu  empfangen.      Neben   Moses   hat   sich    eine  Gruppe 
von  Menschen  versammelt,   welche  sich  zur  Reise  rüsten,  die  Pack- 
ihierc  bereit  halten.    Die  andere  Schmalseite  stellt  das  Wasserwunder 
und   den    Wachtelfang   dar.      Hinter  Moses   bemerken   wir  stets  die 
Feuersäule,   eine  antike  Säule  mit  kompositem  Kapital,  auf  welchem 
eine  Flamme  angezündet  ist.     Die  Hauptseite  erzählt  Pharao's  Unter- 
gang.     Dieser   auf    einem   zweirädrigen   Streitwagen    beherrscht  die 
ganze  Scene.      Viele    Reiter   kämpfen    mit   den   Wellen    oder  sinken 
bereits  in  die  Fluthen,  nur  der  Seegott  mit  seinem  Ruder  unter  den 
Rossen  Pharao's  ruht  unbeweglich  auf  dem  Wasser.    Moses,  unbärliif. 
steht  mit  der  Rolle  in  der  Hand  am  Ufer,  neben  ihm  viele  Männer, 
Frauen  und  Kinder,  manche  mit  Bündeln  auf  den  Schultern.    In  der 
Koke  ist  die  übliche  Feuersäule  angebracht.     Aehnliche  Schilderungen 
bieten   Sarkophage   aus   Rom   (Garr.    tav.  308,  5)    und   Spalato  (ta\. 
309,  4) ;  namentlich  beliebt  scheint  aber  der  Untergang  Pharao's  auf 
arelatischen  Sarkophagen  (Garr.  tav.  309,  1;  366,  2;  395,  9)  gewasen 
zu   sein.      Sie    stimmen   alle   auch    in   minder   wesentlichen  Punkten 
überein,  so  z.  B.  in  der  Architektur,   welche  die  Scene  auf  beiden 
Seiten  begrenzt  und  die  Stadt  andeutet,   aus   welcher  die  Aegypi^f 
ausgezogen  sind.     Auch  der  Sarkophag,  in  welchem  in  Mel^  die  Ge- 
beine  Karl    des   Kahlen    ruhten,   enthielt  das   Bild    des   Unterganges 
Pharao's. 

Auf  die  Sarkophagreliefs  folgt  der  Zeit  nach  der  Mosaikschniuck 
I  in  S.  Maria  Maggioro   (Garr.  tav.  218—220).     Die  Scenen  au^  deoi 


*^9]  Die  Gbnesisbildbr.  721 

Leben  Moses  an  der  rechten  Wand  des  Mittelschiffes  beginnen  mit 
der  Schilderung  wie  Moses  halberwachsen  an  den  Hof  der  ögypti- 
schen  Prinzessin  gebracht  und  wie  er  dann  von  den  Weisen  des 
Landes  in  den  Künsten  unterrichtet  wird.  Die  Anordnung  der  letz- 
teren  Handlung  (die  Weisen  sitzen  im  Halbkreise  auf  einer  erhöhten 
Bank,  Moses  steht  mitten  unter  ihnen)  erinnert  an  den  zwölfjährigen 
Christus  im  Tempel.  Die  Frauen  tragen  das  spätrömische  Hofcostüm, 
die  Männer  den  Philosophenmantel,  welcher  die  halbe  Brust  und  den 
einen  Arm  freilässt.  Es  folgt  auf  dem  nächsten  Felde  die  Vermählung 
Moses  mit  der  Tochter  Jethro's  und  das  Hirtenleben  Moses.  Die 
symmetrische  Anordnung  der  ersten  Scene  lässt  die  guten  künstleri- 
schen Traditionen  erkennen.  Der  Vater,  im  Maassstabe  grösser  ge- 
halten als  die  anderen  Figuren,  steht  vor  einem  Kuppelbau  und  be- 
rührt Braut  und  Bräutigam,  welche  sich  die  Hände  reichen,  an  der 
Schulter.  Das  Hochzeitsgefolge  schliesst  das  Brautpaar  ein.  Die 
folgenden  Bilder,  zum  Theile  nur  in  Nachbildungen  des  sechzehnl^^n 
Jahrhunderts  erhalten,  bieten  geringeres  Interesse.  Eintönig  wird  uns 
Moses  als  Führer  und  Lehrer  des  Volkes,  Anreden  haltend  vorge- 
führt. Der  Untergang  Pharao's  unterscheidet  sich  von  den  Darstel- 
lungen an  den  Sarkophagen  nicht  zu  seinen  Gunsten.  Das  rothe 
Moor  strömt  wie  ein  schmaler  Kanal  zwischen  zwei  Ufern.  Am 
rechten  Ufer  kommen  die  Aegypter  zu  Rosse  aus  dem  Thore  einer 
Stadt  heraus,  die  vordersten  stürzen  bereits  in  das  Wasser,  kämpfen 
mit  den  Wellen.  Der  Streitwagen  Pharao's,  von  vier  Rossen  gezogen, 
ist  mehr  in  den  Hintergrund  zurückgerückt.  Am  anderen  Ufer  steht 
Mo.ses  an  der  Spitze  eines  endlosen  Zuges  der  Israeliten  und  schlägt 
mit  dem  Stabe  in  das  Wasser.  Die  folgenden  Felder  schildern  den 
Wachtelfang,  ferner  wie  Moses  mit  dem  Stabe  Wasser  aus  dem  Boden 
(nicht  aus  dem  Felsen)  springen  lässt  und  die  murrenden  Israeliten  be- 
schwichtigt, endlich  wie  die  Amalekiter,  antik  bewaflnete  Krieger,  den 
Israeliten  den  Durchzug  durch  ihr  Land  verweigern  und  von  Moses 
besiegt  werden. 

Der  zusammenfassende  Uebeiblick  der  Mosaiken  lehrt  uns,  dass 
der  Künstler  bei  der  Wahl  der  Bilder  sich  nicht  streng  an  die  Bibel 
hielt,  die  Gegenstände  nicht  so  sehr  nach  ihrer  inhaltlichen  Bedeu- 
tung aussuchte  als  nach  der  Becpiemlichkeit,  welche  sie  einer  Wieder- 
gabe in  dem  gewohnten,    überlieferten  Stile   boten.      Mit   Recht   hat 


722  Anton  Springer,  [60 

man  schon  längst  auf  die  Verwandtschaft,  welche  zwischen  diesen 
Mosaiken  und  spätrömischen  Reliefdarstellungen  waltet,  hingewiesen. 
Sic  dürfen  in  mancher  Beziehung  als  der  letzte  Nachhall  römischer 
Kunst  gelten. 

Der  Äshburnham-Pentateuch  widmet  dem  Leben  Moses  sechs 
Blätter,  die  grösste  Zahl,  deren  sich  eine  Patriarchenschilderung  er- 
freut. Diese  sechs  Blätter  stehen  unter  sich  nicht  nur  inhaltlich  in 
einem  näheren  Zusammenhang,  auch  in  formaler  Beziehung  erscheinen 
sie  unter  einander  verwandt  und  den  bisher  betrachteten  Darstel- 
lungen entgegengesetzt.  Der  Maassstab  der  Figuren  ist  von  nun  an 
regelmässig  ein  grösserer,  die  Zahl  der  auf  einem  Blatte  vereinigten 
Scenen  verringert  sich,  dieselben  werden  auf  dem  Räume  besser 
geordnet,  stehen  viel  häufiger  in  regelmässigen  Reihen  über  einander, 
durch  gerade  Striche  getrennt.  Da  wir  keine  älteren  illustrirten 
Codices,  welche  das  Leben  Moses  behandeln,  kennen,  müssen  wir  es 
in  Zweifel  lassen,  ob  der  Pentateuch  hier  irgend  ein  Muster  nachahmt 
oder  ob  der  Künstler  im  Laufe  seiner  Arbeit  zu  einer  freieren  Be- 
handlung sich  erhob.  Das  Blatt  XIV.  bildet  einen  merkwürdigen 
Uebergang  von  der  alten  zur  neuen  Weise.*)  Die  obere  Abtheilung 
besitzt  als  Hintergrund  eine  gemeinsame,  quer  über  das  ganze  Blatt 
sich  hinziehende  Architektur,  welche  auch  besser  gegliedert  erscheint. 
Die  Milte  nimmt  eine  offene  Säulenhalle  ein,  über  welcher  sich  klei- 
nere Kuppel-  und  Giebeibauten  erheben,  die  beiden  Ecken  werden 
von  schräge  gestellten  Portiken  ausgefüllt,  annähernd  also  in  natür- 
licher Weise  angeordnet.  Vor  dem  Portikus  rechts  sitzt  Pharao  auf 
einem  reich  geschmückten  Throne:  mit  hoher  geschweifter  Rück- 
lehne, welche  wie  der  Sitz  gepolstert  ist.  Er  befiehlt  seinen  Schwert- 
trägern die  Unterdrückung  der  Israeliten.  Gegenüber  sitzt  er  mit 
einem  hohen  cylindrischen  Hute  auf  dem  Kopfe  auf  einem  Falten- 
stuhle und  herrscht  die  von  den  Königsknechten  vorgeführten  zwei 
Wehmütter  an,  dass  sie  seinen  Auftrag,  die  männlichen  Geburten  der 
Israeliten  zu  tödten,  nicht  erfüllten. 

Die  untere  Abtheilung  zeigt  eine  Fülle  bunt  durcheinander- 
geworfener kleiner  Gruppen  und  Figuren,  ohne  dass  die  Scenen  von 


*)  Gebhardt  hobt  den  unfertigen  Zustand  der  Blätter  hervor  und  bemerkt, 
dass  unter  den  Inschriften  Spuren  Ulterer  Buchstaben  sichtbar  sind,  ofTenbar  die 
Angaben  des  Schreibers,   welche  Gegenstände  dargestellt  werden  sollen. 


\ 


^4]  Die  Genbsisbilder.  723 

einander  geschieden,  durch  mannigfache  Hintergründe  auseinander- 
gehalten würden.  In  der  unteren  Ecke  rechts  ist  die  Findung  Moses 
dargestellt.  Die  Prinzessin  steht  mit  ihrem  Gefolge  am  Ufer  des  als 
breites,  grünes,  gewundenes  Band  gemalten  Nils,  ihr  gegenüber  die 
kleine  Schwester  Moses,  welche  das  nackte  Kind  der  Mutter  über- 
gibt. Links  und  in  der  Mitte  erblicken  wir  die  Israeliten,  unter 
der  Aufsicht  der  Aegypter  als  Ziegelpresser  und  Maurer  beschäftigt, 
dann  den  Streit  der  israelitischen  Brüder,  welche  sich  in  die  Haare 
fahren,  von  Moses  abgemahnt  werden  und  den  Todschlag,  welchen 
Moses  verübt.  Mehr  nach  rechts  hilft  Moses  im  Lande  Midian  den 
Töchtern  Jethro's  Wasser  aus  dem  runden  Ziehbrunnen  zu  schöpfen 
und  naht  sich,  nachdem  er  die  Schuhe  ausgezogen,  dem  brennen- 
den Dornbusche. 

Die  Hauptscene  des  folgenden  Blattes  (XV)  stellt  die  gewaltsanje 
Bedrückung  der  Israeliten  noch  ausführlicher  vor  die  Augen.  Vier 
ägyptische  Aufseher,  alle  mit  dem  hohen  Cylinder  als  Kopfbedeckung 
und  das  Schwert  zur  Seite,  treiben  die  Israeliten  zur  Arbeit  an. 
Die  einen  schleppen  Strohbündel  auf  den  Schultern  herbei,  die  an- 
deren hacken  das  Stroh  mit  Beilen  klein,  noch  andere  kneten  die 
Erde,  pressen  und  schichten  die  Ziegel.  Die  obere  Abtheilung  zeigt 
links  Moses  und  Aaron  in  weissen  GewUndern  vor  dem  thronenden 
Pharao,  rechts  den  gleichen  Vorgang,  nur  dass  hinter  Moses  noch 
zehn  Israeliten  mit  flehender  Geberde,  ausgestreckten  Händen,  stehen. 

Feinere  Seelenbewegungen  und  zartere  Empfindungen  auszu- 
drücken, dazu  reichte  das  Kunstvermögen  des  Illustrators  des  Penta- 
teuch  nicht  aus.  Heimischer  fühlt  er  sich  in  der  Welt  elementarer 
Leidenschaften,  bei  deren  Wiedergabe  körperliche  Bewegungen  reicher 
mitspielen.  Daher  gelingt  ihm  die  Schilderung,  wie  auf  Gottes  Ge- 
lieiss  die  Erstgeburt  der  Aegypter  getödtet  wird,  verhältnissmässig 
gut.  Es  weht  beinahe  ein  dramatischer  Zug  durch  die  Scene. 
Jehova,  in  ganzer  Figur,  ähnlich  wie  in  der  Schöpfungsgeschichte 
bekleidet,  steht  unter  einem  hohen  Bogen  und  sendet  den  Todes- 
engel  aus.  Derselbe  wirbelt  durch  die  Lüfte  mit  einem  goldenen 
Schwerte  in  der  Hand.  Nebenan  ist  das  erste  Opfer  bereits  gefallen. 
Eine  Frau  wirft  sich  wehklagend  über  den  Leichnam  des  Verstor- 
benen. Aehnliche  Vorgänge  werden  in  der  oberen  Abtheilung  dar- 
gestellt.    Links  stirbt  der  Erstgeborene  Pharao's.     Die   Königin   hält 


724  Anton  Springer,  [62 

den  bereits  in  das  Grabkleid  eingewickelten  Todten  in  ihren  Armen, 
Pharao  wischt  sich  mit  einem  Mantelzipfel  die  Thräne.  Rechts  liegen 
die  Todten  der  Aegypter,  alle  schwarz  im  Gesichle,  vor  den  Häusern 
auf  Tischen  und  Polstern,  hSinderingend  beugen  sich  die  Mütter  über 
dieselben.  Auch  der  Tod  der  Erstgeburt  der  Thiere  wird  erzählt. 
Ein  Kamel,  ein  Pferd  u.  a.  senken  den  Kopf  zur  Erde  wo  ihre 
Jungen  liegen.  Den  richtigen  Abschluss  aller  dieser  Schilderung 
bietet  die  unterste  Scene,  in  welcher  Pharao  vor  dem  Thore  der 
trauernden  Stadt  (die  Fenster  und  ThUren  sind  mit  Holzladen  ver- 
schlossen) steht  und  Moses  und  Aaron  zum  Verlassen  des  Landes  an- 
treibt. Zwischen  ihnen  und  dem  Pharao  steht  ein  Haufe  Aegypter, 
fast  alle  schwarz  gekleidet  uud  drängen  mit  vorgestreckten  Armen 
Moses  zu  rascher  Entfernung. 

Das  Blatt  XVll  enthält  nur  zwei  Scenen.  Oben  in  der  linken 
Ecke  stehen  Moses  und  Aaron  in  weissen  Gewändern.  Gegen  sie 
drängen  die  murrenden  Israeliten,  in  mehreren  Reihen  hinter  ein- 
ander aufgestellt,  die  ganze  Breite  des  Blattes  einnehmend  und  be- 
drohen sie  mit  aufgehobenen  und  vorgestreckten  Armen.  Unter  ihnen 
sind  fünf  fiicherförmige  Zelte  gespannt,  aus  deren  Oeffnungen  Frauen 
und  Kinder  herausblicken.  Die  zweite  grössere  Abtheilung  schildert 
Pharao's  Untergang.  Rosse,  Kriegswagen,  Reiter,  die  letzteren  mei- 
stens in  eisengraucr  oder  gelber  Rüstung  schwimmen  in  der  grünen 
See  und  kämpfen  mit  den  Wellen,  deren  Schaumspitzen  durch  weisse 
Linien  angedeutet  sind.  Am  Ufer  rechts  stehen  zunächst,  in  grösse- 
rem Maassstabe  gezeichnet,  Moses  mit  dem  Stabe  und  Aaron  und 
dann  in  vielen  Reihen  hintereinander  die  Israeliten,  Männer  und 
Frauen,  die  vordersten  mit  Säcken  beladen.  Ganz  in  der  Ecke  er- 
blicken wir  eine  riesige  weisse  Fackel  von  zwei  grossen  Händen 
getragen,  die  columna  nubis. 

Die  Miniatur  des  nächsten  (XVIIL)  Blattes  ragt  oben  über  den 
Bildrand  heraus.  Moses  im  weissen  Mantel  über  dem  gelben  Unter- 
gewande  kniet  mit  Aaron,  Nadab  und  Abihu  vor  einer  strahlenden 
Wolke,  in  welcher  der  Kopf  Jehova's  in  weisser  Farbe  erscheint. 
Der  Berg  Sinai  wird  durch  mehrere  zackige  Felsen,  von  welchen 
Flammen  aufsteigen,  angedeutet.  Die  mittlere  Abtheilung  umfasst  zwei 
Scenen;  links  blickt  ein  Haufe  Israeliten,  alle  mit  nackten  Beinen,  in 
hellen  Tuniken,  kurzen  Mänteln  zum  Himmel  empor;  rechts  steht  hinter 


63]  Die  GENESisBaoER.  725 

dem  Altar,  einem  Ziegelheerde ,  auf  welchem  ruaf  Brode  und  drei 
röthliche  Gewisse  liegen,  der  bärtige  Moses  mit  den  Gesetztafeln  in 
den  Händen.  Fünf  weissgekleidete  Männer  mit  Opfergaben  (weissen 
Brodlaiben)  haben  sich  rechts  vom  Altar,  zwei  andere  weissgeklei- 
dete und  ein  Haufen  Männer  und  Weiber  links  von  dem  Altare  auf- 
gestellt; die  Männer  barhaupt,  die  Frauen  mit  buntfarbigen  Schleiern 
über  der  hohen  Kopffrisur.  In  der  unteren  Abtheilung  sehen  wir 
das  Tabernakel  zwischen  zwei  grossen  Zelten,  aus  welchen  Moses 
mit  Josuah  und  Aaron  mit  zwei  Männern  hervortreten.  Moses  und 
Aaron  ziehen  vom  Tabernakel  die  Vorhänge  zurück.  Das  Tabernakel 
ist  ein  von  dünnen  braunen  Säulen  getragenes  offenes  Giebelhaus,  mit 
bunten  Vorhängen  zwischen  den  Säulen.  Eine  Krone  (den  west- 
gothischen  ähnlich)  hängt  über  dem  Altartische  von  der  Decke 
herab. 

Das  letzte  Blatt  des  Pentateuch  enthält  nur  eine  Illustration. 
Ueber  einem  offenen  Säulenbau,  zwischen  dessen  Bogen  abwechselnd 
Vorhänge  und  Kronlampen  angebracht  sind,  erhebt  sich  das  Taber- 
nakel in  der  Form  eines  Giebelhauses,  an  welches  noch  ein  Kuppel- 
bau als  Apsis  sich  anlehnt.  In  demselben  erblickt  man  den  Altar 
und  den  Tisch  mit  den  Schaubroden,  von  Cherubims  bewacht,  alles 
reich  in  Goldfarben  gemalt.  Die  Hand  Gottes  erscheint  über  dem 
Giebel,  segnet  Moses,  der  an  der  Spitze  der  siebzig  Aeltesten  Israels 
dem  Tabernakel  sich  nähert.  Den  oberen  Abschluss  bildet  ein 
Säulenbau,  wo  ebenfalls  in  den  einzelnen  Bogen  Lampen  hängen. 

Zusammenhängende  Bilderfolgen,  welche  das  Leben  Moses 
schildern,  sind  uns  aus  der  byzantinischen  Kunst  des  vorigen  Jahr- 
tausendes nicht  bekannt.  Doch  kommen  Einzelschilderungen  der 
Thaten  Moses  in  Psaltern  und  Homilien  sporadisch  vor,  die  relativ 
zahlreichsten  in  den  Homilien  des  Gregor  von  Nazianz,  in  dem 
berühmten  Pariser  Codex.  Die  Uebergabe  der  Gesetztafeln  wird 
fol.  52''  zugleich  mit  der  Vertreibung  aus  dem  Paradiese  und  der 
Anweisung  des  ersten  Elternpaares  zur  Arbeit  durch  einen  Engel 
dargestellt.  Moses  hat  den  Gipfel  des  Berges  erstiegen  und  empfängt 
aus  der  Hand  Gottes  die  beiden  Gesetztafeln.  Am  Fusse  des  Berges 
harren  seiner  die  Israeliten.  Mehr  nach  rechts  erblicken  wir  Moses 
und  Aaron,  jeder  mit  einem  Buche  in  den  Händen,  vor  dem  Taber- 
nakel,   welches  mit    vergoldeten  Säulen    und  Bogen  geschmückt  ist. 


726  Anton  Springer,  ^i 

Zu   beiden  Seiten   desselben   sind   vier  Gruppen   von    je    zwei  >kh 
umarmenden  Männern  aufgestellt. 

Auf  fol.  264^  gibt  der  Miniator  die  Sqene,  wie  Moses  sich  vor 
dem  Dornbusche  bückt,  um  die  Sandalen  von  seinen  Füssen  abzu- 
legen und  in  dem  brennenden  Busche  ein  Engel  ihm  erscheint,  so- 
dann den  Untergang  Pharao's.  Die  Feuersäule  zieht  den  Israeliteo 
voran;  Mirjam  schlägt  die  Becken  und  stimmt  den  Lobgesang  an, 
Moses  aber,  jugendlich  aufgefasst,  mit  dem  Nimbus  um  das  Haupt. 
in  einem  langen  weissen  Gewände,  berührt  mit  dem  Stabe  die  er^teii 
Reihen  der  Aegypter,  die  unten  in  der  See  schwimmen.  Pferde  imd 
Menschen  kämpfen  in  den  Wellen,  überragt  von  Pharao,  welcher 
auf  seiner  Quadriga  gleichfalls  dem  Untergauge  geweiht  ist. 

Es  verdient  wohl  die  Abschwächung  der  altcbristlichen  Traditioo 
hervorgehoben  zu  werden,  welche  sich  bereits  in  den  Homilien  (le> 
Gregor  von  Nazianz  oifenbart,  noch  deutlicher  aber  in  dem  Programme 
des  Malerbuches  vom  Berge  Athos  kimdgibt.  Hier  ist  aus  Mirjao} 
eine  Gruppe  tanzender  Frauen  geworden,  aus  dem  brennenden  Dorn- 
büsche blickt  aber  nicht  wie  in  allen  alten  abendländischen  Dar- 
stellungen die  Halbiigur  oder  Hand  Gottes,  auch  nicht  wie  in  den 
Homilien  ein  Engel,  sondern  die  Madonna  mit  dem  Christuskinde 
heraus.  Ein  besserer  Beweis  für  die  späte  Fixirung  der  Typen  im 
Malerbuche  lässt  sich  kaum  finden. 

Für  das  Leben  Moses  dürfen  nun  auch  wieder  karolingii^cbe 
Codices,  welche  längere  Zeit  stumm  blieben,  zur  Vergleichung  heran- 
gezogen werden. 

Dem  Buche  Exodus  geht  in  der  Bibel  Vivian's  eine  blallg^rosiie 
Miniatur  voran,  welche  in  zwei  Abtheilungen  über  einander  folgende 
Scenen   schildert.     In  der  oberen   Abtheilung  steht    Moses  auf  dem 
Berge  Sinai,  welcher  aus  lauter  kleinen  feuerspeienden  Kratern  besieht. 
und  empfängt  ein  Buch   aus  den  Händen  Gottes.     Moses,   vollbJirüg 
und  barfuss,  trägt  über  der  hellblauen  Tunika  einen   gelben  Maol«! 
Der  jugendliche  Aaron,    welcher   links  am  Fusse   des   Berges,  hslb 
von  demselben  verhüllt,  steht,  hält  in  der  Rechten  einen  Stab,  und 
hebt  die  Linke  staunend   zum  Antlitz   empor.      In   der   unteren  Ab- 
theilung stehen  links  vor  dem  Eingange  des  Tabernakels  Moses  uod 
Aaron,  der  eine  mit  dem  aufgeschlagenen  Buche,  der  andere  mit  dem 
Stabe  in  der  Hand.    Das  Tabernakel  hat  die  Form  eines  von  schlanken, 


ßß]  Die  Genbsisbilder.  727 

mit  Metallringen  beschlagenen  Säulen  getragenen  Giebelhauses.  Das  Dach 
ist  noit  Goldblech,  ähnlich  wie  die  späteren  Reliquienkasten  belegt,  an 
einem  Rundstabe  hängen  theilweise  zurückgeschlagene  bunte  Vorhänge 
herab.  Vor  dem  Tabernakel  haben  die  Israeliten  sich  in  einer  Doppel- 
reihe, so  dass  von  den  hinteren  nur  die  Köpfe  sichtbar  sind,  aufgestellt. 

Eine  reichere  Illustration  empfangt  das  Leben  Moses  in  der  Bibel 
von  S.  Paul.  Auf  der  Rückseite  des  Titelblattes  zum  zvireiten  Buche 
Moses  ist  eine  blattgrosse  zusammenhängende  Miniatur  gemalt.  Oben 
links  in  der  Ecke  sitzt  der  Nilgott,  im  blaugrünen  Mantel,  der  leichl 
über  eine  Schulter  geworfen  ist,  einen  Widerhacken  in  der  Hand, 
die  Urne  zur  Seite.  Am  Ufer  des  wie  eine  dicke  Wulst  gezeich- 
neten weissblauen  Stromes  steht  die  ägyptische  Prinzessin,  in  ziegel- 
rothem  Gewände  und  weissem  Kopfschleier  und  befiehlt  der  Dienerin, 
den  auf  einem  braunen  Brette  schwimmenden  Moses  herauszuholen. 
Weiter  rechts  hält  die  Dienerin  das  Kind  im  Arme  und  überreicht 
es  der  Mutter  Moses,  welche  mit  vorgestreckten  Händen  aus  einem 
Hause  tritt.  In  der  mittleren  Abtheilung,  von  welcher  Felsen  bis  in 
die  obere  hineinragen,  thront  Pharao  unter  einem  von  Säulen  ge- 
tragenen rothen  Kuppeldache,  vom  Schwert-  und  Schildträger  um- 
geben. Er  trägt  einen  Goldreif  und  über  dem  gelben  Untergewande 
einen  Purpurmantel  mit  Goldlichtern.  Vor  ihm  steht  links  ein  Zau- 
berer, welcher  die  Schlange  am  Schweife  hält,  rechts  Moses,  grau- 
bärtig mit  goldenem  Stabe  und  Nimbus,  zu  seinen  Füssen  ein  anderer, 
auch  durch  den  Nimbus  ausgezeichneter  Mann,  welcher  ebenfalls  eine 
Schlange  am  Schweife  gefasst  hat.  In  der  Ecke  rechts  oben  erblicken 
wir  Moses  noch  einmal,  in  grau  weissem  Gewände  und  hellrothem 
Mantel  und  über  dem  Dornbusche,  eigentlich  einem  Baume,  die 
Hand  Gottes. 

Die  untere  Abtheilung  zeigt  in  der  linken  Hälfte  das  rothe  Meer, 
in  welchem  Männer,  Pferde  und  Wagen  schwimmen.  Der  Illustrator 
hat  zuerst  die  Menschen  und  Thiere,  zumeist  in  horizontaler  Lage 
gemalt  und  darüber  blauweisse  Streifen,  die  das  Wasser  vorstellen 
sollen,  gezogen.  Die  rechte  Hälfte  wird  durch  die  Israeliten,  welche 
in  breiten  Reihen  wandern  und  Moses,  welcher  die  Hand  gegen  das 
Meer  ausstreckt,  gefüllt.  In  der  hintersten  Reihe  tragen  Männer  und 
Frauen  Gefässe  und  weisse  Bündel  auf  den  Köpfen. 

Eine  ähnliche    blattgrosse  Miniatur  auf   Purpurgrund  von  Gold- 

Abhandl.  ü.  K.  8.  OeMellüch.  d.  Wi886Dt»eh.  XXI.  ^^ 


728  Anton  Springer,  [66 

ranken  eingefasst  schmückt  die  Rückseite  des  Titelblattes  zum  dritten 
Buche  Moses.  Oben  auf  dem  Berge  Sinai  empfängt  Moses,  mit 
Sandalen  an  den  Füssen,  in  hellblauem  Gewände  und  röthlichem  gold- 
punktirtem  Mantel,  mit  verhüllten  Händen  die  Gesetztafel  aus  der 
Hand  Gottes.  Der  Berg  hat  eine  röthliche  Farbe  und  rundliche  Form. 
Zwei  Weidenbäume  beleben  ihn.  Am  Fusse  des  Berges  steht  Aaron 
mit  emporgehobenen  Armen.  Ein  Purpurstreifen  trennt  diese  Abthei- 
lung von  der  unteren,  wo  Moses  mit  zwei  Männern  vor  dem  Ein- 
gange einer  offenen  Giebelhalle  steht.  Ihm  gegenüber  (ähnlich  wie 
im  Ashburnham-Pentateuch)  hat  sich  eine  Doppelreihe  von  Israeliten, 
in  buntfarbigen  Hosen,  weisslichen  Tuniken,  hellen  kurzen  Mänteln 
au^estellt.  Die  bunten  Farben,  besonders  der  ziegelrothe  Anstrich 
des  Daches  üben  eine  grelle  Wirkung. 

Auf  der  Rückseite  des  folgenden  Blattes  wird  oben  von  einem 
Prachtzelt  der  Vorhang,  welcher  die  mannichfachsten  Farbenstreifen 
zeigt,  von  vier  Männern  zurückgeschlagen.  Wir  blicken  in  das  Innere, 
wo  von  Cherubim  bewacht  unter  einer  Hängelampe  die  goldene 
Bundeslade  aufgerichtet  ist.  Darunter  steht  in  der  Mitte  der  grosse 
siebenarmige  goldene  Leuchter,  rechts  von  ihm  Moses  in  weissem 
Gewände,  der  aus  einem  Hüfthorn  die  Israeliten  salbt,  links  Aaron 
mit  Priestern,  welcher  eine  Opferschale  in  den  Händen  hält.  Alle 
tragen  weisse  Gewänder  und  violette  Mäntel.  Die  unterste  Abthei- 
lung schildert  endlich  ein  Thieropfer.  Weite  Vorhänge,  durch  eine 
mittlere  Säule  getrennt  bilden  den  Hintergrund.  Vor  derselben  steht 
ein  Mann,  um  mit  hochgehobenem  Beile  die  Opferthiere  (Ochs  und 
Schaf  haben  die  gleiche  Grösse)  zu  schlachten,  ihm  gegenüber  hält 
Moses  eine  goldene  Schale  bereit,  das  Blut  in  ihr  aufzufangen.  Rechts 
und  links  reihen  sich  die  Israeliten  in  kurzen  rothen  oder  violetten 
Tuniken  an  und  heben  preisend  die  Hände  zum  Himmel  empor. 


^7|  Die  Genesisbilder.  729 


Rückblick. 

Fasst  man  die  Ergebnisse  der  bisher  geführlen  Einzelunter- 
suchungen  zusamnaen,  so  ergeben  sich  folgende  Resultate: 

Die  Genesisbildcr  des  frühen  Mittelalters  gehen  nicht  auf  einen 
Archetypus  zurück,  an  welchem  sie  unverbrüchlich  festhalten,  wel- 
chen sie  mehr  oder  weniger  mechanisch  wiederholen.  Der  Bibel- 
text bestimmt  allerdings  die  Schilderung  und  schreibt  für  die  Auf- 
fassung der  Hauptpersonen  und  der  wichtigsten  Ereignisse  einzelne 
Regeln  vor,  von  welchen  kein  Künstler  abweicht.  In  der  Auswahl 
der  Scenen  aber  und  in  der  feineren  Ausmalung  der  letzteren  herrscht 
grosse  Freiheit,  welche  auch  von  den  Künstlern  oder  den  Personen, 
welche  hinter  ihnen  stehen  und  sie  bei  der  Anordnung  der  Bilder 
leiten,  benützt  wird. 

Erscheint  die  Eintönigkeit  in  der  Wiedergabe  der  Genesisereig- 
nissc  vollkommen  ausgeschlossen,  so  entdeckt  man  doch  zwischen 
den  Bilderkreisen  der  Genesis  bald  eine  grössere,  bald  eine  geringere 
Verwandtschaft.  Sie  zerfallen  ganz  deutlich  in  verschiedene  Gruppen, 
von  welchen  die  verwandten  räumlich  und  zeitlich  zusammenhängen. 

Die  erste  Gruppe  umfasst  die  an  der  Grenze  des  altchristlichen 
Zeitalters  stehende  Wiener  Genesis  und  den  Codex  Cottonianus. 
Beiden  sind  mannigfache  antike  Anklänge  gemeinsam.  Dieselben 
zeigen  sich  in  der  Zeichnung  der  Gewänder,  insbesondere  in  dem 
Wurf  der  Mäntel,  dann  in  der  Behandlung  der  Architektur.  Die 
korinthische  Säulenordnung  ist  bekannt  und  wird  regelmässig  ange- 
wendet. Die  Säulen  tragen  keineswegs  immer  Bogen,  sondern  stützen 
häufig  ein  gerades  Gebälke.  Der  Stil  der  einzelnen  Denkmäler  (und 
dass  überhaupt  noch  einzelne  richtig  konstruirte  Denkmäler  vorkommen 

48* 


730  Anton  Springer,  6^ 

spricht  für  die  gut  erhaltene  Bautrailition)  erscheinl  freilich  oft  M'i- 
wildert,  lässt  aber  iamierhiQ  die  aatiken  Wurzeln  erkennen.  EiDzeloe 
Portiken  und  Exedren  könnte  man  unmittelbar  von  spätrOmisohen 
Monumenten  entlehnt  wähnen.  Gemeinsam  ist  ferner  dieser  Gru|)|te 
die  Erhebung  der  Illustration  zu  einem  künstlerischen  Bilde.  Selb>i 
wenn  mehrere  Scenen  in  einem  Rahmen  zusammengefasst  werdru. 
erscheinen  sie  doch  stets  so  geordnet,  dass  sie  auf  das  Auge  m' 
einheitliche  Wirkung  üben,  die  Form  eines  geschlossenen  GemäM^ 
annehmen.  Das  setzt  nicht  bloss  eine  reiche  künstlerische  Tradilioo 
voraus,  sondern  kann  überhaupt  nur  durch  den  Einfluss  einer  satl^o 
Cultur  erklUrt  werden.  In  der  That  zeigen  auch  einzelne  GenitljH. 
wie  das  Prachtbett  Abrahams,  dann  der  Schmuck  einzelner  Frauen 
eine  stattliche  nicht  überladene  Pracht,  die  Scenen,  welche  am  Hole 
Pharao's  spielen,  die  Kenntniss  der  Sitten  vornehmer  Stünde.  .Vdo 
geht  gewiss  nicht  irre,  wenn  man  den  Ursprung  der  Wiener  Geüe>i> 
in  der  Nühe  der  grosseren  CulturstUtten  des  Alterthums,  welche  auili 
in  christlicher  Zeit  ihre  Bedeutung  bewahrt  hatten,  sucht. 

Eigenthümlich  ist  der  Wiener  Genesis  die  Scheu  vor  der  Wieder- 
gabe des  Gewaltsamen,  Leidenschaftlichen,  Heftigen.  Stärkere  Affekte 
werden  ungenügend  ausgedrückt.  Kampfscenen  fehlen  vollsläodig. 
Dagegen  herrscht  eine  entschiedene  Vorliebe  für  das  Idyllische 
Kuhige  Situationen  gelingen  am  besten.  Sinnliche  Schilderungen  Loi 
und  seine  Töchter)  werden  nicht  ausgeschlossen.  iMit  dieser  NeigoDir 
für  das  Idyllische,  welche  sich  wieder  aus  einer  satten,  fast  über- 
satten Cultur,  einem  gewissen  Quiotismus  erklärt,  hängt  dano  wieder 
die  Freude  an  der  Schilderung  des  Hirtentebens,  die  BeloDUng  de? 
landschaftlichen  Elementes  zusammen.  Die  Begegnung  Jakobs  mil 
Laban  (s.  Taf.  I)  trägt  vollständig  den  Charakter  eines  landschafllietieD 
Gemäldes.  Wo  es  nur  immer  angeht,  wird  als  Hintergrund  die  Laml- 
schafl  verwerthet.  Die  architektonische  Staffage  beschränkt  sich  auf 
einzelne  Tempel,  Häuser  oder  auf  abgekürzte  Städtebilder,  in  der 
Weise  wie  sie  auch  in  der  spätrömischen  Kunst  wiederkehren:  ö/o^'^* 
von  Thürmen  und  einer  Ringmauer  eingeschlossene  Bauten.  Sie  ist 
durchaus  maassvoll  und  verständlich  gehalten. 

Im  schroffen  Gegensatze  zu  dieser  Gruppe  steht  die  zvv* 
Gruppe,  welche  bisher  nur  durch  den  Ashburnham-Penlateuch  ver- 
treten ist.     Wir  lernen  eine  andere  Kulturwelt,  zugleich  eine  andere 


69]  Die  GuNEsisBaDER.  731 

KuDslwelt  kennen.  An  die  Stelle  der  Bilder,  der  geschlossenen  Ge- 
mälde rückt  die  eigentliche  Illustration.  Regelmässig  werden  auf 
jedem  Blatte  mehrere  Scenen,  ohne  jede  Ordnung,  namentlich  ohne 
jede  Symmetrie  zusammengestellt.  Der  Raum  wird  einfach  gefüllt, 
die  Scene,  da  wo  sich  gerade  Platz  für  sie  findet,  eingeschoben. 
Jeder  formale  Zusammenhang  fehlt,  der  gleichartige  Inhalt  allein  be- 
stimmt die  Aufnahme  der  Handlung  auf  dem  Blatte.  In  der  Wiener 
Genesis  waltet  das  ästhetische,  im  Ashburnham-Pentateuch  das  didak- 
tische Princip  vor,  welches  auch  durch  die  zahlreichen  Beischriften 
bekundet  wird.  Dort  wird  das  Auge  erfreut,  hier  dasselbe  unter- 
richtet; dort  tritt  der  Inhalt  nicht  selten  gegen  die  Form  zurück  und 
Scenen  werden  auch  wenn  sie  ihrer  Natur  nach  unbedeutend  sind, 
reicher  ausgemalt,  weil  sie  die  künstlerische  Phantasie  anregen;  hier 
wird  die  Form  dem  Inhalte  untergeordnet,  auf  die  deutliche  Ver- 
sinnlichung  des  letzleren  das  Hauptgewicht  gelegt. 

Wir  kommen  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  beiden  Handschriften 
nicht  bloss  verschiedenen  Kunstkreisen  angehören,  sondern  dass  auch 
ihre  Wurzeln,  aus  welchen  sie  sich  entwickelt  haben,  weit  ausein- 
ander liegen.  Die  Bilder  der  Wiener  Genesis  unterscheiden  sich 
von  antiken  Wandgemälden  eigentlich  nur  durch  den  Grund,  auf 
welchem  sie  ausgeführt  wird.  Wenn  man  sich  dieselben  vom  Per- 
gamente auf  die  Mauer  übertragen  denkt,  so  würden  sie  nichts  von 
ihrer  Wirkung  verlieren.  Sie  stehen  den  antiken  Miniaturen,  wie 
dem  Iliasfragmente  in  der  Ambrosiana  nicht  bloss  zeitlich  nahe, 
gehen  jedenfalls  auf  einheitlich  komponirte  in  sich  abgeschlossene 
Gemälde  zurück.  Ein  solcher  Ursprung  ist  für  die  Illustrationen  des 
Ashburnham-Pentateuch  ganz  undenkbar.  Sie  erinnern  vielmehr  an 
die  Bilderchroniken  oder  Bildertafeln,  deren  Vorkommen  in  der  an- 
tiken Welt  Otto  Jahn  nachgewiesen  hat  und  von  welchen  die  be- 
kannte Tabula  Uiaca  noch  deutliche  Spuren  an  sich  trägt.  Wir  ver- 
muthen,  dass  auch  in  der  altchrisllichen  Welt  biblische  Bilderchro- 
niken oder  Bildertafeln  im  Gebrauche  waren,  mit  deren  Hilfe  die 
biblischen  Thatsachen  dem  Auge  nahe  gerückt  wurden  und  welche 
die  Unterweisung  in  der  Lehre  wirksam  unterstützten.  Nur  so  können 
wir  uns  die  Zusammenstellung  vieler  Scenen  in  einem  Räume,  die 
Beischriften,  welche  jede  Scene  begleiten  und  deuten,  natürlich  er- 
klären.   Das  Band,  welches  die  Illustrationen  eines  Blattes  zusammen- 


732  Anton  Springer,  [70 

fasst,  ist  allein  der  Inhalt.  Das  gelesene  oder  erläuterte  Kapitel  der 
Bibel  eniting  durch  die  Bildtafel  eine  woMthuende  Ergänzung.  Unsere 
Vermuthung  wird  durch  das  Canterbury-Evangelarium  in  Cambridge 
bestätigt,  wo  für  die  einzelnen  Evangelien  offenbar  dasselbe  Illustra- 
tionsprincip  waltete  und  jedem  Evangelium  eine  erläuternde  Bildtafel, 
die  Ilauptscenen  desselben  wiedergebend,  vorangestellt  wurde. 

Gehen  wir  auf  die  Natur  des  Ashburnham-Pentateuch  noch  im 
Einzelnen  ein,  so  erkennen  wir,  dass  eine  äussere  Kenntniss  antiker 
Sitten  noch  in  mehreren  Schilderungen,  der  Quadriga,  dem  Lagern 
bei  Tische  nachhallt,  vom  eigentlichen  antiken  Leben  und  antiker 
Kunst  alle  Spuren  bereits  verwischt  sind.  Auch  die  architektoni- 
schen Hintergrunde  beruhen  nicht  auf  naturlicher  Anschauung  der 
Monumente.  Wir  mUssen  annehmen,  dass  die  Handschrift  weiter  ab 
von  den  antiken  Gulturstätten  geschrieben  und  mit  Bildern  geschmückt 
wurde.  Das  Interesse  an  der  Landschaft  erscheint  vollständig  ver- 
schwunden, obgleich  die  Wiedergabe  der  einzelnen  Geräthe  genaue 
Kenntniss  des  Landlebens  kundgibt.  Der  Illustrator  ist  dagegen  in 
der  Welt  elementarer  Leidenschaften  heimisch.  Kampfscenen  ge- 
lingen ihm  vortrefflich  (s.  Taf.  II) ,  grob  derbe  Charaktere  zeichnet 
er  anschaulich.  Wir  empfangen  den  Eindruck  einer  erst  langsam 
sich  wiederaufbauenden  Cultur  und  glauben  nicht  zu  irren,  wenn 
wir  annehmen,  dass  die  Handschrift  einer  Provinz  angehört,  in  wel- 
cher sich  germanisches  Blut  der  antiken  Menschheit  stark  beigemischt 
hat.  Ob  wir  diese  Provinz  in  Oberitalien,  ob  im  südlichen  Frank- 
reich zu  suchen  haben,  darüber  fehlen  uns  alle  Anhaltspunkte.  Die 
offenbare  Kenntniss  des  Ziegelbaues  und  der  Holzschnitzerei  ist  doch 
ein  zu  allgemeines  Merkmal,  als  dass  wir  es  zum  Ausgangspunkte 
topographischer  Untersuchungen  annehmen  könnten. 

Die  dritte  Gruppe  wird  durch  die  karolingischen  Handschriften 
gebildet.  Sie  setzt  das  Prinzip,  welches  der  zweiten  Gruppe  zu 
Grunde  liegt,  einfach  fort,  bildet  dasselbe  weiter  aus.  Auch  hier 
werden  regelmässig  auf  jedem  Blatte  mehrere  Scenen  zusammen- 
gestellt und  durch  Beischriften  erläutert.  Aber  wie  die  letzteren 
zuweilen  schon  rhythmische  Form  annehmen,  so  erscheinen  auch  die 
Einzelbilder  besser  geordnet.  Sie  stehen  in  der  Regel  Übereinander, 
zeigen  annähernd  die  gleiche  Grösse,  werden  durch  farbige  Streifen 
getrennt.      Ihre  Voraussetzung  bleiben    aber   immer   ähnliche   Hand- 


'7^1  Die  Gbnbsisbilder.  733 

Schriften,  wie  das  Ashburnham-Pentateuch,  ohne  deren  Kenntniss  sie 
niemals  die  Fähigkeit,  die  Illustrationen  auf  einem  Blatte  besser  zu 
gliedern,  die  Kompositionen  klarer  zu  ordnen,  gewonnen  hätten.  Die 
karolingischen  Miniaturen  sind  nicht  Werke  einer  primitiven  Kunst- 
Übung,  sondern  verbessern  und  regeln  nur  das  Yermächtniss  einer 
älteren  Periode.  Wenn  sie  in  dem  Uebermaass  des  Goldauftrages 
barbarischer  erscheinen,  als  frühere  Schöpfungen,  so  erklärt  sich  das 
aus  dem  Einflüsse  des  kalligraphischen  Elementes,  welches  erst  in  der 
karolingischen  Periode  in  der  Miniaturmalerei  maassgebend  auftritt. 
Aber  auch  dafür  erscheint  der  Ashburnham-Pentateuch  als  eine 
Uebergangsstufe.  Er  verschmäht  die  Goldfarbe  nicht,  darin  von  altr- 
byzantinischen  Werken  abweichend,  gebraucht  es  aber  nur,  der  alt- 
christlichen Tradition  näher  stehend,  in  massiger  Weise,  wie  er  auf 
der  anderen  Seite  doch  wieder  buntere  Farben  liebt,  als  seine  Vor- 
gänger. 

Mit  der  karolingischen  Periode  ist  die  Entwickelung  der  Genesis- 
bilder für  lange  Zeit  geschlossen.  Die  folgenden  Jahrhunderte  (XI 
— XIII)  haben  das  Interesse  an  Bilderbibeln  verloren.  Andere  Ge- 
dankenkreise sind  zur  Herrschaft  gelangt.  Evangelistarien,  die  für 
den  Gottesdienst  bestimmten  Bücher,  Andachtsschriften  nehmen  vor- 
zugsweise die  Kunst  des  Miniators  in  Anspruch.  Erst  gegen  das 
Ende  des  Mittelalters  wendet  sich  auch  das  künstlerische  Interesse 
der  ganzen  Bibel  wieder  zu  und  die  Erfindung  des  Holzschnittes 
bringt  wie  in  die  Bibelillustrationen  überhaupt,  so  auch  in  die  Genesis- 
bilder neues  Leben. 

Bestätigen  sich  die  hier  gemachten  Beobachtungen  und  aus  der 
Vcrgleichung  der  Handschriften  gezogenen  Schlüsse  als  richtig,  so 
wäre  in  dem  Ashburnham-Pentateuch  die  unmittelbare  Vorstufe  der 
karolingischen  Miniaturen  entdeckt,  wieder  also  in  einem  wichtigen  Bil- 
derkreise die  stetige  selbständige  Entvyickelung  der  abendländischen 
Kunst  nachgewiesen.  Da  bereits  der  innere  Zusammenhang  der  karo- 
lingischen und  Ottonischen  Kunstperiode  sichergestellt  ist,  so  >yäre 
ferner  in  die  Entwickelungskette  der  frühmittelalterlichen  Kunst  ein 
neuer  fesler  Ring  eingeschoben,  ein  weiterer  Baustein  zur  wissen- 
scliafllichen  Geschichte  derselben  gelegt. 


Druck  von  Breitkopf  ä  Hart«!  in  Leipzig. 


Taf.    L 


AUS  DER  WIENER  GENESIS. 


Abh.  d.  K'.  S.  Ges.  d.  Wiss.  IS 84. 


\ 


7-V.     //. 


AUS   DKM   ASHBURNHAM-PENTATEUCH.